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German Pages 310 Year 2015
Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments
Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 3
2009-10-06 15-56-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f9222738194246|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 999.p 222738194254
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
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Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne
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) T00_03 titel - 999.p 222738194350
Entstanden im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) finanzierten Pro*Doc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« der Universitäten Basel und Bern. Gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Phädra von Jean Racine, Salle de Faubourg, Théâtre du Grütli, Genf; Regie: Claudia Bosse; Fotograf: Régis Golay Lektorat: Clemens Schuster, Christoph Meneghetti Satz: Clemens Schuster Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-999-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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I NHALT
E INLEITUNG Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung GERALD SIEGMUND 11 Überlegungen zum Fragment und zu einer fragmentierenden Poetik aus gräzistischer Sicht ANTON BIERL 19 Zu den Beiträgen 29
1. S TIMM -K ÖRPER Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Klaus Michael Grübers Bakchen HELGA FINTER 37 Perforierte Körper ARNO BÖHLER 53 The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction in Sappho, Sophocles, Offenbach GREGORY NAGY 69
2. A FFEKT -K ÖRPER Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH 105 exzessives fragmentieren CLAUDIA BOSSE 129 Tragödie, Fragment und Theater PATRICK PRIMAVESI 147 Tragödie und Performance. Skizzen aus einem work in progress HANS-THIES LEHMANN 165
3. B ILD -K ÖRPER Lügen Tränen nicht? Ausdruck, Konvention und Körper in der Wooster-Group-Produktion To You the Birdie! (Phèdre) NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL 183 Erschütterungen zwischen Körper und Bild. Intermediale Strategien der Big Art Group JENS ROSELT 207 Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie. Eine Fallstudie anhand von Picture for Women (J eff Wall, 1979) ANDY BLÄTTLER 217
4. T HEATER -K ÖRPER Präsenzkultur Dionysus in 69 CHRISTOPH MENEGHETTI 233 Fragmentierung des Dionysos. Performative Strategien in den Bakchen -Inszenierungen MASSIMO FUSILLO 259 Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits ARNO BÖHLER UND SUSANNE GRANZER 271
T AFELN UND A BBILDUNGSVERZEICHNIS 291
A UTORINNEN UND A UTOREN 303
E INLEITUNG
Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung GERALD SIEGMUND Fragment: ein Bruchstück, ein Überrest, ein Knochenstück, etwas Ausgefranstes, Abgerissenes, Gezacktes, Gebrochnes, etwas Unfertiges, das aus dem lateinischen Verb frangere, brechen, abgeleitet wurde. Diskurs: „eine methodisch aufgebaute Abhandlung zu einem bestimmten (wissenschaftlichen) Thema“, so will es der Duden, aber auch informeller: ein Gedankenaustausch, ein Wortstreit.1 Auf der einen Seite die Logik, das auf eine bestimmte Art und Weise geordnete Wissen über einem Sachverhalt, das, wie wir spätestens seit Foucault wissen, einer gewissen Ordnung und bestimmten Regeln folgt. Auf der anderen Seite etwas, das wir nicht zu Ende wissen können, weil es nicht vollständig ist, etwas das bleibt, obwohl oder gerade weil es nicht aufgehen will im Diskurs, das hartnäckig stört. Wie geht das zusammen? Und vor allem: Wie geht das im Theater zusammen, dem noch immer der Nimbus des Ausgestalteten, des Zuendegeprobten anhaftet? Beide, Diskurs und Fragment, treffen sich im Diskutieren, im discussum, das soviel wie „zerschlagen, zerteilen und zerlegen“ bedeutet. Ein Theater also, das zur Diskussion stellt, das an-spricht und dadurch zerschlägt, hin und her läuft, discurrere, das den geordneten Diskurs aussetzt und unterbricht. Wie sieht ein solches Theater aus, wie seine textuellen Formen? Wie wäre es zu denken? Einen Vorgang fragmentieren heißt, ihn zu öffnen, ihn wiederzueröffnen, um ihn fortzuschreiben, zu verändern, heißt, über das gemeinsame Produzieren ungeahnte Beziehungen herzustellen zwischen Darstellern, dem Publikum und deren Ideen, Bildern, Worten. In seinem Aufsatz Die Kunst – ein Fragment, der den Ausgangspunkt für die Überlegungen zu diesem Band bildete, unterscheidet der französische Philosoph Jean-Luc Nancy zwei Arten des Fragments, in denen sich zwei Arten der Einstellung zur Kunst generell artikulieren. Auf der einen Seite steht jenes Fragment, das selbst 1
Duden 1990, 191.
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Gerald Siegmund schon wieder eine Abgeschlossenheit behauptet, indem es seine ausgefransten Ränder in sich aufnimmt und verschließt. Auf der anderen Seite steht jenes Fragment, dem ein Ereignischarakter zukommt, weil es in seiner Fragmenthaftigkeit etablierte Diskurszusammenhänge zu stören vermag. Geht es in der an das erste Fragment angelehnten Kunstauffassung darum, Kunst als Schöpfung zu begreifen, der ein Werkcharakter zukommt, kann man ein Kunstverständnis, das sich an den zweiten Fragmentbegriff anlehnt, mit Begriffen wie Schock und Störung sowie Emotion und Lust umschreiben. Geht es in der ersten um Bedeutungsvermittlung, geht es in der zweiten nicht nur um die sinnliche Erfahrung, sondern, wie Nancy formuliert, um „die Bahnung des Sinns in der Sinnlichkeit“.2 Es ist unschwer zu erkennen, dass sich das Drama in seiner klassischen Form unter den ersten Fragmentbegriff subsumieren lässt – soll in den Dramen von Lessing, Goethe und Schiller dem Relativen doch etwas Absolutes, dem Besonderen doch etwas Allgemeines entlockt werden. Ist das Drama zwar in seiner Ausschnitthaftigkeit immer nur Fragment, so nimmt es seinen Ausschnitt, der metaphorisch die Welt bedeutet, doch stets für das Ganze. Es ist dieser Überlegung zu verdanken, dass in unserer Formulierung für den Titel dieses Bandes Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne die beiden das Feld absteckenden Enden des abendländischen Theaters benannt sind, wohingegen das zwischen Antike und zeitgenössischer Theaterpraxis liegende Feld nur ex negativo erscheint. Von den zahlreichen Formen, die das westliche Theater in seiner langen Geschichte herausgebildet hat, stellen sowohl die Antike als auch das, was man mit Hans-Thies Lehmanns Begriff des ‚postdramatischen Theaters‘ belegen kann,3 historisch spezifische Möglichkeiten dar, die Geschlossenheit der Repräsentation aufzubrechen. Für diese Form der Darstellung, die sich im bürgerlichen Theater seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, hat Peter Szondi einen engen Begriff des Dramas geprägt.4 Das Drama, wie es sich nach Szondis Definition in der Renaissance herausgebildet hat, rückt das Individuum ins Zentrum der Welt, mithin das – in dramatische Begriffe übersetzt – sich selbst gegebene, frei handelnde und sich allein im zwischenmenschlichen Dialog ausdrückende Subjekt. Auch dieser Subjektbegriff steht mit einem Theater des Fragments auf dem Prüfstand. Dem gegenüber steht ein Theater der Metonymie, das keine metaphorische Transformation des Besonderen ins Allgemeine und
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Nancy 1994, 181. Lehmann 1999. Szondi 1963.
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Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung Transzendente anstrebt, sondern eine Kontiguitätsbeziehung mit der Lebenswelt behauptet. Beides, Kunst und Leben, gehören sozusagen der gleichen syntaktischen Struktur an, wobei die Kunst als Intervention verstanden wird, die Funktions- und Wahrnehmungszusammenhänge suspendieren und infrage stellen kann. Ausgehend von den Neo-Avantgarden und der Performancekunst der 1960er Jahre arbeiten zahlreiche Gruppen, Künstlerinnen und Künstler an der Fragmentierung unserer Wahrnehmung durch den Einsatz von Medien, an der Fragmentierung von einstmals als geschlossen wahrgenommenen Körper- und Stimmbildern, an der Fragmentierung von Gesten auf der Suche nach der Performativität und Theatralität des Alltags, des Subjekts und dessen Handlungsspielräumen. Darin liegt ein erkenntnistheoretisches Problem im Umgang mit Geschichte und dem, was wir für gesellschaftliche Wirklichkeit halten. Walter Benjamin schreibt im Konvolut N Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts seines fragmentarischen PassagenWerks: Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keinen geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.5
Benjamin argumentiert gegen den teleologischen Fortschrittsgedanken in der Geschichtsschreibung, dem er ein Denken der Diskontinuität und des Fragments entgegenstellt. Die Dinge sollen nicht als Erbe der Vergangenheit, die in der Gegenwart noch andauert, gewürdigt, sondern „durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet“ werden.6 Die Rettung erfolgt durch einen aus einer spezifischen Gegenwartssituation heraus erfolgenden Sprung hinein in die Vergangenheit, ausgelöst durch einen Riss im Inneren der Dinge selbst, der die Dinge auf das hin öffnet, was in ihnen als Unabgegoltenes schlummert, das Unabgegoltene, das an den Dingen mehr ist als die Dinge selbst. Dieses ermöglicht deren Weiterleben, ein Nachleben, das immer auch ein Weiterleben der Dinge als Tote ist. Ein Sprung, ein Verlust, eine Riss, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt und ihre Erkennbarkeit in einem zukünftigen Moment ermöglicht. Diese Zukunft liegt in der Verwendung, im Stehlen und Benutzen, im produktiven Gebrauch des Materials durch den Geschichtsschreiber, der hier einem melancholischen Allegoriker gleichkommt, wobei ihm der Gebrauch einen neuen, entwendeten Sinn verleiht.
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Benjamin 1991, 574 (N 1a,8). Benjamin 1991, 591 (N 9,4).
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Gerald Siegmund Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern ein Bild, in dem das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.7
Der Ort dieser Bilder ist für Benjamin die Sprache, die sich in ihrem Status als Bild verdoppelt, um damit zu einer Szene zu werden, auf der die einzelnen Worte wie Schauspieler agieren: als Artaudsche Doubles eines Anderen und der gesprungenen Zeit, als ein gespenstisches Wiederholen des Vergangenen im Hier und Jetzt der je spezifischen Situation. In diesem gespenstischen Wieder-holen einer Abwesenheit in den präsentischen Darstellungsraum - was ein signifikantes Spezifikum des Theaters ist - ist der Entzug der Darstellung stets mitgegeben. Jean-Luc Nancy bezieht diesen Zusammenhang in seinem Text auf die Notwendigkeit der Kunst zum Fragmentieren. Diese Abwesenheit ist durch und durch Abwesenheit qua Darstellung. Und die Kunst selbst ist immer die Kunst, es nicht zu sagen, die Kunst, das Unsagbare im Darstellungsprozeß selbst zur Ex-Positio zu bringen.8
Für Nancy ist dieser „in seiner Unsagbarkeit ausgesagte Sinn“9 der Sinn der Existenz. Der Sinn steht nicht über der Existenz und kommt auf sie hernieder, sondern er ist immer schon in sie involviert, mit ihr stets schon gegeben. Unter Sinn versteht Nancy daher nicht mehr länger einen transzendental gegebenen Sinn. Vielmehr vermag dieser nur aufzutreten durch die Teilung und Fragmentierung des Sinnlichen und Sensiblen. In der Kunst und auf besondere Weise im Theater kann es demnach nicht mehr primär um die Vermittlung von vorab gegebenem Sinn und Bedeutung gehen. Theater als konstellative Situation im Benjaminschen Sinne überliefert keinen bruchlosen Traditionszusammenhang. Das einmalige Zusammenkommen von Darstellern und Zuschauern im raum-zeitlichen Hier und Jetzt der Theatersituation produziert Unvorhergesehenes und legt offen. Das führt einerseits pragmatisch betrachtet zu einem Produktivwerden der Zuschauer. 1975 sagte Heiner Müller, der sicher einiges übers Fragmentieren wusste, in einem Brief an Martin Linzer über den Schreibprozess und dessen Abbildbarkeit in seinen Stücken:
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Benjamin 1991, 577 (N 2a,3). Nancy 1994, 177. Nancy 1994, 177.
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Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung […] die Fragmentarisierung eines Vorgangs betont dessen Prozeßcharakter, hindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung, macht das Abbild zum Versuchsfeld, auf dem Publikum koproduzieren kann.10
Auf einer ontologischen Argumentationsebene, die für Jean-Luc Nancy stets ein Garant für Widerständigkeit ist und deshalb die Möglichkeit des Einspruchs gegen herrschende Diskurse bereitstellt, offenbart das Fragment andererseits den Sinn unserer Existenz als einen stets auf uns zu-kommenden Sinn, als etwas, das uns zu-teil wird, das wir mit anderen teilen, das sich mitteilt. Und was wäre Theater anderes als teilen? Wenn es teilen ist, was wäre es dann anderes als Fragment? Und dass es teilen ist, liegt schon in der räumlichen Zweiteilung des theatralen Dispositivs in Bühne und Zuschauerraum begründet. Somit steht das Fragment oder die Kunst, was hier das gleiche ist, für eine Öffnung auf etwas noch nicht Formuliertes, noch nicht Sagbares, für die Potenzialität einer Handlung. Damit rücken die Bahnungen dieses Sinns selbst in den Vordergrund, Bahnungen, die auf dem Vergnügen, oder genauer gesagt, auf dem Lustempfinden des Subjekts basieren. Dieses Lustempfinden kann durchaus im Sinne Julia Kristevas als Durchquerung signifikanter symbolischer Ordnungen verstanden werden, Durchquerungen, die diese Ordnungen dissoziieren.11 Diese Unterbrechung der Anwesenheit des Sinns, die die Kunst qua Fragment ist, und seine Öffnung hin auf dessen aufgeschobene Ankunft, sein Werden und seine Präsenz, impliziert das, was Jacques Lacan als jouissance bezeichnet: jouir en sens, eine Lust am Mehr als Sinn, an dem, was den Sinn übersteigt, an dem, was in den Sinn (hinein) kommt, was einem einfällt, an der Erschöpfung im und des Sinns, eine Lust und Freude am Überschuss des Signifikanten. Damit ist ein Subjekt angesprochen, das selbst Fragment ist, sich als ganzes unzugänglich bleiben muss, welches aber gerade aufgrund seiner Fragmentiertheit und Unabgeschlossenheit Zugang zur Existenz hat. Fragment ist demnach auf keinen Fall als defizitär zu verstehen, sondern als Möglichkeitsbedingungen für unseren Zugang zur Welt. Gerade weil der Mensch immer schon, wie es Giorgio Agamben im Hinblick auf die Geste formuliert, im Medium ist,12 gerade weil er immer schon an der ubiqitären und daher nicht zu verortenden, geheimnisvollen symbolischen Ordnung teilhat, ist er per se ein intermediales Wesen das, so Georg Christoph Tholen, ohne Dazwischenkunft der Medien in den Raum, der durch die Tei-
10 Müller 1989, 125. 11 Kristeva 1978. 12 Agamben 2001, 60.
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Gerald Siegmund lung entsteht, nichts von sich wüsste.13 Das Subjekt selbst ist eine Konstellation, die das Denken und das Subjekt verräumlicht, es auseinandersetzt, damit es sich mit der Welt auseinandersetzen kann. Für Jean-Luc Nancy beruht dieses Fragmentiertsein des Subjekts auf der Erfahrung unserer Sinneswahrnehmung. Hören und Sehen, Berühren, Schmecken und Riechen sind unterschiedliche Kanäle, die zunächst getrennt voneinander den Menschen auf die Welt hin öffnen. Die Sinne machen uns die Welt auf verschiedene Weisen und an verschiedenen Orten zugänglich. Diese „reziproke Äußerlichkeit sinnlicher Regionen“ muss nun, um zu einem Intelligiblen und damit zu einer Wahrnehmung und einem Denken zu führen, in „Einheit und Organizität“ überführt werden.14 Ein Theater das Fragments, das Hören und Sehen trennt, unterteilt und teilt das Sinnliche und den sich darin anbahnenden Sinn in diesem Sinne neu und anders. Es versperrt sich der Integration der Sinne und arbeitet auf deren Unterbrechung in den Zwischenräumen hin, in denen die Wahrnehmung sich über die materiellen Signifikanten auf einen Sinn hinspannt, ohne sich je in ihm erschöpfen zu können. Die Unterbrechung der symbolischen Ordnung in dieser Ordnung selbst, die Unterbrechung normativ-habitualisierter sprachlicher wie handlungsorientierter Vereinbarungen, weist diese Ordnung selbst als kontingente und damit letztlich fragmentierte aus. Das Fragment (die Kunst) ist also das Symbolische selbst im Augenblick seiner Unterbrechung. Es ist das Geheimnis – Lust und Leid –, das das Symbolische unterbricht und somit dieses Mehr-an-Sinn freilegt, dieses unendliche Mehr an Bedeutung, das in der Selbstbezogenheit und im Zu-sich-selbst-exponiert-sein der Existenz beruht.15
In diesem Sinne soll Fragment im vorliegenden Band verstanden werden: Das Theater des Fragments eröffnet Zugänge zur Welt, die damit nicht als gegeben oder stabil vorausgesetzt wird. In der sich entziehenden Darstellung von Welt in der Darstellung selbst, in jenem anwesend abwesenden Sinn offenbart sich damit etwas von der Geste des Theaters selbst als Fragment.
13 Zur Bedeutung von Nancys Text für die Medienwissenschaft vgl. Tholen 2002. 14 Nancy 1994, 176. 15 Nancy 1994, 183.
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Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung
Literaturv erzeichnis Agamben 2001, G.: „Noten zur Geste“, in: G. Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, 53-62. Benjamin 1991, W.: Das Passagen-Werk, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, II, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Duden 1990: Duden. Das Fremdwörterbuch, Mannheim 1990. Kristeva 1978, J.: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978. Lehmann 1999, H.-T.: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 20012 (19991). Müller 1989, H.: „Ein Brief“, in: H. Müller, Theater-Arbeit, Berlin 1989. Nancy 1994, J.-L.: „Die Kunst – Ein Fragment“, in: J.-P. Dubost (Hrsg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, 170-184. Szondi 1963, P.: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a. M. 1963. Tholen 2002, G. C.: Die Zäsur der Medien, Frankfurt a. M. 2002.
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Überlegungen zum Fragment und zu einer fragmentierenden Poetik aus gräzistischer Sicht ANTON BIERL Fragment kommt vom lateinischen Verb frangere, ‚brechen‘, ‚bersten‘, ‚zerteilen‘ (griechisch Ϲφ·ΑΙΐ). Eine Ganzes, ein Diskurs, eine Geschichte, ein Gedicht oder überhaupt ein ästhetisches Produkt ist bisweilen ein Fragment, ein Bruchstück, ein Splitter. Aufgrund der Überlieferungslage über die enorme Zeitdifferenz hinweg gehört der Umgang mit Fragmenten gerade für den zur altgriechischen Kultur Forschenden zur alltäglichen Erfahrung. Dies gilt insbesondere im Bereich des Dramas, der archaischen Lyrik oder der Vorsokratiker. Als Klassische Philologen sind wir gewohnt, mit solchen zufälligen Funden, zerfransten Papyrusfetzen meist aus Mumienkartonage, die plötzlich im ägyptischen Wüstensand auftauchen und winzige Textteile aufweisen, sowie mit Steinbruchstücken, die Spuren von Inschriften tragen, wissenschaftlich zu arbeiten. Restbestände finden sich ebenso in Zitaten sekundärer Quellen, die über andere Gedanken, Diskurse und Texte referieren. Man vereint alle Bruchstücke einer Textgattung in Fragmentsammlungen, die eine wichtige Grundlage für das Verständnis von ganzen Corpora bilden. Ich denke etwa an die Fragmenteditionen der frühen epischen Dichter von Alberto Bernabé oder Malcolm Davies, der Lyriker von Ernst Diehl, Edgar Lobel und Denys Page, Eva-Maria Voigt, Martin West oder Malcolm Davies, der Vorsokratiker von Hermann Diels und Walther Kranz, der Tragiker von Stefan Radt, Richard Kannicht und Bruno Snell sowie der Komiker von Rudolf Kassel und Colin Austin.1 Durch die Kollektion erschließt sich ein Bild vom 1
Bernabé 1987, A. (Hrsg.): Poetae epici Graeci. Testimonia et fragmenta, I-II, Berlin/New York 1987/19962-2007; Davies 1988, M. (Hrsg.): Epicorum Graecorum fragmenta, Göttingen 1988; Diehl 1925, E. (Hrsg.): Anthologia lyrica Graeca, I-II, Leipzig 1925 (I, 1-3, curavit R. Beutler, Leipzig 194919523; I, 4-II, 5; 6, Leipzig 1935-19402; Suppl. Addenda et corrigenda fasc.
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Anton Bierl Ganzen. Um solche philologische Grundlagenarbeit soll es hier freilich nicht gehen. Sämtliche vollkommenen und ästhetisch abgeschlossenen Texte sind selbst wiederum nur Bruchstücke eines größeren Diskurses oder Megatexts. Und jede Performance wählt sich für ihren Zweck einen Teil vom ganzen Gewebe textlicher und kultureller Produktion aus und verwendet diesen zur jeweils neuen Inszenierung. Man nimmt Elemente heraus, akzentuiert sie anders, variiert und setzt sie immer wieder neu zusammen. Das Homerische Epos verarbeitet aus dem ganzen Arsenal mündlicher Erzählungen bestimmte narrative Genera oder patterns. Beispielsweise erzählt die Ilias vom Krieg und Ruhm der frühen Helden, aber nicht katalogartig in der Totalen, sondern aus der Perspektive einer kleinen Episode, die den Zorn (menis) des Achilles fokussiert. Dabei integriert man in diese Geschichte alle Ereignisse um Troia, wodurch sie Dimensionen einer panhellenischen Großerzählung annimmt. Auch die Odyssee gehört einem bestimmten narrativen Genre an, der Heimkehrersage. Die einfache Geschichte, ein Mini-Ausschnitt aus der ganzen Erzähltradition, wird erneut zu einem komplexen Epos mittels Kombination und Selektion, Variation und Wiederholung, vor allem durch ständige Retardationen erweitert. Das Epos stellt zwar an und für sich eine ganzheitliche und geschlossene Erzählung par excellence dar, aber selbst bei Homer besteht diese wiederum aus fragmentierten und isolierten Bildszenen. Wir haben also weniger eine Darstellungsform vor uns, die von naturalistischer Charakterschilderung geprägt ist, als vielmehr eine traditionelle mündliche Vorstufen der Überlieferung aufnehmende Narration, die nach Bildsequenzen strukturiert ist. In literarischen Traditionen sind wir immer mit Teil-GanzesRelationen konfrontiert. In der griechischen Literatur versteht sich vieles als verarbeiteter Ausschnitt aus Homer, der als übermächtiges Vorbild oder Hypertext verstanden wird. Nach einem bei Athenaios überlieferten Ausspruch des Aischylos betrachtet dieser seine 1-6, Leipzig 19422); Lobel/Page 1955, E./D. L. (Hrsg.): Poetarum Lesbiorum fragmenta, Oxford 1955; Voigt 1971, E.-M. (Hrsg.): Sappho et Alcaeus: Fragmenta (= V), Amsterdam 1971; West 1989, M. L. (Hrsg.): Iambi et Elegi Graeci ante Alexandrum cantati, I-II, Oxford 1989/19922 (1971/19721); Davies 1991, M. (Hrsg.): Poetarum melicorum Graecorum fragmenta, I: Alcman, Stesichorus, Ibycus, Oxford 1991; Diels/Kranz 1952, H./W. (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker (= DK), griechisch und deutsch von H. Diels, hrsg. von W. Kranz, I-III, Berlin 196110 (= 19526; [Diels 19031]); Snell/Kannicht/Radt 1971, B./R./S. (Hrsg.): Tragicorum Graecorum fragmenta, I-V, Göttingen 1971-2004; Kassel/Austin 1983, R./C. (Hrsg.): Poetae comici Graeci, I, II, III.2, IV, V, VI.2, VII und VIII, Berlin/New York 19832001.
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Fragment und fragmentierende Poetik aus gräzistischer Sicht Tragödien lediglich als „Schnitten von den großen Mahlzeiten Homers“.2 Die frühgriechische Lyrik ist ferner schon per se eher eine Teilansicht, eine Momentaufnahme, eine Stimmungsbeschreibung oder Reflexion als eine kontinuierliche Erzählung. Beispielsweise reflektiert man im Anruf an Aphrodite in Sapphos Fragment 2 V. bruchstückhaft über fragmentierte Eindrücke des Lebens, das der Mädchenkreis im Schönen verbringt. Angesprochen werden Tempel, Hain, Apfelbäume, Altäre, Weihrauch, Wasser, Kühle, ein Rauschen, Rosen, Schatten von Blättern, eine Wiese, Blumen und Nektar – daraus setzt sich im Moment der Aufführung synästhetisch ein ganzheitliches Szenario zusammen. Oft wird an die Erinnerung appelliert, die sich ebenso aus partiellen Eindrücken ergibt. Liebe und Leiden rufen insbesondere eine Ästhetik der Fragmentierung hervor, die man am eigenen Körper erfährt. Am berühmtesten ist vielleicht in dieser Beziehung Sapphos Fragment 31.1-15 V.: Es scheint derjenige mir gleich den Göttern / zu sein, der Mann, der gegenüber dir / stets sitzt und aus der Nähe stets, wenn süß du / redest, dir zuhört, / und wenn du lachst – betörend …
– die Reaktion, eine somatische Fragmentierung, die sich auf den Sprechakt überträgt: Das hat mir – wahrhaftig! – / das Herz in der Brust jäh aufgeschreckt! / … ganz gebrochen ist die Zunge, fein / ist augenblicks unter die Haut ein Feuer mir gelaufen, / und mit den Augen seh’ ich nichts, es / dröhnen die Ohren, / herab rinnt kalter Schweiß an mir, ein Zittern / hält ganz gepackt mich, fahler noch als Dürrgras / bin ich …3
Die bukolische Dichtung hat im vierten Jahrhundert v. Chr. die Fragmentierung mit Blick auf die zerstörerische Liebe als Krankheit – nun aus der radikal veränderten Perspektive einer reinen Schriftlichkeit der Rezeption – zum poetologischen Experiment umgeformt. Theokrit zeigt in seinem ersten, programmatischen Idyll diverse Verfahren, welche die Einheit der hexametrischen Komposition zertrümmern und Rahmungen von immer neuen Rahmen schaffen. Die Mimesis eines volkstümlichen mündlichen Lieds vonseiten des Thyrsis über Daphnis (64-142), den modellhaften mythischen Hirten, der aufgrund seines Leids über eine nicht erwiderte Liebe dahinschmelzend zugrunde geht, zerstückelt durch immer wieder ein-
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Ath. 8.347e = A. test. 112a Radt. Übersetzung Latacz 1991, 423.
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Anton Bierl gefügte refrainartige Aufrufe an die Musen den Vortrag in Teilchen.4 Die lyrischen Impressionen zum erotischen Pathos gleichenden Fragmente machen zudem die Rekonstruktion einer kohärenten Biographie des Daphnis unmöglich. Zugleich ergänzt sich die musikalische Performance des Thyrsis mit der ausführlichen Ekphrasis eines wertvollen Bechers im ersten Gedichtteil (27-56), den der anonyme Ziegenhirte als idealisierter Antagonist seinem Gegenüber zum Preisgeschenk oder besser zur Gegengabe für das vorzutragende Lied aussetzt. Die kleinen beschriebenen Szenen aus dem idyllischen einfachen Leben mitsamt verzierenden Rahmungen reflektieren ihrerseits die unterschiedlichen Themen und das vignettenartige Verfahren einer solchen Poesie in ‚Bildchen‘. Das in partiellen Ausschnitten beschriebene Objekt steht in Komplementarität und in Reziprozität zum in der Performance dynamisierten und zerteilten Hymnos. Die anthropologische Verfasstheit in einer leidvollen Existenz und insbesondere das Bewusstsein über die eigene Sterblichkeit führen – um wieder ins sechste vorchristliche Jahrhundert zurückzukehren – nicht nur den lyrischen Dichter, sondern auch den dem Logos des Prosaworts folgenden vorsokratischen Philosophen Heraklit aus Ephesos zu einer aphoristischen, extrem bruchstückhaften und verrätselten Diktion. Damit will er den Rezipienten wie in einem Mysterium zur Erkenntnis der Weltzusammenhänge führen, die auf einer im Verborgenen wirkenden „gegenwendigen Harmonie“ (Fr. 51 DK) zusammengehöriger und sich abstoßender Gegensätze basieren. Die kunstvoll, häufig unverbunden aneinander gereihten Wortfetzen führen im Sprechakt performativ zu einer Erfassung des Ganzen. Dementsprechend liest man etwa in Fragment 10 DK: Zusammen-Ergreifungen (Verstehen [ΗΙΏΏΣΜΉΖ] bzw. innige Berührungen [ΗΙΑΣΜΉΖ]), Ganzes und Nichtganzes, zusammentragend-auseinandertragend, zusammenstimmend-auseinanderstimmend, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.
Im Sprechen zerhackter und rätselhafter Sätze wird also der inhärente Sinn des Kosmos selbst begriffen. Das Leid bestimmt in noch viel größerem Ausmaß die Tragödie. Im Schmerzensausbruch über verheerende Schicksalsschläge gehen Figuren auf der tragischen Bühne ihres kontinuierlichen Sprechduktus verlustig. Aischylos’ Theater zeichnet sich durch eine spezifische prädramatische Thea4
ΩΕΛΉΘΉȱΆΓΙΎΓΏΎκΖ,ȱ̏ΓϧΗ΅ȱΚϟΏ΅,ȱΩΕΛΉΘдȱΦΓΈκΖ (64, 70, 73, 76, 79, 84, 89, 94) betont den Anfang; die Variation ΩΕΛΉΘΉȱ ΆΓΙΎΓΏΎκΖ,ȱ ̏ΓϧȬ Η΅,ȱ ΔΣΏΑȱ ΩΕΛΉΘдȱ ΦΓΈκΖ (99, 104, 108, 111, 114, 119, 122) verweist auf den Fortgang und die Formulierung Ώφ·ΉΘΉȱΆΓΙΎΓΏΎκΖ,ȱ̏ΓϧΗ΅,ȱϥΘΉȱ Ώφ·ΉΘдȱΦΓΈκΖ (127, 131, 137, 142) auf das Ende. 22
Fragment und fragmentierende Poetik aus gräzistischer Sicht terform aus, die nicht Charakter und Handlung in den Vordergrund rückt, ebenso wenig auf deutlicher Fiktion, Repräsentation oder thetischer Aussageintention beruht, sondern als bildgesättigte Performance Ethos und Pathos vermittelt. Zudem ist die rituelle Einbindung in den Dionysoskult weit wichtiger als bisher geglaubt.5 Die dionysische Rahmung greift ins Spiel aus und Rituale wie die Klage oder das Opfer, welche ebenfalls in der äußeren kultischen Verankerung vorkommen, liefern ein performatives, ikonisches und sprachliches Repertoire, aus dem das Psychodrama sein Potential schöpft. Die Perser, in denen der Sieg über die Persermacht im Jahre 480 v. Chr. acht Jahre danach auf der attischen Bühne aus der Perspektive der Unterlegenen verarbeitet wird, um dieses Ereignis ins kollektive Gedächtnis zu überführen, weisen eine kulturelle ‚Textur‘ auf, die sprachlich über Bilder, Metaphern und Metonymien vermittelt wird. Diese speisen sich zum Teil wiederum aus lebensweltlich Ritualen, insbesondere aus dem Klageritual. Das Zerreißen der Gewänder des Xerxes, der durchgehende Verweis auf sein zerfetztes Äußeres, ist ein Schlüsselmotiv, das die Zerstörung der Ordnung, die Dekomposition der Persermacht, metonymisch-synekdochisch ausdrückt.6 Der kollektive Threnos und der Klagegestus [·ϱΓΖ] bestimmen die einfache narrative Gestaltung. Ubiquitär vorkommendes Zerreißen, Zersplittern, Zerwalken, Zerbrechen, Aufreiben, Aufspießen, Zerraufen und Zerkratzen bilden das eindringliche Vokabular des Pathos, das ebenso die Gewalt der kriegerischen Auseinandersetzung vermittelt. Wasser und das Meer lassen die gewaltsame Verbindung der Kontinente mittels einer Brücke bersten. Das Aufbrechen der Kluft, der natürlichen, unüberbrückbaren Distanz zwischen den Kontinenten Asien und Europa, die Xerxes mit einem Joch künstlich verbunden hat, wird überall nachempfunden. Der sich auftuende Riss wird zugleich im Sprechakt der Klage in Worte gefasst. Die heftig-exzessiven, immer mehr anschwellenden Klagelaute, das popoi, totoi, pheu, heh, ototototoi, zerreißen insbesondere in der Klimax der antiphonischen Darbietung der Exodos den Sprechfluss. Umgekehrt wird das Trauergeschrei gestisch durch das Zerfetzen der Gewänder verstärkt. Sympathetisch wird das Stöhnen, der die Abwesenheit ausdrückende Missklang, auf die asiatische Erde übertragen. Der klaffende Abgrund, in den Tausende stürzen, wird zugleich mit dem Mangel, vor allem mit der Sehnsucht der Frauen und Männer nach den gefallenen
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Dazu Bierl 1991. Vgl. dazu Gödde 2000, 37-47, Zitat ebd. 37. Zu diesem Absatz ausführlicher Bierl 2007, 53-62.
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Anton Bierl Kriegern verwoben.7 Die Lücke, der grässliche Graben, der die Lebenden von den geliebten Toten trennt, wird metaphorisch in die rituelle Klage überführt, von der die Sprache der Wehlaute umgekehrt die drastischen Bilder erhält. Der gähnende Zwischenraum des trennenden, tosenden Meeres wird im threnodisch-fragmentierenden Sprechen wiederhergestellt. Kassandra, ausgestattet mit mantisch-manischer Sehergabe, verliert im Agamemnon angesichts ihres bevorstehenden Todes auf ähnliche Weise ihre zusammenhängende Sprache. Stammelnd bricht sich ihre Stimme, der Duktus reißt und vernehmbar werden nur noch abgehackte Einzellaute des Wehgeschreis. Dies gilt in unterschiedlicher Ausprägung für alle anderen Tragiker, da der Ausdruck des Leids offensichtlich die Gattung konstituiert. Als hellenistisches Beispiel einer extrem verrätselnden und fragmentierenden Poetik will ich zudem den dramatischen Monolog Alexandra des Lykophron ebenfalls aus der Sicht dieser trojanischen Weissagerin anführen. Das Gedicht, das eventuell aus der Feder des gleichnamigen Tragikers stammt, ist als Ausdruck einer hellenistischen Gelehrsamkeit und kompositorischen Experimentierfreude zu verstehen und präsentiert sich erneut als zerstückelte Prophetie der Kassandra, die am Tag, als Paris nach Griechenland abfährt, um von dort Helena zu entführen, alle Ereignisse des trojanischen Krieges sowie die diversen leidvollen Rückkehrgeschichten der Helden voraussagt. Damit wird zugleich der ganze epische Kyklos häppchenweise eingelesen. Am Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. mit dem Abschluss der Klassik bilden Euripides’ Bakchen wohl das beste Beispiel einer tragischen Fragmentierung. Schon im Megadiskurs des Mythos und Rituals geht es um das schreckliche Zerreißen, um den Sparagmos des Dionysos-Widersachers Pentheus. Der sophistisch beeinflusste, extrem ästhetisch bewusste Künstler Euripides schafft in diesem Spätwerk eine metatheatrale Tragödie, ein Spiel im Spiel, das die Wirkweise der Tragödie im Zeichen des Tragödiengottes als mise en abyme ausspielt.8 Der tatsächliche Sparagmos des Leibs des Leidensmannes ‚Pentheus‘ (von ΔνΑΟΓΖ – ‚Leid‘) überträgt sich auf eine Aufführung der Fragmentierung der Diskurse und des Individuums. Der Gottesgegner [ΟΉΓΐΣΛΓΖ] wird als Figur inszeniert, die sich auch dem Theater und seinen Gegebenheiten widersetzt, indem sie nur das evident vor Augen Liegende als Realität anerkennt. Dionysos will Pentheus durch Illusionierungen, Halluzinationen, Wunder, Täuschungen und Rätsel auf die tiefere Schicht der Schaubühne ziehen. Da er sich weiterhin weigert, darauf einzugehen, bestraft ihn
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Vgl. ΔϱΟΓΖ (A. Pers. 541-545), ϥΙ·Β (die magische Sehnsucht) (988); auch die Choreuten empfinden Sehnsucht (992); ebenso die Erde (61-62). Bierl 1991, 177-218.
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Fragment und fragmentierende Poetik aus gräzistischer Sicht der Gott mit der grausamen Zerstückelung durch die Hände seiner Mutter und der anderen thebanischen Frauen, die der Gott mit Wahnsinn schlug und auf den Berg Kithairon versetzte. Die ungeheure Kunst der Rache liegt in der raffinierten Strategie, den Kontrahenten durch ausschließlich aus seinem mythisch-kultischen Bereich stammende Elemente zum Untergang zu führen. Die Instrumente der tragischen Tat sind die sich ebenfalls der Gottheit widersetzenden thebanischen Frauen, die als rasende Mänaden den Spion in Stücke reißen. Pentheus wird allmählich auf das dionysische Terrain gelockt, wo er den Tod finden wird. Die gegenstrebigen Spannungen zwischen dualen Oppositionen im Wesen des Gottes werden in der Vielfältigkeit der Zeichen in eine mise en abyme der Bestrafungsintrige überführt, die zu einem grausamen, pervertierten Anti-Theater entartet. Zuletzt werden die verstreuten Leichenteile zusammengesetzt, der Tote beklagt: Klage ist in der Autoaggression des Zerkratzens und Zerraufens mimetische Nachahmung der Dekomposition des Todes, zugleich verarbeitende Rekomposition und Rückkehr in die Normalwelt. In der compositio membrorum spiegelt sich das fragmentierte Ganze, das als Dionysisches in dieser Tragödie zur Aufführung kommt. Chortanz, Gesang, Theater, Rhythmus, Pauken, Musik, Mania, Oreibasie, Sparagmos, Omophagie, Mänadentum, Opfer, Weintrinken, ausgelassene Feiern, spezifische Kostümierung mit Thyrsos und Tierfellen, Maskierung, Verjüngung, heftige Bewegung, Mysterieninhalte, Vorstellungen eines idyllischen Lebens nach dem Tode, Opferriten, Licht- und Lauteffekte sowie deren Verdoppelungen und Wiederholungen in der Variation und Selektion bewirken einen Wirbel von Bruchstücken des gesamten mythisch-rituellen Dionysos-Komplexes, der in der Performance der Bakchen auf ästhetische Weise neu inszeniert wird. Diverse Handlungsmuster wie die Mysterieninitiation, das Jahresfestritual, das Opfer, der Ablauf Pompe-Agon-Komos werden verschachtelt, ineinander gespiegelt, in Teile zerlegt und zur Plotstruktur zusammengesetzt. Elemente der institutionellen kultischen Rahmung vermengen sich mit Spielsplittern im Stück. Die einfache tragische Handlung findet ihren Höhepunkt und narrativen Reflex im ausführlichen zweiten Botenbericht (1043-1152), der wiederum aus sämtlichen Teilversatzstücken montiert ist. Überall gibt es Doppelungen, Spiegelungen, das Zusammenfallen von Teilbereichen, die verwirrende Überlappung von Mythos und Kultus, von asiatischem und thebanischem Chor, von Glückseligkeit und Schrecken, von Männlichem und Weiblichem, von Realität und Illusion, von Krieg und Frieden, von Gewalt und Utopie, von Fremdem und Einheimisch-Athenischem. Es geht in den Bakchen also kaum um das Nachspielen eines bekannten Mythos als einer Handlung, sondern um das Inszenieren einer dionysischen Totalität, die sich aus der
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Anton Bierl Fragmentierung, Demontage, Mischung und Remontage von Einzelzeichen ergibt. Der Theatergott inszeniert demnach unter seiner Regie sein spezifisches Theater der multimedialen Vielstimmigkeit auf der Grundlage aller Bestandteile, die im Theatralen, vor allem in der Choreia sowie im Mix von Ritus und Mythos liegen.9 Dieses bereits im antiken Stück vorhandene selbstreferentielle Bewusstsein der eigenen Fragmentierungsstrategien wird dann in modernen Wiederaufführungen seit Richard Schechners Dionysus in 69 für theatrale Erneuerungsexperimente fruchtbar gemacht.10 Dabei werden die schon bei Euripides angelegten Tendenzen zum Sparagmos, zur Zertrümmerung und Zersplitterung des Textes verstärkt. Verschiedene aktuelle Bühnenrealisierungen arbeiten mit Rissen, Brüchen und Einsprengseln anderer Textbruchstücke, die z. B. aus Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud entnommen sind. Oder der Text wird weiter reduziert und das rein Performative als mélange von Einzelelementen in den Vordergrund geschoben. Körperlichkeit, Ritualität und Performativität konnten anhand dieser Tragödie für das westliche Theater wiedergewonnen werden. Das Prädramatische findet somit in postdramatischen Inszenierungsmitteln seinen Aufschluss.11 Die Kennzeichen des Postdramatischen sind nach Hans-Thies Lehman wie folgt: Es ist anti-aristotelisch, nicht-thetisch und ebenso wenig mimetischreferentiell. Es ahmt also keine Handlung nach. Die Spannung steht nicht im Vordergrund, vielmehr geht es um das theatrale Spiel, die Betrachtung und Selbstreflexion. Es entzieht sich einer klaren Synthese, produziert ein synästhetisches Spektakel metonymisch sich im Raum bewegender Bilder; es ist als umfassende Performance verständlich, die sich wie das Ritual auszeichnet durch Parataxis und mangelnde Hierarchisierung, Simultaneität, Dichte und Überfülle der Zeichen, Musikalisierung, Visualisierung, Multimedialität und Körperlichkeit. Deixis, der Einbruch des Realen, also das Schwanken zwischen innerer und äußerer Vermittlungsebene, spielen eine wichtige Rolle. Der Raum ist entsprechend zum Publikum offen und durchlässig, die Zeit gleicht der Dissemination, der Sinnstreuung, in Traumbildern. Der Sprechakt wird in seiner Er9 Vgl. nun auch Bierl 2009a. 10 Vgl. meine im Sommersemester 2007 in Basel durchgeführten Veranstaltungen, die den Studierenden und Doktorierenden zur Vorbereitung der Tagung dienten, das philologische Seminar „Euripides, Bakchen – Dionysos und das griechische Theater“ und das interdisziplinäre Kolloquium „Dionysos und die Euripideischen Bakchen: Religion, Literatur, Performance im Kontext moderner Theorie, neuester Forschung und moderner Rezeption“; zur Rezeption der Bakchen vgl. Fusillo 2006 und die Beiträge von Finter, Meneghetti und Fusillo in diesem Band. 11 Lehmann 1991.
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Fragment und fragmentierende Poetik aus gräzistischer Sicht eignishaftigkeit vorgeführt, es wimmelt von Selbstbezügen und von Metatheatralität. Ferner herrscht eine Ästhetik der Störung sowie des Antiveristischen. Im Einklang damit stehen überhand nehmende Soli sowie eine Vorliebe für das Chorische.12 Nicht zuletzt sind auch andere Tragödien wie zum Beispiel die Helena des Euripides durch eine fragmentierende Poetik des Mythos und Rituals gekennzeichnet. Hier werden Einzelelemente der Klage, der Hochzeit und des Opferrituals zu einem auf dem Initiationsparadigma basierenden Plot zusammengefügt und mit intellektuellsophistischen Theoremen versetzt. Im Satyrspiel, dem Schlussstück der tragischen Tetralogie, bezieht man sich im inkongruenten Spiel der wild-tänzerischen dionysischen Wesen der Satyrn, die grundsätzlich den Chor stellen, auf Einzelteilchen bestehender kultureller Diskurse zurück, gerade auch auf die Tragödien, die im nämlichen Wettbewerb als Trilogie aufgeführt wurden. Auf absurd-unbegründete Weise werden wichtige Themen und Strukturen der vorher gespielten tragischen Stücke bewahrt. Mit Schlüsselwörtern wird auf Bruchstückchen angespielt, die in inkongruenter, patchworkartiger catchword-Technik neu montiert werden.13 Die Alte Komödie verfährt in der paratragodia auf ähnliche Weise. Fragmentierte Tragödienzitate werden in den eigenen Textkörper integriert und ganze Stücke können auf Elementen von bekannten Tragödien aufbauen. Aristophanes konstruiert beispielsweise die Acharner und die Thesmophoriazusen auf einem solchen ‚gegensingenden‘, parodischen Spiel mit Euripides. Im ersteren Fall spielen dabei Versatzstücke des Telephos, im letzteren vor allem Helena und Andromeda eine große Rolle.14 Die dritte dramatische Gattung beschränkt sich freilich nicht nur auf ein solches parodisch-intertextuelles Spiel mit der Tragödie und anderen literarischen Texten, sondern sie lebt überhaupt von einer polyphonen Interdiskursivität. Parasitär bezieht man Material aus Bruchstücken sämtlicher bestehender Diskurse der Polis. Überall liest die Alte Komödie also ins Groteske verzerrte Fragmente der Tagespolitik, des Opfer- und Orakelwesens, der Heilkunst, der Philosophie und vieler anderer aufkommender Fachwissenschaften, insbesondere aber auch Elemente des Mythos und des Polisrituals ein. Und selbst der Vater der Geschichte, Herodot, verarbeitet Elemente des mythisch-rituellen Megatextes in freier Kombinatorik zur Konstruktion und Strukturierung seiner Erzählungen. Das Spiel zwischen Diskurs und Fragment hat also offensichtlich schon seit der griechischen Antike als eine Art Generator kultu12 Lehmann 1999 (mit der Begrifflichkeit, die ich nicht mehr in Anführung setze). So zusammengefasst bei Bierl 2001, 13-14; 300-304; 373. Zum Prädramatischen in den Persern vgl. Bierl 2009b. 13 Vgl. Bierl 2006, insbesondere 134-138. 14 Zu diesem Verfahren in den Thesm. vgl. Bierl 2001, insbesondere 225-287.
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Anton Bierl reller Erfindungsgabe und Produktion gewirkt. Obgleich dieser Mechanismus für einen postmodernen Schaffensprozess in besonderer Weise charakteristisch ist und ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, kann ein Blick zurück auf die Wurzeln unserer heutigen Kultur auch in diesem Fall eine vertiefende Einsicht erzielen.
Literaturv erzeichnis Bierl 1991, A.: Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ‚metatheatralische‘ Aspekte im Text, Tübingen 1991. Bierl 2001, A.: Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität, München/Leipzig 2001. Bierl 2006, A.: „Tragödie als Spiel und das Satyrspiel. Die Geburt des griechischen Theaters aus dem Geiste des Chortanzes und seines Gottes Dionysos“, in: J. Sánchez de Murillo und M. Thurner (Hrsg.), Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, 3: Kind und Spiel, Stuttgart 2006, 111-138. Bierl 2007, A.: „Zwischen dem Selbst und dem Anderen. Aischylos’ Perser und das Politische in der antiken Tragödie“, in: E. Fischer-Lichte und M. Dreyer (Hrsg.), Antike Tragödie heute. Vorträge und Materialien zum Antike-Projekt des Deutschen Theaters, Berlin 2007, 49-64. Bierl 2009a, A.: „Prozessionen auf der griechischen Bühne: Performativität des einziehenden Chors als Manifestation des Dionysos in der Parodos der Euripideischen Bakchen“, in: K. Gvozdeva, W. Röcke und H. R. Velten (Hrsg.), Performativität der Prozession. Texte und Bilder ritueller Bewegung in der Vormoderne, Berlin 2009 (im Druck). Bierl 2009b, A.: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/Witzmann“, in: H. Goebbels und N. MüllerSchöll (Hrsg.), Heiner Müller sprechen, Berlin (im Druck). Fusillo 2006, M.: Il dio ibrido. Dioniso e le ‚Baccanti‘ nel Novecento, Bologna 2006. Gödde 2000, S.: „Zu einer Poetik des Rituals in Aischylos’ Persern“, in: S. Gödde und T. Heinze (Hrsg.): Skenika. Beiträge zum antiken Theater und seiner Rezeption. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst-Dieter Blume, Darmstadt 2000, 31-47. Latacz 1991, J.: Die griechische Literatur in Text und Darstellung. 1: Archaische Periode, Stuttgart 1991. Lehmann 1991, H.-T.: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. Lehmann 1999, H.-T.: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 20012 (19991).
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Zu den Beiträgen Die folgenden Texte sind aus einer Tagung des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Pro*Doc „Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz“ der Universitäten Basel und Bern im Juli 2007 am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern hervorgegangen. Der Beitrag von Hans-Thies Lehmann wurde im Rahmen einer Ringvorlesung des Pro*Doc im Oktober 2008 an der Universität Basel gehalten. Deutlich wird in der Übersicht der Beiträge der Zusammenhang von Fragmentierung und Subjektivität. In ihrem Gewaltpotential und ihrer Ordnungen aufsprengenden Kraft scheint diese Verbindung paradigmatisch in Euripides’ Tragödie Die Bakchen realisiert zu sein. Die Fragmentierung ist in erster Linie eine des Subjekts und seiner repräsentativen Instanzen im Theater: des Schauspielers und des Zuschauers. Wird im Falle der Darsteller die im bürgerlichen Theater postulierte ‚natürliche‘ Einheit von Person, Rolle und Figur in der Darstellung aufgelöst, treten jene Elemente als losgelöste Fragmente in den Vordergrund, die diese Einheit allererst herstellen: die Stimme und der Körper des Schauspielers. Durch medialen Einsatz aufgebrochen, kommen Stimme und Körper nicht mehr zur Deckung und eröffnen damit einen Zwischenraum, der zum einen die Vorstellung eines selbstidentischen Subjekts auflöst und zum anderen die Wahrnehmung der Zuschauer fragmentiert. Diese werden in die Lage versetzt, anders zu hören und zu sehen, indem sie die Verbindungen zwischen den Fragmenten selbst ziehen können. Ein Denken des Fragments leistet hier eine prozessuale Öffnung festgefügter Körper- und Stimmbilder, die einen Vollzug von Subjektivität in Gang setzt, der sich über die Spaltung und die Fragmente vollzieht. Helga Finter geht in ihrem Beitrag dem konfliktreichen Zusammenkommen von Stimme und Körper in Klaus Michael Grübers legendärer Inszenierung der Backchen (1974) an der Berliner Schaubühne nach. In der Figur des Dionysos artikuliert sich der körperliche Ursprung der Stimme und ihrer Lust, die in der Inszenierung der rationalen metrisch gefassten Sprache der Figur des Pentheus entgegengestellt wird. So definieren sich Dionysos und Pentheus über
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Theater des Fragments das je spezifische Verhältnis ihrer Stimmen zu ihren Körpern, die nie zur Deckung kommen können. Im Zuge dieser Fragmentierung artikuliert sich das Subjekt als gespaltenes. Diese grundlegende Öffnung des menschlichen Körpers auf das Andere hin sieht Arno Böhler bereits in der Aristotelischen Philosophie thematisiert. Die „substantielle Verfassung von Subjektivität“ zeichnet den Körper im aristotelischen Denken als Bruchteil eines Kontinuums. Der Körper bleibt daher, wie der Raum der ihn sowohl umgibt als auch konstituiert, unendlich offen und fragmentarisch. In dieser Erfahrung des Ausgesetztseins des Körpers im Raum, dem Pathischen, vermag der Körper Erfahrungen zu machen, für die der Begriff der Seele steht. Die Seele ist somit Teil des Körpers und keineswegs ein immaterieller Gegenstand. In Weiterführung des Aristotelischen Denkens wird der Körper in der Philosophie Jean-Luc Nancys zum aufgebrochenen perforierten Körper, zum partes extra partes. Gregory Nagy entwickelt anhand von drei als Fragmenten überlieferten Texten eine Poetik der Brechung. In einem Fragment aus Sapphos Liedern verschiebt sich der Rhythmus des Gesangs gegen die semantischen Grenzen der Verse. Wie in Grübers Figur des Dionysos wird auch ein Hiat zwischen Stimme und Körper eingeführt, in dem die Stimme und mit ihr die Identität des Sprechenden zerbricht. In Jacques Offenbachs unvollendeter Oper Hoffmanns Erzählungen schließlich ist es die Muse des romantischen Dichters, Stella, deren Idealität und Identität auf drei stimmlich wie körperlich zerbrechende Frauengestalten aufgeteilt und damit fragmentiert wird. Auf semiotischer Grundlage stellt Ernest Hess-Lüttich die Frage nach der Fragmentierung, die intermedial konstituierten Texten innewohnt. Dabei zeichnen sich Schrift, Bild und Musik durch unterschiedliche Zeichenfunktionen aus, deren Werte und deren Bedeutung sich nicht ohne weiteres gegeneinander austauschen lassen. Welche Zeichenfunktion im Akt der Rezeption letztlich aktiviert wird, hängt von den individuellen Semioseprozessen der Rezipienten ab. Diese vermögen, je nach Kompetenz, Zeichen über Zeichen in Zeichen zu übersetzen, um unterschiedliche Interpretanten an die jeweiligen Zeichen heranzutragen. Auf diese Art können sprachliche Texte mit Hilfe von visuellen Erfahrungen interpretiert, Musikstücke als sprachliche Zeichen behandelt werden. Die Fragmentierung liegt demnach in der Wahrnehmung der Rezipienten. In ihrer künstlerischen Arbeit unternehmen Claudia Bosse und ihre Gruppe theatercombinat den Versuch, Text und Körper zu konfrontieren. Nicht der mimetische Nachvollzug einer dramatischen Handlung steht im Zentrum ihres Interesses, sondern das Theater wird als Labor gesellschaftlicher und ästhetischer Praktiken ver-
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Zu den Beiträgen standen, die im Beisein der Zuschauer erprobt werden. Dies setzt die Trennung der Theatermittel voraus, die in neuen Konstellationen die phantasmatische Einheit von Rolle und Figur sowie von Gehörtem und Gesehenem fragmentieren. Durch die Arbeit am Rhythmus der Sprache und der Körperlichkeit ihrer Artikulation werden Zäsuren in den dramatischen Text eingefügt, die Hörer, Sprecher und Zuschauer zu anderen gedanklichen Vorgängen herausfordern. Auf diese Weise entstehen sprachliche und räumliche Architekturen, in denen sich die an der Aufführung Beteiligten auf verschiedenen Arten begegnen und konfrontieren können. Die Fragmentierung der Wahrnehmungssituation schafft Zwischenräume, in denen die Distanz zum Text, der bearbeitet wird, stets hörund sichtbar bleibt und in denen sich die Zuschauer und Zuhörer selbst verorten und verhalten müssen. Claudia Bosses Arbeit setzt nicht nur an traditionellen Theatertexten wie Shakespeares Coriolan oder Aischylos’ Perser an, sondern widmet sich auch Fragmenten der Theaterliteratur wie etwa Bertolt Brechts Fatzer-Material. Dass die deutsche Literatur reich ist an Dramenfragmenten, darauf verweist Patrick Primavesi. Gerade zur Hochzeit des bürgerlichen Theaters um 1800 haben deutschsprachige Dramenentwürfe ebenso wie Theorien des Tragischen mit der elementaren Krise der Tragödie zugleich ihre Aktualität reflektiert. Primavesi begreift die fragmentarische Schreibweise vor allem als Reflex der historischen Katastrophen, mithin als Schreibweise der Krise. Neben der fragmentarischen Überlieferung antiker Texte besteht demnach auch ein struktureller Zusammenhang zwischen Tragödie und Fragment. Das Fragment verweist auf eine andere Tradition des deutschen Theaters, die das Postulat der Geschlossenheit des dramatischen Textes in der Zeit der Klassik selbst subvertiert und zugleich die Grenzen der Gattung Tragödie zu erweitern vermochte. Der Produktion von Fragmenten wohnt ein Moment der Performanz inne, das eine andere Art der Darstellung impliziert, die mit einem Blick auf postdramatische Theaterformen neue Aktualität erlangt. Hans-Thies Lehmann denkt in seinem Beitrag über die Verbindung zwischen Tragödie und Performance nach und postuliert, dass die zeitgenössische Performance die Funktion der antiken Tragödie übernommen habe, die nach Aristoteles in ihrer kathartischen Wirkung, in der Abfuhr von Affekten, besteht. Das Tragische löst sich demnach von der geschlossenen Form des dramatischen Theaters ab, das nicht mehr als eine historisch kontingente Ausprägung des Tragischen darstellt, und wendet sich anderen Formen zu, die unter veränderten gesellschaftlichen und medialen Bedingungen über ein Spiel der Affekte eine Öffentlichkeit herzustellen vermögen. Am Beispiel der französischen Performance-Künstlerin Orlan, die sich in
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Theater des Fragments den 1990er Jahren einer Reihe von ‚Schönheitsoperationen‘ unterzog, stellt er da, wie sich prä- und postdramatische Theaterformen über den Austausch von Affekten berühren, die die geschlossene Gestalt zu Gunsten einer offenen Kommunikationssituation fragmentieren. Stellt das performative Moment der Affekte ein Fragmentierungspotential bereit, so kann die Geste als Träger des Affekts und damit der öffnenden Fragmentierung betrachtet werden. Nikolaus Müller-Schöll überträgt Giorgio Agambens Diagnose, dass die modernen Versuche der Geste durch technische Mittel habhaft zu werden, sie etwa fotografisch einzufangen und festzuhalten, das Zeichen eines unwiederbringlichen Verlusts der Geste darstellen, auf das Theater. Die Erfahrung des Verlusts einer Totalität, in deren kausal-logischen Zusammenhang die menschliche Geste kommunizieren und bedeuten würde, führt zu einer Erfahrung der unaufhebbaren Fragmentierung, die Müller-Schöll im Theaterzusammenhang als Krise der Geste und ihres Ausdrucks beschreibt. Am Beispiel der Phädra-Inszenierung der New Yorker Wooster Group, To You the Birdie! (Phèdre), die das Stimm- wie das Körperbild der Schauspieler auf ingeniöse Art und Weise demontiert, zeigt er, dass es keinen Weg von Innen nach Außen gibt. In der Versuchsanordnung der Wooster Group erscheint der Körper als Matrix der Einschreibung und damit per se als Leerstelle, die sich gerade im Moment eines Kontrollverlusts der Schauspieler inmitten eines technischen Dispositivs zeigt, das sich durch vielfältige Überlagerungen von Zeichen, Affekten und Bedeutungen auszeichnet. Die Produktion Flicker der Big Art Group in der Regie von Caden Manson dient Jens Roselt dazu, über das Verhältnis von Theater und Medialität nachzudenken. Gestaltet das Theater stets einen Zwischenraum, indem das Sehen und Gesehenwerden verhandelt wird, besteht seine Medialität darin, wie durch spezifische räumliche Verhältnisse Wahrnehmungsordnungen erzeugt werden. In Mansons Versuchanordnung verstellen drei Leinwände den Zuschauern den Blick auf die Bühne und das Live-Geschehen. Kameras fangen die Körper und Aktionen der Schauspieler dahinter ein und projizieren sie auf die Leinwände. Um das Bild eines Menschen entstehen zu lassen, sind mehrere Körper nötig, die der sichtbaren Figur einzelne Körperteile leihen, aus denen diese zusammengesetzt wird. Durch die besondere Anordnung der Kameras entstehen zum Einen tote Winkel, in denen sich die Darsteller aufhalten können, ohne zum Bild zu werden. Zum Anderen oszilliert der Blick der Zuschauer ständig zwischen der Präsenz der realen Körper und deren technisch-medialer Repräsentation hin und her, um so permanent tote Winkel zu produzieren, „als machte das Blicken selbst unsichtbar.“
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Zu den Beiträgen Um den durch den Blick erzeugten toten Winkel geht es auch in Andy Blättlers Analyse von Jeff Walls Picture for Women. Der kanadische Künstler inszeniert in seiner Leuchtkastenfotografie, die als Verweis auf die Kunstgeschichte Edouard Manets Gemälde La Bar aux Folies-Bergère aufgreift, „eine listig täuschende Blickfalle, ein trompe-l’oeuil“, das die totale Sichtbarkeit, die das Bild durch die Präsenz einer Kamera in der Bildmitte und eines Spiegels zu inszenieren scheint, wieder in Frage stellt. Das Bild stellt den Akt der Fotografie als unmittelbaren Augenblick selbst dar: Der Künstler Jeff Wall betätigt über das Auslösekabel die Kamera und blickt gleichzeitig über den Spiegel auf sein Modell. Sieht der Betrachter das Bild, das sich im Moment des Betrachtens gerade herzustellen scheint, so wird damit auch die Abfolge der Zeit außer Kraft gesetzt. Zeit wird demnach immer schon als medial konfigurierte sichtbar, die das Ereignis des Bildes als ein sich selbst gebendes enteignet. Um eine Dekonstruktion der Präsenz, die kausal-logische Zusammenhänge suspendiert, öffnet und fragmentiert, ist es auch Christoph Meneghetti zu tun. Ansatzpunkt für seine Analyse von Richard Schechners berühmter Inszenierung Dionysus in 69 ist die stillschweigend gesetzte Übereinstimmung von Gegenwärtigkeit und Anwesenheit, die den Diskurs der Präsenz möglich macht. Diese „fragliche diskursive Homogenität“ zersetzt sich in dem Moment, in dem man die Rahmungen, die den Inszenierungstext konstituieren, in die Betrachtung einbezieht. Eine erste Rahmung stellt dabei die filmische Umsetzung der Theaterproduktion durch Brian de Palma dar. Die theateranthropologischen Prämissen bilden, im Inneren des Textes angesiedelt, eine weitere Rahmung, die die Präsenz des Geschehens garantieren soll. Die von Schechner als Grundlage der Inszenierung eingesetzten Rituale basieren selbst auf einer Wiederholung, auf dem Zitieren eines Sprechakts, der demnach eine kontextuelle Öffnung erfährt und damit eine Spur von Abwesenheit in sich einschreibt. Davon ausgehend hebt der Beitrag zu einer Kritik des Interkulturalismus auf dem Theater an, der bis in die 1980er Jahre hinein einer der zentralen Diskurse über Theater war. Dionysus in 69 zeichnet sich demnach durch dramaturgisch und konzeptionell konfligierende Modi der Vermittlung aus. Die Medialität einer Aufführung als Ko-Präsenz von Produzenten und Rezipienten im Hier und Jetzt eines geteilten Zeit-Raumes erweist sich damit als Illusion. Eine Aufführung findet nie nur zwischen Akteuren und Zuschauern statt. In diese dyadische Relation ist vielmehr immer schon ein kulturelles und mediales Drittes eingeschrieben, das die Immanenz des Geschehens fragmentiert. Für seine kleine Typologie performativer Strategien in Inszenierungen von Euripides’ Bakchen rückt Massimo Fusillo den symbolischen Wert der rituellen Zerstückelung, den sparagmos, der im
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Theater des Fragments Stück sowohl Dionysos als auch seinem Widersacher Pentheus widerfährt, als Modell für die Konstruktion von Identität überhaupt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Fusillo betrachtet Richard Schechners Einsatz von Ritualen und anderen Spielformen in Dionysus in 69 als Strategie, das Raum-Zeit-Kontinuum aufzusprengen, um eine Multiperspektivität des Geschehens zu gewinnen. Dagegen wertet Luca Ronconi in seiner Inszenierung die Distanz zwischen Ritual und Mythos, von welchen nur Fragmente, Spuren, Relikte greifbar sein können, auf. Identität stellt sich stets als gefährdete, weil stets fragmentierte Angelegenheit dar, die sich in der Konfrontation zwischen dem Ich und dem Anderen – Pentheus und Dionysos, dem Schauspieler und seinem Double, dem Zuschauer und dem Bühnengeschehen – herausbilden muss. Klaus Michael Grüber, Suzuki oder das Teatro del Lemming, eine der führenden Gruppen einer neuen experimentellen Strömung in Italien, stehen dafür. Ihre eigenen Identitäten setzen Susanne Granzer und Arno Böhler im Text ihrer Lecture Performance „Nietzsche’s Greatest Hits“ aufs Spiel. Autobiographische Fragmente der beiden Performer, der Schauspielerin und des Philosophen, werden mit autobiographischen Fragmenten von Friedrich Nietzsche, dessen Rezeption im Theater Einar Schleefs sowie Nietzsches Rezeption im arabischen Raum konfrontiert. Der Riss, der im Subjekt selbst durch die Sprache entsteht, ist zugleich der Riss, der das Subjekt aus der Immanenz des Ichs herausführt und entstehen lässt. Das Trauma des subjektiven Aufbrechens, des Beginns dessen, was man einmal Biografie nennen wird, bricht sich in der philosophischen Reflexion über Nietzsches Die Genealogie der Moral. Der fragmentierte Text umspielt die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung, Fakt und Fiktion und begreift Biographie selbst als Text und Fragment. Susanne Granzer und Arno Böhler erinnern in ihrer Lecture Performance auch daran, dass Fragmentierung kein philologischer Befund ist, sondern konstitutiv ist für unsere Identität und unsere Körper, deren Repräsentationen und deren Gesten.
Anton Bierl Gerald Siegmund Christoph Meneghetti Clemens Maria Schuster
Basel/Gießen, Mai 2009
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1. S TIMM -K ÖRPER
Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Klaus Michael Grübers Bakchen HELGA FINTER Das Heterogene manifestiert sich, wie Georges Bataille gezeigt hat, direkt allein in wenigen extremen, auf Verausgabung abzielenden gesellschaftlichen und singulären Praktiken: Neben dem Krieg und dem Fest sind dies die Erotik, die Ekstase und das Lachen.1 Sie bewirken eine Konfrontation mit dem Unmöglichen, eine Konfrontation mit dem Tod. Doch darüber hinaus entwickeln auch Institutionen wie Religion, Literatur und Dichtung oder die Künste Strategien, das Heterogene durch Dramatisierungen zu projizieren, um es im Zwischenraum der Riten, der Texte, Diskurse und Bilder aufscheinen zu lassen. Während Ritus und Mythos das Heterogene in Äquivalenten eines Sakralen gesellschaftlich zu fixieren suchen, dramatisieren Dichtung und Künste das Heterogene performativ und stellen vor allem das Heterogene des Subjekts ins Zentrum. Insbesondere das abendländische Theater thematisiert seit den Anfängen seine religiöse Vorgeschichte als eine Totenfeier, ein Totenritual. Mit den Gesängen des Chors bei den einleitenden dionysischen Umzügen wird der Statue des Gottes Leben eingehaucht, um sodann auf der Bühne die Animation des toten Helden in der Maske des Schauspielers zu ermöglichen. Theaomai, die Wurzel von theatron und theoria, bedeutet nicht nur mit dem konkreten und geistigen Auge schauen, sondern beinhaltet auch eine Bewegung des Vorbeiziehens, die auf die prä-theatralen Ursprünge des Theaters verweist. Das französische théorie, vom griechischen theoria abgeleitet, bezeichnet noch heute ein Truppendéfilé. Die Animation des toten Helden oder des Gottes steht am Anfang des europäischen Theaters. Dionysos, geweiht dem Fremden, dem Heterogenen, beschwört die Präsenz des Anderen über die Ek1
Vgl. Finter 1992; Finter 1999; Finter 2004a.
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Helga Finter stase, welche in den Umzügen des ersten Tages der großen Dionysien die dithyrambischen Gesänge, Tanz, Wein und Tieropfer herbeiführen. Die Übertragung des Atems eines Anderen setzt den Schauspieler in Bewegung, löst seine Stimme auf der Bühne und inspiriert ein dem anderen entlehntes Wort, wodurch eine fremde und ferne Textstimme lebendig wird, welche Stimmen aus dem Totenreich oder dem Bereich des Göttlichen mimt. Das Wort auf der Bühne der europäischen Anfänge enthält so immer als Doppel die Begegnung mit dem großen Anderen, dem Tod und sagt die das Andere verlautende Stimme als Belebung einer transzendentalen Stimme an, welche der Vers als Stimme des Textes vorgibt. Diese Zeremonie des Wortes, die bei Jean-Luc Nancy stellvertretend für das Opfer steht, besiegelt zwar den Auszug des Theaters aus der Religion, verschiebt jedoch zugleich auch deren Ritualisierung des Heterogenen in das Verhältnis von Körper und dichterischem Wort.2 In diesem Zusammenhang ist Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides’ Bakchen 1973/1974 im Philipps Pavillon der Schaubühne (Berlin) von besonderem Interesse: Euripides’ Tragödie, 405/406 v. Chr. posthum zusammen mit Iphigenie in Aulis und Alkmeion in Korinth aufgeführt, stellt die Frage des heterogenen Ursprungs des Theaters nicht nur auf der Ebene des Textes als Handlungskonflikt zwischen Dionysos und Pentheus, zwischen auf religiösem und säkularem Recht beruhenden Ordnungen. Auch der Modus seiner Inszenierung konfrontiert mit den archaischen Anfängen des Theaters, indem er das, was dem Einzelnen, der Gesellschaft und dem Theater heterogen ist, thematisiert. Dabei fokussiert Grüber gerade das Heterogene durch eine Befragung des Verhältnisses von Darstellung und Performativität. Performativität wird so im Spektrum der verschiedensten Wissensdisziplinen thematisiert bzw. erfahrbar gemacht: als Dimension der Sprache, des Subjekts, des Geschlechts, der Religion, der Kultur, der Gesellschaft, aber auch als Dimension der Literatur/Dichtung, der Musik und vor allem des Theaters und seiner Konstituenten. Dieses ‚Manifest der Performativität’, das ich zugleich auch als erstes Manifest von Grübers Theaterästhetik verstehen möchte, stellt das Verhältnis von Schauspieler und Text als ein Verhältnis zum Anderen ins Zentrum. Es zeigt sich zuerst als eine Auseinandersetzung mit dem Heterogenen der Stimme, die auf einen spezifischen historischen Theaterkontext antwortet.
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Nancy 2008.
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen
Heterogenität der Stimme im deutschen Nachkriegstheater Das deutsche Theater der Nachkriegszeit ist insbesondere seit den sechziger Jahren gegenüber dem rezitierten und deklamierten Text misstrauisch. Selten ist ein Dichterwort auf der Bühne zu hören, das ausdrücklich als Wort des Theaters ausgestellt wird, ein Dichterwort, das die Differenz von Alltags- und Bühnensprache unterstreicht. Vielmehr steht auf der Bühne das kunstvolle Wort unter Verdacht. Die Gründe hierfür liegen in der besonderen deutschen Geschichte, die auch eine Geschichte der Stimme ist, insbesondere der Bühnenstimme. Diese Gründe seien hier kurz zusammengefasst: Einerseits ist für dieses Misstrauen der Theatermacher gegenüber der kunstvollen Stimme die Glätte und der hohle Schönklang eines Sprechstils verantwortlich, der bis in die Adenauer-Zeit fortwirkte: der von Emigranten wie Fritz Kortner so genannte „Reichskanzleistil“. Andererseits ist der Diebstahl zu vermelden, den die Usurpation der Theaterstimmen auf der politischen Bühne während der Hitlerzeit bedeutete: Nicht nur Charlie Chaplins Schnurrbärtchen war von Hitler geklaut worden. Mit Hitler und Joseph Goebbels waren auch charakteristische Stimmstile des deutschen Theaters entwendet worden: so die expressionistische Affektexplosionen des frühen Kortner – er hatte diesen Stil ab Mitte/Ende der zwanziger Jahre geändert, als er die politische Nutzung extremer Stimmausbrüche und damit den Sieg einer falschen, seiner eigenen, Theatralität feststellen musste –3 und der melodische Wohlklang Gustav Gründgens’, der auf der politischen Bühne mit Joseph Goebbels präsent war.4 Nach 1945 lebte mit Gustav Gründgens der Schönklang fort. Doch der Verdacht gegen eine Bühnenkunst, welche die Stimme selbst semiotisch auflud, war nicht nur am schwierigen Comeback des Emigranten Fritz Kortner abzulesen, sondern auch in der Nachkriegszeit an den Reaktionen mancher Schriftstellerkollegen gegenüber dem Vortragsstil eines Dichters wie Paul Celan: Seine Sprechweise galt manchen als „längst überholt“, man amalgamierte ihn gar mit Joseph Goebbels’ Sprechstil oder diffamierte ihn als „Synagogenstil“, was im französischen Briefwechsel von Paul Celan und seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange dokumentiert ist.5 Dem deutschen Theater wurde die gestohlene Stimme durch vereinzelte große Schauspieler wiedergegeben, Fritz Kortner ist einer
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Kortner 1959, 371. Finter 2003. Celan/Celan-Lestrange 2001, 61-63.
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Helga Finter unter ihnen; seit den sechziger Jahren auch durch Regisseure wie Klaus Michael Grüber, der bei Giorgio Strehler in Mailand gelernt hatte und, schon in seinen Anfängen, durch Peter Stein, der bei Fritz Kortner Assistent gewesen war. Hier sind auch die Filmemacher Jean Marie Straub und Danièle Huillet zu nennen, die mit ihrer Antigone in der Brecht-Bearbeitung der Hölderlinübersetzung sowie mit Hölderlins Tod des Empedokles nun Textstimmen zu Gehör brachten, deren poetische Form die Utopie einer vollen stimmlichen Präsenz brach und fragmentierte. Doch trotz solcher Dramatiker wie Bertolt Brecht, Heiner Müller, Thomas Bernhard, Ernst Jandl oder auch Herbert Achternbusch, die einen dramatischen Text vorschlugen, der in der poetischen Stimme das Andere der Sprache hören ließ, schien und scheint das Verhältnis zur Theaterdichtung, zum deutschsprachigen poetischen Text auf der Bühne lange Zeit heillos problematisch. Eine Wende hat sich schließlich in den letzten zwanzig Jahren mit Theatermachern angedeutet, die den Dramentext in Bezug zur Musik setzten: Die Ebene des Sinns tritt hier zurück, während die musikalische Seite des Textes als Rhythmus und Klang ausgestellt wird, so etwa bei Robert Wilson und Einar Schleef, oder aber es wird bei Regisseuren, die von der Musik herkommen, entweder der Gegensatz von Sprechen und Singen dramatisiert, wie bei Christoph Marthaler, oder das poetische Klangpotential des Textes als Affektpotential musikalisch bearbeitet, so wie bei Heiner Goebbels.6
Grüber, der Fremde Mit Klaus Michael Grüber soll nun die Vorgehensweise eines Regisseurs im Hinblick auf das Verhältnis von Stimme und Text diskutiert werden, der neben Peter Stein, Peter Zadek und Claus Peymann zur Generation der Achtundsechziger gehört. Von Anfang an hat Klaus Michael Grüber jedoch eine Sonderrolle in der deutschen Theaterlandschaft gespielt, insofern er seine Lehrzeit im Ausland absolvierte hatte, und zwar am Piccolo Teatro in Mailand zwischen 1966 und 1969, aber auch weil er, im Gegensatz zu seinen Kollegen, das Problem der Stimme als Problem der vokalen Wiedergabe eines Textes ins Zentrum seines Schaffens stellte. Dies wurde sofort von der Kritik bemerkt, schon bei seinen ersten GoldoniInszenierungen 1967 in Freiburg – L’Impresario delle Smyrne – und 1968 – L’Amante militare – im Schauspielhaus Zürich.7
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Vgl. Finter 2004b, 131-141; Finter 2002, 108-113, 187; Finter 2001. Vgl. Müller 1988; Melchinger 1968.
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen Von da an wurde von den Kritikern das Lob einer musikalischen, rhythmischen Wiedergabe des Textes herausgestellt, aber auch die Kritik ihrer Unverständlichkeit, apostrophiert als „Murmeln“, „Nuscheln“, „Flüstern“, sowie der Langsamkeit der Aufführung vermerkt.8 Grüber machte nämlich die Frage der Stimme im Theater zu einer politischen Frage: Es ging bei ihm darum, die alten Rhetoriken zu dekonstruieren und eine Emotion, eine stimmliche Expressivität zu finden, die das Verhältnis des Schauspielers zum Text dramatisiert. Der Schauspieler soll nicht als Quelle des Textes verwahrscheinlicht werden, sondern den Text als Stimme eines Anderen erfahrbar machen. In der Tat bietet das Theater jeweils Modelle des Verhältnisses von Körper und Stimme, Schauspielerkörper und Textkörper an. Ein Charakteristikum des postmodernen Theaters ist es gerade, dieses Verhältnis seit Artaud als souffliert auszustellen und einen Bruch von Körperstimme und Textstimme zu inszenieren:9 Als plausibles heutiges Beispiel könnte hier Michael Thalheimers Inszenierung von Lessings Emilia Galotti angeführt werden. Sie legt den Anspruch von Lessings Drama bloß, den Konflikt durch das Wort zu versinnbildlichen durch die performative Vorführung der Sprachkonzeption der Aufklärung. Nicht das Wort dramatisiert und absorbiert in der Inszenierung die Konflikte, sondern Körperaktion und Wort fallen auseinander: Der Text wird so hastig gesprochen, dass auch Muttersprachler ihn kaum verstehen können. Dagegen wird die Körpergestik genau choreographiert: Sie entwickelt in Zeitlupe zu der Minimal Music des Films In the Mood for Love von Wong Kar-Wai die Sprachlosigkeit unbewusst pulsierender Leidenschaft, die Emilia zerbrechen lässt. In dieser Regie wird der Anspruch Lessings, das Drama in Worte zu fassen, negiert und ein unüberwindbarer Konflikt von Körper und Verbalsprache inszeniert, wie wir ihn sowohl bei Philosophen der Aufklärung wie dem Jean Jacques Rousseau des Essai sur l’origine des langues (Genf 1781, posthum in Traités sur la musique) oder auch bei Johann Gottfried Herders Über den Ursprung der Sprache (1772) expliziert finden. Gerade bei Rousseau stand jedoch nicht allein eine Gestensprache als expressive Wahrheit des physischen Körpers einer toten Verbalsprache gegenüber, sondern mit der Geste verbunden war eine ursprüngliche ‚Muttersprache‘ der musikalischen Lautbildung. Rousseau konfrontiert also Dichtung bzw. Gesang im Gefolge der Gestensprache mit einer leibfremden trockenen Diskurs- und Kommunikationssprache. Die
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Z. B. Strauß 1970. Finter 1997.
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Helga Finter Trennlinie wird so zwischen Poesie bzw. Gesang verbunden mit der Geste und einer diskursiven bzw. dialogischen Sprache gezogen. Auch Klaus Michael Grüber stellt eine Trennung von Körper und Sprache aus. Doch geht er keineswegs von einer Wahrheit des expressiven physischen Körpers aus. Vielmehr ist er ein pessimistischer Optimist: Die Unerreichbarkeit einer Einheit von Körper und Sprache ist Prämisse ihrer Dramatisierung als Trauerarbeit am schon immer verlorenen Ursprung der Sprache, die als Verhältnis des Schauspielers zum Text inszeniert wird. Grübers Theater ist ein Theater, das man mit den musikalischen Termini mezzo-piano bis pianissimo und moderato bis adagio kennzeichnen könnte: Die Lautstärke ist reduziert, der Wortfluss und Versfluss wird durch Pausen, Schweigen und Zögern unterbrochen sowie durch das Geräusch und Rauschen bewegter und unbewegter Körper. Verlangsamter Rhythmus ist Kennzeichen aller Inszenierungen, was eine Länge der Aufführung von mehr als drei Stunden im Allgemeinen zur Folge hat. Kritiker sprachen sehr oft von „beabsichtigter Unverständlichkeit“ (Botho Strauß) und das Publikum verließ/verlässt, laut Türen schlagend, das Theater – wie bei seiner Bérénice von Racine 1984 an der Comédie Française in Paris oder seinem Faust 1992 am Hebbeltheater in Berlin. Grüber fordert ein anderes Zuhören. Das Sprechen des Textes wird bei ihm zum Ereignis. Dieses Ereignis sucht den rituellen Ursprung des Theaters zu evozieren: Es geht darum, an den archaischen sakralen Akt zu erinnern, mit dem die Statue bzw. Maske des toten Helden oder Gottes neu belebt, animiert wird, und zwar dergestalt, dass die Stimme eines anderen, die Stimme eines Textes ihm eingeflößt wird, Besitz vom Körper des Schauspielers ergreift. So sind Maske und Stimme zentral, sie finden über die Stimme des Textes zusammen, die als fremde Stimme, als Anderer hörbar werden soll.
Die Bakchen Die Eröffnungsszene der Bakchen ist das theatrale Manifest eines das Theater gründenden Ereignisses: Wir wohnen der Animation des Gottes Dionysos bei, im weißen leeren Raum einer Industrieoder Ausstellungshalle, die mit Neonlicht taghell ausgeleuchtet ist und unter deren Decke sich Ventilatoren drehen: Zum Klang der ersten Takte der Apotheose von Igor Strawinskys Apollon Musagète wird der Gott auf einem Krankenbett von Personen herein geschoben, die weißgelbe Arbeitskleidung aus Wachstuch tragen sowie Schutzmasken, die an Fechtvisiere erinnern. Sie könnten Arbeiter
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen einer Raumstation oder des Infektionsblocks eines Krankenhauses sein. Der Schauspieler Michael König präsentiert Dionysos mit folgender Ganzkörpermaske: Sein Haar ist wirr, sein Gesicht ist wie eine Maske glatt geschminkt. Mit einem weißen cache-sexe in Form eines ruhenden Penis gegürtet, ist seine rechte Körperhälfte mit länglichen Streifen wie aus schwarzem Teer bemalt, die das Trikot des Fauns in Wacãaw Niİyęskis Ballet evozieren. Während er hereingefahren wird, wird das verdunkelte Glasdach bis auf ein Drittel langsam aufgedeckt, eine Lampe fährt unter der restlichen verdunkelten Decke über der Bahre herab. Auf dem Rücken ausgestreckt frontal zum Publikum spricht Michael König/Dionysos das erste Wort: „Ich“, das Personalpronomen ersten Person Singular, das er sechsmal wiederholt. Dabei variiert er die Aussprache: zuerst zögernd, dann fragend, trotzig, schließlich behauptend. Dreimal lässt er sodann das in der ersten Person Singular Präsens konjugierte Verb „sein“ folgen: „bin“. Schließlich verbindet er Pronomen und Verb zum ersten Satz: „Ich bin.“ Er wiederholt diesen Satz dreimal in derselben Weise: zögernd, fragend, dann behauptend. Er lächelt zufrieden unsichtbaren Gesichtern zu, streichelt sich, lächelt, lacht und umklammert eine schwarze, hochhackige Plateau-Damensandalette, die er schon von Anfang an in seinen Armen verborgen hatte. Schließlich spricht er den in der Wortstellung modifizierten ersten Satz des Prologs von Euripides’ Tragödie: „Ich bin Dionysos, der Sohn des Zeus.“ Die theatrale Anapher des Prologs, welche die Behauptung der Identität des Gottes als bekannt vorausschickt – „Gekommen bin ich, Sohn des Zeus, in dieses Land/ von Theben, ich, Dionysos, den einst …“ –10 wird hier zur performativen Setzung einer verbalen Identität: „Ich bin Dionysos.“ Sein Monolog präsentiert den unter die Menschen nach Theben gekommenen Gott und sein Vorhaben, am König Pentheus die verleumdete Ehre seiner Mutter Semele, der Geliebten des Zeus zu rächen. Beim Namen „Semele“ lässt er den Schuh fallen, stöhnt, sich aufbäumend, schlägt heftig mit den Händen gegen seine Oberarme, ergreift wieder die Sandale, liebkost sie, atmet durch und kündigt das Vorhaben seiner Rache an. Seine Zeigefinger graben sich in die Augen ein, die Blendung seiner Mutter evozierend, er wiehert, lacht laut, fährt auf Altgriechisch fort, nimmt die deutsche Übersetzung Wolfgang Schadewaldts wieder auf, um dann auf Griechisch fortzufahren und schließlich den Vers auszusprechen, der den Anblick des Grabes und des verbrannten mütterlichen Hauses beschreibt. Da hebt sich die Stimme, wird bestimmter, die Verwünschungen seiner Mutter werden mit verächtlichen Akzenten ausgesprochen, er schreit, der Körper wird geschüttelt, wie besessen, die mania er-
10 Schadewaldt 1972, 5.
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Helga Finter greift ihn, Klang und Geräusch ersticken das Wort, er fällt vom Bett, und sich aufrichtend bekundet er mit klarer und fester Stimme die Absicht, seine göttliche Natur zu beweisen. Wieder auf dem Hospitalbett ausgestreckt, spricht er schließlich im selben, doch nun leicht belegten Ton die letzten zwei Verse des Monologs, die sein bisheriges Tun zusammenfassen: „So nahm ich sterbliche Erscheinung an, verwandelt meine Gestalt in eines Mannes Leib, ich Dionysos, der Sohn des Zeus.“ Beim letzten Wort setzt wieder Apollon musagète von Igor Strawinsky ein. Die Rahmung der Musik ist hier signifikant und zugleich von paradoxer Vieldeutigkeit: Hier wird die Musik einer Choreographie Georges Balanchines für die Ballets Russes (1928) eingespielt, in der Apollon mit den Musen der Dichtung (Kalliope), des Tanzes (Terpsichore) und des Theaters bzw. Mimus (Polyhymnia) auftritt. Apollo erscheint dort als Gegenpol zu Dionysos, als Gott eines Theaters, das Versdichtung, Mimus und Tanz vereint. Für Strawinsky war diese Komposition ausdrücklich mit diesem Aspekt verbunden: „Das wirkliche Sujet von Apollon ist die Verskunst.“11 Damit wird diese Musik nicht nur zur Evokation des im Theater abwesenden Tanzes eingespielt. Als eine auf die Verskunst verweisende Musik lässt sie zugleich im Rhythmus einen fremden, an antike Versformen angelehnten musikalischen Atem als Horizont einer transzendentalen Textstimme hören. Sie erst macht möglich, dass der Schauspieler Michael König als Dionysos das Wort auf einer Bühne ergreift, da sie auch die in der Übersetzung verlustig gegangene Textstimme des Verses herbeiruft, welcher der Schauspieler seine Stimme leiht. Apollon musagète wird zudem auch als Leitmotiv von Dionysos’ Auftritt im Feindesland eingesetzt. Diese Musik wird jeweils eingespielt, um seinen Herrschaftsbereich zu rahmen. Auch als der als Frau verkleidete Pentheus (gespielt von Bruno Ganz) dann Dionysos unterworfen ist, markiert sie seine Zugehörigkeit zum Reich dieses Gottes und punktiert seinen Abgang ins Verderben bringende Reich der Bakchen. Schließlich setzt Strawinskys Musik auch den Rahmen, gegen den sich Dionysos aufbäumen wird: Seine Menschwerdung findet in einem von Form und logos beherrschten Raum statt. In dieser ersten Szene wohnen wir der Menschwerdung des Gottes des Heterogenen bei. Sie wird als schmerzhafter Prozess der Spracherlernung gezeigt, bei der die Accessoires der Szene ebenfalls als emblematische Bilder, welche die Worte in- und subskribierend signifikant aufladen, eingesetzt sind. Der Frauenschuh, an den Dionysos sich klammert und den er liebkost, ist dabei nicht nur ein Symbol der sexuellen Ambivalenz des Gottes, sondern er hat hier
11 Strawinsky 1983, 183; vgl. Woitas 1999.
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen zugleich auch die Funktion eines ‚Übergangsobjekts‘ im Sinne von Donald W. Winnicott. Das Klinikbett, auf dem die Geburt der Sprache erfolgt, erinnert an jene Liegen, die bei Menschengeburten im Einsatz sind. Spracherlernung wird als schmerzhafter Prozess phonematischer Differenzierung vorgeführt, der dauernd von indifferenzierenden Lauten bedroht ist. Indifferenzierung kennzeichnet den dem Gott Dionysos eigenen Raum. Als mania, als Wahnsinn wird sie in unseren rationalen Gesellschaften in den Raum der Klinik verbannt, den gerade die Bühne evoziert. Durch die Stimme des Dionysos wird das Drama als ein Kampf um die Herrschaft zwischen zwei Stimmregistern angekündigt, zwischen einer Körperstimme und der Sprechstimme, zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen (Julia Kristeva), zwischen Dionysos und Apollon. Auf der einen Seite das Aussprechen distinkter Phoneme, die der linguistische Sprachapparat für die Artikulation der Identität eines Subjekts, eines transzendentalen Subjekts vorsieht:12 Personalpronomen, erste Person Singular, Verb konjugiert in der ersten Person Singular Präsens; dann der Name, der den Sprecher unterscheidet und ihn in eine Geschichte einschreibt: „Ich bin Dionysos.“ Und auf der anderen Seite die Rückkehr des Verdrängten als Lust am Präverbalen, welche die phantasmatische chora herbeiruft und das Symbolische angreift. Nimmt sie überhand, hört man Körpergeräusche, Murmeln, Stammeln, Stottern, Stöhnen, Laute, die erst zu Worten werden, wenn der Plan der Rache sich präzisiert und damit die Konfrontation mit dem Namen des Vaters – Zeus. Die Stimme nimmt dann Theaterakzente an, rhetorische Affekte wie Verachtung, Zorn lassen sich im Wort in Form von Klangausbrüchen einer verdrängten ersten Leidenschaft und ihrer vokalen Lust hören. Die Geburt des Gottes als Sprachwesen, als Mensch, spielt sich ab als Verdrängung der Lust einer ersten mütterlichen chora (Julia Kristeva) und als eine schmerzhafte Spracherlernung, die Einschreibung in die Ordnung eines Anderen ist, in die Logik eines Namens, der das Begehren der Eltern transkribiert und erlaubt, erste Triebregungen in der Sprache zu disseminieren. Mit der Stimme des Worts und mit der Musik werden die vokalen Prinzipien des Tragischen angekündigt: Dionysos und das überbordende Register des Körpers, Apollon und das musikalische Register des Wortverses wie auch die musikalische Komposition. Mit dieser Szene, die den Anfangsmonolog von Euripides’ Tragödie rahmt, befragt Grüber die Einführung des Worts auf der Bühne als Projektion eines Spannungsraumes zwischen dem Symbolischen des väterlichen Gesetzes einerseits und der präverbalen mütterli-
12 Vgl. Benveniste 1966.
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Helga Finter chen Lust andererseits. Das Theater wird als Spielraum des Heterogenen der Sprache durch das Zusammentreffen zweier konfligierender Stimmmodalitäten bedeutet. Das Drama wird so zuerst als Drama der Stimmen und des Verhältnisses von Sprache und Körper angekündigt, als Dramatisierung des Ursprungs der Sprache. Doch zugleich ist auch schon durch die Maske und die inszenierte physische Körperlichkeit ein Konflikt angedeutet, der sich dann in der Konfrontation mit Pentheus konkretisieren wird. Ich werde darauf weiter unten zurückkommen, hier sei nur gesagt, dass Körpermaske (die Teerstreifen) und Schuhrequisit die Figur des Dionysos als Zwischenwesen präsentieren, oszillierend zwischen Mensch und Tier (dem Faun) und zwischen Mann und Frau, und somit nicht Identität, sondern Differenz andeuten. Diese Anfangsszene behauptet die Unmöglichkeit, den Tragödientext als Wort eines transzendentalen Subjekts, als „starres Wort“ im Sinne Walter Benjamins zu sprechen.13 Die Trauer über die Unmöglichkeit eines unmittelbar tragischen „reinen Worts“ ist Ausgangspunkt eines Spiels, das die Spaltung des Subjekts durch die Sprache über Stimmmodalitäten hörbar macht, welche die Personen affektiv charakterisieren: Das Ergreifen des Wortes durch den Schauspieler der Figur des Gottes Dionysos zu Anfang wird so selbst zu einem Drama, das die Machtergreifung des Anderen, eines symbolischen Gesetzes als Unterwerfung hören lässt. Die parodos des Chores, der das Gefolge des Gottes bildet, die dreizehn Bakchen oder Mänaden mit ihren expressiv geschminkten Gesichtern, ihren langen weißen, mit dunklen Schals aus grober Wolle, Reptilienhäuten und Fellstücken ausstaffierten Gewändern, wird in einer Performance von mehreren Minuten dagegen das Reich des Dionysos als Reich des Heterogenen behaupten. Zuerst wird das schützende Dunkel wiederhergestellt und dann mit Lärm unter den herausgerissenen Dielen das Verdrängte ans Licht gebracht: Als Metaphern der zyklischen Zeit wird so eine Wollspindel entrollt, für die verbannte Materialität stehen Erde und dampfender Schlamm, Salatköpfe und zerstampfte Trauben. Eine Maske des Dionysos wird zusammengefügt und über ihm auf dem Bett zu einem bekränzten Altar errichtet: Der Gott kann sich zurückziehen. Sein Bild ist durch die Aktion mit Leben erfüllt, ist animiert. Die Choreuten graben auch zwei Kadaver aus: die mit Schlamm und Gips bedeckten Körper des Sehers Teiresias (gespielt von Otto Sander) und des Kadmos (gespielt von Peter Fitz), welcher Großvater des Dionysos und Vater von Agaue und Semele ist. Beide, die letzten Zeugen von Semeles Schicksal und der göttlichen Legitimität des Dionysos, erscheinen in der Haltung von Gipsstatuen, antiker Herkunft oder
13 Benjamin 1980.
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen eher zeitgenössisch wie von Georges Segal, die sich langsam mit Leben füllen. Der Einzug des Chors erzwingt die Rückkehr des Verdrängten und bringt vor allem aber ein anderes, ein verdrängtes Wort zu Gehör, um die toten Statuen zu beleben: ein heiliges Wort, das körperlich signiert ist, das Wort, das vom Herrn Thebens, Pentheus, verbannt war. Zuerst sind Pfeifenlaute von Doppelflöten, die wie schrille Klarinetten klingen, und Schellengeläute zu hören. Ihr Rhythmus entspricht dem griechischen Versmaß der Eingangsverse des Chors: zwei kurze und zwei lange Töne des katalektischen ionischen Versmaßes, das als Frauen verkleideten Männern im griechischen Theater vorbehalten war.14 Dem extrem langsamen, stummen Einzug der Bakchen-Chores folgen stumme, doch nicht lautlose Aktionen der Chormitglieder – geräuschvolles Ausschalten des Hauptlichtschalters, Aufreißen der Dielen, Entbergen versteckter Gegenstände. Diese langwierigen stummen Aktionen werden ab dem Entrollen eines schwarzen Wollfadens, der den späteren Altarraum als heiligen Ort abgrenzt, von den Worten der Choreuten begleitet. Strophen und Antistrophen der Schadewaldtschen Textübertragung sind dabei nach rhythmisch-musikalischen Kriterien bearbeitet: Euripides’ Parodos-Text ist so umgestellt und fragmentiert, dass nun Strophe und Gegenstrophe jeweils ungefähr gleich lang sind und sich ein Eindruck von Iteration einstellt. Striche, Überlagerungen, Umschreibungen modifizieren ihn nach rhythmischen Kriterien. So lässt der Chor eine andere vokale Lust hören: die von den Choreutinnen abwechselnd vorgetragenen Litaneien, punktiert von altgriechischer Deklamation, rhythmischen Schreien, Interjektionen, konvulsiven Ausbrüchen füllen den Raum mit einer oralen, analen, aggressiven Vokalität. Die Stimmen der Bakchen begleiten rituell die Animation der Statuen der Toten und legitimieren die Handlung der Konsekration der Maskenbüste des Gottes, welche seine Bahre in einen Altar verwandelt. Sie stellen also die Welt wieder her, die Pentheus bis in die Stimme verdrängt hatte, wie die nächste Szene zeigen wird. Pentheus präsentiert sich darin mit einem Sprechen, das den schönen und klaren Wohlklang des Wortes in einer künstlichen und präzisen Rhetorik ziseliert. Als intendierte reine Differenz doppelt sie die von Starrheit strahlende Erscheinung eines virilen antiken Heldenkörpers. Er präsentiert sich zuerst in einer Montage von Wittgensteinzitaten15 mit einer Sprachkonzeption, die das Heterogene ausklammern will, den Tod aus dem Leben wie auch die Religion
14 Für diesen Hinweis danke ich meinem Gießener Kollegen der Gräzistik, Peter von Möllendorff. 15 Z. B. Wittgenstein 1961, 2.0211; 5.1361; 6.42; 6.421; 6.4311.
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Helga Finter aus der Polis verbannen will. Auch er zeigt sich als Figur zuerst durch ein spezifisches Verhältnis zur Sprache: Sein Gestus sprachlichen Setzens zeigt ihn als zwanghafte performative Verkörperung des logos. Hier ist der an die Textmontage anschließende Tragödientext in dem Sinne modifiziert, dass die Konjugation in erster Person Präsens den Konjunktiv oder die Frageform ersetzt. Sowohl Erscheinung und Sprechweise weisen die Figur des Pentheus als negatives Pendant zu Dionysos aus: Sein Haar ist gelackt, sein Körper geölt, der linke Arm ist eingegipst, die rechte Wade trägt einen weißen Längsstreifen. Sein Sprechen ist distinkt und gepresst, doch brechen in der Evokation des Heterogen in Akzenten des Hasses und der Verachtung ausgeschlossene Passionen hervor. Seine vom Chor angekündigte Kontamination mit dem Heterogenen ist hier schon angelegt als der Weg, der ihn nicht nur zu einer vokalen und sexuellen Indifferenzierung führen wird, sondern zu jenem zerstückelten Körper, den das starre narzisstische Ich-Bild als Horizont der Rückkehr des Verdrängten – der Aggressivität – hat.16 Pentheus wird in seiner starren und gezwungenen, doch zugleich fragilen Emotionslosigkeit als unmöglicher Verdränger jenes Heterogenen gezeigt, das, nach den Worten des Dionysos, in seinen Namen als Schicksal eingeschrieben ist: Pentheus, jawohl! Der ‚Leidige‘, der ‚Mann des Leids‘, der, dass er Leid wird erleiden, schon im Namen trägt. (V. 507-508)17
Dieses Leiden an der unmöglichen körperlichen und sprachlichen Ganzheit oder Einheit nimmt im Namen sein Drama vorweg, das auf seine grausame körperliche Fragmentierung zustrebt. Diese Dramatisierung des körperlichen Ursprungs der Stimme und ihrer Lust wird hier ausdrücklich als Ankunft eines verdrängten Heiligen gezeigt, das jedoch scheitern muss, wenn es zu herrschen sucht. Sie wird inszeniert als Rückkehr des körperlichen Verdrängten des Worts und als Besitznahme durch die Stimme eines Anderen, des Anderen des Textes. Die Temporalität dieser Dramatisierung ist markiert durch Brechungen, Unterbrechungen, Schnitte. Eine musikalische Zeit, punktiert durch tastende Verzögerungen, Pausen, synkopierte Rhythmen, Akzelerieren, Retardieren, führt einen fremden Atem ein, der auf Abwesendes verweist und durch Instrumentalmusik herbeigeführt und unterstützt wird, die den fehlenden Versrhythmus hörbar konkretisiert. Die Figuren werden bewegt, werden gesprochen, die Form der anaphorischen Wiederholung und des Bruchs macht diese Fremdbestimmtheit hör-
16 Vgl. Lacan 1966, 101-124. 17 Schadewaldt 1972, 18.
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen und sichtbar. Doch zugleich ist so auch der Horizont der Dichtung hörbar offen und freigelegt. Die Inszenierung verweist damit auch den zeitgenössischen theatralen und ideologischen Kontext in seiner Beschränkung in die Schranken: Die drei Endverse des zweiten Botenberichts in der Schadewaldt-Übersetzung deuten darauf hin: Besonnenheit jedoch und Ehrfurcht vor den Göttern, Das ist das Schönste, und ich denke, es ist auch Der weiseste Erwerb den Menschen zum Gebrauch. (V. 1150-52)18
Ritualtheater, Sprechtheater und Dichtung Der Ausschluss des Sakralen wie der Ausschluss des Rationalen sind zwei Seiten einer Medaille. Das rituelle Theater der sechziger Jahre wie das konventionelle Theater dieser Zeit streben jeweils nach einer Totalität, die das, was Theater im Sinne Grübers ausmacht, reduziert. Hier ist es angebracht, noch einmal auf Apollon musagète zurückzukommen. Das Musikzitat punktiert wie ein Leitmotiv den Auftritt des Dionysos, Dionysos und Apollon sind unzertrennlich verbunden. Das Maß der Musik ist nicht zu trennen vom Maß des Wortes. Die Musik ist der Atem, sie gibt ihn dem Wort. Mit dem diskreten Orgelton des Botenberichts wird sie ausdrücklich als Hauch der Textstimme benannt, der bei der Evokation des Gottes abbricht und nach seiner Nennung wieder einsetzt im Bericht des zweiten Boten: Vom / Hauch / des Gottes / zur Raserei getrieben. (V. 1096)19
Der Basso continuo dieses Rezitativs markiert die Heterogenität des unbewussten Triebes als dem Menschen eigen und in seiner Unsagbarkeit in die Zeitlichkeit der Musik projiziert, den Atem des Sprechers von Dichtung unterstützend. Die Spaltung, die Fragmentierung, die nicht mehr in das Wort als Form eingeschrieben ist, wird von einer Musik übernommen, die es als Echo verstärkt oder dämpft, es begleitet und verstummt, wenn die Mänaden, in triumphierenden Tanzposen erstarrend, langsam von dannen ziehen. Walter Benjamin hatte in einem frühen Text die antike Tragödie und das barocke Trauerspiel nach der jeweiligen Konzeption des Wortes unterschieden:20 Das Tragische entspringt für ihn direkt einem „reinen Wort“. Das Wort in der Verwandlung dagegen formt das 18 Schadewaldt 1972, 38. 19 Schadewaldt 1972, 37. 20 Vgl. Benjamin 1980.
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Helga Finter sprachliche Prinzip des Trauerspiels, dessen Nachfahren wir heute sind. Die Spaltung zwischen der Materialität des Signifikanten und dem Sinn der Aussage, zwischen Klang und Sinn, die als gespenstisch, erschreckend erfahren wird, löst sich in der Klage einer Trauer auf einem Weg, der vom Klang der Natur über die Klage zur Musik führt. Ein unendlicher Widerhall des Klangs des Trauerspiels überlagert so das starre Wort des Tragischen. Die Annahme eines reinen, starren logos für die griechische Tragödie ist für den, der heute die uns fragmentarisch überlieferten Texte liest, sicher nicht unproblematisch, ist ihre Polysemie doch schon in der Vielfalt der Übersetzungen hörbar. Zwar wird durch Übersetzungen die Materialität des Wortes eingegrenzt, weshalb sie das Idealbild eines verlorenen reinen Wortes begünstigt haben mögen. Doch sei nicht vergessen, dass gerade beim Versuch der Wiederbelebung der antiken Tragödie die Mitglieder der Camerata de’ Bardi um 1600 in Florenz die Oper erfanden. Die Seconda Pratica Claudio Monteverdis entwickelte in der Folge eine musikalische Affektsprache, die im Wort das Ungesagte/Unsagbare zu Gehör bringt, das später die französische Tragödie mit Racine der Verssprache des Alexandriners überantwortete. Beide hat Grüber mit großer Kunst mehrfach inszeniert,21 und dort gerade den Raum dramatisiert, der sich zwischen Körper und Text, Körperstimme und Textstimme abzeichnet. In der Oper ist er zum großen Teil vorgegeben. Allein Variationen von Stimmregistern und Timbres geben einen unerhörten Spielraum. In der Tragödie jedoch wird eine Dramatisierung des Bezugs der Schauspielerstimme zur Textstimme möglich, die signifikant werden kann. Heute stellt sich jedoch auch die Frage ihrer Legitimation wieder neu. Wieso auf der Bühne sprechen? Wieso in Versen sprechen? Wie einen Text in Versen sprechen? Der Vers markiert den sakralen Ursprung, den metaphysischen Bezug, den das griechische Theater schon institutionell vorgab. Der Vers ist markiert durch die Stimme eines anderen, die den logos durchkreuzt. Gerade weil Dichtung in unseren – Gott sei Dank – noch säkularen Gesellschaften vielleicht der einzige Ort ist, wo das Verhältnis zum Anderen ausdrücklich in der Sprache als heterogen sich einzuschreiben vermag, ist die Frage der Sprache und des Textes im Theater nicht obsolet. Sie ist an die Frage der Stimme und des Verhältnisses zum Körper gebunden. Sie allein der Musik zu überantworten bzw. dem Rhythmus der Bewegung, ist heute Symptom einer Krise des Worts, einer gesellschaftlichen Sprachlosigkeit. Sie hat längst als Realität eine narzisstische
21 So Jean Racines Bérénice am 12. Dezember 1984 an der Comédie Française in Paris und Claudio Monteverdis Incoronazione di Poppea am Festival d’Aix en Provence am 21. Juli 2000, vgl. Finter (im Druck).
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Menschwerden: Inszenierungen des Heterogenen in Grübers Bakchen Körperreligion und den Mythos der ersten Stimme, des Klangspiegels einer ersten Haut, als Versprechen einer Einheit mit einem ersten phantasmatischen Körper als einzigen Horizont akzeptiert. Dieser ‚Realismus‘ ist jedoch der einer Fata Morgana des Spektakels. Auch er sollte deshalb Gegenstand einer kritischen Überprüfung durch das Theater sein. Seit der Antike mangelt es hierzu keineswegs an poetischen Texten, wie die Kunst Klaus Michael Grübers hatte zeigen können.
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Perforierte Körper ARNO BÖHLER „Der ontologische Körper ist noch nicht gedacht worden. Die Ontologie ist noch nicht gedacht worden, insofern sie fundamental Ontologie des Körpers = der Existenz-Stätte, oder Stätte der lokalen Existenz ist.“1
Psyche ist ausgedehnt, w eiß nichts dav on. Im Folgenden geht es mir darum, Subjektivität als ein Moment zu denken, das im Zuge der kontinuierlichen Ausdehnung von Substanzen allererst entfaltet wird. Um an die substantielle Verfassung von Subjektivität zu erinnern, werde ich mich zunächst der Aristotelischen Physik zuwenden. In ihr zeigt Aristoteles auf, dass der Gedanke des Kontinuums den Gedanken des Fragments nicht verunmöglicht, sondern geradezu bedingt.2 Wenn der operative Aspekt eines Kontinuums nämlich darin besteht, dass es waltet, indem es sich selbst kontinuierlich teilt, dann eröffnet der Gedanke des Kontinuums gerade die Möglichkeit, Körper als Bruch-Teile einer kontinuierlichen Auf-Teilung des Raumes zu denken.3 Dieses fragmentarische Bild von Raum, Kontinuum und Körperlichkeit werde ich im zweiten Teil meines Aufsatzes mit dem Denken von Jean-Luc Nancy in Beziehung setzten. Sein Text Corpus nimmt den Gedanken des Körpers als Bruchstelle weltweiter Bezüge auf, radikalisiert das Aristotelische Substanzverständnis jedoch dahingehend, dass er die Aus-Dehnung einer Substanz als Immanenzraum ihrer psychischen Verfassung denkt. „Psyche ist ausgedehnt,
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Nancy 2003, 19. Die Aristotelische Physik wird im Folgenden zitiert nach Aristoteles 1987. Aristoteles definiert das Kontinuum [ΗΙΑΉΛνΖ] in der Physik als teilbar in immer wieder Teilbares (Arist. Phys. 231b 16), wobei das operative Moment der Teilung entscheidend ist. Zum (operativen) Verständnis des Kontinuums bei Aristoteles vgl. Wieland 1962.
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Arno Böhler weiß nichts davon.“4 Diese späte Notiz von Sigmund Freud charakterisiert Nancy als das „faszinierendste und vielleicht (ohne übertreiben zu wollen) entscheidendste Wort Freuds“.5 Es bezeichnet nicht nur den Problemhorizont, dem Nancy in Corpus nachgegangen ist. Es bringt auch die Problematik auf den Punkt, die in diesem Text zur Sprache gebracht werden soll.
Die Aristotelische Bestimmung des Unbegrenzten als Peripherie eines Körpers Aristoteles nimmt in seiner Physik explizit darauf Bezug, dass seine Vorgänger, die Naturphilosophen [MXVLNRϟ],6 die Frage nach der Arché zu beantworten versuchten, indem sie nach einem Urstoff suchten, aus dem alles entstanden ist. So spricht etwa Heraklit im Fragment 31 (DK 22 B 31) von den ΔΙΕϲΖȱΘΕΓΔ΅ϟ, den Umwendungen des Feuers, durch die es in Meer, das Meer zur Hälfe in Erde, zur andern Hälfte in Gluthauch übergeht.7 Trope, Wendung, bezeichnet hier noch nicht das rhetorische Verfahren einer poetisch verfassten Rede, in der Worte unorthodox gebraucht und „queer“ gelesen werden, um ihnen eine überraschende Wendung abzuringen und damit einen artistischen Kick zu verleihen. ̓ΙΕϲΖȱ ΘΕΓΔ΅ϟ meint hier noch die elementare Performance eines Stoffwechselprozesses, in dem ein Stoff seinen Aggregatzustand verändert. Feuer verwandelt sich in Wasser, Wasser in Erde und Luft, und die Mischung dieser vier Grundelemente bringt schließlich unzählig viele anderen Substanzen hervor: Die Gestirne am Himmel, den Globus Erde samt seinen irdischen Lebewesen: Pflanzen, Tiere und Menschen. Ja selbst die Götter unterliegen nach antiker Vorstellung dem Walten der ΚϾΗΖ („Natur“), insofern sie ihnen die Zeiten ihres An- und Abwesen gewährt. Aus der Kenntnis dieses Problemhorizonts stellt Aristoteles in seiner Physik unvermutet die Frage, ob es ein ΩΔΉΕΓΑȱΗЗΐ΅,8 einen unbegrenzten Körper im Sinne eines physikalischen Urstoffes denn 4 5 6 7
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Nancy 2003, 23. Nancy 2003, 23. Vgl. Arist. Phys. 184b. Diels übersetzt das Fragment 31 wie folgt: „Feuers Umwende: erstens Meer, vom Meere aber die eine Hälfe Erde, die andere Hälfte Gluthauch. Die Erde zerfließt als Meer und dieses erhält sein Maß nach demselben Sinn (Verhältnis) wie er galt, ehe denn es Erde ward.“ Vgl. auch die Interpretationen von Heidegger und Fink zu diesem Fragment in Heidegger/Fink 1970, 114-116. Vgl. Arist. Phys. 203b 26. Davor (203b 1) spricht Aristoteles vom ΎΓΑòΑȱ ΗЗΐ΅, dem gemeinsamen (All-) Körper. Vgl. dazu auch Wieland 1962, 292.
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Perforierte Körper überhaupt geben könne? Diese Frage dürfe nicht einfach übergangen werden, wie es viele Naturphilosophen vor ihm gemacht hätten, da die Definition eines Körpers [ΗЗΐ΅] den Begriff der Grenze impliziere und mit dem Begriff des Unbegrenzten [ΩΔΉΕΓΑ] daher nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sei.9 Die Aporie, dass Körper nur so gedacht werden können, dass sie einerseits notwendig eine physische Grenze besitzen, andererseits von einem unbegrenzten Raum umgeben werden, kann nach Aristoteles vermieden werden, wenn man das Unbegrenzte nicht als etwas an und für sich selbst Bestehendes versteht, sondern als Prädikat nimmt, das nur an etwas, das schon vorliegt, als Eigenschaft angetroffen wird. Das Unbegrenzte muss dann als etwas an einem Begrenzten, das Unendliche als etwas an einem Endlichen, das Unteilbare als etwas an einem Teil verstanden werden. Im Lichte dieser spekulativen Sätze erscheint das Unbegrenzte für Aristoteles als akzidentielle Bestimmung [ΗΙΐΆΉΆΎϱΖ], die an endliche Substanzen gebunden ist. „Aber wenn man das annimmt, so ist ja schon gesagt, dass man es dann nicht mehr als Anfangsgrund [ΦΕΛφΑ] ansprechen kann […].“10 Wenn das Unbegrenzte kein Ding-an-sich, sondern etwas ist, das Dinge an sich haben, dann kann es kein Urgrund [ΦΕΛφ] mehr sein. Was Aristoteles mit diesem An-sich-haben-des-Unbegrenztenan-einem-Begrenzten meint, kann anhand der pythagoreischen Bestimmung des unbegrenzten Raumes anschaulich gemacht werden. Da diese lehrten, dass das Unendliche im „Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge“11 angesiedelt sei, nahmen sie nämlich an, der Raum außerhalb des Himmelsgewölbes sei unendlich – „ΘòȱσΒΝȱ ΘΓІȱΓЁΕ΅ΑΓІȱΩΔΉΕΓΑ.“12 Auch für Aristoteles ist dieser außerhalb des Seienden im Ganzen [ΘΤȱΔΣΑΘ΅] liegende Raum an sich betrachtet13 zwar unbegrenzt, insoweit er aber als Außenraum des Himmelsgewölbes fungiert, ist er doch schon ein spezifischer Raum. Die Pointe der Aristotelischen Dialektik der Verschränkung von begrenztem und unbegrenztem Raum besteht nun aber nicht einfach im Vorausdenken von Hegels Diktum, das jede Negation be9 10 11 12 13
Zur Entfaltung dieser Argumentation siehe vor allem das 4. Kapitel im 3. Buch der Aristotelischen Physik. Arist. Phys. 204a 30-31. πΑȱΘΓϧΖȱ΅ϢΗΟΘΓϧΖ, Arist. Phys. 203a 6. Arist. Phys. 203b 25. Vgl. auch 203a 7. „Alle, die in dem Ruf stehen, dieses Denkgebiet mit nennenswertem Erfolg bearbeitet zu haben, haben sich ausdrücklich mit dem Unendlichen auseinandergesetzt, und alle setzen es als einen Seinsgrund an: Die einen, so die Pythagoreer und Platon, nehmen es rein für sich, nicht als etwas, das an einem anderen vorkommt, sondern so, als ob die Bestimmung ‚unbegrenzt‘ selbst einen Sinn hätte.“ Arist. Phys. 203a 1-4.
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Arno Böhler stimmte Negation sei, sondern in der Annahme, dass das begrenzte Himmelsgewölbe selbst im eigentlichsten Sinne als unbegrenzt charakterisiert werden müsse. Und zwar darum, weil es an seinen äußersten Rändern unmittelbar an das Unbegrenzte angrenze, es an seiner äußersten Peripherie also direkt berühre. Die grenzenlose Weite, die sich außerhalb des Himmelsgewölbes befindet, steht mit der äußersten Peripherie des Himmelsgewölbes nach Aristoteles daher hautnah in Verbindung. Aus diesem Sach-Verhalt ergibt sich für ihn, dass das Himmelsgewölbe die Freiheit besitzt, sich prinzipiell gesehen immer weiter nach außen hin ausdehnen zu können. In diesem operativen Sinne ermöglicht die grenzenlose Weite, die das Himmelsgewölbe extern umgibt, die Expansion desselben. Das Endliche ist für Aristoteles also unendlich, das Begrenzte unbegrenzt, die Teile des Raumes unteilbar, insofern es an ein Außen rührt, von dem es einerseits zwar begrenzt, andererseits aber gerade so umgeben wird, dass es sich über dieses Außen hinaus „unendlich“ ausstrecken, ausbreiten, ausdehnen, weltweit ent-grenzen kann.14 Das Resümee der Aristotelischen Reflexionen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des wirklichen Da-seins unbegrenzter Körper mündet daher in den nur dem ersten Anschein nach befremdlichen Satz. Es ergibt sich so, dass ‚unbegrenzt‘ das Gegenteil von dem bedeutet, was man dafür erklärt: Nicht ‚was nichts außerhalb seiner hat, sondern‚ wozu es immer ein Äußeres gibt‘ [ΓЈȱΦΉϟȱΘȱσΒΝȱπΗΘϟ], das ist unbegrenzt.15
Zwar ist die unendliche Weite des Raumes außerhalb des Himmelsgewölbes für Aristoteles im strikten Sinne der äußerste Bestandteil des Raumes inmitten der Welt. Aber als Außenraum des Himmelsgewölbes lässt sich dieser Satz nur in Relation auf das Himmelsgewölbe sagen. Von daher gesehen existiert der Außenraum nicht absolut – d. h. losgelöst von den Körpern im Raum, die er äußerlich umgibt, sondern relativ zu ihnen. Den absoluten Raum können wir nur relativ von den Körpern im Raum her bestimmen.16 Natürlich kann die grenzenlose Weite außerhalb des Himmelsgewölbes nichts mehr außer sich haben, das sie umgibt. Daher muss der Raum insgesamt betrachtet für Aristoteles in jedem Mo14 Zum operativen Sinn des aristotelischen Kontinuumsbegriffs vgl. Wieland 1962, 300-307. 15 Vgl. auch die zuvor angeführte Stelle: „so sagen ja die Natur-Denkern, der Außen-Körper der Welt [ΘϲȱσΒΝȱΗЗΐ΅ȱΘΓІȱΎϱΗΐΓΙ], dessen Bestand Luft oder etwas anderes dergleichen sei, sei unbegrenzt groß.“ Arist. Phys. 206b 23. 16 Vgl. auch Arist. Phys. 206b 33-207a 2.
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Perforierte Körper ment notwendig ganz und vollendet sein, ΘνΏΉΓΑȱ Ύ΅Ϡȱ ϵΏΓΑ,17 auch dann, wenn sich die Räume im Raum permanent verändern. Der Inbegriff aller Räume stellt notwendigerweise eine singuläre Größe dar, die insgesamt weder größer noch kleiner werden kann, da es keinen Raum geben kann, der sich außerhalb des gesamten Raumes befinden könnte, über den sich dieser ausdehnen könnte; „[…] es giebt Nichts ausser dem Ganzen!“,18 schreibt Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung und beendet den Satz mit einem Ausrufezeichen! Jeder Versuch, einen Raum außerhalb des unendlichen Raumes zu denken, endet auch für ihn, ebenso wie für Aristoteles, in einer unaufhebbaren Aporie. Den gesamten Raum kann nämlich niemand von außen her „richten, messen vergleichen, verurtheilen“, denn das hieße ja, außerhalb des Ganzen stehen zu können und das Ganze von da her richten, messen, vergleichen, verurteilen zu können […] – „Aber es giebt Nichts außer dem Ganzen! – “19 Wenn der gesamte Raum sowohl den Raum inner/halb als auch den außer/halb des Himmelsgewölbes umfasst, dann müssen sich alle Bestand-Teile des Raumes insgesamt in einem einzigen Raum befinden. Während der offenständige Leerraum außerhalb des Himmelsgewölbes der Allmenge aller Dinge also ständig die Möglichkeit einräumt, ihre Anzahl durch Hinzufügung neu ankommender Dinge kontinuierlich zu erweitern bzw. durch Subtraktion vergehender Dinge zu verringern, bleibt der Raum insgesamt von dieser Expansion bzw. Reduktion des Universums völlig unberührt. Mag die Menge aller Dinge im Raum noch so viel vergrößert und das Himmelsgewölbe immer noch weiter nach Außen geschoben und ausgedehnt werden. Immer bleibt eine räumliche Differenz zwischen der grenzenlosen Weite des Alls und der Allmenge der Dinge, die sich darin befinden. Ein räumlicher Abstand, dessen Kluft niemals gänzlich aufgehoben worden sein wird, der also selbst unendlich ist.
Der Eine, in sich unterschiedene Raum Insofern es bei jeder noch so großen Zahl, die wir uns denken mögen, einen imaginären Zahlenbereich außerhalb der aktuell realisierten Zahlenmenge gibt, der größer ist als die Größe der Zahl, die wir uns aktuell gerade als größte denken, können wir uns immer eine noch größere Zahl vorstellen als die, die wir uns soeben als die aktuell größte aller möglichen Zahlen imaginieren. Für Aristoteles gibt es daher zwar eine aktuell größte Zahl, aber keine Zahl, die prinzi-
17 Arist. Phys. 207a 9. 18 Nietzsche 1967, 96. 19 Nietzsche 1967, 96.
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Arno Böhler piell die größte aller denkbaren Zahlen sein könnte. Weil jede konkrete Zahl das Kontinuum aller möglichen Zahlen immer nur partiell auszudrücken vermag, stellt jede konkrete Zahl bloß ein Fragment des gesamten Kontinuums aller Zahlen dar. Nicht erst Derrida hat eindringlich darauf hingewiesen, dass die Präsenz von Dingen im Zuge ihrer Präsentation in Raum und Zeit auf bleibende Art und Weise den Charakter einer Spur besitzt, weil der Bestand endlicher Dinge durch Hinzufügung neuer Elemente jederzeit supplementiert,20 sogar nachträglich noch ergänzt, korrigiert und durch Aufpfropfung neuer Aspekte substantiell verändert werden kann.21 Was in mathematischer Hinsicht gilt, gilt für Aristoteles aber auch, und zwar noch ursprünglicher, in ontologischer Hinsicht. Jeder Körper, der inmitten des Raums zur Erscheinung kommt, ist immer schon Bestandteil des gesamten Raumes, in dem er sich befindet. Die ontologische Differenz zwischen dem All des Seienden [ΘΤȱ ΔΣΑΘ΅] und dem Inbegriff des gesamten Raumes [ςΑ],22 in dem sich alle Teile des Raums als partielle Bestandteile des Raums selbst befinden, ist für Aristoteles gerade der Garant dafür, dass das Werden der zum Vorschein kommenden Dinge selbst bleibend in Bewegung bleibt. In diesem Sinne ist die kontinuierliche Teilbarkeit des Raumes in immer wieder teilbare Räume genau das, was dem Raum nach Aristoteles den Charakter eines Kontinuums gibt23 und was den Dingen in ihm einen fragmentarischen Spur-Charakter verleiht. Während der unendliche Raum im inbegrifflichen Sinne qua ςΑ für Aristoteles also immer schon ganz und vollendet ist, sind die räumlichen Bestand-Teile dieses einen Raumes, die einzelnen Raum einnehmenden Körper, umgekehrt gerade ein für alle Mal unendlich offen, erweiterbar, supplementierbar, ergänzbar, fragmentarisch.
Die Welt als Areal der physischen Absenz eines Körpers Gerade weil Körper für Aristoteles Bruchteile eines Kontinuums sind, sind sie für ihn also keine „Dinge-an-sich“, sondern weltoffene Wesen. Die grenzenlose Weite, die Körper äußerlich umgibt, befindet sich physisch gesehen zwar außerhalb von ihnen. Weil sich der 20 Zur Zeit als zu-reichendem Grund eines jederzeit in die Zukunft aufbrechenden Ereignisses vgl. Böhler 2004. 21 Zur Aufpfropfung neuer Bedeutungsschichten in eine gegebene Ordnung vgl. Derrida 2001. 22 Aristoteles unterscheidet zwischen dem, was alle Einzeldinge insgesamt als Peripherie um sich herum haben Θϲȱ ΔΣΑΘ΅ȱ ΔΉΕνΛΉΑ und das Eine, das alles in sich hat, ΘϲȱΔκΑȱπΑȱο΅ΙΘХȱσΛΉΑ. Arist. Phys. 207a 19-20. 23 Siehe Arist. Phys. 231b 16.
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Perforierte Körper Raum, der einen Körper umgibt, von seiner physischen Erscheinung aber niemals gänzlich isolieren und trennen lässt, gehört er gleichwohl untrennbar zu ihm. Zwar ist das Areal, das einen Körper äußerlich umgibt, exakt der Teil des Raumes, in dem sich ein Körper physisch gerade nicht befindet: das „a-reale“24 Areal seiner eigenen physischen Absenz inmitten der Welt. Insofern ein Körper aber ohne [without] diesen Außenraum [out] real nicht möglich ist, gehört das Areal dieses Außenraums („with Out“) konstitutiv zum räumlichen Da-sein seiner physischen Erscheinung. Die griechische Philosophie nannte diese Ausgesetztheit der Körper gegenüber dem Raum, den sie um sich herum haben [ΔΉΕȬ νΛΓΑ], und zwar genau so, dass sie von ihm physisch angegangen werden, Pathos [ΔΣΟΓΖ]. Im Erleiden der Welt [Δ΅ΟΉϧΑ] setzt einem Körper exakt das zu, was ihn eigentlich bloß äußerlich, von außen her umgibt. Von der Welt leibhaftig angegangen, getroffen, betroffen, berührt, gerührt, gestoßen, zerbrochen, entzückt, angezogen, abgestoßen, aufgebrochen, „touchiert“,25 verändert, verwandelt, sind Körper ihrer Peripherie am eigenen Leib hautnah ausgesetzt. Im pathetischen Sinne befindet sich die Welt, die einen Körper umgibt, daher nicht einfach außerhalb des Körpers, sondern rückt sie ihm direkt auf den Leib. Selbst leblose Körper sind streng genommen niemals völlig in-sich-geschlossene, in-sich-verschlossene Substanzen, sondern in diesem weiten Sinne pathische Wesen, insofern ja auch sie von ihrer Umgebung kontinuierlich angegangen, verschoben, verändert, zersetzt, verwandelt, geformt, beeinflusst werden. Jean-Luc Nancy fordert in Corpus daher zu Recht, dass die gesamte Naturphilosophie neu überarbeitet werden müsse, wenn die „Natur“ als Exposition der Körper gedacht werden soll.26 Denn alles Seiende berühre alles Seiende, wobei das Gesetz des Berührens gerade Trennung sei; ja mehr noch, „Heterogenität der Oberflächen, die sich berühren.“27 Als wunde, mit anderen Körpern weltweit verbundene Entitäten, sind Körper nichts anderes als Haut. Eine „vielfältig gefaltete, nochmals gefaltete, entfaltete, vervielfältigte, eingestülpte, exogastrule, mit Mündungen versehene, flüchtige, eingedrungene, angespannte, losgelassene, erregte, verwunderte, verbundene, losgebundene Haut“.28 Die exponierte Lage, die allen Körpern eignet, sobald sie inmitten einer Welt in Erscheinung treten, bringt es mit sich, dass sie – aufgrund ihrer Ausgesetztheit in einen Raum, der ihre Körperoberflä24 Zum „a-realen“ Charakter des Raums, der einen Körper als Areal umgibt, vgl. Nancy 2003, 40-41. 25 Vgl. dazu Derrida 2007. 26 Vg. Nancy 2003, 35. 27 Nancy 2004, 25. 28 Nancy 2003, 18.
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Arno Böhler che bei weitem übersteigt –, niemals ganz, vollständig, vollendet, sondern stets Fragment einer weltweiten Umgebung sind: unvollendet, unfertig „unganz“, nichts Volles, kein gefüllter Raum, sondern offener Raum. D. h. „in gewisser Hinsicht eigentlich räumlicher Raum, viel mehr als geräumiger Raum.“29 Der Versuch von Descartes, die Räumlichkeit der Körper allein auf ihre physische Ausdehnung zu begrenzen, erweist sich von daher gesehen per se als einseitiges Unterfangen. Beraubt es Körper doch ihres weltweiten Drumherums, das sie kontinuierlich mit sich herumtragen [ΔΉΕȬ νΛΓΑ]. Wenn Martin Heidegger in Sein und Zeit das Wort Da-sein mit einem Bindestrich schreibt, dann darum, weil er dadurch „die Lichtung und Offenheit des Seienden, die der Mensch aussteht“,30 sprachlich markieren wollte. [Diese] Offenständigkeit ist nicht so etwas wie ein offenes Fenster oder wie ein Durchgang. Die Offenständigkeit des Menschen zu den Dingen meint nicht, dass da ein Loch ist, durch das der Mensch hin durch sieht, sondern die Offenständigkeit für […] ist das Angegangensein von den Dingen.31
Aufbrechende Körper. Partes extra partes . Wären Körper in-sich-verschlossene Dinge, die ihrer Peripherie gegenüber völlig indifferent wären, dann bliebe ihnen der Andrang anderer Körper inmitten der Welt nicht einmal gleichgültig: sie wären anderen Körpern gegenüber völlig blind. Die Erfahrung von Andersheit, die schon Aristoteles als das intime Gesetz jeder Berührung erkannt hatte, bliebe Körpern dann gänzlich verschlossen. [W]enn wir also annehmen, dass es so etwas gäbe, etwas vollkommen in sich, an sich Geschlossenes, dann würde ich sagen: das ist kein Körper, das ist eine Masse, wie geistig auch immer diese Masse sein mag […].32
In Körpern, die zur reinen Masse geworden sind, hat sich die Öffnung des Körpers gegenüber der Welt, die ihn umgibt, in eine apa-
29 Nancy 2003, 18. Nancy folgt auch hier Aristoteles. „Es ist also offensichtlich, dass ‚unbegrenzt‘ [ΩΔΉΕΓΑ] eher im Begriff des Teils [ΐΓΕϟΓΙ] als dem des Ganzen [aufzusuchen ist].“ Arist. Phys. 207a 26-27. 30 Heidegger/ Fink 1970, 202. 31 Heidegger/ Fink 1970, 200. 32 Nancy 2003, 106. Ein Rückzug der Körper aus der Welt, der in den Massengräbern dieser Welt für Nancy sein finales Ende findet. Vgl. Nancy 2003, 68-69.
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Perforierte Körper thische Abwendung von ihr verkehrt. Vermasste Körper verhalten sich folglich so zur Welt, als wären sie selbst kein Teil mehr von ihr. Offenbar ereignet sich in der Vermassung von Körpern das genaue Gegenteil von dem, was in der sensiblen Zuwendung eines Körpers Ereignis wird, in der er sich der Welt gegenüber öffnet, in der er sich de facto befindet. Nicht im Beharren und in sich vergraben im eigenen Gewicht ist ein Körper ganz bei sich selbst. Es ist vielmehr der Akt der Öffnung für das, was ihn umgibt, in dem er ganz er selbst wird (Aseität), sich anderen gegenüber öffnet und so auf sein eigenstes In-der-Welt-sein zurückkommt. „Der Körper ist dieser Aufbruch von sich, zu sich.“33 Und die Bewegung dieses Aufbrechens einer Substanz ist nichts anderes als das, was wir die Seele eines Körpers nennen. Die Seele ist ein Begriff für die Erfahrung, die der Körper ist. Experiri, das bedeutet im Lateinischen gerade nach draußen gehen, ausziehen ins Abenteuer, eine Überfahrt machen, ohne wirklich zu wissen, ob man zurückkehren wird.34
Im ek-statischen Aufbruch eines Körpers, in dem er von sich aus in die Welt aufbricht, um das, was sich um ihn herum befindet zu erkunden, entfaltet ein Körper erst jenen seelischen „Innen-Raum“ um sich herum, den er in der Folge psychisch durchdringt und als partes e x t r a partes am eigenen Leib hautnah empfindet. Kraft der Bewegung, in der ein Körper seinem eigenen Festkörper substantiell entflieht, um sich als partes extra partes über ihn hinauszubewegen und weltweit auszubreiten, nimmt er selbst subjektive Züge an – wird also zu dem, was die deutsche Sprache Leib, die griechische Psyche nennt.35
Aura „Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.“36 Als sensitive Bewegung, in der ein Körper sein lokales Da-sein substantiell verlässt, um etwas über das Weltweite der Welt in Erfahrung zu bringen, das ihn peripher umgibt, ist die Seele eines Körpers offenkundig nichts 33 Nancy 2003, 33. 34 Nancy 2003, 124. 35 „Wir neigen oftmals dazu, zu denken, dass der Körper eine Substanz ist, dass Körper Substanz ist. Und ihm gegenüber, oder woanders, in einer anderen Ordnung, gäbe es noch etwas anderes, zum Beispiel Subjekt, was keine Substanz ist. Was ich zeigen möchte, ist, dass der Körper, wenn es so etwas wie den Körper gibt, keine Substanz ist, sondern eben genau Subjekt.“ Nancy 2003, 107. 36 Nancy 2003, 23.
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Arno Böhler Unkörperliches, sondern ein Begriff für die Erfahrung, die ein Körper macht, wenn er sich selbst über die ihn umgebende Peripherie hinaus weltweit ausdehnt. So verstanden ist die Seele eines Körpers gerade kein immaterieller Gegenstand, der als Gespenst in einem Körper wohnt. Eher müsste sie von daher gesehen als Fluchtkörper bezeichnet werden, der sich kontinuierlich von seinem Festkörper wegbewegt, um sich über die Welt hinaus auszudehnen und auszubreiten. Dieses Fort-von-sich, als Auf-Bruch eines Körpers, der seine eigene Körperoberfläche perforiert, um sich mit einem Bruchteil seiner Energie über seine Umgebung hinaus zu ergießen, ist genau das, was exponiert wird, wenn Körper im Raum zum Vorschein kommen.37 Gerade sensitive Körper befinden sich daher nicht nur im Raum, sondern der Raum, der sie umgibt, auch in ihnen. Als partes e x t r a partes38 sind sie per se schizoide Gestalten, die sich kontinuierlich von sich selbst abspalten, ihrem Festkörper partiell also entfliehen und dabei über ihn hinaus zu leuchten, auszustrahlen beginnen. Im Anklang an Walter Benjamin möchte ich diese Strahl-, Leucht-, Flug- und Fliehkraft der Körper die Aura eines Körpers nennen: die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“.39 In der Aura entfernt sich ein Körper in alle Himmelsrichtungen von seinem Festkörper weg, um das zu ent-fernen, was sich außerhalb des Festkörpers befindet:40 das Drumherum, das den Festkörper umgibt und das sie, die Aura des Körpers erhellt, lichtet, durchsichtig, intellegibel macht, nähert. Wir dürfen diesen auratischen Austritt eines Körpers aus sich selbst, in dem sich ein Körper im Durchstoßen der eigenen Körperoberfläche über seine Festkörpergrenzen hinaus ausdehnt, also nicht bloß als noematisch-immateriellen Akt auslegen, indem sich ein Körper der Welt, die ihn umgibt, geistig-imaginär zuwendet. Gerade eine solche idealistische Interpretation einer rein geistigen Zuwendung des Körpers auf seine Außenwelt übersieht, dass die Bewegung des Heraustretens [σΎΗΘ΅ΗΖ], die Seele eines Körpers, selbst 37 38 39 40
Vgl. Nancy 2003, 33. Vgl. Nancy 2003, 28-29. Benjamin 1974, 15. Georg Christoph Tholen sieht in der Dislokation der Medien gerade ihr irritierendes Moment. „Neu oder zumindest irritierend für eine angemessene Bestimmung der Medialität der Medien ist also der von sich selbst als einem lokalisierbaren Raum loslösbare Spielraum der Medien: Es ist gerade seine ‚unsichtliche‘ Vor-Gegebenheit, die zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, wie jüngst der Performative Turn belegt, der die Eigenart der Postdramatischen Theatralität zum Angelpunkt einer Theorie der Medialität als Performativität genommen hat (vgl. hierzu Wirth 2002; Krämer 2004).“ Tholen 2005, 21.
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Perforierte Körper ein somatisches Geschehen ist41 – eine überbordende Bewegung, in der Körper den Sinn für ihre Umgebung allererst entfalten, indem sie ihn über ihre Peripherie entrollen,42 um sich im Lichte ihrer eigenen Aura ein relevantes Bild von ihrer Umwelt zu machen. Diese Operation, in der die Ausdehnung eines Körpers bis an die äußerste Grenze seiner Dehnbarkeit getrieben wird,43 bezeichnet die Sprache des Sanskrit mit dem Wort „bƀhat“: etwas breit, weit, hell, leuchtend, froh, freudig, leicht, offen, porös, durchlässig, strahlend, luminös, glamourös, brillant, „bright“ machen, und zwar kraft der Dehnung eines Körpers.44 Auch wenn voneinander entfernte Festkörper über die Exterritorialisation ihrer Aura direkt miteinander in Kontakt stehen, indem sie sich deterritorial hautnah affizieren, so heißt das nicht, dass die Distanz zwischen den Festkörpern im Zuge dieser Operation gänzlich aufgehoben wird. Ganz im Gegenteil. Der Abstand zwischen zwei Festkörpern kann erst dort offenkundig werden, wo beide voneinander nicht nur räumlich entfernt, sondern als partes extra partes über einen auratischen Zwischenraum miteinander auch verbunden sind. Im Lichte einer Aura wird der Zwischenraum zwischen zwei Festkörpern nicht zum Verschwinden gebracht und entfernt, sondern das In-Differenz-sein, die räumliche Distanz zwischen den Körpern für sie selbst erst ausdrücklich durchsichtig.45
Kommotionen Eine solche Nähe, die eine unaufhebbare Distanz zwischen zwei Körpern impliziert, sie andererseits (hautnah) bewegt, ist genau das, was Emotionen vollziehen.
41 „Wenn jede Bewegung ein Heraustreten [σΎΗΘ΅ΗΖ] ist […], dann müsste auch die Selbstbewegung der Seele den Charakter des Aus-sich-heraustretens aufweisen.“ Aristoteles, De an. 406b 13-14, übersetzt von A. B. auf Grundlage von Aristoteles 1995. Vgl. dazu auch Nancy 2003, 110 und 123. 42 Womöglich ist das, was auratisch über die Poren eines Körpers hinausstrahlt, tatsächlich ein Faden [string], der über die Welt hinaus entrollt wird, während ein Körper seine „Seele“ über die Welt ausbreitet. 43 „Ein Körper, das ist das, was die Grenzen bis zum Äußersten treibt, indem er im Dunkeln tappt, tastet, also berührt.“ Nancy 2003, 124. 44 Vgl. dazu Böhler 2008. 45 Georg Christoph Tholen hat diesen Aspekt in seine Medienphilosophie aufgenommen, wenn er darauf aufmerksam macht, dass das neue, oder zumindest irritierende einer angemessenen Bestimmung der Medialität der Medien im loslösbaren Spielraum der Medien liegt, der sie von sich selbst als einem lokalisierbaren Raum trennt. Vgl. Tholen 2005, 21.
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Arno Böhler Emotion ist für uns ein sehr schwaches Wort, aber Emotion, das bedeutet: in Bewegung gebracht, in Gang gebracht, erschüttert, betroffen, verwundet. Man kann hier noch ein weiteres Wort hinzufügen, das vielleicht zu spektakulär ist: Kommotion. Dieses Wort hat den Vorteil, dass es das ‚mit‘ [cum] einführt. Die Kommotion ist das In-Bewegung-versetzt-Sein-mit.46
Von anderen Körpern stets schon elektrifiziert,47 blitzartig stimuliert,48 geplagt, animiert, berührt, bewegt, gestoßen, verändert, aufgewühlt, verletzt, womöglich sogar vernichtet, verstoßen, zersetzt, zerstückelt, sind Körper Fraktale eines weltweiten Bezugs, dem sie sich kommotional nicht und niemals entziehen können, solange sie selbst in der Welt da sind. Im Anschluss an einen frühen Text von Antonin Artaud, der den Titel trägt: „Die Nervenwaage, Fragmente eines Höllentagebuchs“,49 bezeichnet Nancy das kom-motionale Geflecht solcher Berührungen als Nervenwaage:50 Ein wiegend, wägendes Ordnungssystem, das schon durch Hinzufügung bzw. Wegnahme kleinster Gewichte auszuschlagen, zu wanken, zu kippen, aus dem Lot zu geraten scheint. Artaud weigert sich daher, das, was er eine Nervenwaage nennt, als eine organische Ordnung zu denken, in der sich alle Teile funktional in ein ganzheitliches System gliedern würden. Denn die Nervenwaage, die er im Sinn hat, ist eine, die mehr einem wimmelnden Haufen von Gegebenheiten als einer wohlgeformten Gegebenheit entspricht. Ah, diese Zustände, die man nie benennt, diese außerordentlichen Seelenzustände, ah, diese Geistesintervalle, ah, diese winzigen Fehlschläge, die das tägliche Brot meiner Stunden sind, ah, dieser wimmelnde Haufen von Gegebenheiten. […] Und erwartet nicht, dass ich euch dieses Ganze nenne, angebe, in wie viele Teile es zerfällt, dass ich euch sein Gewicht verrate, dass ich mitmache, dass ich beginne, über dieses Ganze zu diskutieren und dass ich mich beim Diskutieren verliere und auf diese Weise, ohne es zu wissen, zu denken beginne.51
Eine Artaudsche Nervenwaage stellt keine Ordnung, sondern ein kommotionales Chaos dar. Sie ist der Begriff für etwas, das permanent im Begriff ist, vom Einem ins Andere zu kippen. Ein wimmelnder Haufen von Begebenheiten, von winzigen Fehlschlägen und Zu46 Nancy 2003, 125. 47 Zu einer kulturantropologischen Perspektive auf das Phänomen der Elektrizität vgl. von Samsonow 2007. 48 Zum Blitz-Schlag als disseminierendem Feuer vgl. Heidegger/Fink 1970, 47-62. 49 Artaud 2001, 77-95. 50 Vgl. Nancy 2003, 41. 51 Artaud 2001, 92.
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Perforierte Körper ständen, von denen wir ständig mitgerissen, hin und her bewegt, kommotional in Schach und Atem gehalten werden. Sobald uns Körper affizieren – eine Begebenheit, die uns zeitlebens kontinuierlich widerfährt –, kommt unsere gesamte Nervenwaage unweigerlich sofort in Gang, um auf die Aura der Körper, die uns am eigenen Leib hautnah affizieren, physiologisch zu reagieren. Zunächst und zumeist stereotyp, via passiver Synthesen, die eingewöhnten Verhaltensmustern folgen, in denen wir auf an- und herankommende Reize auf gewohnte Art und Weise reagieren, Affektionen affektiv, also konventionell, beantworten.
Müß ig- Gehen Gerade weil unsere Nervenwaagen dazu tendieren, einen ankommenden Reiz vorschnell zu deuten, indem sie ihn sofort auf gängige Art und Weise stereotyp interpretieren und damit in eine alte Leier verwandeln – „I said it without thinking, how stupid I was“ –,52 fordert Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung ein Sehen, Denken, Sprechen und Schreiben, das gelernt hat, diese gemeine Lebensart am eigenen Leib zu verweigern. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren […].53
Ein Sehen, Denken, Schreiben, Sprechen, das sich der habituellen Anwendung schnell verfügbarer Schemata im Akt der Wahrnehmung eines Gegenstands aktuell gerade widersetzt, eine solche Aisthetik des Widerstands muss nach Nietzsche von uns Menschen erst erlernt werden. Es ist uns nicht einfach gegeben, nicht gemein zu reagieren, indem wir auf einen Reiz nicht sofort mit allen affektiven Vorurteilen, die uns via passiver Synthesen zur Verfügung stehen, impulsiv re-agieren. „Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ‚wollen’, die Entscheidung aussetzen können.“54 Epoché … – Kimerer L. LaMothe hat die Figur des „Freien Geistes“ in Nietzsches Werk daher vortrefflich definiert als „some-body, who is, by 52 Ronell 2002, 170. 53 Nietzsche 1967, 108. 54 Nietzsche 1967, 108-109.
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Arno Böhler definition unbound by convention, tradition, or habit, having the vitality and discernment needed to do what is necessary for her own health – one who finds in the death of God an occasion to love her bodily becoming“.55 In einem freien Geist findet nicht bloß die Anwendung neuronaler Verhaltensmuster im Zuge eines affektiven Wahrnehmungsereignisses statt, sondern das zögernde, zaudernde Zurückhalten und Aussetzen der simplen neuronalen Reaktion, die von einem Körper auf einen Impuls normalerweise stattfindet und daher auch regelmäßig beobachtet und statistisch erwartet werden kann. Gerade deshalb muss ein ‚Denken‘ [pensée] über den Körper sein reales Wägen [pensée] sein (ob mit oder ohne Etymologie), und deshalb ein Berühren, gefaltet-entfaltet gemäß der Arealität. Mysterium? Wie bereits gesagt: Das ‚Berühren‘ dieses Denkens – diese Nervenwaage, die das Denken sein muss, oder es ist nichts – gehört nicht einer dem Sinn vorangehenden und außerhalb liegenden Unmittelbarkeit an. Es ist im Gegenteil die Grenze selbst des Sinns – und die Grenze des Sinns [sens] in allen Richtungen [sens] aufgefasst, von denen jede den Einbruch der anderen bildet […].56
Literaturv erzeichnis Aristoteles 1987: Aristoteles’ Physik, hrsg. von H. G. Zekl, Hamburg 1987. Aristoteles 1995: Über die Seele, hrsg. von H. Seidl, Hamburg 1995. Artaud 2001, A.: „Die Nervenwaage“, in: A. Artaud, Frühe Schriften, München 20012 (19831), 77-95. Benjamin 1974, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, I.2, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974. Böhler 2004, A.: Singularitäten. Vom zu-reichenden Grund der Zeit, Wien 2004. Böhler 2008, A.: „Open Bodies“, Paragrana 18/2, Berlin 2008 (im Druck). Derrida 2001, J.: Limited Inc., Wien 2001. Derrida 2007, J.: Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007. Heidegger/Fink 1970, M./H.: Heraklit: Seminar Wintersemester 1966/1967, Frankfurt a. M. 1970. Krämer 2004, S.: Performanz und Medialität, München 2004. LaMothe 2006, K. L.: Nietzsche’s Dancers, New York 2006. Nancy 2003, J.-L.: Corpus, Berlin/Zürich 2003. 55 LaMothe 2006, 56. 56 Nancy 2003, 41.
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Perforierte Körper Nancy 2004, J.-L.: singulär plural sein, Berlin 2004. Nietzsche 1967, F.: Götzen-Dämmerung, in: F. Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe, VI.3, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/New York, 1967-1977. Ronell 2002, A.: Stupidity, Urbana/Chicago 2002. Tholen 2005, G. C.: „Einleitung“, in: S. Schade, T. Sieber und G. C. Tholen (Hrsg.), SchnittStellen, Basel 2005. von Samsonow 2007, E.: Anti-Elektra, Berlin 2007. Wieland 1962, W.: Die aristotelische Physik, Göttingen 1962. Wirth 2002, U. (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction in Sappho, Sophocles, Offenbach GREGORY NAGY The idea of a fragmentary Muse comes from a fragmentary opera, The Tales of Hoffmann (Les Contes d’Hoffmann), by Jacques Offenbach. Such a Muse, I argue, embodies a complex metaphor that I sum up in one word, r e f r a c t i o n . This metaphor, which recurs several times in that opera, derives from the idea that light ‚breaks‘ through a prism or lens. That is, light r e f r a c t s or ‚breaks‘ just as things break. This idea combines with another idea, that sound refracts or ‚breaks‘ as well. When I speak of a refraction of sound, I am aware that there is no such thing in terms of physics. But there is such a thing, as we will see, in terms of a poetic metaphor that extends from the physics of sight to the metaphysics of sound. The optical effect of ‚breaking‘ light and the imagined acoustical effect of ‚breaking‘ sound combine to form the complex metaphor I call r e f r a c t i o n . In the music of Offenbach’s opera, this metaphor is used to express the sensation of experiencing a disintegration of identity, a shattering of the self. That is what I mean when I speak of a p o e t i c s o f r e f r a c t i o n . Besides the opera of Offenbach, such a poetics is found also in two fragments of ancient Greek poetry. One fragment is from a song by Sappho, while the other is from a song embedded within a drama by Sophocles. Though there is no reason to think that Offenbach knew about either of the two ancient Greek fragments I just mentioned, I find his poetics of refraction „good to think with“ as I contemplate the corresponding poetics of Sappho and Sophocles.1 I start with the relevant fragment from the songs of Sappho, who reputedly flourished around the beginning the sixth century BCE. In this fragment (F 31 ed. Voigt) we see the voice of a singer literally ‚breaking‘ at a moment of musical and erotic climax in the song: 1
The expression „good to think with“ derives from Lévi-Strauss 1962.
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Gregory Nagy Π΅ϟΑΉΘ΅ϟȱΐΓȱΎϛΑΓΖȱϥΗΓΖȱΟνΓΗΑȱȱ σΐΐΉΑдȱЕΑΕ,ȱϷΘΘΖȱπΑΣΑΘϱΖȱΘΓȱȱ ϢΗΈΣΑΉȱΎ΅ϠȱΔΏΣΗΓΑȱΫΈΙȱΠΝΑΉϟȬȱ Η΅ΖȱЁΔ΅ΎΓϾΉȱ ȱ Ύ΅Ϡȱ·ΉΏ΅ϟΗ΅ΖȱϢΐνΕΓΉΑ,ȱΘϱȱΐдȱώȱΐΤΑȱȱ Ύ΅ΕΈϟ΅ΑȱπΑȱΗΘφΟΉΗΑȱπΔΘϱ΅ΗΉΑ,ȱȱ ВΖȱ·ΤΕȱσΖȱΗдȱϥΈΝȱΆΕϱΛΉдȱЕΖȱΐΉȱΠЏΑ΅Ȭȱ ΗдȱΓЁΈдȱτΑȱσΘдȱΉϥΎΉ,ȱ ΦΏΏΤȱΎΤΐȱΐξΑȱ·ΏЗΗΗ΅ȱσ ΅ · Ή ȱΏνΔΘΓΑȱȱ Έдȱ΅ЄΘΎ΅ȱΛΕЗȱΔІΕȱЁΔ΅ΈΉΈΕϱΐΎΉΑ,ȱȱ ϴΔΔΣΘΉΗΗȱΈдȱΓЁΈдȱτΑȱϷΕΐΐд,ȱπΔΕΕϱΐȬȱ ΆΉΗȱΈдȱΩΎΓΙ΅,ȱ ΎΣΈȱΈνȱΐдȱϥΈΕΝΖȱΜІΛΕΓΖȱΎ΅ΎΛνΉΘ΅ȱΘΕϱΐΓΖȱΈξȱȱ Δ΅ϧΗ΅ΑȱΩ·ΕΉ,ȱΛΏΝΕΓΘνΕ΅ȱΈξȱΔΓϟ΅Ζȱȱ σΐΐ,ȱΘΉΟΑΣΎΑȱΈдȱϴΏϟ·ΝȱдΔΈΉϾΖȱȱ Π΅ϟΑΓΐдȱσΐдȱ΅ЄΘ΅аȱȱ He appears [phainetai] to me, that one, equal to the gods [isos theoisin], | that man who, facing you | is seated and, up close, that sweet voice of yours | he hears, | and how you laugh a laugh that brings desire. It just | makes my heart flutter within my breast. | You see, the moment I look at you, right then, for me | to make any sound at all won’t work any more. | My tongue h a s b r o k e n d o w n , and a delicate | – all of a sudden – fire rushes under my skin. | With my eyes I see not a thing, and there is a roar | my ears make. | Sweat pours down me and a trembling | seizes all of me; paler than grass | am I, and a little short of death | do I appear [phainomai] to myself. Sappho F 31 ed. Voigt
In my translation here, I have marked with a vertical line (|) the rhythmical boundaries of the song, which for the most part fail to correspond to the syntactical boundaries. Such a failure, I submit, is an aspect of what I am calling the poetics of refraction. What is being imagined in the wording of this song is that the tongue of the woman who is speaking ‚has broken down‘. The woman – let us imagine her as Sappho – is not just speaking but singing, so that the tongue that breaks down here is a tongue singing a song. The singing voice, directed by the tongue, breaks because even the tongue breaks down. And the voice of the singing woman breaks at a climactic moment in her song. At that moment, as represented in the song, the singing woman experiences an uncanny sensation. In the lyrical logic or illogic of the song, it is as if her nervous system had suddenly reached a point of overloading. The breakdown of her voice is felt to be an 70
The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction overall nervous breakdown. At that moment, the singing woman experiences a breakdown in her mind, and this breakdown leads to the sensation of experiencing a d i s i n t e g r a t i o n o f i d e n t i t y . At this moment, she feels she has reached the razor’s edge of dying. She is about to lose consciousness. Or, to say it in terms of ancient Greek medical language, she is experiencing a s y n c o p e [ΗΙ·ΎΓΔφ]. And, as she loses consciousness, she can actually see herself losing consciousness. In the original Greek, she ‚seems‘ or ‚appears‘ to herself to be losing consciousness. Why? It is because she is no longer her own self. There is now another self who is looking at her. That is why she can say that she ‚seems‘ or ‚appears‘ to herself to be reaching the razor’s edge of dying. And this disintegration of the singing woman’s self is simultaneous with the disintegration or breakdown of her singing voice. So the sound of the singing woman’s voice fails to come out. The sound is blocked, interrupted, s y n c o p a t e d . In the original Greek, the blockage of the sound of her song, its interruption or s y n c o p a t i o n , is expressed by way of a negative sound effect that is ordinarily avoided in Greek poetry and songmaking. Ancient grammarians have a word for such a negative sound effect. It is a h i a t u s . This term, in the original Latin, conveys the idea of ‚gagging‘. In the original Greek of Sappho’s song, the wording kam men glżssa eœge ‚(my) tongue has broken down‘ contains a hiatus: the sequencing of the short final vowel -a of glżssa ‚tongue‘ followed by the short initial vowel e- of eœge ‚broke‘ produces a negative acoustic effect. Technically, this effect is a hiatus, that is, a ‚gagging‘. The sequencing has produced a non-sequencing. The negative acoustic effect of gagging has produced an interruption in the flow of language, in the flow of the music of the language. I repeat: such an interruption, which is a hiatus, is ordinarily avoided. But this is no ordinary hiatus here. That is because the breaking of regularity by way of interrupting the flow of the music is an intended effect. The sensation of a break is actually intended in the music of the language. The music has a breakdown, and the language expresses that breakdown with the word rhřgnunai, which means ‚break‘ or ‚break down‘. This same word can also mean ‚cut‘, as we see in passages of the Homeric Iliad picturing the moment when a sharp object penetrates a part of the body (VIII 328, XX 399, XXIII 673).2 In the song of Sappho, then, what you see in your imagination when you hear the word that means ‚break down‘ is what you hear as the music actually breaks down. The effect is o n o m a t o -
2
Durbec 2006, 12.
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Gregory Nagy p o e t i c . To invoke a term used by Roman Jakobson, an i c o n i c effect is being created here by the language.3 And such an effect is not only linguistic. It is also musical. Next I turn to Sophocles, poet and musical composer par excellence, who flourished in Athens during the second half of the fifth century BCE. I focus on a fragment that survives from a song he composed for his tragedy Thamyras (F 244 ed. Radt), which is named after a mythical master of music who dared to compete with the Muses, goddesses of music. Here and hereafter, I use the word music in the holistic sense of the ancient Greek word mousikř, which means ‚art of the Muses‘. This art, in the era of Sophocles as also in the earlier era of Sappho, was a holistic combination of song and dance and instrumental accompaniment. The mythical figure Thamyras was a master practitioner of this holistic art, and the Muses punished him for boasting that his music was better than theirs. The punishment of Thamyras is narrated most explicitly in the Homeric Iliad (II 594-600), where we find that Thamyras experiences a mental breakdown in his ability to practice his art, the art of music. The Muses punish him by taking away his mental ability to sing and accompany himself on the lyre. To translate literally the crucial Homeric verses (II 599-600), ‚his songmaking, | wondrous as it was, they [= the Muses] took away from him, and they made him completely forget [root ek-lřth-] the art of the lyre [kitharistus]‘. The use of the word ek-lřth- ‚completely forget‘ here is particularly significant: literally, the Muses make the musician forget his artistic self. Thamyras experiences a d i s i n t e g r a t i o n o f i d e n t i t y , a s h a t t e r i n g o f t h e s e l f , in that his consciousness of his artistic self breaks off. In the fragment of the song composed by Sophocles, there is a pointed reference to this disintegration of Thamyras as a master of the art of music: Ϲ · Α Ͽ Ζ ȱΛΕΙΗϱΈΉΘΓΑȱΎνΕ΅Ζ,ȱ Ϲ · Α Ͽ Ζ ȱΥΕΐΓΑϟ΅ΑȱΛΓΕΈΓΘϱΑΓΙȱΏϾΕ΅Ζȱ b r e a k i n g the gold-bound curve, b r e a k i n g the tuning of the tense-strung lyre Sophocles F 244 ed. Radt
We see here the actual moment of the musician’s breakdown, as expressed by the same word rhřgnunai ‚break‘ that we saw in the song of Sappho. The breakdown starts with the use of the word rhřgnunai ‚break‘ at the first line of the fragment I have just quoted, 3
Nagy 1996, 58, n. 67 and n. 68. On the term iconic, see Jakobson 1960.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction where the breakdown is pictured as the shattering of the musician’s splendid seven-string lyre while he is actually playing it. The frame of the lyre, curving gracefully like the horn of an ox, breaks in the wording of the first line. Next, in the wording of the second line, the breaking of the beautiful frame leads to the breaking of the beautiful sound the lyre makes. We not only see in our mind’s eye the breaking of the lyre. We also hear the breaking of the sound of the music made by the lyre. In the rhythmical structure of both the first and the second lines, the initial word, rhřgnus ‚breaking‘, occupies a position traditionally known as the Aeolic base. Here is a technical definition of the Aeolic base: it is a sequence of two rhythmically irregular syllables at the beginning of an Aeolic line, followed by rhythmically regular syllables in the rest of the line. So the irregularity of the rhythm in the Aeolic base breaks the regularity of the rhythm in the rest of the Aeolic line. And, in both of the Aeolic lines I quoted, the word rhřgnus ‚breaking‘ is positioned in the Aeolic base. So the word that means ‚break‘ is positioned in such a way as to coincide with the actual break in the rhythm of both lines.4 We see here, once again, a musical breakdown, and, once again, the language expresses that breakdown with wording that means ‚break down‘. What you see in your imagination when you hear the wording that means ‚break down‘ is what you hear as the music actually breaks down. Once again we can say that the effect is o n o m a t o p o e t i c . Or, to invoke once again the terminology of Jakobson, an i c o n i c effect is created here by the language. And such an effect, to echo what was said before, is not only linguistic. It is also musical. A question remains about the fragment from Sophocles: who broke the lyre and the tune that came from the lyre? We cannot be absolutely certain, since the fragment does not contain any explicit reference. Still, the fact that the participle rhřgnus ‚breaking‘ is transitive, indicating an active agent, suggests a most compelling answer. Thamyras himself must have shattered both the lyre and the tune of the lyre at the tragic moment when he completely forgot his music. His act of shattering reflects his experience of becoming shattered by his mental breakdown. At that moment of breakdown, his own identity as a musician is shattered. The disintegration of the musician’s self leads to the disintegration of the music of his old self at the hands of the alien new self. Athenaeus (early third century CE) reports that Sophocles played the lyre in the original production of his tragedy about
4
Nagy 1974, 45.
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Gregory Nagy Thamyras (1.20ef: Ύ΅ϠȱΘϲΑȱ̋ΣΐΙΕΑȱΈΈΣΗΎΝΑȱ΅ЁΘϲΖȱπΎΟΣΕΗΉΑ); from this report, we may infer that it was Sophocles himself who played the title role of the master musician Thamyras.5 In that case, the theme of the lyre-singer’s musical and personal self-alienation would be all the more telling. In the fragment I quoted from the Thamyras of Sophocles, the breaking of the music is part of the music. The discontinuity produced by successive interruptions or ‚breaks‘ in a continuum may actually contribute to an overall sense of continuity or noninterruption, as in the pulsation of sound or light.6 A specific example of discontinuity as an aspect of continuity is the musical technique of s y n c o p a t i o n , where the sensation of a break in rhythm can only happen within an overall framework of unbroken rhythm. Similarly, the sensation of a break in consciousness – and we have seen that the Greek medical term for such a break is s y n c o p e [ΗΙ·ΎΓΔφ] – can only happen within an overall framework of consciousness. Further, I suggest that the self cannot experience the sensation of disintegration without a preexisting sense of an integral ‚I‘. Looking beyond the Greek musical traditions, we can find a variety of further examples where the idea of ‚breaking‘ is part of the process of making music. A shining example is the use of words meaning ‚break‘ in medieval Provençal traditions of songmaking. As in the Greek traditions, ‚breaking‘ in the Provençal songmaking traditions may convey a sense of continuity as well as discontinuity. For an example of discontinuity, I focus on a song of Jaufré Rudel (mid twelfth century CE). In this song, the composer tells the intended performer of his song not to fail in its performance, since such a failure would make the song itself fail or ‚break‘: gart se no.i falha ni.l pessi ‚be careful not to let our song fail or break [pesar]‘ (Jaufré Rudel, Song VI version 1b line 4). Such a ‚breaking‘ of the song would be a ‚break‘ in the tradition of performing that song. Counterbalancing such a sense of discontinuity is the sense of continuity as expressed by the word refranhar, which means ‚refract‘. We find an example in another poem of Jaufré Rudel, where refranhar ‚refract‘ refers to the singing of the nightingale and, in response, the singing of the poet.7 Here is the context:
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6 7
In the same passage of Ath. 1.20ef we are told that Sophocles himself played the title role of the young girl Nausikaa in his play Nausikaa, and that he performed a virtuoso dance with a ball in reenacting the moment in the Odyssey when Nausikaa is playing ball with the girls attending her [ΩΎΕΝΖȱΈξȱπΗΠ΅ϟΕΗΉΑ,ȱϵΘΉȱΘχΑȱ̐΅ΙΗΎΣ΅ΑȱΎ΅ΟϛΎΉ]. Nagy 1996, 58 n. 67. Pickens 1977, 330-331.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction qan lo rius de la fontana s’esclarzis si cum far sol, e par la flors aiglentina, e.l rossignoletz el ram volf e r e f r a i n g et aplana son doutz chantar et afina dreitz es q’ieu lo mieu r e f r a i g n a When the stream from the spring runs clear, the way it usually does, and the sweetbrier flower appears, and the little nightingale on the branch turns and r e f r a c t s [r e f r a n h a r ] and polishes his sweet singing and refines it (brings it to an end), it is right that I should r e f r a c t [r e f r a n h a r ] my own. Jaufré Rudel, Song II version 1 strophe i8
In my previous work, I made the following observations about the use of refranhar ‚refract‘ in this passage:9 The metaphor inherent in the Provençal verb refranhar can be explained as an auditory equivalent of a visual metaphor, the ‚refracting‘ of light (as in Latin re-fringere). The driving image of r e f r a c t i o n also accounts for two Provençal nouns: refrins, meaning ‚echo‘ (as a part of sound that repeats itself), and refrim, meaning ‚birdsong, sound, refrain‘.10 The verb refranhar can also refer to the musical process of m o d u l a t i o n in song: much as light is refracted through glass or a prism, so also the musical sound of song is modulated.11 When the nightingale ‚turns and r e f r a c t s [r e f r a n h a r ] and polishes‘ his song, the songbird is being envisaged as a craftsman who is constantly engaged in the process of i m p r o v i n g the work of his craftsmanship, in principle coming ever nearer to the finished product. The poet echoes the songbird as he reaches the end of the strophe just quoted, and so also by implication the other singers must echo the poet, as they too must ‚turn and refract and polish‘ the song, refining it and ‚bringing it to an end‘. The end of one singer’s ‚refinement‘, however, is the beginning of another’s, and each beginning, each new ‚movement‘, is a return to tradition. In this
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Pickens 1978, 100; I follow closely his translation at 101, with some changes. 9 Nagy 1996, 24. 10 Extended discussion in Pickens 1977, 331 n. 20. 11 Pickens 1977, 331 n. 20. See Nagy 1990, 91-103 for a discussion of ancient notions of mode as a system of intervals in pitch and of modulation as a process of switching from one given system to another. Pliny Natural History 10.85 refers to the vox ‚voice‘ of the nightingale as modulata ‚modulated‘ and varia ‚varied‘ – qualities that he says become diminished in the birdsong as the summer wears on.
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Gregory Nagy theme of ‚refinement‘, we see the ultimate image of improvement as an eternal return to the traditional, which is envisaged as an eternal musical modulation.
So the refractions of a nightingale’s song represent the most sublime form of artistry in these Romance language traditions. But they represent also the most sublime form of passion – which is meant to be seen as natural, not only artistic. The idealized singer’s song of love is meant to be as natural as it is artful. For an example, I draw attention to the poem Philomena praevia temporis amoeni by John Pecham (died 1292). The poet of this poem reshapes along religious lines the theme of the nightingale’s love song, and the legend underlying this theme can be summarized as follows: [The] nightingale knows before-hand the time of her death and when she perceives that it is near, flies to the top of a tree and there, at daybreak, pours out her soul in many songs. At the hour of Prime her voice rises higher and in her singing she knows neither respite nor repose. About the time of Tierce, the gladness and passion increase, until at noon, her heart is ready to break as she cries oci! oci! [‚kill! kill!‘], and her strength begins to fail until at None she dies.12
I highlight here, for the first time, the metaphor of h e a r t b r e a k . The b r o k e n h e a r t of the singing nightingale, who is imagined here as a female rather than male singer, signals the natural passion of her love song, which is strong enough to kill her. The songbird’s cry of love and death by heartbreak, oci! oci! ‚kill! kill!‘, is linked with the themes of betrayal. We find an explicit example in Song 18 of the troubadour Guillaume le Vinier (13th century CE). Here the nightingale, imagined as a male singer, utters that same passionate onomatopoetic cry oci! oci! ‚kill! kill!‘ (verse 4) because he is denouncing the trahitour ‚traitors‘ (verse 7), that is, those who betray true lovers – and thereby cause the nightingale’s death.13 From the artistic standpoint of singers practicing their art in the traditional poetics of Romance languages like Provençal and Old French, the nightingale’s cry of betrayal and death by heartbreak is technically a r e f r a i n . It is an artistic device, a thing of art, replicating a thing of nature, that is, the cry of the nightingale. And, as we saw earlier, the r e f r a i n is metaphorically a r e f r a c t i o n , that is, a ‚breaking‘. In the refrain of the nightingale, the sound of
12 Nagy 1996, 209-210, following Raby 1951, 445-445. On the vernacular background of the onomatopoeia implicit in the cry oci! oci! ‚kill! kill!‘, see Pfeffer 1985, 41. On the mythological background for the theme of death by „killing“, see Pfeffer 1985, 136-137 and 140. 13 Pfeffer 1985, 134-137, 140.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction music ‚breaks‘. Further, the heart of the lover ‚breaks‘ the same way. In terms of the complex metaphor at work here, a refraction in the artistic world of the poet is like a breaking of the heart in the natural world of t h e p a s s i o n a t e l o v e r . When poets sing of l o v e a n d d e a t h b y h e a r t b r e a k , the artistic refraction that expresses their passion must be natural. The artist who sings must be p e r f e c t l y n a t u r a l , not just a r t i s t i c a l l y p e r f e c t . What is artistically perfect must be natural, not artificial. So too the perfect artist must be natural, not artificial. Such uses of the metaphor of refraction in Romance traditions are comparable to later uses in the Romantic era of the early 19th century. For my main example, I single out The Tales of Hoffmann by Offenbach, an opera inspired by earlier literature stemming from the Romantic era. This opera, as we will see, is pervaded by the metaphor of refraction. And there is a character in the opera who figures as the very embodiment of this metaphor. I call this character the fragmentary Muse. As I said at the beginning, the metaphor of refraction derives from the basic idea that light ‚breaks‘ through a prism or lens. That is, light refracts or ‚breaks‘ just as things break. In the opera of Offenbach, the lens that makes the light ‚break‘ is imagined as various kinds of glass, including mirrors and even a special kind of opera-viewing glass. By extension, this glass can break just as the light breaks. By further extension, the heart of a romantic lover can break just as glass can break – or just as any other precious instrument of refraction can break. And, as we will see in the music of Offenbach, this metaphor of refraction expresses the sensation of a disintegration of identity, a shattering of the s e l f , comparable to what we have seen in the music of Sappho and Sophocles. I have already described such a sensation in terms of a p o e t i c s o f r e f r a c t i o n . Now we are about to see such a poetics at work in the opera of Offenbach. And the goddess who presides over it all is the fragmentary Muse. When Offenbach died on October 5, 1880, his intended masterpiece of an opera, The Tales of Hoffmann (Les Contes d’Hoffmann), was fragmentary. It was still very much in the making. At the time of his death, the artist’s intentions in shaping the ultimate form of his opéra fantastique could only be second-guessed by his artistic collaborators and heirs. His son, Auguste-Jacques Offenbach, asked Ernest Guiraud to finish the unfinished work. Guiraud is famous for finishing not only the unfinished Tales of Hoffmann by Offenbach: he finished also the unfinished Carmen by
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Gregory Nagy Georges Bizet.14 Most revealing are the anecdotes reported by Guiraud himself concerning the finishing of Carmen, but that is another story.15 The opera Les Contes d’Hoffmann (Tales of Hoffmann) by Offenbach was based on an earlier play Les Contes fantastique d’Hoffmann, authored by Jules Barbier and Michel Carré and with incidental music by Joseph-Jacques-Augustin Ancessay, which had its world première at the Théâtre de l’Odéon on March 21, 1851.16 The world première of the opera took place almost exactly thirty years later, at the Théâtre de l’Opéra-Comique (Salle Favart), on February 10, 1881, just a few months after the death of Offenbach. The libretto for the opera, authored by Barbier alone (Carré, his coauthor for the play, had died in 1872), was submitted to the Censor’s Office (Direction générale de l’imprimerie et de la librairie) on January 5, 1881, by the director of the Opéra-Comique, Léon Carvalho.17 This text by Barbier is known to experts as the „Censor’s Libretto“.18 Recent research has shown that this version was used as the prompt-text for rehearsals; or, to say it in terms of French theatrical language, it was the text of the souffleur ‚prompter‘.19 With this text begins a lengthy history of additions, subtractions, and other changes that have kept on reshaping this unfinished opera of Offenbach. The reshaping continues to this day, and the opera seems destined to remain a composition in the making. True, there has been considerable progress over the years in finding additional textual evidence documenting various different phases of the opera’s composition. By now a great deal more is known about at least some details – such as the ongoing adjustments made by Offenbach to suit the vocal capacities of the singers chosen for the upcoming world première. To this day, however, the prospects for establishing a final definitive version of the opera remain elusive. Offenbach’s work continues to be a composition in the making, a masterpiece made up of pieces that continue to defy attempts at fitting them all together. The opera, in short, is destined to remain fragmentary for all time. But there is more to it. I am arguing that the Muse who is pictured as the inspiration of this fragmentary work is likewise fragmentary in her own right. What I call the fragmentary Muse of Offenbach’s Tales of Hoffmann is essential to the poetics of this 14 15 16 17 18
Dibbern 2000, xix n. 10. See McClary 1992, 74; Hadlock 1994, 234 n. 26 Barbier/Carré 1851. See Dibbern 2000, 229. Dibbern 2000, xviii n. 7, 227. A facsimile of Acts 4 and 5 of the „Censor’s Libretto“ has been published by Heinzelmann 1988. See also Dibbern 2000, xxi. 19 Heinzelmann 1988, 423.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction opera. The musical meaning of the opera comes to life in its fragmentation, and the Muse of Hoffmann is a fitting symbol of that fragmentation. This Muse of the opera is not recognized as the Muse until the very end of The Tales of Hoffmann. From the start, she disguises herself as a boy named Nicklausse, the faithful follower of Hoffmann. In each of Hoffmann’s three tales about the heartbreak of love, Nicklausse is there. At the world première of the opera on February 10, 1881, the role of the Muse who sings the role of the boy was sung by Marguerite Ugalde, who had replaced Alice Ducasse during the months of planning and rehearsals that had led up to the première.20 This change may have led to modifications of the Muse’s vocal range as a mezzo-soprano.21 There were more drastic modifications as well. For the world première of the opera, the production suffered from massive cuts by the producer Carvalho, and many of these cuts affected the role of the Muse. Omitted was the moment in the Epilogue (Act 5) when the Muse reveals herself by removing her disguise as the boy Nicklausse.22 Also omitted was the moment in the Prologue (Act 1) when the Muse initially declares her intention to disguise herself as Nicklausse.23 In spite of such changes, however, one thing remained and still remains a constant in the opera: Nicklausse is really a Muse and Hoffmann is really a poet destined to be inspired by this Muse. But the disguise of the Muse disguises the inspiration. And so the inspiration of Hoffmann the poet by his Muse becomes a fragmented inspiration by a fragmentary Muse. Whereas Hoffmann is consistently recognized as a poet singing the role of a poet in each of his three Tales, the Muse of Hoffmann maintains her disguise as the boy Nicklausse, and Hoffmann fails to recognize her for what she really is, that is, the Muse who inspires the poet – and who truly loves him. The failure extends throughout the master narrative that frames all three of the Tales narrated by Hoffmann. This narrative is an extended flashback that starts at the very beginning of the opera, in the Prologue (Act 1). The mental disconnection of Hoffmann from his Muse is all the more striking in view of the fact that his role as narrator of the flashback framing Acts 2 and 3 and 4 is equated with his role as a musician – as a lead singer. This equation is made clear already in 20 There were even further complications: in the rehearsals, the role of the Muse was assigned to a different singer. See Didion 1988, 149. 21 Dibbern 2000, xviii, 145 n. 1. It has been claimed that Ugalde was a soprano, but Heinzelmann 1988, 424-425 disagrees. 22 Dibbern 2000, 138-139. 23 Dibbern 2000, 141-144.
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Gregory Nagy the Prologue (Act 1), when the character of Nathanaël, singing as part of the chorus, calls out to Hoffmann: Chante donc le premier, | sans qu’on te le demande. Nous ferons chorus So be the lead singer, | without having to be asked to do so. And we will take up the role of chorus! Tales of Hoffmann Act 1 No. 4 [Dibbern 2000, 27]24
Despite such explicit equations, the poet as musician fails to see his role as musician, that is, as one who practices the art of the Muse. By failing to recognize the Muse as his inspiration in the Prologue (Act 1) and in Acts 2 and 3 and 4, the poet as narrator also fails to recognize the Muse as his one true lady love. Only in the Epilogue (Act 5) is the goddess finally revealed in that role.25 And what was happening to Hoffmann while the Muse was maintaining her disguise? He has been narrating three different Tales about three different women he has loved – Olympia in Act 2, Antonia in Act 3, and Giulietta in Act 4. By the time the Muse reveals her identity in the Epilogue (Act 5), the romantic heart of the lovelorn poet has been broken by each one of the three lady loves of his three Tales. It is said most explicitly in Act 4, at the moment when Hoffmann discovers that his self-consuming love for Giulietta has been all in vain. At that moment, Nicklausse exclaims about Hoffmann: Son coeur va se briser His heart is going to break. Tales of Hoffmann Act 3 No. 16 bis [Dibbern 2000, 95]
Curiously, the breaking of the romantic poet’s heart in The Tales of Hoffmann is caused by – and corresponds to – the literal breaking of each one of the three women he loves in each one of the three Tales of Acts 2 and 3 and 4 – Olympia in Act 2, Antonia in Act 3, and Giulietta in Act 4. That is to say, all three women are destroyed by way of breaking down in one way or another. And the breakdowns of these three women in the opera by Offenbach match closely what happens in the earlier play of 1851, Les Contes fantastiques d’Hoffmann. The plot and the characters of this play, authored by
24 Except for wherever I indicate otherwise, I follow the text of the edition published by Schirmer, see Offenbach 1959. 25 Dibbern 2000, 138-139.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction Barbier and Carré, are the same as in the opera of Offenbach, the libretto for which was authored by Barbier. The breakdowns of these characters in the play and in the opera can be traced back to three separate short stories authored by a celebrated culture hero of German Romanticism, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822). Even the character of the romantic poet Hoffmann in the French play and opera can be traced back to this E.T.A. Hoffmann. The poet in the play and opera is a fiction based on this author. As we can see when we compare the Tales of our fictitious poet Hoffmann with the short stories of the real author E.T.A. Hoffmann, whom Barbier and Carré had read in French translations, the breakdowns of the poet’s lady loves in the play and opera were inspired by corresponding breakdowns in the short stories. Here is a brief inventory of the variations in the breakdowns experienced by the three different women in the Tales told by the singing romantic poet Hoffmann in the opera by Offenbach. In each case, I add details about the breakdowns of the corresponding women in the three separate short stories authored by E.T.A. Hoffmann himself. Act 2 of the opera by Offenbach Hoffmann loves a mechanized doll named Olympia. Her body – or let us call it her frame – is literally broken into pieces. This character derives from E.T.A. Hoffmann’s short story The Sandman (Der Sandmann, 1817).26 In that version, ‚Olimpia‘ is loved by a romantic young man named Nathanaël. She too is broken into pieces. Act 3 of the opera by Offenbach Hoffmann loves a would-be operatic diva named Antonia. She dies of heart failure – her heart literally breaks down. And this breakdown is timed to coincide with the operatic moment when her singing reaches a peak of sublime musical virtuosity. This character derives from E.T.A. Hoffmann’s short story Counselor Crespel (Rat Krespel, 1818).27 In that version, ‚Antonie‘ is loved by a romantic young man named ‚Composer B‘. The lover is thwarted by Antonie’s possessive father, a musician named Crespel. His Cremona violin breaks at the same moment when the heart of the singing Antonie fatally breaks down. Antonie and the broken violin are then buried together. Act 4 of the opera by Offenbach Hoffmann loves a courtesan named Giulietta. Her soul is damned, and this damnation is timed to coincide with a shattering of mirrors. Giulietta had used a mirror to capture the reflection of
26 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Hoffmann 1985, III, 11-49. 27 E.T.A. Hoffmann: Rat Krespel, in: Hoffmann 1985, IV, 39-71.
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Gregory Nagy Hoffmann and thus imprison his own precious soul – let us call it his identity. When Hoffmann discovers that his reflection has disappeared, he panics and shatters all the mirrors he sees around him. The moment of shattering is captured in the stage directions of the 1851 play, though it is absent from the unfinished text of Act 4 in the 1871 „Censor’s Libretto“ of the opera. By implication, this breaking of the glass signals the freeing of the soul of Hoffmann from the prison of the mirror, but it signals also the damnation of the soul of Giulietta. The character of Giulietta derives from E.T.A. Hoffmann’s short story The Story of the Lost Reflection (Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde)28, which is part of a longer story entitled The Adventure of New Year’s Eve (Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, 1815).29 In that version, Giulietta is loved by a romantic young man named Erasmus Spikher, whose reflection is captured in her mirror. The outcome of the broken mirror is anticipated but not actually narrated in that version. So the three women loved by Hoffmann in the opera – Olympia, Antonia, and Giulietta – are all destroyed by being broken in one way or another. They all become fragmented, shattered. Once again, we return to the idea of a d i s i n t e g r a t i o n o f i d e n t i t y , a s h a t t e r i n g o f t h e s e l f .30 The fragmentations of the three women correspond to three refractions. All three of these shattered women turn out to be refractions of a seemingly unique lady love. Her name is La Stella, and she plays the role of a diva or prima donna in the opera. After the three Tales of Hoffmann are told, the Muse declares in Act 5 (the Epilogue) that the diva Stella is a composite of the other three women: Olympia … Antonia … Giulietta … Ne sont qu’une même femme: La Stella! Olympia … Antonia … Giulietta … they are all just one and the same woman, La Stella! Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
28 E.T.A. Hoffmann: Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde, in: Hoffmann 1985, II.1, 342-359. 29 E.T.A. Hoffmann: Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, in: Hoffmann 1985, II.1, 325-359. 30 In this context, see Daemmrich 1973, which centers on the works of E.T.A. Hoffmann. The book does not engage, however, with the actual metaphor of shattering – as used by E.T.A. Hoffmann and by the librettists of Offenbach’s Tales of Hoffmann.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction Hearing the unwanted truth of these words from the disguised Muse, the frustrated poet Hoffmann threatens to shatter his wouldbe mentor just as he shatters the empty wineglass he is holding: Un mot de plus et sur mon âme / Je te brise comme ceci One more word out of you and, I swear by my soul, I will shatter you just like this. Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
Threatened with these words, the Muse expresses her hurt feelings as she responds reproachfully to the poet: Moi, ton mentor? Merci! (Shatter) me, your mentor? Well, thank you very much! Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
The Muse is peevish because she is in love with Hoffmann – she has loved him all along, as she declares at the very beginning, in the Prologue31 (Act 1, Insert 1). So the Muse is a rival of Stella, who is a composite of the three women loved by Hoffmann. In her role as a phantom rival of the Muse, the diva Stella belongs not to the opera that is the Tales of Hoffmann. She belongs to a higher form of opera. She is a diva who sings in an opera composed by Mozart himself, Don Giovanni. In the Prologue (Act 1) of the opera by Offenbach, the diva Stella is imagined as already singing on stage at the opera house where the opera Don Giovanni is being presented. There is a pointed reference to this high opera in the low opera of Offenbach when the disguised Muse sings in the Prologue of Tales of Hoffmann: Notte e giorno mal dormir ‚night and day, to sleep badly …‘. The words and the melody evoke what the character of Leporello sings at the beginning of Don Giovanni. It is as if Nicklausse as the disguised Muse in the low opera of Offenbach had the same relation to Hoffmann as Leporello had to Don Giovanni in the high opera of Mozart. Hoffmann reacts to the evocation made by his disguised Muse by invoking the devil in anger and telling Nicklausse to be quiet: Tais toi, par le diable ‚be quiet, I swear by the devil!‘ Stella is already singing in the high opera of Mozart even before the action of the low opera by Offenbach can begin. As the Muse herself declares, the diva Stella is singing in the opera house the music of ‚the divine Mozart‘:
31 Offenbach 1977; Dibbern 2000, 142-143.
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Gregory Nagy Elle est sur la scène, | un peuple l’acclame; Le divin Mozart | prête à ses accents ce foyer menteur, | cette ardente flamme Qui d’Hoffmann jadis | embrasa les sens. She is on stage, | acclaimed by all. The divine Mozart | has handed over his musical strains to this fireplace of deception, | this blazing flame, which has taken hold of Hoffmann for some time now, | setting all his senses on fire. Tales of Hoffmann [Oeser ed.] Act 1 Insert 1 [Dibbern 2000, 143]
The character of this diva Stella, described here as the otherworldly phantom of Hoffmann’s intoxicated reveries, was originally created for the play Les Contes fantastiques d’Hoffmann, coauthored by Barbier and Carré. As we have seen, this play or drame fantastique preceded the libretto that Barbier authored for the opera of Offenbach. And, as we have also seen, the play was based on French translations of the original short stories of E.T.A. Hoffmann, whose namesake is the fictitious romantic poet Hoffmann in The Tales of Hoffmann. Now we will see that the character of Stella in both the opera and the earlier play is modeled on a character who appears in a short story by this E.T.A. Hoffmann, Don Juan (1813).32 In that short story we see the narrator – let us for the moment think of him as E.T.A. Hoffmann himself – attending a performance of Mozart’s opera Don Giovanni and suddenly experiencing a mystical encounter with an Italian diva who sings the role of Donna Anna in the opera. The encounter happens during intermission, so that the narrator’s experience becomes a kind of s y n c o p e . The hiatus of the intermission in the opera corresponds to a hiatus in the narrator’s sense of reality, since he comes into contact with an otherworldly vision that defies reality. Here is a synopsis of what happens: Hoffmann tells of attending a performance of this opera and being stricken with the beauty and eloquence of the woman who sang the role of Donna Anna. He has a vision in which she appears in his box and explains how difficult it is to step out into the stage and give her whole heart and soul to people who may not even appreciate her. Then she goes back to the stage and sings divinely. The next day, he learns that at the moment he thought she was speaking to him, she was dying, a victim of sudden illness. Once again, the issue of the double appears in Hoffmann’s tale. She is with him and she is dying backstage at the same time, just as, in 32 E.T.A. Hoffmann: Don Juan, in: Hoffmann 1985, II.1, 83-97.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction the three main acts of The Tales of Hoffmann, Stella appears in each act as a different singer. It cannot be emphasized often enough how important it is for the same artist to portray all four characters.33 In the last sentence of what I have just quoted, the author of the synopsis, who is an expert in the opera Tales of Hoffmann, has expressed her opinion about the ideal casting of this opera. As the same expert acknowledges, however, such a casting verges on the impossible. It defies the reality of the human voice. I will quote later what she says about this impossibility, which is relevant to the character of Stella in the opera. For the moment, however, I focus on what happened to the Italian diva in the corresponding short story by E.T.A. Hoffmann, the Don Juan. After the intermission of Don Giovanni is over, the opera resumes and the dying diva manages to sing the aria Non mi dir bell’ idol mio (Act 2 Scene 5) with a sublime virtuosity that leads to a total physical breakdown – and death. The breakdown is pictured as a general collapse of her nervous system, caused by violent seizures (Nervenzufälle).34 The narrator hears the sad news on the morning after the performance: one of these seizures had happened during the intermission, exactly at the time when the narrator had experienced his mystical encounter with the diva in his opera box. And the final seizure of the diva happened only a few hours later, in the dead of night, exactly at the time when the scent of the her perfume awakened the narrator to hear her voice singing one last time the aria Non mi dir bell’ idol mio.35 The death of this diva who sang her heart out as Donna Anna in Mozart’s Don Giovanni was already presaged in the mystical encounter with the first-person narrator of the short story during the intermission between Act 1 and Act 2 in the opera. As the diva tells the narrator, ihr ganzes Leben sei Musik36 ‚her life in its entirety is the same thing as music‘; whatever she has sung is what the poet is: Ja, (…) ich habe dich gesungen, sowie deine Melodien ich sind37 ‚Yes, I have sung you, just as your melodies are myself.‘ So the diva of E.T.A. Hoffmann’s Don Juan appears to be the embodiment of the poet’s music. It is as if she were the poet’s Muse. But she cannot really be a Muse, since Muses are Olympian goddesses – and so they are immortal. A Muse cannot break because she cannot die. But the diva breaks, and she dies. The character of Stella, just as we find her in the libretto of Offenbach’s opera, is evidently modeled on this diva in the short 33 34 35 36 37
Dibbern 2000, 170. E.T.A. Hoffmann: Don E.T.A. Hoffmann: Don E.T.A. Hoffmann: Don E.T.A. Hoffmann: Don
Juan, Juan, Juan, Juan,
in: in: in: in:
Hoffmann Hoffmann Hoffmann Hoffmann
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1985, 1985, 1985, 1985,
II.1, II.1, II.1, II.1,
97. 96. 88. 89.
Gregory Nagy story of E.T.A. Hoffmann. This diva breaks, but Stella does not break in the opera. There are three other women who will break in her place. So is Stella really a diva? No. As we will see, Stella is a false diva who rivals a real diva in disguise. That real diva is the fragmentary Muse of the opera by Offenbach. Within the narrative frame of The Tales of Hoffmann, the setting for the singing of the diva Stella is the high opera of Mozart, performed in an opera house situated near Luther’s tavern, which is where the low opera by Offenbach is notionally being performed. In the Prologue (Act 1) of The Tales of Hoffmann, we see the highlighting of this contrast between high and low opera. Bursting into Luther’s tavern is an unruly crowd of students who have been attending the performance of Don Giovanni at the opera house. During intermission after the first act, while waiting for the next act to begin, they decide to go down to Luther’s tavern for a drink. In the spirit of the moment, they become intrigued at the prospect of hearing there the three Tales to be told by Hoffmann about his three lady loves. So they lose sight of the curtain call signaling that the high opera is about to recommence, choosing instead to stay in the tavern and hear the low opera that is The Tales of Hoffmann. Although they had earlier been marveling at the prodigious singing of Stella at the opera house, they are now diverted into hearing three different refractions of that singing. The unique identity of Stella as the diva who sings the role of Donna Anna in high opera is now refracted into the three identities of the three different lady loves of Hoffmann in the low opera as narrated by the poet. The singing role of a unique diva is now refracted into the three different singing roles of Olympia, Antonia, and Giulietta. From the perspective of Hoffmann’s narration, each of the three women he loves is a diva in her own right. There are now three divas to reckon with, not some unique diva named Stella. Back when Offenbach was still planning to present an earlier version of Hoffmann at the Gaieté-Lyrique, in 1876, he had intended the roles of Stella and all three of her refractions – Olympia and Antonia and Giulietta – to be sung by one single diva, Marie Heilbron, already famous for singing the role of Violetta in Verdi’s La Traviata.38 But the negotiations for the production of such a would-be earlier version broke down, and the composite diva who would sing all three roles – along with the fourth role, of Stella – failed to be realized. In the course of the later negotiations involving the producer Léon Carvalho, which led to the version of the opera
38 Dibbern 2000, 227; this detail is noted in the obituary on Marie Heilbron (see Heilbron 1886). More on Heilbron in the work of Didion 1988, 136, 281 n. 17; Heinzelmann 1988, 438 n. 15.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction that finally had its world première at the Opéra Comique in 1881, there were changes made that worked against the original concept of casting one diva to sing all four roles – Olympia, Antonia, Giulietta, and Stella. By comparison with these changes, the further change from baritone to tenor in the score for the role of Hoffmann seems insignificant. More radical changes were in store for Stella and her three refractions. Some of these changes were made in response to the artistic demands of a diva named Adèle Isaac, who had been cast to sing the four feminine roles. Here is how one expert describes what happened: [T]he four feminine roles were considerably modified to accommodate Adèle Isaac. Isaac had recently triumphed as Juliette in Gounod’s Roméo et Juliette. She had a very high voice and wanted vocal acrobatics added to her part. Offenbach rewrote Olympia’s aria, which up to then had had a very central tessitura. He set the new coloratura aria in the key of G, then later transposed it to A flat.39
The first version of the aria [of Olympia] was written about 1877 for Marie Heilbron, a lyric soprano. This version [in its original key of G] had a lower tessitura and was not written for a high coloratura [as in the case of Adèle Isaac].40 These changes made by Offenbach in order to accommodate the virtuosity of a single diva led to an irreversible fragmentation of the four roles of Olympia, Antonia, Giulietta, and Stella. The same expert whom I just quoted puts it this way: This concession to an individual singer has made it almost impossible to find one soprano to sing all four roles, although it might be more feasible if producers used the original key of G.41
After the death of Offenbach in October of 1880 – and shortly before the world première of his opera in February of 1881 – there were even more radical changes to come. Through the direct intervention of the producer Carvalho, the role of Giulietta was cut. What had been meant as Act 4, centering on the role of Giulietta, was cut altogether, and fragments of this act were redistributed into other acts. Here is a description of these changes initiated by the interfering producer:
39 Dibbern 2000, xviii, 51 n. 12. 40 Dibbern 2000, 61 n. 12; Didion 1988, 142. 41 Dibbern 2000, xviii n. 9.
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Gregory Nagy [H]e cut the whole act [centering on Giulietta] and placed some of its music into other acts. The Giulietta-Hoffmann ‚Reflection duet‘ became a duet for StellaHoffmann. Hoffmann’s aria Ô Dieu de quelle ivresse [Dibbern 2000, 86] was inserted into the Epilogue [Dibbern 2000, 139]. The [Barcarolle] was sung at the beginning of the Antonia act by two anonymous characters who pass by Crespel’s house, and the act was set in Venice instead of Munich [where the house of Crespel, Antonia’s father, was originally to be located], so that Carvalho could use the expensive stage sets he had ordered for the Giulietta act.42
Though the Tale of Giulietta was restored in later productions of the opera, it was conventionally relocated as Act 3, taking the place of the Tale of Antonia, which was relocated as Act 4.43 Despite the restorations that have been ongoing ever since the world première of the Tales of Hoffman, the preexisting fragmentation of the roles of Hoffmann’s lady loves has persisted. Most notably, the relatively lower vocal range of the role of Giulietta and the recomposed higher vocal range of Olympia have proven to be irreconcilable – without further recomposition going far beyond the intentions of the original composer. As I have already noted, no single singer could ever be expected to encompass the musical roles of Olympia, Antonia, and Giulietta without adjustments to the existing vocal requirements for singing these roles. So the composite diva originally envisioned by Offenbach has been destined to elude the music of Hoffmann. Such a composite diva also eludes the overall story of Hoffmann. Just as no unique singer could ever be expected to sing all three roles of Olympia, Antonia, and Giulietta, there is no unique woman who could never be expected to live up to the composite ideal of all three lady loves of Hoffmann’s Tales. The fictional Hoffmann expects the diva Stella to live up to this ideal, but his expectations are shattered. And his ideal is shattered along with his expectations. Such a shattering happens with the literal shattering of the three different women he loves in his three Tales. But are these three women really distinct from one another? Clearly, the Muse thinks otherwise. I have already quoted what she says in the Epilogue:
42 Dibbern 2000, xix. See also Didion 1988, 149-150. In the facsimile of the „Censor’s Libretto“ of 1871 published by Heinzelmann 1998, the words of Ô Dieu de quelle ivresse are to be found at 455. 43 Hadlock 1994, 226.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction Olympia … Antonia … Giulietta … Ne sont qu’une même femme: La Stella! Olympia … Antonia … Giulietta … they are all just one and the same woman, La Stella! Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
Already in the Prologue, the Muse challenges Hoffmann when he speaks of his readiness to tell the three Tales of his three mistresses. The dismissive words of the Muse ring true: Que parles-tu de trois maîtresses? What do you mean when you say ‚three mistresses‘? Tales of Hoffmann Act 1 No. 6 [Dibbern 2000, 38]
The truth is, these three lady loves of Hoffmann are distinct from one other only in the mind of the beholder who is narrating his three stories of three loves. As the Muse knows from the start, one unique lady love is being refracted into three ‚mistresses‘ through the lens of the narration performed by Hoffmann. That narration is of course the opera that is the Tales of Hoffmann. So the lens that produces this refraction is the opera itself. In the play by Barbier and Carré that preceded the opera by Offenbach, we can find the inspiration for picturing the opera as a refracting lens. It is the lens of an opera-viewing glass used by Hoffmann whenever he gazes at Olympia. The word for ‚viewing glass‘ in French is lorgnon.44 Technically, a lorgnon is a single-lens viewing glass. It was fashionable to use a lorgnon for viewing opera and other such theatrical spectacles. The opera-viewing glass used by Hoffmann was made by that master of optical illusions, the demonic fiend Coppélius. So whatever it is that Hoffmann sees through his opera-viewing glass must be an illusion. His illusion is that he fails to see Olympia for what she is, a mechanical doll. The figures of Olympia and Coppélius as we find them in both the play and the opera derive from the short story of E.T.A. Hoffmann entitled The Sandman (Der Sandmann). In this story, an obsessively romantic young man named Nathanaël experiences a fatal breakdown of the mind after falling in and out of love with a mechanical life-size doll named ‚Olimpia‘. This original version of the story has a basic theme in common with the later versions we find in the play and in the opera: the lens through which the romantically animated lover views the unromantically inanimate object of his love creates for him an optical illusion. His illusion, to repeat what was said before, is that he fails to see Olimpia / 44 Dibbern 2000, 50, 52 and 153.
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Gregory Nagy Olympia for what she is, a mechanical doll. In the German text of E.T.A. Hoffmann, the word corresponding to the French word lorgnon, which I translate as ‚opera-viewing glass‘, is Perspektiv.45 The form is in the masculine, as distinct from the word Perspektive, which is in the feminine and means ‚perspective‘. There is a question to be asked about the narrative logic of the original short story by E.T.A. Hoffmann. Why is the mechanical doll mechanized in the first place? Evidently, the purpose of the mechanization is to create the illusion that the doll is alive. This mechanized doll, when she sings and dances, seems to be alive. And she not only seems alive. This Olimpia / Olympia seems to be the ideal woman when viewed through the lens of the opera-viewing glass. In the opera based on the play based on the short story, Olympia seems to be something even more than the ideal woman – when viewed by Hoffmann through the lens of the opera-viewing glass. She seems to be the ideal diva of opera. I highlight here my use of the word diva in its literal sense, goddess. Olympia now seems to be the Muse, the Olympian goddess of the music of opera. What creates the optical illusion of seeing such an idealization is not just the lens of the opera-viewing glass through which Hoffmann views Olympia. It is opera itself that ultimately creates this illusion. What, then, does Hoffmann see in Olympia when he views her through the opera-viewing glass of the demonic friend Coppélius? He sees what the romantic lover of opera expects to see. And he hears what the romantic lover of opera expects to hear. When he looks through his opera-viewing glass, he sees and hears the diva in a way that lives up to the expectations of romantic heroes who claim to have a perfect understanding of opera. To have such expectations of a diva is to appreciate a need that is felt by the diva herself: she needs to be n a t u r a l . That is the point of the short story of E.T.A. Hoffmann entitled Don Juan. In that story, as we have seen, the narrator experiences a mystical encounter with a diva who sings the role of Donna Anna in Mozart’s Don Giovanni. That encounter, to echo what has been said before, leads the narrator to recognize the diva as the embodiment of music itself. Such a recognition is contrasted with the negative reactions of self-styled opera critics who inflict their views on the narrator after the performance of the opera is over. I quote from the Don Juan of E.T.A. Hoffmann: Man pries im allgemeinen die Italiener, und das Eingreifende ihres Spiels: doch zeigten kleine Bemerkungen, die hier und da ganz schalkhaft hingeworfen
45 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Hoffmann 1985, III, 35.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction wurden, daß wohl keiner die tiefere Bedeutung der Oper aller Opern auch nur ahnete. – Don Ottavio hatte sehr gefallen. Donna Anna war Einem zu leidenschaftlich gewesen. Man müsse, meinte er, auf dem Theater sich hübsch mäßigen und das zu sehr Angreifende vermeiden. Die Erzählung des Überfalls habe ihn ordentlich konsterniert. Hier nahm er eine Prise Tabak und schaute ganz unbeschreiblich dummklug seinen Nachbar an, welcher behauptete: die Italienerin sei aber übrigens eine recht schöne Frau, nur zu wenig besorgt um Kleidung und Putz; eben in jener Szene sei i h r e i n e H a a r l o c k e aufgegangen, und habe das DemiProfil des Gesichts b e s c h a t t e t ! 46 The speakers had general praise for the Italians and for their grasp of the performance. But there were little remarks, thrown in mischievously here and there, that showed how none of them had even the slightest inkling of the deeper meaning of this opera of all operas. While they all liked Don Ottavio, one of them said that Donna Anna had been too passionate. In a theatrical setting, he went on to say, one should be moderate in a pretty sort of way and avoid exaggeration. The description [as sung by Donna Anna] of the attack upon her father had given this speaker a fair amount of consternation. At this point he took a pinch of tobacco and – I can’t fully describe how stupid he looked while trying so hard to be clever – he turned to hear the reaction of the man who sat next to him. This next speaker declared that the Italian woman was all in all quite a beautiful woman, but too careless in the way she dressed and the way she put herself together. Why, in that same scene [where Donna Anna sings about the attack on her father], a s t r a n d o f h e r h a i r h a d come loose and cast a shadow on her profile!
This diva, even if she is such a disappointment to her Philistine critics, is true to her romantic idolaters. She is true to their romantic ideal of opera because she combines what is natural with what is artistic. The hint of disorder in the arrangement of her hair is a most telling sign of her perfect naturalism in the practice of her art. The narrator himself had noticed the loosening of the diva’s hair during the performance: [...] des dunklen Haares aufgelöste Flechten wallen in Wellenringeln den Nacken hinab.47 Loose tresses of dark hair flow in curling waves down her neck and shoulders.
Such a perfect combination of nature with art exemplifies the Romantic ideal of E.T.A. Hoffmann in his short story. The two
46 E.T.A. Hoffmann, Don Juan, in: Hoffmann 1985, II.1, 90-91. The highlighting is mine. 47 E.T.A. Hoffmann, Don Juan, in: Hoffmann 1985, II.1, 84.
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Gregory Nagy Philistine opera critics fail to appreciate this ideal. They fail to see that the diva needs to be natural in order to be truly artistic. This same romantic ideal is represented by Nathanaël, a young student who figures in the opera of Offenbach: he sings the praises of Stella the diva: C’est la grâce de la nature | Et c’est le triomphe de l’art What you have here is the gracefulness of nature | and the triumph of art all at once. Tales of Hoffmann Act 1 No. 4 [Dibbern 2000, 22]
Pointedly, this Nathanaël is the namesake of the doomed romantic lover in that other relevant short story of E.T.A. Hoffmann, The Sandman. That other Nathanaël suffers from the illusion of seeing an ideal combination of the natural and the artistic in his beloved ‚Olimpia‘ when he looks at her through his opera-viewing glass. Such an illusion prevents him from seeing the reality – that his beloved Olimpia is not natural at all. She is totally artificial. I return to the question: what is it that Hoffmann sees in the Olympia of Offenbach’s opera when he views her through the operaviewing glass? He sees in her something unique and perfect, something that is both natural and artistic all at once. But this something exists only in the performed music of the opera, not in the character of Olympia. What Hoffmann sees is the diva of opera in the act of performance. The light that brings to the eyes of Hoffmann the vision of Olympia has been refracted through the lens of the opera-viewing glass, though the lens of opera itself. Just as Hoffmann sees a vision that is perfect and unique when he sees Olympia through his opera-viewing glass, so also the discerning audience of the opera is meant to hear a sound that is unique and perfect. The sound they hear is the voice of the diva singing the role of Olympia. In opera, the singing diva is supposed to be unique and perfect, an ideal combination of the natural with the artistic. The optical illusion seen by Hoffmann through the opera-viewing glass matches an acoustical illusion heard by the audience of the opera. The diva who sings the role of Olympia is singing the role of a woman who is not real because she is artificial. But the real woman who sings the role can be a diva only if she is natural. The diva who sings the role of Olympia is not and cannot be artificial. She is natural. She is real. I quote a most telling formulation by the musicologist Heather Hadlock, who is highlighting a parallelism between the waltz of Olympia with Hoffmann and the finale of the virtuoso song that she sang before the waltz:
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction But the act’s finale unmasks the singer’s charade and the limits of her mechanical impersonation; for as the puppet’s programmed melody b r e a k s d o w n in her extravagant concluding vocalise, a g e n u i n e p r i m a d o n n a r e p l a c e s t h e d o l l - i n s t r u m e n t . The moment of revelation undoes the paradox of a virtuoso performance that has vainly tried to efface its own production: the more successfully the singer produces that ‚inhuman‘ coloratura, the more astonished the audience becomes at her technical mastery. This finale acknowledges the way that the performance always ‚b r e a k s c h a r a c t e r ‘ in a coloratura showpiece: her singing is so breathtaking and strenuous that we cannot avoid acknowledging the particular woman doing it. I n s u c h m o m e n t s t h e p r i m a d o n n a p l a y s only herself. Olympia’s manic final performance begins with a solo flute theme, a dance to accompany waltzing guests. She and Hoffmann begin to dance, but the girl suddenly refuses to follow; she lurches around, throwing the bemused poet back and forth and finally flinging him to the ground, where h i s m a g i c spectacles shatter. Breaking the spectacles destroys t h e i l l u s i o n – f o r H o f f m a n n , a n d f o r t h e a u d i e n c e , who now see the live soprano dropping her mask of wooden programmability. In response to the paternal command, ‚Assez, assez, ma fille!‘, she warbles her obedient word ‚Oui‘, but goes nowhere: she has not had enough. Her ‚Oui!‘ melts into the non-signifying noise of ‚Ah!‘ that it was all along, and she takes up the waltz theme, replacing the solo flute with her voice. But almost immediately she exceeds that theme’s formal constraints, and the orderly expectations set up by her ‚doll song‘, as she runs away with the tune: her roulades get out of control, she gets stuck in the cadential trills, she rewrites the piece to the surprise and alarm of everyone. […] Like her crazy dance with Hoffmann, this disorderly music comes from outside the logic of the plot, contrary to paternal programming. Bereft of his magic spectacles, the disillusioned Hoffmann, like the audience on stage and off, can only gape at the new spectacle of a cooperative girl-machine transformed into a disorderly diva.48
The illusion experienced by Hoffmann is shattered when his operaviewing glass is shattered. His illusion is that he thinks he is seeing and hearing a diva who represents the perfect combination of the natural and the artistic. That illusion is the romantic ideal of opera. That is what gets shattered for Hoffmann, along with his operaviewing glass. After the glass of his viewing instrument breaks, he can see Olympia for what she is – a robotic singer, a singing automaton. The audience has seen it all along: Olympia is merely a thing of art, devoid of life. The shattering of the opera-viewing glass through which the poet views his precious love object, this artificial woman named Olympia, is timed to take place just before the
48 Hadlock 1994, 240. The highlightings are mine.
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Gregory Nagy moment of her own physical disintegration, which serves as proof that she is artificial and not at all natural. But there is no such proof. Olympia is not artificial. She is a real diva – so long as she is viewed through the refracting lens of the opera-viewing glass. Only when this glass shatters does the diva who sings the role of Olympia seem totally artificial. When she is viewed through the refracting lens, she seems natural – a perfect combination of nature with art. Only when the romantic poet’s opera-viewing glass is shattered does he see Olympia as a mere work of art, an automaton. For an undiscerning audience of opera, that is all Olympia ever was, an automaton. For the romantic soul, such an undiscerning view would be typical of unromantic Philistine sensibilities, as if opera had become a victim of bourgeois consumerism. Such Philistinism is echoed by the mocking laughter of the guests attending the party hosted by Spalanzani, who have all witnessed the shattering of Olympia. As Hoffmann cries out his painful discovery that Olympia was an automaton, the unromantic guests attending the party respond by laughing at Hoffmann’s grief over the shattering of his romantic illusion about his lady love: Hoffmann: Un automate! Un automate! Le Choeur: Ha! ha! ha! la bombe éclate! Il aimait un automate! Hoffmann: It’s an automaton! An automaton! Chorus: Ha! ha! ha! The bomb has gone off. He was in love with an automaton! Tales of Hoffmann Act 2 No. 12 [Dibbern 2000, 75]
Like the Philistine guests of Spalanzani, the audience attending the comic opera by Offenbach could laugh as well. Olympia was broken because the she was not a natural woman. She was an artificial woman, an automaton. If the audience laughs, however, the joke is on them. They would only be showing that they, too, are Philistines, since they fail to grasp the romantic ideal of a diva. This romantic ideal, as developed in the opera, goes beyond what we see in the original short story of E.T.A. Hoffmann, The Sandman. Unlike the Olympia of the opera, the ‚Olimpia‘ of this short story is no true diva. She is a false diva, fooling not only the bourgeoisie but also the romantic poet: She fools bourgeois society because her fixed smile and limited conversation (she can only say ‚Ah! Ah!‘) conform so perfectly to their idea of how a young girl should behave. She fools Nathanael, the poet who has fallen in love with her, because he always views her through Coppelius’ magic spectacles.49
49 Hadlock 1994, 236.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction By contrast, there is something engagingly natural about the Olympia of the opera, since she sings like a true diva, living up to the expectations of a discerning audience of opera. Such an audience would truly appreciate the romantic ideal of a diva as a perfect combination of the artistic and the natural. The idea of a diva inside a man-made machine masquerading as a woman is already latent in the short story of E.T.A. Hoffmann, but the emphasis there is on the ultimate artificiality of ‚Olimpia‘. In the opera of Offenbach, by contrast, the natural singing of the diva who sings the role of Olympia helps bring to life the personality of this ‚poor little automaton‘. The interest in such a personality is a romantic impulse, as we see from other French theatrical experimentations involving the character of E.T.A. Hoffmann’s ‚Olimpia‘. Two examples are The Doll of Nuremberg (La Poupée de Nuremberg, 1852), a farce by Adolphe Adam, and Coppélia (1870), a ballet by Léo Delibes, after a scenario by Charles Nuitter: Both the ‚Nuremberg doll‘ and the puppet Coppélia seem, at their comic and dramatic high points, to be transformed from mechanism to life, but the plot provides a rational explanation: the ‚ghost in the machine‘ is a live girl. The inventor, like the legendary sorcerer’s apprentice, is initially delighted by the success of his experiment, and then made frantic by his creation’s misbehaviour, while the audience remains comfortably aware that the doll is actually slumped in the cupboard, and that the thing dancing wildly is a real person logically accounted for. The boundary between cyborg and woman remains secure.50
The audience has reason to be far less comfortable about the boundary between cyborg and woman in the opera by Offenbach. As Heather Hadlock observes about the role of Olympia in this opera, „there is a girl in the machine.“51 That is to say, the singing role of Olympia requires an extreme of naturalism to match the extreme of mechanical perfectionism. And only a true diva can be so completely natural as to live up to the absolute requirements of her art. So Olympia requires a true diva to sing her. But the absolute requirements of her art can cost the diva her life. That is because the natural girl inside Olympia must struggle to reach the Olympian heights of the mechanical goddess on the outside. One part of the diva must be nature itself, with all its imperfections, while the other part of her must be art in its fullest perfection. The diva is the perfect combination of multiple human imperfections and unique divine perfection. Viewed through the romantic opera-viewing glass of Hoffmann, Olympia is such a 50 Hadlock 1994, 237. 51 Hadlock 1994, 237.
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Gregory Nagy perfect combination. She is a romantic ideal. And the discerning audience of opera may continue to look for this ideal. For Hoffmann, however, any such ideal is shattered with the shattering of his opera-viewing glass – and with the grotesque shattering of Olympia herself immediately thereafter. If his opera-viewing glass had not shattered, Hoffmann could perhaps have seen the shattering of Olympia in an altogether different way. Through the lens of opera, the shattering of Olympia – her fragmentation – could be viewed as the sublime death of a diva. For the discerning audience of opera, there is a hint of this sublimity even in the grotesque fragmentation of the girl. There is something sad, even tragic, about the spiteful breaking of this beautiful automaton, since the girl in the machine, the diva who sings the role of Olympia, must sing her heart out before the machine is finally broken. The fragmentation of Olympia is a sad consequence of the virtuoso singing performed by the diva, who is the girl inside her. Matching the fragmentation of Olympia in Act 2 of The Tales of Hoffmann is the fragmentation of Antonia in the original Act 3. Like a true diva, Antonia had sung her heart out. She had sung till her heart literally broke, at the climax of her virtuoso singing. She broke when her heart broke. And the fatal heartbreak of her singing is proof that she is a true diva, a perfect combination of nature and art. The fragmentation of this diva in the Tale of Antonia is metonymic. W h e n I s p e a k o f m e t o n y m y h e r e , I m e a n the expression of meaning by way of connection, as opposed to the expression of meaning by way o f s u b s t i t u t i o n , w h i c h i s m e t a p h o r . 52 To be contrasted with the metonymic fragmentation of Antonia in Act 3 is the literal fragmentation of Olympia, who is literally broken into pieces in Act 2. What broke Antonia in Act 3 was whatever was natural in her. By contrast, what broke Olympia in Act 2 was whatever was artistic in her. I say a r t i s t i c rather than a r t i f i c i a l because Olympia is supremely artistic as a diva. Only as a woman is she artificial. What Olympia has in common with Antonia is that she too is a diva. It is the diva in both of them that makes them break. This line of argumentation about Olympia and Antonia in Acts 2 and 3 of Offenbach’s opera can extend to Giulietta in Act 4. It is the diva in Giulietta that makes her break as well. The fragmentation of this diva in the Tale of Giulietta, as in the Tale of Antonia, is metonymic, as I argue in another presentation. Here I confine myself to the basic theme that is common to Olympia, Antonia, and
52 Nagy 2003, ix n. 1.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction Giulietta: all three are doomed to be broken. All three of them will break because all three are refractions of one single thing that is loved. So what is the one single thing that is loved by Hoffmann in the opera of Offenbach? Throughout the telling of his tales in the opera, Hoffmann thinks that this one thing is the diva Stella. Stella finally makes her appearance in the Epilogue (Act 5) of the opera by Offenbach. Descending to Luther’s tavern, she enters the low opera of Offenbach after having finished her performance in the high opera of Mozart. It is quite an entrance. Now that Olympia and Antonia and Giulietta are all destroyed, shattered, it is time for Stella to show herself: The diva, her performance over, walks out from behind the three dead heroines, having survived them all.53
Here is the moment for Stella to sing in the low opera, but she does not. That is because Stella is a false diva. Just as no single singer could ever be expected to sing all three roles of Olympia, Antonia, and Giulietta, so also Stella the false diva could never be expected to live up to the composite ideal of all three lady loves of Hoffmann’s Tales. Once she has finished performing the role of Donna Anna in Mozart’s Don Giovanni, there seems to be nothing left for her to sing in Offenbach’s Tales of Hoffmann. And so the diva Stella does not sing at all. The diva’s silence is an innovation of the opera, as reflected in the text of the „Censor’s Libretto“ authored by Barbier. In this version, she sings nothing. She does not even say anything, not even in prose. In other versions, she only says two words in prose when she sees the drunken Hoffmann in Luther’s tavern: Hoffmann? Endormi? Hoffmann, are you asleep? Tales of Hoffmann Act 5 No. 28 [Dibbern 2000, 139]54
Only in the version that stems from the world première does Stella sing, but this exception only proves the rule, since her singing is merely an intervention created by the interfering producer Carvalho. This intervention, to which I have already alluded, has been summarized this way:
53 Hadlock 1994, 241. 54 Hadlock 1994, 242.
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Gregory Nagy The Paris première, as recorded in the first published score ([Edition] Choudens, 1881), did feature a duet for Stella and Hoffmann in the epilogue. However, its placement was due only to pragmatic considerations: Carvalho had decided to abridge the opera by omitting the unfinished ‚Giulietta‘ act, and reassigned that act’s two best numbers to other parts of the score. Thus the indispensable Barcarolle was sung during the ‚Antonia‘ act, and the love duet for Giulietta and Hoffmann [Ô Dieu de quelle ivresse] given to Stella. With the restoration of the ‚Giulietta‘ act in the Vienna production that same year, the duet returned to its rightful place, where it has remained in all subsequent editions.55
To be contrasted with the silent diva of the opera is the earlier Stella of the play authored by Barbier and Carré: here she „spoke the same mixture of verse and prose as all the other characters.“56 Heather Hadlock explains the silence of the diva Stella this way: [T]he Stella episode [that is, the Epilogue of Offenbach’s Tales of Hoffmann] overturns the analogous episode in Hoffmann’s tale [that is, in the short story Don Juan by E.T.A. Hoffmann], for whereas Donna Anna represents a fantastical poetic spirit at large in the mundane world, Stella is a mundane intruder into the opera’s fantasy. Off-stage and off-duty, Stella should not sing, for it is precisely her not bursting into song that differentiates this final appearance from the preceding episodes, and the role she played in them. And when she strolls away from Hoffmann, we remember that her three prior appearances happened on the stage of the poet’s imagination; her three ‚deaths‘ were only his stories. In each tale, the poet imagines her b r o k e n o r s m a s h e d for having overstepped the bounds, but in the end the compulsive repetition of the s m a s h i n g a n d b r e a k i n g gestures only emphasises their ineffectiveness.57
I agree that the diva of Offenbach’s low opera is different from the diva of E.T.A. Hoffmann’s short story. The diva of the short story was a romantic ideal, while there is nothing romantic about the diva Stella once we see her in the Epilogue. But there is more to it. In the low opera, the romantic idealization of the diva is exposed. And, I would add, the lens of high opera is shattered, just as the three divas of the would-be high opera of Offenbach are literally shattered. That shattering, I argue, is expressed by the poetics of refraction as practiced by the fragmentary Muse.
55 Hadlock 1994, 243 n. 43. This formulation needs to be adjusted slightly: as Heinzelmann 1988 has shown on the basis of the „Censor’s Libretto“, Act 4 was not quite as unfinished as had previously been thought. In any case, it was broken up and mined to fill in the gaps of Act 5, which was far less finished than Act 4 at the time of Offenbach’s death. 56 Hadlock 1994, 242. 57 Hadlock 1994, 242-243. The highlightings are mine.
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction We have seen that the would-be unique voice of Hoffmann’s ideal lady love is refracted into three different voices matching the three different characters of Olympia, Antonia, and Giulietta. From the perspective of Hoffmann’s narration, each of the three women he loves is a diva in her own right. There are now three divas to reckon with, not some unique diva named Stella. But there is also a fourth diva who sings in this opera of Offenbach. It is the Muse herself. She is the disguised fourth diva in the opera, and she signals the truth about Stella as a false fourth diva. I have already highlighted the Muse’s moment of truth. It happens in the Epilogue (Act 5), after the three Tales of Hoffmann have already been told. At this conclusive moment the Muse declares that Stella is a composite of the other three divas: Olympia … Antonia … Giulietta … Ne sont qu’une même femme: La Stella! Olympia … Antonia … Giulietta … they are all just one and the same woman, La Stella! Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
It is essential to repeat here what happens when Hoffmann hears the unwanted truth of these words from the disguised Muse. The frustrated poet threatens to shatter his would-be mentor just as he shatters the empty wineglass he is holding: Un mot de plus et sur mon âme / Je te brise comme ceci One more word out of you and, I swear by my soul, I will shatter you just like this. Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
It is also essential to repeat the Muse’s reproachful response to the poet: Moi, ton mentor? Merci! (Shatter) me, your mentor? Well, thank you very much! Tales of Hoffmann Act 5 No. 25 [Dibbern 2000, 136]
Hoffmann has neglected the Muse as his true love because he has been madly in love with the false love named Stella, who is refracted in the three women he says he loves. And when I say that the identity of Stella is r e f r a c t e d , I have in mind a distinctly a c o u s t i c a l refraction. In Hoffmann’s own words, this refraction has the sound of an echo that resounds forever in his heart:
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Gregory Nagy Nos coeurs et nous amours, | sa voix vibrante et douce Aux cieux qui l’écoutaient | jetaint ce chant vainqueur Dont l’éternel écho | resonne dans mon coeur. Our hearts and our loves, her voice vibrant and sweet sent up to the heavens that heard it, | sent this song that conquers all, and its eternal echo | resounds in my heart. Tales of Hoffmann Act 1 No. 5 [Dibbern 2000, 30]
In the logic of the metaphor, the refracted sound of the singing that captures the essence of Stella is an echo that eternally repeats the sweetly vibrating voice of Hoffmann’s idealized lady love. That is why Olympia, Antonia, and Giulietta will all break. All three of them will break because all three are refractions of one single thing that is loved. In the romantic imagination of Hoffmann, that one single thing is Stella. Once the illusion of that one single thing is broken, then the romantic ideal of the diva Stella can be broken. And who is there to replace this false diva? It is the true diva who is the Muse. It is the Muse, not Stella, who is the one true love for the poet Hoffmann. She is the one true composite of the three breakable divas. As the fragmentary Muse, she presides over the fragmentations of the three divas, over the refraction of Stella into these three refracted divas. And, as a goddess, she is unbreakable, unlike her three breakable substitutes, her three refractions. She will not break when the frustrated Hoffmann threatens to break her like a wine glass. She will be there for him after his heart is broken three times – and then broken again a fourth time by the false diva Stella. So the true diva who takes the place of the false diva is this fragmentary Muse who presides over the multiple ways of imagining the terrifying but beautiful moment when something most precious disintegrates. That precious something is not only what is loved but also the heart that loves. That precious something is the ideal of the romantic poet, who must love this ideal. Such an ideal is the Muse who loves the poet Hoffmann. And she declares this love by literally commanding the creation of a metonymy between poet and Muse. That is, she declares that the poet must belong to her: Et moi? moi la fidèle amie dont la main essuya tes yeux? Par qui la douleur endormie s’exhale en rêves dans les cieux? Ne suis-je rien? Que la tempête des passions s’appaise en toi! L’homme n’est plus, renais, poète!
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The Fragmentary Muse and the Poetics of Refraction Je t’aime, Hoffmann. Appartiens-moi! What about me? Me, the faithful friend whose hand would wipe the tears from your eyes? The one who made your sorrow sleep, exhaled in dreams that soar to the skies? Am I nothing for you? May the storm of passions subside for you. The man is no longer man. Be reborn, poet! I love you, Hoffmann. Belong to me. Tales of Hoffmann Act 5 No. 27 [Dibbern 2000, 138-139]
So the romantic poet is destined to be reborn – once his ideal woman, the diva of opera, has been shattered in three different ways, refracted in three different ways. The three-way shattering is a three-way refraction. Such is the poetics of refraction practiced by the fragmentary Muse.
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2. A FFEKT- K ÖRPER
Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH 1 Zeichen- Setzung: Synästhetische Transgressionen Kunst als zugleich „semiologisches und kommunikatives“ Faktum zu verstehen heißt Kunstwerke als ‚Texte‘ anzuschauen.1 Unterscheiden wir dabei zwischen dem Zeichenträger als ‚Artefakt‘ und dem interpretativen Konstrukt ‚Text‘ als dessen soziale Funktion, können wir auch die interaktiven Prozesse berücksichtigen, in denen Kunstwerke entstehen. Kunstwerke als ‚Texte‘ sind Impulse von Künstlern, anderen ‚etwas‘ mitzuteilen, sie spielen nach den Regeln der Kunst „with their power the moment arises to supply meaning“.2 Individuen rezipieren ihre ‚Texte‘, interpretieren sie neu in ihrer Zeit, verleihen ihnen neuen Sinn nach den komplexen Prämissen ihres Verstehens. Schon bei MukaĢovský lassen sich Ansätze zur Überwindung der Vorstellung einer ‚Werkbedeutung‘ finden, z. B. in seiner Unterscheidung zwischen ‚Artefakt‘, das „nur den Rang eines äußeren Symbols“3 habe, und ‚ästhetischem Objekt‘4 (also der diesem Artefakt entsprechenden historisch veränderbaren und nicht auf das vom Produzenten Intendierte reduzierbaren Bedeutung) oder auch in seiner These, dass ein Kunstwerk seine ästhetische Funktion nur dann erhalte, wenn sie ihm von der Gesellschaft zugeschrieben werde, unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften des Kunstwerkes selbst. Es gebe keinen Gegenstand und keine Handlung, die „in ihrem Wesen oder nach ihrer Anordnung ohne Rücksicht auf die Zeit, den Ort und den Beurteiler Träger der ästhetischen Funktion“ sein könne.5 Allerdings gibt auch MukaĢovský die Vorstellung eines wesenhaft Ästhetischen nicht völlig auf, wenn er (nota bene nur eine 1 2 3 4 5
MukaŐovský 1936a; vgl. MukaŐovský 1976, 117. van Alphen 1989, 130. MukaŐovský 1936a, 139; vgl. MukaŐovský 1936b, 74. MukaŐovský 1936a, 139. MukaŐovský 1936b, 12.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich Seite nach der zitierten Stelle) in Anlehnung an Šklovskijs Theorie der „Kunst als Verfahren“ das Wesensmerkmal der Kunst in der spezifischen Anordnung des Materials versteht, die auf ästhetische Wirkung ziele6 und sich „logisch“ aus dessen dominant ästhetischer Funktion ergebe.7 Die ausführliche Darlegung der Wandelbarkeit des ästhetischen Wertes und die Möglichkeit des Verlusts der ästhetischen Funktion stehen jedoch quer zur Behauptung, dass es ein von der Wahrnehmung unabhängiges objektives ästhetisches Urteil geben könne, das ja auf der Bestimmung des objektiv Vorgegebenen gründen müsste.8 Kunstwerke entstehen als solche aus einer Gattung, stehen in ihrer Tradition. Dem Künstler stehen mithin im Sinne von Peirce types zur Verfügung, deren System aber nicht nur abhängig ist von der Tradition der Gattung, sondern auch den technischen Errungenschaften seiner Zeit. Diese types ließen sich als eine erste Form von Intertextualität begreifen, die in der Literatur etabliert werden, aber auch in der Musik,9 im Film10 oder in der bildenden Kunst: Intertextuality is the ready-made quality of signs that the maker of an image finds available in the earlier images and texts that a culture provides.11
Ein Künstler schöpft also zwar in der Regel aus einer Tradition. Doch könnte ihm scheinen, als sei in dieser Tradition bereits alles gesagt und getan, was er selbst sich vorgenommen hatte: Der Topos, auf der Schulter eines Riesen zu stehen, wird ihm in dem Moment zum Problem, in dem er sich als innovativer Künstler zu etablieren und vom Epigonen abzuheben strebt. Er erlebt die Bindung an die Tradition nicht als „Quelle der Kraft“,12 wie Ernst Gombrich dies für die Malerei beschrieb, sondern eher als „manual paralysis, an ebbing of the hand’s natural vitality, forcing it back into tracks or furrows which its own energies will cut still deeper“.13 Er will vom Rezipienten tradierter zum Produzenten eigener Kunstwerke werden, er will in den Dialog treten mit seinen Vorgängern und lernen aus ihren Werken, um es anders zu machen. Der Dialog kann sich in seinem Werk niederschlagen, das damit zum Zeichen würde, das ein anderes Zeichen interpretiert. Der Bezug auf tradierte Werke muss indes nicht immer markiert sein wie im Falle von Travestien 6 7 8 9 10 11 12 13
MukaŐovský 1936b, 13; vgl. Šklovskij 1916. MukaŐovský 1936b, 18. Vgl. Jauß 1977, 169. Vgl. Swain 1996, 138. Müller 1996, 301-302. Bal 1994, 50. Gombrich 1996, 413. Bryson 1984, 18.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik oder Parodien.14 Er muss nicht intendiert oder direkt sein, denn Einfluss wird in der allgegenwärtigen Tradition nicht nur nach bestimmten Ordnungsprinzipien und Regeln, sondern auch irregulär und ungeordnet ausgeübt.15 In der literaturwissenschaftlichen Rezeption des Intertextualitätskonzepts ist zwar meist nur von den intendierten Bezügen des Autors die Rede,16 aber der kann sie gerade auch verwischen wollen oder sich seines Rückgriffs auf andere oder frühere Werke nicht (mehr) bewusst sein. Der Dialog zwischen Künstler und Tradition, also das Gewebe von Semiosen, in dem das Kunstwerk entsteht, überschreitet nicht selten die Grenzen der Genres. Bilder werden nach schriftlichen Texten gemalt oder vertont, Literatur thematisiert Bilder oder wird verfilmt. Die These, alle Künste seien „composite arts […], all media are mixed media“,17 hat ihrerseits eine lange Tradition. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wies Simonides von Keos darauf hin, dass zwischen den Kunstwerken verschiedener Materialität und Medialität Interdependenzen und Interaktionen bestehen.18 Seine Auffassung von der „Malerei als stummer Poesie“ und umgekehrt von der „Poesie als stummer Malerei“ findet Eingang in Plutarchs Moralia (346f-347a). Im 4. Jahrhundert v. Chr. ist dieser topos bereits Gemeinplatz und wird auch von Horaz in seine Ars poetica (361-365) aufgenommen. Seit der Renaissance spielte das von ihm überlieferte Diktum eine nicht unwichtige Rolle in den Kunstdebatten zumindest bis ins 18. Jahrhundert. Es findet sich in Leonardo da Vincis Paragone, wo es zur Begründung der Superiorität der bildenden Kunst über Poesie und Musik angeführt wird,19 ebenso wie in Lessings Laokoon, wo es um die Frage der wechselseitigen Übersetzbarkeit der Künste geht.20 Bereits in der Spätantike werden Mischformen der Künste erprobt – eine hielt sich bis in unsere Zeit: das Bildgedicht. Im 2. Jahrhundert v. Chr. gelangt es zu großer Popularität, es wird im Mittelalter gepflegt und erscheint der Renaissance als optimale Realisierung des Horazschen ut pictura poesis. In der Romantik greift Victor Hugo in seinem Gedicht Les Djinns (1829) die visuelle Textform wieder auf, die nach Lessing in Verruf geraten war, und Ende des 19. Jahrhunderts setzt Mallarmé mit seinem Coup des Dés (1897) „ein schlagkräftiges Leuchtsignal“ für die moderne Lyrik21 – nota bene einige Jahre nach Arno Holz, der mit den Mittelachsenge14 15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Broich 1985, 35. Bryson 1984, 214. Pfister 1985, 25-30; Broich 1985, 31-47; Bloom 1995. Mitchell 1994, 94-95. Vgl. Brink 1971, 369. Weisstein 1992b, 13-14; vgl. Brink 1971, 369-371. Vgl. Hess-Lüttich 1984, 221; Hess-Lüttich 2000. Ernst 1992, 146.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich dichten in seinem Phantasus (1889) ebenfalls die Möglichkeit einer visuellen Poesie erprobt.22 Anfang des 20. Jahrhunderts breitet sich diese Textform explosionsartig aus, und selbst die Konkrete Poesie knüpft mit ihren Palindromen und Anagrammen, seriellen Permutationen und illustrativen Umriss-Gedichten ebenso an eine letztlich in der Spätantike wurzelnde Tradition an23 wie Anfang des 21. Jahrhunderts die sogenante Netzliteratur oder Digitale Poesie.24 Nicht nur im ‚Grenzbereich‘ zwischen Literatur und bildender Kunst wurden Mischformen geschaffen. Gerade die Romantik entwickelt eine besondere Vorliebe für grenzüberschreitende Kunstformen: durch bewusste Vermengung medialer Strukturen werden neue Wirkungsdimensionen erprobt.25 In den Tableaux vivants werden Bilder, Literatur und Musik zusammengebracht,26 im Poetic Drama imaginäre und dramatische Welten konstruiert, „die ihren Aufführungs- und Handlungs-Spiel-Raum, ihre ‚Bühne‘, im Bewusstsein des Lesers finden, ohne jemals zur Aufführung gelangen zu können.“27 Wagner sucht in seinen Musikdramen eine organische Einheit von Musik, Sprache und Gebärde zu erreichen, um das Potential einer jeden Kunst zu entfalten – „jede der einzelnen Kunstarten [vermag] im vollkommenen, gänzlich befreiten Kunstwerk sich selbst wiederzufinden“ –28 und damit nicht nur Verstand, sondern auch Gefühl der Menschen anzusprechen, sie „in Ekstase zu versetzen.“29 Den dafür geläufigen Begriff des ‚Gesamtkunstwerks‘ sucht Wagner selbst ja eher zu vermeiden und fürchtet zuweilen, wie er im Brief an Liszt vom 16.8.1853 schreibt, dass „als Frucht von all meinen Bemühungen diese unglückliche Sonderkunst und Gesamtkunstwerk herausgekommen wäre.“30 Das Wagnersche Konzept des Gesamtkunstwerks31 oder die Poetik des Tanzes und dessen Spiegelung in der Literatur,32 die reiche Tradition des engen Verhältnisses von Literatur und Musik33 oder anderen Künsten,34 die Auf-Zeichnung choreographischer Bewe-
22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Vgl. Schiewer 2004, 189-197. Ernst 1992, 147. Simanowski 2002; Hess-Lüttich 2003. Müller 1996, 76. Grey 1997, 39. Müller 1996, 77. Wagner 1887, III, 117. Müller 1996, 78; vgl. Fischer-Lichte 1989, 70-71. Fischer-Lichte 1989, 73. Vgl. Söring 1997. Gumpert 1994. Scher 1992. Weisstein 1992a.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik gung in den verschiedensten Medien,35 die Rückwirkung filmästhetischer Erfahrungen auf die literarische Produktion moderner Autoren,36 der enorme Einfluss von Fotografie und Video Art in der zeitgenössischen Malerei, die Klang-Skulpturen (Stephan von Huene) und Video-Plastiken (Nam June Paik), die zwischen Grafik und Dichtwerk, Bildkunst und Sprechgesang changierende Konkrete Poesie oder die intermedialen Tendenzen im modernen Film und Fernsehspiel,37 die Verschmelzung der Genres im Videotanz38 und die zahllosen Transformationen literarischer Texte zu Oper, Ballett, Film, Cartoon usw. sind heute Gegenstand einer prosperierenden Intermedialitätsforschung.39 Film, Fernsehen, Radio, Video und Computer entfalten im 21. Jahrhundert ihre Wirkungen in einem ständig sich erweiternden Netz von wechselseitigen Einflüssen. Mit jedem neuen Medium erhöhen sich seit dem 19. Jahrhundert die Möglichkeiten der Kombinationen und damit auch die Möglichkeiten der Transformation von Texten einer bestimmten Medialität in solche einer anderen.40 In der gegenwärtigen multimedialen ‚Postmoderne‘ erproben Künstler in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit reizüberfluteter Rezipienten die unterschiedlichsten Medienkombinationen mit Batterien synästhetisch komplex-polycodierter Sinneseindrücke, wie z. B. in den Theaterarbeiten und Installationen Robert Wilsons,41 den umstrittenen Videoprojektionen der Bayreuther Parzifal-Inszenierung Schlingensiefs (2004) oder den technisch hochgerüsteten mixed media Skulpturen Tony Ourslers, den Filmen Peter Greenaways, die wie in Pillow Book (1997) Schrift und Buch, bewegte und statische Bilder zu irritierenden Collagen verschmelzen.42
2 Zeichen- Systeme: Intermediale Relationen ästhetischer Codes Dabei ist der zeichentheoretische Gehalt dieser Versuche noch kaum erschlossen, wie schon Müller in seinen immer noch aktuellen Überlegungen zur Theorie der Intermedialität vermerkt hat:
35 36 37 38 39
Hess-Lüttich 2004a. Vgl. Prümm 1987. Vgl. Müller/Vorauer 1992. Rosiny 1999. Schneider 1981; Hess-Lüttich 1987; Hess-Lüttich/Posner 1990; Müller 1996; Helbig 1998; Rajewski 2002; Paech/Schröter 2008. 40 Müller 1996, 130. 41 Vgl. Faust 1979; Rozik 1998. 42 Vgl. Paech 1994; Hess-Lüttich 2000.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich Moderne Kommunikationsverhältnisse zeichnen sich durch mediale Verbundsysteme, intermediale Fusionen und Transformationen aus. Wenn wir Medientexte als Zeichensysteme betrachten, die durch (medien)spezifische Codes organisiert sind, dann stellt sich die Rekonstruktion des intermedialen Regelsystems, welches die Zeichenelemente zueinander in Beziehung setzt, als zentrale Frage semiotischer Forschung.43
Wie dieses Regelsystem aussehen könnte, ist freilich bislang noch nicht einmal in Umrissen erkennbar. Allein schon die Frage der wechselseitigen Ersetzbarkeit sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichensysteme hat sich als ungewöhnlich schwierig erwiesen. Richter/Wegner 1977 hatten sie erstmals in systematischer Absicht gestellt unter Stichworten wie Parallelität, Simultaneität, Konkomitanz, Kookkurrenz, Äquivalenz, Kompatibilität, Synonymie oder Paraphrase von Codes. Aber jedes der Stichworte wirft neue Fragen auf: Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen einander begleitenden (konkomitanten), zusammen auftretenden (kookkurrenten), gleichzeitig ablaufenden (simultanen) Zeichenketten, die je nach in Rede stehender Dimension des Mediums in ihrem semiotischen Modus höchst unterschiedlich sein können? Wechseln sie sich ab (alternierende Codes) oder laufen sie kontinuierlich parallel wie in untertitelten Filmen oder per Einblendung in Gebärdensprache übersetzten Fernsehnachrichten? Oder sowohl dies als auch jenes wie in der Oper mit Bühnenbild, Musik, Gesang und Lichtregie? Sind ihre jeweiligen Funktionen im Verhältnis zueinander äquivalent oder widersprechen sie einander? Ergänzen sie einander und verstärken so die Botschaft (übersummativ, synthetisch) oder passen sie eigentlich nicht zusammen (inkompatibel) und wirken dadurch insgesamt verfremdend (analytisch), verwirrend oder auf sich selbst verweisend wie zuweilen im experimentellen AvantgardeTheater? Ist der eine Code notwendig zum Verständnis des anderen oder nicht, und welche Wirkung zeitigt dann das Weglassen des einen? Wirkt die Botschaft dann überinformativ und dadurch langweilig (redundant) oder unterinformativ und dadurch kryptisch (elliptisch), wirkt sie eindeutig oder vieldeutig, dynamisch oder statisch, in sich zusammenhängend oder nur locker verknüpft, spontan hervorgebracht oder strategisch geplant? Und wie ist das Verhältnis linearer und holistischer Zeichenstrukturen in solchen mehrfach codierten (polycodierten) Texten?44 Bei der Komplementarität von Sprache, Bild und Musik etwa hat man segmentale, informative, expressive, direktive, reflexive, illustrative, ornamentale, dramaturgische Funktionen unterschie-
43 Müller 1992, 18. 44 Hess-Lüttich 1994.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik den.45 Die Syntax von Bildketten (im Film) gewinnt z. B. durch Musik ein zusätzliches Mittel der Sequenzbildung; optische und akustische Schnitte können konvergieren (akzentuieren) oder divergieren (assoziieren); musikalische Sequenzen können expositionelle Funktionen haben bei der Repräsentation von Ort und Zeit einer Handlung, Herkunft und Status der agierenden Protagonisten; Datenkonsonanz kann dabei schemaverstärkende Funktion haben in der automatisierenden Parallelität von Codes (schottisches Schloss und Dudelsackmusik, elisabethanische Mode und gleichnamige Musik, Schamane und Sitarklang, Kirche und Orgel, Beerdigung und Trauermarsch, Jagd und Hornbläser usw.) bis hin zu trivialer Redundanz oder komischem Effekt; Datendissonanz kann genutzt werden als Reflexionsimpuls zum Aufbrechen automatischer Assoziationen aufgrund routinisierter Wissensbestände; einfache Mittel der Veränderung von Lautstärke, Tempo, Rhythmus können expressive, dynamisierende Funktionen haben. Solchen und ähnlichen CodeKomplementaritäten wird heute bei der Analyse poly-codierter Texte die gebotene Aufmerksamkeit zuteil.46 In seinen Notizen zu einer „Theorie der Multimedialität“ hatte Karl Prümm schon vor 20 Jahren eine „intermediale Genregeschichte“47 gefordert, weil schon damals nicht mehr zu übersehen war, dass manche Autoren, manche Gattungen sich durch eine besondere „mediale Flexibilität“ auszeichneten, weil bestimmte Texte im Buch, im Film, im Fernsehen, im Theater, im Hörspiel und in Heftserien reüssierten, ohne dass sie in dieser ‚Medienkonkurrenz‘ notwendigerweise Schaden nähmen. Vielmehr schüfen „die vielfältigen Prozesse der Adaption und Transformation eine Art ‚Reizklima‘, das allen medialen Lösungen zugute“ komme.48
3 Sprache und Musik. Über Kunst- Grenzen 3.1 Schrift, Bild, Musik und ihre Zeichenfunktionen Die Diskussion über die unterschiedlichen Zeichenfunktionen von Sprache, Bild und Musik im Verhältnis der Künste, heute mit aktuellem Blick auf Ekphrasis und Intermedialität, hält unvermindert an.49 Eine Position beschwört die Macht des Bildes, das
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Vgl. de. La Motte-Haber 1977. Vgl. Hess-Lüttich 2004a. Prümm 1986, 367-375. Prümm 1986, 367. Wagner 1996.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich „simply cannot be expressed in verbal terms“,50 die andere sucht sie aus fundamentalistisch-theologischen Gründen zu bannen wie Teile des Islam oder des Christentums nach dem apodiktischen Gebot: „Du sollst Dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist“ (Exodus 20, 4). Wer auf dem Primat der Sprache beharrt und behauptet, dass „was für uns nicht beschreibbar [sei], streng genommen auch nicht darstellbar“ sei,51 muss den Vorwurf der Kunsthistoriker gewärtigen, die darin einen Sprach-Imperialismus der Linguisten erkennen, der zugleich ihre eigene Disziplin bedrohe: Wer die Irreduzibilität der Bilder auf Sprache leugne, sei wie ein Kolonialist, der ein ihm fremdes Territorium betrete.52 Die Grenzziehung zwischen den verschiedenen Künsten war immer schon auch ideologisch motiviert, die Kulturgeschichte eine „story of a protracted struggle between pictorial and linguistic signs, each claiming for itself certain proprietary rights on a ‚nature‘ to which only it has access.“53 Die Frage nach der Fähigkeit der Musik, bestimmte Dinge und Sachverhalte zu ‚bezeichnen‘, wird nicht minder kontrovers beantwortet. Nach Platon und der antiken Musiktheorie eignet jeder Tonart, jedem Rhythmus von Natur aus ein bestimmter ethos: Musik als ikonisches Zeichen einer psychischen Disposition. Die Möglichkeit des Benennens [ϴΑΓΐΣΊΉΑ], der Darstellung des Wesens einer Sache, sei ihr verwehrt.54 Auch in der Musiktheorie des Barock gilt Musik als Zeichen der Affekte. Sie wird im 18. Jahrhundert zum Zeichen ‚authentischer‘ Leidenschaft des Künstlers. Im 19. und 20. Jahrhundert wird sie dagegen eher als „tönend bewegte Form“ betrachtet, als Zeichen einer musikalischen Idee, die sich anders nicht ausdrücken lasse:55 Musik vermittelt musikalische, d. h. nicht begriffliche Bedeutungen. Es sind Bedeutungen musikalischer Ideen und Vorstellungen, die nicht verstanden, sondern im Prozess der Wahrnehmung ästhetischer Zeichen generiert werden. Sie leiten sich weder von Gefühlen noch von außermusikalischen Entitäten ab, denn ästhetische Zeichen sind keine Stellvertreter, sondern materialisierte Erscheinungen dieser Ideen.56
50 51 52 53 54
Bann 1989, 29; vgl. Alpers/Alpers 1972. Muckenhaupt 1986, 109-110. Gilman 1989, 7. Mitchell 1986, 43. Vgl. Plat. Nom. 654e9–655b8; Plat. Polit. 398c10ff.; Lohmann 1970, 7 und 69. 55 Strauss 1990, 75; vgl. Swain 1996, 136. 56 Faltin 1985, 182.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik Als ‚reine Kunst‘, die ‚nichts‘ sagt und bar jeglicher Bezeichnungsfunktion ist, wird sie im 19. Jahrhundert zum Prototyp der Künste schlechthin, vieldeutig und dunkel.57 Wenn die poetische Funktion des sprachlichen Zeichens dessen referentielle Funktion trübe, nähere es sich der Musik an: „Je bedeutsamer die poetische Funktion in einem Text ist, um so näher steht er folglich der Musik.“58 Das Verhältnis von Sprache und Musik ist auch in der Musiktheorie ein nicht eben populärer Gegenstand, der sich konkreter Analyse offenbar leicht entzieht. Was genau wissen wir über dieses Verhältnis, wenn es z. B. beschrieben wird wie bei Behr: „Der Komponist […] spricht durch die Melodie das Gefühl, das noch Unwirkliche, Vorgewusste, Erahnte unmittelbar an“?59 Theodor W. Adorno schrieb schon 1963 in seinem Fragment über Musik und Sprache: „Musik ist sprachähnlich […] Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage.“60 Woran liegt das? Etwa nur daran, dass der Musik eine durchgehende denotative Bedeutungsschicht fehlt?61 Oder andersherum: Was haben Musik und Sprache gemeinsam? Peter Faltin sucht eine musiksemiotische Antwort: „Die ‚Sprachähnlichkeit‘ von Musik“, sagt er, „beruht nicht auf der eigentlichen Funktion der Sprache, Verständigung herbeizuführen, sondern nur auf einem Aspekt der Sprache, auf ihrer Fähigkeit, Gedanken zu artikulieren und zu vermitteln.“62 Es ist offenbar nicht leicht, das Verhältnis von Sprache und Musik begrifflich scharf zu fassen; und schwerer noch, konkret, nicht vage, über Musik zu sprechen; und am schwersten, über Oper zu sprechen, also über die Verbindung der Codes von Musik, Sprache und Theater zum ästhetischen Insgesamt, eine Verbindung, in der stets „Text und Musik […] zwei aufeinander bezogene, aber dennoch getrennte und von einander abhebbare Zeichenschichten“ bilden.63 Wenn es der Musik-Kritik schwer fällt, in nicht-metaphorischer Rede über ihren Gegenstand zu sprechen, so bietet dem Philologen die Semiotik der Medien und das Vokabular der Intermedialitätsforschung vielleicht das analytische Instrumentarium für eine Beschreibung der Oper als Textgestalt,64 die einen integrativen Ansatz zur Analyse der in einer Aufführung zusammenwirkenden Medien bzw. Codes als eines holistischen Zeichenkomplexes oder Superzei57 58 59 60 61 62 63 64
Greenberg 1986, 31. Gier 1997, 68. Behr 1983, 34. Adorno 1956, 251, Hervorhebung durch den Verfasser. Gruhn 1979, 265. Faltin 1985, 178. Gruhn 1979, 265. Kaindl 1995.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich chens vorschlägt, indem „Oper als gestalthaft-semiotisches Relationsgefüge verbaler und non-verbaler Subtexte in ihren funktionalen Zusammenhängen“ definiert wird.65 Er erleichtert das Verständnis der Komplexität einer aus sprachlichen, musikalischen, malerischen, architektonischen, vokalen und klanglichen Zeichenstrukturen komponierten Botschaft, deren Gestalt durch spezifische theatrale Konventionen nicht nur des Librettos mit seinen sprachlichen Modalitäten der Stimmführung, der Tonhöhenverläufe, rhythmischen Phrasierungen, phonotaktischen Segmentierungen, Pausenund Schweigephasen bestimmt wird, sondern auch durch all die anderen Codes der Szene und Kulisse, der Körpersprache und Bewegungsfolgen, Maske und Kostüm, gegebenenfalls Bild und Video und Lichtregie usw. in ihrer Kombination mit den musikalischen Komponenten der Töne, Stimmqualität, des Rhythmus, des Tempos, der Harmonie, der Melodie, der Geräuschmischungen.66 Die Frage nach den Zeichenfunktionen der Kunstarten lässt sich in terminis einer an Peirce orientierten Zeichentheorie genauer beantworten.67 Bedeutungskonstitution (Referenz) ist ein dynamischer Prozess, in dem ein Zeichenträger mit einem per conventionem oder per naturam verbundenen Gegenstand nicht einfach verbunden wird, sondern Zeichen immer mit Hilfe weiterer Zeichen interpretiert werden. Auch vermeintlich nebensächliche Aspekte eines Zeichenträgers, die tones, lösen signifikative Effekte aus. Bezeichnungsmodi haften nicht an einem essentiellen Sein des Zeichenträgers, sondern werden in einem Interpretationsprozess erst hergestellt. Sprache, Bilder, Musik können demnach ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen aufweisen. Die Bedeutung eines Zeichens ist dabei „the actual effect produced on a given interpreter on a given occasion in a given stage of his considerations“,68 abhängig von den Erfahrungen des zeichenverwendenden Individuums.69 Es geht um die Frage, was ein Rezipient im Akt der Interpretation eines Textträgers in bestimmter Materialität und Medialität tut, um „the many different things [we do] under the unifying heading of interpretation that we call response to signs“.70 Die Semiotik der Künste fragt zunächst nach den je spezifischen Zeichenfunktionen von Texten unterschiedlicher Medialität und den Veränderungen bei ihrer intermedialen Transposition. Ein zentrale Rolle in der Geschichte der Semiotik spielen dabei die Fragen nach 65 Kaindl 1995, 41. 66 Vgl. Kaindl 1995, 257-260; zu exemplarischen Analysen am Beispiel von Verdi vgl. Frank 2002; zu Britten vgl. Hess-Lüttich 2004b. 67 Hess-Lüttich/Rellstab 2005. 68 Peirce 1960, VIII, 135. 69 Vgl. Peirce 1960, VII, 439. 70 Bal 1991, 4.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik dem ‚Defizit‘ der Sprache „angesichts des Sichtbaren“,71 nach der Möglichkeit narrativer ‚Lektüre‘ von Bildern, nach der ‚Bedeutung‘ von Musik.
3.2 Nur Syntax? Musik und Interpretation Musiksemiotik hat seit dem letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts einen bemerkenswerten Aufschwung genommen, obwohl über ihre Prämissen und Methoden alles andere als Einigkeit herrscht.72 Kann ein Musikstück überhaupt Zeichenfunktionen übernehmen oder ist es nur komplexer Zeichenträger?73 Ist Musik überhaupt ein System von Zeichen, das auf etwas außerhalb seiner selbst verweist? Hat Musik Bedeutung? Oder ist sie reine Syntax? In Un Amour de Swann beschreibt Proust, wie Swann zum ersten Mal eine Sonate für Violine und Klavier des (fiktiven) Komponisten Vinteuil hört und darin ein Thema entdeckt, das ihm später zum Zeichen seiner Liebe zu Odette wird: Ainsi, à peine la sensation délicieuse que Swann avait ressentie était-elle expirée, que sa memoire lui en avait fourni séance tenante une transcription sommaire et provisoire, mais sur laquelle il avait jeté les yeux tandis que le morceau continuait, si bien que, quand la même impression était tout d’un coup revenue, elle n’était déjà plus insaisissable. Il s’en représentait l’étendue, les groupements symétriques, la graphie, la valeur expressive; il avait devant lui cette chose qui n’est plus de la musique pure, qui est du dessin, de l’architecture, de la pensée, et qui permet de se rappeler la musique. Cette fois il avait distingué nettement une phrase s’élevant pendant quelques instants audessus des ondes sonores.74
Das Musikstück wird ihm zum Zeichen, selbst wenn er es zunächst nur als musikalische Form erlebt, aber dann bilden sich Muster, die über das emotionale Erlebnis hinaus zu interpretativen Prozess führen. Musikalische Form ist demnach nichts Stabiles, sondern etwas Konstituiertes, das also über die Erstheit des unmittelbaren Erlebens hinaus75 zu kognitiven Interpretantenbildungen führen kann.76 Im Anschluss an Eduard Hanslicks Musikästhetik77 entwickelt Peter Faltin eine Musiksemiotik, die den „musikalischen Einfall“ des
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Foucault 1974, 38. Tarasti 1996. Monelle 1994, 2651. Proust 1968, I, 209. Peirce 1966, 189: C. S. Peirce „Pragmatism. MS 318“, Roll 7, 1907. Tarasti 1994, 336. Vgl. Strauss 1990.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich Komponisten, das „intentionale Produkt“ seiner Phantasie, als die ‚Bedeutung‘ eines Musikstücks definiert: Musikalische Zeichen erlangen ihre Bedeutung nicht durch den Bezug auf fremde Entitäten. Und dennoch sind die nicht semantisch fundierten Beziehungen, die Töne, Pausen, Intervalle, Rhythmen, Motive, Akkorde oder ganze Teile einer Komposition miteinander bilden, nicht ohne Bedeutung, ja, sie sind die einzigen Akteure der musikalischen Bedeutungsebene. Gäbe es keine Beziehungen, so gäbe es keine Musik und damit keine musikalischen Bedeutungen. Die musikalische Idee ist daher primär eine Idee der Beziehungen, die bestimmt, wie Elemente miteinander verbunden werden sollen, damit sie Bedeutung erlangen, die Bedeutung der syntaktischen Intention, die sie tönend realisieren und vermitteln. Musikalische Beziehungen sind also keine Zeichen für außermusikalische Ideen, die sie vertreten würden, sondern syntaktische Ideen, die durch den Vollzug der realisierten Beziehungen ihre Bedeutung erlangen.78
Der Nachvollzug einer musikalischen Idee involviere eine geistige Transformation akustischer Reize in Musik und sei damit auch geschichtlich und kulturell bedingt.79 Die interpretative Konstruktion musikalischer Strukturen und ihre assoziative Verknüpfung mit Facetten persönlicher Erfahrung (wie bei Proust) weist Analogien zu Strukturen verbaler Texte auf: „Music has sections that are preparatory, developmental, valedictory; they are en route, journeys from one fixed point to another.“80 Wird ein Motiv, ein Thema, ein rhythmisches Muster eingeführt, dann repetiert, entwickelt und variiert, so wird die Rekurrenz des Themas und seiner Variationen als ikonisch-indexikalisches Zeichen interpretiert, das zurückverweist auf das erste Auftreten des Motivs. Wie in einem verbalen Text wird so ein System kataphorischer Verweise etabliert, das konstitutiv ist für die Entwicklung musikalischer Kohärenz.81 Der Dialog oder Konflikt zweier musikalischer Themen wird verstärkt durch die Zuordnung bestimmter Instrumente. Der Kontrast zwischen zwei z. B. von Streichern und Bläsern gespielten Themen wird intensiver erlebt als wenn sie beide von Querflöten gespielt werden.82 Musikalische Strukturen können durch ko- und kontextuelle Korrelationen mit anderen Zeichen semiotische Funktionen übernehmen und auf außermusikalische Sachverhalte verweisen.83 Wird ein Titel, ein literarisches Sujet, ein extra-musikalischer Stoff zum Interpretanten einer Komposition, kann er im Rezipienten die Fä-
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Faltin 1985, 187. Faltin 1985, 197, n. 18. Monelle 1994, 2652. Tarasti 1994, 342. Vgl. Grey 1997, 64; Tarasti 1984, 61. Walton 1994, 47.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik higkeit wecken, die musikalischen Strukturen zugleich als solche eines narrativen Ereignisses zu hören, als „emplotment“.84 Wer z. B. Mussorgskys Bilder einer Ausstellung im Bewusstsein der Aquarelle von Victor Hartmann hört, ordnet die Teile des Stücks den Bildern zu und konstituiert sich im interpretativen Prozess eine narrative Struktur, wie sie Eero Tarasti etwa so beschreibt: After the introduction of the center, hic, of the narration in the modo russico of the first promenande, the music transfers to various heterotopic spaces and to „periphery“ (like to the garden of the Tuileries, Italian castle etc.) and then back ‚home‘, to the ‚center‘ of narration with Baba-Yaga and the Gate of Kiev.85
Die ko-textuelle Relationierung von musikalischen Motiven und sprachlichen Zeichen kann dazu führen, einen dicentischen Interpretanten zu generieren, wie etwa in den Opern Richard Wagners, in denen die Möglichkeit der Semantisierung musikalischer Motive systematisch erprobt wird. In seiner Walküre (1869) z. B. wird (in I. 2) Siegmunds Erzählung, wie er auf der Flucht seinen Vater verlor, in der Orchesterbegleitung mit dem (in Rheingold eingeführten) Wotan-Motiv beendet, was als Hinweis auf die Identität von Siegmunds Vater zu interpretieren ist (Abb. 1, Tafel 1, S. 292). Der propositionale Gehalt der orchestralen Begleitung wäre demnach „Wotan ist Siegmunds Vater“86 – ein Verfahren, das im Film zur vollen Blüte gelangt: When music […] teams up with words or images, the music often makes definite representational contributions to the whole, rather than merely accompanying other representational elements. Opera orchestras and music on the soundtrack of films frequently serve to ‚describe‘ the characters and action, reinforcing or supplementing or qualifying the words or images.87
Auch die sogenannte Programm-Musik88 gewinnt durch ko-textuelle Relationierungen mit anderen Zeichen eine semantische Dimension.89 Oper, Programm- und Filmmusik sind Gattungen, deren Semantisierung vom Komponisten oder Regisseur vorgegeben wird, worin sie sich von der ‚absoluten‘ Musik unterscheiden. Dennoch übersteigt die Rezeption von Musik stets die Intentionen des Komponisten. Verbale Texte, Titel, Programme oder Filmbilder sind dabei nur Wegmarken im Semioseprozess, dessen Interpretanten das
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Neubauer 1997, 117-118. Tarasti 1994, 341. Wagner 1908, 26; vgl. Swain 1996, 138. Walton 1994, 47. Altenburg 1997, 1821. Walton 1994, 47.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich Produkt der interpretativen Leistung des rezipierenden Individuums sind, in der sogar die ‚reine Syntax‘ ‚absoluter‘ Musik signifikant werden kann.90
3.3 Unmögliche Zeichen? Mozarts Auflösung und ein Zeichen Chopins Interpretationen absoluter Musik scheinen prima facie in den Solipsimus zu münden. Aber selbst die rudimentären Regeln der Interpretation von Musik lösen sie aus ihrer Absolutheit, da schon unter ihrer Anwendung ein emplotment (siehe oben) einsetzt. Meist werden musikalische Strukturen als ikonische Zeichen emotionaler Zustände interpretiert. Bestimmte Passagen werden als ‚ruhig‘ oder ‚nervös‘ beschrieben, von Spannung und Auflösung ist die Rede, aber selten wird geklärt, ob Musik bestimmte Emotionen im Rezipienten evozieren könne bzw. ob bestimmte musikalische Passagen Zeichen bestimmter Emotionen seien.91 Moll-Tonarten etwa werden in westlichen Kulturen oft als ikonische Zeichen für ‚Traurigkeit‘ (im Sinne von Charles Sanders Peirce als unmittelbare Objekte) interpretiert.92 So harmlos eine solche Interpretation von Musik scheint, führt sie doch über das absolut Musikalische hinaus, indem sie verbalisiert und narrativiert. Dies sei exemplarisch kurz veranschaulicht am Beispiel von Einleitung und 1. Thema des Kopfsatzes von Mozarts Streichquartett Nr. 19 in C-Dur, KV 465 von 1784/85 (Abb. 2, Tafel 2, S. 293).93 Das letzte innerhalb des Zyklus der Haydn gewidmeten Quartette beginnt mit einem langsamen Adagio, das durch Moll-Dreiklänge, die melodische Chromatik (ab Takt 9) und die berühmten Ausdrucksdissonanzen gekennzeichnet ist.94 Mit dem Mangel an Konsonanz und Harmonie führt Mozart ein musikalisches Problem ein, das nach Auflösung drängt. Die Retardation der Auflösung erzeugt eine Spannung, die während des gesamten Adagios aufrechterhalten und erst im ersten Thema des Allegros (nach 23 Takten) durch den Wechsel des Tempos und der Moll-Tonalitäten in einen C-DurAkkord aufgelöst wird. Der erste Akkord des ersten Themas nimmt die letzte Kadenz der Introduktion wieder auf und vervollständigt sie damit.
90 91 92 93 94
Vgl. Kramer 1990, 9-10. Vgl. Walton 1994, 47. Hatten 1994, 349-350. Mozart 1968, 1. Vgl. Wulf 1980, 92-93.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik Die Passage erfährt die unterschiedlichsten Interpretationen. Manche hören sie als „expressive resolution from darkness to light, from melancholy and anguish to the happier, more contended end of the emotive spectrum.“95 Auch wenn Musik aufgrund bestehender Regeln als Zeichen bestimmter Emotionen gehört werden kann, bleiben solche Interpretationen nicht frei von Idiosynkrasie, denn viel stärker als bei verbalen und bildlichen Texten basieren sie auf der Phantasie des Hörers, es fehlen weitgehend die den Interpretantenbildungsprozess steuernden Regeln.96 Dennoch sind solche Interpretationen nicht einfach sinnlos, denn: „It is a potential meaning, accessible and useful for some listeners in the community. It is no analytical proof, but rather an invitation to a mode of listening that might be enriching.“97 Wie bei der Interpretation von Bildern sind die von Musikstücken in einem Rezipienten evozierten Effekte der Anfang der Konstitution einer semantischen Dimension, denn er ist so disponiert, dass er ihm Unbekanntes oder Fremdes mit Hilfe ihm bekannter Schemata zu interpretieren sucht.98 Musikalische Strukturen lassen dabei einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten verschiedenster Interpretanten zu. Das „emplotment“ von Musik kann durchaus so idiosynkratisch werden wie das der Romanfigur Helen in E. M. Forsters Howards End (1910)99 bei der Rezeption von Beethovens 5. Symphonie, wenn sie in den ersten beiden Sätzen Helden und Schiffswracks erkennt und im dritten Satz tanzende Elefanten und Kobolde, die ihr zum Zeichen werden der Vergänglichkeit und Nichtigkeit der Welt und damit ihrer eigenen Existenz. Aber das gibt es nicht nur im Roman, sondern entspricht genau der Alltagspraxis beim Hören von Musik, die „inevitably mobilizes our talent to emplot, making thereby use of stories supplied by our culture and its history.“100 Aber musikalische Zeichen müssen nicht immer nur individuell nachvollziehbar unmittelbare Objekte bezeichnen. Wer Musik als innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes produziertes Zeichen auffasst, kann nicht nur Musikstücke mit anderen in Beziehung setzen – etwa Mozarts Streichquartett KV 465 mit Haydns Streichquartetten –101 sondern auch intermedial mit ‚Texten‘ anderer Materialität und Medialität, die dann einen weiteren Kontext der Interpretantenbildung bilden. Betrachtet man z. B. die Gesamtent95 Kivy 1990, 320. 96 Vgl. Grey 1997, 57; Neubauer 1997, 126. 97 Swain 1994, 148. 98 Vgl. Neubauer 1997, 125. 99 Forster 1997, 45-46. 100 Neubauer 1997, 118. 101 Vgl. Wulf 1980, 87-95.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich wicklung der Prélude No. 2 in a-Moll aus Chopins Op. 28 von 1839 (Abb. 3, Tafel 3, S. 294),102 so fallen darin eine Reihe von musikalischen Inkohärenzen auf, vor allem die sukzessive Entfaltung des Antagonismus zwischen Melodie und Harmonie. Melodisch besteht die Prélude aus zwei parallelen Realisierungen eines langsam abfallenden Themas aus zwei parallelen Tonfolgen. Die melodische Kadenz der ersten Tonfolge koinzidiert in Takt 6 mit der ersten harmonischen Kadenz (nota bene in G-Dur statt aMoll), die sich in Takt 11 in harmonische Ambiguitäten auflöst: „the melody freezes and the harmony stops making sense.“103 Die Melodie wird (in Takt 14) wieder aufgenommen, aber nur als Ausarbeitung lokaler Dissonanzen. Die Melodie ist zuerst eine Artikulation der Harmonie und entwickelt sich zunehmend zu deren Antithese (bis Takt 20). Die Antithese der Harmonie wird in den beiden letzten Takten in einer a-Moll-Kadenz aufgelöst, also der Grundtonart der Prélude (Takte 22,3-23). Die Begleitfiguration, die vorher immer präsent war, ist jetzt verschwunden, nur hier lässt sich eine a-MollKadenz ausmachen, was verglichen mit der musikalischen Entwicklung in den 20 vorangehenden Takten wie deplatziert erscheint.104 Im Kontext der Romantik werden die Inkohärenzen laut Kramer zum Zeichen der „self-haunting incoherence that no Romantic subject can escape“105 und die in den unterschiedlichsten Texten der Romantik von Coleridges Christabel bis hin zu Hoffmanns Abenteuer einer Sylvester-Nacht zutage träten, womit Musik aus ihrer Begriffslosigkeit heraustritt und zum Zeichen für einen hochkomplexen intertextuell-intermedialen Verweisungszusammenhang wird. Die Zeichenfunktion von Musik bleibt – die Beispiele zeigen es – immer problematisch, da bei ihrer Rezeption die Interpretandenbildung keinen oder nur rudimentären Regeln folgt, aber gerade dann bewährt sich der Mensch als homo interpres, der selbst scheinbar Unbedeutendes zu etwas Bedeutendem macht.106
4 Grenzv erw ehungen Die Grenzen zwischen den Künsten sind fließend. Sie werden gezogen in individuellen Semioseprozessen, in denen Zeichen über Zeichen in Zeichen übersetzt werden,107 bestimmten Perspektiven unterworfen und durch spezifische Interessen gelenkt. Die semiotische 102 103 104 105 106 107
Chopin 1973, 12. Kramer 1990, 93. Kramer 1990, 78. Kramer 1990, 91. Assmann 1990, 359. Vgl. Eschbach 1981.
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Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik Kompetenz dazu ist dabei abhängig von je individuellen Erfahrungen und symbolisch vermittelten Interpretationsschemata. Die Zeichenfunktion eines Zeichenträgers ist nicht einfach nur gegeben (Datum), sie wird vom Rezipienten je hergestellt (Prozess). Dabei kann Sprache visuelle Erfahrungen vermitteln, in Bildern finden sich narrative Strukturen, Musikstücke können zum Zeichen mit einem dicentischen Interpretanten werden. Interpretationen sind Prozesse, in denen Interpretanten an einen Zeichenträger herangetragen werden. Sprachliche Texte können mit Hilfe von Interpretanten aus dem Bereich der visuellen Erfahrung interpretiert werden, in Bildern können temporale Strukturen gefunden werden (wenn eine bestimmte Zeichenträgeranordnung eine Übersetzung in eine temporale Struktur erlaubt), Musikstücke werden zum Zeichen (wenn seine Struktur die Konstitution eines ikonischen Bezugs zu bestimmten Ereignissen oder Sachverhalten erlaubt): Stets handelt es sich um Übersetzungsprozesse, in denen Zeichen mittels Zeichen mit Zeichen in Verbindung gebracht werden. Keine der beschriebenen Semiosen vollzieht sich unabhängig vom Textträger. Das Zeichenmodell öffnet den Blick gerade auch für das, was in Interpretationsprozessen geschieht, in denen der Rezipient sich nicht an vorgegebene Regeln hält, sondern neue Interpretationsstrategien erprobt (die manchmal auch in solipsistischen Sackgassen enden können). Interpretationen sind immer auch Zeichen des Interpreten, seiner Erfahrungen, seiner Existenz innerhalb einer bestimmten Kultur, denn „the word or sign which man uses is the man himself.“108 Das ist keine pansemiotische Nacht, in der die Welt insgesamt in einer Flut von Zeichen untergeht und alle Katzen grau, d. h. semiotisch sind, „weil ja nicht nur die Sprache etwas bedeutet, sondern vieles Andere auch ‚Zeichen‘ ist und ‚irgendwie‘ interpretiert, gedeutet und verstanden wird.“109 Vielmehr öffnet das Zeichenmodell den Blick gerade für jene Kontexte, in denen über die Plausibilität – oder Zulässigkeit – von Interpretationen entschieden wird.110 Das Zeichenmodell von Peirce kann also gerade Impuls sein auch zur kritischen Untersuchung von den Semioseprozess behindernden Faktoren (z. B. religiöser, ideologischer, wissenschaftssoziologischer Art). Unter seiner Prämisse, dass jeglichem Zeichenprozess das Potential seiner Fortsetzung innewohnt, weckt es kritische Aufmerksamkeit gerade dann, wenn ein Interpretationsprozess innerhalb eines gegebenen Zeichenverwendungszusammenhangs ge-
108 Peirce 1960, 5, 314. 109 Trabant 1986, 95-96; Trabant 1996, 84-85. 110 Vgl. Peirce 1960, III, 174; Johansen 1996, 181-182; vgl. Vigener 1979, 9798.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich stoppt wird, und fragt nach den Determinanten, die eine weitergehende, das als gesichert Geltende übersteigende Interpretation eines sprachlichen Textes, eines Bildes, eines Musikstücks verhindern. Es verlangt, ‚Kommunikation‘ in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen als – auch ästhetisches – Mittel der Verständigung zwischen Subjekten nicht nur qua Sprache, sondern auch in Form von Literatur, Bildern oder Musik. Die je besondere Wirkung, die ein Bild oder ein Musikstück auslösen mag, das sogenannte ‚Unsagbare‘ ästhetischen Wohlgefallens, geht nicht etwa verloren, sondern Kunst und Musik werden durch Übersetzung in Sprache erst kommunikativ ‚relevant‘ und Gegenstand der Kommunikation. Damit die ‚semiotische Nacht‘ nicht ewig ‚dunkel‘ bleibt, oder anders herum: Damit das ‚Dunkel‘ ästhetischer Wertung und idiosynkratischer Empfindung sich aufhelle im Lichte semiotischer Analyse und kritischer Verständigung im Gespräch über die Künste.
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exzessives fragmentieren claudia bosse1 fragmentieren als künstlerische strategie und verfahren. fragmentieren als prozess der abtragung von kulturellen schichten in der sprache und deren verfertigung. fragmentieren als unterbrechung der zeitlichen ökonomien von rezipienten und darstellern. ich möchte unterschiedliche verfahren der fragmentierung aus der theaterpraxis anhand drei meiner theaterarbeiten vorstellen: der schweizer uraufführung von fatzer-fragment von bertolt brecht (1927-31), die ich 1998 am théâtre du grütli in genf inszeniert habe, sowie die arbeit die perser von aischylos (472 v. chr.), die ich sowohl 2006 in wien mit theatercombinat und in genf gemeinsam mit 180 bürgern der stadt als chorteilnehmerInnen als auch 2008 mit über 300 chorteilnehmerInnen in braunschweig im rahmen des festivals theaterformen erarbeitet habe. alle drei perser-inszenierungen folgten einer textpartitur und der dafür entwickelten methode des ‚phonetischen denkens‘. außerdem möchte ich bezug nehmen auf die arbeit an coriolan von shakespeare, wien 2007. abschließend möchte ich einige grundlegende gedanken zu theater, raum und fragmentieren als theatralem verfahren unternehmen.
exzessiv / fragment. Definitionen exzessiv das maß überschreitend; außerordentlich; ausschweifend fragment ein fragment (lat.: frangere, brechen) ist ein bruchstückhafter, unvollständiger gegenstand. dabei kann es sich sowohl um einen rest eines ehemaligen ganzen handeln, insbesondere in der kunst, aber auch um einen vom künstler bewusst gewählten ausschnitt eines bloß ideell ganzen. 1
Die Beiträge von Claudia Bosse bzw. Susanne Granzer und Arno Böhler sind als künstlerische Beiträge formal anders gesetzt.
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claudia bosse ein buch existiert nur durch das und in dem, was ihm äußerlich ist. schreiben hat nichts mit bedeuten zu tun, sondern damit, land – und auch neuland – zu vermessen und zu kartographieren. das fragment ist kein bestimmter stil und kein bestimmtes scheitern, es ist die form des geschriebenen. gilles deleuze
lücken zum aufenthalt als methode des theatralen arbeitens, sich auseinanderzusetzen mit literarischen fragmenten; oder aber als eine methode einer stilistischen und/oder zeitlich unterbrochenen theatralisierung. das fragmentieren: ein vorgang, der sich auf ein ganzes bezieht. ein lücken aufreißen in einem kontinuum. dafür gibt es zunächst zwei unterscheidungen: einmal brüche oder unterbrechungen in situationen eines ästhetischen verlaufs, oder aber unterbrechungen im fluss einer sprache, einer literarischen vorlage, durch z. b. verspausen und metrik, die die komposition der wörter und ihre verfasstheit auseinanderklaffen lässt und den hörer und sprecher zu anderen gedanklichen vorgängen herausfordert. die grundlage dieser vorgehensweisen ist in den folgenden arbeitsbeispielen die auseinandersetzung mit einer literarischen vorlage mit teils fragmentarisch überlieferten, meist streng metrisch komponierten texten. die texte sind zugleich der historische resonanzraum, die historische differenz und die lücke der aneignung. jeder dieser theatertexte ist sowohl speicher bestimmter räumlicher, historischer, demografischer und sprachlicher konstellationen als auch dokument unterschiedlicher architekturen der kommunikationssituation. die jeweiligen texte sind speicher spezifischer historischer erfahrung. in ihrer sprache sind körperliche praxen, körperbilder und darstellungsmethoden zu erforschen, und zwar anhand der textuellen struktur, phonetik, interpunktion, metrik, dem spezifischen atem, der ‚gestimmheit‘ der texte, ihrer zeitkonstruktionen. aus den theatertexten sind historische und gesellschaftliche modelle samt ihrer repräsentationstechnik zu erkunden, welche sowohl spieltechniken und raum-konstruktionen als auch architekturen von situationen zwischen spielern und zuschauern beinhalten. dennoch möchte ich weniger auf die einzelnen texte eingehen oder arbeitsmethoden aus den texten legitimieren; vielmehr möchte ich bestimmte arbeitsmethoden der fragmentierung anhand der projekte verdeutlichen.
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exzessives fragmentieren
1 fatzer . fragmentieren als performativ e methode methode des schreibens des autors wird eine methode der theatralen arbeit. das fatzer-fragment ist brechts versuch zwischen 1926 und 1931, eine andere art von stücktext zu entwickeln. das ganze ist nie vollendet worden; es gab aber eine ausgabe der versuche, 1931, wo er selbst einen teil dieses textes zusammengestellt hat, im hinblick auf eine szenische brauchbarkeit. darüber hinaus hat brecht nicht mehr daran gearbeitet, ist aber komischerweise kurz vor seinem tod wieder darauf zurückgekommen und hat den ominösen satz gesagt, gemeinsam mit dem brotladen-fragment sei das fatzer-fragment „der höchste standard technisch“. und es scheint immer noch offen zu sein, was damit wirklich gemeint wurde. das fatzer-fragment besteht aus manuskript- und typoskriptblättern, die ungeordnet im bertolt-brecht-archiv vorliegen und die wegen bestimmter figurennamen oder inhaltlicher bindungen eben diesem fragment zugeordnet werden. so kommen ca. 550 blätter zusammen, teils handschriftlich, teils als zettel hinzugeklebt, auch serviettenfetzen, natürlich auch getippte seiten. der text ist präideologisch, […] er hat die authentizität des ersten blicks auf ein unbekanntes, den schrecken der ersten erscheinung des neuen. […] der schreibgestus ist der des forschers, nicht der des gelehrten, der forschungsergebnisse interpretiert, oder des lehrers, der sie weitergibt. heiner müller
arbeitsansatz genf 1998 es geht um improvisiertes gestalterisches erzählen mit variablen, thematisch gebundenen elementen, mit einem wissenspotential (geste, raum), das durch die offene struktur, die unkalkulierbarkeit des zuschauers immer (in echtzeit!) weiterentwickelt werden muss. voraussetzung ist die chorkonstruktion. innerhalb des chores, als arbeitsform für alle darsteller, wird die individuelle geste präzisiert zur entwicklung der ausdrucksmittel, die auf eine veränderte kommunikation zielen (die sich selbst thematisiert und zugleich nach außen wirkt). der text gibt einen bestimmten rhythmus vor, einen bestimmten „zug“; dieser ist das reibungspotential für spieler/zuschauer. der text organisiert ebenso wie der raum die gesten, ausdrucksmittel und möglichen konstellationen. die arbeit untersucht konstitution und veränderung der räumlichen strukturierung von erfahrung (abb. 1a, 1b, tafel 4, S. 295). die zusammenfügung der fragmente mitsamt ihren textsortenbrüchen passierte durch vor den ‚aufführungen‘ angesagte abfolgen
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claudia bosse wie auch dem ‚live dj-ing‘ von mir durch währenddessen laut aufgerufene nummern, die das jederzeit mögliche abbrechen und neuansetzten bestimmter fragmente bedeuteten. die auslassung konfrontiert den zuschauer mit seiner realität. ein harmonisch geschlossenes kunstwerk verhindert die transparenz der bedingungen, aus denen das theater erst entsteht, was es wie verhandelt, sowie verhindert es das eindringen der außertheatralen wirklichkeit in die theatrale situation. die fragmentanordnungen – d. h. die erarbeiteten raum- und improvisationsgefüge zu fatzer-fragment – waren versuche, grundkonstellationen zu schaffen, in denen sich der unabschließbare vorgang der immer-wieder-neukonstruktion und der erweiterten verständigung über den text und das tun unter gewissen physischen, räumlichen oder zeitlichen vorgaben präzisiert. die strukturierung des raums durch die spieler, durch ständiges wechseln und neuformieren, ergibt ein anderes assoziatives wahrnehmen. die konstruktion des ‚stücks‘ entsteht aus der konkreten wechselwirkung zwischen spiel/bewegungsform und der selbstthematisierung des zuschauers. raum eine räumliche trennung von zuschauer und spieler war nicht vorhanden. der bezug zur außenwelt war sichtbar durch vorbeigehende füße von realen passanten. der theaterraum wurde zum zitat seiner funktion, alle funktionsräume (lichtlager, werkstatt etc.) waren zugänglich. jeder der räume wurde in seinem arbeitslicht benutzt, d. h. es gab unterschiedliche lichtqualitäten bei unterschiedlicher raumgröße und -struktur, wobei alle räume miteinander verbunden waren. es gab keinen punkt in der raumanlage, von dem aus man alles überblicken konnte. die spieler sahen sich nicht immer, der zuschauer musste sich entscheiden, wohin er sich bewegte, im bewusstsein stets etwas zu verpassen. die wahl des blickwinkels und der akustischen auswahl lag beim betrachter; ebenso die entscheidung, inwieweit er sich räumlich thematisiert oder in kommunikation mit den spielern tritt. den zuschauern war immer alles zugänglich. beispiele von raumanordnungen x die spieler des fatzerchors durften sich nur außerhalb des zentralen theaterraums bewegen, ihn nur durchqueren, aber keine aktionen entwickeln. bei jedem fragmentwechsel – die von mir, wie gesagt, während der aufführungen laut angesagt wurden – musste jeder spieler auf seinen von ihm körperlich genau bestimmten ausgangspunkt zurückkehren und mit dem nächsten fragment
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exzessives fragmentieren
x
x
neu beginnen, eben ohne dass er die reihung derselben im ablauf vorher gekannt hätte. akustisch waren alle räume verbunden, dialoge fanden zum teil über eine distanz von 30 metern statt. um jedoch die aktionen der spieler zu sehen, mussten sich die zuschauer zu einzelnen spielern hinbewegen, andere sichten erkunden. alle spieler sammeln sich im zentralen raum, um zu einer vorher angesagten reihenfolge mit den textfragmenten zu improvisieren. alle spieler verlassen den theaterraum und positionieren sich außerhalb des theaterraums an den unterschiedlichen fenstern im kontakt zum innenraum. die zuschauer werden im theaterraum zurückgelassen.
methoden des chorischen improvisierens in der regel bestimmten die spieler, wer aufgrund welcher räumlichen konstellation welchen text sprach, wobei die genaue interpunktion und der fragmentinterne rhythmus eingehalten werden mussten. jeder spieler beherrschte den kompletten text in seiner rhythmischen struktur. ich konnte unterbrechen, schneiden, indem ich vor beendigung eines fragments ein anderes ansagte oder währenddessen die reihenfolge veränderte. dies war stets abhängig von den jeweiligen entwürfen der spieler, den reaktionen der zuschauer und dem rhythmus der kommunikation; d. h. die komposition fand hinsichtlich aller erwähnten bedingungen im augenblick statt, wobei das material der improvisationen genauere räumliche, thematische oder textliche fixierungen sein konnte. der abbruch und der neuansatz ist ein schnitt, keine leere, die differenz ist im körper zu halten. das ganze eine frage der strukturierung der zeit, vielmehr eine produktion von zeit. ‚jeder aufbruch ist ein wirklicher aufbruch, von dem man nicht weiß, wohin er führt und ob man wiederkommt‘ (claudia bosse). auf dieser ebene holt die arbeit die struktur und produktivität des fragements ein. die darstellung des fragmentarischen ist also keine bloß formale, von außen gesetzte, sondern in die arbeitsweise selbst eingelassen, berührt fragen von entwicklung, abbruch, fortschritt, arbeit als veränderung des gegenstands. christine standfest, aus einem doku-entwurf von 1998
der ablauf wurde von abend zu abend variiert, die dauer der öffentlichen versuche betrug zwischen 2 und 5 ½ stunden. unser erarbeitetes material umfasste ca. 7 stunden, die aber nie komplett gezeigt wurden. die aufführungen blieben immer fragmente des erarbeiteten materials.
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claudia bosse zuschauer. fragmentierte wahrnehmung (bertrand tappolet/sylviane dupuis, gesprächsaufzeichnung mai 1998) bertrand tappolet: „wie ich die arbeit der schauspieler verstehe, ist es eine frage der kombinatorik. das ist sehr kompliziert, denn es werden unglaublich viele elemente integriert. und es gibt bestimmte wechsel dieser ordnung während der aufführung durch claudia. das bringt die spieler in gefahr, man könnte sagen, in gewisser weise vereinzelt oder vereinsamt es sie auf mehreren ebenen. jedes mal, wenn sich ein system installiert, z. b. im verhältnis zwischen dem individuum und dem chor, oder im prozess eine gemeinsame sprache zu finden, stört claudia das system, damit sich das eben nicht installiert. das spiel entwickelt sich permanent darüber hinaus. mit einsam meine ich z. b. die art und weise, in der die spieler auf sich konzentriert waren in der form, in der sie das spiel der anderen aufnehmen, und gleichzeitig immer einen bezug herzustellen zu den anderen schauspielern, dem chor und den zuschauern.“ sylviane dupuis: „ich glaube, die große neuheit für mich ist das aktive hören. das ist wie mit einem kameraobjektiv, d. h. ich muss in jedem moment entscheiden, ob ich zoome, auf dem platz bleibe oder mich bewege.“ bertrand tappolet: „ich kann mein eigenes blickfeld entwerfen, ein feld mit unterschiedlichen tiefenschärfen und eine karte anlegen, mit der ich mich bewege. ohne zweifel das interessanteste war für mich der linke flur, in dem die scheinwerfer aufgehängt sind. wenn man ihn durchquert, kann man sich körperlich durch das sprechen hindurchbewegen. durch seine resonanz, die man körperlich aufnimmt, begreift man die machtbezüge (rapports de force), die von den spielern physisch sehr klar gestaltet werden, selbst, körperlich. und dieser raum ist nur für ein, zwei, drei zuschauer gleichzeitig zugänglich, wenn es mehr sind wird es unangenehm. ich finde es interessant, dieses werk so in einer gewissermaßen privilegierten form zu betreten. das ist manchmal an der grenze der sichtbarkeit, das erfordert eine bestimmte gespanntheit des blicks – und dann geht man über in diesen anderen raum, der überbelichtet ist auf der blickebene, und die wechsel erfordern gleichzeitig eine andere spannung auf der ebene des hörens, die optik verändert das hören. interessant ist dieses passieren von einem raum in den anderen. man hört die stimmen und geräusche aus dem zentralen raum, man sieht was im flur passiert oder passieren könnte, und das alles kann auch noch vom kommentartext durchkreuzt werden. ich glaube, dass in den durchquerungen, die gemacht werden von den spielern, wenn z. b. ein spieler hier ist, ein anderer dort, die sich nicht ansehen, sondern mit den blicken im nacken des anderen bleiben, dann etabliert das einen physischen, geometrischen raum vor der sprache, der das sprechen einrahmt und der auch die gewalt einrahmen kann. ich sprach zwar vorhin von der scène dispersante, aber man kann in manchen momenten auch von einer scène dispersée reden, d. h. dass die spieler selbst die szene erzeugen. man sieht die grenzen dieser szene (spielräume) und die art, in der sie ihre architek-
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exzessives fragmentieren tur schaffen, damit dann das sprechen zirkulieren kann, sei es im innern, sei es nach außen, sei es im dialog unter ihnen. und das, glaube ich, kann der zuschauer sehr gut wahrnehmen. das ist die art, die den zuschauer dazu bewegt, die worte zu hören oder zu verstehen, in diesem rahmen, der permanent redefiniert wird. zwischen den fragmenten oder den szenen gibt es einen moment, der den raum atmen lässt. das ist wie mit diesen wachstafeln für kinder; es wird etwas gebaut und dann wieder ausgelöscht, man kann es vergessen, damit etwas neues darauf entstehen kann. das strukturiert auf eine bestimmte weise die erinnerung, den prozess der aufmerksamkeit auch auf die sprache.“ sylviane dupuis: „das hören ist absolut fragmentarisch. man muss das im kopf konstruieren, was man hört; was man bekommt, ist absolut fragmentarisch, man empfängt es nicht in einer bereits vorkonstruierten weise. so passiert das, denke ich. im anschluss arrangiert man die sachen.“
2 die perser v on aischylos. fragmentierte sprache in einer raumchoreografie für chor und zuschauer die perser, ein text in 1075 versen, von denen 500 allein vom chor gesprochen werden. das projekt die perser beteiligte 300 bürgerinnen und bürger der stadt braunschweig, 180 in genf (2006, theatre du grütli), aktiv an einem gemeinsamen theatralen prozess: ein körperliches und praktisches konfrontieren mit der antiken tragödie in einem chormodell der gegenwart. das arbeitsmodell verknüpft elemente der attischen demokratie – wie den rat der 500 und die einmal im jahr stattfindenden chorwettkämpfe mit 500 teilnehmern – mit komplexen techniken der synchronität von spracherzeugung und denken. die partizipation der braunschweiger bürgerinnen und bürger in einem viermonatigen probenprozess von märz bis juni 2007 ist eine öffentliche praktische diskussion über die frage, was theater sein kann, und ein experimentieren mit den theatralen techniken der kommunikation (abb. 2, tafel 5, S. 296).
die perser , ein chortext, in der übersetzung/bearbeitung witzmann und h. müller der überlieferte text von aischylos hat ‚korrupte‘ stellen: auslassungsstellen in der überlieferung, die über vermutungen komplettiert wurden. chorlieder sind nach strengen regeln geschrieben. in versen, in strophen mit meist doppelter rhythmischer struktur. sie sind heterogene textkörper, in denen positionen, identitäten und perspektiven des gesprochenen ständig wechseln. die erarbeitung des textes – die reanimation dieser sprache – folgt einer von mir erstellten partitur, die nach kriterien eines pho135
claudia bosse netischen denkens komponiert ist. diese technik soll durch individuelles ergreifen des denkens und der muskeln eines jeden sprechers im moment der formulierung ein kollektives rhythmisches sprechen formieren. die partitur versucht in der übertragung des griechischen originaltextes eine übersetzung der unterschiedlichen grammatiken und syntaktischen strukturen der sprachen. fragmentierung als archäologie von sprache, eines sprachlichen kontinuums der versumbruch, die pause, lässt das staunen in die zwischenräume der sprachlichen konstruktion eintreten; in der erarbeitung der konstruktion des denkens im sprechen und hören, durch das phonetischen denken eines 2500 jahre alten textes, welcher ideologie versteckt. dies dient als arbeitsmethode, um dann diesen vorgang der aneignung später mit den zuschauern zu teilen. das aus-der-gewissheit-bringen bestimmter sprachlicher verläufe und zwangsläufigkeiten, in der vorlage und seiner übersetzung; das herausarbeiten des potentiellen, im vers und seiner konstruktion. die partitur ist der versuch eines anderen zugangs zu sprache und sprechen, eine art proportionaler lautlicher sprechgrammatik, die auch für den sprecher gedankliche zuordnungen produziert, der diese im moment produzieren muss und die zusammenhänge bis zum strophen- oder satzende führen soll. das sprechen versucht, das denken und phonetische produzieren der sprecher mit dem hören der rezipienten zu synchronisieren. die zeiten und die artikulation orientieren sich jeweils an der raumakustik und an der zeit, die der schall benötigt um sich im jeweiligen raum auszubreiten. die skandierung versucht, auf der gegenwart im moment des sprechens zu insistieren. der satzsinn bildet sich im hören über die anschlüsse des folgenden, und wird im augenblick des sprechens nicht antizipiert. jede silbe im sprechen wird ergriffen und artikuliert. die konsonanten sind jeweils zentrum der schwerkraft des wortes, das heißt: sie müssen ergriffen und losgelassen werden. jede silbe wird im sprechen ergriffen und artikuliert. der sinn breitet sich aus und wird durch die pause im verlauf des verses hinterfragt (abb. 3, tafel 6, S. 297). index partitur. körperresonanzen, denken und pausen sommer 2006, als anleitung für die chorteilnehmerInnen die 5 ebenen sind unterschiedliche sprechintensitäten, die 3. ist die mittlere sprechstärke. und diese ebenen sind jeweils vokalen zugeordet: • die oberste i • dann e
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exzessives fragmentieren • dann a • dann o • dann u, als orientierung, wo die jeweiligen vokale im körper gebildet werden. auf diesen höhen im körper sollen dann die mikrosätze, oder satzpartikel, gebildet werden – jedoch ohne dass der lautliche sprechkorpus einer jeden silbe verloren geht. die grundspannung der mikrosätze ist an den vokalhöhen im körper orientiert. zudem gibt es 5 zeiten: • längste zeit: drei striche: vers und satzzeichen. • zweitlängste zeit: zwei striche: normale verspause (immer als ein potential eines möglichen anderen verlaufs des satzes zu verstehen, somit eben nicht als pause). • mittlere zeit: im vers, wenn wort auf wort folgt, aber eine lücke im fortlaufenden text. das wort oder die wortgruppe davor bekommen mehr gewicht und raum zur ausbreitung. • normalzeit: die zeit zwischen wort und wort innerhalb einer wortgruppe, ein sprechen in dem die worte nicht ineinanderfallen, sondern für sich phonetisch genau plaziert werden. • beschleunigung: bei sich überlappenden wortgruppen mit ebenenwechsel wird die folgende wortgruppe in den schall der vorherigen hineingeschnitten, ohne die nachfolgenden wörter in einer wortgruppe zu beschleunigen. • grossbuchstaben: diese wörter werden geschrieen. die sprechpartitur legte verhältnisse fest, war aber nicht metrisch zeitlich fixiert, sondern eine notation von proportionen. somit präzisierte das erstellte das nicht-definierte. es wurde als partitur nicht absolut, sondern ein arbeitsmittel in einem arbeitsprozess, der paralleles arbeiten von 180–340 personen erlaubte und deren koordination ermöglichte. phonetisches denken für mich ist ein text immer auch ein fremder körper (er kommt vom autor, von den vom autor erfundenen figuren, von einem politischen system, das sich in die kodifizierte form eines textes einschreibt; exemplarisch beim alexandriner, der den absolutismus in der sprache, in ihrer form und fügung, repräsentiert). diesen fremden körper möchte ich erkunden, weil mich der körper des textes, der atem im denken und sprechen interessiert. ein text ist eine lineare zeitlichkeit, weil er fast immer ein nacheinander-geschriebenes ist. diese linearität macht das medium aus und skandiert darüber die zeit. wichtig ist, wann in einem satz was gesagt wird. nicht der gesamte inhalt eines satzes interessiert mich 137
claudia bosse beim sprechen, sondern welches wort auf welches folgt, welche choreografie des denkens daraus entsteht. es geht darum, den verlauf eines satzes zu ergreifen, die wege und irrwege; und darum, auch die möglichkeiten eines anderen verlaufes zu aktivieren, einen möglichen sinn mitzudenken, der folgen könnte, jedoch im nächsten wort eine andere fügung erhält. es geht darum, einen satz nicht zu antizipieren, sondern ihn ‚wort nach wort‘ zu erkunden. damit diese erkundung materiell und theatral wird, muss man den körper eines jeden wortes ergreifen – seine silben, das folgen der konsonanten auf die vokale – erkunden, welche bewegung dies im mund, im atmen, im sprechen, im raum erzeugt. wenn ich nun einem geschriebenen text folge, ist das phonetische denken der versuch, im sprechen jedes wort in seinem körper, im aufeinanderfolgen des kommenden wortes etc. zu ergreifen und das denken eines wortes klanglich zu produzieren, das dann zum satz wird im sprechen und füllen des raumes. das denken wird medial, theatral. fragmentierung des sprachlichen verlaufs, als ort des potentiellen die unterbrechung in der kontinuität der sprache macht die assoziationsräume auf im hören der rezipienten. trägt schichten ab in der konstruktion und fremdheit einer sprache. macht das zusammensetzen und aufeinanderprallen in der poetischen konstruktion zum zwischenraum einer anderen wahrnehmung und zum ort des mitdenkens der zuhörer. zum ort des in-zweifel-ziehens der autoritären notwendigkeit einer textuellen folge, zum raum des mitdenken und diskutierens mit der zum vorschlag erreichten textur. die folge des textes wird dadurch in frage gestellt, und sein verlauf damit umso unbedingter eingefordert. das vergessen, verirren, assozieren wird so teil des sprachlichen verlaufs, wie auch das gedächtnis zum konstrukteur eines poetischen und gesellschaftlichen erkennens wird.
3 coriolan , fragment als szenische bedingung. zur konstruktion v on perspektiv en und gleichzeitigkeiten w ie filmische montage. fragmentierte präsenzen. fragmentieren als aneignungsmethode das shakespearsche stück ist ein konstruiertes zeitliches textkontinuum, in diesem fall basierend auf plutarch. die fragmentarische technik ist eine möglichkeit für zeitliche und ästhetische sprünge wie auch der einnahme unterschiedlicher gesellschaftlicher perspektiven auf ein ereignis.
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exzessives fragmentieren bei coriolan ist das fragmentieren teil von shakespeares schriftstellerischer praxis. er setzt eine szene an, führt aus, schneidet hinein in eine andere, bereits begonnene situation und setzt stilistisch entgegen, indem er genre und sprechduktus verändert und die perspektive der gesellschaftliche klasse zum verhandelten gegenstand wechselt. er wechselt orte, konstruiert gleichzeitigkeiten; eine fragmentierte, fast filmische dramaturgie. diese anlage von shakespeare wurde in der inszenierung des textes durch eine fragmentierte textauswahl und durch unterschiedliche spielweisen verschärft, mit performativen brüchen, zwischen stepptanz, raumchoreografien, szenen politischer rhetorik, unterbrochen von gesang, durch kampfszenen. die von shakespeare vorgegebene struktur wurde zudem unterbrochen durch politsche kommentartexte von giorgio agamben über mao tse-tung bis carl schmitt. shakespeare wurde so fragmentiert und rückkommentiert, durch politische texte aus unterschiedlichen ideologien und zeiten, der szenische text also unterbrochen von politischer theorie, wiederum unterbrochen von improvisierten texten der darsteller, die versuchten, einzeln und direkt an zuschauer gerichtet die komplexe handlung in ihrer jeweiligen muttersprache zusammenzufassen. das textuelle fragmentieren erlaubt gegenlektüren, erlaubt das zusammensetzen des stoffes durch den rezipienten – und das abbrechen oder hineinschneiden in szenen; spielerischer registerwechsel verhindert ebenso das eins-werden des spielers mit dem spiel. das einsteigen in situationen und wieder abbrechen, hinterfragen, die in sich gegenlesenden register des spiels verhindern das versenken des zuschauers, fordern fortwährend seine haltung und bestimmung, fordern das befragen des inhalts zu entscheidungen seiner performativen gestaltung und situation. durch diese inhomogene technik einer theatralen struktur, durch das in-bezug-setzen unterschiedlicher elemente, durch abbrüche und ortswechsel in der riesigen halle, in der wir spielten, werden zugleich auch die bestimmung und haltung des zuschauers befragt – wie auch die einsicht in bestimmte verläufe von geschichte (abb. 4, tafel 7, S. 298). die arbeit an coriolan wurde verstanden als arbeit an gegenentwürfen von spielweise und politischen ideologien, die sich im beglaubigen und entziehen von spieltechniken niederschlagen. der zuschauer wird ebenso bewusst in unterschiedliche register von situationen gestürzt, um dann wieder herausgeworfen zu werden. er wird vom adressaten zum gegner und wieder zum gegenüber, vom voyeur zum notwendigen zeugen einer situation, wird sogar zum teil einer partei im sich entwickelnden theatralen spiel – wie er auch zum anlass wird für das proben eines aufstands in diesem spiel. er wird zum temporären vertrauten einzelner spieler; und all dies in öffentlicher gemeinschaft gegenseitiger beobachtung.
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claudia bosse somit wird er als betrachter mit-ermöglichender des spiels, dieser zeitlich begrenzten verabredung zwischen darstellern, zuschauern und situation. in fragmentarischen techniken zwingt das definieren des einzelteils zu einer unbedingten präzision, denn dann wird durch die montage der fragmentierten teile erst ein aneinanderschlagen möglich, wird das freisetzen von geschichte und bedeutungszusammenhängen ermöglicht. das dadurch entstehende rückinformieren der theatralen, ästhetischen und historischen oberflächen macht die relativität und fragwürdigkeit bestimmter gesellschaftlicher annahmen deutlich.
4 hybrid . aussicht auf eine fragmentierte konstruktion unterschiedlicher spielsysteme und texturen. tragödienproduzentenmultihybrid 2009 modell eines gesamtkunstwerks, konstruiert mit material aus sieben inszenierungen und vier theatertexten. tragödienproduzentenmultihybrid – ultimativer zeitgenössischer tragödienversuch und abschluss der serie tragödienproduzenten in wien. anstelle der erarbeitung der texte nacheinander wäre auch die möglichkeit vorstellbar, dass nach erarbeitung von die perser coriolan direkt in die perser montiert wird und in diese konstruktion perser und coriolan, phädra und bambiland eingefügt werden. so entstünde ein theater als über die zeit wucherndes gebilde von umsetzungsformen und textebenen: intertextualität. Intertheatralität. interphysikalität. überlegung von 2006
tragödienproduzentenmultihybrid, herbst 2009 … ist ein performativer untersuchungsraum, ist kompilation aller texte und inszenierungen der theatralen serie tragödienproduzenten 2006–2008 mitsamt ihrer räumlichen, choreografischen, sozialen, methodischen und ästhetischen einsätze. aus den vier theatertexten die perser von aischylos, coriolan von shakespeare, phädra von racine/seneca und bambiland von elfriede jelinek, und den sieben inszenierungen der tragödienproduzenten (2006–2008 in braunschweig, genf und wien), wird ein gesamtkunstwerk als ein wucherndes theatrales gebilde konstruiert, das die elemente und texte, raumentwürfe und arbeits- und partizipationsmodelle der vorangegangenen inszenierungen aufgreift und miteinander kombiniert. das schreibverfahren von elfriede jelinek zur komposition eines theatertextes, in dem unterschiedliche quellen und stimmen mitsamt ihren sprachmasken und ausdrucksformen
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exzessives fragmentieren ineinander verwoben und somit in komplexe gegenlektüren gesetzt werden, wird bei dem tragödienproduzentenmultihybrid als verfahren für eine theatrale praxis angewendet; d. h. bereits erarbeitete (eigene) theatrale elemente, die verwendeten (theater)texte und ihre sprech- und darstellungstechniken, ihre politischen einsätze und jeweiligen raum-, öffentlichkeits- und erarbeitungsmodelle sind das material. so wird aus den unterschiedlichen modellversuchen und inszenierungen mit ihren texten aus den epochen antike, renaissance, barock und gegenwart ein hybrides gesamtkunstwerk konstruiert – der zeitgenössische tragödientext, die zeitgenössische tragödieninszenierung, das zeitgenössische theatermodell, ein historisch materialistisches produktionsmodell für theater, mitsamt seinen dokumentarischen materialien. die arbeit am hybrid ist der versuch, die erarbeiteten materialien von 2006 bis 2008 als biografische spuren im körper der darsteller zu begreifen, die mit der zeit im spiel und der zeit des spielens, des aneignen bestimmter techniken, sich im körper des jeweiligen darstellers abgelagert und verändert haben, und dann das zu spielende in spannungen und verhältnisse zu setzen. aus den performativen fragmenten der sieben inszenierungen soll sich eine neue tragödie konstruieren, bei der die fragmente der theaterarbeiten und die texte grundlagen für eine neue theatrale landschaft werden, die über brüche und ablagerungen und entgegenstellen unterschiedlicher sprachen von racine, aischylos, müller, jelinek etc. entstehen soll, damit die texte auch in relationen gesetzt werden in ihrer technik des schreibens, ihrer politik des theaters, ihren weisen des figuren und situation konstruierens, den weisen des erzählens, den arten, wie in den sprachen zeit verläuft und wie mit ihr gebaut wird. der versuch wird sein, die ausdrücklichkeit einzelner einsätze und die voraussetzungen des spiels zu befragen, wie auch die weise des jeweiligen fortlaufs von sprache, sprechen und handeln, und zwar in räumlich unterschiedlichen systemen mit zuschauern, in konstellationen von unterbrechungen, auch durch das fragmentieren des raumes – die einheit des raumes unterbrochen durch mehrere gruppen von körpern und konzentrationen. die unterschiedlichen spannungen fragmentieren den raum: durch ein zerteilen in unterschiedliche zeiten und zeichen, durch das zerteilen der einheit der wahrnehmung mit der geforderten selbstsetzung des körpers des zuschauers, durch die bedingungen der wahrnehmung für den zuschauer, wie z. b. die akustik die raumwahrnehmung, das bild, zerreißt – und umgekehrt. aussichten über montage und fragment montage als methode, um geschichtsstreifen und bedeutungszusammenhänge anzudeuten und ins schwingen zu versetzen; und zu
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claudia bosse ermöglichen, dass sie in der kombination der fragmente neue zusammenhänge eingehen. dies sind versuche, geschichtliche zusammenhänge, die abgelöst werden, aufzugreifen, sie unter bestimmten voraussetzungen zu untersuchen. auch ist das eine möglichkeit, andere textsorten und perspektiven von textproduzenten zu konfrontieren, diese in eine narration von material zu fügen, zum ausbreiten einer theatralen landschaft, zum kollektiven ergreifen, als thesenhaftes fabulieren mit körpern und situationen.
5 exessiv es fragmentieren – formulieren im möglichen das fragmentieren in einer theatralen form wird ein physischer denkraum von möglichkeiten: verhindert illusionen, weil die brüche von einem material zum anderen, von einer spielweise zu einer anderen, von einer adressierung zu einer anderen mit dem schock des abbruchs arbeiten, als störung der jeweiligen situation, die jede für sich ein versprechen hat. somit wird der abbruch zur situation, die die anwesenheit aller wieder aufruft, auftauchen lässt. das sind die bedingungen der theatralen situation: das gemeinsame konstruieren, verfertigen, imaginieren, vollenden der losen enden, die genau die verfertigung der möglichkeit abgibt und im nicht-gezeigten und verworfenen artikuliert. die theatrale form des fragments befragt relative verabredungen und führt sie zurück auf die gesellschaftlichen verträge und ihre vorläufigen annahmen. so eine anordnung bietet zugleich dem einzelnen einsam optionen an, die sich in seiner vorstellung weiterformulieren, als wäre die gemeinsame situation zersplittert; und so erhält die theatrale situation genau dadurch die möglichkeit zur räumlichen und physischen einheit, eben durch die unterbrechung. das fragmentieren macht die entscheidungen und ästhetischen formulierungen immer transparent. fragment und montage die montage bindet einzelne fragmente in die kollisionsräume ihres aufeinandertreffens: das eine wird in verhältnis gesetzt zu dem ‚anderen‘, von ihm verschiedenen. fragment und skizze das fragment hat die anstrengung und leichtigkeit von skizzen: entwürfen, die strukturen und untersuchungen zeichnen, andeuten oder sich dem zweck des untersuchens hingeben. das einzelne bleibt funktional in seinem versuch; das kann es, weil es sich nicht zu einer ganzen kompletten form vereinheitlicht und damit die hier-
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exzessives fragmentieren archie der teile auflöst – eine autonomie der elemente, die sich in der waagschale der performativen einsätze und bedeutungen mit dem schimmer von anarchie in andere konstruktionen und fusionen begeben können und immer auch anders verbinden könnten, weil das material sich vielleicht einer geschlossenen form einfach widersetzt. andererseits kann das fragmentieren ein ganzes zerschlagen und so die möglichkeiten eines anderen verlaufs eröffnen und damit die bestrafung der einzelteile aufheben, die ein ‚ganzes‘ als wirkung erzeugen kann. das fragmentieren ermöglicht das versprechen von veränderbarkeit. die lust der teile ist im material intelligenter als das ganze ‚etwas‘, was immer ordnungen in verhältnisse bringt und damit konstellationen häufig verschüttet, verklebt. die stille, die lücke, der riss aktiviert das material, lässt die echoräume des einen mit dem anderen überlappen und schafft so andere konstellationen und forderungen an die rezeption; schafft vielleicht die möglichkeit, andere kontroversielle texturen zu erfinden: im körper, im text, in situationen. das fatzer-fragment war für mich ein arbeitsmethodisch wichtiger text. er erlaubt es, die methode des schreibers zu studieren, wie sein ringen um ein material, das ringen um haltungen und möglichkeiten des theaters in politisch unruhigen zeiten stattgefunden hat; es ging weniger um die methoden, weniger um das transportieren oder darstellen einer bestimmten theatralen situation, d. h. das entwerfen und das ästhetische formieren geht zusammen. dieser theatertext ist für mich ein dokument eines prozesses und eine methodische landschaft, die die techniken des theaters und seine herstellung in zweifel zieht und andere vorgehensweisen mit körper, raum, zeit und kollektiv notwendig macht. das fragmentarische schafft einen multiperspektivischen raum ohne zentralen punkt, eher drehend, schlagend, schleifend um den angelpunkt des ergreifens, ringens, findens und verwerfens; dieser autonomisiert denkräume, körper, ansichten, einsichten und wahrnehmungen. der austausch ist reziprok zwischen werk, darsteller und zuseher, er informiert und vibriert in einem ständigen wechsel der verhältnisse aller vorhandenen elemente; sie stoßen aneinander, kämpfen, werden überwältigt und brechen wieder auf. so werden arbeiten für alle beteiligten zu expeditionen, wenn auch mit konkreten voraussetzungen.
6 gedanken zu theater um bestimmte sehgewohnheiten und rezeptionsgewissheiten zu unterbrechen, bedarf es immer totalitärer akte, die die produktion von
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claudia bosse bedeutung freigeben und im besten falle haltungen erzeugen beim publikum. eine haltung wird durch künstlerische strategien provoziert, herausgefordert; genauer noch mehrere haltungen, die sich mit dem theater, der lesart des theaters und der produktion des textes und der körper konfrontieren. nur ein willkürliches durchbrechen der alltagsgewohnten wahrnehmung kann einen vorgang der autorisierung des zuschauers ermöglichen, die herrschenden ästhetischen, politischen und kommunikativen strategien in frage stellen über einen theatralen entwurf in der materialisierung eines anderen: einer anderen sprache, anderer körper in anderen situationen etc. das ist die subversion des theaters, und vielleicht der grund, warum es in der polis als gefährlich galt und bei den calvinisten verboten war. das theater hat die möglichkeit, ein labor zugleich gesellschaftlicher und ästhetischer als auch repräsentativer praktiken zu sein. das ist sein potential. die eine strategie kann mit der anderen gegengelesen werden: dies aber nur in offenen räumen, in denen jeder die situation teilt und akteur wird, akteur seiner selbst innerhalb eines auszuhandelnden situativen kontraktes – und zuschauer der anderen gesellschaftlichen akteure, ihrer mimik der zustimmung oder ablehnung. so ist es nicht nur der schauspieler oder der tänzer, der beobachtet, sondern alle beobachten sich auf dieser gesellschaftlichen bühne gleichzeitig und agieren in der repräsentation ihrer zugehörigkeit, in der verfolgung der beobachtung aller körper, im lesen ihrer ökonomien von aufmerksamkeit. die willkürliche theatrale situation schafft einen zeitraum und eine konzentration, die im alltagsleben nicht gegeben ist, die man nur individuell herstellen kann. hier handelt es sich aber um einen kollektiven akt der produktion im teilen einer konzentration, im verfolgen des formulierens, der sichtbarkeit der überwindung einer unüberwindbaren distanz.
7 theatrale landschaften soziale skulptur soziale skulptur im theater lässt durch eine ästhetische setzung soziale differenzen der einzelnen protagonisten und handelnden im zusammenkommen lesbar werden. es entstehen künstliche, temporäre communities, die gesellschaftliche strukturierungen überschreiten oder auch abbilden und ihre fügung über die ästhetische verfremdung erst erkennbar machen.
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exzessives fragmentieren also • denken im material. konstruktion von situation, fragmentieren als methode der aneignung, des erfindens mit historischen materialien. als handeln und experimentieren im material. • konstruktion von situation mit zuschauern. situationen von arbeit. arbeitsweise, die in dem, was man veröffentlicht, sichtbar wird. • was ist ein mittel? theater ist eine fast revolutionäre situation, weil es in arbeitssituationen andere utopische bedingungen temporär erzeugen kann, eine situation, die innerhalb und außerhalb zugleich ist. in dieser ist die gesellschaft absent – deshalb entsteht der möglichkeitsraum – und überpräsent zugleich, als reflexionsraum, maß, und einbezogen über die teilnehmer der entsprechenden arbeiten. • energie und denken. intensität und handeln. • material, das selbst besteht, dass man erkundet und übt. • warum die strapazen und lüste, um unmögliche ideen und projekte, die versuchen vorstellungs- und handlungsgrenzen zu weiten, umsetzbar zu machen? die eigenen und die gesellschaftlichen grenzen? ich begreife dies als konkrete theatrale praxis, als tun, als entwerfen, als üben, als denken und experimentieren im theatralen material. als erfinden und verstehen zugleich. • was ist die sehnsucht, was sucht man in arbeitsprozessen, was sonst nicht möglich scheint? was ist im theater möglich, das man als temporäre perspektiven auf die welt entwickeln kann? auf erfahrung, die sich ins leben schreibt? das leben überschreibt, leben erkennbar macht? über arbeit am körper, am theater, an gesellschaft. • projekte als perspektiven von selbst- und weltwahrnehmung. situationen, die man kreiert/initiiert als arbeits- und erkenntnisräume, als wahrnehmungsräume mit zuschauern, diese als teilhaber der situationen. • welches instrument kann theater sein mit dem körper als medium und speicher zugleich? als handlung?
anhang die perser, coriolan und tragödienproduzentenmulithybrid im rahmen von tragödienproduzenten, ein 4-jahres-projekt in wien, genf, braunschweig, düsseldorf. theater als politisches archiv und labor von repräsentationstechniken.
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claudia bosse 2006–2009 arbeitet theatercombinat an der serie tragödienproduzenten: ein prozess der konfrontation historischer theatermodelle, ihrer politischen systeme und repräsentationtechniken als untersuchung der gegenwart. die ausgewählten texte die perser von aischylos, coriolan von shakespeare, phèdre von racine, bambiland von elfriede jelinek, sind ein schnitt durch die geschichte und die theatergeschichte. sie beziehen ihre geschichtlichen und mythologischen hintergründe aus der antike und bearbeiten historische umbruchkonstellationen. die texte sind dokumente unterschiedlicher epochen: antike, renaissance, barock und gegenwart. ein labor von kommunikationsmodellen und ästhetischen handlungsweisen zur untersuchung von stadt und theater, theater und öffentlichkeit. tragödienproduzenten ist ein projekt initiiert unter der leitung von claudia bosse in zusammenarbeit mit gerald singer, christine standfest sowie mit doris uhlich, lena wicke und gästen und wird unterstützt von der kulturabteilung der stadt wien. fatzer-fragment von bertolt brecht am théâtre du grütli, genf, 0306/1998, theatercombinat. regie: claudia bosse, raum: josef szeiler, mitarbeit/regieassistenz: maya bösch, akteure: maya bösch, pascal francfort, camille giacobino, sandra heyn, mathieu loth, anne marchand, heike müller, renaud serraz, fabienne schnorf, christine standfest, übersetzung: francois rey, mitarbeit übersetzung: sylviane dupuis, claudia bosse, maya bösch, rechte: arche, beratung: michelle pralong.
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Tragödie, Fragment und Theater PATRICK PRIMAVESI Seit Ende des 18. Jahrhunderts haben deutschsprachige Dramenentwürfe ebenso wie Theorien des Tragischen immer wieder die Krisen der Tragödie und zugleich ihre Aktualität reflektiert. Parallel dazu entwickelte sich eine Ästhetik des Fragmentarischen und es entstand eine Reihe von Tragödienfragmenten, die mit der klassizistischen Fixierung auf das vollendete Drama ebenso wie mit dem konventionellen Spielbetrieb unvereinbar waren, durch einen Gestus des Abbrechens, der Zer-Setzung und der Unabschließbarkeit des Werkes. Vieles spricht dafür, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem als eigene Form reflektierten Fragment und der Entwicklung der modernen Tragödie. Dieser Zusammenhang, der an einigen exemplarischen Fragmenten besonders deutlich wird (von Johann Wolfgang Goethes ‚Ur‘-Faust und Friedrich Hölderlins Tod des Empedokles über Heinrich von Kleists Robert Guiskard und Georg Büchners Woyzeck bis hin zu Bertolt Brechts Fatzer), soll hier ein Stück weit skizziert werden. Seit Fragmente nicht mehr bloß als defizitäre, durch äußere Einflüsse beschädigte oder notgedrungen unvollendet gebliebene Werke angesehen werden, sondern als Manifestation eines Widerstands gegen das Prinzip des Werkes selbst, erschüttern sie zugleich die Illusion einer Verschönerung oder gar ästhetischen Rechtfertigung des Lebens durch die Kunst. Das Fragment entzieht sich jedenfalls der Repräsentationsfunktion ganzer, vollendeter Werke, und es stört das Idealbild einer im schönen Schein versöhnten Welt. Wie aber wäre mit fragmentarischen Texten umzugehen, ohne ihren Mangel nur als Verweis auf ein fehlendes Ganzes zu sehen oder, andererseits, ihn zu einem wiederum totalitären Prinzip zu erheben? Schließlich ist auch die Praxis des Theaters immer wieder gefordert, den Prozess der Unterbrechung und Öffnung der dramatischen Form aufzunehmen, gerade mit Hilfe von fragmentarischen Texten die (Un-)Möglichkeit einer modernen Tragödie zu reflektieren.
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Patrick Primavesi
Zur Produktion v on Fragmenten Die philosophische Ästhetik des 20. Jahrhunderts (von Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno über Maurice Blanchot bis zu Gilles Deleuze und Jean-Luc Nancy) hat immer wieder die paradigmatische Bedeutung des Fragments hervorgehoben, vor allem aber den Reflex der historischen Katastrophen im Fragmentarischen als einer Schreibweise der Krise, einer Écriture du désastre: „Wenn alles gesagt ist, bleibt das Desaster zu sagen, Ruin des Sprechens, Ohnmacht durch die Schrift, ein murmelnder Tumult: was restlos übrigbleibt (das Fragmentarische).“1 Von diesem Extrem her wäre das Potential des Fragmentarischen zu bestimmen als das einer Störung, die sich jeder ästhetischen oder auch moralischen Totalität verweigert. Eben darin unterscheidet sich die Schreibweise des Desasters von Tendenzen der Romantik, das Fragmentarische zu einem Prinzip der Darstellung wie auch der Reflexion zu erheben und das einzelne Fragment als Form absolut zu setzen.2 Um die Faszination am Fragment als einem paradoxen, gerade in seiner Unerfüllbarkeit wirksamen Versprechen idealer Ganzheit begreifen zu können, wäre wohl zurückzugehen bis auf Johann Joachim Winckelmann und auf das Ideal einer utopischen Antike. Die Sehnsucht zumal nach der griechischen Antike war gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch einen Grundzug des Verlustes geprägt, der ganz unterschiedliche Weisen der Kompensation gefunden hat. So gab es einerseits Versuche zur Ergänzung, zur Herstellung einer neuen Totalität des Klassischen, um den Verlust metaphysischer und symbolischer Ordnungen zu überwinden; andererseits aber ein Aussetzen aller Rekonstruktionsversuche, die Verselbständigung einer Haltung und Schreibweise, die im klassischen Werk-Ideal kein Genügen mehr finden konnte, vielmehr im Fragment gerade die Kehrseite dieses Ideals manifestiert hat. Diese beiden Haltungen gegenüber dem Fragment begegnen uns auch in der bildenden Kunst: Der Torso wurde zum Inbegriff einer durch alle Beschädigungen der Zeit hindurch bewahrten Idee von Kunst, die der Einbildungskraft umso mehr Spielräume ließ, je mehr Körperglieder fehlten. Mit einer eher allegorischen Perspektive, die sich des Abstands der Gegenwart zur Entstehungszeit der antiken Werke stets bewusst blieb, konnte der Mangel produktiv werden im schöpferischen Prozess der Vorstellung, wie Hölderlin es in seinem Hyperion-Roman formuliert hat: „Der Künstler ergänzt den Torso sich leicht.“3 Diese Idee bildete seit Winckelmanns Ge-
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Blanchot 2005. Zur Totalitätstendenz vgl. Frank 1984, 212-224. Hölderlin 1994, 96.
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Tragödie, Fragment und Theater schichte der Kunst des Alterthums ein wichtiges Korrektiv zu der längst schon gängigen Praxis der ‚Antikenergänzung‘. Seit der Renaissance war es üblich, den meistens nur noch zerstückelt und verstümmelt überlieferten antiken Originalen künstliche Gliedmaße anzupassen – als Akademieaufgabe, um sich in der Nachschöpfung der Antike künstlerisch auszubilden und als kunstgewerbliche Technik, um den Verkauf von antiken Originalen zu fördern. Im 18. Jahrhundert gab es auch bereits einen florierenden Markt für Kopien aller Art.4 Zu der damaligen Antikenmode gehörten aber nicht zuletzt die aus Künstlerateliers bekannten Sammlungen von Fragmenten. So waren unter den mehr oder weniger antik aussehenden, in erster Linie dem Zeitgeschmack entsprechenden Skulpturen und Vasenmalereien aus europäischen Manufakturen häufig auch künstliche Fragmente, Nachbildungen von abgebrochenen Körperteilen oder auch Vasensplittern. Während die Produktion solcher Bruchstücke antiker Kultur deren Ausstellungs- und Marktwert ebenso bezeugt wie die Praxis der Ergänzung, gab es andererseits ein Interesse am Fragment als solchem, anknüpfend an die barocke Ikonographie von Torso und Ruine und vorausweisend auf die immense Bedeutung des zerstückelten Körpers für die Kunst der Moderne.5 Angesichts einer rapiden Kommerzialisierung aller Künste, die sich noch das Pathos des Abbrechens als dekorative Zutat einverleibt hat, erscheint der Gestus des Fragmentarischen seinerseits nicht mehr ungebrochen, sondern zweideutig, als das Resultat einer Inszenierung. Von daher stellt sich die Frage, inwieweit auch das dramatische Fragment um 1800 bereits zum Schauplatz einer Selbstdarstellung von Autorschaft werden konnte, einer Inszenierung, die im Medium der Tragödiendichtung den Schrecken des körperlichen Leidens und Sterbens auf die Ebene der Darstellung verlagert hat. Wenn es mit dem Fragmentarischen aber nicht nur um „Formen geplanter Unvollendetheit und Fragmentarität“ geht oder um Akte der „freiwilligen Zerstörung“,6 manifestiert sich im Fragment etwas Drittes, das zwischen das Werk bzw. seinen Autor und den Leser tritt, als Krise im Schreibprozess. Insofern verweisen Unterbrechung und Abbruch auch symbolisch auf einen Tod des Autors, der sich nicht mehr in Analogie zum Tod des Helden in der Tragödie als Vorgriff auf Unsterblichkeit begreifen lässt, sondern als Ereignis dem Fragment eingeschrieben hat und durch keine Ergänzung zu kompensieren ist. Die Szene dieses im Schreibprozess manifestierten Abbrechens wird mit Michel Foucault lesbar als Entzug von Autorschaft, als ein sich aufspaltendes Sprechen, jenseits des
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Vgl. Gesche 1981, 335-341; zur Vasenmalereien vgl. Reinsberg 2006. Siehe dazu insgesamt den Band Schulze 1990. Vgl. Steiner 1984, 20-21.
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Patrick Primavesi Subjekts und jenseits des Werkes, in den „Lücken und Rissen“ der Texte.7 Dabei ist von Blockaden auszugehen, die noch über die Katastrophen der Überlieferung oder der individuellen Lebensumstände hinaus die Tragödie als Form betreffen. Zu fragen bleibt, inwieweit das Abbrechen oder auch die Wucherung des Werkes jeweils die Unmöglichkeit, eine Tragödie abzuschließen, überführt in Formen des ‚Nicht-Sprechens‘ oder eines ‚Ruins im Sprechen‘, das insofern unendlich wird, als es sich unablässig vervielfacht.8 Was im Hinblick auf Fragmente im Bereich der bildenden Kunst längst als wesentlicher Impuls von Moderne erkannt worden ist, gilt ähnlich auch für Drama und Tragödie. So ist davon auszugehen, dass die Entstehung von Dramenfragmenten in der deutschen Literatur um 1800 nicht zufällig verknüpft war mit einer Krise der Tragödie. Im Kontext einer regelrechten Mode von Antikendramen können die Fragmente als Manifestationen eines unnachahmlichen Scheiterns in der Nachahmung antiker Tragödien erscheinen. Vorherrschend war damals die Tendenz, die Tragödie unter Ausschließung ihrer prädramatischen und auch theatralen Momente zum Inbegriff des vollendeten Dramas zu erheben, dem Zeitgeschmack ebenso anzupassen wie die Fragmente in den klassizistischen Werkstätten. Das führte zu Imitaten einer theatralen Form, deren politische und anthropologische Grundlagen verdrängt wurden. Dieser Tendenz stehen jedoch Fragmente gegenüber, die einen bewussten Bruch mit allen harmonistischen Vorstellungen von antiker Tragödie riskierten und unvereinbar waren mit den damaligen Theaterkonventionen. Die im Folgenden (kursorisch) zu betrachtenden Fragmente können als Gegenentwürfe zum damals etablierten Ideal des klassischen, in sich vollendeten Dramas gelten, mithin als Theatertexte, in denen der Entzug einer werkhaften Ausgestaltung auf andere, womöglich erst im 20. Jahrhundert realisierte Formen von Theater voraus weist. Das Fragment erscheint damit als (Un-)Form, als ein Vorzeichen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann offenkundigen Krise des Dramas9 und als ein in mancher Hinsicht bereits postdramatisch zu nennendes Stadium der Tragödie. Mit der Produktion von Fragmenten ging jedenfalls ein Moment von Performanz einher, ein mitunter bewusst ausgestellter Gestus der Selbstzerstörung und der Verausgabung, der das Ideal des klassischen, die antike Form erfolgreich nachahmenden Werkes in Frage gestellt hat und zugleich die Grenzen der Gattung Tragödie zu erweitern vermochte. Um 1800 haben deutschsprachige Dramen-
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M. Foucault: Was ist ein Autor, in: Foucault 1988, 15. M. Foucault: Das unendliche Sprechen, in: Foucault 1988, 93. Vgl. Szondi 1963.
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Tragödie, Fragment und Theater entwürfe ebenso wie die gleichzeitigen Theorien des Tragischen10 mit der elementaren Krise der Tragödie sowohl deren Aktualität zum Ausdruck gebracht als auch den Schreibprozess, das Produzieren dramatischer Werke selbst als Problem reflektiert. Diesem in der Reflexion ihrer Form paradox begründeten Einsatz der modernen Tragödie bleibt nachzugehen mit der Frage, welche Bedeutung dem Potential des Fragmentarischen als einer (Selbst-)Unterbrechung der symbolischen Ordnung11 für die Entwicklung des modernen und postmodernen Theaters zukommt. Für Parallelen oder Berührungspunkte zwischen prädramatischen und postdramatischen Formen von Theater erscheint die Entstehung von Tragödienfragmenten auch insofern aufschlussreich, als sie das Verhältnis von Drama und Theater zu differenzieren ermöglicht. Gewiss können aktuelle Inszenierungen von antiken Tragödien, insbesondere von Euripides’ Bakchen, die mit einer Gewalt des Fragmentarischen eng verknüpften Phantasmen und Körperbilder auf neue Weise freisetzen.12 Das sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass schon die Entwicklung des Dramas von diesem Potential der Unterbrechung mehr oder weniger offenkundig begleitet war. Um 1800, als die Produktion dramatischer Werke in der deutschen Literatur ihren Höhepunkt erreicht hat, zeichnet sich ein Riss ab, der die Geschichte des Dramas von da an durchzieht, von Hölderlin über Kleist und Büchner bis hin zu Brecht und Heiner Müller immer wieder den Schreibprozess die dramatische Form sprengen lässt und damit vor allem deren Krise dem Theater aufgegeben hat.
Gew alt der Abrundung und allegorische Zertrümmerung Eine lange währende Fixierung auf die großen Werke der dramatischen Literatur zwischen Lessing und Hebbel hat dazu geführt, dass die in dieser Epoche entstandenen Fragmente kaum als solche wahrgenommen wurden, eher als unbedeutende Skizzen, biographisch zu erklärende Unfälle, Fehlleistungen ansonsten etablierter Autoren, die ausreichend ganze Werke vorzuweisen hatten. Was dabei übersehen wurde, ist aber gerade der übergreifende Zusammenhang dieser Fragmente im Sinne einer antiklassischen und antikanonischen Reihe von Versuchen, andere Formen von Theater zu erfinden. Zu sehr war die Perspektive der Rezeptionsgeschichte auf den kurzfristigen Erfolg oder Misserfolg ausgerichtet, als dass der
10 Vgl. Szondi 1964. 11 Siehe auch Nancy 1994. 12 Vgl. Primavesi 2006.
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Patrick Primavesi Umstand auffallen konnte, dass zur deutschsprachigen Dramenliteratur besonders viele Fragmente zählen. Heiner Müller hat mehrfach darauf hingewiesen und als Grund dafür den „Fragmentcharakter unserer Geschichte“ geltend gemacht sowie das daraus resultierende wiederholte Abreißen der „Verbindung Literatur – Theater – Publikum“.13 Andererseits hat Müller (auch mit Blick auf seine eigenen Texte) einen Zusammenhang von Vollendung und Gewalt formuliert, der in diesem Kontext ebenfalls zu berücksichtigen bleibt: „Nichts ist fragmentarischer als eine runde Sache, als ein geschlossenes Stück; da muss man viel mehr abhacken und weglassen, um etwas scheinbar Geschlossenes herzustellen.“14 Die Fiktion des ganzen Werkes impliziert zugleich dessen quasi organisches, gewaltloses Wachsen oder Entspringen aus dem schöpferischen Kalkül seines Autors, während doch bei näherer Betrachtung gerade der Bruch zwischen anfänglichen Intentionen und endlichem Resultat das Werk ausmacht, entsprechend Walter Benjamins Formulierung, das Werk sei die „Totenmaske der Konzeption“.15 Und gerade die Funktion des Autors ist geprägt von einer Gewalt des Abhackens und Weglassens, kurz: einer Fragmentierung, die das Werk seiner anfänglichen Entfaltungen und disparaten Möglichkeiten berauben muss, um es ‚rund‘ zu machen. In besonderem Maße trifft diese Beobachtung auf Theatertexte zu, die strukturell aus heterogenen Instanzen und Situationen bestehen, deren Vereinheitlichung im Sinne einer Fabel und konsequenten Entwicklung von Charakteren und Motiven nur durch willkürliche Gewaltakte möglich ist. So hat auch die zwischen Lessings Auslegung der Aristotelischen Poetik, Hegels Ästhetik-Vorlesungen und Freytags Technik des Dramas zur Norm gewordene Idee von ‚Dramatik‘ vor allem Momente einer prä-, post- oder anti-dramatischen Theatralität auszuschließen versucht. Was aber wäre demgegenüber die gattungsgeschichtliche Relevanz von Tragödienfragmenten, die sich gegen die Totalisierung der Form sperren, dem Werk insgesamt wie auch den Charakteren die abgerundete Gestalt verweigern? Im Hinblick auf nicht erst im Nachhinein versehrte, sondern bereits im Abbrechen des Schreibvorgangs entstandene Fragmente von Tragödien liegt die Analogie zwischen der Krise des Werkes und dem Schicksal des Subjekts nahe. Die antike Tragödie kann als eine Art negative Konstitution des Subjekts gelten, das zumindest den ohnmächtigen Protest gegen sein von Göttern zugelassenes Leiden und gegen die darin manifestierten Formen ritueller Gewalt artikuliert.16
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Müller 1986, 40. Müller 1986, 113. W. Benjamin: Einbahnstraße, in: Benjamin 1980, IV.1, 107. Vgl. dazu Lehmann 1991.
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Tragödie, Fragment und Theater Die klassizistische Umdeutung der Tragödie zum sittlich korrekten, auf das Pathos und die Deklamation leidender Charaktere beschränkten Drama hat nicht nur den Chor, sondern auch die festliche und rituelle, anthropologische Dimension der Tragödie verdrängt. Auch dagegen richten sich die Fragmente, die eine solche Verdrängung in Frage stellen, noch um den Preis der eigenen Werkgestalt. Übrig geblieben sind davon aber nicht einfach unfertige und unbrauchbare Trümmer, sondern komplexe Gebilde, in denen zugleich die Krise des jeweiligen Helden und diejenige der Gattung Tragödie verhandelt werden. Eben durch dieses Moment von Selbstreflexivität kann das Fragment als eine moderne Form des Tragischen gelten, worin der szenische Diskurs – über das im Helden erstmals mit einer Stimme versehene Opfer – seine eigene Form gesprengt hat. Die auf Aristoteles zurückgehende Einschätzung der Tragödie als der höchsten Form dramatischer Kunst ist allerdings noch von weiteren Gegenmodellen relativiert worden, nicht nur, schon seit der Antike, durch Komödie und Satyrspiel, sondern auch durch das barocke Trauerspiel. Walter Benjamins Theorie des Trauerspiels als einer eigenen Form betont daran die Zersetzung der Form durch bodenlose Reflexion und abstrakte Allegorien einerseits, durch die höchst widersprüchlichen Affekte und Reden der Protagonisten andererseits. Im barocken Trauerspiel trug die den Autoren eigentlich vorschwebende Wiederaufnahme der antiken Tragödie bereits allegorische Züge. Die Zerstückelung, die das Trauerspiel am fürstlichen Körper des Herrschers und am heiligen Körper des Märtyrers vollzieht und in der emblematischen Vorführung der Leiche vollendet,17 diese Zerstückelung betrifft auch den Korpus der antiken Tragödie. Dabei hat die allegorische Zersetzung der Tragödie durchaus zu eigenen und vielleicht ebenso einflussreichen Formen von Theatralität geführt. Abermals zeigt sich, dass Alternativen zur vermeintlich soliden, dauerhaften Gestalt des dramatischen Werkes nicht nur in präund post-dramatischen Formen von Theater bestehen, sondern dass die großen Epochen dramatischer Literatur ihre eigenen AntiDramen und konkurrierende Entwürfe von Theatralität hervorgebracht haben. In diesem Kontext sind besonders die um 1800 entstandenen Tragödien-Fragmente zu sehen, die in vieler Hinsicht dem barocken Trauerspiel näher stehen als der antiken Tragödie – nicht zuletzt durch den melancholischen Grundzug, der die barocken Autoren ihre grüblerische Verzweiflung in dramatischen Werken, auf Kosten von deren formaler Integrität austragen ließ. In seiner Auseinandersetzung mit Hölderlins Sophokles-Übertragungen hat Benjamin mehrfach darauf hingewiesen, dass diese oft als Resultat von Wahnsinn und mangelnden Sprachkenntnissen
17 W. Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in: Benjamin 1980, I.1, 182.
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Patrick Primavesi abgetanen Versuche im Kontext von Hölderlins späten Dichtungen als Praxis einer allegorischen Transformation zu lesen sind, die mit dem Prinzip der Zäsur in den Anmerkungen zum Sophokles theoretisch begründet ist. Auch im Unterschied zu dem von Aristoteles für den Spannungsverlauf der Tragödie geforderten Verlauf von Umschlag und Peripetie deutet Hölderlins Theorie der Zäsur alle Elemente der Tragödie als zeitliche, transitorische. Mensch und Gott oder auch ‚Naturmacht‘ bleiben abhängig voneinander. Als gegenrhythmische Unterbrechung dieses Zusammenhangs steht die Zäsur für den Versuch, in einer extremen Ungebundenheit und Alogizität den Grund der Tragödie auszuloten. Davon ausgehend sieht Benjamin die Bedeutung der Zäsur in einem Entzug des Ausdrucks, in einer Gewalt der Darstellung, die in Hölderlins Hymnen ebenso wie in der griechischen Tragödie deutlich werde: In der Tragödie als Verstummen des Helden, in der Hymne als Einspruch im Rhythmus vernehmbar. Ja, man könnte jenen Rhythmus nicht genauer bezeichnen als mit der Aussage, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt.18
Der von Hölderlin immer wieder und auf vielfältige Weise inszenierten Unterbrechung der Rede des Dichters entspricht die Gefahr, die Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers als ein Verstummen der eigenen Sprache bei der Annäherung an den Wortlaut des Originals beschreibt.19 Insofern verdoppelt sich das Verstummen des tragischen Helden im Prozess eines modernen Übersetzens und fragmentierenden Um- und Neu-Schreibens von Tragödien. Hölderlins Übersetzungen erscheinen aber zugleich als barocke Form einer „allegorischen Zerbröckelung und Zertrümmerung“ der griechischen Tragödie, als extremes und auch monströses Beispiel dafür, die Texte von Tragödien „wie als Trauerspieltexte“ zu lesen.20 Fragmentierung erweist sich damit als eine vor allem das Fortleben der antiken Tragödie betreffende Tendenz, die sich ebenso wie in Hölderlins Übersetzungen auch in der Aneignung der tragischen Form durch das barocke Trauerspiel vollzogen hat. Die Zertrümmerung des Werkes geht einher mit einem ‚Ruin im Sprechen‘, einem Verstummen, das aber zugleich eine neue Lesbarkeit eröffnet. Eben darin liegt die Bedeutung der Allegorie als einer mit dem Fragment eng verknüpften Form von Erfahrung im Prozess des Lesens. Wie Karlheinz Stierle es 18 W. Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in Benjamin 1980, I.1, 182. 19 W. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Benjamin 1980, IV.1, 21. Zu Benjamins Hölderlin-Deutung im Kontext seiner Übersetzungs- und Theatertheorie vgl. Primavesi 1998, 180-217. 20 W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Benjamin 1980, I.1, 364-365.
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Tragödie, Fragment und Theater im Begriff des „fragmentarisierenden Lesens“ gefasst hat, geht es mit dem Trauerspiel für Benjamin auch um die Lesbarkeit einer zerstörten, auf dem Schauplatz des Theaters in Bruchstücken verstreuten Welt: „Der Wahrheitsgehalt des Werks wird erst frei, wenn das Werk selbst stillgelegt ist und in Fragmente zerfällt.“21 Insofern entspricht die allegorische Zertrümmerung der – von Benjamin schon in seiner Arbeit über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik und im Essay über Goethes Wahlverwandtschaften entfalteten – Idee einer „Mortifikation“ der Werke zur Freisetzung ihres Wahrheitsgehalts. Zu fragen bleibt mit dieser Perspektive aber auch nach der Produktion von Tragödien-Fragmenten, die in sich den Gestus einer allegorischen Zertrümmerung des antiken Vorbilds und die Unterbrechung bzw. Aufspaltung des eigenen Sprechens verbinden mit dem Entwurf neuer Formen von Theater, die ihrerseits allegorisch erscheinen, in den Lücken und Rissen der Texte.
Krise und Fortschreibung der Tragödie im Fragment In den Fragmenten von Hölderlin, Kleist und Büchner, die jeweils als Fortschreibungen von Tragödie und Trauerspiel zu lesen sind, erscheinen keine tragischen Helden mehr, sondern das sich selbst in Frage stellende, diskursiv zersetzende Subjekt, als Motiv und Motor einer anderen Form theatralen Schreibens. Schon in Goethes so genanntem Urfaust agiert der Gelehrte mit den Motiven der Volkslegende zugleich die Krise des Schreibenden aus, der seiner Studierstube entfliehen will, sich dem Teufel blutig ver-schreibt. Brecht hat vor Müller wohl als erster die Produktivität der deutschsprachigen Dramenfragmente als Theatertexte erkannt und spricht in seinem kurzen Text Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt? von einer „eigentümlichen Gattung von Fragmenten, die nicht unvollkommen, sondern Meisterwerke sind, hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform“. Dementsprechend betont er an der frühen Faust-Fassung von 1776 gerade die „Lücken in der Handlung“, die bei einer Aufführung nicht etwa mit Texten aus Goethes späteren Faust-Texten gefüllt werden sollten, sondern allenfalls mit Passagen aus dem mittelalterlichen Faustbuch.22 Aus moderner Perspektive erscheint das Fragment als der produktivere Text:
21 Stierle 1984. 22 B. Brecht: Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt?, in: Brecht 1988, XXIV, 431-432.
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Patrick Primavesi Es ist dem Theater beim ‚Urfaust‘ leichter gemacht als beim fertigen Werk, der Einschüchterung durch die Klassizität sich zu erwehren und sich die Frische, den Entdeckersinn, die Lust am Neuen des erstaunlichen Textes anzueignen.23
So betonte Brecht 1953 anlässlich seiner und Egon Monks UrfaustInszenierung gegen die Einschüchterung durch Klassizität den Humor des Textes sowie die Abgründigkeit und Asozialität der Hauptfigur, deren Humanismus und „Vermenschlichung“ gerade aus der Zerstörung des Lebens von Gretchen hervorgehe. Im genaueren Vergleich der Textfassungen wird deutlich, mit welcher Gewalt und welchen Verlusten der spätere Goethe die Version des Urfausts bearbeitet hat.24 Dass Goethe aber 15 Jahre nach dieser frühen Version auch die abgeschwächte Druckfassung im Jahre 1790 als Ein Fragment betitelt hat, ist für die hier zu betrachtende Reihe exemplarischer Fragmente besonders aufschlussreich. Wird von daher doch absehbar, dass der mit der Frühen Fassung erfolgte Einsatz eines fragmentarischen, lückenhaften und sich vervielfältigenden Sprechens sich dem Werk irreduzibel eingeschrieben hat, als (Ab-) Grund seiner Klassizität. Die Einsatzpunkte dieses fragmentarischen Sprechens sind zum einen die noch vom Dialekt geprägten Wendungen, deren Rhythmus mitunter holpriger, dadurch aber vielfach interessanter erscheint als in den späteren Fassungen. Zum anderen gibt es Hinweise auf eine Grundschicht von obszönen und ‚ketzerischen‘ Reden und Szenen, die Goethe wohl schon seit der Frühen Fassung aus Rücksicht auf allgemeine Vorstellungen von Sittlichkeit unterdrückte (‚Anstandsstriche‘), während er mit den später hinzugefügten Monologen die Entwicklung philosophisch und zum Teil auch psychologisch zu motivieren versucht hat. Daran zeigen sich gegenläufige Momente der Fragmentierung: Das mit Brüchen entworfene, lückenhafte Fragment wird durch Zensur und redaktionelle Eingriffe zugleich abgerundet und auf andere Weise ‚abgebrochen‘, zertrümmert. Aus diesem Prozess resultiert die paradoxe Klassizität des Faust: Der Ablauf des noch im Sturm und Drang begonnenen Stückes ist so weitgehend von den im französischen Klassizismus zur Norm verabsolutierten Prinzipien der Einheit von Zeit, Ort und Handlung abgelöst, dass sich gerade in den Brüchen und Sprüngen zwischen den Szenen der auf neue Weise klassische Charakter des Werkes auszuprägen scheint: „Tatsächlich wirken die formsprengenden Kräfte, welche die alten Einheiten des dramatischen Kunst23 B. Brecht: Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt?, in: Brecht 1988, XXIV, 431-432. 24 Zu diesem Ergebnis kam auch Einar Schleef, als er bei seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Deutscher Monolog 1999 die Faust-Fassungen verglichen hat. Vgl. Schleef 1997.
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Tragödie, Fragment und Theater werks aufheben, dabei zugleich als formbildende Kräfte.“25 Trotz aller Bemühungen seines Autors und der Rezeptionsgeschichte ist der Faust aber insgesamt kaum als ein vollendetes Werk, eher als ein gigantisches Fragment anzusehen. Auch die späteren Versionen haben, bei allen Glättungen im Einzelnen, dieses Moment der Unabschließbarkeit beibehalten. So hat Goethe die Faust-Texte in einem Brief an Schiller 1797 als „eine große Schwammfamilie“ bezeichnet, die zu „männiglicher Verwunderung und Entsetzen“ dereinst aus der Erde wachsen solle.26 Neben den erhaltenen Stückfassungen dokumentieren die vielen Paralipomena einen Prozess der Wucherung, der Ausbreitung von Teilen – beinahe schon wie bei einem Rhizom, das keine Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenwurzeln kennt, an jeder beliebigen Stelle abgebrochen werden oder weiter wachsen kann.27 Zum Ausufern der Faust-Texte und zur Disparatheit besonders der einzelnen Akte des Zweiten Teils hat – neben anderen stofflichen, strukturellen und biographischen Gründen – wohl auch das komplexe Thema des Festes beigetragen, der um 1800 offenkundige Konflikt zwischen höfischer Repräsentation, bürgerlichem Alltagsleben und Selbstdarstellungsdrang und einer an den antiken Festen wie auch an Volksbräuchen orientierten Idee performativer Verausgabung.28 Die Auseinandersetzung mit dem Fest sprengt das Drama, indem der Konflikt zwischen Festkritik und Festutopien immer neue Schauplätze hervorbringt, epische Strukturen und Dimensionen eines universalen Romans annimmt. Und auch das Theater, in dem jedermann sich ein Fest erwartet, lässt vom ganzen Werk nicht viel übrig, wie Goethe es im Vorspiel reflektiert hat: Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! […] Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht, / Das Publikum wird es euch doch zerpflücken.29
Die Tragödie als Gattung, Formprinzip und theatrales Modell erfährt eine Spaltung, die von der Rezeptionsgeschichte mit den gängigen Kategorien Gelehrten- und Gretchentragödie eher oberflächlich schematisiert wurde. Deutlicher wird die wohl durchaus programmatisch zu nennende Brüchigkeit der Konstruktion, wenn im dritten Akt des Zweiten Teils das (schon in der Volkslegende angelegte) Helena-Geschehen schließlich als eine ‚antike Tragödie‘ ins Gesamtwerk einwandert und wie bei einem Maskenzug allegorisch 25 A. Schöne: Kommentar zum Faust, in: Goethe 1994, VII.2, 51. 26 J. W. Goethe: Brief an Schiller 1.7.1797, in: Goethe 1994, VII.2, 84; zur Entstehung: 66–87. 27 Zu Rhizom und Fragment vgl. Deleuze/Guattari 1992, 16-20. 28 Primavesi 2008. 29 J. W. Goethe: Vorspiel auf dem Theater, in: Goethe 1994, VII.1, 17.
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Patrick Primavesi vorgeführt wird. Darüber hinaus unterstreicht die alle Teile durchziehende Verkettung von Drogen, Rausch, erotischem Begehren und Gewalt, dass Goethe im Faust ein Theater entworfen hat, in dem das Fest als Verausgabung und als elementare Krise von Gemeinschaft erscheint. Damit kommen auch die Paradoxien der bürgerlichen Repräsentationskultur zum Austrag. Von seiner Darstellung des krisenhaften, scheiternden Festes her reflektiert sich die bürgerliche Vereinnahmung der antiken Tragödie – wie schon das barocke Trauerspiel – als allegorische Zertrümmerung. Auch Hölderlins fragmentarisches Trauerspiel Tod des Empedokles führt über das Motiv der Gelehrtentragödie hinaus auf das Problem religiöser und politischer Gemeinschaft, in einer Krise des Festes und im Aufschub des Opfers. Das Projekt reicht zurück auf die 1794 formulierte Idee, „den Tod des Sokrates, nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten“.30 Eine doppelte Hypothek – steht Sokrates doch, wie Nietzsche betont hat, gerade für den Niedergang der Tragödie durch zersetzende Reflexion und, Benjamin zufolge, für das Entspringen des Märtyrerdramas aus dem Platonischen Dialog – Tendenzen, die bereits an den vielen Sokratesdramen des 18. Jahrhunderts abzulesen sind.31 Die Orientierung an Sokrates hat Hölderlins Arbeit determiniert als Grenzgang, der mit dem klassizistischen Programm einer Nachahmung der Tragödie kaum mehr zu vereinbaren war, eher zu einer produktiven Neuformulierung geführt hat (ähnlich wie die Anmerkungen zu den Sophokles-Übersetzungen). In der Rezeption der Empedokles-Fragmente wurde oft unter Voraussetzung vermeintlich absoluter Gattungsgesetze das Scheitern des Versuchs zur Tragödie konstatiert und einer ‚fehlerhaften‘ Konzeption oder biographischen Befunden angelastet. Der in den Texten angelegte Theaterentwurf wurde jedoch kaum wahrgenommen. Besonders die durchgängige Reflexion von Opfer und Fest eröffnet den Ansatz einer auf Illusionswirkungen verzichtenden, eher epischen als dramatischen Form von Theater. Der Tradition des barocken Trauerspiels entspricht es, dass Empedokles in zunehmendem Maße janusköpfig erscheint, aufgespalten und buchstäblich fragmentiert zwischen Tyrann, Märtyrer und Sündenbock. Ebenso auffällig ist jedoch, dass sich die Bedeutung des Festes ständig verkehrt: Empedokles wird durch das Volk erst vergöttert, dann verbannt, und schließlich bemühen sich die Agrigentiner erneut um seine Gunst, wollen ihn sogar zu ihrem König machen, was er aber
30 Vgl. Hölderlin 1986, XII, 8. 31 Vgl. Nietzsche 1980, 88-91; Primavesi 1998, 270-281; Birkenhauer 1996, 34-42.
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Tragödie, Fragment und Theater kategorisch zurückweist: „Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr“, sagt Empedokles in der ersten szenischen Fassung des Stoffes, dem Ersten Entwurf von 1798. Als Anklagepunkt gegen ihn, der von Anfang als ein Sonderling erschien, der die Feste der Gemeinschaft meidet, formuliert der Priester Hermokrates gerade die ausschweifende Trunkenheit des Volkes, die er mit seinen Reden angestiftet haben soll: „die Gebräuche sind / Von unverständlichem Gebrause, gleich/ den friedlichen Gestaden, überschwemmt, / Ein Fest für alle Feste und der Götter / Bescheidne Feiertage haben sich / In Eins verloren.“32 Wie sich damit abzeichnet, geht es auch mit der unterbrochenen Darstellung des Empedokles um die Idee eines anderen Festes und zugleich eines anderen Theaters. Ein Theater jenseits der Tragödie – keine affirmative Ästhetisierung des Selbstopfers, wie das Drama oft gelesen und inszeniert wurde, sondern seine Infragestellung. Im Vergleich der Fassungen zeigt sich, dass der Schreibprozess mit den versprochenen Festen das zu ihrer Voraussetzung erklärte Opfer bis zuletzt aufgeschoben, der Darstellung entzogen hat.33 Indem Hölderlins Empedokles-Fragmente aber dieses Opfer und zugleich das vollendete Werk vorenthalten, überantworten sie die Idee des Festes und der Gemeinschaft einem Theater, das erst noch zu kommen hätte – jenseits der Formen und Institutionen des bürgerlichen Dramas. Der Eindruck, dass in den Tragödien-Fragmenten um 1800 der Schreibprozess sich selbst darzustellen anfängt, bestätigt sich auch an Kleists Fragment Robert Guiskard, Herzog der Normänner. Diesen Versuch zu einer absoluten Tragödie, in dem immerhin Christoph Martin Wieland „die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespear“ vereinigt sah, hat Kleist mehrfach neu begonnen und wieder vernichtet, bis zuletzt nur ein 1808 im Phöbus-Journal abgedrucktes Fragment von den ersten zehn Auftritten übrig blieb.34 Die Hauptfigur ist ein pestkranker Herrscher, der seine Schwäche geheim zu halten versucht, dann aber, kurz vor der entscheidenden Schlacht um eine belagerte Stadt zusammenbricht. Die Atmosphäre der erhaltenen Szenen ist geprägt von einem Zustand des Wartens, der Lethargie, die auch die Soldaten erfasst und demoralisiert hat. Naheliegend ist die Feststellung, dass sich in diesem Stoff, den Kleist für ähnlich ungeheuer wie den seiner Tragödie Penthesilea hielt, seine eigene Schreibkrise niedergeschlagen hat. Ebenso, wie er schließlich den Heerführer durch einen Greis mahnen lässt, das 32 F. Hölderlin: Empedokles (Erster Entwurf), in: Hölderlin 1986, XII, 184-185. 33 Siehe dazu ausführlicher Primavesi 2008, 450-456. Zum Aufschub des Opfers vgl. auch Peters/Schäfer 1996. 34 Wieland 1991, 665, mit weiteren Hinweisen zur Entstehungs- und Zerstörungsgeschichte der Guiskard-Tragödie.
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Patrick Primavesi Unternehmen des Kreuzzugs abzubrechen, schilderte er die Vernichtung seines Manuskripts als einen vom Schicksal erzwungenen Rückzug von der für ihn selbst zu schweren „Jahrtausend“-Aufgabe dieses Fragments.35 Durch das Pathos dieses wiederum verdoppelten Scheiterns wird aber noch etwas anderes sichtbar – eine tief greifende Krise, welche die Idee politischer Gemeinschaft gerade auf der Ebene einer Repräsentation betrifft, die mit Symbolen des heroischen Kampfes für Nation, Kultur und Glauben arbeitet. Das Fragment bricht in dem Moment ab, wo der Greis Armin als Sprecher des Volks seinen Herrscher Guiskard davon überzeugen will, dass das Volk selber von der Pest „vergiftet, keiner Taten mehr fähig“ sei und nur noch auf den Rückzug wartet.36 Mit diesem offenen Ende erscheint Kleists Fragment als Fortschreibung von Sophokles’ König Ödipus, als ein Kommentar zur Tradition des tragischen Helden und als moderne Wiederaufnahme der Tragödie im Prozess einer kollektiven Krise. An diesem Punkt hätte aber auch eine szenische Praxis anzusetzen, die mit dem Pathos des individuellen Scheiterns zugleich die Krise der Gemeinschaft reflektiert, mit der Fragmentierung der Schreibarbeit die Zertrümmerung der Ideologien, und mit der Verweigerung des Werkes eine Veränderung der Darstellungsund Wahrnehmungsverhältnisse im Theater.
Zerschmeiß en und Auslegen des Textes als Performance Was die Verknüpfung zwischen dem Schreibprozess, einer Verwerfung der poetologischen Konventionen und der Krise der jeweiligen Hauptfigur in den bisher betrachteten Texten am deutlichsten unterstreicht, ist ihre eigenartige, verrückte Zeitlichkeit, bei Empedokles und Guiskard das Moment des Aufschubs, des Wartens und der Wiederholung, im Fall von Goethes Faust und auch bei Büchners Woyzeck das Moment einer extremen Beschleunigung. Heiner Müller spricht hier (im Vergleich mit Samuel Becketts Warten auf Godot) von einem „schnellen Gewitter, das mit der Geschwindigkeit einer anderen Zeit kommt“.37 Das Motiv des gehetzten und unglücklichen Subjekts, dessen Liebesbeziehung in Verbrechen und Mord endet, erscheint in beiden Stücken symptomatisch für Entfremdung, Asozialität und auch Zerstörungslust als den Abgründen moderner Subjektivität. Doch während sich in den Faust-Texten der
35 H. v. Kleist: Brief an die Schwester Ulrike (5.10.1803), in: Kleist 1988, I, 670. 36 H. v. Kleist: Robert Guiskard (Phöbus-Fragment), in: Kleist 1988, I, 254. 37 Müller 1989, 115.
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Tragödie, Fragment und Theater Gelehrte mit Hilfe des Teufels über das gemeine Leben zu erheben vermag, geht es im Woyzeck gerade um das alltägliche „Leben des Geringsten“. Neben Prozessakten über den Mörder Johann Christian Woyzeck und ähnliche Fälle von verarmten und verzweifelten, mitunter für unzurechnungsfähig erklärten Tätern benutzte Büchner zahlreiche literarische Quellen, u. a. Elemente aus Faust (den Namen ‚Magreth‘ oder ‚Magretchen‘ in der ersten Handschrift sowie die Szene mit dem fremden Schmuck) und viele Volkslieder, aber auch philosophische Abhandlungen über Moral und Materialismus. Mit dieser für Büchners Arbeitsweise typischen Heterogenität der Quellen hat es zu tun, dass die Sprache dieses Fragments schon im einzelnen Satz zu zerfallen scheint, sei es in abgehackte Wendungen von Dialekt, sei es in Bruchstücke gelehrter Diskurse. Der erste Herausgeber des Textes, Emil Franzos, verweist bereits darauf, dass das Stück „leider in doppelter Beziehung Fragment geblieben [sei]: es fehlen nicht bloß viele nothwendige Scenen, sondern auch die vorhandenen Scenen sind, wohl nicht alle, aber zum größten Theil, nur Skizzen, die der Dichter erst später auszuführen gedachte.“38 Wie Franzos dann durch massive Eingriffe in die Sprache das Skizzenhafte korrigiert und den Text für lange Zeit entstellt hat, so war auch die Anlage der Szenen in diesem Fall Objekt immer neuer (Re-) Konstruktionsversuche.39 Mehr noch als im Urfaust ist bei den verschiedenen Fassungen des Woyzeck-Fragments mit der Reihenfolge der Szenen auch der Verlauf der Handlung ungewiss. So stehen die erhaltenen Texte und Anordnungsvarianten oft gleichrangig nebeneinander. Darin ist aber nicht nur das Ausbleiben einer ordnenden letzten Hand des Autors zu sehen – erschließt doch gerade die Verweigerung der aristotelischen Logik, wonach ein Drama einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss, im Woyzeck-Fragment eine veränderte, postdramatische Dramaturgie, die durchaus als rhizomatisch zu bezeichnen wäre. Tatsächlich vollzieht sich im Woyzeck, krasser noch als in Kleists Guiskard, nicht nur die Abkehr vom Paradigma der Tragödie und des pathetisch-erhaben leidenden Helden. Darüber hinaus gibt es bereits die Tendenz zu einer radikalen Zerstreuung des Textmaterials, die auch andere Formen der Inszenierung bzw. der szenischen Situationen verlangt, eine Praxis der Aus-Legung vor und mit Zuschauern. Womöglich könnte eine solche Praxis dazu 38 Emil Franzos, zitiert nach Büchner 1992, 711-712. 39 Siehe dazu Poschmann, der seine „kombinierte Werkfassung“ in einer endlich zuverlässigen „Textproduktion und Integration“ der „ausgearbeiteten Bestandteile eines vollständigen Dramas“ zu begründen sucht und damit auch das Fragmentarische der Texte weitgehend negieren möchte: „Der Fragmentstatus des Werks hält sich in bestimmteren Grenzen als bislang noch vermutet“ (in: Büchner 1992, 675-714, hier: 694).
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Patrick Primavesi beitragen, dass dieser nicht nur von Herausgebern und Interpreten, sondern auch „vielmal vom Theater geschundene Text“ nicht zum Klassiker erstarrt, sondern eine „offene Wunde“ bleibt.40 Zu erwähnen bleibt nicht zuletzt Brechts Fatzer, von dem aus die kursorisch betrachtete Reihe von Fragmenten als Theatertexten allererst lesbar wird, durch einen bestimmten, seine Destruktivität offen bekennenden Gestus des „Stückeschreibers“, wie Brecht sich gerne nannte: „Das ganze Stück, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen für Experiment ohne Realität! Zur Selbstverständigung.“41 Zerschmeißen und Selbstverständigung sind aber nicht nur als eine individuelle Reflexionsleistung, sondern als öffentliches Experiment zu verstehen. Das verdeutlicht noch ein weiterer Satz, den Brecht zum Fatzer-Material im Kontext seiner Arbeit an einem Theater der Lehrstücke formuliert hat: „Ich, der Schreibende, muss nichts fertig machen. Es genügt, dass ich mich unterrichte. Ich leite lediglich die Untersuchung und meine Methode dabei ist es, die der Zuschauer untersuchen kann.“42 Der ‚Stückeschreiber‘ leitet die Untersuchung, die der Zuschauer selbst anstellen soll im Hinblick auf die Methode – sowohl des Selbstunterrichts als auch der Untersuchungsleitung, des Experiments. So hätte der Leser als Zuschauer dieser Szene des Fragmentarischen vor allem die SelbstDestruktion von Werk und Autor zu untersuchen, d. h. den Rückzug des Stückeschreibers von seinem Posten. Nicht von ungefähr war der Vorwurf des Fragments, die Desertion des Fatzer aus dem Ersten Weltkrieg und zugleich seine Untreue gegenüber den Kameraden und der erhofften Revolution. So wie in den Fabel- und Szenenentwürfen der Untergang des Egoisten immer weiter aufgeschoben und dann mit dem Scheitern der Revolution zusammenfällt, hat Brecht gerade die Krise seines Schreibprozesses hier zur theatralen und öffentlichen Angelegenheit erklärt – im Unterschied zum pathetischen Scheitern das Zerschmeißen, die Idee einer den Schreibakt durchstreichenden und auf paradoxe Weise fortsetzenden Performance. Was im Fatzer-Material einen Endpunkt der Geschichte des Dramas markiert, ist nicht nur das Ausufern der Fabelentwürfe, sondern auch der Einbruch der Theorie ins Spiel, eine mit den Szenen eng verknüpfte Ebene der Reflexion. So sind die Fatzer-Texte zusammengesetzt aus Dokument und Kommentar, zwei verschiedenen Sprachen und Schreibweisen, die einander durchaus in Frage stellen können, vor allem aber die Praxis der Vorschrift und Auslegung an das Kollektiv eines möglichen
40 Vgl. Müller 1989, 115. 41 B. Brecht: Fatzer, in: Brecht 1988, X, 514. 42 B. Brecht: Fatzer, in: Brecht 1988, X, 1120.
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Tragödie, Fragment und Theater Theaterprozesses verweisen.43 Damit entziehen die Strategien des fragmentarischen Schreibens einer (post-)modernen Verklärung von Fragment und Scheitern die Grundlage. Fragmente markieren weiterhin einen Entzug, der sowohl das Subjekt betrifft als auch die Gemeinschaft, die mit einer utopischen Formel von Nancy als „entwerkte“ (désœuvrée) zu begreifen wäre.44 Gerade mit Blick auf Fatzer ist das Paradigma des Fragments als eines abgebrochenen Teils oder verstümmelten Körpers aber zu erweitern auf das Rhizom, ein enthierarchisiertes Wuchern neu kombinierbarer Textteile. Ähnlich wie Goethe seine Faust-Texte ganz unpathetisch als „eine große Schwammfamilie“ bezeichnet hat, könnte das Rhizom für ein unendliches Schreiben stehen, an dem die Texte quer zu ihrer Rezeptionsgeschichte weiter arbeiten. Das Potential der um 1800 entstandenen Tragödien-Fragmente liegt also in ihrem Widerstand zugleich gegen das abgeschlossene Werk und gegen die Funktionslogik eines dem bürgerlichen Repräsentationsbedürfnis angepassten Dramas. Als Theatertexte bleiben diese Fragmente weiterhin zu entdecken.
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43 Siehe dazu vor allem Wilke 1998. 44 Vgl. Nancy 1990.
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Patrick Primavesi Goethe 1985, J. W.: Sämtliche Werke, Frankfurt a. M. 1985. Hölderlin 1986, F.: Kritische Textausgabe, hrsg. von D. E. Sattler, Darmstadt 1986. Hölderlin 1994, F.: Hyperion, in: F. Hölderlin, Sämtliche Werke, 2, hrsg. von J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1994. Kleist 1988, H.: Sämtliche Werke, hrsg. von R. Reuss und P. Staengele, Basel 1988. Lehmann 1991, H.-T.: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. Müller 1986, H.: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt a. M. 1986. Müller 1989, H.: „Die Wunde Woyzeck“, in: F. Hörnigk (Hrsg.), Heiner Müller Material, Leipzig 1989, 115. Nancy 1990, J.-L.: La communauté désœuvrée, Paris 1990. Nancy 1994, J.-L.: „Die Kunst – Ein Fragment“, in: J.-P. Dubost (Hrsg.), Bildstörung, Leipzig 1994, 170-184. Nietzsche 1980, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, in: F. Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe, 1, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München 1980, 9-156. Peters/Schäfer 1996, S./M. J.: „Selbstopfer und Repräsentation. Der Tod des Empedokles und der Tod des Empedokles“, Hölderlin-Jahrbuch 30, 1996–1997, 282–307. Primavesi 1998, P.: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Frankfurt a. M. 1998. Primavesi 2006, P.: „Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater“, in: B. Seidensticker und M. Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin 2006, 185-219. Primavesi 2008, P.: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt a. M. 2008. Reinsberg 2006, C. (Hrsg.): Antike à la carte. Meisterwerke des Klassizismus aus Neapel, Saarbrücken 2006. Schleef 1997, E.: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997. Schulze 1990, S.: Das Fragment – Der Körper in Stücken, Frankfurt a. M. 1990. Steiner 1984, G.: „Das totale Fragment“, in: Dällenbach/Hart Nibbrig 1984, 20. Stierle 1984, K.: „Walter Benjamin: Der innehaltende Leser“, in: Dällenbach/Hart Nibbrig 1984, 337-349. Szondi 1963, P.: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a. M. 1963. Szondi 1964, P.: Versuch über das Tragische, Frankfurt a. M. 1964. Wieland 1991, C. M.: Brief an den Arzt Wedekind (10.4.1804), in: H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, I, hrsg. von I.-M. Barth, Frankfurt a. M. 1991, 665. Wilke 1998, J.: Brechts ‚Fatzer‘-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld 1998.
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Tragödie und Performance. Skizzen aus einem work in progress HANS-THIES LEHMANN1 Mein Titel spannt zwei Phänomene zusammen, die bisher nicht wirklich in ihrem Zusammenhang diskutiert, vielleicht auch nicht gesehen wurden. Auf der einen Seite das Stichwort ‚Tragödie‘, das sich heute umstandslos mit der Frage verbindet, ob es sie überhaupt noch gibt. Von George Steiner und Bert Brecht bis Adorno oder Dürrenmatt reicht die lange Liste der Künstler und Theoretiker, die einen „Tod der Tragödie“ diagnostizieren, Tragödie für ein nicht wünschenswertes oder einfach künstlerisch unmöglich gewordenes Genre halten. Mein Titel impliziert, dass ich diese These nicht vertrete, sondern einen – freilich radikalen – Wandel der Formen annehme, in denen sich weiterhin etwas artikuliert, was ich ‚tragische Erfahrung‘ oder ‚Erfahrung des Tragischen‘ nenne. Das heißt, es gibt bestimmte Erfahrungen, die sich über Jahrhunderte in Europa die Form der Tragödie gesucht haben, zunächst die in vieler Hinsicht noch nicht wirklich dramatische Tragödie der Antike, sodann seit der Renaissance die eigentlich dramatische Gestalt der Tragödie. Und diese sind keineswegs untergegangen, sondern haben sich in ihren Darstellungsformen tiefgreifend modifiziert und suchen auch in der Gegenwart ihre Artikulation. Damit ist nicht etwa einer anthropologischen Konstante das Wort geredet, nicht die These vertreten, das Tragische oder gar die Tragödie müssten etwa ‚ewig‘ bestehen. Allein schon der Hinweis darauf, dass das Tragische im spezifischen Sinne des Worts, dass Tragödie als eine Theaterform, in der eine gewisse, nämlich dialektische Art drohender oder eintretender Vernichtung (Peter Szondi) Darstellung findet, in anderen Theaterkulturen außerhalb Europas 1
Dieser Beitrag wurden im Rahmen der Pro*Doc-Ringvorlesung „Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz II“ am 13.10.2008 als Vortrag mit dem Titel „Tragödie und intermediale Performance heute“ gehalten. Der Vortragsstil wurde beibehalten, dementsprechend wird hier auf bibliographierte Fußnoten sowie ein Literaturverzeichnis verzichtet.
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Hans-Thies Lehmann gar nicht vorzufinden ist, würde ausreichen, um die Behauptung einer überzeitlichen anthropologischen Konstante zurückzuweisen. Ich werde jedoch zu erläutern versuchen, wie jedenfalls in der europäischen Traditionslinie etwas wie tragische Erfahrung auch heute gedacht werden kann. Und auf der anderen Seite nennt der Titel den Begriff der ‚Performance‘, der im Zeitalter von Performance Studies buchstäblich uferlos geworden ist und von Kochen, Heilpraktiken, Sport, PopEntertainment aller Art über Fernsehen und Film als „mediated performance“ bis hin zu Theater und Performance Art im engeren Sinn schier alles umfassen kann. Mit der Wahl dieses Titel-Worts ist die zweite implizite These gegeben, die ich ebenfalls mit diesem Text reflektieren möchte, die These nämlich, dass es besondere künstlerische Formen der Darstellung sind (und sogar das Adjektiv ‚künstlerisch‘ steht dabei in Frage), in denen Tragödie gleichsam ihr Erbe hat, solche Formen nämlich, die sich zwar nicht nur, aber sehr oft abseits der etablierten Formen des Theaters finden, das lange der privilegierte, wenn nicht der einzige ausgezeichnete Ort gewesen ist, wo das Tragische sich in Gestalt eines dramatisch artikulierten Konflikts artikuliert hat. Die Wortvorstellungen Tragödie und Performance zusammenzuführen überquert geläufige Demarkationslinien zwischen Forschungsrichtungen, Interessenfeldern und Institutionen. Richard Schechner hat schon 1992 in Atlanta erklärt, Theater im tradierten Sinne als „staging of written drama“ würde etwas wie das Streichquartett des 21. Jahrhunderts werden, eine von vielen geliebte, aber doch höchst begrenzte und etwas abseitige Spezies, eine „subdivision of performance“. Und er verlangte, aus Instituten für ‚theatre studies‘ (wie es sie überall gibt, etwa als ‚études théâtrales‘ in Frankreich, bei uns unter dem etwas schwer lastenden Namen ‚Theaterwissenschaft‘) müssten überall Institute für ‚Performance Studies‘ werden. Bis heute werden immer wieder territoriale Stellungskämpfe zwischen Performance Studies und Theaterwissenschaft ausgetragen. Die Produktivität des Ansatzes des „breiten Spektrums“, so Schechner, Performance weiter zu fassen, also Kochen, Heilen, Alltagsverhalten, Rituale, Demonstrationen usw. und so eben auch Theater als Subgenres von Performance aufzufassen, scheint mir unbestreitbar. Andererseits droht sich diese Weitung des Blicks gelegentlich wieder in neuen Grabenkämpfen zu fixieren. Ein Begriff wie „postdramatisches Theater“ kann in diesem Zusammenhang schon der Rückständigkeit geziehen und als Versuch gedeutet werden, das überholte Paradigma Theater zu verteidigen und die institutionelle Entfaltung der Performance Studies zu behindern.
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Tragödie und Performance Die Performance stellt im Blick der Performance Studies das eigentliche neue Paradigma dar, das vom Theater abzugrenzen ist. Ich hatte en passant zitiert, dass Schechner Theater als die Aufführung eines geschriebenen Dramas definiert. Hier liegt freilich das Problem einer einseitigen Bestimmung dessen was Theater ist, deutlich zutage – ein Begriff wie ‚postdramatisches Theater‘ sucht diese problematische Einengung gerade zu umgehen. Damit ist ein zweiter Graben angesprochen, den mein Titel überquert. Leicht wird die Opposition von Theater und Performance mit derjenigen von Text und Performance einfach überblendet. Tatsächlich kann man sich Tragödie ohne Text nicht oder doch nur schwer vorstellen. Der Name Tragödie bezeichnet ein Genre oder ein Feld, eine Sippe von familienverwandten Genres von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, die offenkundig Theater auch in dem geläufigen Sinne sind, dass sie von Text und Sprache kaum getrennt gedacht werden können – auch wenn man legitimerweise die Frage nach dem Tragischen in Gemälden stellen kann. Tragödie ist als Pantomime kaum denkbar, auch nicht als reiner Tanz, sofern sie nämlich nicht einfach ein (zur Not mit ganz unterschiedlichen Mitteln) darstellbares Unglück betrifft, sondern stets eine komplexe mentale Verarbeitung der unglücklichen Vorgänge, eine Verarbeitung, die das sprechende Subjekt impliziert, gerade weil das, was tragische Erfahrung ausmacht, eine Grenze des Darstellbaren berührt. Die Tragödie bedarf der Sprache gerade wenn und weil es in ihr darum geht, einen Vorgang darzustellen, den die Sprache im Grunde nicht erreicht. Tragisch ist ein Vorgang, der soviel vom Paradoxen enthält, dass er den Sinn brechen lässt, das schwere Leid exponiert, ‚namenlosen Schmerz‘, wie wir nicht ohne Grund sagen. Und eben dies führt die Sprache in der Tat an ihre Grenze. So ist es denn kein Zufall, dass die antike Tragödie konstitutiv durch mousike bestimmt war, durch Gesang und die Pathos-Gesten des Chors, durch Tanz, Melodie und mindestens starke Anklänge an das Ritual, den rituellem Rhythmus. Sie war nicht in Sprache allein zu artikulieren. Aber gerade weil die tragische Erfahrung nur theatralisch im umfassenden Sinn des Worts artikuliert werden konnte, so war sie zwar Sprache: dialogische, chorische und monologische Rede, musste jedoch, das zeigt ihre Verfassung als Gesamtkunstwerk auch etwas sein, das Sprache über sich hinausführte. Schließlich konzentriere ich mich auf Performance sofern sie in einem bestimmten Sinne multimedial ist. Man muss nicht eigens daran erinnern, dass Theater als solches immer schon multimedial par excellence war. Die sehr begrenzte Entwicklung des bürgerlichen Sprech- und Literaturtheaters im 18. und 19. Jahrhundert in Europa täuscht leicht darüber hinweg, dass in seinen Anfängen das europäische Theater (ebenso wie es in anderen Theaterkulturen der
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Hans-Thies Lehmann Fall ist und in der Gegenwart zunehmend auch wieder wird) Gesang, Tanz, Klang und Stimme, Raum und Environment, Landschaft, Lyrik und Prosarede, Chor und Sprecher bzw. Sänger zusammenbrachte. Heute nimmt freilich diese Multimedialität von Performance einen spezifischen neuen Charakter an. Dies ist der dritte Punkt, den ich hier anschneiden werde. Ich beginne damit, dass ich ein dieser Tage selbst schon fast historisches, aber keineswegs veraltetes Beispiel näher betrachte, die französische Performance-Künstlerin, die sich 1971 den Künstlernamen Orlan zulegte. Was sie in der Öffentlichkeit berühmt und skandalös werden ließ, ist eine Kunstpraxis, bei der jedermann ins Grübeln geraten muss, ob es sich hier eigentlich um Kunst handelt und die doch zugleich eine so hochgradige Beunruhigung und heftige Reaktionen auslöst und zudem so eng an Traditionen der Künste und an die existierenden Institutionen von Kunst gebunden ist, dass man es schlecht anders denn als Kunst charakterisieren könnte. Mit größerem Recht wäre zu bezweifeln, ob man sie im Rahmen des Theater- und Performance-Bereichs diskutieren soll, so eng ist ihre Arbeit mit Strömungen und Geschichte der bildenden Künste, zumal der Tradition des Selbstporträts verknüpft. Orlan, Jahrgang 1947, erregte Aufsehen durch eine Serie von neun Performances, die aus operativen kosmetischen Eingriffen, aus ‚Schönheitsoperationen‘, wenn das Wort hier nicht absurd wäre, bestanden, die sie an ihrem eigenen Gesicht vollziehen, über sich ergehen ließ. Sie begann als Photographin, Videokünstlerin und Bildhauerin, realisierte Installationen und Performances, kam zuerst 1977 durch ihr Werk Le baiser de l’artiste zu skandalöser Berühmtheit und entwickelte ihre ‚Art charnel‘, Körperfleischkunst, die sie in einem Manifest begründete, und vor allem in dieser Serie von Operationen zwischen 1990 und 1993 realisierte. Sie organisierte, so kann man auch sagen, in einer Radikalität, die den Gedanken an schweren Masochismus aufkommen lässt, eine kalkulierte Aggression gegen ihr eigenes Gesicht, eine Aggression, bei der es jedem Zeugen schwer fallen musste, sich nicht selbst dabei verletzt zu fühlen. Wie wurde man Zeuge dieser Operationen? Sie wurden auf Video und in Fotoserien detailliert verbreitet. Es handelt sich damit um eine multimediale und eine zwischen Kunstformen und unterschiedlichen Praktiken angesiedelte Praxis, und zwar zunächst dadurch, dass die Operationen im Krankenhaus wie in einem Filmatelier inszeniert und auf Video festgehalten wurden. Da Orlan lediglich örtliche Betäubung anwenden ließ, blieb ihre mentale Präsenz erhalten. Sie fungierte also nicht nur als die Hauptdarstellerin, sondern zugleich auch als die Regisseurin des Vorgangs, las aus
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Tragödie und Performance Texten vor, kommentierte, beobachtete, gab Anweisungen. Die Operation wurde zur Aufführung in ihrer Regie, war jedoch zugleich auch eine Performance und ein Filmdokument, und endlich Medienkunst, sofern die Videofilme zum Teil in der ganzen Welt in Galerien und Museen übertragen und dort mit vollzogen werden konnten. Der Titel der Operation von 1993 lautete in diesem Sinne Omniprésence, Allgegenwart. Sie wurde live in 15 Galerien in verschiedenen Ländern übertragen, Zuschauer konnten Orlan während der Performance selbst Fragen stellen. Der eine und unverwechselbare Ort der Performance war also hier nicht gegeben. Die Aufführung der Sache umspannte neben dem Operationsraum, wo das Ereignis der Operation in actu stattfand, als Medienereignis virtuell die ganze Welt, den medialen und abstrakten Raum der elektronischen Datenübermittlung mit Hilfe der Übertragungssatelliten, die Kunstgalerien, die Theatralität der Versammlung darin. Außerdem war die Arbeit als photographische und dokumentarische Produktionsweise zu lesen, sofern sie durch Fotos, erläuternde Texte in Ausstellungen vermittelt und verbreitet wurde. Hinzukommt, dass Teile ihres Körpers, Haut, Gewebe, das bei den Operationen sozusagen abfiel, wie Reliquien auf dem Kunstmarkt angeboten wurden. Darüber hinaus steht diese Kunst, die zugleich multimedial und Performance ist – aber nicht nur ästhetische, sondern auch medizinische Real-Performance am eigenen Leib – in weiteren Horizonten der damals spürbaren Bewegung der Body Art im Allgemeinen, aber auch der Malerei. Denn Orlan hat ihre Arbeit immer wieder ausdrücklich in die Tradition des Selbstporträts gestellt, also einer Gattung der Malerei, die seit der Renaissance in ganz exquisiter Weise Fragen des Selbst, des Selbst-Bilds, der Selbst-Reflexion, der Erscheinung des Inneren im Äußeren und nicht zuletzt dem Thema souveräner Künstler- und Autorschaft gewidmet war. In diesen Zusammenhang betonte sie auch, dass die Schönheitsoperationen in direktem Zusammenhang mit Schönheitsidealen der Kunsttradition standen, Stirn, Nase, Augenbrauen, Wangen, Kinn der Nofretete, der Mona Lisa, der Diana usw. buchstäblich als Vorbild der chirurgischen Eingriffe dienten. Der Charakter des Vorgangs als ästhetisch vermeinte, als künstlerische Performance wurde dadurch hervorgehoben, dass die Operationen thematisch orientiert waren, Titel erhielten, Orlan selbst dabei aus theoretischen und literarischen Texten vorlas und alle Teilnehmenden in Kostümen agierten, die von bekannten Modedesignern entworfen worden waren (u. a. Issey Miyake oder Paco Rabanne); manchmal gab es Tänzer. Wie bei Andy Warhol wird die bewusste Auf- und Annahme der medialen Verbreitung, der Status des Künstlers als umstrittener Star, der Geschäftscharakter des Kunstmarkts ohne Vorbehalt aufgenommen und ausgestellt – und
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Hans-Thies Lehmann dies ist nur die erste der zahlreichen Ambiguitäten, die diese Arbeit beinhaltet. Nur wenige konnten naturgemäß die Operationen/Performances live in dem Sinne erleben, dass man dabei war, viele immerhin waren Zeuge der Video-Übertragungen, für die allermeisten aber existiert die Arbeit im Medium photographischer Dokumente und sprachlicher Berichte. Die Performance ist in diesem Sinne multimedial, und diese Tatsache ist hier nicht allein und nicht mehr einfach ästhetisch zu interpretieren. Multimedial war Theater, wie gesagt, schon immer. Hier geht es aber um das Ausspielen verschiedener Ebenen von Zeugenschaft, die erst insgesamt das herstellen, was Orlan mit ihrer Arbeit, ihrer Kunst, beabsichtigt: Öffentlichkeit. Die Performance wird selbst zu einem Medium der öffentlichen Debatte und Provokation, in der, darauf kommt es am Ende allein an, Grundfragen des Menschseins, der Gesellschaft, der Moral, des Ethischen eng geführt werden. Dieser medialen Öffentlichkeit, die sehr umspannend sein kann, dient sogar das Sensationelle des Projekts. Auch der Markt muss einer Kunst, die sich gegen den Markt der Bilder wehrt, zum Besten dienen. Zur Öffentlichkeit tragen daher noch der Zweifel und die Debatte um die Kunst darin bei. Aber in spezifischer Weise gewinnt eine solche Praxis gerade durch ihr Problematischwerden als rein künstlerisches Theater- oder Performanceereignis jenen Raum der Öffentlichkeit zurück, den einst das Theater in der athenischen Polis beanspruchen konnte, von dem noch bis ins 18. Jahrhundert die Rede sein kann und den seit langem das bürgerliche ‚Kunsttheater‘ nur noch scheinhaft behauptet. Die mehr oder weniger ‚im Rahmen‘, im Bühnenrahmen, bleibende Praxis einer traditionellen Theateraufführung ist gegenüber diesen neuen Formen einer Performance-Praxis ersichtlich im Hintertreffen, was die Konstituierung eines öffentlichen Raums angeht. Übrigens gehört zu dieser neuen Medialität interessanterweise auch das uralte Medium des einfachen Erzählens. Ich habe immer wieder die Beobachtung gemacht, dass allein schon das Berichten, das Erzählen über die Praxis Orlans bei vielen Zuhörern ein Gefühl des Unbehagens, ja der Unheimlichkeit auslöst. Tatsächlich gehört jedenfalls zu der besonderen Theatralität Orlans nicht notwendigerweise die Live-Erfahrung. Denn es geht gar nicht in erster Linie um das nur im Aktuellen sich Realisierende, sagen wir: um den Stress und Schock, der uns überkommt, wenn wir etwa genau mitansehen, wie in einem Gesicht ein ganzer Teil der Haut um das Ohr herum wie ein Lappen hochgeklappt wird, Blut fließt, der Blick in das sonst von der Haut verhüllte Gewebe fällt usw. Vielmehr ist hier das mentale Miterleben, die Imagination und die an sie anschließende Stockung, und Reflexion, die Betroffenheit, wenn man das
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Tragödie und Performance Wort hier einmal gebrauchen darf, durch die Information das Entscheidende. An dieser Stelle drängt sich die Erinnerung auf, dass wir es hier mit starken Affekten zu tun haben, Affekten, die nun auffallenderweise denen sehr ähneln, die das antike Denken mit der Tragödie verbunden hat: eleos und phobos, Jammern und Schaudern, Furcht und Mitleid. Diese Besinnung macht sogleich deutlich, dass die Affekte auch in der Antike nicht an sich als das Ziel der Tragödie galten, sondern als Medium einer anderen, einer mentalen Erfahrung. Diese aber betrifft, das möchte ich nun ausführen, wie in der Tragödie so auch bei Orlan zentral das Selbst selber, die Frage des Ich, des Willens, der agency der Handlungsmöglichkeit – nur abgelöst von einer dramatischen Repräsentation, einer Fabel und konzentriert auf Person und Körper der Performance-Künstlerin. Gehen wir ein paar Schritte zurück. Ich beginne mit der Erinnerung daran, wie Aristoteles die Wirkung der Tragödie bestimmt und dass er sie vor allem durch ihre Wirkung definiert hat. Die Poetik ist keine Theorie der Tragödie; als Poetik konzipiert, also als Handlungsanweisung fürs Tragödienschreiben, erläutert sie die Formelemente der Tragödie, zumal ihre Dramaturgie, die beste Themenwahl, die Gestaltung der Protagonisten in Hinblick auf den zu erreichenden Zweck, eben die Wirkung. Die spätere europäische Rezeption der Poetik hat bekanntlich diese Regeln zu Normen für die formale Gestaltung umgedeutet. Es ist jedoch möglich, die beiden Aspekte zu trennen. So hat es zum Beispiel kein Geringerer als Brecht getan, der seine Auffassung der aristotelischen Dramaturgie mit der Erklärung erläuterte, er nenne aristotelisch eine Dramatik und Dramaturgie, die auf Einfühlung abzielt, gleichgültig, ob sie dabei die Regeln, die Aristoteles zum Erreichen dieses Zwecks aufstellt, beachtet oder nicht. Bei einer solchen Trennung von Zweck und Gestaltungsmittel wird sogleich klar, dass die aristotelische Zweckbestimmung der Tragödie, die Erregung von eleos und phobos, sodann deren katharsis zwar in der Tradition stets mit der Dramaturgie unauflöslich verbunden waren, dies jedoch von Natur keineswegs sein müssen. Die antike Tragödie selbst unterscheidet sich in ihrer Form schon radikal von der großen tragischen Tradition, die von Shakespeare, Racine und Schiller bis zu Kleist, Büchner und Hebbel führt und in der Moderne problematisiert fortexistiert. Es ging in den aristotelischen Begriffen eleos und phobos um Affekte der Angst und des Mitleidens, des Erschreckens, Erzitterns und Erschauerns, und die heutige Philologie hebt an den griechischen Begriffen hervor, dass sie starke, auch körperlich manifeste heftige Affektzustände bezeichnen, die mit der traditionellen Übersetzung als Furcht und Mitleid nur unzulänglich angezeigt werden. Bei diesen Zuständen, die eher mit einer Schocktherapie, jedenfalls
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Hans-Thies Lehmann mit etwas zutiefst Aufwühlendem, auch körperlich durchlebten Schrecken zu tun haben, kann man in der Tat heute nicht mehr in erster Linie an das beruhigte Setting eines Theaterhauses denken sondern eher an das, was mit Recht immer wieder über die Wirkungen der Performance Art gesagt worden ist. Von Chris Burden und Gina Pane bis Marina Abramoviü, von Jan Fabre bis Stelarc, in gewisser Weise auch bei Sophie Calle und eben bei Orlan geht es in der Performance Kunst um den Versuch, in der tiefsten Weise gerade jene Affekte auszulösen, die früher immer wieder für die Tragödie in Anschlag gebracht worden sind. Diese Parallele zwischen den Intentionen der Performance und der aristotelischen Affektlehre fällt umso mehr ins Gewicht, als, wie schon Benjamin hervorgehoben hat, der gewöhnlichste Affekt, den wir mit den aufgeführten tragischen Dramen im Theater assoziieren, in der Poetik des Aristoteles gänzlich fehlt: die Trauer. Von ihr ist bei Aristoteles nicht die Rede, während der deutsche Name für Tragödie sehr bald Trauerspiel lautete, ein Wort, das wir praktisch gleichbedeutend mit Tragödie verwenden. Resultat dieser Beobachtung ist also: für den antiken Philosophen gibt es 1. eine Affektwirkung der Tragödie, die er 2. an eine bestimmte Dramaturgie bindet. In der Performance Art unserer Tage finden wir eine mit Karl Heinz Bohrer zu sprechen „Ästhetik des Schreckens“ wieder – jedoch jenseits des dramatischen und theatralen Paradigmas, das bei Aristoteles und in der dominant aristotelischen Theatertheorie und in der von dieser geprägten Theaterpraxis sich quasi automatisch mit diesen Affektwirkungen verband. Es findet also die Abkoppelung eines ähnlichen Wirkungsgedankens von einer bestimmten dramatischen Gestaltungsweise ab, mit der diese Wirkung sehr lange gleichsam unauflöslich verknüpft gewesen ist. Führt man sich diese Entwicklung einmal in aller Deutlichkeit vor Augen, so verliert der Versuch, Tragödie und Performance zusammen zu denken viel von seiner Befremdlichkeit. Die zweite Phase oder der zweite Aspekt dieser Erregungszustände (pathemata) soll nun bei Aristoteles eine katharsis sein, eine Reinigung, von der bis heute niemand genau angeben kann, was damit gemeint sein könnte, da der Begriff, rituell, medizinisch und psychologisch zugleich konnotiert ist und Aristoteles leider von ihm in diesen Zusammenhängen nur zwei mal spricht, hier in der Poetik nur ganz kurz, und im 8. Buch der Politik, wo es sich um die Unterscheidung verschiedener Musikarten und ihrer Wirkungen handelt. Immerhin kann man bei aller Dunkelheit der Sache soviel sagen, dass etwas mit den Affekten geschehen soll, eine Transformation sich vollziehen soll, die den Rezipienten der Tragödie nicht unverändert lässt – was für eine rein ästhetische Praxis keine selbstverständliche Annahme ist. Wir erwarten von einem Theaterabend
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Tragödie und Performance manches: Unterhaltung, Belehrung auch, Erschütterung, Anregung zum Nachdenken – aber das unser Affekthaushalt im Theater nicht einfach geschickt bedient, sondern verändert werden soll, das erwarten wir gerade nicht (hier würden wir uns doch eher an den Analytiker wenden). Auch in diesem Punkt aber ist es nun auffällig, dass die Performance – in ihren gerade noch theatralen ebenso wie in ihren radikal performativen, vom Theater abgelösten Erscheinungsformen – es auf Vergleichbares abgesehen hat. Das hier relevante Stichwort ist das Ritual, und damit das nicht ganz leicht zu bestimmende Verhältnis zwischen Ritual und künstlerischer Performance als rein ästhetischem Vergnügen. Was das Ritual trotz vieler Mischformen und Überschneidungen mit Theater grundlegend von ästhetischem Verhalten unterscheidet, ist, mit Schechner zu sprechen, ein Aspekt, der essentiell über die Funktion der Unterhaltung hinausgeht, eine Transformation. Ein Ritual, ein rite de passage, der aus dem Jugendlichen einen Erwachsenen macht, ebenso wie eine Schiffstaufe oder eine Heirat, sind symbolische Aktionen in dem Sinne, dass sie den Statuswechsel des Namens oder des bürgerlichen Status nicht etwa nur symbolisierend bezeichnen, sondern ihn real vollziehen. They do things with words – und mit Handlungen. Ein Ritual soll etwas, soll eine Situation, soll die Beteiligten einer Transformation unterziehen, Unterhaltung grundsätzlich nicht. Es liegt auf der Hand, dass auch diese Opposition nicht ganz so eindeutig ist, wie man meinen möchte. Kein ernsthafter Künstler, der nicht durch seine Kunst auf wie immer auch minimale und fast unwahrnehmbare Weise eine Veränderung, eine Transformation in seinem Leser oder Zuschauer bewirken möchte, die über den Moment der Kunstübung selbst hinausreicht: Aut prodesse volunt poetae aut delectare. Und kaum ein Ritual, das haben die Anthropologen wieder und wieder bestätigt gefunden, das ganz ohne ein Spielbewusstsein, ganz ohne Ironie, ohne den Blick auf freudige Unterhaltung um ihrer selbst willen vollzogen wird. Doch wir können diese Sphäre des Zwischen auf sich beruhen lassen, sie setzt die Möglichkeit und die Nützlichkeit einer Unterscheidung nicht außer Kraft zwischen einem tendenziell unverbindlichen Spiel, das mich unverändert wieder entlässt, und einem tendenziell transformierenden und verpflichtenden Ritus. Schechner, immer ein Meister der erhellend pointierten und provozierenden Verdichtung, vergleicht die beiden Aspekte Transformation und Unterhaltung in der Performance mit zwei sich balgenden Jungen, von denen mal der eine, mal der andere die Oberhand gewinnt. Ästhetisch vermeintes Theater ist in diesem Sinne fast gänzlich durch den Aspekt der Unterhaltung gekennzeichnet, während in einem Ritual in einer Stammesge-
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Hans-Thies Lehmann sellschaft der Aspekt des Entertainments, wenn auch niemals gänzlich belanglos, doch im Hintergrund bleibt. In dem eben erörterten Sinn können wir also sagen: Es war und ist die Intention vieler Performance-Künstler (und vielfach der Theaterrevolteure vor ihnen), aus dem Theater als einem unverbindlichen Unterhaltungs- oder auch Kultur-Event eine verbindliche, eine transformierende Erfahrung zu machen. Für Antonin Artaud und Jerzy Grotowski und viele andere lässt sich dies belegen. Oder eine solche Erfahrung von Polis und Gemeinschaft wieder zu gewinnen, die man mit Recht oder Unrecht als in der Antike realisiert phantasierte. Die Performance sucht also Ansätze einer rituellen Wirklichkeit, sprich: performativen Wirksamkeit zu erhalten oder wieder zu finden: Man kann übrigens sagen, dass das antike Theater, das sich bekanntlich vom Kult emanzipiert hatte zu einem ästhetisch genossenen Ereignis, dennoch mit tausend Fäden an das Ritual rückgebunden blieb, aus dem es hervorgegangen war (das macht übrigens den Gebrauch der zwischen religiös-rituellem und ästhetischpsychologischem Sinn schwebenden Vokabel katharsis erneut plausibel). Bei der Frage nun, wie man in der Gegenwart wieder zu einer solchen erneuerten Wirksamkeit oder wenigstens zu Spurenelementen davon gelangen könne, stellte und stellt sich die massive Präsenz des klassischen Konzepts des dramatischen Theaters als entscheidendes Hindernis heraus. Darin war – und mit Artaud könnte man jetzt die Serie der entmächtigenden theatralen Verdopplungen herbeten, wie sie besonders Derrida herausgearbeitet hat – keine Spur mehr von ritueller transformierender Kraft verblieben. Das Schema der dramatischen Handlung, der Re-Präsentation, der Konventionen der Rollendarstellung usw., ja der ganze Rahmen der Theateraufführung ist folgenloser Konsum rein ästhetischer Art geworden, Ritual nur noch vorhanden im Sinne eines schlechten Bestätigungsrituals einer Kultur, die im Alltag ihre Bezüge zu allem abgeschnitten hatte, was nicht in Kalkulation und rationaler Fixierung aufgeht, und sich im Theater gespenstisch feiert, als sei dem nicht so. Nicht ohne Grund wurde das Theater für die PerformanceKünstler zum Feindbild. Die Abneigung dagegen motivierte die Suche nach Aktions- und Spielformen, in denen die kathartische Konfrontation mit eleos und phobos wieder möglich werden sollte. Performance löste sich vom Theater. Sie schreibt sich übrigens ebenso sehr von der bildenden Kunst her, die den toten Werkcharakter überwinden wollte und sich theatralisierte. Die Performance vollzog also genau die Trennung zwischen dem tragischen Impetus und der dramatischen Form. Und suchte damit einen der wenigen Wege, die heute verblieben sind, etwas von der Essenz der Tragödie zu realisieren.
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Tragödie und Performance Ich werde hier einige Anmerkungen zur Theorie der Tragödie selbst einschieben und einige Unterscheidungen treffen, die sich für das Verständnis der Beziehung zwischen Performance, jenseits von Drama und Theater, und Tragödie, als einer traditionell eng an Drama und Theatralität gebundenen Form, als nützlich erweisen dürften. Man kann zwei wohl aufeinander bezogene aber doch deutlich unterschiedene theoretische Linien unterscheiden, auf denen Tragödie gedacht worden ist. Die eine begreift Tragödie wesentlich als und durch die Darstellung einer besonderen Art von Konflikten – politischer, moralischer, gesellschaftlicher Art –, bei denen es in den meisten Fällen auch um den Konflikt des Individuellen mit dem Gesellschaftlichen geht. Von Aischylos über Shakespeare und Racine bis zu Schiller und Hebbel bildet dieses Konfliktmodell der Tragödie einen Grundpfeiler mindestens der europäischen Reflexion über das Tragische und die Tragödie. Ich übergehe für den Moment die Frage, ob man mit Raymond Williams und anderen von einer modern tragedy sprechen kann, die von Ibsen bis Miller, Strindberg bis Tennessee Williams, von Eliot über Camus bis Brecht reichen würde. Denkt man über dieses Konfliktmodell nach, so stößt man zwingend auf zwei Aspekte: zum einen auf die Beobachtung, dass die Konfliktdarstellungen einen wesentlich ethischen Kern haben. Allein die ethischen Fragen von Verschuldung, Verantwortung, Konsequenz, Wille und Freiheit des Willens geben diesen Konflikten ihre Tiefe – weshalb sie sich besonders gut einer ethik-theoretischen Lektüre erschließen, wie die Studien etwa von Christoph Menke neuerdings gezeigt haben. Zum zweiten stößt man aber auf die Frage, ob es Tragödie in unserer Zeit noch geben kann, was voraussetzen würde, dass dieser Typ von Konflikten noch existiert, den die Tragödie zur Darstellung gebracht hat. Oder sind diese Konflikte und ihre tragische Artikulation strictement an eine historische Epoche gebunden, etwa die Antike? Bei Hegel ist das bekanntlich so: Tragödie gehört für ihn systematisch zu einer früheren Phase des Weltgeists, bleibt an die antike Welt der ‚Sittlichkeit‘ gebunden. Aber auch, unter ganz anderen Voraussetzungen, bei Walter Benjamin, der die Tragödie strikt an die Antike als Moment der polemischen Umdeutung des Mythos bindet, dem gegenüber wir die große Mehrheit der Tragödien der Neuzeit seit Shakespeare vor einem christlichen Hintergrund und mit ihrer Thematisierung von Geschichte in ihren Verfallsmomenten als ‚Trauerspiel‘ zu begreifen haben. Ohne die sich hier anschließenden wichtigen Fragen aufgreifen zu können, halten wir nur fest, dass das Konfliktmodell der Tragödie eine enge Affinität zur dramatischen Gestaltung aufweist, sofern das Drama als Form die exemplarische Gestalt einer Weltbeschreibung als Konfliktualität ist.
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Hans-Thies Lehmann Es gibt jedoch eine zweite Linie der Tragödiendeutung. Sie ist weniger an dieser ethisch geprägten Konflikthaftigkeit interessiert, sondern erblickt in der Tragödie eine Erfahrung sui generis, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich allen ethischen, auch ethischpolitischen Kategorien gerade entzieht. In dieser Linie sieht man die Tragödie wesentlich als eine Artikulationsweise, in der sich die menschliche Existenz quer durch verschiedene Epochen und per se als in einer Weise verfasst erfahren lässt, die man als wesentlich riskant, gefährdet, selbst-destruktiv benennen kann. Dies ist die Wirklichkeit einer dem Menschen nicht etwa zufälligen (und mithin vermeidbaren), sondern ihm absolut imperativen, notwendigen, ihn als Menschen geradezu konstituierenden Grenzüberschreitung. Transgression als Konstitutiv macht den Menschen zum radikal riskanten Wesen, das sein Wesen in der unwiderstehlichen Verwerfung und Überbietung dieses Wesens hat. Heidegger insistiert in seiner Auslegung des berühmten zweiten Stasimon der Antigone über den Menschen in diesem Sinne, dass die antike Vorstellung der hybris – also der Tendenz des Menschen, ihm gesetzte Grenzen zu überschreiten – in der Tragödie keineswegs, wie es nach Aristoteles so oft geschehen ist, verstanden werden kann als ein womöglich vermeidbarer ‚Fehler‘, sondern den Menschen als Suchenden, Forschenden, Neugierigen, mit allem Bestehenden stets Unbefriedigten in seinem Wesen kennzeichnet. Diese Linie das Tragische zu denken kommt offensichtlich von Friedrich Nietzsche her, der das Tragische und das Dionysische gleichsetzt, und schreibt sich, jeweils spezifisch abgewandelt, in der Moderne bei Georges Bataille und seinem Denken der Überschreitung, bei Jacques Lacan, bei Jean Baudrillard oder auch in der Ästhetik des Schreckens bei Karl Heinz Bohrer fort. Hier geht es bei der Frage nach der möglichen „Gegenwart der Tragödie“ (Christoph Menke) nicht um die Diskussion der Formen von Konfliktualität, sondern darum, welches die Ausdrucksformen sein können für das Tragische als das Dionysische, als Geste der Transgression, als radikale Aufhebung der Ratio der Selbsterhaltung, bei der die Tendenz zur Katastrophe und mindestens zur Krise dem Menschen innewohnt, so dass die tragische Erfahrung des Sturzes, des Unfalls, des Scheiterns, der Vernichtung, die dem Übermut als Strafe folgt, eine allgemeine Tatsache ist, und die Tragödie die Form ihres Ausdrucks. Die Selbst-Überschreitung, hervorragendes Merkmal des Neues erforschenden, Risiken eingehenden, sich selbst übersteigenden Menschen, kann ihm systematisch, also mit Notwendigkeit, zum Verhängnis werden. Es relativiert sich hier deutlich die Bindung der Tragödienkonzeption an einen dramatischen Handlungsverlauf, wenn auch eine Darstellungsform, die man ‚szenisch‘ nennen kann, diesem Modell nahe liegt. Während das Konfliktmodell der Tragödiendeutung eine
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Tragödie und Performance enge Verwandtschaft aufweist zur Konzeption der tragischen Form als Drama, ist deutlich, dass eine solche enge Verwandtschaft zwischen dem Überschreitungsmodell und dem Dramatischen entfällt. Denkt man von heute kaum noch relevanten Kategorien wie dem meist missverstandenen ‚tragischen Fehler‘ (hamartia) her, so sind es allemal die dramatischen Handlungsverstrickungen, die die Tragödie definieren – und genau das ist bei Aristoteles der Fall. Geht es aber um die Artikulation einer radikalen Selbst-Fremdheit des Subjekts, um die Bewegung in ihm, die das Selbst über sich hinaustreibt, so kann das Dramatische zerfallen, entfallen, ins Szenische und in andere Modi der Darstellung übergehen. Die intensive Erfahrung einer Transgression kann in Aktionen und bis zu einem gewissen Grad in der Teilnahme und Beobachtung solcher Aktionen liegen, die wir üblicherweise als Performance Art bezeichnen und die die Achse des Konflikts eher zwischen Performer und Teilnehmer legen als in der fiktiven Darstellung eines tragischen Konflikts als Narration auf der Bühne vor Zuschauern. Zum Abschluss liegt mir daran, auch auf der Ebene der inhaltlichen Auslegung die Verbindungslinie zu bewähren, die ich zwischen Tragödie und Performance skizziert habe. Worum geht es in der tragischen Erfahrung? Um die Tiefe der Frage, ob der Mensch aus seinem Willen handelt, wie sein Handeln sich gegen seine Intentionen richten kann. Und dahinter als die noch weiter gehende Befragung: Welches ist eigentlich der oder das, der oder das da handelt? Welches ist dieses Selbst, das in der Tragödie zutiefst gespalten erscheint – durch Orakel und Götterwalten bestimmt und doch frei, durch Wahnsinn hellsichtig und doch bei klarem Verständnis blind, in tiefem Irrtum befangen und außerhalb seiner selbst? Was können wir über dieses Selbst und seine agency seine Handlungssouveränität bei Orlan beobachten? Zunächst will ich die deutliche Spur des religiösen Kults nicht unerwähnt lassen, der Opferhandlung, des Selbst-Opfers bei Christus, bei den Märtyrern in ihren Performances. Darauf wird parodierend angespielt: Kruzifix, religiöse Embleme usw. Aber es gibt keinen Horizont des Glaubens, das Ritual des Opfers ist gleichsam nur um seiner selbst willen da. Aus dem religiös motivierten Handeln des Märtyrers als Erdulden wird ein selbst gewähltes Tun, das ebenfalls Erleiden ist. Zum Zweiten wird das Blasphemische bei Orlan nicht zu These und Aussage, es geht nicht um eine ideologische Kritik. Ebenso ist der Feminismus in ihrer Arbeit durchaus mit Vorsicht zu genießen. Orlan hat sich öfter explizit gegen eine verengte Auslegung gewendet, die in ihrer Arbeit eine Kritik des Terrors der Schönheitsideale sehen will. Auch das spielt sicher mit, aber hätte es dazu dieser radikalen Einbeziehung des eigenen Körpers als Zeichenmaterial und Unterlage der eingeritzten, eingeschnittenen Zei-
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Hans-Thies Lehmann chen bedurft? Für eine konzeptuelle Kritik dieser Art hätten andere Darstellungs- oder Aktionsarten vollkommen ausgereicht. Und mehr noch: Orlan äußerte mehrfach, dass sie es geradezu begrüßte, dass wir durch die Möglichkeiten der Chirurgie nicht mehr dem Diktat der zufälligen Natur ausgeliefert seien, sondern mit eigenem Willen und aus eigener Initiative die äußere Erscheinung des Selbst modifizieren können. Wenn die Künstlerin die eigene Haut, das eigene Gesicht zum Material macht, mit der sie Masken ihres Selbst auf- und wieder absetzt, sich willentlich selbst neu erschafft (auch wenn dies faktisch durch Operateure geschieht), der Titel der Serie lautete ja Die Reinkarnation der Heiligen Orlan, so geht es vielmehr darum, ein durchaus unheimliches und tief ambivalentes Zeichen absoluter Verfügung über sich selbst zu setzen, ein solches Bild von Selbsthaftigkeit, Freiheit des Willens, Souveränität der Selbst-Gestaltung und Selbst-Bestimmung, mit dem man gerade ob seiner inneren Logik und Konsequenz nicht froh zu werden vermag. Orlan spricht von sich als Malerin, die die Botticelli-Venus, Diana, Mona Lisa auf ihr eigenes Gesicht ‚malt‘ – schöpferisches Selbst der Künstlerin, die sich selbst schafft – bis sie sagen kann: „Hier halte ich an und signiere das Bild“ – sie signiert sich selbst als Bild. Und gerade hier nähern wir uns paradoxerweise der tragischen Dimension wieder an. Indem sich in der radikalen Selbst-Transformation der Wille ganz frei betätigt und sich sogar noch gegen die Vorbestimmung seines Leibs, seiner Haut erhebt, lässt genau dieser freie Wille sich in ein und demselben Zug als seinerseits durch und durch von kulturellen Schemata, Ikonen, Traditionen determiniert erfahren. Was ist das für ein Wille, der sich als Sklave von Wünschen, Ideen, Idealen manifestiert, die dem Selbst von außen zuwachsen? Also ein Wille, der von anderswoher gelenkt ist? An dieser Stelle gewinnt beides, die spezifische künstlerische Praxis der Art charnel wie auch die Dimension des Tragischen ihre beunruhigende Pointe. Die Künstlerin bringt so mit Radikalität die Grundkonzepte ins Wanken, die unser Selbst tragen, die unser gesellschaftliches Leben, Ideen der Verantwortung und der Selbstbestimmung tragen. Und indem der Künstler, und in dem Maße wie der Künstler, das eigene Leben, seinen bios, seinen einmaligen Körper untrennbar von dem Objekt macht, das er schafft, indem er also die ästhetische Distanz auf schockierende Weise auflöst, durchbricht er die Einschließung seiner Praxis in eine ästhetische Kontemplation und unterbricht die ästhetische Einstellung als solche. In dieser Unterbrechung spiegelt sich aber die andere, eben erläuterte, genau: der Bruch im Kontinuum der basalen Konzeptualität, mit der wir moralische, gesellschaftliche, ethische Wirklichkeit überhaupt fassen
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Tragödie und Performance und strukturieren. Allen voran die Identität des Selbst. Eine Psychoanalytikerin aus der Schule Lacans lieferte die Formel für den Riss, um den es in der Arbeit geht: „Je n’ai jamais la peau de ce que je suis.“ Niemals ist, so können wir übersetzen, die Haut, die ich habe, meine Haut, mein Äußeres, das Äußere meines Innern. Indem die Künstlerin, nicht anders als der tragische Held, aufbegehrt gegen das von den Göttern verhängte Schicksal, sich damit misst und menschliche Technik und Techne gegen das Fatum aufbietet um Auto-Nomie, Freiheit zu manifestieren, macht sie zugleich in radikaler Unheimlichkeit erfahrbar, dass in diesem Aufbegehren das Subjekt nur umso gründlicher das Vorbestimmte befolgt, dass Freiheit die andere Seite eines Gehorsams ist, der das Selbst zum double des kulturellen Diskurses werden lässt. Und wie wir erschüttert sind vom tragischen Prozess, ohne deshalb in der Bewunderung der Geste des Aufbegehrens nachzulassen, eines Aufbegehrens, das alles Gesetz betrifft (so hat Lacan Antigone gelesen), so bleibt dialektisch das Bild einer Freiheit, die sich zugleich auch als Gehorsam erweist. Aufschlussreich in ihrer Zweideutigkeit ist in diesem Sinne noch einmal die Berufung Orlans auf die Tradition des Selbstporträts. Während dessen Idee davon lebte, dass der Maler in einer unvergleichlichen Weise die Wahrheit seines Inneren durch das objektivierende Medium Malerei in seinem Äußeren erscheinen lassen kann, demontiert das buchstäbliche Selbstporträt, verstärkt durch seine Serialität, die es immer wieder aufhebt, auch diese Idee eines Selbst, das doch irgend erscheinen könnte, noch einmal. Nicht anders als Ödipus in seiner Erforschung erfahren muss, dass er nicht der ist und niemals war, der er zu sein glaubte, erfährt das Selbst in der Realmetapher von Orlans Performance, dass es schon durchstrichen gerade dort ist, wo es am meisten es Selbst zu sein glaubt.
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3. B ILD -K ÖRPER
Lügen Tränen nicht? Ausdruck, Konvention und Körper in der Wooster-Group-Produktion
To You the Birdie! (Phèdre) NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL1 Exergue: Undeutbare Tränen (Kafka) „Tränen lügen nicht“ – so heißt es im Schlager. Die Träne, eine „von den Tränendrüsen im Auge abgesonderte Flüssigkeit, Lacrima, hervortretend bei Schmerz oder innerer Bewegung“,2 gilt, wie man schon dieser Definition aus Wahrigs Deutschem Wörterbuch entnehmen kann, weithin als unumstößliches Zeichen – Ausdruck eines Inneren, Darstellung einer Emotion. Sie spricht, wie man so sagt, und zwar im Widerspruch zu Schein und Spiel ganz ernst. Das Weinen, so will uns eine lange Reihe literarischer wie theatraler Szenen lehren, beglaubigt die Menschheit, kommt nur, weil der Weinende nicht anders kann, verrät im Spiel das wahre Wesen oder fordert imperativ Gehorsam.3 Wie Blut, Schweiß, Sperma, Exkremente und Urin gilt die Tränenflüssigkeit als Zeugnis einer anderen Realität, der man im selben Maß, wie sie dem Tabu unterworfen wird, den Status einer höheren Wahrheit, der Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit einräumt. Tränen sind Wahrsager. Dass Zweifel an dieser Einschätzung erlaubt, ja geboten sind, legt ein in den 20er-Jahren geschriebener Text nahe, in dem von Tränen und Schauspiel die Rede ist, vom Schauspiel der Tränen und den Tränen im Schauspiel, und dabei von „undeutbaren Trä1
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Der nachfolgende Text wurde zunächst als Vortrag im Rahmen der von Krassimira Kruschkova konzipierten und veranstalteten Tagung Unmögliche Tränen (Wien, Tanzquartier, 24.–26. Oktober 2004) vorgetragen. Vgl. Wahrig 1975, 3711. Diese Zuschreibungen lassen sich etwa in Schillers Werken finden. Ich verzichte hier auf einen Einzelnachweis.
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Nikolaus Müller-Schöll nen“. In Kafkas Text Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse4 verlegt sich Josefine, die Sängerin, der das Volk die Forderung abgeschlagen hat, von aller Arbeit befreit zu werden, und die auch vergeblich versucht hat, durch eine tatsächliche oder vorgetäuschte Fußverletzung Verschonung zu erlangen, auf eine andere Taktik: Da sie nicht immerfort hinken kann, erfindet sie etwas anderes, sie schützt Müdigkeit vor, Missstimmung, Schwäche. Wir haben nun außer dem Konzert auch ein Schauspiel. Wir sehen hinter Josefine ihren Anhang, wie er sie bittet und beschwört zu singen. Sie wollte gern, aber sie kann nicht. Man tröstet sie, umschmeichelt sie, trägt sie fast auf den schon vorher ausgesuchten Platz, wo sie singen soll. Endlich gibt sie mit undeutbaren Tränen nach, aber wie sie mit offenbar letztem Willen zu singen anfangen will, matt, die Arme nicht wie sonst ausgebreitet, sondern am Körper leblos herunterhängend, wobei man den Eindruck erhält, dass sie vielleicht ein wenig zu kurz sind – wie sie so anstimmen will, nun, da geht es doch wieder nicht, ein unwilliger Ruck des Kopfes zeigt es an und sie sinkt vor unseren Augen zusammen. Dann allerdings rafft sie sich doch wieder auf und singt, ich glaube, nicht viel anders als sonst, […].5
Josefine schützt Müdigkeit, Missstimmung, Schwäche vor, gibt dann aber dem Drang ihres Anhangs nach, und hier, im Moment dieses Nachgebens, so erzählt uns Kafkas namenloses „wir“, kommen ihr die „undeutbaren Tränen“. War zuvor in der Erzählung bereits unentscheidbar, ob Josefine eigentlich singen kann, ja ob sie überhaupt singt (und nicht vielmehr pfeift und von daher nichts anderes tut als alle anderen auch) und insofern natürlich auch, ob es sich dabei um ein Konzert handelt, so ist es nun nicht minder erschließbar, ob sie spielt oder nicht. Denn zunächst einmal ist die Müdigkeit, wie wir ja erfahren, eine „Erfindung“, vorgeschützt, eine aus der Position der Stärke erfundene Schwäche, eine ablegbare Maske. Und was Josefine dem „Anhang“ zu erkennen gibt, wird von daher unweigerlich zunächst als bloßes Schauspiel erscheinen müssen. Man nimmt ihr nicht ab, dass sie will, aber nicht kann. Entsprechend darf man erwarten, dass die Bemühungen des Anhangs von Erfolg gekrönt sein werden. Und in der Tat wird uns bedeutet, Josefine gebe nach – ein Nachgeben, das das Spiel als Spiel zu erkennen geben scheint, eine Aufgabe der Position der Stärke, die hier darin besteht, dass eine Sängerin sich die Freiheit nimmt, ihr Können zu verbergen und zu negieren. Doch im Moment des Nachgebens, „endlich“, wie es heißt, im Moment, in dem sie nicht länger behauptet, sie könne nicht, in dem sie nicht länger spielen, sondern die Ebene des Scheins verlassen will, stellt sich heraus,
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Kafka 1994; vgl. Kafka 1992. Dort wird das so genannte Josefine-Konvolut auf das Frühjahr 1924 datiert. Kafka 1994, 292-293.
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Lügen Tränen nicht? dass das vermeintliche Spiel tatsächlich keines war. Sie kann tatsächlich nicht. Entscheidend ist nun aber, dass sich genau im Moment des Umschlags vom vermeintlichen Spiel zum – wie sich später herausstellen wird: vermeintlichen – Ernst die „undeutbaren Tränen“ einstellen. Gehören sie zum Spiel? Stellen sie dessen Ende dar? Sind sie der Moment, in dem sich das Realitätsprinzip durchsetzt? Der unbekannte Erzähler entzieht uns die Gewissheit, verweist uns auf die Endlichkeit des Körpers, die sich ihm in die Endlichkeit seiner Lesbarkeit zu übersetzen scheint. Es bleibt ungewiss, ob Josefine ihre Schwäche spielt oder nicht, ob sie mit ihrer Schwäche spielt, einfach nur schwach spielt oder beides. Die Tränen sind, wie sich beim näheren Hinsehen herausstellt, untrennbar mit Josefines „Willen“ verknüpft. Erst „wollte“ sie, dann „will“ sie „mit letztem Willen“, „will“ anstimmen, doch ein „unwilliger Ruck“ des Kopfes zeigt an, dass sie nicht kann, was sie will – oder aber nicht will, was sie kann. Es ist, als ob der Kopf jenen Willen verkörpert, der bereits zuvor dem erklärten Willen entgegenläuft. In Josefine scheinen sich mehrere Willen zu vereinen, die Willen von Kopf und Körper, wobei bezeichnender Weise der Wille des intervenierenden Körpers sich als „unwilliger Ruck eben des Kopfes zeigt“. Kafkas Wendung von den „undeutbaren Tränen“ rückt die fundamentale Verunsicherung in den Blick, die Giorgo Agamben mit Blick auf Gilles de la Tourettes Forschungen über „eine nervöse Beeinträchtigung, die durch motorische Unkoordiniertheit gekennzeichnet ist und begleitet wird von Echolalie und Coprolalie“6 als Verlust der Gesten beschreibt und historisch dem abendländischen Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts zuordnet. Die Tatsache, dass von einem beschreibbaren Zeitpunkt an die unterschiedlichsten Aufschreibsysteme erdacht werden, um der Gesten habhaft zu werden, deutet, wie Agamben nahe legt, darauf hin, dass, was zuvor als Totalität wahrgenommen wurde, nun aufgrund einer neuen Perspektive – man könnte vielleicht sagen: aufgrund eines epistemologischen Wandels oder Bruchs – als Folge von Fragmenten erscheint. In dem Maße, wie diese nicht länger als Teil eines Ganzen und insofern als immer noch in einer Dialektik von Fragment und Totalität eingeschriebene Verweise auf einen in der Vergangenheit liegenden Ursprung oder auf ein zukünftiges Telos begriffen werden, sondern vielmehr als unaufhebbare Bruchstücke oder dem Werk gleichursprüngliche Entwerkung (desœuvrement),7 beginnen ihre Beobachter sie in allen Details akribisch aufzuzeichnen: Fällt etwa der ‚Cha-
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Agamben 1992, 98: „une affection nerveuse caracterisée par de l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et de coprolalie“. Vgl. zur Unterscheidung von Fragment und Bruchstück oder Entwerkung Blanchot 1987a; Lacoue-Labarthe/Nancy 1988.
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Nikolaus Müller-Schöll rakter‘ als Oberbegriff zur Erklärung einer Folge von Gesten weg, dann sticht mit einem Mal das zuvor durch ihn erklärte und zugleich verdeckte Enigma der körperlichen Regungen ins Auge und verlangt gerade in der Unerklärlichkeit seines Soseins nach Deutung. Muybridges photographische Experimente, die ein bis dahin als geschlossen wahrgenommenes Bewegungskontinuum segmentieren, setzen eine bestimmte Auflösung der Totalität einer vermeintlich so einfachen Angelegenheit wie der eines Gangs von hier nach da zugleich voraus wie sie sie auch vor Augen führen. Sie entfalten gewissermaßen die ihnen vorausgehende Frage, sind deshalb nicht nur Ausdruck des Versuchs, Gesten zu gewinnen, sondern zugleich und wohl in erster Linie Symptom von deren unwiederbringlichem Verlust. Ähnliches gilt für die weiteren von Agamben erwähnten Beschreibungsverfahren, etwa für de la Tourettes Methode der Erfassung von Fußabdrücken, Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas mit seinen 1000 Photographien, Prousts A la recherche du temps perdu oder den von seinen Zeitgenossen noch als ‚Gestentafel‘ begriffenen Stummfilm. Die Sammlung, Vermessung und Katalogisierung und die in ihr zum Ausdruck kommende Wut des Verstehens korrespondiert der Erfahrung eines dem Verstehen sich bleibend widersetzenden undeutbaren Restes. Mag auch Agambens Aperçu, die von de la Tourette beobachtete Störung sei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch nicht mehr zur Kenntnis genommen worden, unbeweisbar bleiben, so ist doch die Vermutung, die er anschließt, einleuchtend: Ataxie, Tic und Distonie, so Agamben, seien zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Norm geworden: „Der Kontrollverlust über die Gesten, die verrückte Gangart und Gestikulation sind von einem bestimmten Zeitpunkt an zu einem allgemeinen Symptom geworden“.8 Über diesen Kontrollverlust schreibt Walter Benjamin, den man sehr wahrscheinlich als einen der Bezugspunkte von Agambens Diagnose einsetzen darf, in seiner Lektüre Kafkas: „Etwas war immer nur im Gestus für Kafka fassbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln.“9 An diesem Satz ist nicht zuletzt auffällig, dass er Theater und Nicht-Verstehen in Verbindung setzt. Wie man am Beispiel der Josefine sehen konnte, ist das Theatralische als Suspension der klaren Unterscheidung von Schein und Sein gewissermaßen die Ursache des Nicht-Verstehens. Zugleich aber erweist sich das Theatralische als der Ort, an dem sich dieses Nicht-Verstehen zumindest fassen lässt: Als nicht weiter reduzierbarer Gestus. Die Krise der Geste, eine Krise, die sich zum Beispiel auf der Ebene der Theatertränen als deren Undeutbarkeit
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Agamben 1992, 99. W. Benjamin: Franz Kafka, in: Benjamin 1980, II.2, 427.
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Lügen Tränen nicht? manifestiert, diese Krise ist das theatralische und choreographische Korrelat jener anderen Krisen, die das 20. Jahrhundert und in ihm das Erbe der Modernen kennzeichnen: Der Krise des Subjekts der Philosophie und der Politik, der Terminologie und des Begriffs. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die Theatertheorien Brechts und Artauds mit der impliziten Theatertheorie in Kafkas Schriften10 und einer seither nicht mehr abreißenden Tradition des Tanzes (von Valeska Gert bis Xavier Le Roy)11 darin treffen, dass sie sich mit der Krise der Geste auseinandersetzen.12 Wo, noch immer mit Agamben gesprochen, „das Bürgertum, das wenige Jahre zuvor noch im sicheren Besitz seiner Symbole war, der Innerlichkeit zum Opfer fiel und sich in die Hände der Psychologie begab“, um „sich das Verlorene wiederanzueignen“,13 da entsagen Brecht, Artaud wie auch Kafka gleichermaßen Innerlichkeit und Symbolisierung und damit dem Besitz der Symbole und einer phantasmatischen Wiederaneignung des Verlorenen. In der Krise der Geste wird in ihrer Arbeit eine Armut fassbar, die noch nicht einmal mehr als ihre eigene Armut bezeichnet werden kann, da sie gerade die Armut an Eigenem ist. Das Gemeinsame der einander wechselseitig in Frage stellenden radikalen Theaterentwürfe Brechts, Artauds und Kafkas ist, dass sie in der Geste die Erfahrung einer irreduziblen Fragmentierung, eine radikale Leere in ihrem Zentrum ausstellen. Theater ist ihnen Krise.14
Darstellen nach Kafka –
To You the Birdie! (Phèdre) (Wooster Group) Was heißt darstellen nach Kafka? Wie lässt sich heute ausgehend von der beschriebenen Krise – sie nicht vergessend, sie beerbend – im Theater arbeiten? Was hat es mit dem Körper im Theater – in Schauspiel, Choreographie, Tanztheater, Performance – auf sich, wie lässt sich seine Sprache auf ‚Emotionen‘ beziehen, inwiefern spricht er eine eigene, unübersetzbare Wahrheit aus, welche Rolle spielt er auf der Szene gegenwärtiger Choreographie und gegenwärtigen Theaters? Diesen Fragen, die man als alles bestimmende und zugleich alles unterminierende Unterströmung in allen Formen ei-
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Vgl. Müller-Schöll 2003a. Vgl. zu dieser Traditionslinie Traub 2003, 136. Vgl. Artaud 1981a; Derrida 1989, 362; Nägele 2004. Vgl. Agamben 1992, 99. Vgl. Artaud 1981b, 34; dazu auch Müller 1996. Vgl. zu diesem Aspekt Artauds speziell Derrida 2006.
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Nikolaus Müller-Schöll ner theatralen Praxis wiederfindet, die gleichsam „außer sich“15 geraten ist, also nicht länger ein bestehendes Theater beliefert, sondern mit der Infragestellung des Theaters selbst beginnt, möchte ich in Auseinandersetzung mit To You the Birdie! (Phèdre) untersuchen, einer Arbeit der New Yorker Wooster Group aus dem Jahr 2001, die Racines Phädra aufgreift.16 Mit der Lektüre der Wooster Group im Hinterkopf werde ich zunächst einige Beobachtungen zu Racines Phädra resümieren, dann im Versuch der Beschreibung mich der Arbeit der Wooster Group nähern. Schließlich möchte ich darüber nachdenken, wie diese Arbeit die beschriebene Erfahrung einer unaufhebbaren Fragmentierung, die man im Theaterzusammenhang als Krise der Geste bezeichnen könnte, beerbt und welches Denken des Körpers sie uns erlaubt.
Ein anderer theatralischer Code Das Meisterwerk des „Grand Siècle“, die „vollendetste […] der klassizistischen Tragödien“, Racines „neunte Symphonie“, so lauten verbreitete Urteile über die 1677 uraufgeführte Phädra. Gleichwohl oder gerade deshalb wird das Stück außerhalb Frankreichs selten gespielt. Es sträubt sich, wie nicht zuletzt Schillers klassische Übertragung in den Blankvers17 belegt, gegen die Übersetzung. Wenig bleibt von ihm, erzählt man seinen der griechischen Mythologie entnommenen, in verschiedenen Varianten überlieferten Plot:18 Phädra hat sich in Hippolyte, den Sohn ihres Mannes Theseus verliebt. Hippolyte liebt Arikia, eine mit dem Vater verfeindete Frau. Dann kommt die Nachricht vom Tod des Theseus. Phädra gesteht dem bis dahin als Feind behandelten Stiefsohn ihre Liebe und wird zurück-
15 Vgl. Müller-Schöll 2004. 16 To You the Birdie! (Phèdre). Ausführliche Angaben zu Besetzung und Beteiligten finden sich unter http://www.thewoostergroup.org. Mein Text bezieht sich auf Vorstellungen im Theater am Halleschen Ufer, Berlin, 29.6. 2003, im Rahmen der Biennale Bonn, 12.6.2004 sowie im Rahmen des Festivals Welt in Basel, 22.8.2004. Vgl. dazu Schreiber 2003; Benecke 2002; Heilpern 2004; Gardner 2004. 17 Vgl. Racine 1955. 18 Vgl. zum Text Morel/Viala 1980, 581-631; sowie die von Simon Werle revidierte Übersetzung in: Schaubühne am Lehniner Platz 1987, 5-49. Vgl. in diesem Programmheft zur Inszenierung Peter Steins vom 25.10.1987 auch die Materialien zu den antiken Quellen sowie die Bahn brechenden Essays der vergangenen Jahrzehnte in deutscher Übersetzung. Vgl. zu den Affinitäten und Abweichungen von griechischen und römischen Varianten auch Racines Préface in Morel/Viala 1980, 577-578, und Schaubühne am Lehniner Platz 1987, 3-4.
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Lügen Tränen nicht? gewiesen. Der tot geglaubte Vater kehrt zurück. Önone, die Amme Phädras, verleumdet Hippolyte, indem sie die Geschichte ins Gegenteil verkehrt. Theseus erbittet von Neptun die Bestrafung des Sohnes. Doch als Önone sich das Leben nimmt und Phädra in Verzweiflung verfällt, kommen ihm Zweifel – zu spät. Sein verstoßener Sohn ist von einem Monster, das der Meergott geschickt hat, getötet worden, Phädra hat Gift genommen und gesteht sterbend ihre Schuld ein. Das letzte weltliche Drama, das Racine vor seiner Rückkehr zu den Brüdern des Klosters von Port Royal verfasste, gleicht mit seiner höfisch eleganten Sprache und der dominanten rhetorischen Form der gereimten Alexandriner einem Oratorium oder einer Oper. In einer selbst bereits klassisch zu nennenden Deutung pries Thierry Maulnier das Stück als „Tragödie der Transparenz“, in der abgesehen vom politischen Racine sich „alle Racines ein Stelldichein gegeben hätten“.19 Es ist das Modell par excellence für jene strenge formale Ökonomie, die der französische Klassizismus des 17. Jahrhunderts anstrebte. Transparent sind der aristotelische Aufbau, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung, die fünf Akte, die nach dem Muster Exposition, Peripetie, Katastrophe gebaut sind, die adligen Akteure und ihre der bienséance gehorchende Sprache. In der weitgehenden Konstruktion entdeckt der flüchtige Blick eine im Grunde inhaltslose Anordnung, ein am Ende leeres Gefüge. Der zweite Blick lässt Risse im transparenten Gefüge erkennen, welche die verschiedenen namhaften Leser des Stückes zu Beschreibungen der Art gebracht haben, dass sich unter der klaren Rede und dem Sichtbaren etwas verberge, „was gerade noch flüchtig zu erhaschen ist, und noch dahinter etwas, dessen Wirklichkeit zu spüren ist, ohne sichtbar zu werden“20 oder dass Phädra eine durchsichtige und mit der tagtäglichen Wahrscheinlichkeit vereinbare „Gefühlstragödie“ sei, auf die sich jedoch eine Tragödie des Unerklärlichen lege, die ihrerseits eine andere Welt verberge, die an das gebunden sei, was „nicht in Erscheinung tritt“ (Maurice Blanchot).21 Roland Barthes sah als Prinzip der Phädra, die paradoxale Selbstcharakteristik der Titelheldin als „schwarzes Licht“: Alle Figuren, so beobachtet er, sind für einander Monstren und das Monster, das am Ende aus der See auftaucht, stellt insofern die vollkommene Figur des prägenden Widerspruchs dar.22 Weniger spektakulär taucht das Widersprüchliche allerdings auch auf der Ebene der Erscheinung des Körpers in der Sprache
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Maulnier 1936, zitiert in: Blanchot 1987b, 94. Starobinski 1987, 78. Blanchot 1987b, 95. Barthes 1987, 105.
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Nikolaus Müller-Schöll auf. Er taucht in der Rede in Gestalt der sich verbergend manifestierenden Scham auf, als Erröten, Erbleichen oder Zittern, vor allem aber wiederkehrend in Gestalt von Tränen. Sie machen denjenigen, der sie bemerkt, zum Schuldner der Weinenden, verraten „wider Willen“23 etwas vom Verborgenen, dienen als Druckmittel, wenn Önone der verschwiegenen Phädra das Geheimnis zu entlocken sucht, und als Entschuldigung, wenn sie später ihre Redseligkeit begründet. Und zugleich verrät gerade die explizite Berufung auf die Unwiderlegbarkeit der Tränen deren zweifelhaften referentiellen Status: „Ich aber“, sagt der verblendete Theseus, „glaube sichren, unerschütterlichen Zeugen: / Ich habe Tränen, wahrhaftige Tränen fließen sehn.“24 Er beruft sich auf Phädras Tränen als Zeugnis gegen die vorgebliche, nur in Worten niedergelegte Liebe des Hippolytos zu Arikia. Tatsächlich aber löst er auf der Ebene des Stückes in diesem Moment den durch eine beständige Rhetorik und Politik der Tränen genährten Irrglauben an deren Unmittelbarkeit und Untrüglichkeit auf. Später wird er selbst, noch in der Belehrung unbelehrbar bleibend, ausgerechnet durch die Tränen des Boten Theramen vom Gegenteil überzeugt. Das Stück weiß insofern mehr als sein Herrscher: So wenig in der nahezu perfekten Künstlichkeit der Sprache, die in Racines Tragödie gesprochen wird, die Worte verlässlich sind, so wenig sind es die körperlichen Zeichen. Das Sprechen des Körpers gleicht hier jedem anderen Sprechen darin, dass es immer zuviel und zu wenig sagt, um einfach verstanden zu werden und dies, wie man erfährt, weil keine Sprache ohne den Überschuss des so oder so einsetzbaren Signifikanten denkbar ist, des Zeichens, auf das die Artikulation angewiesen ist, das sie aber zugleich auch verwechselbar macht: „Warum sind nicht an unverwechselbaren Zeichen / Die Herzen von Verrätern zu erkennen?“,25 heißt es dazu im Stück. Der Hort des Monströsen in Racines Stück ist die Sprache selbst und nicht zuletzt die der Körper. Die Vorstellung ihrer Unmittelbarkeit oder Natürlichkeit ist der Welt dieser Tragödie vollkommen fremd. Wenn aber bereits die Äußerungen selbst jene Klarheit verwischen und verweigern, die dem Stück mit wiederholter Einfalt zugeschrieben wird, dann muss erst recht dessen Psychologisierung in die Irre gehen, verschließt sie sich doch gerade der in der Phädra zu gewinnenden Erkenntnis einer Grenze des Psychologisierens im Logos selbst. Dies modo negativo durch seinen – wenngleich auf hohem Niveau – gescheiterten Versuch gezeigt zu haben, ist der Verdienst Patrice Chereaus. In seiner Inszenierung wurden die Ale-
23 Racine 1987, 32. 24 Racine 1987, 43. 25 Racine 1987, 33.
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Lügen Tränen nicht? xandriner weitgehend ignoriert und das Stück mit der Stanislawskischen Bühnenkunst von Starschauspielern, mit illusionsverstärkender Musik und Beleuchtung in eine sich am Mainstream-Film orientierende Bühnenästhetik übersetzt.26 Seiner Inszenierung des Stückes vom Stofflichen her bleibt als Verdienst, gezeigt zu haben, worin die Herausforderung der Phädra für ein heutiges Theater liegen könnte: Es müsste eine Darstellungsweise finden, die sich grundlegend von jenem Code unterscheidet, den das 18. Jahrhundert im Theater begründete, und den das 19. Jahrhundert und der Film im 20. Jahrhundert zum Synonym von Natürlichkeit erhob.27 Die Arbeit der Wooster Group unternimmt diesen Versuch. Statt wie Chereau zu versuchen, eine für das von den Medien des 20. und 21. Jahrhunderts geprägte Publikum zugängliche Phädra zu inszenieren, entwickelt sie eine Phädra-Adaption, die das Publikum seine Prägung durch die Medien wahrnehmen lässt. Sie setzt sich deutlich ab vom tradierten „Klassiker“ Racine, nimmt sich jede erdenkliche Freiheit von seiner Sprache, seiner Handlung, seinen Figuren, der mit seinem Namen verbundenen Auffassung des Theaters und der Konvention der Phädra-Inszenierungen, und kann so in ihm den Wahlverwandten einer Performance- und Tanztheaterarbeit entdecken, die mit der nach ihm einsetzenden „Naturalisierung“, Psychologisierung und Moralisierung des Theaters bricht. Mit und gegen die Deutungstradition überträgt sie Elemente von Racines Stück, ja von seinem Theater in ihre Performance: Ein Sprechen, das nicht Ausdruck von Charakteren ist; eine Dramaturgie, die dem Statischen der an Handlung armen Entfaltung des Seelenkonflikts korrespondiert und das Mechanische des wie am Reißbrett entworfenen Transports der Tragödie aufgreift; die Konzentration auf wenige, pointiert gewählte Leitmotive (in der Phädra sind dies Schweigen und Sprechen, das Widerspiel von Blicken und Erblicktwerden sowie die wiederkehrende Heimsuchung durch das Ungeheure); eine Ordnung des Raumes und der Blicke, die durch die abwesende Anwesenheit jener bei Racine Venus, in der Mythologie Sonnengott genannten Instanz geprägt ist, vor der Blickende wie Erblickte, Redende wie Angesprochene vor aller Handlung und vor dem darin entfalteten dialektischen und im Dialog entfalteten Konflikt von Beginn an gemeinsam erscheinen, erblickt und angesprochen werden, ohne dass sie jemals mit ihr in einen Dialog treten könnten.
26 Phèdre. Regie: Patrice Chéreau. Odéon Théâtre de l’Europe. Premiere am 15.1.2003. Vgl. Müller-Schöll 2003b. 27 Zur Erfindung dieses Codes im 18. Jahrhundert vgl. Heeg 2000.
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Nach der Psychologie: Theater als Sport Seit ihrer Gründung im Umkreis der Kunst- und Performanceszene im SoHo des Jahres 1975 entwickelt die Wooster Group in mehrjähriger Arbeit Inszenierungen in einem schwer zu definierenden Grenzgebiet zwischen Sprechtheater, Performance, Videokunst und Tanz. Aus diesen Sparten kommen die Mitglieder der kosmopolitisch zusammengesetzten Truppe um die Regisseurin Elizabeth LeCompte, aus ihnen ging das vielgestaltige Repertoire der Formen und Techniken hervor, in und mit dem die Wooster Group experimentiert. Wie die vorangegangenen Arbeiten, die von Texten Gertrude Steins, Flauberts, ÿechovs, O’Neills und vielen anderen ausgingen, setzt sich auch To You the Birdie! von allen konventionellen Formen des Interpretations- oder Regietheaters zugunsten einer Theaterauffassung ab, die radikal vom Primat der Szene und des Spiels ausgeht. Es gibt hier zwar auch Text – er wird von der Gruppe als „Version von Racines Phädra“ bezeichnet, stammt von Paul Schmidt und ist eine Übertragung des skelettierten Plots in ein flapsiges Alltagsenglisch – doch stellt er nur ein Element unter vielen dar, deren Zusammenwirken nicht länger gemäß dem Paradigma der Umsetzung eines Textes in Theater begreifbar ist. Man muss To You the Birdie! zunächst als eigenständige Performance beschreiben.28 Frontal vor der Zuschauertribüne ist ein leicht erhöhtes, fast die ganze Breite des Bühnenraumes einnehmendes Plateau aufgebaut, das einen Badminton-Court andeutet. Dieser Court – zugleich Gerichtshof, Königshof und Sportplatz – ist von einer Art von Gerüst eingerahmt, an dem entlang eine bis zum Schnürboden reichende Glasscheibe verschoben werden kann. Auf beiden Seiten des Plateaus stehen Toilettenstühle mit einschiebbarer Pfanne, wie sie in Pflegeheimen oder Krankenhäusern verwendet werden. An ihnen sind Schläuche befestigt, welche zu Gummi-Wärmflaschen führen, die einem Tropf gleich in der Luft hängen. Vor und hinter dem Plateau stehen an beiden Seiten Palmen. Getrennt durch einen schmalen Graben verläuft im Hintergrund parallel ein Steg, der im Lauf des Abends ebenfalls für das Spiel genutzt werden wird. Exakt in der Mitte der Bühne schließt auf einem griechisch anmutenden Säulenstumpf ein TV-Flachbildschirm das Plateau nach vorn hin ab. Ein weiterer Bildschirm hängt über den Köpfen der Spieler am
28 Die Wooster Group verfolgt mit großer Konsequenz die Politik, keine Aufzeichnungen ihrer Inszenierungen für welchen Zweck auch immer zur Verfügung zu stellen. Von daher scheint es unumgänglich, nachfolgend zuerst eine ausführlichere Darstellung der Inszenierung zu versuchen, die anschließend den Ausgangspunkt der Interpretation abgeben wird.
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Lügen Tränen nicht? hinteren Ende des Plateaus. Weniger auffällig setzt sich der Aufbau der Bühne in einem am rechten unteren Rand der Zuschauertribüne installierten Steuerpult fort, von dem aus Videomaterial auf einen Monitor übertragen wird, der über den Köpfen der Zuschauer installiert ist. Sehen können ihn nur die Darsteller und, so sie sich umdrehen, die Betrachter in den ersten Reihen. Nicht weniger wichtig für den Ablauf des Abends ist daneben ein vom Regiepult aus gesteuerter Sound. Noch bevor das Spiel beginnt, hört man im noch leeren Theaterraum wiederholt ein kurzes Pling – als sollte der Ton von Beginn an so offen anwesend sein wie alle anderen Elemente, mit denen im Lauf des Abends gespielt wird. Die Performance, die in diesem Spiel-, Klang- und Schauraum entwickelt wird, verhält sich zu Racines Phädra auf allen Ebenen – Bühne, Kostüme, Schauspielerei, Sound etc. – in der Art eines Nachspiels oder einer Nachschrift. Einer Bestimmung des byzantinischen Lexikon Suida folgend könnte man sie im klassischen Sinne als Parodia bezeichnen: Der Text einer Tragödie wird zu einer Komödie gemacht.29 Das Komische an dieser Komödie ist dabei präzise im Sinne von ‚etwas kommt mir komisch vor‘ zu begreifen – verschoben, verschroben, verrückt, eigenartig, auffällig. Komisch ist das vielgestaltig in Erscheinung tretende permanente Bewusstsein des untilgbaren Abstands zu Tragödie und Geschichte, das Ausstellen der Arbeit mit bereits geprägtem Material, das neu verwendet wird – zitiert, verschoben, nachgespielt, anders zusammengesetzt. Das privilegierte Stilmittel der Performance entspricht dieser Definition des Komischen. Es greift gewissermaßen Phädras Selbststilisierung als „schwarzes Feuer“ auf und lässt sich in rhetorischer Terminologie als Katachrese beschreiben, als Bildbruch. Typisch für ihn etwa die Palmen: Sie sind künstlich und stecken zum Teil in dreirädrigen Gehapparaten, wie sie für fußkranke Patienten im Krankenhaus verwendet werden. Der Traum von Griechenland, von südlicher Landschaft, edler Einfalt und stiller Größe, der auch in den Säulen und später im projizierten Torso eines Athletenkörpers heraufbeschworen wird, ist so von Beginn an untrennbar mit seinem in den Versatzstücken aus Krankenhaus und Altenheim angelegten Komplementärbild verbunden, mit dem Verweis auf die körperliche Hinfälligkeit, auf moderne Verwahranstalten, Todesnähe, Sterblichkeit und Kreatürlichkeit. Sinnbildlich kehrt so von Anfang an das Kuriosum einer klassischen Heldin wieder, die als Todkranke und den Tod Ersehnende eingeführt wird und auch später der Todesauffassung eines barocken Trauerspiels näher steht als dem
29 Vgl. Genette 1993, 26.
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Nikolaus Müller-Schöll idealistischen Muster des durch seinen heroischen Tod sinnstiftenden Helden.30 Einen Bildbruch führt auch ein zentrales Motiv der Performance ein, das Züge der alten Quellen kommentiert und überträgt und zugleich die Distanz zu ihnen markiert: Das Badmintonspiel. Alle Hauptfiguren üben sich darin – die Männer mit großer Schlagkraft und Geschwindigkeit, Phädra glücklos, sie verschlägt gleich den ersten Ball.31 Das Ende des Hippolytos wird durch seinen verbogenen Badmintonschläger signalisiert. Die Matches werden wie TennisSpiele gezählt und kommentiert und mit Sound unterlegt, der an Videospiele oder Comic Strips erinnert, jeder Schlag ein Ton, fällt der Ball zu Boden, hört man das Klirren einer Fensterscheibe. Das Spiel greift also gleichsam die bloße Mechanik des Dialogs auf, der ja nicht von ungefähr mitunter auch als ‚Schlagabtausch‘ bezeichnet wird. So originell diese Idee auf den ersten Blick erscheint, sie hat eine lange Vorgeschichte: Bekanntlich kokettierte Brecht mit seiner Liebe zum Boxkampf und wünschte sich bei seinen Zuschauern die Kennerschaft des Fußballzuschauers. Doch auch schon Hölderlin verglich die Personen in der Antigone „mit einem Kampfspiele von Läufern“, das „Ringen im Oedipus mit einem Faustkampf, das im Ajax mit einem Fechterspiele“.32 Darüber hinaus wird so an die räumliche Nähe des klassischen französischen Theater zum Sport erinnert, schließlich kam es von den Jeux de Paumes-Plätzen, den frühneuzeitlichen Tennisplätzen. Und natürlich sind Sportler die Helden heutiger Alltagsmythologie: Wenn die Spieler sich zwischen dem Match über jedes nur erdenkliche schwitzende Organ wischen, von der Stirn bis zum Schritt, dann zitieren sie Gesten, die aus Tennis-Übertragungen heute so weltumspannend bekannt sind, wie es im Griechenland des Euripides die Mythen waren, die Folien und der Verhandlungsstoff der Tragödie. Vor allem aber kommentiert das Badminton-Spiel die Ordnung der Geschlechter: Hippolytos und sein väterlicher Ratgeber Theramen sind zwei junge athletische Sportler, die fast nackt auftreten, nur bekleidet mit kurzen, klassizistisch anmutenden Röckchen, die an Saunalappen erinnern, ihre Gespräche über Frauen gleichen dem mit Zoten um sich schmeißenden Boys-talk in der Umkleidekabine: „Suppose your mother hadn’t overcome her virginal scruples – where would you be?“ Theseus tritt als gebräunter MuskelMacho mit goldener Armbanduhr in Erscheinung. Dagegen er30 Zu dieser Entgegensetzung vgl. W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Benjamin 1980, I, 203-430, insb. 238-335; vgl. dazu auch Weber 1991. 31 Die Schauspieler nahmen dafür Unterricht beim chinesischen Meisterspieler Chi Bing Wu. 32 Vgl. Hölderlin 1969, 790.
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Lügen Tränen nicht? scheint Phädra eingeschnürt bis zum Hals in antikisierende Kleidung, hinfällig und von Beginn an als vom male bonding ausgeschlossene Todgeweihte. Eng verknüpft mit der Ikonographie des Badminton-Spieles ist die Figur, die als Handelnde von der Wooster Group dem übernommenen Stoff hinzugefügt wird: Venus, die Pfeile verschießende Gottheit, die bei Racine angebetet, beschworen und verflucht wird. Sie taucht auch hier als letzte, nicht weiter zu hinterfragende Begründungsinstanz auf, stellt zu Beginn die Figuren vor und führt sich selbst mit den Worten ein: „Mein Name ist Venus. Ich bin der Schiedsrichter. Meine Entscheidungen sind unumstößlich.“ Die souveräne Göttin der Liebe erscheint in doppelter Gestalt: Zum einen als Schauspielerin, welche die Spielleiterin im Hintergrund gibt. Was ihrem antiken Vorbild die Pfeile waren, sind ihr die Federbälle, zu englisch Birdies. Sie ist es, von der der Titel gebende Satz sich herleitet, der allerdings nicht wörtlich fällt: To You the Birdie!, wörtlich: „Du bist am (Feder)-Ball“. Im übertragenen Sinn deutet dieser Titel auf eine die Immanenz des Dialogs und der Handlung unterbrechende und zugleich einsetzende, überhaupt erst ermöglichende Gabe,33 einen Pfeil, der ohne Unterschied jeden einzeln oder im Doppel treffen, und jeden mit jeder und jedem verkuppeln kann, vom Zufall bestimmt, die kleinen und großen Katastrophen auslösend, die Herzen brechend oder – siehe Phädra – die zu schwachen Existenzen vernichtend. Der Birdie ist, was den Griechen die Tyche war, das Schicksal, der Zufall, das Glück. Die Performance spielt darauf an, wenn Phädra den Federball wie eine Blume rupft, um herauszufinden, ob ihr Angebeteter sie liebt oder nicht, zugleich erinnert der Federball auch an die einmal erwähnte Zukunftsschau in den Eingeweiden der Vögel. Eine andere Liebesgöttin, genannt Video-Venus, erscheint über den Köpfen der Schauspieler auf einem Bildschirm. Sie verfolgt das Spiel, bewertet es und zählt aus. In ihr ist das zentrale Anliegen der Wooster Group in diesem wie in den vorhergegangenen Stücken angedeutet: An den Platz, an den die Griechen das Schicksal, Racine den christlichen Gott und sein Stück, je nach Standpunkt, Venus oder aber die Sprache setzten, stellt die Wooster Group das elektronische Bild, die Vergnügungsund Spieleindustrie als Gestell,34 das die condition humaine heute bis in die kleinsten Regungen prägend bestimmt.
33 Zur Thematik und Problematik einer die Ökonomie überschreitenden und einsetzenden Gabe vgl. Wetzel/Rabaté 1993. 34 Vgl. Heidegger 1954.
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Mediale Dezentrierung Wie Christian Biet gezeigt hat, lässt sich die geschlossene Form des französischen Klassizismus weniger immanent erklären denn vielmehr als Reaktion auf die vielfältigen Formen der Auflösung und Zerstreuung, von der die Theater-Praxis des 17. Jahrhunderts geprägt war35 – es wurde bekanntlich in Theatern gespielt, deren beständig zum Pöbeln bereites Parkett die Illusion ebenso störte wie die auf Bühnenbänken plazierten privilegierten Besucher von Stand, die mit dem Stück sich auszustellen suchten.36 Ähnliches lässt sich über den neben der Komik zweiten auffälligen Zug der Arbeit der Wooster Group sagen: Ihren Versuch der Formalisierung des Spiels. Racine wird gleichsam zu ihrem Aristoteles, zum Vorbild der Suche nach einer strengen Form, die man gleichwohl aus dem Repertoire und mit den technischen Mitteln der eigenen Zeit entwickelt. Was für Racine dabei Poetik und Rhetorik waren, das ist für die Wooster Group die avancierte Medientechnologie. Die Truppe widersetzt sich dem Mainstream der Kulturindustrie, ihrer Reizüberflutung, ihrer kannibalistischen Einverleibung alles Fremden37 und ihrer Reduktion jeder Erfahrung auf Begriffe mit deren eigenen Mitteln und Techniken. Petra Maria Meyer hat das Prinzip der Wooster-Group-Inszenierungen vor einigen Jahren auf den schönen Nenner einer „Theatersprache im Plural“38 gebracht. „Die halluzinatorische Einheit von Figur, Rolle und Person“, so präzisierte Gerald Siegmund in einem Aufsatz über die O’Neill-Produktion, „wird aufgesprengt und ausgestellt. Sie wird sichtbar und damit auch bewusst und analysierbar gemacht als Prinzip des Theaters wie des Selbstbewusstseins, das einer theatralen Struktur folgt.“39 Entsprechendes lässt sich in der Phädra-Arbeit beobachten: Während die Unterhaltung der BühnenPersonen auf der Ebene der Ausdrucksweise in Umgangssprache verläuft, unterliegen ihre Bewegungen, ihr Sound und ihre bildliche Erscheinung einer Technik der Fragmentierung, Dezentrierung und Formierung. In einer der wenigen Selbsterklärungen liest sich dies so: To You the Birdie! erlaubt uns die Vertiefung unserer Erforschung der Möglichkeiten des ‚Tanzes mit der Technologie‘ auf dreifache Weise. Wir arbeiten mit 35 36 37 38 39
Biet 2005. Vgl. Ravel 1999; vgl. auch Biet 2005. Vgl. Müller-Schöll 2005. Meyer 1995, 369. Siegmund 2002, 74; vgl. darüber hinaus die erste Sammlung weitergehender Aufsätze zur Arbeit der Wooster Group Callens 2004, darin speziell Maurin 2004; Parker-Starbuck 2004; Wessendorf 2004.
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Lügen Tränen nicht? Live-Einspeisungen einer auf der Bühne befindlichen Kamera, die die Performer zwingen, zugleich den gerahmten, medial vermittelten Raum des Monitors und den tatsächlichen Raum der Bühne zu betrachten. Wir schaffen auch Sequenzen, in denen die Performer mit ihrem eigenen vorab aufgenommenen Bild einen Pas de deux tanzen […]. Eine dritte Herangehensweise beinhaltet den Gebrauch bereits existierender Videobänder – darunter Filme der Marx Brothers und Tanzstücke –, die auf Monitoren gezeigt werden, die lediglich für die Performer sichtbar sind, welche die körperlichen Handlungen und die Kamerabewegungen dann mittels ihrer Körper auf die Bühne übersetzen.40
Deutlicher noch als in früheren Inszenierungen treten durch diese drei Techniken Gestik, Artikulation und Körperbild der Personen auf der Bühne als je für sich gestaltete Elemente auseinander. Der potentielle oder tatsächliche Konflikt der Elemente ist das Programm, das sich auf allen Ebenen beobachten lässt: Wenn etwa Theseus und Hippolytos miteinander streiten, dann ahmen sie, ohne dass der Betrachter es weiß, die Bewegungen eines Mantel- und Degenfilmes nach, maßgeblichen Teilen des Stückes gibt die Dramaturgie einer Seifenoper den Takt vor und an anderer Stelle nehmen die Männer in ihren Bewegungen Tanzfiguren von Merce Cunningham und Martha Graham auf. Es ist, als wollte die Regie die Spieler durch diese auf dem Monitor für sie noch in der Aufführung sichtbaren Vorbilder beständig davon abhalten, die Distanz zum dargestellten Stoff mit dem auszufüllen, was sie wissen und können – mit ihrem durch das heutige New York, eine Schauspielausbildung und einen Brotberuf in der Unterhaltungsindustrie geformten Bewegungsrepertoire, mit ihrer Eitelkeit, ihren Einfällen, ihren Techniken, ihrem privaten Erfahrungsschatz und Wiedererkennen, ihren vermeintlich individuellen Gefühlen und Emotionen. Wenn andererseits Artikulation und Körperbild auseinander treten, dann greift die Wooster Group einen der zentralen Konflikte der Bühne des französischen Klassizismus auf: War bei Racine, wie Helga Finter anschaulich entwickelt, die Deklamation ein Drittes zwischen dem, was das 17. Jahrhundert als „natürliche Stimmartikulation“ verstand auf der einen und einem Sprechgesang oder Singen auf 40 „To You the Birdie! allows us to further our exploration of the possibilities of ‚dancing with technology‘ in three specific ways. We work with live feeds from on-stage cameras, which force the performer to simultaneously consider both the framed, mediated space of the monitor and the actual stage space simultaneously. We are also creating sequences that rely on the performer dancing a pas de deux with their own pre-recorded image, yielding movement that is psychologically evocative as well as physically captivating. A third approach involves the use of existing videotapes – including Marx Brothers films and dance pieces – on monitors visible only to the performers, who then translate physical actions and camera moves through their bodies onto the stage.“
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Nikolaus Müller-Schöll der anderen Seite, das „einzigartige Experiment […], die Stimme als prekäres Band zwischen Körper und Sprache“ hörbar zu machen, zwischen „der Musik der Leidenschaft und dem Signifikanten des Gesetzes“, zwischen barocker Deklamation und empfindsamem Ausdruck,41 so zielt das Experiment der Wooster Group mit gänzlich anderen Mitteln darauf ab, im heutigen gesellschaftlichen Dispositiv erneut gleichsam den bloßen Träger der Extreme hervortreten zu lassen, die – mit der oben eingeführten Terminologie – bloße Geste. Nicht von ungefähr dürfte Finter in ihrer Beschreibung der Racineschen Deklamation mit Blick auf die Stimme auf einen ähnlichen Vergleich verfallen sein wie Agamben in seiner Beschreibung der Geste, nämlich auf den Tanz, den das 17. Jahrhundert mit den gleichen Kategorien beschrieb wie die Deklamation: „cadence, allure, accents“.42 Es geht in jedem Fall um die Erzeugung einer Äußerlichkeit ohne Innerlichkeit. Diese wird aber im Fall der Wooster Group nicht durch Reduktion und Herstellung eines prekären Gleichgewichts43 zwischen den Extremen, sondern durch eine beständige Überdeterminierung und Ausstellung des Konflikts der Elemente erreicht: Die Performer werden gleichsam planmäßig überfordert, durch ein Übermaß an Anforderungen zu einer beständigen Verhandlung mit der Form gebenden Medien-Maschine gezwungen – ein Knopf im Ohr erlaubt es der Regisseurin Elisabeth LeCompte, noch während der Performance Anweisungen nachzureichen. Im Ergebnis stellt die jeweilige Aufführung den Kompromiss zwischen einer tendenziell unerreichbaren Anforderung und einem endlichen Vermögen dar – oder genauer aus: Denn nicht mehr um die kontrollierte Darstellung geht es hier, sondern vielmehr um den kontrolliert-unkontrollierten Lapsus, der sich ausstellt als Residuum und Rest einer gleichermaßen persönlichen wie die Persönlichkeit fragmentierenden Freiheit im Zeitalter der Maschine, als komische oder parodistische Wiederkehr des Tragischen im Kontext der Medien. Auch Phädra wird auf diese Weise in jeder Hinsicht fremdbestimmt: Im Gegensatz zu den sexualisierten Körpern der griechischen Männergesellschaft erscheint sie als entsexualisierter Pflegefall. Ihr privilegierter Platz ist der Toilettenstuhl und aus ihrem Inneren holt man keine tiefen Gefühle, sondern per Einlauf die Exkremente. Wenn der junge muskulöse Hippolytos als ihr Pfleger ihre Pfanne lehrt, zeigt er sich geekelt, von ihr begrapscht zu werden. Ihr Text wird weitgehend mit elektronisch verfremdeter Stimme von dem im Hintergrund sitzenden Theramen/Leser gesprochen, dessen Sprechen dabei gleichwohl übertönt wird von einer Aufnahme seiner
41 Vgl. Finter 2002, 84-85. 42 Vgl. Finter 2002, 90. 43 Vgl. Finter 2002, 89.
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Lügen Tränen nicht? Stimme, die aus dem Lautsprecher kommt. Allenfalls im Moment eines Ausrufes unterbricht sie diese Dislokation ihrer Stimme. Mitunter nehmen zusätzlich eingeführte Zofen Motive ihres Textes als Gesang auf und singen: „I want to die, I hate my life.“ So kehrt gewissermaßen auf dem Umweg der medialen Transformationen das ganze Spektrum der Möglichkeiten stimmlicher Artikulation wieder: von der ‚natürlichen Stimmartikulation‘ im Moment des Ausrufs über das Singen (der Zofen) bis zur zwischen Sprechen und Singen oszillierenden Deklamation, die in der gedoppelten, teils reproduzierten, teils aktuellen Stimme des Theramen bzw. des Lesers wiederkehrt. Die Phädra des Zeitalters der audiovisuellen Medien ist gewissermaßen die Entfaltung der in Racines Phädra angelegten Möglichkeiten. Ihrem Status als Sprachmaske einer nachträglichen Darstellung entsprechend, weiß sie bereits um ihr Schicksal: Einmal erwähnt sie, dass sie, was folgt, in der Schule gelernt hat. Sie ist insofern hier nichts als der Schauplatz medialer und medizinischer Zuschreibungen. Die mediale Manipulation wird nicht zuletzt durch die Art und Weise vorgeführt, wie der zentrale Monitor vorn in der Mitte der Bühne eingesetzt wird: Wir sehen auf ihm manchmal ein Ab- oder Teilbild dessen, was zugleich vermutlich oder tatsächlich hinter ihm geschieht. Sitzen etwa Hippolytos und Theramen hinter ihm, dann werden ihre Beine und die spärlich verdeckten Lenden durch den Monitor schamhaft versteckt und zugleich auf ihm freizügig enthüllt; wenn in solchen Momenten die Spieler sich, genauer: ihre bereits gespielten Rollen nachspielen, weiß der Zuschauer nie mit Sicherheit, ob er ein synchron laufendes Videobild oder eine vorab gedrehte Aufnahme sieht. Seine Zweifel am Status dessen, was er sieht, werden genährt durch wiederholte Beschleunigungen, Verzerrungen oder Stills des elektronischen Bildes. In anderen Sequenzen spielen die Spieler mit ihrem eigenen Spiegelbild in der vor ihnen arretierten Glasscheibe. Einem Dia-Clip gleich werden Ausschnitte aus dem Heroenleben des Theseus, von Venus moderiert, auf einem Monitor gezeigt. Die Entgrenzung, Fragmentierung und Demontage von Stimme und Körperbild der Charaktere ist Teil einer Versuchsanordnung, die nicht nur die Performer, sondern im selben Maße den Betrachter beständig durch das Überangebot von in der Art eines Palimpsestes übereinander gelegten Folien überfordert und überrumpelt. Was er sieht, hängt dabei stark vom Winkel ab, aus dem er die vielschichtig aufgebaute Bühne beobachtet. Nimmt er sie von der Mitte der Tribüne aus, also sozusagen aus der Perspektive des absolutistischen Fürsten wahr, so decken sich elektronisches Bild und dahinter liegende Bewegung bis zum Punkt, dass unentscheidbar wird, wann die Performer vom Video-Bild abweichen, wann das Bild
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Nikolaus Müller-Schöll sie zeigt und wann sie das auf dem Bild gezeigte nachahmen. Aus schrägem Winkel, von der Seite des Zuschauerraums aus, erscheinen ihm Gestik und Bild als beständig aktual oder potentiell auseinanderdriftende Varianten ohne feststehendes Drittes. Ist sein Platz schließlich vorn neben dem Pult, von dem aus die VideoAusschnitte eingespeist werden, so nimmt er, was anders unentzifferbare Synthese bliebe, als kalkulierte Montage wahr. In jedem Fall aber wird er das vermeintlich Natürliche aller Spielenden, ihre bloße Erscheinung, ihren Körper und ihre Stimme, als medial manipuliert und vielfach überdeterminiert begreifen müssen, die Performer als Monstren, die ihr Zentrum wie Barthes zufolge die Figuren der Phèdre Racines anderswo haben als dort, wo ihr Bild erscheint und ihre Sprache hörbar wird.
Von Phädra zu Birdie : der Körper als Träger Es ist oft gesagt worden, dass die Wooster Group auf neue, originelle Weise mit der Technologie heutiger Massenmedien auf der Bühne arbeitet. Was aber wird in ihrer Arbeit aus dem ‚Körper‘? Was die Versuchsanordnung der Wooster Group über das Verhältnis von Emotion oder Innerlichkeit und ihrem Ausdruck vorführt, ist zunächst eine Entleerung des vermeintlichen Wissens vom Körper und allgemeiner vom Menschen, von der Kausalität seiner Handlungen und den Zusammenhängen seiner seelischen Regungen. Dargestellte Figur wie darstellender Performer werden gleichermaßen in die Einsamkeit ihrer singulären Erfahrungen und Emotionen entlassen. Was von ihnen auf der Bühne in der multiplen Beschreibung des Palimpsests der Wooster Group bleibt, sind Körper als Medium, Träger, Schauplatz oder Matrix der Einschreibungen, letztlich also eine Leere. Der Körper, so könnte man sagen, zeigt sich dort, wo die Performer den Boden unter den Füßen verlieren. Man könnte ihn in gewisser Hinsicht als das Unbewusste ihrer Performance bezeichnen, er ist nicht signifikant, sondern das, was sich der Signifikation widersetzt, sie parodiert. Weder bezeichnet er etwas, noch ist er selbst bezeichnet, vielmehr ist er zugleich exponierend und exponiert: Die bloße Ausdehnung des Einbruchs, der die Existenz ist.44 Seine Leere ist die Leere derjenigen, die eben deshalb, weil sie alles spielen, alles darstellen können, nichts darstellen können – es sei denn die bloße Potentialität der Darstellung selbst. Um sie, so scheint mir, geht es in der Arbeit der Wooster Group: „A Wooster Group performance“, so William Dafoe einmal, „is about designing
44 Zur hier kaum mehr als angedeuteten Frage, wie der Körper zu denken und sein Entzug zu beschreiben wäre, vgl. Nancy 2003, 13-16, 26 und 33-34.
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Lügen Tränen nicht? the possibilities, not designing the event.“ Das Sein der Körper liegt hier, wie man anders mit einem Paradox behaupten könnte, im bloßen Bezug. Was die Wooster Group der Tradition des 17. Jahrhunderts entreißt, ist, um es in Anlehnung an Hans-Thies Lehmanns glückliche Formulierung zum Theater Racines zu sagen, ein Darstellen auf der Bühne, das nicht länger ein durch Konventionen des Ausdrucks entstelltes Eigentliches hervorbringt, sondern vielmehr verschiedene Weisen eines Ausdrucks der Konvention.45 Die Wooster Group gilt heute vielerorts als Avantgarde von gestern. Neue Formen des angeblich Authentischen in der Darstellung wollen uns glauben machen, es gebe die Möglichkeit einer Rückkehr zu wahren Geschichten echter Menschen aus Fleisch und Blut, zu Theater als Spiegel und Kommentar der aktuellen Politik und dabei nicht zuletzt zu überzeitlichen Qualitäten des Schauspiels, des Tanzes und des Ausdrucks. Ihnen steht eine entgegen gesetzte Tendenz gegenüber, die im Körper dort eine Insel der Authentizität oder des Realen inmitten eines Meers der Fiktion oder des Imaginären und Symbolischen zu finden glaubt, wo dieser, wie gesagt wird, „echten Schmerz“ erleidet oder „echte“ Ausscheidungen von sich gibt: Schweiß, Urin, Blut etc. Beide Tendenzen können im Sinne von Marx als Ideologie bezeichnet werden: Als Verwechslung eines referentiellen Potentials mit einem essentiellen Referenten.46 Ganz gleich, wie der Körper sich bemerkbar macht, seine Äußerung bedarf der Interpretation. Der Grund der Tränen wie aller anderen Körpersäfte – das wäre aus der szenischen Ausstellung der Armut des Körpers im Zeitalter der Maschine47 zu schließen – ist nicht im Sinne eines Fundaments zu denken, nicht linear, nicht im Singular. Wie jeder andere Signifikant teilt vielmehr auch der vermeintlich unmittelbare Ausdruck körperlicher oder emotionaler Ursachen in jedem Fall seine eigene Mitteilbarkeit mit.48 Die Polygraphie und Agraphie der Arbeit der Wooster Group mit und nach Racine kann dabei jedoch nicht zuletzt als Versuch begriffen werden, sich dem Ideologischen zu widersetzen, ohne das in ihm enthaltene, selbst womöglich nicht ideologische Bedürfnis zu verraten: Denn To You the Birdie! ist vermutlich auch und vielleicht in erster Linie eine hommage an den im englischen Titel birdie so nahe liegenden body: Jedoch weder an den wie immer gearteten manipulierten und ma45 Vgl. Lehmann 2004. 46 Vgl. zum hier verwendeten Ideologiebegriff: de Man 1989; Marx/Engels 1978. 47 Vgl. zum Zeitalter der Maschine W. Benjamin: Erfahrung und Armut, in: Benjamin 1980, II.1, 213-219. 48 Vgl. zum Begriff der Mitteilbarkeit W. Benjamin: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, in: Benjamin 1980, II.1, 140-157. Vgl. dazu Müller-Schöll 2002; Hamacher 2001.
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Nikolaus Müller-Schöll nipulierenden Körper der Darsteller, noch an den phantasmatischen schönen Heldenkörper des Klassizismus oder die unter dem Begriff ‚Körper‘ verbreitete Reduktion des Lebens in Politik und Medizin, sondern an die immer anderen Körper und den Körper als je spezifisch Anderen, als Träger, der überträgt und zugleich in jeder Übertragung dasjenige ist, was sich nicht übertragen lässt, als Leere, die in jeder Darstellung nur im Modus der in ihr ver- und geborgenen Möglichkeiten abwesend anwest49 und auf ein anderes Spiel oder das Andere des Spieles verweist.
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49 Zu dieser Formulierung vgl. W. Benjamin: Was ist das epische Theater?, in: Benjamin 1980, II.2, 519-531, insb. 530-531.
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Erschütterungen zwischen Körper und Bild. Intermediale Strategien der Big Art Group JENS ROSELT Der Film, den Sie gleich sehen werden, erzählt das tragische Schicksal, von drei bzw. fünf Freunden. Besonders bedrückend ist die Geschichte deshalb, weil die Beteiligten noch jung waren. Aber selbst ein langes Leben hätte sie kaum auf das vorzubereiten vermocht, was ihnen an jenem Tag widerfahren sollte. Für diese jungen Menschen sollte sich nämlich ein idyllischer Herbst-Nachmittag und Abend als wahrer Albtraum erweisen.
Mit diesem aus dem Off gesprochenen Prolog beginnt die Produktion Flicker der New Yorker Big Art Group. Dass ein Theaterabend sich selbst als Film annonciert, muss im Gegenwartstheater nicht verwundern. Der Einsatz von Video- und Filmprojektionen oder die Verwendung von akustischen und visuellen Aufnahme- und Abspielgeräten kennzeichnet die Ästhetik durchaus unterschiedlicher Arbeiten des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst ebenso wie der dramaturgische Rückgriff auf filmische Stoffe, Erzählweisen oder Drehbücher.1 Im Falle von Flicker ist diese Ankündigung allerdings weder dadurch gerechtfertigt, dass tatsächlich ein vorproduzierter, quasi fertiger Film gezeigt würde, noch dadurch, dass ausschließlich Medien technischer Reproduktion zum Einsatz kämen. Vielmehr wird auf der Bühne ein mediales Arrangement geschaffen, das stets auf der Basis des Live-Ereignisses operiert und das Publikum deshalb als konstitutiven Teil der Aufführung begreift. Indem der Film gewissermaßen im Kopf der Zuschauer entsteht, werden diese als Ko-Produzenten von Flicker relevant. Wie an einem virtuellen Schnittpult sehen sich die Zuschauer aufgerufen,
1
Vgl. Roselt 2004, 34-41.
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Jens Roselt das visuelle und akustische Material zu sichten, auszuwählen, zu kombinieren und zu verwerfen. Hierzu zählen die auf den Projektionsflächen repräsentierten Handlungen ebenso wie die auf der Bühne präsenten Körper der Performer. Wie beim realen Filmschnitt ist dabei zu erleben, dass der größte Teil des Materials unter den Tisch fällt. Aufregend wird diese Arbeit der Zuschauer nicht nur durch das forcierte Tempo auf der Bühne, sondern eben auch dadurch, dass ihr Material keine vorproduzierte abzuspielende oder wiederholbare Textur ist, sondern aus den eigenen Wahrnehmungen besteht. Die Materialität der Aufführung wird im Hier und Jetzt vor und mit den Augen und Ohren der Zuschauer performativ vollzogen. Caden Manson, der Regisseur von Flicker, bezeichnet dieses Theaterformat denn auch als „Real-Time Film“. Der Videokünstler Manson hat die Big Art Group 1999 in New York gegründet, nachdem er u. a. bereits bei Robert Wilson und der Wooster Group Theatererfahrungen gesammelt hatte. Flicker (2002) ist Teil einer Trilogie, zu der auch die Inszenierungen Shelf Life (2001) und House of No More (2004) gehören. Der eingangs zitierte Prolog legt nahe, dass Flicker einiges zu bieten hat. Es wird eine mysteriöse Spannung erzeugt durch die Ankündigung, dass junge Leute einen wahren Albtraum erleben werden, wobei die Tragik darin besteht, dass sie selbst nicht wissen bzw. durchschauen, auf welche Katastrophe sie zulaufen. Diese dramaturgische Prophezeiung kann Zuschauer, die mit neuen Medien aufgewachsen und vertraut sind, durchaus den Mund wässerig machen. Tatsächlich könnte der Prolog auch aus dem Werbetrailer eines neueren Kinofilms stammen. Mancher im postdramatischen Theater gestählte Zuschauer mag das Versprechen so konventioneller Aspekte wie einer Geschichte und Figuren oder gar tragischen Schicksals hingegen als Provokation einer ironischen Erwartung auffassen, die notwendig enttäuscht werden muss. Flicker jedenfalls hält, was die Ankündigung verspricht, und zeigt eine verhältnismäßig stringente Handlung, die man sehr wohl als Plot beschreiben kann, womit die folgende Auseinandersetzung mit der Inszenierung auch beginnen soll.
Plot Genau genommen sind es zwei Handlungsstränge, die parallel zueinander verlaufen. Das eine ist die Dreiecksgeschichte zwischen Justin, Jeff und Rebecca. Justin ist ein jugendlicher Stricher, der im Transvestitenmilieu verkehrt und nach einem Selbstmordversuch bei Rebecca Unterschlupf gefunden hat. In ihrer Wohnung begegnet er Jeff, dem Ex-Freund Rebeccas. Dieser fühlt sich zu Justin
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Erschütterungen zwischen Körper und Bild eigentümlich hingezogen. Er trifft sich mit ihm, um den Jungen zu interviewen und ihn dabei mit einer Videokamera aufzunehmen. Hierzu fährt er mit Justin in seinem Auto zu einem Wald, wo er ihn auffordert, sich auszuziehen und vor der Kamera zu posieren. Rebecca bemerkt die allmähliche Annäherung beider Männer und zeigt sich irritiert. Bei einem wahrscheinlich kommerziellen Treffen mit einer unbekannten Person wird Justin schwer misshandelt. Jeff und Rebecca machen mit ihm schließlich einen Ausflug, bei dem sie mit dem Auto verunglücken. Der andere Handlungsstrang dreht sich um fünf junge Leute, die mit dem Auto in den Wald fahren, um eine Art Party zu feiern; sie streifen durch die Gegend, verlieren sich und suchen einander. Drei von ihnen werden dabei von einer Art Phantommonster aufgeschlitzt und zerstückelt. Nachdem die überlebenden zwei Freunde ihre Leichen gefunden haben, ergreifen sie panisch im Auto die Flucht. Doch das Phantom ist auch hier mit von der Partie und greift die Beifahrerin an, wobei es ebenfalls zu einem Unfall kommt. Während die Geschichte um Justin, Jeff und Rebecca melodramatische Züge aufweist, orientiert sich der Horror um die fünf Freunde am zeitgenössischen Kinogenre, zu denken ist vor allem an das Blair Witch Project, einen US-amerikanischen Horrorfilm, den Daniel Myrick und Eduardo Sánchez 1999 im Format einer PseudoDoku gedreht haben. Dramaturgisch sind beide Handlungsstränge miteinander verzahnt, d. h. im szenenweisen Wechsel wird das Geschehen parallel zueinander dargestellt, wobei die Schnittstellen stets kenntlich werden. Was die beiden Geschichten inhaltlich miteinander verbindet, bleibt unklar. Nur der Wald als Schauplatz spielt in beiden Handlungssträngen eine Rolle. Außerdem gibt es eine ausdrückliche Szene der Begegnung im Wald, bei der einige der Freunde auf Jeff und Justin bei ihrem Videodreh stoßen, was vor allem Jeff unangenehm zu sein scheint. Denkbar ist zudem, dass die beiden Autounfälle, die nacheinander am Schluss gezeigt werden, eigentlich ein Unfall sind, d. h. beide Wagen und damit auch beide Geschichte krachen am Ende ineinander. Wie jedes Verkehrsunglück muss auch dieser dramaturgische Crash nicht notwendig einen Sinn ergeben. Dennoch kann dieses opulente Geschehen darauf neugierig machen, was tatsächlich auf der Bühne stattfindet. Zumal das Auto ein wichtiger szenischer Ort ist, der als klassischer Filmschauplatz der Disposition von Theaterräumen eher zuwiderläuft. Freilich ist diese Inhaltsangabe das Ergebnis nachträglicher Reflexion und Recherche. Sie dürfte dem Publikum in der Aufführung so kaum zu Gebote stehen. Die Wahrnehmung und Erfahrung der Zuschauer kann sich vielmehr dergestalt abspielen, dass sie das visuell und akustisch attraktive Geschehen fasziniert verfolgen und
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Jens Roselt so auf eine scheinbar klare Handlung neugierig werden, die sie aber nur lückenhaft und ungenau nachvollziehen können. Insbesondere die Schnittstellen beider Handlungsstränge geben viele Fragen auf: Wer ist das Phantom? Was treibt den mysteriösen Jeff an? Warum behauptet er, wie Norman Bates in Hitchcocks Psycho, seine Mutter zu besuchen, obwohl diese schon tot ist? Ist er gar selbst das Phantom? Auch nach der Lektüre des Textes und der Sichtung des Videos sind diese Unsicherheiten nicht zu klären. Das muss jedoch nicht mit dem mangelnden analytischen Verständnis oder der Unaufmerksamkeit der Zuschauer zu tun haben, sondern ist – so die These – auf die Arbeitsweise und Ästhetik der Big Art Group zurückzuführen. Die Fragen ‚Worum geht es eigentlich?‘ und ‚Was soll das Ganze?‘ werden so immer wieder perpetuiert, wobei unklar ist, ob es ein sinnverbürgendes Ganzes trotz der spektakulären Dramaturgie überhaupt gibt. Insofern ist die Art und Weise der hier vorgelegten Beschreibung der Aufführung durchaus fragwürdig, denn als erstes wurde der Inhalt rekapituliert, als müsse nun in einem zweiten Schritt nur noch die szenische Umsetzung eruiert werden. Doch diese Unterscheidung, die letztlich eine von Form und Inhalt ist, erweist sich als nicht adäquat, da die Darstellungspraxis der Gruppe nicht nur etwas zeigt, sondern zugleich Lücken und Zwischenräume produziert, die die Zuschauer verunsichern, beunruhigen oder auch amüsieren können und in jedem Fall ihre Imagination stimulieren. Nach diesen Zwischenräumen soll nun gefahndet werden. Zunächst geschieht dies im wörtlichen Sinne, denn es werden der Raum und dessen technisch-mediales Arrangement beschrieben.
Raum Vorweg ist darauf hinweisen, dass Theater nicht dadurch zu einem medialen Raum wird, dass man auf die Bühne Bildschirme stellt und Videoprojektionen einsetzt, sondern indem Theater immer einen Zwischenraum gestaltet, der das Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden verhandelt. Unter Medialität soll also die Art und Weise verstanden werden, wie durch den Raum Wahrnehmungsordnungen geschaffen werden. Insofern ist die Theatergeschichte auch eine Mediengeschichte, schon bevor die Kamera erfunden wurde. Denn auch der Chor der griechischen Tragödie oder die Narrenfiguren des Mittelalters können als mediale Phänomene gelten, weil sie explizit auf der Schwelle von Bühne und Publikum operieren. Dabei setzen und bedienen sie Wahrnehmungskonventionen und können diese gleichzeitig in Frage stellen und erweitern. In diesem Zusam-
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Erschütterungen zwischen Körper und Bild menhang spielen auch neue Medien technischer Reproduktion ihre Rolle. Medialität ereignet sich gewissermaßen im Grenzgebiet von Bühne und Publikum, von Zuschauern und Schauspielern. Dem Raum kommt bei diesem Grenzgang der Wahrnehmung eine zentrale Funktion zu. Bei Flicker ist es eine erhöhte Podestbühne, vor der die Zuschauer in leicht ansteigenden Sitzreihen hintereinander platziert sind. Am vorderen Rand der Bühne stehen drei etwa schulterhohe Projektionsflächen, während die Spielfläche nach hinten durch eine große Projektionsfläche begrenzt ist. Etwa in der Mitte der Bühne ist hinter jeder der drei vorderen Projektionsflächen eine Videokamera auf einem Stativ fest installiert, die auf die hintere Projektionsfläche gerichtet ist. Wer sich zwischen dieser und einer der Kameras bewegt, wird ‚live‘ auf eine der drei vorderen Flächen projiziert und so für die Zuschauer sichtbar. Jede Kamera nimmt also einen Ausschnitt der realen Bühnenfläche auf. Obwohl sich die Bildausschnitte der Kameras überschneiden, entsteht zwischen den Kameras ein toter Winkel, d. h. ein Darsteller, der zwischen den Kameras 1 und 2 steht, ist unter Umständen auf der Projektionsfläche nicht zu sehen, während er als reale Person sichtbar bleibt. Für die Zuschauer entsteht so die Notwendigkeit, ihre Wahrnehmung der Projektionsfläche und des realen Bühnengeschehens stets miteinander abzugleichen. Das ist ein sehr dynamischer, mithin anstrengender Prozess, bei dem man getrieben wird von der Befürchtung, das Entscheidende beim Hin- und Herblicken gerade zu verpassen. Reale, auf der Bühne agierende Schauspieler werden, wenn sie aufrecht stehen, von den vorderen Projektionsflächen halb verdeckt; sie mögen dann erscheinen wie Puppenspieler beim japanischen Bunraku oder die Figuren beim Kaspertheater. Die Zuschauerreihen sind so angeordnet, dass es prinzipiell möglich ist, beides zu sehen, also sowohl einen realen Schauspieler auf der Bühne als auch dessen technischmediale Repräsentation auf der Projektionsfläche. Unter phänomenologischen Aspekten der Wahrnehmung ist diese Feststellung allerdings zu relativieren, denn beides zugleich, also dem realen Performer und dessen Projektion, kann man gerade nicht sehen. Vielmehr hat man permanent zu entscheiden, was jeweils betrachtet wird, wobei diese Entscheidung keine bewusste sein muss. Die Blicke der Zuschauer können zwischen Körper und Bild flanieren oder unruhig und diskontinuierlich hin- und hergezogen werden. Die visuelle und akustische Attraktion der Bühne ist damit auch ein Schauspiel der Aufmerksamkeitslenkung, das zwischen Konzentration und Streuung oszilliert. Dieses Verfahren der Videodeixis, also das Phänomen, dass die Zuschauer die Aufnahmeapparatur, den
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Jens Roselt Aufnehmenden und dessen Aufnahme sehen können, ist inzwischen ein probates Verfahren im Theater.
Schnitte zw ischen Körper und Bild Alles, was in diesem Bühnenraum erscheint, wird doppelt sichtbar (real und als Aufnahme) und zugleich auch unsichtbar. Zum Einen, weil das szenische Arrangement auf der Bühne die Blicke der Zuschauer auch immer verstellt, etwa wenn sich jemand hinter der Stellwand duckt. Zum Anderen, weil das Blicken der Zuschauer selbst, das Hin- und Herschnellen ihrer Pupillen zwischen der Präsenz der realen Körper und deren technisch-medialer Repräsentation, permanent tote Winkel zu produzieren vermag, als würde das Blicken selbst unsichtbar machen. Ein Beispiel dafür ist der Auftritt des Phantoms, also des mysteriösen Wesens, das die Jugendlichen im Wald reißt. Wie in guten Spielfilmen wird sein Auftritt dramaturgisch sukzessive vorbereitet und so Spannung erzeugt. Zunächst hört man im Gespräch zwischen zwei der jungen Leute, dass in diesem Wald vor einiger Zeit ein Paar grausam hingerichtet worden sei, ohne dass ihr Peiniger bisher gestellt werden konnte. Später spielt einer der durch den Wald ziehenden Jugendlichen eine phantomhafte Szene nach, indem er so tut, als sei er das Phantom, um seine Begleiterin zu erschrecken. Schließlich erscheint das Phantom selbst, indem es vor den Augen der Zuschauer sogleich verschwindet. Dieser Auftritt dauert ca. zwei Sekunden. Das Phantom ist wahrscheinlich ein Mann, der eine schwarze Kopfmaske trägt, aus der Augen und Mund ausgeschnitten sind. Ein Gesicht ist nicht zu erkennen. Zum Phantom wird die Figur aber nicht durch die Kostümierung, sondern durch die flüchtigmediale Inszenierung seines Auftritts. Diese Figur geht immer nur kurz durch den Bildausschnitt einer Kamera. Man kann sich vorstellen, dass sie gerade ein neues Opfer verfolgt: Dieses Opfer sieht man allerdings nicht. Man hört nur Schreie des Entsetzens. Insofern das Phantom in Erscheinung tritt, indem es kurz durch den Bildausschnitt läuft, wird es doppelt sichtbar: als Projektion und als realer Performer. Doch durch die Blickaktionen der Zuschauer wird es zugleich unsichtbar. Um das nachvollziehbar zu machen, beschreibe ich kurz meine Erinnerung an diese Szene – gewissermaßen in Zeitlupe. Ich sah das Phantom auf der Projektionsfläche, sofort schnellte mein Blick auf die Bühne, um den realen Performer zu erhaschen. Doch als mein gieriger Blick dort eintraf, war dieser schon im toten Winkel verschwunden bzw. weggeduckt, worauf ich sofort wieder auf die Projektionsfläche sah, was natürlich vergeblich
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Erschütterungen zwischen Körper und Bild war, denn dort war es ja auch nicht mehr zu sehen. Erst durch mein Hin- und Herschnellen des Blickes, durch das mir der Anblick der Figur verloren ging, konstituierte sie sich als solche: als etwas Mysteriöses, nicht Fassbares – eben als Phantom. Die hin und her zappenden Blicke der Zuschauer machen nicht nur fraglich, was hier Original und was Kopie ist, sondern lassen diese Unterscheidung selbst obsolet werden. Ist das Original der reale Schauspieler oder der szenisch-mediale Effekte, dessen Teil er ist, oder entsteht das Original erst dazwischen in der Wahrnehmung und Imagination der Zuschauer? Einmal mehr wird so die Frage provoziert: Worum geht es hier eigentlich? Und eine mögliche Antwort ist: Es geht gerade um dieses Flimmern oder Flackern, das man im Englischen flicker nennt. Der Titel der Arbeit kann auch Assoziationen an die Vorführung alter Super-8-Filme oder Stummfilme aufrufen. Zugleich weist dies darauf hin, dass die Wahrnehmung eines Kinofilms grundsätzlich ein komplexer, hochgradig fragmentierter Vorgang ist, bei dem die in hoher Geschwindigkeit gezeigten Einzelbilder erst durch die Wahrnehmung der Zuschauer den Film ergeben. Dass dieser selbstverständliche Vorgang im Grunde eine Leistung oder eben performance ist, die die Zuschauer erbringen, wird bei der Big Art Group erfahrbar. Die Qualität dieses Raumes besteht auch darin, dass seine mediale Konstellation zwar sehr komplex wirkt, aber zugleich auch klar strukturiert, durchschaubar und verstehbar ist. Hier werden keine visuellen oder akustischen Effekte vorgeführt, deren mediale Bedingungen kaschiert werden müssen, um zu überzeugen, sondern – ganz im Gegenteil – die Herstellungsbedingungen werden ausgestellt und vorgeführt.
Flash und Berührung Um dies eingehender zu untersuchen, sollen jetzt zwei szenische Effekte beschrieben werden, die im Laufe der Aufführung immer wieder zum Einsatz kommen. Man kann sie ‚Flashszenen‘ und ‚Berührungsszenen‘ nennen. Die Flashszenen sind vor allem dann zu beobachten, wenn es um die Darstellung von Gewalt, Folter und Hinrichtung geht. Dabei wird zunächst durch Schreie der Performer und schnelle Bewegungen hinter der Projektionsfläche eine eskalierende, panischhysterische Stimmung erzeugt, die es den Zuschauern schwer macht, den genauen Ablauf der Vorgänge nachzuvollziehen. Dieses dynamische Moment wird abrupt unterbrochen und still gestellt durch das laut eingespielte Auslösegeräusch eines Blitzlichts und
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Jens Roselt den darauf folgenden Fiepton des sich wieder aufladenden Blitzes. Synchron zu dem Blitzgeräusch sieht man auf allen drei Projektionsflächen Fotos der Opfer in Nahaufnahme ihrer Gesichter, die an Tatortfotos der Polizei erinnern. Die gleichzeitige Einblendung auf allen drei Projektionsflächen wäre technisch eigentlich eine leichte Sache. Man könnte die Einstellungen vorproduzieren und auf ein Stichwort könnte eine Art Bildregie die entsprechenden Aufnahmen einspeisen und dazwischen schneiden. Genau dies passiert bei der Big Art Group nicht. Wenn man die Fotos gleichzeitig auf den Projektionsflächen sieht, dann deshalb, weil drei Performer auf der Bühne mit je einem Foto in der Hand gleichzeitig vor die Kameras springen und die Aufnahme ‚live‘ vor die Linse halten. Diese Flashszenen machen einen extrem choreographierten Eindruck, bei dem das Zusammenspiel von Performern und technischer Apparatur genau getimt ist. Dabei sind die synchronen Bewegungsfolgen der Performer neben ihrer bühnentechnisch-medialen Funktion auch wie eine Art Tanz zu bewundern. Gerade solche Szenen, die man medientechnisch viel bequemer bewerkstelligen könnte, werden bei der Big Art Group geradezu virtuos zelebriert. Medientechnische Verfahren wie Schnitt, Zoom oder Nahaufnahme, für die die technischen Voraussetzungen vorhanden sind, werden nicht genutzt, sondern performt. Technik wird spielerisch aufgeführt als etwas, das konkret und körperlich herstellbar ist. Die Digitalisierung der Medien wird gewissermaßen mit der Verkörperlichung medialer Praxis konterkariert. Auch Performer, die gerade nicht als eine der Figuren in Erscheinung treten, sondern andere szenische Dienste leisten (z. B. ein Bild in die Kamera halten) sind integraler Bestandteil der szenischen Choreographie. Das erinnert nicht zuletzt an die Funktion der Bühnenassistenten im traditionellen japanischen Theater, bei denen ja auch die Wooster Group Anleihen gemacht hat. Von Bildregie im klassischen Sinne, also einer unsichtbaren, übergeordneten Steuerungsinstanz, welche die Kameras und den Bildschnitt technisch lenkt, kann nicht die Rede sein. Die drei Kameras sind statisch, ihr Bildausschnitt ist fixiert. Man sieht keine Performer, die die Kameras manipulieren. Sie sind während der gesamten Aufführung eingeschaltet, d. h. wenn auf einer der Projektionsflächen ‚nichts‘ zu sehen ist, dann nicht deshalb, weil die entsprechende Kamera abgeschaltet, quasi ‚nicht auf Sendung‘ ist, sondern weil tatsächlich niemand vor dem Objektiv steht. Die Zuschauer bekommen also auch immer das zu sehen, worum es im Moment vermeintlich nicht geht, also eine Kamera, die einen leeren Hintergrund filmt oder einen Performer, der in deren toten Winkel auf seinen Auftritt wartet.
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Erschütterungen zwischen Körper und Bild Auch bei den Berührungsszenen wird eine im Grunde simple szenische Handlung wie das Berühren zweier Darsteller durch das mediale Arrangement komplexer, komplizierter und auch umständlicher. Wenn etwa ein Darsteller vor Kamera 1 steht und sein Dialogpartner vor Kamera 2, können sich die beiden Darsteller nicht unmittelbar berühren, da der Abstand zwischen ihnen zu groß wäre. Der Arm ist zu kurz, und wenn Darsteller 1 nach rechts zu Darsteller 2 greift, verlässt seine ausgestreckte Hand den Bildausschnitt, den die Zuschauer auf der Projektionsfläche sehen. Der Arm ist abgeschnitten. Wenn nun aber im toten Winkel zwischen Kamera 1 und 2 ein weiterer Darsteller steht, der im rechten Moment seinen Arm in den Bildausschnitt von Kamera 2 führt, kann die Lücke überbrückt werden. Darsteller 1 wird gewissermaßen der rechte Arm von einem Darsteller geliehen, der anonym bleibt. Die Figur entsteht so als visueller Effekt, an dem bis zu drei oder vier Performer bzw. ihre gefilmten Körperteile beteiligt sein können, während sie als anthropomorphe Einheiten auf der Bühne sichtbar bleiben. Die Schnittstellen der Körperteile bleiben dabei erkennbar. Auch wenn diese Szenen dem Publikum spürbar Vergnügen machen, kann man fragen, wozu dieser Umstand überhaupt gemacht wird. Wieso stellen sich zwei Performer nicht einfach direkt nebeneinander, um sich berühren zu können? Wieso machen sie es so kompliziert? Bei der Big Art Group ist die Konstitution der Figuren nicht notwendig an die personale Identität eines Schauspielers gebunden, was in den beiden anderen Teilen der Trilogie noch extremer ist. Während bei Flicker die Vornamen der Figuren noch denen der sie verkörpernden Performer entsprechen, ist es in den anderen Teilen der Trilogie durchaus möglich, dass eine Rolle im Laufe einer Aufführung von verschiedenen Darstellern verkörpert wird. Die Rollenattribuierung kann allein durch die jeweilige Perücke gewährleistet sein, wobei die geschlechtliche und ethnische Identität des Darstellers keine Rolle spielt, d. h. ein schwarzer Mann kann eine weiße Frau spielen, wenn er die entsprechende blonde Perücke trägt. Außerdem kann man feststellen, dass die Big Art Group selbstverständliche Darstellungsweisen aus der Fernsehproduktion benutzt und auf der Bühne ausstellt, wodurch sie ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Hierzu zählt etwa die Konvention, in Dialogszenen Schnitt und Gegenschnitt erst nachträglich zueinander ins richtige Verhältnis zu setzen. Ein Dialogpartner spricht also sämtliche Repliken ‚am Stück‘ runter, während die Kamera ihn über die Schulter seines Partners filmt. Interessant ist nun, was dieser Dialogpartner derweil macht: Er spielt gewissermaßen nicht als ganze Person, auf Mimik und Gestik kann er vollkommen verzichten, da nur sein Hinterkopf und die Rückseite seiner Schulter ‚mitspielen‘. Die Entste-
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Jens Roselt hung einer Figur wird bei der Big Art Group stets als Konstruktion vorgeführt, indem es nicht auf das In-der-Rolle-sein, sondern auf die Übernahme der Rolle ankommt. Der Ein- und Austritt wird dramatisiert und vollzogen. Bemerkenswert ist, dass die so entstehenden Figuren keineswegs nur Handlungsträger sind. Sie entwickeln durchaus eine Psychologie. Dabei bleibt für die Zuschauer nicht entscheidbar, wieviele Performer an der Entstehung einer Figur beteiligt sind bzw. wieviele Performer überhaupt auf der Bühne agieren. Das Programmheft von Flicker nennt neun Akteure. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die Fragmentierung die Voraussetzung für die Konstitution der Figuren ist, und dass dieser Vorgang nicht vom Ergebnis her, sondern als Prozess gedacht bzw. gezeigt wird. Es geht so weniger um einzelne Fragmente als solche, sondern um den Vorgang des Fragmentierens selbst, der hier zur Aufführung kommt. Die Szene ergibt sich aus den Übergängen, Schnitt- und Anschlussstellen. In Hinblick auf die Performativität dieses Prozesses wird das Augenmerk damit auf die Zeitlichkeit des Fragmentierens gelenkt. In der Abfolge und Kombination gewinnt das Fragmentierte eine neue zeitliche Form, die durch Rhythmus, Tempo oder Musikalität gekennzeichnet ist. Hierzu zählen etwa die gemeinsamen Bewegungsimpulse der Darsteller und der jeweiligen Bühnenassistenten beim Ducken oder Abtreten. Dass dies ein großes Vergnügen sein kann, muss die kritische Dimension der Arbeit nicht unterwandern. Dass Medien manipulieren und dabei eine suggestive Kraft entfalten können, die verführend wirkt, ist allerdings ein medienkritischer Allgemeinplatz. Es ist zu wenig, Flicker auf die Kritik an der manipulativen Kraft der Medien zu reduzieren, denn Manipulation schafft auch einen kreativen Spielraum, in dem man nicht nur eingesperrt ist, sondern den man auch nutzen kann, für Selbstentwürfe und Identitätsexperimente. Man mag sich an den coolen Effekten berauschen und zugleich die Sicherheit verlieren, selbstverständlich darüber zu urteilen, worum es ‚eigentlich‘ geht. Suggestive Kraft und Verführung kann auch Spaß machen, wenn man weiß, was passiert. Häufig ist das eine Spielerei, aber Spielen ist im Theater keine Untugend.
Literaturv erzeichnis Roselt 2004, J.: „Mit Leib und Linse. Wie Theater mit Medien arbeiten“, in: H. L. Arnold (Hrsg.), Text + Kritik. Theater fürs 21. Jahrhundert, München 2004, 34-41.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie. Eine Fallstudie anhand von
Picture for Women (J eff Wall, 1979) ANDY BLÄTTLER […] in der Passage passiert – […]
1. Jeff Walls großformatiger Leuchtkasten Picture for Women (1979, 163x229 cm)1 bietet unserem Blick ein ungeheuer komplexes und vielschichtig verflochtenes Blickereignis an. Zu sehen bekommen wir ein photographiertes Spiegelbild einer tryptichal anmutenden Dreierkonstellation gebildet von einer Frau (Modell), einem Mann (Photograph – Jeff Wall selbst, es handelt sich also auch um ein Selbstportrait) und einer Kamera. Die Kamera ist genau in der Mitte des Bildes zwischen Frau und Mann positioniert, kommt auf diese in einer gewissen theatralen Brutalität zwischen sie. Gerichtet ist sie nicht auf uns, sondern eben auf einen Spiegel, in den sowohl die Frau als auch der Mann schauen, wobei sich ihre Blicke kreuzen. Den Spiegel hat Jeff Wall so gegen eine Photographie eingetauscht und dadurch unsichtbar gemacht. Die Photographie aber ist ein Abbild der Reflexion des virtuellen Bildes, welches der Spiegel der Kamera zu sehen gegeben hat. Spiegel und Kamera wissen beide nichts von dem, was sie in ihrer geometral-optischen Teleologie als Spur hinterlassen. Picture for Women zeigt uns eine vertrackt vertauschte Welt: Wir sehen ein Spiegelbild, ohne vor einem Spiegel zu stehen, und schauen ins Objektiv einer Kamera, die nicht auf uns gerichtet ist. Und plötzlich stehen wir dort, wo wir nicht stehen können, nämlich
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Vgl. Vischer/Naef 2005.
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Andy Blättler genau an der Position der Kamera: an der Stelle eines schwarzen Lochs, in einem durch die Spiegelfläche zugleich begrenzten und geöffneten Raum. Bild- und Betrachterwirklichkeit überlappen sich, Mann und Frau stehen neben uns, kurzum: Die scheinbar autonome und in sich abgeschlossene Welt des Schauraums bekommt Risse. Inszeniert ist von Wall also eine listig täuschende Blickfalle, ein trompe-l’œuil, das die auf den ersten Blick suggerierte totale Sichtbarkeit entäußert. Was an die klassische Paragone zwischen Zeuxis und Parrhasios erinnern mag, wo Zeuxis das Auge eines Vogels betrog, der herbeiflog, um an seinen gemalten Trauben zu picken, Parrhasios hingegen überlistete Zeuxis mit einem gemalten Vorhang: „Und was hast du dahinter gemalt?“ Wie wir wissen: Hinter der ebenen Fläche des Spiegels ist – nichts. Trotzdem lässt diese ebene Fläche des Spiegels einen zentralperspektivisch angeordneten Raum erscheinen: einen virtuellen Schauraum, der die Seiten des Schauenden verkehrt und der ihn, wäre denn ein zweiter Spiegel da, wiederholend ins Unendliche prolongieren würde. Der Spiegel fungiert hier als Metapher einer vierten Wand, eines theatralen Scharniers also, welches jene leere Stelle reiner Umschlag-Bewegungen markiert, aus der das haltlose Spiel der Differenzierung ermöglicht und generiert wird. Zugleich exponiert sich in der photographierten Spiegelung des Spiegels jener Ort, von dem aus diese ganze Blickfalle in Gang gesetzt worden ist und der die Bildgrenze von innen und von außen her schon immer unter Druck und aufs Spiel gesetzt hat: Das schwarze Loch einer Camera Obscura, das einen unheimlichen Sog entwickelt und alle Blicke zu bannen scheint. Von diesem schwarzen Loch her untersucht dieser Essay vier Ex-Positionen, die in ihrem Zusammenspiel den dynamischen Blickraum von Picture for Women generieren: Kamera und Spiegel, Blick und Gegenblick von Photograph und Modell, Tableau und Leuchtkasten, Malerei und Photographie als kulturhistorische Zäsur. Leitfrage ist die Frage nach dem Verhältnis von ästhetischem Ereignis und seiner Inszenierung als einer Frage nach einer Medialität der Zeit: Wie gibt Zeit im intermedial inszenierenden Zusammenspiel der Medien in Picture for Women? These ist: Im Kollidieren dieser vier Ex-Positionen korrumpiert Walls Leuchtkastenphotographie Picture for Women eine autonome, in sich geschlossene und selbstmächtige Betrachtungsweise dieses Bildes. Von Grund auf lässt sich Walls Bild daher nur aus der Ex-Position eines Dritten denken, von einem seltsamen Bastard von Fakt und Fiktion her, der, niemals unvermischt, jede vulgäre Zeitorthodoxie immer schon kontaminiert und aufgebrochen hat. Aus dieser Ex-Position zerspringt die Fiktion einer bei sich bleibenden oder gar urquellenden Selbstgegenwart in
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie vieldeutige Bilder. Den Hintergrund zu den vorliegenden Überlegungen bildet das Fort/Da-Spiel, das Sigmund Freud in seinem Text Jenseits des Lustprinzips von 1920 erörtert hat.
2. Im Fort/Da-Spiel beschreibt Freud, wie sein 18 Monate alter Enkel immer wieder eine mit einem Bindfaden verbundene Holzspule mit einem stets gleichen und lang gezogenen ‚o-o-o-o‘ verschwinden lässt, um dann ihr erneutes Erscheinen „mit einem freudigen ‚da‘“2 zu begrüßen. Freud interpretiert dieses Spiel als eine Wiederholung und Durcharbeitung des Urtraumas der Trennung des Jungen von seiner Mutter, das zugleich einen Akt der ursprünglichen Symbolisierung darstellt. Nach Lacan ist die Spule ein kleines Stück des Subjekts, mit dem es die durch die Abwesenheit der Mutter entstandene „Kluft >@ die immer offen bleibt“3 überbrückt. Mit der sich spielerischrhythmisch wiederholenden Bewegung des Hin- und Herwerfens der Spule über die Schwelle hinweg projiziert und inszeniert das Kind auf taktile Weise einen dynamischen Ereignis-Raum, der zugleich sein Sehen in Unruhe versetzt. In Gang gesetzt ist damit die lustvolle Selbstkonstitution eines Subjekts des Kindes als ein Projekt, Entwurf oder Modell: als einer zwischen Realem und Symbolischem rhythmisch oszillierenden Antizipation imaginärer Gestalten. In diesem Spiel vom fort/da operieren Blick und Hand chiastisch verschränkt an einem dünnen Bindfaden.
3. Schauen wir uns nun die erste Ex-Position an: Kamera und Spiegel als reproduktives Momentum eines Zu-Erscheinen-Gebens. Inszeniert ist der unmittelbare Augenblick der Photographie: Über das Auslöserkabel betätigt Wall die Kamera und blickt zur selben Zeit indirekt über das Spiegelbild auf sein Modell. Ähnlich wie beim Fort/Da-Spiel erscheinen hier Blick und Hand gemeinsam an der Schaffung eines Ereignisraumes beteiligt, in welchem auf einen Fingerdruck hin etwas reproduziert wird, „was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können.“4
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Vgl. Freud 1975, 225. Vgl. Lacan 1987, 68. Barthes 1989, 12.
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Andy Blättler Es ist aber gerade nicht die Actio des Auslösens, welche hier unser Auge besticht, sondern das Relationale oder Mediale an dieser Geste: die Koordination von Blick und Hand, gelesen im komplexen intermedialen Differenzgefüge von Kamera und Spiegel, das hier im abwesenden Moment der Reproduktion als Paradox sichtbar wird. Dank dieser Konstellation wird beiden Medien nämlich ihr jeweilig Unmögliches zu sehen gegeben, ihre visuelle Grenze oder ihr blinder Fleck. Sowohl die Photographie als auch der Spiegel sind in traditioneller Lesart par excellence Medien der Anwesenheit, der Präsenz. Sie lassen nur das erscheinen, was sich in einem bestimmten Moment jeweils unmittelbar vor ihnen befindet. Ihr räumliches wie zeitliches Signum ist also dieses Zeichen des vor als Gesetz eines Gegenübers und eines Gewesenen. In ihrem medialen Eigensinn gibt es jedoch Unterschiede: Der Spiegel kann keine Zeichen reproduzieren, die Kamera nichts zeigen, was sich hinter ihrem Rücken verbirgt. Erst in ihrer intermediären Verflechtung wird es ihnen möglich, ihr jeweils Unmögliches zu zeigen: im supplementären Hinzukommen und Ersetzen des jeweils Anderen.5 Und dieses wechselseitig supplementäre Hinzukommen ist nicht Ausgangsposition für eine nachträgliche Darstellung eines zuvor bestehenden Sinns, sondern bildet diesen allererst in seiner Artikulation kraft der Adressierung an einen Anderen: Im achronen Zugleich von Klicken und Widerspiegeln. Oder anders formuliert: Im Passieren eines diskontinuierlich umspringenden Zeitraums und seiner Eröffnung eines unüberwindbaren Intervalls – was Paul Virilio einmal als das unendlich „Kleine“ der Dauer bezeichnet hat.6 Im Trans- dieser unbeständigen und haltlosen medialen Passage zertrümmern Kamera und Spiegel so ihre fixen Unterscheidungen und jedwede Vorstellung einer Präsenz: Der Spiegel gibt sich als Photo-Gravur, die Kamera als Spiegel-Bild, beide erscheinen in der intermediären Dazwischenkunft ihrer Zeit-Zeichen als das, was sie nicht sind, und zwar erst dank des supplementären Verweises auf das Zeichen des anderen. Die dynamische Relatio zwischen Kamera und Spiegel gibt, so könnte man sagen, als eine Topik des Aufschubs, die in der Disparität von fort/da vertagt, wie sie Jacques Derrida in seiner Lektüre von Franz Kafkas Vor dem Gesetz als eine 5
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„Denn der Begriff des Supplements […] birgt in sich zwei Bedeutungen, deren Zusammengehörigkeit ebenso befremdlich wie notwendig ist. Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. […] Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie wenn man eine Leere füllt.“ Vgl. Derrida 1998, 250. Vgl. Virilio 1987, 256.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie gesetzgebende „Topik ohne eigenen Ort“, als eine „Atopik“7 beschrieben hat, die das annuliert, „was stattfindet, das Ereignis selbst.“8 Exemplarisch wird in diesem ortlosen Aufschub ohne Ankunft (das maskiert als als jedes vor- immer schon verstört und zerstört hat) am Zusammenspiel von Spiegel und Kamera in gewisser Weise die gestaltlose Offenheit des Medialen sichtbar, welches jeweils erscheinen lässt ohne diese Erscheinung selbst zu sein. Eine Medialität also metaphorolgisch verstanden als eine „Ex-Position medialer Gestaltwechsel durch Gestaltentzug – ein stets kon-figurierbarer Zwischenraum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich dieses uneigentliche, ursprungslose ‚Zwischen‘ stets neu repräsentiert.“9
4. Untersuchen wir nun die zweite Ex-Position: Die Blickbeziehung von Photograph und Modell als wahrnehmendes Darstellen. In Picture for Women treffen der Blick des Photographen und der Blick des Modells nie direkt aufeinander. Sie verfehlen sich, da sie jeweils einen anderen Punkt anblicken: Er sie, und sie seine Kamera. Über das intermediale Differenzgefüge von Kamera und Spiegel erscheinen beide aber dennoch eng verschränkt, dank eines dritten Blickes, jenem des Betrachters. In diesem jeweiligen Verfehlen der Blicke zwischen den involvierten Parteien lässt sich nun ein konstituierendes Moment einer Nicht-Ankunft ablesen, das potentiell alle photographisch inszenierenden Produktionssituationen durchwaltet: ein Performatives, wo Photograph und Modell im konstant missglückenden Aufeinandertreffen ihre jeweiligen Vorstellungen und Imaginationen enttäuschen und wo dank solcher Interferenzen und Differenzen sich ein Bild überhaupt erst manifestieren kann. Schauen wir uns das Performative ein bisschen genauer an und umkreisen das Ereignishafte an ihm und stellen uns dabei vor, dass dieser sich ständig verfehlenden Blick-Konstellation eine eigentümliche Entwendungspolitik zugrunde liegt. Würden wir diesen photographisch inszenierenden Akt als einen Akt unmittelbarer und voller Präsenz imaginieren, sei es vom Photographen, vom Modell oder von uns, den Betrachtern, aus, so hätten wir einen Akt, der als ein Akt der narzisstischen Totalspiegelung einem Simulakrum des Augenblicks unterliegen würde. Damit wäre ein ganzer Reigen an
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Derrida 2005, 70. Derrida 2005, 70. Tholen 1999, 7.
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Andy Blättler Handlungsoptionen, die de facto zwar nicht realisiert werden müssen, de jure als unmögliche Möglichkeit jedoch unbedingt als Anderes zu ihrer Handlungsstruktur mitgehören, verunmöglicht. Damit ein Akt seine Ereignishaftigkeit und damit auch die Möglichkeit seiner radikalen Andersheit nicht verliert, muss, wie Hamacher in seiner Dekonstruktion von John R. Searles Sprechakttheorie für den Sprechakt herausgearbeitet hat, seine Minimalstruktur durch „Entwendbarkeit“10 (dem snatch Austins, seine verunglückten Fehlhandlungen, die er ja in so unbeschreiblich anarchischen und absurden Exempla erzählt) bestimmt sein: „Was nicht entwendet werden kann, ist keine Handlung.“11 Erst die bedingungslose Offenheit gegenüber Unmomenten (wie zum Beispiel gegenüber Momenten der Verfehlung, der Verschiebung, der Entstellung oder der Entwertung eines Kontextes oder dem Abbruch oder gar der Zerstörung gebotener Möglichkeiten), die jede kalkulierte Antizipation durchkreuzen, garantieren dem Akt die Eröffnung auf andere, antwortende Handlungen und damit eine immer auch unmöglich bleibende Zukunft, deren Künftigkeit sich erst noch einstellen kann. Der inszenierte photographische Akt ist also als Form-Anbahnung, Apostrophe oder Ankündigung „wesentlich unvollständig“12 und in dieser „strukturellen Eigentümlichkeit besser als von Austins juristischem Begriff „‚performativ‘ durch den Neologismus ‚adformativ‘ oder afformativ charakterisiert –: Diese Umbenennung legt den Akzent darauf, dass ein Akt nicht Durchführung oder Ausführung einer Handlungsform, sondern Ermöglichung und Anbahnung anderer Handlungen ist und deshalb stets diesseits einer definiten Form bleibt.“13 Ohne der Gruppe der Akte anzugehören, doch „niemals einfach außerhalb der Aktsphäre und ohne Beziehung zu ihr“,14 eröffnen Ad-formative eine Handlung, ohne „dass sie es geschehen machen.“15 Das Afformativ tut also nichts, sondern lässt und lässt gelassen auch jede Setzung erst hervorgehen. Der Kernsatz von Hamacher lautet denn auch: „Was, afformativ, lässt, lässt (sich selber) aus.“16 Als Interaktion bleibt die temporale Struktur eines Aktes somit immer auch auf ihr Anderes verwiesen – auf ihre Interpassion: „Was Akt ist, kann jederzeit zur passio werden – und kann als Akt der Eröffnung dessen, worüber er keine Macht hat, seine Passivität 10 Hamacher 2004, 485. 11 „Sie muss nämlich einräumen, dass Handlungen nur dann möglich sind, wenn sie auch andere Handlungen sein könnten.“ Hamacher 2004, 488. 12 Hamacher 2004, 486. 13 Hamacher 2004, 486. 14 Hamacher 1994, 359. 15 Hamacher 1994, 359. 16 Hamacher 1994, 360.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie niemals vermeiden.“17 Und genau diese nicht-intentionale und führungslose Interpassion markiert jenen unauslotbaren und hybriden Locus des Performativen, wo ein Akt immer wieder an den Rand seiner Suspension gedrängt wird, was auch Jacques Derrida im Visier hat, wenn er Performativität als „von der Erfahrung des Ereignisses, von der unbedingten Exposition an das Kommende oder den Kommenden oder die Kommende überwältigt“18 denkt. In diesem Verfehlen und Nicht-Aufeinandertreffen der Blicke in Picture for Women blitzt somit ein produktiver „Zeit-Spiel-Raum“19 auf, der dank seiner unkontrollierbaren Ereignishaftigkeit Wahrnehmung und damit auch die Möglichkeit einer Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Darstellung oder Verkörperung und Inszenierung überhaupt erst möglich macht.
5. Ohne Ort wie Kamera und Spiegel und Blick und Gegenblick gibt sich nun auch das pikturale Gesamtgefüge von Picture for Women, denn irgendwie hängt das Diapositiv ja seltsam schief im fluoreszierenden Neonlicht des Leuchtkastens, enigmatisch gebannt wie Ödipus vor dem Blick der Sphinx, und muss, um überhaupt sichtbar zu werden, diesen Lichtstrahl brechen. Denn all das passiert vor der sorgsam in Szene gesetzten Hintergrundkulisse eines Schulzimmers, das seine zentralperspektivische Anordnung in jeder winzigsten vertikalen und horizontalen Linie auslotet – und so die Grundbedingungen der Photographie unmittelbar ausstellt –, dessen Raum sich aber (was verbirgt sich hinter den Fenstern, wo endet das Bild?) nur aus der Erfahrung einer Tiefe, wie sie nach Georges Didi-Huberman Merleau-Ponty versteht, geben kann: als Distanz, als etwas, was sich zurückzieht und sich in einem gewissen Sinne verbirgt, „immer abseits, fern, stets einen Abstand, einen Zwischenraum produzierend.“20 Und zugleich ist der scheinbar so dezent auf die geometraloptische Ordnung der Zentralperspektive angelegte Raum, wenn man ihn als reine Bildfläche ohne Tiefe betrachtet, durch verschie17 Hamacher 2004, 488-489. 18 Derrida 2001, 13. 19 „Zeit-Spiel-Raum“ ist ein Begriff von Martin Heidegger, den er für ein jedwelches lineares oder zirkuläres Zeitbild unterbrechendes Zeit-Intervall geprägt hat und mit dem ausgedrückt wird, dass das Sein in vierfacher Offenheit seine eigene Topologie schafft: „1. des Dinges, 2. des Bereichs zwischen dem Ding und dem Menschen, 3. des Menschen selbst für das Ding, 4. Des Menschen zum Menschen.“ Heidegger 1984, 19. 20 Vgl. Didi-Huberman 1999, 151.
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Andy Blättler dene Bilddetails wie den scheinbar willkürlich verstreuten Stühlen, dem schummrigen Licht der Lampen und den glänzenden Flecken am Boden punktuiert und perturbiert, was den Schauenden in den paradoxen Zustand einer „passiven Ruhelosigkeit“21 versetzt, ihm plötzlich die Erfahrung eines zerstreuten oder unfruchtbaren – eines ereignishaften – Zeit-Spiel-Raumes gibt. Eine Erfahrung, die zusätzlich verstärkt wird durch das ihm entgegen schießende Neonlicht der externen Bildillumination des Leuchtkastens, das als zum Eigenlicht des Diapositivs hinzukommendes Supplement dessen Transparentoberfläche überhaupt erst (und zwar nicht direkt an der Oberfläche des Leuchtkastens, sondern eigentümlich in unbestimmter Tiefe) erscheinen lässt.22 Wir befinden uns bereits inmitten der dritten Ex-Position: Tiefe und Fläche. An dieser Stelle möchten wir uns fragen, was in diesem Wechselspiel von Tiefe und Fläche passiert und uns zu berühren vermag? In Kapitel VIII Linie und Licht seines Seminars über die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, in welchem er in Weiterführung der Merleau-Pontyschen Gedanken zur chiastischen Verschränkung von Blick und Bild aus Das Sichtbare und das Unsichtbare der Frage nach dem „Begehren, das sich in dem Bild fängt, sich im Bild festmacht“23 nachgeht, kommt Jacques Lacan auch auf das Licht zu sprechen und schreibt: Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängen bleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich von vornherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergreift, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landschaft etwas anderes macht als eine Perspektive, etwas anderes als das, was ich ‚Tableau‘ genannt habe.24
Im verkreuzten Kräftespiel von Tiefe und Fläche rückt Lacan mit dem Licht, das mich adressiert, mich anblickt und ergreift noch bevor ich überhaupt etwas sehe, etwas in den Blick, was von der alle Punkte präzise verortenden Ordnung der Zentralperspektive zwar ausgeschlossen scheint, das aber als ihr Anderes und Abwesendes ihr linear-geometrales Bild allererst vorstellbar werden lässt. Das
21 Vgl. Wall 2005a, 440. 22 „Wenn das Bild ‚ausgeschaltet‘ ist, kann man es nicht sehen“, notiert Wall lapidar in seinen Drei Gedanken zur Fotografie: Wall 2005b, 444. 23 Lacan 1987, 99. 24 Lacan 1987, 102.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie zentralperspektivische Sehen siedelt sich in einem Raum an, „der wesentlich nicht der visuelle Raum ist“25 und der nur im reinen Modulieren von Kontrasten, Differenzen und Abständen Gegenstände sichtbar werden lässt. Deutlich ist das von Lacan in der Wahl seiner Semantik markiert, wenn er mit dem auf Abstand und Tiefe angelegten Rieseln der Fläche jenseits einer homogen verlaufenden Fluchtlinie auf einen Punkt hin eine eher passive Kraft der Auffaltung oder variablen Ausbreitung andeutet, die über die gesamte Bildfläche vielfältige und unkalkulierbare Impressionen zerstreut und zugleich, gewissermaßen sonisch ein drittes Ohr adressierend, in diesem Rieseln etwas ganz anderes vernehmen lässt: ein seltsam perspektivlos und unfokussierbar Intermediäres, ein unentwirrbar Verflochtenes.26 Im Entgegenblicken des Lichtes entspinnt sich somit ein Faszinosum, das unsere Wollust als Interpassion zu erwecken vermag und in einem zerstreuten, abschweifenden Blick die Sicherheit einer eindeutigen Referenz verschwinden lässt: ein Ausfließen des Auges, das jede visuelle Fülle aushöhlt. Jeff Walls Leuchtkasten lässt in seinem voluminösen Fort/Da-Spiel von Tiefe und Fläche in der Brechung des Lichts intuitiv erahnen, wie das menschliche Sehen durch die Wahrnehmung von tastbaren Wölbungen oder berührbaren Körpervolumina mitgeprägt ist. Räume bekommen auf solche Weise die Fähigkeit uns anzublicken oder ins Visier zu nehmen, indem sie immer auch etwas mit-teilen, was sich dem unmittelbaren Verständnis der Mitteilung selbst entzieht.
6. Vierte und letzte Ex-Position: Photographie und Malerei, eine kulturhistorische Zäsur und Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert. Lacans Dekonstruktion einer rein linear-geometral verstandenen visuellen Sehordnung im verschränkten Geflecht von Auge und Licht, wo das Bild/Tableau zum ‚Schirm‘ wird, der die Tiefe ebenso birgt wie verbirgt, tangiert implizit auch Walls kunsthistorisch appropriierenden Blick.27 Dem interpikturalen Rückgriff auf Edouard Manets La Bar aux Folies-Bergère (1882), das auf irritierende Weise die Einheit der Perspektive fragmentiert und so das mechanisierte In25 Lacan 1987, 100. 26 „Dazu kommt, dass nicht allein das Auge lichtempfindlich ist, wie wir wissen. Die ganze Oberfläche der Haut kann – aus den verschiedensten Gründen, die durchaus nicht immer visueller Art sind – lichtempfindlich sein. Diese Dimension darf bei der Funktion des Sehens durchaus nicht vernachlässigt werden.“ Lacan 1987, 100. 27 Lacan 1987, 102-103.
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Andy Blättler nere und damit die seit der Renaissance für die Malerei normative Bildordnung ausstülpt, ist eine medien- und kunsthistorische Untersuchung der Auszehrung des klassischen mimetischen Prinzips der Malerei durch das neue Paradigma der Photographie miteingeschrieben. Durch die bildinnere Derangierung und Fragmentierung der einstigen Einheit von Körper und Raum unter äußerer Beibehaltung des klassischen Bildkonzepts reagiert Manet „an der Schnittstelle der älteren Bildtradition und der avantgardistischen Kunstentwicklung“28 auf die technischen und sozialen Zäsuren des Modernisierungsprozesses, inklusive des technischen Objektivierungsdispositiv der Photographie, und stellt sie ästhetisch so dar, dass „sein Bildkonzept seine ‚innere‘ Problematik als gesellschaftliche reale zu erkennen gibt.“29 In seiner Paraphrase von La Bar aux Folies-Bergère tauscht Jeff Wall Manets Bardame, die frontal im Zentrum des Bildes positioniert ist und unmittelbar den Betrachter adressiert, gegen die Kamera ein. Mit dieser Ex-Position fiktionalisiert er gewissermaßen metaphorisch das Dokumentarische, entblößt die scheinbare Authentizität dieses Wirklichkeitsabbildes als reine Inszenierung, unentscheidbar mäandrierend an den Rändern zwischen Fakt und Fiktion. Die Photographie wird als mediale Zäsur lesbar, die das Feld der bildenden Kunst, aber auch von Literatur oder Wissenschaften mehrfältig durchdrungen und entscheidend neu formiert hat. Der Effekt dieses Tauschs von Photographie und Malerei wird erst richtig anschaulich vor dem Hintergrund des 1863 von Charles Baudelaire veröffentlichten Essays Das Schöne, die Mode und das Glück: Constantin Guys, der Maler des modernen Lebens. In diesem Aufsatz formuliert Baudelaire sein Programm prosapoetischer Hybridisierungen von Fakt und Fiktion in der gegenseitigen Durchdringung von faktenorientierter Reportage und subjektiver Einbildungskraft, das für Wall zum Modell für seine eigene inszenierende Photographie-Kunst wird. Manet als aufmerksamer Maler einer Gesellschaft im Umbruch, ihrer Zwischenräume, Unterbrechungen und Verschiebungen, gilt Wall als exemplarische Verkörperung dieses Modells einer neuen Form von Subjektivität, die sich vor dem Hintergrund der radikalen Modernisierung der Welt nun durch eine eigenwillige Passivität und einer Depotenzierung ihrer eigenen Markiertheit auszeichnet. Sich vom tradierten Fundus mythischer, allegorischer und klassischer Bildthemen abwendend gibt sich ein solcher Künstler ganz und gar den schockhaften Phänomenen der technisierten Lebenswelt des
28 Stemmrich 1997, 8. 29 Stemmrich 1997, 9.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie modernen Stadtlebens hin, registriert diese während ziellosem Flanerien durch die Pariser Boulevards, Kneipen und Bars des Second Empire von Hausmann minutiös am eigenen Körper, und setzt sie dann mit gebotener Sensibilität und imaginativer Ausdruckskraft in viel sagende Zeit-Bilder um, die im Spiegel des ‚Schönen‘ den modernen Wandel der aktuellen Gegenwart bezeugen. Das Baudelairesche Programm, das in der Transformation der hohen in die niederen Bildgattungen „all die Qualitäten großer Vorstellungskraft von der Allegorie und von der Historienmalerei übernommen und diese Kunstformen ausdrücklich nach journalistischen Kriterien neu geordnet“30 hat, wird so zum Leitbild sowohl von Walls inszenierender Leuchtkastenphotographie als auch von seiner kunstästhetischen Textproduktion, ohne aber einfach bloß als Vorlage für eine idealtypische Reaktivierung zu dienen. Sein Gebrauch dieses Programms lässt sich vielmehr im Sinne einer „historischen ‚Einklammerung‘ der avantgardistischen Entwicklung“31 verstehen, die diese als „bourgeois“ zurückgewiesen hat. So verstanden begreift Jeff Wall sein eigenes photographisches Kunstprogramm gleichzeitig als „Erneuerung des Konzepts der ‚Peinture de la Vie Moderne‘ und als historische Konsequenz der Entwicklung der Avantgarde.“32
7. Im heterogenen Geflecht der disparaten Elemente dieser vier ExPositionen kollidiert und zerbricht Picture for Women vielfältig. Der illusionäre Blick sowohl des Künstlers als auch des Modells oder des Schauenden ins Innere des Bildes wird in der Kreuzung mit einem entgegenkommenden und sich schockartig jeder Bestimmung entziehenden Blicks unterbrochen und aufgeschoben. Ein eindeutiges Recht auf Einsicht ist in diesem Feld einer temporalen Topologie nicht zu haben, vielmehr ruiniert es ein solches, taumelnd an den Rändern eines Innen und Außen, aus der Perspektive eines Inmitten. Die Ordnung und ordnende Gewalt einer von einer innengeleiteten Polizei des Auges kontrollierten Sicht auf das Bild ist in diesem
30 Vgl. Wall 1993, 369. 31 Stemmrich 1997, 8. Wie Stemmrich ausführt, ist der Begriff der Einklammerung in dem methodisch-kritischen Sinne zu verstehen, den er in der Phänomenologie erhalten hat: „Er impliziert den Anspruch, dass das was eingeklammert wird, auf seine Genese hin zu untersuchen ist, und dass die Einklammerung, die diese Untersuchung ermöglicht, ihre eigene Genese aufzuklären hat.“ 32 Stemmrich 1997, 8.
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Andy Blättler vierfach aufgefalteten Zusammenbruch fixer Unterscheidungen nicht mehr gegeben. Sichtbar wird, wie sich Bilder prinzipiell nie auf einfache referentielle Weise auf Objekte beziehen, sondern dass sie ihre Objekte oder Referenten in ihrer iterativen Bewegung zwischen den Medien und deren Referenzsystemen gleichsam en passant in einem intermedialen Spiel der Verweisung erst selbst konstruieren. Unterlaufen ist damit auch das alte Paradigma der Aisthesis, wonach Kunst auf bloße Wahrnehmbarkeit und Sichtbarkeit zu reduzieren ist, sie belichtet vielmehr die ambivalente und instabile Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Entzug des Nichtdarstellbaren, wovon die inszenierten Leuchtkästen Jeff Walls manchmal auf so unheimlich verschwiegene Weise Zeugnis ablegen. Bedingung hierfür ist das schwarze Loch der Kamera genau in der Mitte des Bildes, das in einem Fleck implodierend als Explosion diese höhlende Fläche überhaupt erst gibt, und das immer wieder auch die Ex-Position von uns Schauenden markiert, wenn wir für einen Augenblick vor den Leuchtkasten treten wie vor einen Spiegel. Als ein sich enteignendes, zeitliches Ereignis eines Anhalts kennt die photographische Geste eine Dialektik, die in den engeren Kreis einer Ästhetik der Inszenierung zurückweist, insofern sie die Spuren von Ereignissen aufzeichnet, die als solche sich jedoch dem direkten Zugriff eines Schauenden entziehen. In der Verflechtung mit dem Barthschen Noema des „Es-ist-so-gewesen“33 der Photographie als einem indexikalischen Zeichen, welches auf ein einmaliges Ereignis eines Gewesenseins im Zeitpunkt der Aufnahme verweist, wird die vorgängige Inszenierung einer Person vor dem schwarzen Loch der Kamera zu einem ikonischen Index der Vergänglichkeit. Die Frage nach der medialen Figuration von Zeit oszilliert in Jeff Walls photographischer Inszenierung Picture for Women als mediale Durchdringung der Wirklichkeit somit zwischen dem Ereignis des Mediums des photographischen Apparats, dem Ereignis des künstlerischen In-Szene-Setzens, dem Ereignis des technischen Verfügbarmachens im Dispositiv des Leuchtkasten und dem Ereignis der kulturhistorischen medialen Zäsur der Photographie selber. Jeweils als unverfügbare Zäsuren aus der Ex-Position eines schwarzen Lochs in einem Fort/Da-Spiel, wo Zeit ihre Spuren immer wieder in ihrem Entzug demarkiert: Das Unverfügbare und Unvordenkliche der sich entziehenden Zeit aber bleibt bestehen: Das Schwarze Loch als Metapher, die den Überfluss und die Abwesenheit des Zeitlichen freisetzt. Sie umschreibt die Kluft, die als gelöschte Spur die Umgangsstile mit der Zeit unterbricht und platziert. Die zeitverfügende Macht- und Wissensdispositive werden damit als Strategien dechiffrierbar, die 33 Barthes 1989, 87.
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Positionen, Ex-Positionen – Ellipsen einer inszenierenden Photographie das Rätsel der Zeit verstellen. Die Ordnung der Dinge distanziert sich von dem Chaos, dem sie entspringt.34
Literaturv erzeichnis Barthes 1989, R.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989. Derrida 1998, J.: Grammatologie, Frankfurt a. M. 1998. Derrida 2001, J.: Die unbedingte Universität, Frankfurt a. M. 2001. Derrida 2005, J.: Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 2005. Didi-Huberman 1999, G.: Was ich sehe blickt mich an, München 1999. Freud 1975, S.: „Jenseits des Lustprinzips“, in: S. Freud, Studienausgabe, III: Psychologie des Unbewussten, hrsg. von A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey u. a., Frankfurt a. M. 1975 (1920), 213-272. Hamacher 1994, W.: „Afformativ, Streik“, in: C. L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Was heißt Darstellen?, Frankfurt a. M. 1994, 340-371. Hamacher 2004, W.: „Einleitung (zur Sektion Performanz)“, in: J. Fohrmann, Rhetorik – Figuration und Performanz, Stuttgart 2004, 481-489. Heidegger 1984, M.: „Grundfragen der Philosophie“, in: M. Heidegger: Gesamtausgabe, XLV, Frankfurt a. M. 1984. Lacan 1987, J.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 1996 (1987). Wall 1997, J.: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, hrsg. von G. Stemmrich, Dresden 1997. Tholen 1999, G. C.: Die Metaphorizität des Medialen. Vortrag gehalten am 6. 6. 1999 auf der Tagung „Metaphern des Unmöglichen“, veranstaltet von der Gesellschaft für Historische Anthropologie, FU Berlin (Leitung: Prof. C. Wulf und Prof. D. Kamper). Tholen/Scholl 1990, G. C./M. O.: „Einleitung: Temporale Zäsuren“ in: G. C. Tholen und M. O. Scholl (Hrsg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, 1-15. Tholen/Scholl/Heller 1993, G. C./M./M.: „Vorwort“, in: G. C. Tholen, M. Scholl und M. Heller (Hrsg.): Zeitreise. Bilder / Maschinen / Strategien / Rätsel, Basel 1993, 11-16. Virilio 1987, P.: „Der Augenblick der beschleunigten Zeit“, in: D. Kamper und C. Wulf (Hrsg.): Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied 1987, 249-258.
34 Tholen/Scholl/Heller 1993, 15.
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Andy Blättler Vischer/Naef 2005, T./H. (Hrsg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné 1978-2004, Göttingen 2005. Wall 1993, J.: „Monochromie und Photo-Journalismus in On Kawaras Today Paintings“, in: Stemmrich 1997, 339-374. Wall 2005a, J.: „To the Spectator (An den Betrachter)“, in: Vischer/Naef 2005, 439-441. Wall 2005b, J.: „Three Thoughts on Photography (Drei Gedanken zur Fotografie)“, in: Vischer/Naef 2005, 444-445.
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4. T HEATER -K ÖRPER
Präsenzkultur Dionysus in 69 CHRISTOPH MENEGHETTI Describing the scene on the mountain with the women armed against Pentheus, one of the actors who played the Messenger quoted Agave: ‚We must kill this animal. Remember, violence is as American as apple pie.‘ This perhaps says it all. Yet only now in reading the accounts by the various performers did I realize what was at stake – beyond the doors of the theatre, or perhaps I had heard it all before. Still, in reviving the memories of that closing scene, I realized too that, strangely enough, I had conveniantly forgotten it altogether. It was the rituals and the naked bodies that I remembered best.1 Die Präsenz ist eine unaufhörlich entstehende. Sie ist jenes, das sich nur als Entstehendes entfaltet. Dies ist die Beschaffenheit der Anwesenheit dessen, das kommt: das auf das ‚Subjekt‘ des Abendlandes und das Abendland folgt – dieses Kommen eines anderen, das das Abendland immer fordert und immer ausschließt.2
0. Dionysus in 69 (1968) ist eine jener Aufführungen des 20. Jahrhunderts, die Geschichte geschrieben und unser Verständnis von Theater und Performance mitbegründet haben. Als künstlerischer Ausdruck einer umfassenden gesellschaftlichen Bewegung um 1968, welche die institutionalisierten Rahmen (nicht nur des Theaters) zu sprengen und neue Formen der Auseinandersetzung mit den brennenden Problematiken individueller und gesellschaftlicher Existenz versuchte, hat sie auch dazu beigetragen, das Genre der Performan1 2
Zeitlin 2004, 75. Nancy 1994, 103.
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Christoph Meneghetti ce zu definieren und darüber eine einflussreiche Theorieproduktion auszulösen. Es drängt sich auf, Dionysus in 69 als Produkt seiner Zeit und der zeitgenössischen politischen und geistigen Bewegung zu verorten: We live under terrible stress. Politically, intellectually, artistically, personally, and epistemologically we are at breaking points. It is a cliché to say that a society is in crisis. But ours, particularly here on the North American continent, seems gripped by total crisis and faced with either disintegration or brutal, sanctioned repression. The yearnings of the young may be a combination of infantile wishes for the wholeness of Mama’s breast and a thrashing toward an impossible Utopian socialism. Or these yearnings may indicate a genuine alternative to our horrific destiny. I cannot distinguish between the true and the false. But I can identify yearnings which have triggered not only an interest in primitive peoples but artistic movements that concretize that interest and start to satisfy those yearnings.3
Die gängigen Interpretationen verpassen jedoch meiner Ansicht nach eine spezifische Radikalität und Negativität von Dionysus in 69, und damit schließe ich an die Eingangszitate an. Weniger „what was at stake beyond the doors of the theatre“ scheint die Zuschauerin Froma Zeitlin beeindruckt zu haben als die Praktiken der Ausstellung von Körpern in Ritualen; Jean-Luc Nancys Konzept der Präsenz berücksichtigt die kulturelle Verfasstheit ihrer Erscheinung. Ich schlage nun vor, die Aufführung und die ihr zu Grunde liegenden Konzepte nicht nach sinnfälligen Repräsentationen, sondern nach ihrer inszenatorischen, dramaturgischen und, davon ausgehend, kulturellen Verfasstheit zu hinterfragen. Es geht mir in dem folgenden Beitrag um die Diskurse des anthropologischen Theaters und des Interkulturalismus, um die Medialität des Theaters und seiner intermedialen Transformationen und den Begriff der Präsenz, nach dessen Relevanz und Regel diese Diskurse erschlossen werden sollen.
1. Die erste mediale Transformation der Aufführung von Dionysus in 69 findet schon durch den Bezug auf die Dokumentation des Filmemachers Brian de Palma statt. Neben Nacherzählungen und Bildern ist sie der privilegierte verbliebene Kanal zum vergangenen, flüchtigen Ereignis der Aufführung. Mit zwei Handkameras gefilmt, repräsentiert de Palma einerseits eine Sicht auf das Geschehen und andererseits die Interaktion der Akteure mit dem Publikum. Folgen3
Schechner 1977, 6-7.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 des Beispiel zeigt auf, wie der Film das ephemere und einmalige subjektive Wahrnehmungsereignis der Aufführung in ein anderes Dispositiv der Perspektive transformiert: (0:37:10)4 Ein eingewanderter Gott, der sich Dionysus nennt, fordert König Pentheus heraus: Der vermeintlich so mächtige Herrscher über die Männer und Frauen von Theben sei niemals so fähig, ein junges hübsches Mädchen im Liebespiel zu engagieren, wie er, der Mensch namens William Finley, der hier und heute der Gott Dionysus ist. Der stolze Pentheus nimmt die Herausforderung an, lässt seinen Blick (und mit ihm den Blick der Kamera de Palmas) im Publikum umherschweifen. Er besteigt die Podeste, wo die Mädchen sitzen und erkundet den Raum, den er mit seinem Begehren aufspannt und durchschreitet. Eine zweite Kamera zeigt uns jetzt ihr Bild. Es erscheint neben dem von Pentheus, dort, wo zuvor auf dem Bildschirm noch eine dunkle Leerstelle war. Akteur und Zuschauerin, Jäger und Opfer, Herrscher und Subjekt, ein stummer Dialog zwischen zwei Ansichten: (0:43:40) Pentheus versucht, das Mädchen zu verführen, erst noch sanft und spielerisch, ringt er sie dann nieder und wälzt sich mit ihr auf dem Boden in der Mitte der Arena. Das Mädchen stößt ihn weg (was erlaubt sich der Schauspieler?) und geht zurück an ihren Platz. Enttäuscht und mit sich allein entzündet sich Pentheus in einem Feuerwerk an selbst zerstörerischen Sprüngen und Schrauben, er dreht sich in der Luft, kracht zu Boden, verrenkt die Glieder, windet und verkrampft sich. Er ist dabei alleiniger Akteur in der Mitte, die zwei Kameras zeigen ihn aber so aus verschiedenen Perspektiven, dass es nach zwei Tänzern aussieht. An die Stelle des Bilds des Mädchens ist Pentheus’ eigenes getreten. Der König und sein Double winden sich in einem Bewegungs-Bild-Duett, agieren ihr gescheitertes Begehren. (0:47:32) Dionysus fängt Pentheus auf, beruhigt ihn. Er bietet ihm an, sein Begehren zu erfüllen, ihm „consummation“ zu verschaffern, wenn er zuerst mit ihm Liebe macht. Ist es undenkbar? Der Mensch mit dem Gott, die beiden männlichen Schauspieler miteinander, god/man and man? Pentheus wehrt sich erst gegen die Idee, ringt mit sich selber (schon wieder!) und mit dem Gott, und willigt dann ein. Sie küssen sich (0:50:34), und die beiden Bildflächen, Projektionen dieses Ereignis in der Mitte der Aufführung Dionysus in 69, zeigen sie dabei als perfekte Spiegelbilder, die an ihrem Schnitt und Spiegelpunkt zerfließen.
4
Die Zeitangaben beziehen sich auf de Palma 1970.
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Christoph Meneghetti
2. In der Auseinandersetzung zwischen Dionysus und Pentheus fallen drei Dinge auf, erstens ein Komplex von Strategien der Verbildlichung (im Wesentlichen ist damit die Wahl der Kameraperspektiven gemeint). Sie drehen sich in der beschriebenen Szene stets darum, ein Ereignis aus zwei Perspektiven zu zeigen. Das Verfahren des Splitscreens wendet Brian de Palma konsequent so an, dass eine Kamera die narration zeigt und die zweite die interaction mit dem Publikum. Er schafft damit zwei Bilder, die nicht in eins fallen, sondern sich ergänzen oder in einen sinnlichen, intuitiven Dialog treten. Es entstehen so Varianten, die sich ergänzen, umspielen, unter Spannung stehen – mit der bedeutungsschwangeren Ausnahme des Kusses (0:50:45). Pentheus und Dionysus erscheinen hier als ihr gegenseitiges Spiegelbild, auseinandergefaltet an einem Scharnier der Bildfläche, das auf beide Seiten hin aufklappen kann, eine heikle Balance zwischen der Figur der autoritären Ordnung des Königs und der auflösenden Lust/Gewalt des Fremden. Diese Anordnung eines Bildes und seiner Spiegelung im Dispositiv des Splitscreen ist erst möglich durch eine Transformation des Bildes in der Projektion. Der Bildschirm schafft hier etwas, was auf der Bühne auch mit Spiegeln nicht möglich wäre. Der Raum müsste schon gekrümmt sein, um eine Ansicht und ihre Spiegelung unverzerrt in einer Achse zu arrangieren. Dieser Einfall am Schneidetisch führt mich auf eine doppelte Fährte. Meine These lautet: Nicht nur die beiden Protagonisten Pentheus und Dionysus stehen in einem Verhältnis der Doppelung/Spiegelung zueinander, sondern auch die Aktionen und ihre Ordnung im Gefüge der Erzählung sind durch eine Doppelung und raumzeitliche Krümmung bestimmt. Das Doppelbild (perfekt symmetrisch gespiegelte Ansicht, die so nie stattgefunden hat, eine unmögliche Gegenwart) impliziert die Möglichkeit eines Richtungswechsels im Prozess des Wahrnehmens. Die Dramaturgie von Dionysus in 69 ist durch eine Zeitkonstruktion bestimmt, die an der zentralen Stelle des Kusses der Spiegelbilder ihren Umschlagpunkt hat und eine dieser Spiegelung analoge Form annimmt. Das Medium des Films transformiert die Aufführung und macht im Blick/Bilddispositiv ein dramaturgisches Prinzip von Dionysus in 69 wieder sichtbar. Ich gehe dabei nicht von einer linearen Nacherzählung der Aufführung aus, sondern von einer visuellen Übersicht, die im Moment der Aufführung natürlich nicht besteht, sondern (nur) als theoretische Fingierung. Wie dieses Phänomen zwischen den Medien denkbar ist, betrifft eine wesentliche Komponente der Definition von Performativität, nämlich den Zusammenhang von Anwesenheit und Gegenwart im abendländischen Konzept ontologischer Präsenz.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Zweitens, was aus der Textur meiner Nacherzählung herausgefallen ist, unterscheidet sich der Redegestus der beiden Protagonisten. Wo Dionysus betont umgangssprachlich und léger redet, deklamiert Pentheus im tragischen Affekt-Stil mit viel „Gepolter der Stimme“, wie Schiller die klischeehafte Entsprechung von Ausdruck und Leidenschaft beim klassischen „Spieler starker tragischer Rollen“ schon 1782 typisiert vorfindet und beklagt.5 Nachdem Dionysus ihm die Erfüllung seines Begehrens nach consummation versprochen hat, stellt sich Pentheus erst quer, windet sich wie vor Schmerzen – und gibt einen kehligen Schrei von sich, bevor er einwilligt. An dieser Stelle in der Dramaturgie entgleitet dem König Pentheus erstmals die Stimme des Schauspielers Bill Shepard. Noch einmal verweise ich auf Schiller und seine Analyse der Stimme der Deklamation: Deklamation ist immer die erste Klippe, woran unsere meisten Schauspieler scheitern gehen, und Deklamation wirkt immer zwei Drittel der ganzen Illusion. Der Weg des Ohrs ist der gangbarste und nächste zu unsern Herzen […].6
Mit dieser anderen Qualität der gebrochenen Stimme wird hörbar: Pentheus/Bill Shepard verlässt hier das Regime des Namens des Vater-Königs. Die Auseinandersetzung zwischen Dionysus und Pentheus ist auf der Ebene des inszenierten Schauspielens eine Reflektion über die Rollendistanz, medial steht es zwischen dem Zitat alter Schauspielkonventionen einerseits und einer fortwährenden Auflösung der Figuren und ihrer Erinnerung an den Eigennamen, unter dessen Regime sie spielen, andererseits. Wenn der Schauspieler des Dionysus den König Pentheus darauf aufmerksam macht, dass er doch nicht Pentheus, sondern Bill Shepard sei und mit dem theatralischen Gehabe aufhören soll, stellt er nicht nur das Konzept der Einfühlung in die Rollenfigur in Frage, sondern die Referenzialität des Theaterzeichens. Indem er die Rahmung des Theaterspielens hereinholt und den abstrakten symbolischen Raum des EuripidesTextes mit dem konkreten organischen der Garage in New York umstülpt, lässt er Pentheus an der Klippe des Theaterspielens „scheitern“, konkret in unserem Beispiel an jener der Deklamation, und produziert, ganz in der Metapher des Schiffbruchs: Bruch, Ekstasen, Chaos. Dieser Drang, das Theaterspielen zum Scheitern zu bringen, zeigt sich in der Textdramaturgie durch die Fragmentierung, Dekontextualisierung und die Ironisierung der klassischen Figurenrede, er zeigt sich in der Bewegung der Körper in den Ekstasen und ihren Unterbrechungen und er wird sichtbar in den Perspektiven der Kameras, die wie ein unheimlich anwesender Dritter 5 6
Schiller 1962, 85. Schiller 1962, 85.
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Christoph Meneghetti dem Spiel beiwohnen und die Akteur-Zuschauer Konfrontation beobachten, mitunter sich gegenseitig filmen. Welche Medialität des Theaters erzeugt die Konstellation von Bildern, Stimmen, Handlungen in Dionysus in 69? Oder: Welche Rolle spielt das Scheitern, die Möglichkeit der Negativität in der Produktion, in der formalen Konstellation und Figuration von Theatralität von Dionysus in 69? Dionysus in 69 zeigt den tragischen Konflikt im Scheitern der theatralen Mittel – freilich immer noch innerhalb eines überinszenierten Rahmens. Denn, drittens, fällt auf, dass Dionysus in 69 in diskreten Handlungseinheiten stattfindet. Was macht sie diskret? Sie sind leicht in andere kulturelle Kontexte einzuordnen, wo sie bereits bekannte Bedeutung haben. Der Wettkampf, die Brautschau, der Pakt, der Kuss. Im Vokabular des Regisseurs Richard Schechner sind diese diskreten kulturellen Handlungseinheiten ritual actions: Any ritual can be lifted from its original setting and performed as theatre, just as any everyday event can be. This is possible because context, not fundamental structure, distinguishes ritual, entertainment, and ordinary life from each other.7
Dem Inszenierungskonzept des Rituals liegt zu Grunde, dass es die Wiederholung von etwas sei, dass es „certain underlying pan-human or even primate-based characteristics of performance“8 reaktualisiere, die mit dem Urgrund des Seins, mit der ursprünglichen Zeit und den ursprünglichen Wesen zusammenhänge. Während in der beschriebenen Szene die ritual actions einem westlichen Kontext entstammen und als Topoi nicht wegzudenken sind, finden sich ansonsten vor allem ritual actions aus fernen nicht-europäischen nichtamerikanischen Kulturen, Gesellschafts- und Theaterformen. Dies impliziert eine ontologische Fundierung des Theaters unabhängig von kulturellen Kontexten und definiert die Inszenierung als Vorgang der Herstellung von transkultureller Präsenz. Bevor wir genauer auf Beispiele eingehen, will ich das Bisherige zusammenfassen. An Dionysus in 69, aufgeführt von der Performance Group unter der Regie von Richard Schechner, dokumentiert von Brian de Palma, interessieren mich im Rahmen dieser Untersuchung folgende drei zusammenhängenden Aspekte: Die mediale Inszenierungen des Scheiterns und das Scheitern der Inszenierung von medialen Vorgängen; eine Dramaturgie, die sich an einer Ordnung des Bildes und nicht an einer teleologisch-linearen Zeit orientiert; die Rolle von Präsenz in der Performativität und das problematische Konzept von Präsenz im Interkulturalismus. Ich schlage eine Lesart vor, wie sie in der Forschungsliteratur zu den Bakchen und 7 8
Schechner 1977, 86. Schechner 1984, 248.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 zu Dionysus in 69 noch nicht versucht wurde: Die Fragmentierung betreffe nicht nur die Textgestalt und die theatrale Figur als Gestalt-aus-Text, sondern die Raum-Zeitstruktur. Den Begriff des Fragments, oder besser, den Begriff vom Vorgang des Fragmentierens will ich spezifisch zuspitzen. Dem lateinischen Verb frangere entspricht im Deutschen bekanntlich die Bedeutung von brechen und zerbrechen, interessanterweise intransitiv wie auch transitiv, frangere und abire in ruinas sind zwei Seiten derselben Münze. Besonders in der so bedeutungsschwangeren Metapher des Schiffbruchs, dem Zerschellens der Planken an der Klippe als auch dem Zerbrechen der Totalität des Schiff-Gebäudes, entspricht im Deutschen das Verb scheitern. Abgeleitet vom Wort Scheit, dem Trümmerholz, bedeutet der Vorgang des Scheiterns also nicht nur negative Zerstörung, sondern ist auch als produktive Negativität deutbar. Eine produktive Negativität, welche die Metaphern zerbricht, die Stücke besieht und neue Formen schafft.9
3. Dionysus in 69 findet zwischen den Medien statt. Nicht nur zwischen der Verfilmung und der Aufführung, sondern auch dramaturgisch und konzeptionell zwischen konfligierenden Modi der Vermittlung. Aber nicht nur der Gegenstand enthält eine intermediale Verschränkung, die Frage stellt sich, ob nicht die Aufzeichnung mit der Aufführung sich chiastisch verschränkt. Das Ziel dieser These ist nicht, das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst zu verkomplizieren, sondern die Möglichkeit eines Dazwischens zu denken, das die Ästhetik, Ökonomie und Politiken beider in dem Prozess der Vermittlung einfängt, und welches wir ‚das Intermediale‘ nennen können. Es gibt eine „Relation der Unschärfe“10 zwischen Aufführung und Aufzeichnung, Gabriele Brandstetter nennt dies in ihrer Analyse von intermedialen Performances eine „Grauzone“ und eröffnet selbst in einer Versuchsanordnung zwischen Aufführung und Aufzeichnung einen Bild-Raum in der Grauzone, vollzieht die Öffnung eines Schauraums. Die Metapher der Grauzone denkt Intermedialität räumlich, ich will aber versuchen, zwei Komponenten zu untersuchen, die nach einer anderen Denkform verlangen: Zeit und Präsenz. Es geht nicht um Aufführung oder Film oder eine andere feste mediale Form, sondern um eine Singularität und das es umgebende Konglomerat von Assoziationen. Ich versuche, einen smoke
9 Vgl. Blumenberg 1970. 10 Brandstetter 2005, 201.
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Christoph Meneghetti screen11 im virtuellen Raum des Nachdenkens über Dionysus in 69 aufzuhängen, eine Erscheinung, die verbirgt und durchscheinen lässt, die man durchschreiten und nicht fassen kann. Dieser smoke screen, ebenso vergänglich und flüchtig wie die Aufführung für einen Theaterwissenschaftler, ist gleichzeitig auch die Leinwand und der Bildschirm für Brian de Palmas Film Dionysus in 69. Ich versuche, die mediale Doppelsinnigkeit des Gegenstandes (der Aufführung und des Films, den doppelten und mit seinem Double konfligierenden Blick, innen/außen, Zuschauer/Teilnehmer, Aufführung/Aufzeichnung) auf der Ebene zweier Theorien, welche dieser Performance ein problematisches Fundament geben und welche sich mit der Kultur der Performance etablierten, auszutragen. Es geht um die Theorie der Präsenz, als emphatische und ganzheitliche Gegenwart und Anwesenheit, die immer noch das zentrale Charakteristikum des Performance-Genres ist und sich von metaphysischer Ontologie nie ganz lösen kann. Es geht zweitens um den Interkulturalismus, im Speziellen um einen Diskurs über die Anwendbarkeit von Kulturtechniken ebenso in der Ausbildung der Schauspieler wie in performance, der zwischen Richard Schechner und Rustom Bharucha in den 80er Jahren entbrannte.12 Die essentialistische Theorie des Interkulturalismus behauptet, dass gewisse Techniken und ihre Effekte anthropologisch konstant anwendbar und iterierbar sind. Dazwischen befindet sich als Fokus unserer Analyse der smoke screen von Dionysus in 69. Kein vollständiges Gedanken-Gebäude über Dionysus in 69 und seine Theorie der Präsenz entsteht, sondern einige Scheiter, Bruchstücke, deren Passform und Herkunft unfest bleibt.
4. Artists among us experience the way Australians do.13
(0:00:00) Im Raum befindet sich eine Gruppe von jungen Männern und Frauen. Sie liegen im Kreis, entspannen sich, machen rhyth11 Die Metapher des smoke screens, des Nebelschleiers, stammt von Sylvére Lotringer. Er verwendet sie, um die Neurose zu verbildlichen. Durch den Nebelschleier der Neurose hindurch werden „powerful machines of a different kind“ sichtbar. Die Metapher dient mir dazu, das Doppelspiel von verbergen/zeigen und das unbegreifliche oder unbegriffliche der Medialität von Theaterwahrnehmung zu verbildlichen. Außerdem passt sie zu den ätherischen Graustufen von Brian de Palmas Verfilmung, den Bildern von Haut auf dem Screen des Kinos. Vgl. Lotringer 1977, 5-10. 12 Bharucha 1984, 254-260; Bharucha 1990, 13-42; Schechner 1984, 245-253. 13 Schechner 1977, 11.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 misch Lockerungsübungen, rollen auf dem Boden herum, geben Laute von sich, singen sich ohne Worte ein. Sie balancieren auf einem Bein und nehmen symmetrische Haltungen ein. Zuschauer treten ein (0:03:40). Das Publikum nimmt auf Podesten und auf dem Boden im ganzen Raum verteilt Platz. Die Schauspieler ziehen sich aus, die Männer legen sich dicht aneinander gedrängt auf den Boden, die Frauen stehen über ihnen, jeweils einen Fuß im Schritt eines Mannes und den anderen an der Schulter. Die ganze Gruppenformation atmet und wiegt sich rhythmisch. Ein Schauspieler fällt aus der Formation heraus, nackt steigt er unter den Beinen der Frauen hindurch, über die Rücken der Männer, unter viel Gestöhne und Geschrei. Kaum ist er hindurch, steht er auf und verkündet seinen Namen und Rang: Pentheus, König von Theben, will dem wilden Treiben, das unter dem Einfluss eines fremden Gottes steht, ein Ende setzen.
Pre-Expressiv ity und Physical Presence Während das Publikum den Raum der Aufführung betritt, haben die Akteure schon mit den Vorbereitungen begonnen. Erst nachdem sie eine rituelle Geburt nachgespielt haben, tritt die erste Figur des Stücks, Pentheus, auf und gibt sich zu erkennen. Für gewöhnlich werden Aufwärmübungen vor der Aufführung oder zumindest hinter der Bühne, abseits von den Blicken der Zuschauer vollzogen, denn sie haben zum Zweck, den Körper aufzuwärmen und dem Schauspieler bei der Konzentration auf die anstehende Aufführung zu helfen. Auch das beschriebene Geburtsritual wurde von Schechner bereits in der Probephase als Übung eingeführt. Warum also Vorgänge zeigen, die ‚nur‘ zur Vorbereitung dienen? Was sind das für Übungen und Handlungen, welche Funktion haben sie, wo kommen sie her? Es lohnt sich, die elementare These des Theaters von Richard Schechner und der Theateranthropologie, wie sie Eugenio Barba formuliert hat, zu verstehen: All the relationships, all the interactions between the characters or between the characters and the lights, the sounds and the space, are actions. Everything that works directly on the specatators attention, on their understanding, their emotions, their kinaesthesia, is an action.14
Alles Wahrnehmbare ist action. Aktion oder Handlung ist bei Richard Schechner das Atom, der unteilbare Bestandteil von allem in performance. Was in der beschriebenen Szene stattfindet, ist bereits
14 Barba/Savarese 1991, 68.
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Christoph Meneghetti action und fällt nicht in das Schema einer Zeit der Aufführung und einer Vor-Zeit der Vorbereitung. Die Arbeit an den Körpern der Akteure ist nicht unbedeutend, weil nicht Teil der Aufführung, sondern noch-nicht-expressiv: The performers’ expression is in fact due – almost in spite of them – to their actions, to their use of their physical presence. It is the doing and how the doing is done which determine what one expresses.15
Die Arbeit des Akteurs an den Fähigkeit, „scenically alive“ und „a presence which immediately attracts the spectators’ attention“16 zu sein, findet auf der Ebene des pre-expressive statt, ist aber von seiner Wirkung in der Aufführung (expressive) nicht zu trennen und ist daher auch als Substrat in der Aufführung stets vorhanden. Die Ebene des pre-expressive ist eine pragmatische, operative Kategorie, um Prinzipien für die Arbeit an der physischen expressiven Präsenz (Energie) der Akteure zu abstrahieren und ist zeitlich und handlungstheoretisch schon mit dem expressive level verbunden. Was für Handlungen, Prozesse, Ereignisse sind dies, die preexpressive eingeübt werden und das expressive des Theaters ausmachen sollen? Was sind actions, wo und wann finden sie statt, woher kommen sie, worauf verweisen sie? The exercises themselves are adapted from Grotowski’s. They are psychophysical, which means that they engage the imagination as well as the body. […] All of them relate the body to the mind in such a way, that the two apparently separate systems are one.17
Im Theater finden Experimente mit verschiedenen Formen statt, in denen der Schauspieler sich nicht hinter der Rolle zurücknehmen, sondern im Gegenteil über ein Training des Körpers und des Geistes sich selbst, als „embodied mind“, preisgeben und im Moment der Aufführung eine totale Einheit von Körper und Geist darstellen.18 Der Abbau von Blockaden und eingeprägten Verhaltensmustern, die einer absoluten, natürlichen und überzeugenden Selbst-Preisgabe im Wege stehen, und die Herstellung eines energetischen Theaterkörpers vollzieht sich durch Übungen, wie sie auch die Schauspieler der Performance Group ausüben; so die zu Grunde liegenden Behauptungen der Praxis des anthropologischen Theaters. Das Paradebeispiel in der beschriebenen Szene von Dionysus in 69 ist das
15 16 17 18
Barba/Savarese 1991, 187. Barba/Savarese 1991, 188. Schechner 1970, 19. Fischer-Lichte 2001, 11-25; Fischer-Lichte 2008, 98-100.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Geburtsritual, das Schechner vom indonesischen Volk der Asmat übernommen hat. I used the birth ritual of Dionysus in 69 first in a workshop, as a way of metaphorically birthing each member of the Performance Group from the Group itself, and then in performance as a way of having both Dionysus and Pentheus emerge from that Group. Again, analogy with the Asmat rather than imitation was my mode. As modified and performed in my theatre, these actions (no longer rituals in the strict sense) took on their own definite shapes and meanings. I had, to use Agashe’s term, ‚metabolized‘ the rituals – or, more precisely, the ritual actions. The rituals in themselves remain, as they must, comprehensible only in terms of their original cultures.19
Interculturalism Die Theater-Anthropologie, deren wichtigste Exponenten die bereits zitierten Schechner und Barba sind, postuliert, dass dieses „preexpressive level is at the root of the various performance techniques and that there exists, independantly of traditional culture, a transcultural physiology.“20 Und da es die Aufgabe der performance sei, körperliche Präsenz zu schaffen, welche die Aufmerksamkeit des Zuschauers unmittelbar ergreife, kann ich im Sinne des interkulturellen Theaters folgende These rekonstruieren: Es gibt eine menschliche Präsenzkultur, die unabhängig von historischen Kontexten und sozialen, psychologischen und technologischen Kausalsystemen sei:21 „What we are undergoing is not a neo-primitive movement, but a post-industrial one.“22 Aus der anthropologischen Forschung stellt Claude Lévi-Strauss 1962 die Theorie über ein universales „wildes Denken“ auf, das den primitiven Völkern und den post-industriellen Gesellschaften gemeinsam sei: eine Ambition in symbolischen Systemen sowie eine Arbeit in konkreten Dimensionen, und die Überzeugung, dass dies im Grunde dasselbe sei.23 Der Theateranthropologe und Theatermacher (wie Schechner, Barba, und bis Mitte der 80er Jahre Grotowski) vergleicht und konfrontiert Techniken von Schauspielern und Tänzern aus verschiedenen Kulturen und deckt gemeinsame Prinzipien auf, ein interkulturelle Universalität von actions, abstrahiert aus der Fülle von beobachtetem Verhalten. Denn das Material für actions findet der Theateranthropologe in restored behaviour, in der vorgefundenen „Arbeit in kon-
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Schechner 1984, 249. Barba/Savarese 1991, 188. Schechner 1991, 205. Schechner 1977, 31. Lévi-Strauss 1989, 219-220.
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Christoph Meneghetti kreten Dimensionen“ und innerhalb einer spezifischen Kultur und ihren „symbolischen Systemen“ bedeutungsvoller Handlungen, sei es ein religiöses Ritual oder profanes alltägliches Verhalten. Restored behaviour ist in Schechners Worten „living behaviour treated as a film director treats a strip of film.“24 Das mediale Paradigma des Films (Montage, Perspektive)25 ist hier auffällig: Jedes Handeln kann abstrahiert, aufgezeichnet, übermittelt und wiedergegeben werden und etwas, sei es eine Idee, eine Bedeutung oder auch die konkrete Materialität der Bewegung oder Entstehung, bleibt dabei erhalten. Was fundiert diese Denkweise? The more contact among peoples the better. The more we, and everyone else too, can perform our own and other peoples’ cultures the better. […] Not just reading them, not just visiting them, or importing them – but actually doing them. So that ‚them‘ and ‚us‘ is elided, or laid experientially side-by-side.26
Die Ethik27 dieser anthropologischen Methode ist fragwürdig. In einer Auseinandersetzung mit westlichen Interpretationen und der Instrumentalisierung von indischen Theaterformen durch Schechner beobachtet Rustom Bharucha kein „the more the better“, sondern im Gegenteil eine collision of cultures.28 Der indische Theaterwissenschaftler fragt kritisch: What about the faith that existed in the original ritual before its ‚actions‘ were detached? What happens to this faith once the ‚ritual actions‘ are performed in a theatrical context? Is faith transportable?29
Schon 1968, also gleichzeitig zur Arbeit der Performance Group an Dionysus in 69, habe Grotowski realisiert, dass die Appropriierung von exotischen Techniken in der Schauspielerausbildung nicht funktioniere, dass man durch die Arbeit nicht bei einem universellen organic gestural system lande, sondern unauthentische Automatismen einübe.30 Die Abstraktion vom konkreten kulturellen Kontext ist sowohl Utopie wie auch Achillesferse des anthropologischen Theaters. Nicht nur, dass das Interesse für die Praktiken anderer Kulturen nur in einem Umfeld wirtschaftlicher Sicherheit und Mobilität entstehe, nicht nur, dass der Vergleich von einem westlichen Theater, das mit
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Schechner 1991, 205. Vgl. Sontag 1968. Schechner 1982, 4. Zu „ethics of representation“ vgl. Bharucha 1990, 3-4. Bharucha 1984, 256-257. Bharucha 1984, 256. Bharucha 1990, 29-30.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Stanislavskischem Schauspiel identifiziert werde, mit einem indischen Theater, bei dem fast ausschließlich uralte Riten und Volkstänze beachtet werden, hinkt – es ist auch fraglich, ob es überhaupt ein indisches ‚Theater‘ als Begriff gibt, über den westliche und östliche Theatermacher in einen reziproken Dialog eintreten können.31 Bharucha kennt für Indien keinen Begriff von Theater, der die Varianz der Erscheinungsformen einschließt, sondern nur konkrete, historisch und politisch kontextualisierte Formen. Sie sind nicht mobil und verlustlos extrahierbar wie ein strip of film. Für das Problem des Interkulturalismus als collision of cultures gibt es verschiedene Lösungen. Bharucha schlägt vor, das Konzept des Interkulturalismus aus jeder kulturellen Perspektive neu zu untersuchen und zu formulieren. Bei Grotowski verschiebt sich das Interesse von den appropriierten und instrumentalisierten Techniken anderer Kulturen weg zur Forschung in der individuellen Psyche und Physis des Schauspielers.32 Homi K. Bhabha geht das Problem politisch und philosophisch an, indem er zwei Figuren untersucht, die sich zwischen den Kulturen bewegen.33 1) Der globale Kosmopolit sieht die Welt in nationale Gesellschaften, die sich zu globalen Gemeinschaften verbinden und in Interessengemeinschaft sich zum Fortschritt verhelfen, dank technologischem Fortschritt und erfolgreicher Kommunikation. Er feiert die Pluralität der Kulturen und ignoriert die andauernde Ungerechtigkeit und das Elend an der Peripherie. Somit entsteht eine dual economy, die nicht den Grund für die herrschenden Differenzen reflektiert, sondern die Hoheit der Traditionen und Räume schützt. Zugespitzt könnte man sagen: Bharucha erkennt Schechner in dieser Figur. 2) Demgegenüber entwickelt Bhabha die Figur des verwundeten Kosmopoliten aus der Welt der Migranten und Minoritäten, der nicht die Vielfalt feiert, sondern das Recht auf Abweichungen und Unterschiede beansprucht.34 Die schwierige Verschränkung von Gleichberechtigung mit dem Recht auf Differenz erschafft ständig die Identität des Individuums in der Gesellschaft. Aus der Minderheitsperspektive verlangt der vernacular cosmopolitanism Bhabhas eine neue Definition: Was macht citizenship aus, was sind die Rechte des Bürgers und wie sind sie legitimiert? Diese Definition ist nicht nur eine andere als die vorherr-
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Bharucha 1984, 256-257. Bharucha 1990, 26. Vgl. Bhabha 1994. Zu „right to difference in equality“ vgl. Balibar 1994, 56.
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Christoph Meneghetti schende, sondern eine, die mit dem Fremden und den Minoritäten ausgehandelt wird. Was Bhabha anhand von literarischen Beispielen untersucht, ist schon in Dionysus in 69 zentral. Die symbolischen Aspekte, die Ästhetik der Darstellung in performance von Bürgerrechten eröffnen emotionale und politische Fragen, die mit kulturellen Differenzen und sozialer Diskriminierung zusammenhängen. Fragen, die durchaus auf der inhaltlichen Ebene von Dionysus in 69 aufgeworfen werden. Interessant ist nun die Frage nach der Legitimation: A nation centred view of sovereign citizenship understands the predicament of minoritarian ‚belonging‘ as a problem of ontology, belonging to race, gender, class, generation is the question after a second nature, primordial identification, inherited tradition, naturalization of a certain conceived version of citizenship.35
Der globale Interkulturalismus definiert die Rechte des Bürgers als ontologisch fundiert. Rechte hat, wer zugehörig ist. Hier wird nun der Zusammenhang zwischen anthropologischem Theater, dem Konzept von Interkulturalismus, das ihm zu Grunde liegt und der Metaphysik der Präsenz deutlich. Das anthropologische Theater will physische und mentale Präsenz herstellen, indem es Kulturtechniken anwendet, denen eine transkulturelle Sinnhaftigkeit unterstellt wird. Unabhängig von den konkreten Dimensionen ihres Ursprungs und ihres Kontextes sollen sie Zugriff auf haben auf eine gemeinsame Zugehörigkeit, und in diesem Zugriff soll Präsenz entstehen. Die gemeinsame These des anthropologischen Theaters und des globalen Interkulturalismus ist: Über alle Bedingungen hinweg liege die Sinnhaftigkeit des Seins in der Präsenz. Solange citizenship, Recht und Souveränität auf irgendeiner Ontologie basieren (der naturalisierten Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Rasse, Geschlecht, Klasse, Generation), sind sie einer Metaphysik der ontologischen Präsenz im Sinne einer (zweiten, naturalisierten) Natur, mit der sich der Mensch scheinbar ursprünglich identifiziert, verpflichtet.
Kollision (0:10:10) I am Pentheus, Son of Echion, King of Thebes. (00:12:30) William Finley stellt sich vor. Verkündet seine Göttlichkeit, will seine Rechte und Rituale einbürgern, und geboren werden.
35 Bhabha 1994, xvii.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Was ist das für eine Figur, die gleichzeitig Dionysus und William Finchley ist, die in das Reich des Königs Pentheus eindringt um neue Rechte und Rituale einzubürgern? Ist dieser rätselhafte Fremde,36 der stets ironisch zwischen den Rollen wechselt und sich über den Herrscher lustig macht, der dasselbe Geburtsritual wie Pentheus durchläuft, aber aus freien Stücken und ohne die Miene dabei zu verziehen, rechtlich nicht ein Immigrant, der das naturalisierte System der Herrschaft in Frage stellt? Wenn wir die verschiedenen Positionen, die optimistische des Theateranthropologen auf der Ebene der Inszenierung von Handlungen in einem kulturellen Dispositiv des Theaters und die kritischen Bharuchas und Bhabhas auf der Ebene von kultureller Figuration und Identifikation überhaupt, kollidieren lassen, was geschieht dann in der Aufführung von actions in Dionysus in 69 neben dem zweifelhaften interkulturellen Austausch und den fragwürdigen Techniken zur Ausbildung der Akteure und Produktion von Präsenz? Was macht Schechner auch, indem er die Rituale der Naturvölker imitiert? Rustom Bharucha sieht ein interessantes Nebenprodukt der Ästhetik des Interkulturalismus: In conclusion, I would like to add a cautionary note to Schechner’s statement that ‚in learning about the Other we also deepen our grasp of who we ourselves are: the Other is another and a mirror at the same time.‘ The danger, I believe, arises when the Other is not another but the projection of one’s own ego. Then all one has is a glorification of the Self. Let us hope that in interpreting ‚other‘ cultures we do not merely represent ourselves.37
Was Bharucha warnend im Theater Schechners erahnt, ist aufschlussreich über eine Doppeldeutigkeit in Dionysus in 69. Der Performer des actual nimmt an, dass die Praktik, die er annektiert und für sich nutzbar macht, eine Autorität hat. Ob er diese auch in einem veränderten Kontext hat, ist fraglich. Dazu kommt, dass die Hauptfigur des Stücks, Dionysus, den Herrscher Pentheus aus der Position des Fremden verspottet und seine Autorität scheitern lässt. In seinen neuen Ritualen, inszeniert im Einbezug des Publikums, entsteht eine double vision (wie sie der Splitscreen darstellt), welche die Herrschaft eines auf ontologischer Präsenz basierenden Theater-Dispositivs sprengt. Wenn das übernommene Ritual scheitert, wenn sich Schechner mit dem Ritual übernommen hat, wie ich Barucha zustimme würde, dann ist seine Performance eine Form von Mimikry. Sie zieht jene Autorität in Zweifel, die gleichzeitig ihr legitimierendes Phantasma ist, indem sie sie als Maske trägt, auf- und absetzt. Die Beziehung zwischen dem Akteur und der appropriierten Kulturtech36 Vgl. Kristeva 1990. 37 Bharucha 1984, 260.
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Christoph Meneghetti nik ist aufgespannt. Die Figur des Dionysus, Eindringling und Fremder, der ins Spiel der Repräsentation eingreift, ist der Katalysator dieser Gegenbewegung zum anthropologischen Theater der Präsenz. Wenn wir Schechners ethnozentrische Sicht auf die globale Anwendbarkeit spezifischer Körpertechniken positiv wenden wollen, stellt sich die Frage, welche Fiktion von Theater, von Darstellung und Wahrnehmung, die sich in der Präsenz des Akteurs verschränken, er aufstellt. Vielleicht zeigt Dionysus in 69 die fremden Körpertechniken (unfreiwillig) ironisch als ein Scheitern der Arbeit der Akteure im Einbezug des Anderen/Selbst. Nicht umsonst verkündet, am tragischen Ende des Stücks, Dionysus/William Finchley das Scheitern der Aufführung. Zeigt Dionysus in 69 in diesem Sinne nicht ein Zerbrechen von Präsenz, den Versuch einer scheiternden Behauptung? Die collision of cultures, auf der Ebene der Präsenz-Herstellung, inszeniert das Scheitern der Konzeption des Eigenen am Anderen bzw. an sich selbst. Der Begriff der Mimikry besticht hier durch seine doppelte Anwendbarkeit. Als Strategie sowohl der Ästhetik des Schauspielens wie auch der kulturellen Identität trifft die Medialität der Präsenz, deren „strategic confusion of the metaphoric and metonymic axes of the cultural production of meaning“38 bezeichnet. Schechners Inszenierung, nicht die eines „lying Asiatic“39 sondern aus der Position des „playing Interculturalist“, scheitert im Versuch, sich an überkulturelles, ur-menschliches Wissen und Praxis anzuschließen. Aber er reartikuliert die Repräsentation von Identität und Bedeutung in der metonymischen Kontiguität von Aktionen, die zu den eigenen und fremden, kulturell eingeübten Handlungen in konfliktreicher Nachbarschaft stehen.
Homogene Präsenz Für Bharuchas, der emphatisch die Perspektive des Fremden, einer anderen, nicht-abendländischen Kultur ausdrückt, wirkt die Instrumentalisierung seiner Rituale wie blanker Hohn, und er bezeugt die Wirkungslosigkeit der dekontextualisierten Handlungen – was das ganze Konzept der actions und ihrer Funktion für die Herstellung von physical presence in Frage stellt. Es lohnt sich, hier auf das Zentrum der Kritik einzugehen, denn hier treffen sich Politik und Kunst – zugespitzt geht es um das Problem der Ontologie des Abendlands, der Metaphysik der Präsenz und der Fundierung von Performativität darauf.
38 Bharucha 1984, 128. 39 Bharucha 1984, 128.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Bei Erika Fischer-Lichte lesen wir die im theaterwissenschaftlichen Diskurs gefestigten zentralen Thesen für jene Ausprägung von Performativität, die Kultur als Performance und damit als Aufführung begreift:40 Da, wie schon Austin und Butler betont hätten, die Aufführung der Inbegriff des Performativen sei (sic!), wäre Kultur am angemessensten über den Aufführungsbegriff zu erfassen, und in diesem spiele der Begriff der Präsenz (genauer gesagt, Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern und Gegenwärtigkeit der Aufführung) die Hauptrolle. So gedacht bestimmt Präsenz die Medialität und Materialität in der leiblichen Ko-Präsenz während der Aufführung, in dem Akteure und Zuschauer Lebenszeit teilen, Erlebnisse gegenseitig auslösen und in einem sozialen Prozess gemeinsam Aufführung erzeugen und Verantwortung dafür tragen.41 Aufführungen sind transitorisch und treten nur für begrenzte Zeit in Erscheinung. Während dieser Zeit erfahren Akteure und Zuschauer ihre phänomenale Körperlichkeit besonders intensiv – Akteure schaffen es aufgrund bestimmter Techniken und Praktiken, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf seine leibliche Präsenz zu fokussieren und ermöglichen dem Zuschauer eine „Erfahrung der Präsenz.“42 Die beiden Kameraperspektiven, die Brian de Palma in seiner Dokumentation verwendet, könnten nicht mehr diesem Paradigma entsprechen; Akteure und Zuschauer erzeugen in der Interaktion als Verkörperungs- oder Figurationsprozess Präsenz. Sowohl der Akteur erscheint als embodied mind besonders intensiv gegenwärtig, als auch der Zuschauer. Hier decken sich die Ansichten des anthropologischen Theaters und dieser Performancetheorie in einem Punkt, den Jacques Derrida als zentrales Problem der Metaphysik angreift: [Es ist] schwierig, wenn nicht gar unmöglich, streng zwischen der Präsenz als Anwesenheit und der Präsenz als Gegenwärtigkeit (Präsenz im zeitlichen Sinne von Vorhandenheit) zu unterscheiden. […] Die Metaphysik bezeichnet demnach die Bestimmung des Sinnes von Sein als Präsenz gleichzeitig in beiderlei Sinn.43
Die Präsenz als Anwesenheit und Gegenwärtigkeit ist zentral in den drei Diskursen, die ich mit Dionysus in 69 in Verbindung gebracht habe: Interkulturalismus, Anthropologie und Performance-Theorie. Ohne die Metaphysikkritik und ihre Implikationen für die Theatertheorie in Gänze zu erfassen geht es mir nun darum, die Homogenität des Präsenzbegriffs zu benennen, sie an Dionysus in 69 zu ana-
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Vgl. Fischer-Lichte 2004. Fischer-Lichte 2004, 15. Fischer-Lichte 2004, 16. Derrida 1988, 81-82.
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Christoph Meneghetti lysieren und ihre Validität zu überprüfen und dabei zu hinterfragen, wie der Diskurs der Präsenz die Gegenstände transformiert. Die fragliche diskursive Homogenität der Präsenz ist die Übereinstimmung von Gegenwärtigkeit und Anwesenheit. Die These über den Aufführungsbegriff, wie er von Fischer-Lichte formuliert wurde, besagt, dass das Erlebnis der Aufführung in der Zeit der Partizipation erzeugt wird. Hier findet eine unscharfe Begriffsbildung statt, die Ereignis, das Ereignishafte in der Wahrnehmung sowie die Einordnung des Wahrgenommen als erlebtes Erlebnis vermengt. Im Moment der Erfahrung bedarf Präsenz noch keines Begriffs, sondern ist ein Ereignis ohne Marke in einer linear verlaufenden Zeit, hat weder Ort noch Dauer in der ordnenden und zum Ganzen verarbeitenden Erinnerung. Dieses Erlebnis, als Wahrnehmung von etwas als etwas noch an der Bruchlinie der Sinne44 und kurz davor, umzuschlagen in eine closure of sense,45 wird erst später in der Verarbeitung, z. B. wie in der Wissenschaft als lineare Erzählung wiedergegeben, sowohl zeitlich später als auch medial transformiert. Die Kultur der Präsenz nimmt demzufolge nicht nur den Raum der Teilnahme ein, sondern auch den der Analyse und Dokumentation, zumeist des schriftlichen Mediums als der versprachlichten Erinnerung an das Ereignis.46 Erst im Transfer in ein Medium wird aus dem Ereignis eine Aufführung in einer Zeit. Die Einheit des Diskurses über die Präsenz ist in der Medialität der Wissenschaft festgesetzt unter dem Gebot, teleologisch linear auf eine closure of sense hin zu arbeiten und Evidenz zu produzieren.47 Ist die Einheit des Präsenzdiskurses vielleicht ein gewisser Stil, ein Zugang, ist Präsenz eine Diskursfunktion innerhalb der Wissenschaft und der Kultur? Immer die gleiche Analyse, Transkription, Vokabular? Sich selbst als Folge von Aussagen organisierend? Und die Zeitlichkeit der Zeit als linear, fortschreitend, zum Ergebnis kommend weiter schreibend? Ich will die zweite Beobachtung, die ich am Anfang dieses Essays gemacht habe, zum Anlass eines Analyse-Experimentes nehmen und dabei die bis anhin entwickelten Themen untersuchen. Welche actions kommen vor, und wie sind sie dramaturgisch organisiert? Wie stehen sie zeitlich zueinander? 44 Vgl. Waldenfels 2002. 45 „Diese Abgeschlossenheit hat zahlreiche Namen (Aneignung, Verwirklichung, Bedeutung, Sinn, Bestimmung etc.), im Besonderen heißt sie ‚Repräsentation.‘ Repräsentation ist das, was sich durch seine eigene Grenze definiert. Sie ist die Abgrenzung eines Subjekts, durch dieses Subjekt, die Abgrenzung dessen, das ‚an sich‘ weder repräsentiert noch repräsentierbar wäre.“ Nancy 1994, 102. 46 Vgl. Auslander 2006. 47 Vgl. Nancy 1994; Heidegger 1977.
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Präsenzkultur Dionysus in 69
Diamorphose 1) Wenn die Aufführung erst in der Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer zustande kommt, dann nehme ich jede Aktion ohne Vorwissen, ohne Vorheriges. Die erste Rede des Pentheus (00:10:05) handelt davon, dass er verhindern will, dass die Frauen (unter anderen seine Mutter) die Stadt verlassen um einem fremden Gott zu huldigen. Er will sie verhaften lassen und der obszönen Unordnung ein Ende setzen. Dionysus wird aber erstaunlicherweise erst nach dieser Rede geboren „to announce my divinity and to establish my rites and rituals“ (00:12:45), indem er aus derselben rituellen Formation, aus der Pentheus geboren wurde, heraus verdrängt wird, sich zuerst als William Finchley vorstellt und danach sich erst als Dionysus gebären lässt. Man sollte meinen, dass Pentheus die problematische Präsenz des Dionysus erst ansprechen kann, nachdem dieser überhaupt geboren worden ist. Auch findet die ecstasy, das Treiben, das Pentheus verurteilt, erst nach seiner Rede statt. 2) Am Anfang des Filmes von Brian de Palma zeigt nur die eine Kamera die Vorbereitungen der Akteure, mit dem Eintritt des Publikums erscheint das Bild einer zweiten, die die Zuschauer beobachtet. Die Akteure beginnen damit, die Zuschauer an Plätze im Raum verteilt zu führen, und flüstern dabei Sätze, die auf Geschehnisse später im Stück verweisen. Auch nachdem Pentheus seinen Namen und seine Autorität verkündet hat, geistern Textfetzen unter den Akteuren, die sich unter das Publikum gemischt haben, die das spätere Unheil verkünden. Es gibt unter den Akteuren, die sich unter das Publikum gemischt haben, ein Vorwissen, das sich erst noch erfüllen wird, eine zeitliche Diskrepanz, die sich stimmlich äußert und die Abfolge des Textes transformiert. 3) Am Anfang und Ende der Aufführung finden sich Varianten eines Rituals des indonesischen Volks der Asmat: Während im ersten die Figur Pentheus geboren wird, wird er im zweiten darin getötet, indem er dieselbe Bewegung des Geburtsrituals rückwärts durchläuft. 4) Zwischen den Ritualen der Geburt bzw. des Todes liegen Ekstase-Rituale, deren Pointe jeweils ist, dass Pentheus nicht am gemeinschaftlichen Erlebnis teilnehmen kann, sondern sich daraus zurückzieht oder darin markiert wird. Im ersten dieser Ekstase-Rituale scheint Pentheus ein krampfartiger Schmerz zu befallen, sein Körper sträubt sich angeekelt gegen das Spiel mit den anderen. In gleicher Weise reagiert er jedes Mal, wenn seine Autorität als Privat- und Staatsmann, seine körperliche Haltung und seine Diktion in Frage gestellt wird, sei es im obscene dis-
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Christoph Meneghetti order des Ekstase-Rituals, sei es durch das ironische Rollenspiel des Dionysus oder sei es in der misslungenen Verführung des Mädchens aus dem Publikum. 5) Woher kommt der Ekel, was macht das neue dionysische Ritual der Ekstase abject für ihn? Derselbe Ekel begegnet uns explizit im dramaturgischen Zentrum der Aufführung, im homoerotischen Konflikt mit Dionysus. Die anfangs beschriebene KussSzene, die in einem spiegelbildlichen Splitscreen dargestellt ist, befindet sich zeitlich und dramaturgisch in der Mitte von Dionysus in 69. Erst hier spricht Dionysus aus: „I’m a god, this is a tragedy – the odds are against you“ (0:40:20). Indem Pentheus Dionysus küsst und seinen Ekel vor ihm überwindet, besiegelt er seinen Untergang, der im zweiten Asmat-Ritual als verkehrte Geburt vollzogen wird. Man würde annehmen, dass der Grund für den Ekel und das Verhängnis schon am Anfang bestünde und sein Handeln motivieren. Aus diesen Beobachtungen schließe ich: Macht der Ablauf der Handlung nicht mehr Sinn, wenn wir ihn zeitlich neu ordnen, von der auffälligen Spiegelung der Kamerabilder beim Kuss ausgehend? Meine These lautet, dass der Handlungszeit eine paradox umgekehrte Zeit entgegenläuft, die jene Schuld des Begehrens aufbaut, die zum Auslöser für die Tragödie und Grund für die krisenhafte Auseinandersetzung wird, oder eigentlich schon gewesen ist – die Inszenierung stellt in ihrer wahrgenommenen Performanz gleichzeitig desis und lysis dar, Aufbau und Auflösung der Textur verknüpfter Handlungen. Was sich in Dionysus dem Zuschauer nicht intuitiv erschließt, ist die Vorzeitigkeit der Handlungen zu ihrer Motivation, der Symptome zu ihrem Konflikt. Während der Verlauf der Aufführung konventionell einen Konflikt aufbaut und zum Niedergang hinführt, folgt die Dramaturgie der Handlungen einer anderen Logik,48 der eines scheiternden Rituals. In Frage gestellt wird der Zusammenhang von Dramaturgie der Präsenz und der Aufführung einer anderen Präsenz, zwischen Zeitlichkeit und Zeit der Aufführung. Die umgekehrte Zeit bedeutet nicht, dass Handlungen im Rückwärtsgang ablaufen, sondern in Frage gestellt ist eben der Zusammenhang zwischen Aktionen und der Zeitlichkeit, in der sie
48 Die Logik des Rituals: Das Ritual ist immer eine Wiederholung von etwas. Vielleicht wird es in seiner spezifischen historischen Variante modifiziert und weiterentwickelt, aber es verweist immer auf eine schon bestehende, legitime Praxis. Das ist wichtig, nicht weil es die Wiederholung von etwas bestimmtem ist, sondern weil es die Wiederholung von etwas ist, ein etwas, das re-aktualisiert, was mit dem Urgrund des Seins, mit der ursprünglichen Zeit und den ursprünglichen Wesen zusammenhängt.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 stattfinden. Das Experiment liegt darin, den Zusammenhang zwischen Kausalität und zeitlicher Abfolge umzudrehen. Verfolgen wir die Figur des Pentheus vom zentralen Kuss zurück an den Anfang der Aufführung: Der Kuss mit Dionysus ist für ihn ekelhaft. Er wendet sich dem Mädchen zu. Der Versuch, es zu verführen, scheitert. Daraufhin ringt Pentheus Dionysus im Kampf nieder. Er hält eine Rede über die Notwendigkeit der Disziplin und der Staatsgewalt und überträgt seine Aufmerksamkeit auf die Bürger. Nun beginnen aber die Bürger mit einem ekstatischen Treiben, was ihn anekelt. In der Vereinigung aller Bürger im Asmat-Ritual wird Pentheus als König (neu-)geboren, und während seiner Geburt wird Dionysus aus der rituellen Formation verdrängt. Nicht Gegenspieler oder Zwillingsbrüder sind sie, sondern vielmehr schizophrene Spaltprodukte. Die Verräumlichung seines Körpers in der Geburtsszene ist selbst eine Überschreitung einer Schwelle, ein Eintritt/Austritt in erotische und ekelhafte Zonen. Die unkontrollierbare, polymorphe Ekstase ist im imaginären System des Pentheus jenes Abject, welches zu Gunsten der autoritären Gewalt verdrängt und unterdrückt werden muss. Die Repression des Ekstatischen ist ein Hinweis zur Grenze, an der der signifikante soziale kollektive Körper aufgebaut wird. Das Ritual der Asmat ist gleichzeitig Geburt des Namens und Auflösung von Identität. Vom Anfang an her als Aufführung in der Zeit gesehen ist das ekstatische Treiben der Bacchantinnen staatszersetzend und bedroht die Identität des Herrschers, indem es seine Definition der Herrschaft/Bürgerschaft hinterfragt. Pentheus führt ein fatales Spiel mit seinem abgründigen Double, die Gewalt der Herrschaft erkauft er sich in der repressiven Trennung von Benennbarem und Unbewusstem. Der Konflikt zwischen Pentheus und Dionysus, der sich in Gewalt und erotischer Anziehung abspielt, ist das Verborgene, Ungewusste, welche die Aktion auf beide Seiten der Bildachse präformiert. Alle Krämpfe, das Winden und die Grimassen sind Symptome einer Repression von Begehren, eine Wiederkehr des Abject. Abjection bedeutet seit Julia Kristeva49 die erste und eindeutige (sinnstiftende) Geste der Verweigerung der ekelhaften Nahrung und damit des ersten Scheiterns von Kommunikation in der Mutter-Kind Beziehung. Diese Geste ist der Beginn von Intentionalität, nicht ihr Resultat. Sie stellt, um in den Raum der Analogien zwischen Kristeva und Bhabha zurückzukehren, den Anfangspunkt jenes (oder jedes) politischen Handelns und Wählens dar, aus dem das neue Individuum entsteht. Nicht nur entstanden ist, es setzt vielmehr den Schaltkreis des Entstehens in Bewegung. Je nach Kontext fällt die Form der Zündung, die diesen Schaltkreis anwirft, verschieden aus. „Taking a stance, stan-
49 Vgl. Kristeva 1982
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Christoph Meneghetti ding, insisting“, oder „the speaking of a name“ sind die iterativen Formulierungen dieser Initialzündungen, hier treffen sich die Performativitäts-Theorie von Judith Butler mit der Performativität der Kultur von Bhabha.50 Das Scheitern der Techniken zur Produktion von präsenten Figuren ist jenes Heraus-stehende, Ausfällige, Ekstatische, welches eine Entstehung weiterer Präsenz ist und sein wird,51 wenn etwas sich selbst doppelt begegnet und zum Subjekt seiner eigenen Aktion wird: „First as a stranger, then as a friend.“52 Dionysus in 69 zeigt im Scheitern der theatralen Ästhetik politische Handlungen, die wir als Anfänge deuten können, ohne dass sie zu vollendeten Tatsachen führen müssen: Die Selbstdeklaration des Pentheus, der auf seiner Autorität insistiert, und die gedoppelte Selbstbenennung des Dionysus, der sich ständig selbst begegnet als Schauspieler und als Figur.
Schluss Das Spiegelbild der Kameraperspektiven, von der meine Analyse ausgegangen ist, erschafft einen doppelten Blick, der nicht mehr nur mit der Aufführung zu tun hat und der nur in einem Intermedium, einem Transfer in die Medialität des Films, möglich ist. Was im Einen sichtbar wird, gerät im Anderen aus dem Blick: Die anamorphotische Verzerrung der Perspektive, die unmögliche Krümmung des Blicks auf Dionysus und Pentheus macht visuell etwas explizit, was der Aufführung als verborgenes Wissen zu Grunde liegt. Damit ist nicht ein bestimmtes Wissen gemeint, sondern: Die Techniken zur Herstellung physischer Präsenz beziehen sich auf die Autorität der Kultur. Die Texte beziehen sich auf Euripides’ Drama und greifen zu jedem Zeitpunkt der Aufführung darauf zurück. Die Rituale sind Wiederholungen, die sich auf die Autorität der Ähnlichkeit berufen. Die Stimmen und das ironische Schauspiel zitieren Theaterrahmungen. Dionysus in 69 agiert diesen facettenreichen Wiederholungszwang aus, suchend nach authentischer Präsenz. Was in der Kultur des anthropologischen Theaters des Westens versucht wurde, muss scheitern. Was auf allen Ebenen in Dionysus in 69 kritisch wird und den Bezug in seiner Problematik interessant macht, ist die Einsicht, dass gesellschaftliche und politische Autorität eine apparative Erscheinung symbolischer Gewalt ist. Damit geht einher, dass die Konstruktion der einen Nationalität und Kultur mit einer linearen Äquivalenz von
50 Vgl. Krämer 2001, 241-260; Bhabha 1994, xxv. 51 Vgl. Nancy 1994. 52 Bhabha 1994, xxv.
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Präsenzkultur Dionysus in 69 Ereignis und Zeit erstellt wird.53 In der Erstellung dieses Komplexes erscheint die double vision, die Mimikry des Fremden als Teil-Objekt, und die metamorphotische Sicht darauf als Entgleiten aus dem homogenen Diskurs der Autorität. Meine alternative Interpretation der Dramaturgie von Dionysus in 69, mit einem anderen Konzept von Zeit und Handlung, ist mehr als ein anderer, fingierter Schluss der Interpretation. Vielmehr ist sie eine Möglichkeit, die Herstellung von Präsenz als Kongruenz von Gegenwart und Gleichzeitigkeit als nur eine der Möglichkeiten des Theaters zu sehen, aber nicht die exklusive und einzige. Theater als Aufführung von Präsenz metaphysischer Ontologie zu verstehen schließt seine Anderes, Fremdes – zu früh – aus und übergeht das kritische Potential, die Fundamente unserer Verstehens und Denkens und politischen Handelns zu beleuchten. The founding objects of the Western world become the erratic, eccentric, accidental objets trouvés of the colonial discourse – the part-objects of presence. It is then, that the body and the book lose their part-objects of presence.54
Literaturv erzeichnis Auslander 2006, P.: „The Performativity of Performance Documentation“, PAJ 28/3, 2006, 1-10. Balibar 1994, E.: Masses, Classes, Ideas, New York/London 1994. Barba/Savarese 1991, E./N.: A Dictionary of Theatre Anthropology: the Secret Art of the Performer, London 1991. Bhabha 1994, H.K.: The Location of Culture, London 1994. Bharucha 1984, R.: „A Reply to Richard Schechner“, Asian Theatre Journal 1/2, 1984, 254-260. Bharucha 1990, R.: „Collision of Cultures: Some Western Interpretations and Uses of Indian Theatre“, in: R. Bharucha, Theatre and the World: Essays on Performance and Politics of Culture, New Delhi 1990, 13-42. Böhme 1995, G.: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995. Brandstetter 2005, G.: Bild-Sprung: TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin. Blumenberg 1979, H.: Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979. de Kerckhove 1981, D.: „A Theory of Greek Tragedy“, Sub-Stance 29, 1981, 23-36.
53 Bhabha 1994, 201. 54 Bhabha 1994, 131.
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Fragmentierung des Dionysos. Performative Strategien in den Bakchen -Inszenierungen MASSIMO FUSILLO1 In der dionysischen Sphäre spielt die Fragmentierung schon auf der Ebene des Mythos und des Rituals eine essentielle Rolle, bereits vor allen literarischen Texten. Die rituelle Zerstückelung, der sparagmos, betrifft ebenso sehr den Gott wie seinen Widersacher Pentheus, und findet somit als nicht zu leugnender symbolischer Wert für die Konstruktion der Identität ihren Einsatz, die im Zentrum der zeitgenössischen Theorie steht.2 Der dionysische Kult schloss außerdem eine Detonation des logos im Schrei und im Tanz mit ein, wovon naturgemäß nur wenige Spuren greifbar sind. Die einzige erhaltene Tragödie über den Theatergott – ein verstörendes Vermächtnis des exilierten Euripides – weist zwar durchaus eine kompakte und klassische Struktur auf, aber ebenso einen Riss, den die zeitgenössische Rezeption radikalisiert hat, in einer Bewegung hin zu einer postdramatischen Fragmentarisierung: In der Tat haben die Bakchen einen gewissen isolierten komischen Zug (die Szene zwischen Kadmos und Teiresias und die Verkleidung des Pentheus), und vor allem lässt sich in ihnen eine fluktuierende Identifikation zwischen den beiden Protagonisten erkennen. Zu Beginn ist Pentheus der negative, tyrannische Widersacher, im Verlaufe des Spiels aber fällt er in solchem Maße der exzessiven Rache des Gottes zum Opfer, dass er mehr und mehr Mitleid auf sich zieht. Gerade ihre tief wurzelnde Ambiguität begründet den bescheidenen Erfolg dieser Tragödie in der Nachwelt – verglichen zumindest mit anderen griechischen Tragödien; ihre volle Wertschätzung finden die Bakchen 1 2
Dank gebührt an dieser Stelle Rebecca Lämmle (Basel) für die Übersetzung, sowie für die Durchsicht Anton Bierl (Basel). Es genügt hier an die Szene zu erinnern, die bei Nonnos von Panopolis (6.169-173) erzählt wird, in der Dionysos von den Titanen in Stücke gerissen wird, während er sich im Spiegel betrachtet.
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Massimo Fusillo erst im 20. Jahrhundert, zumal in der Phase theatralen Experimentierens, in der man sich nach und nach von der Tyrannei des dramatischen Textes zu lösen begann, um anderen, non-verbalen Ausdruckscodes ebensoviel, wenn nicht mehr Gewicht zu verleihen. Diese Rezeption wendete die Techniken postdramatischer Fragmentierung an, um der Aufdeckung der latenten Ambiguität der Euripideischen Tragödie und der dionysischen Welt überhaupt Vorschub zu leisten, Techniken einer Fragmentierung, die jeden allumfassenden Sieg des Gottes mit einem Riss versieht und dekonstruiert. Beginnen wir mit einem berühmten Spektakel, das in der Geschichte der Inszenierung antiken Theaters einen ganz eigenen Weg einschlug: Dionysus in 69 von Richard Schechner. Es handelt sich dabei um eines der ersten Erzeugnisse des Environmental Theatre, in dem die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Schauspielern und Zuschauern niedergerissen wurde. Der Ausbreitung in den Raum hinein entspricht eine Fragmentierung und freie Re-Montage des Textes. Von den 1300 Versen der englischen Bakchen-Übersetzung von William Arrowsmith finden nur rund 600 Eingang ins Stück, oft mehrfach wiederholt und mit fremden Texten amalgamiert, Texten, die von den Schauspielern oder dem Regisseur verfasst wurden ebenso wie mit Zitaten aus anderen griechischen Tragödien.3 Alle Rollen sind grundsätzlich austauschbar. Abend für Abend werden die Rollen von Dionysos, Pentheus, Kadmos, Teiresias, Agaue von neuem unter die Schauspieler verteilt (häufig ist dabei auch der Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Rollen), was verschiedene Versionen hervorbringt, die nicht selten auch von der Reaktion und Intervention des Publikums beeinflusst sind. Die Raum-Zeit-Idee, die dem ganzen Spiel unterliegt, ist denn auch keine geschlossene, organische. Das Stück weist keinen Anfang, keine Mitte, kein gut-motiviertes Ende auf, wie es den Prinzipien der Aristotelischen Poetik entsprechen würde – es ist also nicht als lineare Abfolge von Szenen organisiert, sondern im Gegenteil durch Multidimensionalität gekennzeichnet. Dies bedeutet Vielschichtigkeit der Ebenen und Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die sich in der Totalität des Raumes ausbreiten. Ein Axiom des Environmental Theatre lautet: Der ganze Raum gehört der Repräsentation; der ganze Raum gehört dem Publikum.4 Dahinter verbirgt sich eine Idee, die der Logik des Traumes ähnelt und die hie und da auch im Euripideischen Text auftaucht. Aus diesem Grund sind alle
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Vgl. Schechner 1970. „ALL THE SPACE IS USED FOR PERFORMANCE; ALL THE SPACE IS USED FOR AUDIENCE.“ Schechner 1968, 48.
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Fragmentierung des Dionysos Schauspieler von Anfang an immer auf der Bühne präsent, und zwar vom Incipit an, wo Dionysos sich setzt und mit den Zuschauern zu plaudern beginnt, derweil Pentheus herumstreift und die Handlungen des Chores beobachtet. Das bedeutet freilich nicht, dass die Narration, die den Bakchen zugrunde liegt, nicht substantiell erhalten bliebe, vom Einzugslied des Chores bis hin zur Exodos, in der Dionysos aus der Höhe erscheint und zu einem tyrannischen und manipulativen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl mutiert ist. Diese Dialektik von narrativer Linearität und freier ReMontage des zerstückelten Textes macht sich vor allem in den Chorpartien bemerkbar, deren Wiedergabe für moderne Regisseure seit jeher das problematischste Element in der Inszenierung griechischer Tragödien ausmacht. Zum Beispiel werden während der ‚Eröffnungszeremonien‘ („opening ceremonies“) Euripides’ Verse vom Chor zunächst frei rezitiert, der Chor wählt willkürlich Verse aus, ordnet sie ebenso willkürlich an und trägt sie in selbst gewähltem Rhythmus und in selbst gewählter Stimmlage und Lautstärke vor. Erst später werden die Verse wieder rezitiert oder gesungen, zweimal nacheinander, in ihrem Originalzusammenhang und in der ursprünglichen Abfolge, nämlich dann, wenn die damit beauftragte Schauspielerin eine befriedigende Zuschauerdichte und Energie unter den Performern wahrnimmt. Hält man sich vor Augen, dass alle Schauspieler Mitglieder des Chores sind, kann man ihn als kollektiven Hintergrund begreifen, der die Handlung hervorbringt. Zu Beginn klingt dank der Fragmentierung des Textes, der in den verschiedensten Winkeln des Raumes vorgetragen wird, das Einzugslied wie undifferenziertes Magma, aus dem das Drama hervorgeht. Die Szene zwischen Kadmos und Teiresias beginnt denn auch bereits während der Chorpartie: In einer Variante der Aufführung befindet sich Kadmos im Publikum, in einer anderen auf einem Turm, und er wird lange von Teiresias gesucht, dem von ihm selbst zuvor die Augen verbunden worden sind. In einer weiteren Version beginnen die beiden Schauspieler ihren Dialog wie zwei Verschworene, an einem dunklen Ort, hinter einem Turm oder unter einer Plattform, und sie wiederholen ihren Dialog mehrfach, ehe er vom Publikum verstanden werden kann. Das Gerüst des Schauspiels machen Riten und Tänze aus, welche die verschiedenen Wendepunkte der Handlung markieren (sehr wirkungsvoll ist etwa das „birth ritual“ von Dionysos). Eine Schlüsselstelle, an der sich wiederum eine postdramatische Fragmentierung bemerkbar macht, ist das Wiedererscheinen des Teiresias, nicht vorgesehen bei Euripides, aber häufig eingesetzt in der zeitgenössischen Regie und Dramaturgie (zum Beispiel bei Wole Soyinka) als Ausdruck der symbolischen Prägnanz dieses androgynen Propheten. Nach der Szene, in der Agaue, zu zwei Schauspielerinnen
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Massimo Fusillo ‚verdoppelt‘, sich ihrer Tat bewusst wird, stimmt Teiresias ein Bestattungslied an („an antiphonal dirge“), in dem die Euripideischen Verse, in denen der Protagonist sein Exil bedauert, in ritualisierter Form wiederholt werden: zunächst vom Propheten, dann von allen anderen Performern (außer dem des Dionysos), die in der Zwischenzeit einer nach dem andern den Saal verlassen, um barfüßig auf die Straße hinauszurennen, nachdem sie sich gegenseitig mit Schwämmen das Blut weggewischt haben. Der androgyne Prophet ist also die Leitstimme eines rituellen Umzugs, der wiederum eine klar kathartische Wirkung hat und bei dem die Fragmentierung des Textes mit der Ausdehnung in den Raum übereinstimmt: von der Bühne auf die Straße. Die Begegnungen von Dionysos und Pentheus sind eine Mischung aus dem Euripideischen Text und Fragmenten aus den Autobiographien der Schauspieler, häufig eingeführt über die Negierung der theatralen Fiktion („Du bist nicht Pentheus, du bist Bill Sheperd“). Schechner hält fest, er habe, da es sich um ein Drama über die Freisetzung individueller Energie handle, von den Schauspielern größtmöglichen persönlichen Ausdruck verlangt. Dies geschah nicht konfliktfrei und nicht ohne quälende Momente innerhalb der Truppe (wie sich der Schauspieler des Pentheus erinnert, der an einer depressiven Verstimmung litt).5 Am Ende der ersten Szene mit zwei Personen, im Moment nämlich, in dem in den Bakchen der Gott in Fesseln gelegt wird, steigt Schechners Dionysos in einen Schacht, während der Chor sich von der Peripherie des Raumes auf Pentheus zuzubewegen und ihn zu umzingeln beginnt und dabei irgendeine unterhaltsame Nachricht erzählt, die sich am selben Tag ereignet hat: eine Art und Weise, die Strategie des Dionysos darzustellen, die – über eine ganze Reihe von Spielen und Ritualen, die dem Spektakel den Ruf eines Psychodramas einhandelten – in eine Demütigung des Pentheus übergeht. Die Bakchen befinden sich im Zentrum einer der radikalsten, innovativsten, bedeutendsten Erfahrungen in der Karriere Luca Ronconis: im Laboratorio di progettazione teatrale in Prato, wo der Regisseur mit dem Raum, mit der Beziehung zum Publikum und neuen dramaturgischen Modellen experimentierte. Steht dieses Projekt einerseits in einer direkten Beziehung zu Schechner und den Ideen des Environmental Theatre, so ist andrerseits die Wieder-Verwendung der griechischen Tragödie ganz anders ausgerichtet: hin zu
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Zeitlin 2004, 61-63; William (Bill) Shepard hat über seine Erfahrungen in der Gruppe von Schechner eine Doktorarbeit in Anthropologie verfasst – eine weiter wertvolle Quelle zur Rekonstruktion dieses Schauspiels.
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Fragmentierung des Dionysos einer Aufwertung der Distanz von Ritual und Mythos, von welchen nur Fragmente, Spuren, Relikte greifbar sein können. In einer zweiten Version der Inszenierung in den Räumen des Istituto Magnolfi, einem einstigen Waisenhaus aus dem 17. Jahrhundert, ließ Ronconi eine polare Opposition, die typisch für die dionysische Erfahrung ist, zu ihrer Extremform anwachsen: jene zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen Identität und Alterität. Er vertraute in der Tat alle Rollen einer einzigen Schauspielerin an, Marisa Fabbri, die bereits als außergewöhnliche Klytaimnestra in der Orestie und später unzählige Male als Hauptdarstellerin in Ronconis Inszenierungen überzeugt hatte. Dies ist als Regieeinfall zu werten, der gewisse Züge der Euripideischen Tragödie radikalisiert: die Besessenheit, den Wahn, die Austauschbarkeit der Rollen von Pentheus und Dionysos, die verstörende Begegnung mit dem Gott als dem An-die-Oberfläche-Dringen dessen, was unterdrückt ist. In derselben Zeit entwickelte Ronconi ferner die Idee einer Auflösung der traditionellen Figur weiter und ebenso der psychologisierenden Rezitation, die sein Theater auszeichnet. Sind die Rollen nämlich einer einzigen Schauspielerin zugewiesen, so entwickelt sich die dramaturgische Skansion aus dem Raum heraus: Das Laboratorio von Prato bedingte denn auch die Zusammenarbeit mit der bekannten Architektin Gae Aulenti, mit der Ronconi bereits anderweitig zusammengearbeitet hatte. Aulenti entwarf eine regelrechte Route durch die verschiedenen Zimmer des ehemaligen Waisenhauses, deren Räume er durch Scharniere sowie labyrinthische Durchgänge miteinander verband. Das Publikum – das nie aus mehr als 24 Personen gleichzeitig bestehen darf – folgt der Schauspielerin bei ihren diversen Ortswechseln. Bisweilen ist es gezwungen, sie lediglich von der Schwelle aus zu betrachten. So wandert man zu einem Theater, einer Palästra, hin zu einem Tunnel, der mit Laserstrahlen dargestellt ist (letzterer technischer Einfall wird hier zum ersten Mal im Theater verwendet; ein offensichtliches Zeichen für die vom Gott gestellte Falle). Die Kernszene, die Begegnung von Dionysos und Pentheus, trägt Marisa Fabbri vor einem Spiegel vor – einem hochsymbolischen Objekt also, das bereits in Wien für die erste Aufführung der Bakchen verwendet worden war und in diversen anderen Inszenierungen wieder aufgenommen werden sollte –, in einer Weise, welche die Unterschiede zwischen den Rollen schließlich auslöscht. Dies ist als Höhepunkt einer Regie zu werten, die den Text von einer psychotischhalluzinativen Lesart her spielt und mit einer multiplen Besessenheit zeichnet, wobei sie einen bereits bei Euripides angelegten Zug radikalisiert: die Austauschbarkeit der beiden Protagonisten. Nur einmal ist die Bühne beleuchtet, will heißen: der Raum des Dionysos als Gott des Theaters. Zum ersten Mal wird hier von der Schau-
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Massimo Fusillo spielerin die Bühne benutzt, sie beginnt die Mauer, die sie umgibt, abzureißen. Diese Szene gibt so das Erdbeben der Euripideischen Tragödie wieder. Die wundersame Epiphanie des Dionysos ist demnach eine Auswirkung der „deflagrazione interiore“6 des Pentheus – der höchst wirksame Schluss dieses legendären Spektakels bleibt, wie dies im utopischen Theater Ronconis häufig der Fall ist, unvollendet. Die Rezitation endet bei Vers 634.7 Wenden wir uns jetzt einer weiteren außergewöhnlichen BakchenInszenierung zu, auch sie aus den 1970er Jahren, nämlich jener von Klaus Michael Grüber, die Teil des mit Peter Stein entwickelten Antikenprojekts der Berliner Schaubühne war. Zweifellos spielt die Fragmentierung hier eine geringere Rolle als bei Schechner und Ronconi. Mehr noch, mit seinem hieratischen Verlauf, gleichsam demjenigen eines Oratoriums, scheint das Schauspiel den tragischen Organismus auszuweiten. Dies wiederum verhindert aber nicht, dass nicht auch hier postdramatische Züge erkennbar werden, welche die dramatische Linearität unterlaufen: so etwa die geschriene oder gebrochene, manchmal ‚animalische‘ Rezitationsweise, oder auch, in den eher statischen Momenten, die Wiederholung von Schlüsselwörtern, bisweilen in ihrem griechischen Originallaut, die psalmodisch vorgetragen und gleichsam in ihrer ganzen Musikalität ausgekostet werden. Dank dieser starken Fragmentarisierung neigt Grüber dazu, die Linearität des Textes zu dekonstruieren, ja sogar den Begriff von Text selbst – nicht zuletzt deshalb, weil er gleichzeitig sieben verschiedene Übersetzungen verwendet.8 Diese semantische Verwandlung des antiken Vorbilds macht sich vor allem im Finale bemerkbar, das im 20. Jahrhundert immer überarbeitet wurde, um den zweideutigen Triumph des Dionysos brüchig erscheinen zu lassen und problematisieren zu können. Bei Euripides kehrt Kadmos mit den Überresten des Pentheus in den Händen nach Theben zurück, die liebevoll in allen Winkeln des Kithairon zusammengetragen wurden, wo sie vorgängig von den rasenden Bakchantinnen hingeschleudert worden waren. In Grübers Schauspiel, das häufig fetischartige Objekte einsetzt (wie zum Beispiel den Damenschuh, der von Dionysos angebetet wird), wird dieses szenische Element mittels eines in viele Teile zerrissenen Abendkleides, mit zugehörigen Accessoires, dargestellt. Während der ‚Psychotherapie‘ der Agaue danach ersetzt ein Bediensteter den blutverschmierten Kopf des Pentheus mit dem Kragen des Abendkleides, als ob diese fetischistische Ersatzhandlung, welche die na-
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Aulenti 1977, 29. Vgl. Ronconi/Quadri/Aulenti 1981; Klett 1978; Celse-Blanc 1984, 126-133. Remshardt 1999, 44; Fischer-Lichte 1999, 17.
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Fragmentierung des Dionysos türliche und brutale Handlung ersetzt, der Heilung der Person/Figur dienstbar gemacht werden könnte. Am Ende, während des Schlussdialogs mit der Tochter, im Moment, in dem abermals von den leiblichen Überresten des Pentheus die Rede ist, zieht Kadmos einen Handschuh aus der Tasche und beginnt ihn zusammenzunähen. Das letzte Bild, das offen ist und in der Schwebe bleibt,9 zeigt Kadmos und Agaue. Erschöpft sitzen sie nebeneinander und beabsichtigen, den Handschuh des Pentheus zusammenzunähen, und tauchen dabei in völlige Dunkelheit (die weite Bühne verdunkelt sich allmählich). Dieses Bild stellt das Auflösen des Tragischen in eine bürgerliche Dimension dar: Die rituelle Gewalt, die zerstörerische Gewalt der amorphen Natur, wilde Tierhaftigkeit, Wahnsinn und Verkleidung sind nun ein fernes und kaltes Echo. Ähnlich wie die Filme von Kurosawa aus Shakespeare schöpfen, vermengen auch die Spektakel von Suzuki, die sich mit den abendländischen Klassikern auseinandersetzen und der östlichen Kultur anpassen, direkte Textzitate mit freien Erfindungen und demontieren damit den Text-Organismus. Unter einem dramaturgischen Gesichtspunkt kommt die Entfleischlichung am häufigsten zum Einsatz: Sie reduziert das Modell auf seinen essentiellen Kern und auf seine primären Oppositionen. Häufig betreffen die radikalsten pragmatischen Transformationen den Schluss – in einer Optik, welche die Züge des tragischen Nihilismus und der zyklischen Wiederholung hervorhebt, die das ganze Theater Suzukis kennzeichnen: ein Theater, das versucht das Chaos zu stilisieren. Dionysos und die Bakchen sind früh ins Repertoire von Suzukis Truppe aufgenommen worden, als ein höchstgeeigneter Stoff für Varianten und ‚Remakes‘. Die erste Version der Bakchen von 1977 hat einen ausgeprägt metatheatralen Zug: Es handelt sich dabei um die Geschichte eines Volkes, das von einem Despoten unterdrückt wird, der den Text des Euripides inszeniert, sich mit dem Chor identifiziert und in Dionysos ein Symbol seiner eigenen Träume von Freiheit erkennt. Am Ende der Szene, in der Agaue mit Kadmos’ Hilfe realisiert, dass sie ihren Sohn Pentheus getötet hat, unterbrechen die beiden Schauspieler das Schauspiel, um einen Tee zu trinken. In diesem Moment erscheint Pentheus wieder und durchbohrt die beiden mit einem Schwert.10 Wie in den Bakchen Soyinkas (1978) und Grübers wird also auch hier der Euripideische Triumph des Dionysos gebrochen, der von der Bühne herab das Exil von Kadmos und Agaue verkündet und Gefallen an der eigenen Rache findet (si-
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Fischer-Lichte 1999, 17: „[…] ein ‚never ending process‘, ein Sparagmos des Textes.“ 10 Vgl. McDonald 1992, § III.
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Massimo Fusillo cherlich kein ‚Happy End‘, aber die Auflösung eines Konfliktes mit dem mehrdeutigen Sieg einer der beiden Parteien). Hier jedoch kehren die Toten zurück, um sich zu rächen und den tragischen Konflikt erneut zu schüren und damit den Mechanismus des unsinnigen, zyklischen Ablaufs aufzuzeigen. Etwas Ähnliches ereignet sich in der zweiten, zweisprachigen Version, in der Dionysos und Pentheus in der letzten Szene auftreten, nur um ihre Auftrittsmonologe anzuzitieren. Demnach wird hier der Triumph des Dionysos ebenso gebrochen wie in der ersten Version (und, wie wir sehen werden, in der letzten), indem er nämlich ersetzt wird durch eine Szene, die noch deutlicher die Idee von ewiger Wiederholung suggeriert. Der Konflikt zwischen Protagonist und Antagonist wird zum nicht-eliminierbaren Konflikt, dazu verdammt, sich in stets neuen Formen zu wiederholen. Dank der zweisprachigen Rezitation (primär ein Instrument des interkulturellen Theaters und der Begegnung verschiedener Stile des Ausdrucks), stellt er sich als Konflikt der Kulturen dar, in dem der Orient an das Wilde des Ritus, der Vision, des Tanzes, des Körpers, der Passion gebunden ist. Wenn es aber richtig ist, dass Suzuki wie Soyinka die Negativität des Pentheus akzentuiert, dann ist ebenso wahr, dass keiner der beiden Pole als richtiger und überlegener Sieger aus dem Konflikt hervorgeht. In der dritten Version schließlich bedeutet dramatische Fragmentierung nicht nur ein Beschneiden des Textes – beispielsweise fehlen sowohl die Botenberichte als auch die Szene mit der Verkleidung des Pentheus als Frau; das Stück hat eine brutale Syntax, denn auf die Verführung folgt unmittelbar die Ermordung –, dramatische Fragmentierung bedeutet hier auch die Interpolation von japanischen Kinderreimen, von Shakespeare-Zitaten und rituellem Gesang. Die Geschichte des Dionysos und der Bakchantinnen erfährt eine abermalige Re-Lektüre, im Grunde genommen auf ihren nie abbrechenden zyklischen Verlauf hin: die Wiederholung eines primären und nicht auflösbaren Konfliktes. Die Phase des Experimentierens in den 1970er Jahren – einer Periode, in der große Konflikte die Theaterlandschaft spalteten (Tradition, Avantgarde, anthropologisches Theater) – war die Phase, welche die signifikantesten und radikalsten Bakchen-Bearbeitungen hervorbrachte. In jüngerer Zeit hat man vor allem dem Grotesken und der Kontamination der Stile Aufmerksamkeit geschenkt (z. B. Purcarete), der Austauschbarkeit der Rollen und ganz besonders dem Doppelgängertum von Dionysos und Pentheus. Ein Beispiel hierfür ist das Ergebnis einer Koproduktion der Union der Theater Europas, die griechische, ungarische und finnische Schauspieler vereinte: die abstrakte und stilisierte Bakchen-Adaptation von Sandor Zsótér En Chasse – Getting Horny (Budapest 2002), vom Autor als
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Fragmentierung des Dionysos „Drehbuch“ bezeichnet, reduziert den Plot auf drei Figuren und jede wird von je zwei Schauspielern dargestellt: Dionysos von einer Frau und einem Mann, Agaue von einem Mann, wenn sie außer sich ist, von einer Frau, wenn sie wieder bei Verstand ist, und Pentheus von zwei Männern, die seine Persönlichkeits-Spaltung darstellen. Die Schauspieler sprechen alle in der ihnen eigenen Sprache, ohne einander zu verstehen, derweil der Zuschauer das Gesagte via Übertitel verfolgen kann. Das Ganze spielt sich im Inneren eines aseptisch wirkenden Hauses ab, dessen Anblick von einer großen, beleuchteten Dusche dominiert wird: Wie in Pasolinis Teorema (1968) ist Dionysos ein störender Gast, dem es gelingt, den bürgerlichen Haushalt aus seinem prekären Gleichgewicht zu bringen. Die Re-Lektüre von Zsótér dreht sich um die Vision, das Doppelte, die zyklische Wiederholung. Pentheus nimmt von der Ausbreitung des dionysischen Kults zum ersten Mal Kenntnis, als er eine Videokassette abspielt. Er begegnet Dionysos in dessen weiblicher Gestalt unter seiner Dusche, erst danach in der männlichen. Zweimal träumt er von bakchischen Riten und seiner Verkleidung als Frau mit einem Löwenhaupt, und verliebt sich sogar in den Gott. Er wird von seiner Mutter getötet, die sich schließlich freiwillig ins Exil begibt, derweil der Gott sein eigenes Verhalten damit erklärt, dass er als Kind selbst in Stücke gerissen worden und deswegen traumatisiert sei. In der letzten Szene beginnt alles von Neuem, wie in der ersten Szene kommt Pentheus vom Meer zurück, legt die Kassette in den Videorekorder, die diesmal aber die Bilder seiner Zerstückelung zeigt. Dionysos, in weiblicher Gestalt, setzt sich neben ihn, während unter der Dusche die beiden Agauen den männlichen Dionysos in Stücke reißen. Abermals also gibt es keinen finalen Triumph und keine Katharsis, sondern ausschließlich tragische, repetitive Gewalt, die jeden Begriff von Identität verunmöglicht, indem sie die Spiegelbildlichkeit der beiden Protagonisten maximal ausreizt und den dramatischen Text partiell verdoppelt oder neu zusammensetzt. Es gibt freilich eine noch radikalere Form der Austauschbarkeit der Rollen, welche die Substanz und die Struktur von Theater selbst betrifft: jene zwischen Schauspieler und Zuschauer, mit der das Teatro del Lemming experimentiert, eine der führenden Gruppen jener neuen experimentellen Strömung in Italien, die im Raum zwischen dem südlichen Veneto und der Romagna angesiedelt ist.11 Hier finden wir das Durchbrechen der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerrängen wieder, von dem wir ausgegangen waren, als wir über Schechners Dionysus in 69 sprachen, auch wenn hier durch-
11 Dazu gehören die Societas Raffaello Sanzio und die Gruppen Motus, Fanny & Alexander und Teatro della Valdoca.
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Massimo Fusillo aus andere Parameter angesetzt sind. Die Gruppe aus Rovigo, die ihren Namen einem skandinavischen Wandertier verdankt, hat stets die physischen Handlungen der Schauspieler ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt, ebenso die Interaktion zwischen sämtlichen theatralen Codes (vor allem der Musik und des Tanzes) und den sinnlichen und ‚animalischen‘ Einbezug des Zuschauers. Am Ende der neunziger Jahre begegnet uns in der Tetralogia dello Spettatore die Inszenierung Dioniso – Tragedia del teatro, die von der Auffassung des antiken Mythos als Form der Reflexion über die Ursprünge des Theaters inspiriert ist. Vor jeder dieser Vorführungen wird der Zuschauer einem Entkleidungsritual ausgesetzt: Er muss Zeit und Identität des Alltags ablegen, um Zeit und Identität, die das Theater gewährt, annehmen zu können.12 Ist er einmal zu seinem Sitzplatz gebracht worden, wird er also in die Rolle des Pentheus gedrängt, des Zuschauers, der sehen will, ohne gesehen zu werden, der Zeuge wird, wie sich die anfängliche ekstatische Orgie belebt. Als Dionysos seine Rache ausruft, wählen die Schauspieler mit dem Blick je einen Zuschauer aus (eine Technik der dionysischen Initiation, wie es in den Euripideischen Bakchen, V. 470, heißt), führen diese zu einem Diwan, wo sie abwechselnd in einen rituellen Tanz miteinbezogen werden, der auch die Aufnahme von symbolischen Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten beinhaltet (Wasser, Wein, Milch, Honig). Schließlich kommt es zu einer Nachahmung der Eingangsorgie, die nichts Anderes als parodistische Wiederholung ist. Die Handlung wird durch den Sturz eines Statuenhauptes aufs Publikum unterbrochen. Die Schauspieler ergreifen die Flucht, nur der Koryphaios und der Mann mit der Maske bleiben, nackt, sowie eine Bakchantin, die auf dem Boden kauernd rohes Fleisch isst. Die Zuschauer werden allein gelassen mit ihrer Scham, und während der Vorhang fällt, jubeln ihnen die Schauspieler von den Zuschauerrängen aus ironisch zu. Die postdramatische Fragmentierung dient in diesem Falle dem radikalen Überdenken der Rezeptions-Mechanismen im Theater sowie seinem engen und höchst verworrenen Geflecht von Wahrnehmung, Körperlichkeit und Identifikation.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits ARNO BÖHLER UND SUSANNE GRANZER1 Lecture Performance:2 Philosophy On Stage #2 6. Juli 2007, Universität Bern, Kuppelraum3
Videoeinspielung Text, Chor Max Reinhardt Seminar 4 Diese Münze, mit der alle Welt bezahlt, Ruhm –, mit Handschuhen fasse ich diese Münze an, mit Ekel trete ich sie unter mich. Wer will bezahlt sein? Die Käuflichen … Wer feil steht, greift mit fetten Händen nach diesem Allerwelts-Blechklingklang Ruhm! […] Still! – Von grossen Dingen – […] soll man schweigen oder gross reden: […]
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Die Beiträge von Susanne Granzer und Arno Böhler bzw. Claudia Bosse sind als künstlerische Beiträge formal anders gesetzt. Abb. 1-5, Tafeln 8-11, S. 299-302. Filmversion: GRENZ-film, granzer & böhler 2007; Fotoserie: http://www. flickr.com/photos/oliviosarikas/tags/philosophyonstage2/page3. Montage aus F. Nietzsche: Dionysos-Dithyramben, in: Nietzsche 1980, VI, 403-405, und F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche 1980, IV, 136.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Ich sehe hinauf – dort rollen Lichtmeere: – oh Nacht, oh Schweigen, oh todtenstiller Lärm! … Ich sehe ein Zeichen –, aus fernsten Fernen sinkt langsam funkelnd ein Sternbild gegen mich … Höchstes Gestirn des Seins! […] was Alle hassen, was allein ich liebe, dass du ewig bist! dass du notwendig bist! Meine Liebe entzündet sich ewig nur an der Nothwendigkeit. Schild der Notwendigkeit! – das kein Wunsch erreicht. das kein Nein befleckt, ewiges Ja des Seins’s, ewig bin ich dein Ja: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! – – Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe.
Filmtext Einar Schleef 5 Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge vor, eher ein Satyr zu sein als ein Heiliger.
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F. Nietzsche: Ecce Homo, in: Nietzsche 1980, VI, 258.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Text Susanne Granzer (live) 6 Vielleicht bin ich ein Hanswurst… Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – redet aus mir die Wahrheit. Der Wahrheit Freier – du? so höhnten sie nein! nur ein Dichter! […] Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, aus Narrenlarven bunt herausredend, herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken, auf Lügen-Regenbogen zwischen falschen Himmeln herumschweifend, herumschleichend – nur Narr! nur Dichter! …
Filmtext Einar Schleef 7 1889. In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Aufgabe an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin. Denn ich habe mich nicht „unbezeugt gelassen“. Das Missverhältnis aber zwischen der Grösse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin. Es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, dass ich lebe? … Ich brauche nur irgendeinen „Gebildeten“ zu sprechen, um mich zu überzeugen, dass ich nicht lebe … Unter diesen Umständen giebt es eine Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz meiner Instinkte revoltirt, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!
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Montage aus F. Nietzsche: Ecce Homo, in: Nietzsche 1980, VI, 365 und F. Nietzsche: Dionysos-Dithyramben, in: Nietzsche 1980, VI, 377-378. F. Nietzsche: Ecce Homo, in: Nietzsche 1980, VI, 257.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Text Susanne Granzer (live) 8 Wie man wird, was man ist. 1856. Der zwölfjährige Nietzsche: Lange hatte mir immer Glück und Freude geleuchtet, aber dann türmten sich schwarze Wolken auf, Blitze zuckten und verderbend fielen die Schläge des Himmels nieder. Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vater gemütskrank. 1849 starb er an Gehirnerweichung. Seine letzten Worte waren: „Fränzchen – Fränzchen – komm – Ach Gott!“ Obgleich ich noch sehr jung und unerfahren war, so hatte ich nun doch eine Idee vom Tode, – und war deshalb nicht ganz so lustig und wild, wie Kinder zu sein pflegen. Meine Mitschüler waren gewohnt, mich wegen dieses Ernstes zu necken. (Cut)
Homo sacer, der heilige Mensch. Homo sacer, der verfluchte Mensch, der um den Tod weiß. (Cut)
1963. Ein dreizehnjähriges Mädchen: Im Tohuwabohu eines Klassenzimmers ohne Aufsicht, fährt die Wucht eines solchen ersten Wissens in ein halbwüchsige Kind, das im Gegensatz zu den lauthals tobenden Gleichaltrigen, ein Buch vor sich liegen hat und in die Konzentration des Lesens gefallen ist. Es ist ein Schlag, ein Blitzschlag, unerwartet, von einem heiteren, säkularisierten Himmel herab. Er brennt eine Spur in das Gedächtnis, unwiderruflich, fügt dem Kind einen Riss in sich selbst zu, der so vorher nicht da war. – Glück oder Verhängnis? Ein Mensch stirbt, ist in dem Buch zu lesen, das auf der Schulbank liegt. Es ist eine Erzählung von einem, der sein Leben willkürlich aufs Spiel setzt, als er entdeckt, dass ihn sein Denken – dem er sich lebenslang verschrieben hatte – leer zurücklässt. Öd, verödet. Er selbst, eine Leerstelle in einer gefügig gemachten Welt, die funktioniert. Trostlos über seine Unbeteiligtheit am Leben, will er sich in
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Montage aus F. Nietzsche: Autobiographisches aus den Jahren 1856-1869. Aus meinem Leben. Die Jugendjahre 1844-1858, in: Nietzsche 1973, II, 580.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits sein Äußerstes zwingen, will er sein „Seinkönnen“ in einem Szenario des „Sterbenkönnens“ provozieren. Im Sterben, jetzt, hilflos verstummt am Strand verblutend, im elenden Krepieren unter einer gleichgültigen Sonne, jetzt, jetzt, angesichts des Todes, entzieht sich sein Denken jeglichem Zugriff. Jetzt, tatsächlich eingeholt vom Sterben, jetzt, da er sich gierig an seinem Denken festhalten will, stößt es ihn weg, lässt ihn fallen, fallen, ins Bodenlose fallen, – Mon Dieu! mein Gott! Jeder Macht seines gewohnten Denkens ist er beraubt, er muss sie aufgeben, muss zu Kreuz kriechen, muss sich und seinem Denken die Freiheit geben – und plötzlich einen ermatteten Herzschlag lang, glaubt er, zu begreifen ... Wie man wird, was man ist. Ab jetzt, ab diesem Riss in sich selbst, plötzlich, mitten im Lesen, gibt es für das halbwüchsige Kind eine neue Perspektive auf die Welt, auf das eigene In-der-Welt-sein – wofür es keinen Namen, keinen Begriff hat. Nur Offenheit, nur ein Gespür. Ohne zu zögern, sagt es ja, uneingeschränkt ja. Ohne gemischte Gefühle, ganz ohne verspricht es sich selbst, buchstäblich. Mein Leben muss ich nicht über den Haufen werfen, „nur“ das Wie meines Lebens muss ich ändern. Mehr weiß ich nicht, mehr verstehe ich noch nicht. – Aber das verstehe ich, das weiß ich, das fuhr in mich ein, das muss, das will ich versuchen. This is my way. Dann, vielleicht, glückt das Leben, mein Leben. – Pathetic announcement? Obsoleter Horizont? Aber das Kind in seiner Adoleszenz schert sich einen Dreck um solche Tabus. Wie man wird, was man ist. Der Weg vom Klassenzimmer nach Hause ist ein freudiger Flug, die Schritte unter Strom, übervoll das Herz. Tuchfühlung mit einer unverwundbaren Macht. Aber zu Hause, schlüpft, automatisch – statt der frohen Botschaft – eine lächerliche Nörgelei „gebackene Leber! die schmeckt mir aber gar nicht“, wie von selbst aus dem Mund, das passende Gesicht dazu tut ein Übriges. Unseliges, törichtes Vergessen. Der Horizont des ersten Anfangs verstummt, wird blicklos, sprachlos, machtlos. Leer. Keine Kometen mehr, keine Sterne, nichts mehr von alledem, wie weggeblasen.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Scheitern des ersten Anfangs an läppisch Banalem, von niemandem bemerkt als von dem halbwüchsigen Kind selbst. Keiner wird sich lange den Kopf darüber zerbrechen, keiner, oder das Herz. Aber ich, ich. Ichichich. Die Verkehrung schockiert. Ernüchterung über die Ohnmacht sich selbst gegenüber. Sich im offenen Anfang nicht halten können, trotz allen Hochgefühls. So ist das also! So. Lacht sich da bocksbeinig einer heimlich ins Fäustchen? Das glatte Gegenteil von dem zu tun, was man will, unfreiwillig–freiwillig, freiwillig– unfreiwillig. (Cut)
Filmtext Einar Schleef 9 Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken – leider auch sein natürlichster Hang. – Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine „Religion“, die man mehr als eine Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christenthum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig vom Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen – erster Schritt zur Genesung. „Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, sondern durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende“: das steht am Anfang der Lehre Buddhas – so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie. – Das Ressentiment, aus der Schwäche geboren, Niemandem schädlicher als dem Schwachen selbst, – im andern Falle, wo eine reiche Natur die Voraussetzung ist, ein Gefühl, ein über-flüssiges Gefühl, über das Herr zu bleiben beinahe der Beweis des Reichthums ist. Wer den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom „freien Willen“ hinein aufgenommen hat – wird verstehn, weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit in der Praxis – ja beispielhaft voranstelle. Der Gelehrte giebt seine ganze Kraft im Ja und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab, – er selbst denkt nicht mehr … Der Instinkt der Selbstvertheidigung ist bei ihm mürbe geworden; im andren Falle würde er sich gegen den Verkehr mit Büchern wehren. – Frühmorgens beim Anbruch des Tags, in aller Frische, in der Morgenröthe seiner Kraft, ein Buch lesen – das nenne ich lasterhaft! – –
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Montage aus F. Nietzsche: Ecce Homo, in Nietzsche 1980, VI, 272-273 und 293.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn, die Frage, wie man wird, was man ist, die Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben. Ja, damit berühre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht … Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Geringsten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Werth.
Text Susanne Granzer (live) Wie man wird, was man ist. 1956. Ein sechsjähriges Mädchen: Zeit des Buchstabierens, des Erlernens der Schrift, des Lesens und des Schreibens. Buchstabiere: ICH. Gut. Noch einmal. Ichichichichich. Verrücktes Wortmonster! Hört sich seltsam an, ichichichichich. Das Kind treibt im Spielen einen Turmbau der Silben, lässt die Buchstaben gerinnen, zum leeren Echo erstarren, einstürzen, lustvoll werden sie neu aufgetürmt, ichichichichich, die Buchstaben wachsen ins Monströse. Tollheit des Möglichen, faszinierendes Spiel, doppeltes, das die Buchstaben eröffnen. Wortfindung, Wortentleerung. Wie paralysiert setzt das Kind das Spiel fort, ichichichichichichich. Ich? Das meint ja mich! durchzuckt es das Kind, ichichichichich, das klingt fremd, befremdend, plötzlich. Beklemmend. Ichichich. Ich werde mir selbst fremd, ichmir, ich werde mir selbst unheimlich, ichmir. Ich zu wem sage ich das? Rücklings auf den Buckel springt diese Frage dem Kind mitten im arglosen Spiel, beängstigend, ängstigend, ein hässlicher Zwerg, den es mit einem Mal zu schleppen hat. (Cut)
1856. Der zwölfjährige Nietzsche:10 Kaum waren die Wunden nach dem Tod meines Vaters ein wenig verheilt, starb mein kleines Brüderchen. – In der damaligen Zeit
10 Montage aus: F. Nietzsche: Autobiographisches aus den Jahren 1856-1869. Aus meinem Leben. Die Jugendjahre 1844-1858, in: Nietzsche 1973, II, 581.
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Arno Böhler und Susanne Granzer träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbnis. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Öffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. – Genau den Tag nach dieser Nacht war plötzlich Josephchen, mein kleiner Bruder, unwohl, bekam die Krämpfe und starb in wenigen Stunden. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt. – – – (Cut)
Text Arno Böhler (Vortrag live) Nietzsche’s Greatest Hits. Das Wort Hit bedeutet im Englischen: Schlag. Und wenn wir an Schlag denken, dann denken wir auch an Trauma. Traum, Trauma, Hits. Üblicherweise ist es so, dass das Wort Trauma, zumindest bei uns, im westlichen Kontext, mit einem anderen Philosophen, nicht unbedingt mit Nietzsche, in Zusammenhang gebracht wird, nämlich mit Freud. Aber vor Freud hat schon Friedrich Nietzsche eine wunderbare Schrift verfasst, die Genealogie der Moral, in der er seine eigene Trauma-Theorie vorgetragen hatte. Dabei ist interessant, dass er im zweiten Teil der Abhandlung Zur Genealogie der Moral – über den Ursprung und die Herkunft des Gewissens, und das bedeutet für Nietzsche immer: Ursprung und Herkunft des schlechten Gewissens – sagte, dass dieser Ursprung das sei, womit die Geschichte des Menschen überhaupt begonnen habe. Der Mensch wird Mensch, der Mensch wird in dem Moment human, in dem ‚etwas‘ im Tier Mensch auf-bricht; auf-gebrochen wird. Und zwar durch einen Hit – durch einen Schlag, der, wie er sagt, von außen kommt. Nietzsche vergleicht dieses Ereignis sogar mit jenem Zustand, als die Wassertiere zum ersten Mal ans Land gekommen waren und auf dem Land Bedingungen vorgefunden hatten, mit denen sie physiologisch, biologisch einfach nicht zurecht gekommen waren. Ihre Physis war auf diese Bedingungen ganz einfach nicht eingestellt. Als Wassertiere hatten sie keine Instinkte, keine gewachsenen Dispositive, auf die sie nun zurückgreifen konnten. Und das ist genau der historische Moment, in dem für Nietzsche das Gewissen – und das heißt für ihn immer, das Humane – historisch seine Geschichte beginnt.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Der Mensch, ein Tier, das gebrochen wird; das beginnt, sich nach innen zu wenden, weil es sich nicht mehr äußern kann; weil es keine Macht mehr besitzt, sich nach außen zu wenden, sich zu äußern. Wodurch? Durch das, dass es von einer Übermacht in Schach gehalten wird. – Und diese Übermacht ist für Nietzsche die Macht einer Sozietät. Der Ursprung des Humanen liegt für ihn also darin, dass das ‚Tier Mensch‘, das animal rationale, gezwungen wird, sich in ganz bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zu recht zu finden, die für das ‚Tier‘ im Menschen als Zwangsjacke fungieren. Unter solchen Umständen findet erst jener Bruch statt, der zum Beispiel im Lateinischen die Definition des Menschen ausmacht: der Mensch als animal rationale. Als jene Bruchstelle, in der die Animalität des Menschen seiner Rationalität plötzlich entgegensteht. Ein Spalt, eine Kluft – Kluft, Spalt, eine aufgähnende Wunde heißt im Griechischen chaos – ein aufklaffendes Chaos zwischen der Animalität des Menschen und seiner Rationalität, das allein ist auch für Nietzsche das Humane: die Entstehung des Gewissens, verstanden als Akt einer Wendung nach innen, eines Innwendigwerdens des ‚Tiers Mensch‘ im Menschen. Eine Geschichte, die sich für Nietzsche schon seit Jahrtausenden ereignet hat, die inzwischen aber eine zweite entscheidende Wende angenommen hatte. Den Vollzug jenes historischen Wendepunkts, in dem wir Menschen begonnen haben, an diesem Konflikt – zwischen unseren Instinkten, unserem biologisch animalischen Teil und dem rationalen Teil im Menschen – Lust zu finden. Schon Horkheimer und Adorno haben wiederholt darauf hingewiesen, dass etwa der Kantischen Aufklärungsphilosophie ein solcher sado-masochistischer Zug eignet. In Aufklärungsphilosophien geht es permanent um Kontrolle; um Kontrolle unserer Tierheit; – des ‚Tiers Mensch‘ im Menschen. Damit wiederholt sich auf der Ebene des Humanen in gewisser Weise noch einmal das, was sich eben schon einmal ereignet hatte: damals, als die Wassertiere ans Land gespült wurden und Bedingungen vorgefunden hatten, die es ihnen verunmöglichten, sich nach außen zu wenden, um sich zu äußern. Jetzt allerdings, weil das ‚Tier
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Arno Böhler und Susanne Granzer Mensch‘ im Menschen von einer Übermacht anderer Menschen – Nietzsche spricht in seinem Text Zur Genealogie der Moral von einer Horde von Bestien – überwältigt und gezwungen wurde, sich ihrer Herrschaftsgewalt zu unterwerfen. Und dieser Unterwerfungsprozess hat sich inzwischen nach innen verlegt, sozusagen einverleibt, und zwar im Zuge der Geschichte der Zivilisierung des Menschen. Dieser Prozess ist für Nietzsche genau jenes Moment des InwendigWerdens, der Einverleibung des schlechten Gewissens im Menschen; als Ursprung seiner Humanität. Eine Geschichte, in der gerade der Stolz des Menschen, seine Vernunft, Ereignis wird, ereignet wird. In dem Moment, in dem wir beginnen, an dieser Unterwerfung der Animalität des Menschen unter die Herrschaft der Vernunft Lust zu empfinden … – Sie müssen sich das so vorstellen: Über Jahrtausende hat diese Unterwerfungsgeschichte dem Menschen, dem Tier im Menschen, nur wehe getan. Er hat darunter einfach nur gelitten: der Versuch, sich permanent zu kontrollieren, sich Formen abzugewinnen, die gesellschaftlich sanktioniert wurden, um der Sittlichkeit seiner Sitte zu entsprechen und gemäß zu werden, wie sich Nietzsche in seiner Genealogie der Moral ausgedrückt hatte – in diesem Moment also, in dem die vernünftig gewordene Menschheit an der rationalen Unterdrückung des animalischen Begehrens selbst Lust zu empfinden beginnt, setzt das ein, was wir die Kultivierung des Menschen nennen. Ereignis jenes sado-masochistischen Wendepunkts, in dem die Disziplinierung des Menschen selbst das wahrhaft Lustvolle, das eigentlich Humane am Menschen wird. Damit steht ein nächster Schritt im Akt dieser Geschichte aus, den es in Zukunft zu vollziehen gilt: Wenn wir uns im Folgenden mit Nietzsche fragen, worauf dieser Prozess zusteuert, wenn wir also den Versuch wagen, ihn in seiner logischen Entwicklung weiter- und zu Ende zu denken, um das Versprechen zur Sprache zu bringen, das in diesem Prozess liegt, der mit einem permanenten Wehe-tun begonnen und schließlich Lust zu bereiten begonnen hatte, dann gewahren wir nach Nietzsche das Versprechen des souveränen Individuums. Das Versprechen eines Individuums, das nun, nach einer langen Geschichte rationaler Disziplinierungsübungen gelernt hat und in der Lage ist, überhaupt etwas versprechen zu können – versprechen zu dürfen – weil es inzwischen jene Intellektualität entwickelt hatte, die es ihm nun ermöglichte, ein Versprechen halten zu können, weil es inzwischen gelernt hatte, strategisch denken zu können. Das heißt, Dinge antizipieren, rational vorwegnehmen zu können. – Und so wird aus Unlust … Lust.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Filmtext Ali Mosbah (Übersetzer von Nietzsches Gesamtwerk ins Arabische) 11 Ich möchte Ihnen im Folgenden etwas anderes erzählen. Eine Geschichte, die sich nicht in Marokko, sondern in Deutschland ereignet hatte. Als ich dabei war, Ecce Homo zu übersetzen, war ich Stipendiat in Schloss Wippersdorf. Auf dem Schloss waren viele Leute, alles Schriftsteller, Künstler, Maler, Theatermacher usw. Am Abend fand eine Vorstellungsrunde statt. Jeder sollte sich kurz vorstellen: woher er komme, was er mache usw. Als ich an der Reihe war und gesagt hatte, dass ich gerade Nietzsche übersetzen würde, da hatte ich viele schiefe Blicke eingefangen. Schließlich wurde ich von Einigen gefragt, unter anderem folgende Frage: „Wie konnten Sie nur auf den Gedanken kommen, Nietzsche ins Arabische zu übersetzen? Haben die Leute dort überhaupt einen Bedarf und ein Interesse an so etwas?“ Die zweite Frage lautete etwa so: „Trauen Sie sich so etwas überhaupt zu übersetzen? Selbst wir Deutschen verstehen diesen Mann und seine Ideen nicht.“ Gut. Was die zweite Frage betrifft, die ist ganz leicht zu beantworten: Nietzsche selber hat vorausgesagt, dass die Deutschen die Letzten sein werden, die ihn verstanden haben werden. Mit dieser Frage und ihrer Beantwortung hatte ich also kein Problem. Was die andere Frage betrifft, da habe ich Folgendes gesagt, „Ja wir drüben“ – denn da kam plötzlich das Wort „drüben“, „wir drüben“ ins Spiel – ja, auch wir langweilen uns manchmal in der Wüste und dann haben auch wir Lust, lustige Sachen zu lesen. – Dann lesen wir eben zum Beispiel auch Nietzsche. Jetzt komme ich aber auf Ihre Frage zurück. Nein, nein. Nietzsche ist in der arabischen Welt wirklich sehr beliebt. Natürlich nicht bei der Masse der Menschen „auf dem Markt“ und „auf der Marktstraße“, aber sehr wohl bei den Intellektuellen. Bei ihnen ist er sehr beliebt und auch sehr gut gelesen. Um meine Antwort kurz zu fassen: Ich glaube nicht, dass ich umgebracht werde, Opfer eines fundamentalistischen Attentats werde, nur weil ich Nietzsche übersetzt habe. Nein. Das glaube ich wirklich nicht.
11 Böhler/Granzer 2007a.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Filmtext Khalid Al- Maaly (Verleger von Nietzsches Gesamtwerk in Arabisch) 12 Also, meiner Erfahrung nach sind die arabischen Leser, die meine Bücher lesen, sehr verstreut. Es sind kleine Gemeinden, welche die Hoffnung fast schon aufgegeben haben, überhaupt ein gutes Buch in die Hand zu bekommen. Wenn jemand wie ich, der angeblich gute Bücher und Übersetzungen macht, im arabischen Raum auftaucht, dann freuen sich diese Menschen ganz einfach. Wenn ich zum Beispiel nach Tunesien, Marokko, Saudi Arabien komme, oder in den Oman, dann begegne ich vielen Menschen, die meine Bücher kaufen wollen. Sie erwarten von mir immer etwas Neues und geben die Nachricht meiner Ankunft sofort weiter. Ein solches Vertriebssystem dauert, alles braucht viel Zeit, aber es birgt auch viele schöne Momente. Ich zehre von diesen Erfahrungen, lebe von Hoffnungen, eigentlich von solchen Begegnungen. Solche Leser, oder Brüder, wie Baudelaire sagte, sind es, die ich mit meiner Arbeit als Verleger eigentlich erreichen möchte.
Filmtext Ali Mosbah Noch eine Sache möchte ich hier an dieser Stelle zur Sprache bringen. – Und zwar, was die Nützlichkeit betrifft, Nietzsche in die arabische Welt zu übersetzen. Ich glaube, ab den 80er Jahren gab es wieder ein Interesse an Nietzsche. Damals haben wir nämlich alle eine Übergangsperiode erlebt. Mit ‚wir‘ meine ich meine Generation, die Generation, die in den 68ern oder kurz danach, gelebt hat. ‚Wir‘ waren damals fast alle in der linken Szene engagiert. Die Linke war damals die Antwort auf unsere Fragen; Marx war die Antwort auf unsere Fragen im 20. Jahrhundert. Jetzt denke ich inzwischen, dass Nietzsche die Antwort auf die Fragen des 21. Jahrhunderts ist. Als wir damals begonnen hatten, am Marxismus und der Idee des Marxismus zu zweifeln, entstand irgendwie wie eine Leere in und um uns. Wir brauchten irgendwas anderes, eine neue Idee, an die wir glauben konnten, die uns überzeugte. Da erwachte in Frankreich, für uns gerade rechtzeitig, ein neues Interesse an Nietzsche, und zwar durch Deleuze, Lyotard und Foucault – Autoren, die in der arabischen Welt durchwegs gut gelesen sind. Durch ihre Lektüre erwachte wieder Interesse an Nietzsche.
12 Böhler/Granzer 2007b.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Filmtext Khalid Al- Maaly Ja. Zum Beispiel haben wir jetzt seine gesammelten Gedichte veröffentlicht. Und sie sind eigentlich hervorragend angekommen. Einfach, um zu zeigen: ein Philosoph dichtet, – und wie! Verstehen Sie: Heute, oder vorgestern, habe ich in einer Zeitschrift gelesen, in einer Gegend im Irak, in der es eine sunnitische Bevölkerungsmehrheit gibt, dass Bäckereien, Friseurläden und Mädchenschulen einfach geschlossen wurden und dass man keine Tomaten und keine Gurken mehr verkaufen dürfe, weil sie Symbole für Sex seien. Und auch Ziegen dürfe man nicht aufziehen, weil ihre Schwänze so hoch seien, dass man sie sehen könne. Daher müsse man sie bedecken… und solchen Quatsch. Solche Artikel sind typisch für die wahhabitische Religion, für Bin Laden und seine Leute …
Text Arno Böhler (Vortrag live) Was bedeuten asketische Ideale? Dieser Titel steht über der dritten Abhandlung von Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral. In diesem Abschnitt behandelt er drei Typen, drei Gestalten von Menschen. Erstens den Typus des Künstlers. Frage: „Was bedeuten asketische Ideale also für Künstler?“ – Antwort Nietzsches: „Nichts.“ Asketische Ideale bedeuten für Künstler darum nichts, weil sie bei ihnen rein zufällig sind. Wenn Künstler asketische Lebensformen wählen – das kann sein, kommt vor, es kann jedoch ebenso gut nicht sein – dann liegt in dieser Wahl keinerlei zwingende Notwendigkeit. Sie kommt vor, muss aber keineswegs sein. „Was bedeuten asketische Ideale nun bei Philosophen?“, die zweite Figur, die Nietzsche in seiner dritten Abhandlung Zur Genealogie der Moral bespricht? Antwort Nietzsches: „Schon mehr.“ Die Wahl asketischer Lebensformen ist bei ihnen nicht mehr vollkommen willkürlich. In ihr liegt sehr wohl eine Tendenz, die der Philosophie inhärent eigentümlich ist. Zwar ist es nicht so, dass der Philosoph, als Typus genommen, per se ein Problem mit der Sinnlichkeit, mit der Materialität seines Da-seins hätte. Vielmehr weisen Philosophen für Nietzsche eine Tendenz auf, asketische Lebensformen zu bejahen, aber nur, weil sie gerade darin das Optimum ihrer eigenen Existenzbedingungen wittern. Sie brauchen Muße, einen still gestellten Körper, einen Körper, der nicht stört, um meditieren, um denken zu können. Oder – wie man heute zeitgemäßer sagen könnte – sie brauchen einen Körper, der rein als sinnliches Medium des Denkens fungiert.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Ein wichtiger Vorwurf Nietzsches an die klassische Philosophie besteht gerade darin, dass die Geschichte der abendländischen Metaphysik immer wieder versucht hatte, den Körper im Akt des Philosophierens zum Verschwinden zu bringen; ihn unsichtbar zu machen, indem sie ihn in die reine Intentionalität aufzuheben trachteten. Eine klassische Geste des Denkens, die wir hier, im Rahmen von Philosophie On Stage, gerade aufzubrechen versuchen. Im traditionellen Sinne der abendländischen Philosophie soll der Körper hingegen gerade so zum Verschwinden gebracht werden, dass er mir denkend rein zu Diensten ist. Der Körper soll sich in seiner Körperlichkeit während des Denkens gerade nicht melden. Er soll das Denken nicht stören, nicht irritieren, soll dem Denken nicht dazwischen funken. – Kurz: Muße, das ist es, was die Philosophen traditionellerweise nötig haben, um sich in ihrem Sinnen nicht mehr mit der Sinnlichkeit, sondern mit dem Sinn ihres Sinnes auseinandersetzen zu können. Der Philosoph braucht also asketische Ideale als Optimum seiner eigenen Existenz- und Vollzugsbedingung. Er braucht sie, um das tun zu können, was er am liebsten tut: denken. Ernst wird es mit der Frage nach dem Sinn asketischer Ideale für Nietzsche jedoch erst dann, wenn die dritte Gestalt ins Spiel kommt, die er in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral bespricht: die Figur des asketischen Priesters. Denn das Verhältnis des Typus’ des asketischen Priesters zu Sinnlichkeit ist ein völlig anderes für ihn als das der beiden oben besprochenen Typen. Der asketische Priester kämpft nämlich einen Todeskampf, wenn es um sein Verhältnis zur Sinnlichkeit geht. Er kämpft ums Überleben, um sein Überleben. Für den asketischen Priester bedeuten asketische Ideale eben nicht „nichts,“ auch kein „Optimum“, sondern alles. Er braucht eine zweite Welt, „a second life,“ er braucht eine Welt hinter der Welt der Sinne, um sich selbst, seine eigene Existenz, rechtfertigen zu können. Um seine – wie Nietzsche zu sagen pflegte – degenerierte, unwohl geratene Physis, die sich von der wirklichen Welt per definitionem bedroht und verfolgt fühlt, überhaupt am Leben, überhaupt überleben zu lassen. Wie schafft, wie macht er das? Antwort Nietzsches: Indem er zwei Strategien verfolgt: Einerseits muss er jene, die wie er an ihrem Dasein primär leiden, zu seiner Hinterwelt überreden. Dazu braucht er Leidende, jene, die ihr eigenes Dasein primär als Strafe, Buße, Leiden empfinden und daher für eine solche Hinterwelt prädestiniert, grundsätzlich offen und empfänglich sind. Viel schwieriger, viel gefährlicher noch wiegt für Nietzsche jedoch jene destruktive Seite der Macht des asketischen Priesters, von der wir auch in unserem Film soeben gehört haben, dass er nämlich per se aus dem Ressentiment heraus agiert. Es geht ihm in seinem Tun gar nicht so sehr nur darum, die Leidenden an sich, an seine
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Lehre zu binden, sondern vielmehr darum, die Glücklichen unglücklich zu machen. Gilles Deleuze konnte daher immer wieder darauf hinweisen, dass der asketische Priester per se reaktive Züge trägt. Er kann nur reagieren, die Setzungen anderer negieren, da er selbst unfähig ist, eine eigene positive Kraft aufzubauen. Das aber heißt nichts anderes, als dass er selbst im Unglück – vom Unglück anderer lebt. Der asketische Priester ist genau der, der aus dem Wehe-tun sein eigenes Glück, seine eigene sado-masochistische Lust aus dem Leben zieht.
Filmtext Einar Schleef 13 Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. Durch eine lange Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher philosophiert und moralisirt wurde, sehr anders ansehn als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer grossen Namen kam für mich an's Licht. – Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? Das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser.
Text Susanne Granzer (live) 14 Amor fati. Liebe zum Schicksal. Fragmente aus Briefen Nietzsches an und über Lou von Salomé, März bis Dezember 1882. Grüßen Sie diese Russin von mir. Ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub darnach aus – Was ich nie geglaubt habe, einen Freund meines letzten Glücks und Leidens zu finden, das erscheint mir jetzt möglich – als die goldene Möglichkeit am Horizont meines künftigen Lebens. – Übrigens, ich bin von einer fatalistischen „Gottergebenheit“ – ich nenne es amor fati –
13 F. Nietzsche: Ecce Homo, in: Nietzsche 1980, VI, 258-259. 14 Montage von Briefstellen aus: Nietzsche 1980, VI, 185-294.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Wie sollte ich mich auch vor dem Schicksal fürchten, namentlich, wenn es mir in der gänzlich unerwarteten Gestalt von Lou entgegentritt. Lou ist ein wahrer Glücksfund. Unsere Intelligenzen und Geschmäcker sind im Tiefsten verwandt. – Ob eine solche philosophische Offenheit, wie sie zwischen uns besteht, schon einmal bestanden hat? Vielleicht haben Sie auch ein Gefühl davon, dass ich, sowohl als „Denker“ wie als „Dichter“ eine gewisse Vorahnung von Lou gehabt haben muss? Oder sollte „der Zufall?“ Im Herbst siedeln wir zusammen nach Wien über. Wir werden in Einem Hause wohnen und zusammen arbeiten. Ich fange neue Studentenjahre an der Universität Wien an, – und dahinter ein eigenes, geheimes Ziel – – – Nun meine liebe Freundin, ist für den Beginn unserer Wiener Existenz der September ins Auge zu fassen? Mein Wunsch in Betreff Wiens ist jetzt, wie ein Paquetstück in ein Zimmerchen des Hauses abgesetzt zu werden, in welchem Sie wohnen wollen. Meine liebe Lou! Sie sandten mir Ihre Zusage, das schönste Geschenk, das mir Jemand hätte machen können. Nun ist der Himmel über mir hell! Es wird Alles gut, wie Sie es gesagt haben. Zuletzt, meine liebe Lou, die alte, tiefe, herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind! Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipieren, und schließlich muß man sich noch von dieser Emancipation emancipieren! Von Herzen Ihrem Schicksale gewogen – denn ich liebe auch in Ihnen meine Hoffnungen. Ganz Ihr F.N. Lou bleibt noch 14 Tage bei mir. Lou bleibt noch eine Woche bei mir.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Sie ist das intelligenteste aller Weiber – – – Aber sie und ich, wir sind uns allzu sehr ähnlich, „blutsverwandt.“ Alle fünf Tage haben wir eine kleine Tragödienscene. – Zu Bett. Bin jetzt krank, schwerer Anfall. Durch das Ereignis, einen „neuen Menschen“ hinzu erworben zu haben, bin ich förmlich über den Haufen geworfen. Ich wollte alleine leben. – Aber eines Tages flog ein Vogel an mir vorüber; und ich glaubte einen Adler gesehen zu haben. Und nun wollte ich den Adler um mich haben. Ich nenne Lou meinen leibhaftigen Schirroco. Sie vereinigt in sich alle Eigenschaften der Menschen, die ich verabscheue – eklig und grässlich – Sie bekommen mir nicht – und nun habe ich mir seit Tautenburg die Tortur auferlegt sie zu lieben! Zu Bett. Heftigster Anfall. Ich verachte das Leben. Was machen Sie, meine lieb Lou, ich bat um heiteren Himmel zwischen uns. Soll ich sagen, es ist vorbei? Wollen wir uns zusammen erzürnen? Haben wir Lust einen großen Lärm zu machen? Sie sind ja ein kleiner Galgenvogel! Kalt. Krank. Ich leide. Wie es in mir mitunter schreit nach einem Menschen, sei es selbst ein Scheusal, wie Sie Lou. Ach, diese verfluchte „Einsamkeit“! Wenn Sie allem Erbärmlichen in Ihrer Natur die Zügel schießen lassen, meine liebe Lou, wer kann dann noch mit Ihnen umgehen! Sie haben Schaden gethan, Sie haben Wehe gethan – Eigentlich hat sich niemand in meinem Leben so hässlich gegen mich benommen wie Lou. 5 Jahre später, 1887 Ich möchte, dass die erbärmliche, schmerzüberreiche Erinnerung dieser Zeit mir von der Seele genommen würde – schmerzhaft nicht, weil sie mich beleidigt, sondern weil sie Lou in mir beleidigt hat.
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Arno Böhler und Susanne Granzer Mein ganzer Zarathustra ist aus dieser Entbehrung gewachsen – wie unverständlich muss er sein.
Filmtext Einar Schleef 15 Man darf keine Nerven haben … Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand, – ich habe immer nur an der „Vielsamkeit“ gelitten … In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: Hat man mich je darüber betrübt gesehn? – Ich habe heute noch die gleiche Leutseligkeit gegen Jedermann, ich bin selbst voller Auszeichnung für die Niedrigsten: in dem Allem ist nicht ein Gran von Hochmuth, von geheimer Verachtung. Wen ich verachte, der erräth, dass er von mir verachtet wird: ich empöre durch mein blosses Dasein Alles, was schlechtes Blut im Leibe hat … Meine Formel für die Größe am Menschen ist [amor fati]: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht nur verhehlen, nicht nur ertragen –, [aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen], sondern es lieben …
Text Susanne Granzer (live) 16 Dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht nur verhehlen, nicht nur ertragen –, sondern es lieben … Amor fati. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, 1888. (Cut)
1998, Wien Replay . Wiederholung des ersten Anfangs. Versöhnung mit der noch ungewordenen Möglichkeit. Zurück in die Erinnerung. An den ersten Schlag, den ersten Hit, den ersten Anfang. Memorandum des Gewesenen. Was habe ich versprochen, damals, und später viele, viele Male wiederholt, bestätigt im Namen der Liebe? Was wird im Andenken an dich erinnert? Atemzüge einer hohen Zeit, die gewesen ist, und, Supplement der Erinnerung, schöpferisches Geschenk der Muse Mnemosyne, dem
15 F. Nietzsche: Ecce Homo, Nietzsche 1980, VI, 297. 16 F. Nietzsche: Ecce Homo, Nietzsche 1980, VI, 297.
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Übersetzungen. Nietzsche’s Greatest Hits Gedächtnis, Versprechen einer HochZeit, die einmal geworden sein wird. Musische Wende, nicht auf dem Papier, sondern physisch. 2006, HochZeit in Sils Maria. 2007, Replay in Wien.
Videoeinspielung: Text, Schlusschor Max Reinhardt Seminar 17 Der Wahrheit Freier – du? so höhnten sie nein! nur ein Dichter! […] Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, aus Narrenlarven bunt herausredend, herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken, auf Lügen-Regenbogen zwischen falschen Himmeln herumschweifend, herumschleichend – nur Narr! nur Dichter! …
Literatur- und Quellenv erzeichnis Böhler/Granzer 2007a, A./S.: Nietzsche in Arabic: Interview mit dem Übersetzer Ali Mosbah, Nietzsche Circle, http://www.nietzsche circle.com/interview_Mosbahg.html, 2007 (17.5.2009). Böhler/Granzer 2007b, A./S.: Nietzsche in Arabic: Interview mit dem Verleger Khalid Al-Maaly, http://www.nietzschecircle.com/interview_Almaalyg.html, 2007 (17.5.2009). GRENZ-film, granzer & böhler 2007 (Hrsg.): Philosophy On Stage (DVD), Wien 2007. Nietzsche 1973, F.: Werke in zwei Bänden, hrsg. von I. Frenzel nach der Hanser-Ausgabe von Karl Schlechta, Darmstadt 1973. Nietzsche 1980, F.: Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin et al. 1980.
17 F. Nietzsche: Dionysos-Dithyramben, in: Nietzsche 1980, VI, 377-378 und 380.
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TAFELN
UND
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Theater des Fragments
Tafel 1
Seite 117, Tafel 1, Abb. 1: Wotan-Motiv in Richard Wagners Walküre (I. 2) 6DW]0DWWKLDV8QWHUNRÁHU*UD]
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Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 2
Seite 118, Tafel 2, Abb. 2: W. A. Mozart, Streichquartett KV 465, Adagio – Übergang zum Allegro 6DW]0DWWKLDV8QWHUNRÁHU*UD]
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Theater des Fragments
Tafel 3
Seite 120, Tafel 3, Abb. 3: Frédéric Chopin, Prélude No. 2, Op. 28 6DW]0DWWKLDV8QWHUNRÁHU*UD]
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Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 4
Seite 131, Tafel 4, Abb. 1a: Fatzer-Fragment theatercombinat
Seite 131, Tafel 4, Abb. 1b: Fatzer-Fragment theatercombinat
295
Theater des Fragments
Tafel 5
Seite 135, Tafel 5, Abb. 2 Die Perser theatercombinat
296
Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 6
Seite 136, Tafel 6, Abb. 3: Partiturauszug: Aischylos, Die Perser; Übertragung Peter Witzmann, Bearbeitung Heiner Müller, Stand 25.02.08 Epeisodion der Atossa theatercombinat
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Theater des Fragments
Tafel 7
Seite 139, Tafel 7, Abb. 4: Coriolan theatercombinat
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Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 8
Seite 271, Tafel 8, Abb. 1: Philosophy On Stage #2, 2OLYLR6DULNDVKWWSZZZÁLFNUFRPSKRWRVROLYLRVDULNDV sets/72157600396806476/
299
Theater des Fragments
Tafel 9
Seite 271, Tafel 9, Abb. 2: Philosophy On Stage #2, 2OLYLR6DULNDVKWWSZZZÁLFNUFRPSKRWRVROLYLRVDULNDV sets/72157600396806476/
300
Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 10
Seite 271, Tafel 10, Abb. 3: Philosophy On Stage #2, 2OLYLR6DULNDVKWWSZZZÁLFNUFRPSKRWRVROLYLRVDULNDV sets/72157600396806476/
Seite 271, Tafel 10, Abb. 4: Philosophy On Stage #2, 2OLYLR6DULNDVKWWSZZZÁLFNUFRPSKRWRVROLYLRVDULNDV sets/72157600396806476/ 301
Tafeln und Abbildungsverzeichnis
Tafel 11
Seite 271, Tafel 11, Abb. 5: Philosophy On Stage #2, 2OLYLR6DULNDVKWWSZZZÁLFNUFRPSKRWRVROLYLRVDULNDV sets/72157600396806476/
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A UTORINNEN UND A UTOREN Bierl, Anton, (1960), ist seit 2002 Ordinarius für griechische Philologie an der Universität Basel sowie Mitherausgeber und CoDirektor des Basler Homer-Kommentars. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze, insbesondere zum Drama und seiner Rezeption sowie zur Interdependenz von Literatur und Religion, unter kulturwissenschaftlichen und literaturtheoretischen Fragestellungen veröffentlicht. Er dient derzeit als Senior Fellow am Center for Hellenic Studies in Washington DC. Zudem ist er Begründer und Herausgeber der neuen Reihe MythosEikonPoiesis. Blättler, Andy, (1970), ist Doktorand des Pro*Doc-Graduiertenprogramms Intermediale Ästhetik. Spiel-Ritual-Performanz der Universitäten Basel und Bern in der Medienwissenschaft. Der Arbeitstitel seiner Dissertation lautet „Risse im Zeitgefüge: Performative Inszenierungen in den Installationen von Dieter Roth, Jeff Wall und Heath Bunting“. Böhler, Arno, (1963), ist Philosoph und Filmemacher (GRENZ-film), Dozent für Philosophie an der Universität Wien sowie Projektleiter des FWF Forschungsprojekts Medialität und Zeitlichkeit performativer Sprechakte. Text – Körper – Ereignis. Er gehört dem Board des Nietzsche Circle New York an. Gemeinsam mit Susanne Granzer gründete er 1997 die wiener kulturwerkstätte GRENZ-film. Arno Böhler ist zusammen mit Susanne Granzer Herausgeber zahlreicher DVD-Bücher in der Reihe Philosophie im Bild sowie der Doppel-DVD Philosophy On Stage, die im Zusammenhang mit dem FWF-Forschungsprojekt Performanz entstanden ist. Bosse, Claudia, (1969), ist Theaterschaffende und Gründungsmitglied der Gruppe theatercombinat, die Ende 1996 in Berlin gegründet wurde. 1999 hat sich die Gruppe in Wien neu formiert. Seit zwei Jahren arbeitet sie an dem Projekt tragödienproduzenten, einer theatralen Serie, in der sie historische „theatermodelle + textarchitekturen als material zur untersuchung der gegenwart“ nimmt. Die hierfür ausgewählten Texte sind Aischylos’ Perser, Shakespeares und Racines Phädra.
303
Theater des Fragments Finter, Helga, ist seit 1991 Professorin für Theorie, Ästhetik und Geschichte des Theaters am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig Universität Giessen. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Ästhetik der Stimme, die Theatralität postdramatischer Texte sowie das Verhältnis von Theater und Medien. Sie hat Bücher zum italienischen Futurismus, zu den Theaterutopien Mallarmés, Jarrys, Roussels und Artauds veröffentlicht und Sammelbände zum Werk Batailles und zum Verhältnis des Theaters zu den anderen Künsten herausgegeben. Fusillo, Massimo, (1959), ist Professor für Literaturkritik sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Università dell’Aquila, Italien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Antike und deren Rezeption in der zeitgenössischen Kultur, im Film, im Theater und in der Literatur. Massimo Fusillo ist Vizepräsident der italienischen Associazione per gli studi di teoria e storia comparata della letteratura. Er ist Beiratsmitglied der Fondo Pier Paolo Pasolini, des Europäischen Verbands für Vergleichende Literaturwissenschaft und gehört dem Herausgebergremium der Zeitschriften KLEOS und Contemporanea an. Granzer, Susanne, hat seit 1988 einen Lehrstuhl für Rollengestaltung am Max Reinhardt Seminar der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien inne. Sie hat selbst am Max Reinhard Seminar eine Ausbildung zur Schauspielerin absolviert und war anschließend 15 Jahre lang an verschiedenen Staatstheatern in Wien, Basel, Düsseldorf, Frankfurt a. M. und Berlin engagiert. Während des Engagements in Frankfurt a. M. nahm sie das Studium der Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität auf und hat 1995 an der Universität Wien promoviert. Hess-Lüttich, Ernest W. B., (1949), ist seit 1992 Ordinarius für angewandte Linguistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bern. Seit 2007 ist er Extraordinarius an der University of Stellenbosch, Südafrika. Er war Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in Europa und in Asien, Nord- und Südamerika sowie in Nord- und Südafrika. Er war Vizepräsident der International Association of Dialogue Analysis, der Association for Intercultural German Studies sowie der Deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik und ist zurzeit Präsident der Association for Intercultural German Studies. Sein Hauptforschungsinteresse liegt im Bereich der Diskursanalyse. Ernest Hess-Lüttich ist Autor und Herausgeber von 40 Büchern und 260 Artikeln.
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Autorinnen und Autoren Lehmann, Hans-Thies, (1944), ist Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie war er wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, wo er auch promovierte. Es folgten Lehraufträge für Ästhetik an der Hochschule der Künste Berlin und Gastprofessuren für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Amsterdam. Als Hochschulassistent am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen baute er mit Prof. Andrzej Wirth diesen praxisbezogenen Studiengang aus. Nach der Habilitation 1988 war er als Universitätsprofessor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. führend am Aufbau des Hauptfach-Studiengangs Theater-, Film- und Medienwissenschaft beteiligt. 2002 gründete er ebendort den Aufbaustudiengang Dramaturgie. Meneghetti, Christoph, (1980), ist Doktorand des Pro*Doc-Graduiertenprogramms Intermediale Ästhetik. Spiel-Ritual-Performanz der Universitäten Basel und Bern in der Theaterwissenschaft. Der Arbeitstitel seiner Dissertation lautet „Das Scheitern der Medien im Theater“ und beschäftigt sich mit einer negativen Medientheorie des Theaters. Müller-Schöll, Nikolaus, (1964), ist Professor für neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Theaterforschung an der Universität Hamburg. Er war wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhruniversität Bochum, wo er 2007 habilitierte. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Hamburg, Avignon, Frankfurt a. M. und an der Johns Hopkins University in Baltimore. Zwischen 1996 und 2000 war er Lektor an der Ecole Normale Supérieure in Paris. 2000-2002 war er wissenschaftlicher Koordinator des Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung in Frankfurt a. M., bevor er 2002-2003 Stipendiat der Maison des Sciences de l’Homme, Paris, wurde. Nagy, Gregory, wurde 1984 zum Francis Jones Professor für klassische griechische Literatur und zum Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University, USA, ernannt. Zudem ist er seit 2002 Direktor des Center for Hellenic Studies in Washington DC. Er gehört zu den weltweit führenden Autoritäten auf dem Gebiet der Homerforschung. Gregory Nagy erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter ein Guggenheim Fellowship sowie den Goodwin Award of Merit of the American Philological Association für sein Buch The Best of the Achaeans aus dem Jahr 1979.
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Autorinnen und Autoren Primavesi, Patrick, (1965), ist Professor für Gegenwartstheater und Theatergeschichte an der Universität Leipzig. Er hat sein Studium der Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin, Gießen und Frankfurt a. M. absolviert. Seine Promotion erfolgte 1996 mit einer theater- und literaturwissenschaftlichen Arbeit über Walter Benjamin. Patrick Primavesi war Stipendiat am Graduiertenkolleg Theater als Paradigma der Moderne der Universität Mainz und Postdoktorand mit Koordinatorentätigkeit am Frankfurter Graduiertenkolleg Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung. Seit 2002 ist er, zusammen mit Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann, an Aufbau und Leitung des Masterstudiengangs Dramaturgie im Rahmen der Hessischen Theaterakademie beteiligt. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf dem Werk von Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller sowie beim Theater der Gegenwart (Theorie und Inszenierungsanalyse) und dem Drama und Theater um 1800. Roselt, Jens, (1968), ist Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Er studierte von 1989 bis 1994 Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, wo er 1998 promoviert hat. Zwischen 1995 und 1998 war er Stipendiat am Graduiertenkolleg Theater als Paradigma der Moderne der Universität Mainz. Zwischen 1999 und 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 447 Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin, wo er sich habilitierte. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist Jens Roselt auch als Autor tätig. 1996 erhielt er den Gerhart-Hauptmann-Förderpreis der Freien Volksbühne Berlin. 2000/2001 war Hausautor am Staatstheater Stuttgart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Schauspieltheorie, Theorie und Methode der Aufführungsanalyse sowie Performativität im Theater. Schuster, Clemens Maria, (1977), ist Doktorand des Pro*Doc-Graduiertenprogramms Intermediale Ästhetik. Spiel-Ritual-Performanz der Universitäten Basel und Bern in der Klassischen Philologie/Gräzistik. Der Arbeitstitel seiner Dissertation lautet „Eine interdiskursive und intermediale Ästhetik der Alten Komödie des Aristophanes“. Siegmund, Gerald, (1963), ist Professor für Tanzwissenschaft mit dem Schwerpunkt Choreographie und Performance an der JustusLiebig-Universität Gießen. Er studierte Theaterwissenschaft, Anglistik und Romanistik und promovierte 1994 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a. M. Zwischen 1996 und 1998 war er Post-Doktorand am Graduiertenkolleg Pragmatisierung und Ent-
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Theater des Fragments Pragmatisierung der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, danach bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, wo er sich auch habilitierte. 2005-2008 war er Assistenzprofessor am Institut für Theaterwissenschaft in Bern. Gerald Siegmund arbeitete lange für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften als Journalist und Kritiker, vor allem im Bereich Tanz. Seine Schwerpunkte sind das Gegenwartstheater und der zeitgenössische Tanz, Theatertheorien, Performance, Intermedialität und die vielfältigen Grenzbereiche des Theaters zu den anderen Künsten.
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MedienAnalysen Regine Buschauer Mobile Räume Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation Dezember 2009, ca. 334 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1246-2
André Eiermann Postspektakuläres Theater Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste Oktober 2009, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1219-6
Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik Dezember 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1166-3
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2009-09-30 14-47-17 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02f4222215605662|(S.
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MedienAnalysen Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3
Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft August 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5
Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation September 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)
Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
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