Freispieler: Theater im Gefängnis [1. Aufl.] 9783839423493

Theaterprojekte mit Inhaftierten sind wie eine Brücke in die Gesellschaft - sie fördern soziale und künstlerische Kompet

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German Pages 106 [53] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Raschke-Stuwe, IngridPartizipation: Spielräume schaffen
Hoffmann, ElisabethDas projekt »gefängnis – kunst – gesellschaft«
Die haben mein Feuer wieder entzündet. Ein Gespräch mit der Schauspielerin Sabine Winterfeldt über Freiräume, Chancen, Herausforderungen und das Heilende in ihrer Arbeit
Da ist etwas, das bleibt. Das geht nicht mehr verloren. Ein Gespräch hinter den Mauern der JVAF Berlin-Reinickendorf mit Astrid Hannemann (Sozialdienst) und Melanie Friebe (Mitarbeiterin der Vollzugsleitung) über Chancen und Risiken, Grenzgänge und Freigänger
Theater im Gefängnis – Herausforderung und Chance. Ein Gespräch mit Elisabeth Hoffmann, Projektleiterin »minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V .«
Geschenkte Schuhe und Würde, die man nicht sieht. Ein Probenbericht.
Stimmen der Teilnehmerinnen
Ausverkauftes Haus und tosender Beifall im Berliner Kino BABYLON. Eine Projektpräsentation
Keim, StefanSechs Königinnen trotzen dem Weltuntergang. Der Film »Dornenkronen« stellt die Frage nach Gerechtigkeit und Verantwortung
Von temporäre n Freiräumen und dem menschlichen Kontakt zwischen den Gitterstäben. Ein Gespräch über Gefängnis theater zwischen den Kontinenten von Mirella Galbiatti und Till Baumann
Sandberger, SabineSo ein Theater – und das im Häfn! Ein (österreichisches ) Plädoyer für das Theater im Gefängnis
Biografien der Akteurinnen
Impressum
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Freispieler: Theater im Gefängnis [1. Aufl.]
 9783839423493

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Theater im Gefängnis

FREISPIELER

FREISPIELER T  heater im Gefängnis Projektdokumentation »Gefängnis  – Kunst –  Gesellschaft«

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Partizipation: Spielräume schaffen

Theater im Gefängnis – Herausforderung und Chance

Von temporären Freiräumen und dem menschlichen Kontakt zwischen den Gitterstäben

Ingrid Raschke-Stuwe, Vorstand der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft

Ein Gespräch mit Elisabeth Hoffmann, Projektleiterin »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«

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Das Projekt »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft« Elisabeth Hoffmann, Projektleiterin »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«

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Geschenkte Schuhe und Würde, die man nicht sieht Ein Probenbericht.

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Die haben mein Feuer wieder entzündet

Stimmen der TeilnehmerInnen

Ein Gespräch mit der Schauspielerin Sabine Winterfeldt über Freiräume, Chancen, Herausforderungen und das Heilende in ihrer Arbeit 14

Da ist etwas, das bleibt. Das geht nicht mehr verloren. Ein Gespräch hinter den Mauern der JVAF Berlin-Reinickendorf mit Astrid Hannemann (Sozialdienst) und Melanie Friebe (Mitarbeiterin der Vollzugsleitung) über Chancen und Risiken, Grenzgänge und Freigänger

Ein Gespräch über Gefängnistheater zwischen den Kontinenten von Mirella Galbiatti und Till Baumann 82

So ein Theater – und das im Häfn! Ein (österreichisches) Plädoyer für das Theater im Gefängnis Sabine Sandberger 89

Biografien der AkteurInnen

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Ausverkauftes Haus und tosender Beifall im Berliner Kino BABYLON Eine Projektpräsentation. 62

Sechs Königinnen trotzen dem Weltuntergang Der Film »Dornenkronen« stellt die Frage nach Gerechtigkeit und Verantwortung Stefan Keim

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Impressum DVD mit dem Film »Dornenkronen« und der Projektpräsentation im Berliner Kino BABYLON

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PARTIZIPATION: SPIELRÄUME SCHAFFEN Ingrid Raschke-Stuwe, Vorstand der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft

Nicht nur in der Politik, auch in der zeitgenössischen Kunst aller Sparten ist heute verstärkt von Partizipation die Rede. Gemeint sind damit prozessorientierte, meist ortsbezogene und an bestimmte Zielgruppen gerichtete Projekte, die mit künstlerischen Mitteln eine soziale und kulturelle Teilhabe ermöglichen wollen. So arbeiten KünstlerInnen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, um einen Beitrag zu leisten für mehr Toleranz, Demokratie und Chancengleichheit. Dies geschieht zum Beispiel mit Blick auf die drängenden Themen der Zeit, auf Armut, Migration und Stadtentwicklung. Aber welche Möglichkeiten entstehen durch künstlerische Partizipation? Oder anders gefragt: Wie kann die Kunst in gesellschaftliche Prozesse eingreifen? Wie kann sie zur Überwindung von Ausgrenzungen und sozialen Missständen beitragen, um dadurch die Lebensverhältnisse der Menschen nachhaltig zu verbessern? Und welcher Maßnahmen bedarf es, um solche Projekte zu fördern und in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken? Diese Fragestellungen waren ausschlaggebend für die Entscheidung der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft, im Jahr 2011 erstmals eine Auslobung mit dem Titel »faktor kunst« zu starten. Gemäß dem zentralen Anliegen des Stifters Carl ­Richard Montag – Handeln und Gestalten in sozialer Verantwortung – wurden innovative Ideen und Konzepte für partizipatorische Kunstprojekte gesucht. Zur Teilnahme eingeladen waren KünstlerInnen, Künstlergruppen und künstlerische ­Initiativen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren Vorhaben geeignet sind, gerade Menschen an den wachsenden Rändern der Gesellschaft neue Perspektiven einer aktiven, selbstbestimmten Beteiligung zu eröffnen.

Die Resonanz auf die Auslobung übertraf alle Erwartungen: Mehr als 800 Einreichungen gingen ein. Sie kamen aus den Bereichen bildende Kunst, Musik, Theater und Tanz inklusive ihrer vielfältigen Mischformen – folglich keine leichte Aufgabe für die Jury, die im November 2011 die Preisträger bekannt gab: Sechs Projekte bekamen eine Auszeichnung, dotiert mit jeweils 10.000 €. Eines von ihnen – ein Projekt mit besonderem Modellcharakter – erhielt zusätzlich eine fördernde Begleitung durch die Stiftung im Jahr 2012. Es war der Berliner Verein »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«, der als Träger der Initiative »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft« Theaterprojekte mit InsassInnen verschiedener Berliner Haftanstalten realisiert. Von der Stiftung inhaltlich begleitet und gefördert wurde das Projekt »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft plus«, mit dem eine zusätzliche Werkstattbühne für inhaftierte Frauen eingerichtet werden konnte. Gearbeitet wurde zum Thema »Würde« und so entstand der Film »Dornenkronen«, der im September 2012 im Berliner Kino BABYLON seine gefeierte Premiere hatte. Gerade diese öffentlichen Projektpräsentationen sind wichtig. Sie befördern das Anliegen von Minor e. V., den Umgang miteinander selbstverständlicher zu machen, festgefügte, gesellschaftliche Bilder in Frage zu stellen und Menschen diesseits und jenseits der Haftanstalten gemeinsam ins Gespräch zu bringen. Davon berichtet die vorliegende Publikation, die sich

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PART IZ I PAT ION: SPIELRÄUME SCHAFFEN

als Teil unserer Förderung versteht. Sie dokumentiert damit nicht nur die vielfältigen Aktivitäten von Minor e. V., sondern will auch dazu beitragen, das Thema »Gefängnistheater« vorzustellen und den Stimmen der unterschiedlichen AkteurInnen – in Berlin und anderswo – ein öffentliches Forum zu geben. In diesem Sinne sei allen, die an unserem Buchprojekt mitgewirkt haben, herzlich für ihre Beiträge gedankt. Die Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft hat sich in den vergangenen Monaten im Rahmen ihrer fördernden Begleitung bei zahlreichen Besuchen und Gesprächen in Berlin ein Bild von der vielschichtigen, engagierten Arbeit machen können, die Minor e. V. gemeinsam mit einem Team professioneller KünstlerInnen innerhalb und außerhalb der verschiedenen Berliner Haftanstalten leistet. Dabei haben das hohe künstlerische Niveau der Projekte, die Spielfreude und das Talent der Mitwirkenden einen ebenso bleibenden Eindruck hinterlassen wie der gesellschaftspolitische Anspruch, Theater und Film als Bühne zur Selbstreflexion und zur Beziehungsarbeit zu nutzen. Denn auf diese Weise werden den Beteiligten – nicht zuletzt – neue Perspektiven zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft eröffnet.

Das Theater reagiert heute, in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, auf Konfliktfelder verstärkt mit Mitteln der sozialen Intervention, indem es nicht-professionelle DarstellerInnen einbezieht. Auch vor diesem Hintergrund zeigen die Gefängnisprojekte von Minor e. V. ihre besondere Qualität. Denn hier, an diesem wenig inspirierenden, von festen Regeln und Ordnungen bestimmten Ort, sind die Werkstätten, Bühnen- und Filmproduktionen nicht im herkömmlichen Sinne auf das künstlerische Ergebnis ausgerichtet, sondern entwickeln sich prozess­­orientiert, aus den individuellen Fähigkeiten, Geschichten und Erlebnissen der Mitwirkenden. Entscheidend sind somit Kommunikation und Dynamik in der gemeinsamen Arbeit, die von den professionellen KünstlerInnen mit großer Leidenschaft, aber auch mit sehr viel Empathie und Vertrauen begleitet wird. Gerade darin sieht die Stiftung ihr eigenes Verständnis von echter Partizipation auf modellhafte Weise bestätigt: Statt die zur Teilnahme eingeladenen Menschen einem vorgefertigten künstlerischen Konzept zu unterwerfen, geht es idealerweise um kollektive Beteiligungsprozesse, die sehr konkret von den kreativen Potenzialen, den Ressourcen und Anliegen der ­Mit­wirkenden ausgehen und mit den Mitteln der Kunst neue Perspektiven und Handlungsräume schaffen. Genau in diesem ­Sinne ist »Freispieler«, der Titel der vorliegenden Dokumentation, durchaus programmatisch zu verstehen – als eine Brücke (zurück) in die Gesellschaft.

Begründung der Jury Das spartenübergreifende Projekt mit inhaftierten Jugendlichen und erwachsenen Frauen in Justizvollzugsanstalten in Berlin überzeugt durch seine innovative Vorgehensweise und ist konsequent durchdacht. Insbesondere der Ansatz, mit den Ideen, Ressourcen und Fähigkeiten der Inhaftierten zu arbeiten, ist vorbildlich. Die Themen der gemeinsam erarbeiteten Theaterstücke werden konsequent aus deren Bedürfnissen und deren Lebenswelt entwickelt. Dieser partizipatorische Ansatz ist ganz besonders geeignet, das Selbstwertgefühl und die sozialen Kompetenzen der Inhaftierten zu stärken und erhöht deren Resozialisierungschancen. Die Arbeit des interdisziplinären Teams, bestehend aus Film- und Theaterleuten, MusikerInnen, PädagogInnen und PsychologInnen ist alltagsnah, künstlerisch ambitioniert und sozial engagiert. Insbesondere die Idee, die Welt innerhalb und außerhalb der Haftanstalt durch den Einsatz Neuer Medien miteinander zu vernetzen, war mitentscheidend für die Nominierung. Besonders positiv wird auch die geplante Erweiterung um eine »Draußenwerkstatt« gewertet, mit der Menschen im offenen Vollzug und Haftentlassene einbezogen werden sollen. Damit besteht eine gute Chance, die Nachhaltigkeit des Projekts zu erhöhen und die getrennten Welten zwischen Gefängnis und offener Gesellschaft miteinander zu verbinden.

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DAS PROJEKT »GEFÄNGNIS –  KUNST – GESELLSCHAFT« Elisabeth Hoffmann Projektleiterin »minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«

»Gefängnis – Kunst – Gesellschaft« – so nennt sich das Projekt, um das sich diese Dokumentation dreht. Als Koordinatorin des Projekts möchte ich hier vorstellen, wie wir das Projekt gestalten und warum uns diese Arbeit wichtig ist. »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft« wird von dem Berliner Verein »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.« getragen. Die Arbeit mit Inhaftierten stellt einen wichtigen Bereich unserer Arbeit dar. Darüber hinaus führen wir Bildungsund Forschungsprojekte für verschiedene »benachteiligte« Zielgruppen aus. Wir fördern durch unsere Modellprojekte in Betrieben und Bildungseinrichtungen oder durch die Verknüpfung von theater- und musikpädagogischen Ansätzen sowie der politischen und interkulturellen Bildung soziale und berufliche Kompetenzen unserer Teilnehmenden. Die Arbeit im Gefängnis wird möglich, weil wir mit einem interdisziplinären Team von Berliner KünstlerInnen kooperieren, die über langjährige Erfahrungen im Umgang mit Inhaftierten verfügen. Seit Beginn des Projekts arbeiten wir in der Justizvollzugsanstalt für Frauen an den Standorten Pankow und Lichtenberg sowie in der Jugendstrafanstalt Berlin. Wir legen dabei großen Wert auf eine enge Kooperation mit den Haftanstalten, um die reibungslose Einbindung in die Behandlungs- und Freizeitarbeit zu gewährleisten. Durch einen regelmäßig stattfindenden Steuerkreis wird gemeinsam über alle wichtigen Belange des Projekts entschieden.

Neben wöchentlichen Trainings im geschlossenen Strafvollzug bieten wir auch regelmäßige Theater- und Musiktrainings für Teilnehmende aus den offenen Vollzügen und für Haftentlassene an. So ermöglichen wir, dass die Teilnehmenden während ihres gesamten Prozesses der Wiedereingliederung in die Gesellschaft vom Projekt begleitet werden können. In vielen Jahren haben wir gelernt, dass wir mit unserer Theater- und Musikarbeit die Teilnehmenden aufmerksam für sich und andere machen können, dass sie sich öffnen und verändern können, dass sie über ihren Lebensweg reflektieren. Diese sensible Chance, sich selbst zu verändern, bedarf der kontinuierlichen Begleitung über eine möglichst lange Zeit. Deshalb begleiten wir die Inhaftierten auf ihrem Weg von »drinnen nach draußen«. Unsere Arbeit zeichnet sich besonders dadurch aus, dass wir nicht mit vorgefertigten Stücken in die Arbeit mit den Teilnehmenden gehen, sondern auf deren Fähigkeiten, Ressourcen und Ideen setzen. Dabei sind Pädagogik und Partizipation ebenso wichtig wie der künstlerische Anspruch. Wir arbeiten nach einem einheitlichen Rahmenkonzept, dessen Ziel es ist, informelles Lernen zu ermöglichen sowie persönliche und soziale Kompetenzen zu stärken. Die Erfahrungen unserer bisherigen theater- und musikpädagogischen Arbeit belegen, dass die beteiligten Inhaftierten durch die regelmäßige Trainingsarbeit ein hohes Maß an Teamfähigkeit, sozialer Verantwortung, Selbstreflexion, Kritikfähigkeit, Kreativität und Motivation entwickeln. Die Trainings, die von einem gemischtgeschlechtlichen

Team geleitet werden, haben dabei einen zuverlässigen, strukturierten Ablauf, um Orientierung geben zu können. Dies ist auch Grundlage für eine Beziehungsarbeit, die auf der Balance zwischen Nähe und Distanz basiert, und die essentiell wichtig in der Arbeit mit Inhaftierten ist. Die Trainingswerkstätten finden immer über einen Zeitraum von neun Monaten statt. Dabei treffen sich die Gruppen wöchentlich für drei Stunden. Am Ende des Projektzyklus’ präsentieren wir auf unterschiedliche Art und Weise den Prozess der vergangenen Zeit. Wir haben bisher verschiedene Formate ausprobiert, die von der Diskussion via Skype mit Inhaftierten und Fachpublikum über eine öffentliche Film- und Theaterpräsentation im Berliner Kino BABYLON bis zu einer Werkschau für geladenes Publikum in der Jugendstrafanstalt und Aufführungen nur für andere Inhaftierte reichen. Wir wollen dadurch Perspektivwechsel anregen – und zwar sowohl einen Perspektivwechsel der Inhaftierten in ihrer Sichtweise auf die Gesellschaft als auch einen Perspektivwechsel der Gesellschaft in ihrer Wahrnehmung von inhaftierten Frauen und Männern. Gemeinsam mit allen beteiligten Partnern (Minor e. V., Justizvollzugsanstalten, Künstlerteam) legen wir vor Beginn des jeweiligen Werkstattzyklus’ ein Thema fest, an dem gearbeitet wird. Wir knüpfen dabei an die Lebenswelten der Teilnehmenden an, um Reflexionsprozesse und eigene Kreativität anzuregen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen bisher die Themen »Vorbilder« und »Würde«. Ein weiterer Projektzyklus thematisiert den Umgang mit »Entscheidungen« und welche Rolle sie für das Leben vor, während und nach der Inhaftierung spielen. Die TrainerInnen suchen also zu Beginn eines Projektzyklus’ das inhaltliche Gespräch mit den Inhaftierten, um Vertrauen für den weiteren Prozess aufzubauen. So entstehen erste Texte, die durch dramaturgische und musikalische Improvisationen in Szenen oder Songs umgesetzt werden. Nach und nach entwickeln sich aus den eigenen Ideen und persönlichen Ressourcen der inhaftierten Teilnehmenden Szenen, Theaterstücke, Gedichte und kleine Musikbands.

Auch wenn es – außer in der Werkstatt für Inhaftierte aus den offenen Vollzügen – für die Teilnehmenden keine Möglichkeit gibt, sich zu begegnen, so versuchen wir dennoch, die einzelnen Werkstätten miteinander zu verbinden. Es werden beispielsweise Briefe geschrieben, weitergegeben und beantwortet oder es wird ein gemeinsames Bühnenbild entwickelt. Ein besonderes Beispiel dieser Kooperation ist die Entstehung des Films »Dornenkronen«. Durch die Förderung, Begleitung und Unterstützung der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft wurde es uns ermöglicht, einen Film zum Thema »Würde« zu drehen. Die Hauptdarstellerinnen sind inhaftierte Frauen, die gemeinsam mit dem künstlerischen Team Charaktere und eine Geschichte entwickelten. Diese Geschichte wurde dann vor einem sogenannten Green Screen gedreht, damit nachträglich ein Hintergrund eingebaut werden konnte. Dadurch wurde es möglich, den Film außerhalb der Gefängnismauern spielen zu lassen. Ebenso konnten sich dadurch Inhaftierte aus den anderen Vollzugsanstalten im Film begegnen. Dem Zuschauer erscheint es dann so, als ob gemeinsam gespielt und gedreht wurde. Wir versuchen immer, auch unter den Teilnehmenden das Bewusstsein für ein gemeinsames Projekt zu entwickeln. Für uns stehen somit der gemeinsame Prozess und die Beteiligung der Inhaftierten im Vordergrund des Handelns. Das bedeutet allerdings auch für alle, dass es keinen fertigen Plan geben kann, sondern Spontaneität und Flexibilität (allerdings selbstverständlich in den Grenzen des Vollzugs) Grundvoraussetzung für die Mitarbeit im Projekt sind. Dafür haben wir aber die Möglichkeit, Ergebnisse zu schaffen und zu erleben, die ein ehrliches und authentisches Resultat der Zusammenarbeit sind. Wie bereits zu Beginn erwähnt, wäre das Projekt ohne die KünstlerInnen und die Unterstützung der Justizvollzugsanstalten nicht möglich. Fritz Bleuler, Fritz Eggert, Hanna Essinger, ­Mirella Galbiatti, Viola Neumann, Jarek Raczek, Julia Rogge, Christian Schodos, Lexa Schäfer und Sabine Winterfeldt präsentieren immer wieder mit sehr viel Engagement wunderbare Resultate ihres künstlerischen und pädagogischen Schaffens. Davon zeigen wir in dieser Dokumentation einige Ausschnitte, Eindrücke und Erlebnisse – und hoffen, dass wir vermitteln können, wie spannend und anregend diese Arbeit für uns ist.

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Die haben mein Feuer wieder entzündet Ein Gespräch mit der Schauspielerin Sabine Winterfeldt über Freiräume, Chancen, Herausforderungen und das Heilende in ihrer Arbeit

Warum arbeiten Sie in Gefängnissen? Was gibt Ihnen diese Arbeit? Als ich damit angefangen habe, war ich kurz davor, meinen Beruf aufzugeben. Dieses irgendwie funktionieren müssen, die Konkurrenz mit anderen Schauspielern, auf die richtigen Partys gehen zu müssen und so weiter – das hat mich total genervt. Ich fand auch manche Arbeitsergebnisse so uninteressant, dass die Liebe zu meinem Beruf fast verloren gegangen ist. Als ich dann anfing, durch tausend Zufälle, im Gefängnis zu arbeiten, habe ich gemerkt: Ich kann durch die Theaterarbeit bei den Gefangenen etwas auslösen, was ihnen eine neue Perspektive gibt. Sie fangen an, sich selbst anders kennenzulernen. Das hat etwas mit der Wahrheitssuche zu tun, um die es mir beim Theaterspielen auch mal ging. Ich habe im Gefängnis gearbeitet und dachte: Genau, das ist es. Die haben mein Feuer wieder entzündet.

Womit haben die Inhaftierten Ihr Feuer entzündet? Ich glaube, das hat damit zu tun, wie ich hier arbeiten kann: Es ist eine sehr positive Arbeit. Jeder Mensch hat etwas, das er richtig gut kann, wirklich jeder. Und darauf konzentriere ich mich, das ist der Trick. Ich verlange eine gewisse Disziplin: Sie müssen sich gegenseitig zuhören und konzentriert arbeiten. Aber ich hacke auf niemandem herum, ich lobe sie – wie verrückt… (lacht). Da gibt es Menschen, die sprechen drei Sprachen – Arabisch, Türkisch, Kurdisch. Das können ganz viele der Inhaftierten, dann denke ich: Wie toll, dann machen wir die Szene jetzt auf Arabisch. Und das Spannende an den Gefängnistrainings ist auch, dass immer etwas passiert – wenn sich die Teilnehmer darauf einlassen können, denn wir schaffen einen geschützten Raum. Das Gefängnis ist zwar ein Ort, an dem die Menschen dicht aufeinander hocken, wo es viele Regeln gibt, aber sie sind nicht so abgelenkt. Da klingelt nicht ständig ein Handy, und der Alltag ist sehr strukturiert. Die Trainings sind eine riesen Chance, etwas zu erleben, etwas zu entdecken. Interessanterweise auch für uns, weil man hier so sehr bei sich selbst ist. Das ist wie in den Spiegel zu schauen. Hier kann sich niemand verstecken. Leute, die nicht authentisch sind, die ihre wirklichen Gefühle verbergen, haben keine Chance. Das kommt sofort raus.

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Di e h ab e n m ei n Fe ue r wie de r e ntzündet

Ist das die Chance der Kunst? Es sieht eher nach Pädagogik aus. Es ist eher etwas Heilendes. Ich finde, Pädagogik macht manchmal ein bisschen schmal, und wir wollen die Menschen freier machen – im Geist. Wir wollen sie öffnen, sodass sie sich gut fühlen und mit ihren Stärken in Kontakt kommen. Um sie ein wenig kennenzulernen machen wir Biografie-Arbeit. Dann stellt sich heraus, dass es häufig Menschen sind, die erfahren haben, dass das Leben nichts Gutes für sie bereithält, die abgewertet wurden. Deshalb konzentrieren wir uns darauf, was gut ist. Und dann wachsen die, die dabei bleiben, über sich hinaus – immer. Woran sehen Sie das? An vielen Sachen. Zum Beispiel: Jemand, der nach der vierten Klasse von der Schule abgegangen ist, nur noch Raubüberfälle begangen hat. Plötzlich schreibt der, er lernt Text, spricht bei der Aufführung alle Texte mit, passt auf, dass alle Requisiten am Platz sind, usw. Das meine ich damit. Und das alles, ohne dass wir gesagt haben, das brauchen wir. Da fließt plötzlich so viel ineinander, weil die Teilnehmer merken, da ist etwas, das ist größer als ich, und ich möchte ein Teil davon sein. Ich bin aber nur dann ein Teil davon, wenn ich meine Aufgaben sehe, wenn ich mich einbringe, und das hat viel mit Vertrauen zu tun. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Theaterleute, die in den Projekten arbeiten, gut mit Distanz und Nähe klarkommen. Aber es müssen auch Leute sein, denen die Gefangenen vertrauen können, denen sie folgen wollen. Die Trainer müssen das, was sie machen, menschlich ernst meinen.

Intensive Theaterarbeit kann verdeckte, verdrängte, gezügelte Gefühle an die Oberfläche bringen, die mit der Bühnensituation nichts zu tun haben. Was machen Sie, wenn der Freiraum Ihrer Trainings eine unkontrollierte Gruppendynamik auslöst? Ich glaube, es gibt Gesetzmäßigkeiten, Regeln in der Kunst, in deren Rahmen man Freiheit schaffen kann und Wertschätzung. Es gab immer wieder Momente bei den Proben, wo ich gesagt habe: »Passt auf Kinder, ich gehe jetzt eine halbe Stunde raus und ihr guckt mal, wie weit ihr mit der Szene kommt. Ich bin nicht eure Mutti. Macht was draus.« Dann bin ich wiedergekommen und peng – alle waren konzentriert, die Szene war toll. Was die Teilnehmer hier lernen, ist Selbstverantwortung. Am Anfang macht es einfach Spaß, dann entdecken sie die eigenen Ressourcen und irgendwann Verantwortung für die eigene Kraft. Das ist es, was wir versuchen mitzugeben. Es geht Ihnen bei Ihrer Arbeit in erster Linie um den Prozess, aber wie sieht es mit den Ergebnissen aus? Für mich ist immer wichtig, dass das, was da passiert, authentisch ist, dass es von den Teilnehmern kommt. Die Sachen, die wir bisher gemacht haben, fand ich großartig. Bei Aufführungen, bei Präsentationen war das Publikum begeistert. Es berührt einen sehr, weil wir die Teilnehmer ermutigen, nicht einfach etwas vorzuspielen, sondern wirklich reinzugehen. Etwas von sich zu zeigen, im Schutz einer Rolle. Es ist wichtig, dass die Teilnehmer aus ihrer eigenen Kraft heraus agieren, und das ist immer schön anzuschauen, finde ich. Ich gehe heute wieder zu den Jungs nach Plötzensee. Einer, mit dem ich im letzten Projekt gearbeitet habe, ist jetzt wieder dabei – leider. Ein ganz toller Junge, ein Palästinenser. Er hat eine Szene gespielt und ich habe gedacht: Ich wünsche mir, dass viele junge Schauspieler sich das mal anschauen, zu Studienzwecken. Das ist gutes Theater, weil es mit Mut und Kraft und Ehrlichkeit zu tun hat und nicht mit überzüchtetem Sprechen und Schönsein. Es geht ja ganz viel um Eitelkeit in unserem Beruf, und wenn dann jemand einfach spielt, aus einer Lust heraus, sich austobt und dabei stark ist – dann ist das einfach toll anzusehen.

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Da ist etwas, das bleibt. Das geht nicht mehr verloren. Ein Gespräch hinter den Mauern der JVAF Berlin-Reinickendorf mit Astrid Hannemann (Sozialdienst) und Melanie Friebe (Mitarbeiterin der Vollzugsleitung) über Chancen und Risiken, Grenzgänge und Freigänger

Ollenhauerstraße 128. Es ist grau hier – die Wände, die Flure, der Hof, die hohen Mauern – und laut. Einflugschneise BerlinTegel. Die Flugzeuge scheinen zum Greifen nah. Drei Frauen sitzen rauchend im Freien. Durch die Fenster im Erdgeschoss sieht man, dass einige hier arbeiten, andere werden erst nach Feierabend in die JVA zurückkehren. Offener Vollzug mit strengen Gesetzen. Wer sich nicht daran hält, muss in die »Geschlossene«. Etwa in die Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin-Pankow, dorthin, wo auch die »Langzeitlerinnen« einsitzen. In der JVAF Pankow bieten Schauspielerinnen und Schauspieler, gemeinsam mit »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«, wöchentliche Trainings an. Theaterarbeit mit festen Regeln und ungewissem Ausgang. Das Team der TrainerInnen arbeitet auch in der JVAF Berlin-Lichtenberg, wo überwiegend Frauen einsitzen, die aus dem Drogenmilieu kommen, und mit den jungen Männern in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Bei den Trainings in der sogenannten Draußenwerkstatt treffen Männer und Frauen aus den offenen Vollzügen zusammen und auch Haftentlassene können teilnehmen. Die Arbeit, die Herausforderungen und die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich, doch ist jedem Arbeitszyklus ein Thema gemeinsam. 2012 hieß es »Würde«.

Was ist Würde? Darum geht es auch in dem Film »Dornenkronen«. Inhaftierte Frauen in Pankow entwickelten Geschichten, schrieben Textfragmente für ein Drehbuch, schlüpften in die Rollen von weltbeherrschenden Königinnen in Schlössern, in Gärten, am Konferenztisch. Dabei haben sie das Gefängnis nie verlassen. Ihre »Befreiung« erfolgte rein digital, per Green Screen und Filmschnitt, bei dem die Szenen aus Pankow in Außenaufnahmen hinein montiert wurden. Mit dem ungewöhnlichen Filmprojekt betraten alle Neuland. Die Hauptdreharbeiten fanden unter Verschluss statt, an sechs aufeinanderfolgenden Tagen, in einem nur etwa 40 Quadratmeter großen Raum in der JVAF Pankow. Melanie Friebe: Die Frauen, die mitgemacht haben, bekamen eine professionelle Maske – Haare, Make-up – und tolle, weibliche Kleidung. Die Kostüme wurden im Theater ausgeliehen. Es war eine Kostümbildnerin dabei und die Maskenbildnerin hat sich sehr um sie gekümmert. Das waren Profis und die Frauen haben sich auf einmal wieder als attraktive Frau gefühlt. Das war faszinierend zu beobachten. Oft ist es so: Die inhaftierten Frauen erleben etwas Schönes und nach einem Wochenende ist das schöne Gefühl wieder verebbt. Aber nach diesen Dreharbeiten kamen die Frauen mir noch 14 Tage später entgegen und haben davon berichtet, wie großartig das war. Sie haben dann Fotos bekommen und das Filmmaterial gesehen und das hat sie mit so viel Stolz erfüllt. Dieses Gefühl schön zu sein und diese hohe Wertschätzung, die ihnen entgegen gebracht wurde, das konnten sie lange mitnehmen. Sie haben sich mit anderen Augen gesehen. Das bleibt. Das geht nicht mehr verloren.

Astrid Hannemann: Für diese Frauen ist vor allem das Selbstwertgefühl so wichtig. Im Vollzug werden viele Beziehungen abgebrochen und die Frauen haben kein Gefühl mehr für sich selbst. Wenn das dann wieder geweckt wird, dann sind das die schönsten Momente. Da passiert wirklich etwas. Dreharbeiten unter verschärften Bedingungen: Viele Menschen auf engstem Raum, dazu Ständer voller Kostüme, Schminkspiegel, Scheinwerfer, Bühnenbild und Requisiten. Aufregung, Anstrengung, Wärme, schlechte Luft. Ausnahmezustand für alle – auch für die Mitarbeiterinnen der JVAF in Pankow. Danach zog das Filmteam weiter, zu den »Mädels« in Lichtenberg und den »Jungs« in Plötzensee. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit war es, die Inhaftierten in den verschiedenen Einrichtungen zu »verbinden«. Texte, Ideen und Botschaften wurden ausgetauscht. Die KünstlerInnen sorgten für die Verbindungen, transportierten Manuskripte und aufgenommene Songs, erzählten den einen von der Arbeit mit den anderen. Alle sollten ihre Rolle im Film bekommen, wurden fest eingeplant. Dabei ist »alle« hier ein relativer Begriff, denn eigentlich wissen die TrainerInnen nie genau, wer erscheint. Mal gibt es interne Konflikte oder persönliche Ängste, dann ändern sich formale Bedingungen, jemand wird plötzlich verlegt, ein anderer früher als erwartet entlassen. Melanie Friebe: Das Besondere an den Theaterkursen ist, dass die Trainer nicht abhängig sind von einer Fallgruppenzahl. Wir haben andere Freizeitkurse, an denen müssen mindestens fünf bis sechs Frauen teilnehmen, damit sie stattfinden können. Das ist hier nicht der Fall. Das hat mit der Finanzierung durch die Stiftungen zu tun. So kann es schon mal passieren, dass nur zwei Frauen zu einem Training kommen. Die erfahren dann viel Aufmerksamkeit. Die Trainerinnen und Trainer können ihnen Raum geben und die Frauen steigen intensiver ein. Es ist auch gut, dass diese Werkstätten auf neun Monate angelegt sind, denn erst so entsteht eine prozesshafte Arbeit, die Beziehung voraussetzt. Nach dem Intensivdrehtag in Lichtenberg hat mir eine Frau gesagt, dass sie sich ganz verbunden fühlt mit den Trainern.

Astrid Hannemann: Die Beziehungsarbeit ist enorm wichtig. Gerade weibliche Inhaftierte müssen erst mal den Sprung schaffen, selbst etwas aufzuführen. Das ist für sie ganz, ganz schwierig. Sie müssen große Hemmschwellen überwinden, da muss man sehr sensibel sein. Wenn sie es aber wirklich geschafft haben, dann sind die Frauen unheimlich stolz – zu Recht. Und das ist nachhaltig. Sie trauen sich selbst etwas zu, erleben, dass sie Fähigkeiten besitzen, dass sie Kraft haben. Das ist das Spannende an diesem Projekt, und das macht den Unterschied zu anderen Kursangeboten, die wir hier haben. Beim Theaterspielen finden die Frauen häufig zu sich selbst. Sie entdecken Seiten an sich, die sie vielleicht vorher gar nicht kannten.

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Da ist etwas, da s bleibt. Da s g e ht nicht me hr verloren.

Astrid Hannemann: Ich glaube, es ist besonders wichtig, gerade im Vollzug solche Angebote zu machen und die Persönlichkeit zu fördern, zu entwickeln. Beim Theaterspielen empfinden sie sich auch als Gruppe und müssen Sozialverhalten leben. Das ist anders als draußen, wenn man zum Beispiel einen Theaterkurs in der Volkshochschule belegt. Gerade im geschlossenen Vollzug begegnen sich die Frauen tagtäglich. Sie leben in diesem engen Stationskontext. Sie haben Konflikte. Da gibt es viele Nebenschauplätze. Das transportieren sie erst mal in den Kurs hinein. Dann müssen die Trainer herausfinden, warum die eine gerade zickt und die andere nicht mitspielen will oder was gerade los ist. Was die Trainer leisten müssen, ist schon enorm.

Melanie Friebe: Es geht hier um Ganzheitlichkeit. Stichwort: Ressourcen, eigene Fähigkeiten entdecken. Ich kann meine Talente in einem Malkurs sehr gezielt entdecken. Habe ich eine Begabung? Kann ich zeichnen, kann ich malen? In dem The­ater­ projekt gibt es aber viele Ebenen. Da kann eine Teilnehmerin in einem neun Monate dauernden Prozess feststellen: Ich bin keine gute Sängerin, aber dafür habe ich Talent als Schauspielerin oder ich kann tolle Gedichte schreiben. Ich bin überzeugt davon, dass unterm Strich jede Frau künstlerische Fähigkeiten oder Potentiale finden wird, die sie zuvor noch nicht entdeckt hat. Hier sind natürlich die Trainierinnen und Trainer entscheidend, mit ihrer Kreativität, ihren Angeboten und in ihren Beziehungen zu den Frauen. Es ist die Vielschichtigkeit, denke ich, die im Vergleich zu anderen Projekten besonders hervorsticht und besonders bedeutsam ist. Die Arbeit von Minor e. V. ist langfristig angelegt und immer prozessorientiert. Die Künstlerinnen und Künstler bringen keine vorgegebenen Theaterstücke auf die Bühne, mit Inhaftierten als Schauspielern. Sie arbeiten an Themen und zugleich biografisch. Sie suchen nach den Stärken der Einzelnen und entwickeln mit ihnen Szene für Szene. Überwiegend wird improvisiert, aber manche der Teilnehmer schreiben auch eigene Texte, Gedichte oder Songs, die gemeinsam geprobt werden. An eine kontinuierliche Probenarbeit, wie sie in professionellen ­Theatern oder auch bei geübten Laiengruppen statt­findet, ist in den Haftanstalten jedoch nicht zu denken. Gerade bei der Arbeit mit jugendlichen Straftätern ist nie sicher, wer ­gerade wegen disziplinarischer Maßnahmen ausfällt, wer am Trainingstag lustlos, abgelenkt oder besonders aggressiv ist. Andererseits,

sagen die Theaterleute, bringen gerade die oft schwierigen, jungen Männer ein unglaubliches Potential mit. Außerdem gelten für die Aufführungen ihrer Stücke strenge Regeln. Sie dürfen nur in der Haftanstalt vor geladenem Publikum stattfinden, damit die Persönlichkeitsrechte von Minderjährigen nicht verletzt werden. Bei ihrer Projektpräsentation, einer Theateraufführung in der Aula der Jugendstrafanstalt, umringten die jungen Männer zunächst das geladene Publikum wie Bodyguards. Coole Jungs in schwarzen Anzügen mit weißen T-Shirts und dun­ klen Sonnenbrillen. Was dann folgte, war eine Reihe intensiv gespielter Szenen mit kraftstrotzenden, selbstbewussten Darstellern. Mit diesen Momentaufnahmen aus dem Alltag, direkt und verblüffend offen, thematisierten sie die Gewaltspirale im eigenen Kiez, die Gedankenlosigkeit im Miteinander, Vorurteile und soziale Ungleichheit: Gelebte Geschichten, beeindruckend dargestellt und alle selbst entwickelt. Astrid Hannemann: Die Jungs produzieren sich gerne. Die wollen immer gleich einen Showroom haben und finden das super. Frauen haben ganz viele Hemmnisse. Im Prinzip haben die kein Körpergefühl. Man muss sie erst mal motivieren, das ist viel sensibler. Sie müssen über Beziehungsarbeit, über die persönliche Ebene, über Begegnungen gelockt werden. Das schaffen die Trainer. Aber deshalb ist auch die Draußenwerkstatt so wichtig. Viele, die ehemals in den anderen Werkstätten dabei waren, kommen dort hin. Für sie ist das eine feste Anlaufstelle. Ich kenne auch entlassene Mädels, die in ihrer Freizeit da weiter mitmachen. Es ist ihnen wichtig, das, was sie in den Workshops im Vollzug erlebt haben, weiter zu leben. Das ist ein ganz toller Anknüpfungspunkt. In die Draußenwerkstatt kom-

men die Männer und die Frauen aus dem offenen Vollzug und eben auch die Entlassenen. Aber auf die Entlassenen stürzt wieder ganz viel ein. Sie haben andere Probleme und machen andere Erfahrungen als die Inhaftierten aus dem offenen Vollzug. Manchmal tauchen die Entlassenen auch nach vier Wochen ab, aber meist kommen sie wieder. Deswegen hat man überlegt, eine Draußen-Draußenwerkstatt einzurichten, in der nur mit den Entlassenen gearbeitet werden kann. Aber dabei sind wir auf die Unterstützung von Stiftungen angewiesen. Die Senatsverwaltung für Justiz hat dafür keine Fördermittel. Und wir brauchen immer einen Projektträger. So wie Minor e. V., mit dem wir sehr gut, vertraut und kooperativ zusammenarbeiten. Projekte wie die Theaterarbeit, die Minor e. V. seit Anfang 2011 in Berlin trägt und koordiniert, haben keine große Lobby und treffen in der Öffentlichkeit nicht immer auf Verständnis.

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Da ist etwas, da s bleibt. Da s g e ht nicht me hr verloren.

Astrid Hannemann: Die Öffentlichkeit interessiert sich einfach nicht für den Justizvollzug. Die Gesellschaft ist darauf bedacht, vor Straftätern geschützt zu werden. Das ist leider das vorherrschende Bild. Man hat Angst vor diesen Menschen aus dem Gefängnis, vor den Straftäterinnen und Straftätern. Und es gibt die Wahrnehmung, dass es den Menschen im Vollzug zu gut geht, denn schließlich haben sie ja Straftaten begangen. Sie haben es also verdient. Freiheitsentzug ist ein Stigma. Das Gefängnis wird von der Gesellschaft als negativer Ort gekennzeichnet. Das schreckt auch viele Arbeitgeber ab, einen Menschen einzustellen, der mal im Gefängnis war. Deshalb müssen wir auch bei der Öffentlichkeitsarbeit sehr vorsichtig sein. Die Menschen verbringen nur eine begrenzte Lebenszeit im Gefängnis und haben in der Regel danach noch ganz viel Leben vor sich. Und je öffentlichkeitswirksamer wir arbeiten, umso größer ist die Gefahr, dass der weitere Lebensweg der Entlassenen negativ beeinflusst wird. Diese Menschen haben zwar Straftaten begangen, aber man darf sie nicht ausschließlich darauf reduzieren. Wenn sie die Teilnehmer der Theaterprojekte kennenlernen, stellen sie fest, es gibt hier wunderbare Frauen und Männer. Ein Dilemma. Einerseits ist es wichtig, Verständnis zu schaffen und Brücken zu bauen zwischen den Inhaftierten und der Gesellschaft außerhalb der Gefängnismauern. Andererseits bergen beispielsweise Berichte in den Medien Gefahren, selbst wenn sie positiv wirken wollen. Auch die Aufführungen, die wichtigen Projektpräsentationen außerhalb der Gefängnisse sind ein Kraftakt für alle. Das fängt bei ganz einfachen Dingen wie der Transportlogistik an. Wer bezahlt die Fahrkarte? Wer darf wie lange raus? Bis zu tiefgreifenden Fragen wie: Wer darf sich überhaupt als Strafgefangener outen? Welche Konsequenzen kann das haben? Wer übernimmt die Verantwortung?

Astrid Hannemann: Es ist eine Gratwanderung, einen Weg zu finden, den Vollzug auf ehrliche Art und Weise darzustellen, ohne jemanden vorzuführen. Ich frage mich dann immer: Was ist richtig? Und was ist schon zu viel? Vermarkten wir vielleicht eine einzelne Frau? Stellen wir sie zur Schau? Wo stigmatisieren wir sie, als die Frau im Gefängnis, für alle sichtbar – die hat eine Straftat begangen? Wie kann das ihre Zukunft prägen? Wenn zum Beispiel eine Reportage gemacht wird und dann eher das Delikt im Vordergrund steht, dann geht das in die falsche Richtung. Solche Erlebnisse habe ich in den letzten Jahren gehabt. Wir müssen da sensibel sein. Die Frauen beispielsweise zeigen viel mehr von sich selbst, von ihrer Persönlichkeit, im Unterschied zu den Jungs. Wir müssen sie ein bisschen schützen. Die haben in solchen Momenten das Gefühl, alles ist toll und ich will erzählen. Aber was das für Konsequenzen haben kann, danach, das können sie manchmal gar nicht überschauen. Meine größte Sorge ist es, dass die Menschen sich durch öffentliche, durch mediale Auftritte für ihr Leben in Freiheit Schaden zufügen. Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass Öffentlichkeitsarbeit Möglichkeiten bietet, um endlich einmal ein positives Bild von den Menschen und von der Arbeit im Justizvollzug zu zeigen. Und wir haben da auch gute, positive Erfahrungen gemacht.

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 Theater im Gefängnis – Herausforderung und Chance Ein Gespräch mit Elisabeth Hoffmann, Projektleiterin »minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.«

Was bedeutet das Gefängnis-Projekt, was bedeutet diese Art der Arbeit für Sie persönlich? Es gibt tagtäglich neue Herausforderungen und Überraschungen, egal wie gut durchdacht die Planungen und die Strukturen sind. Das ist aber auch das Spannende, das Reizvolle an dieser Aufgabe. Und dann die Arbeit mit den Künstlern, das ist der Bereich, von dem ich persönlich ganz viel profitiere. Eine andere Herausforderung, aber auch Bereicherung ist die Zusammenarbeit mit dem Vollzug. Das ist natürlich ungewohnt, aber man lernt, was es bedeutet, im Vollzug zu arbeiten, mit allen Regeln und Einschränkungen. Hat das Ihren Blick auf Inhaftierte, auf Straftäter verändert? Auf jeden Fall. Ich gehe öfter mit in die Trainings, damit die Teilnehmenden auch einen Eindruck bekommen, wer da noch im Hintergrund mitarbeitet und auch, wer manchmal die NeinSagerin ist (lacht). Das sind erst mal Erwachsene und Jugendliche wie du und ich. Es sind Menschen, die eine Straftat begangen haben, aber auch Menschen, die ganz tolle Kompetenzen haben. Ich kann mich ganz normal mit ihnen unterhalten, mit ihnen Faxen machen, aber auch ernste Gespräche führen. Ich kann mich mit ihnen über ihre Tat oder über ihr Wohl- oder Unwohlbefinden unterhalten. In dem Moment, wo ich eine Beziehung zu ihnen aufbaue, muss ich aber wissen, dass ich Abstand halten muss, sonst funktioniert die Arbeit in meiner Position nicht.

Sie sind international im Austausch mit anderen Gruppen, die Gefängnistheater machen. Wie funktioniert das in anderen Ländern? Wir haben ein kleines Projekt, das uns – über EU-Mittel – die Möglichkeit zum Austausch über Gefängnistheater bietet. Wir haben da unterschiedliche Partner. In Polen ist es direkt ein Gefängnis. In Österreich, Rumänien und Griechenland kooperieren wir mit Vereinen, die im Vollzug arbeiten. In vielen Ländern gibt es aber keine Beispiele, von denen ich sagen würde: wow, das läuft hier völlig anders. Toll finde ich die Arbeit unserer Partner in Rumänien. Die veranstalten seit vielen Jahren ein Theaterfestival. Dabei können Inhaftierte aus ganz Rumänien nach Bukarest kommen, um einmal im Jahr ihre Stücke öffentlich zu zeigen. Das ist in Deutschland nicht vorstellbar. Arbeiten andere Gruppen auch so prozessorientiert wie das Berliner Projekt »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft«? Nein, das gibt es sehr wenig. Oftmals ist es so, dass ein Regisseur ins Gefängnis geht und sagt, wir haben da ein Stück und das würden wir gerne hier produzieren. So kenne ich das auch aus dem Ausland. Diese prozessorientierte Arbeit über eine lange Zeit, in der man erst mal Vertrauen aufbaut, das ist in Berlin etwas Besonderes und auch deutschlandweit. In Italien und Österreich habe ich Partner kennengelernt, die haben das so ähnlich gemacht wie wir. Die haben im Arbeitsprozess

geschaut, was bringen die Inhaftierten mit. Aber sie hatten ein feststehendes Stück, das sie produziert haben. Mit unserem Arbeitsstil sind wir weniger öffentlichkeitswirksam. Wir können nicht so große Projekte präsentieren, die viel Aufsehen erregen. Wir backen eher kleine Brötchen, aber für die Teilnehmenden hat das den größeren Effekt, als wenn sie Texte auswendig lernen und dann ein paar Mal auf der Bühne stehen. Aber ich will das nicht abwerten, das ist schon ein sehr wichtiges Erlebnis. Sind die Mittel des Theaters besonders effektiv bei der Arbeit mit Gefangenen? Effektivität ist nicht unser Maßstab. Für uns ist Theaterarbeit eine Methode, um über einen kreativen Prozess Selbstreflexion anzuregen. Nicht wie das teilweise Sozialarbeiter machen, die hingehen und sagen: ›Denk mal darüber nach, was Du gemacht hast‹. In unserer Arbeit entwickelt sich das von selbst, dadurch, dass die Inhaftierten selbst entscheiden können, wann sie etwas von sich zeigen und wann nicht. Oder wann sie über ihre Tat oder über ihren Hintergrund sprechen wollen. In diesem Sinne würde ich »effektiv« in Anführungsstriche setzen. Es funktioniert nur, wenn sie bereit sind sich zu öffnen – und da sind Theater, Musik oder das Schreiben von Texten, Gedichten und Szenen Möglichkeiten, mit denen wir ganz wahnsinnige Erfahrungen gemacht haben. Wahnsinnige Erfahrung? Was meinen Sie damit? Also, beim letzten Zyklus war das total schön. Ein Teilnehmer hat einen Song geschrieben und das war dann der Ausgangspunkt für eine ganze Produktion. Drumherum sind die Szenen entstanden. Und auch das Bühnenbild wurde dadurch inspiriert. Das haben dann wiederum Inhaftierte in der Tischlerei der Jugendstrafanstalt gestaltet und das konnte dann auch noch für die Projektpräsentation im Kino BABYLON genutzt werden. Das Schönste ist der Moment, in dem so eine übergreifende Zusammenarbeit funktioniert. Wir schicken auch Texte hin und her, sodass die Frauen Antworten auf die Männertexte schreiben oder andersherum. So kocht nicht jeder sein eigenes Süppchen, sondern es entsteht eine Verbindung zwischen allen.

Gibt es auch Erfahrungen, auf die Sie lieber verzichten würden? Ja sicher. Die gibt es natürlich immer. Bei uns sind das die Grenzen, die der Vollzug mit sich bringt. Als Externer hat man einfach nicht immer alle Regeln und Grenzen des Vollzugs präsent. Und deshalb sind Ärger und Konflikte vorprogrammiert, wenn man von außen ins Gefängnis hineingeht. Da kann man sich noch so bemühen, es passieren so viele Dinge, mit denen man nicht rechnet, weil man es nicht gewohnt ist, nicht frei zu sein. Und das beschert einem dann Ärger – in Anführungsstrichen. Denn es muss diese Grenzen ja geben. Aber es ist anstrengend. Genau. Dann stelle ich jetzt die Abschlussfrage: Was wünschen Sie sich? Was würden Sie gerne erreichen? Ich würde gerne eine Verstetigung des Projekts erreichen, auch gemeinsam mit dem Vollzug. Es wäre schön, längerfristig planen zu können, mehr als nur für zwei Jahre. Denn die eigentliche Motivation, die auch die TrainerInnen antreibt, ist doch, dass wir das für die Inhaftierten machen. Jetzt haben sie angefangen, diesen Bogen zu schlagen: von der Teilnahme an den Workshops im geschlossenen Vollzug hin zur Draußenwerkstatt für die Inhaftierten im offenen Vollzug. Und nun gibt es erste Möglichkeiten, ein Draußen-Draußensystem anzubieten, für die Entlassenen. So lässt sich eine andere Art von Übergangsmanagement etablieren. Das kommt gerade in Schwung, nach ersten ganz zaghaften Versuchen. Da weitermachen zu können und den Inhaftierten noch einmal eine andere Sicht auf Resozialisierung, auf Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu ermöglichen, das wäre toll.

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Geschenkte Schuhe und Würde, die man nicht sieht Ein Probenbericht.

»Es gibt da eine Abgrenzung… und davor ist eine Mauer. Der Rand der Gesellschaft. Nach der Mauer kommt die Randgruppe. Und vor der Mauer liegt die Freiheit.« Die Frau, die das sagt, ist fast im Rentenalter, hat wache Augen und beobachtet aufmerksam. Nennen wir sie Claudia. Sie ist schon lange hier und sie muss noch viele Jahre bleiben. Es ist Montagnachmittag, ein heller Sommertag. Wir sitzen zu fünft im großen Allzweckraum der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin. Die Tür ist verschlossen, die Fenster sind vergittert. Gefängnis-Alltag. Heute ist Training. So nennen sie die Theater-Workshops, die einmal wöchentlich von SchauspielerInnen in verschiedenen Berliner Haftanstalten angeboten werden. Ich bin Gast hier. »Verstellen Sie sich nicht. Die merken alles. Seien Sie offen, machen Sie einfach mit«, hatte Christian Schodos gesagt. Gemeinsam mit Sabine Winterfeldt leitet er die Trainings. Die Situation ist ungewohnt: am Eingang Ausweis und Handy abgeben, Taschen und Jacken einschließen, dann das klirrende Geräusch eines dicken Schlüsselbundes, graue Flure, abgenutzte Treppen. Von wegen Klischees. Ob ich störe? Scheinbar nicht. Ich werde erwartet, mit Neugier, mit vorsichtiger Freude, vielleicht sogar mit etwas Stolz. Da kommt jemand von »draußen«, ist interessiert an uns und an dem, was wir hier tun…

Heute sind nur zwei Frauen gekommen. Manchmal sind es acht oder mehr. Die Trainer stellen sich spontan auf die jeweilige Situation ein. Claudia hat schon beim Filmprojekt »Dornenkronen« mitgemacht. Die andere Frau (wir geben ihr hier den Namen Ilona) ist relativ neu. Sie ist Mitte zwanzig, spricht leise, etwas schüchtern und ist zum dritten Mal beim wöchentlichen Theater-Training. Das beginnt um 16.30 Uhr, wenn die Frauen von ihrer Arbeit in den Werkstätten zurück sind, und endet um 19.30 Uhr. Der Raum ist fast quadratisch. Stühle und Tische sind an einer Seite gestapelt, es gibt ein Bühnenpodest, eine Vitrine mit weißen Skulpturen aus dem Kunstkurs und ein paar alte Musikinstrumente. Wir alle sind neugierig und versuchen es voreinander zu verbergen. Stühle werden in die Mitte des Raumes gestellt, man setzt sich. Zuerst kommt immer der »Talking Stick«. Wer den auf dem Boden liegenden Kugelschreiber aufhebt, ist an der Reihe, erzählt, wie es ihm geht und was gerade los ist. Die anderen hören zu, aufmerksam, ohne zu kommentieren. Heute ist Lese-Probe. Der Trainer hat den Text schon beim letzten Mal verteilt. Ein hintergründiges Zwei-Personen-Stück, das in einem Friseursalon spielt. Es gibt sehr viele Regieanweisungen. Die soll ich lesen. Mit verteilten Rollen beginnen wir. Die beiden Frauen haben sich gut vorbereitet. Kaum ein Versprecher. Claudia gibt ihrer Figur schon erste Konturen. Aber worum geht es hier wirklich? Christian Schodos und Sabine Winterfeldt diskutieren mit den beiden über unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Aufgeführt wird das Stück nicht. Es ist Übungsobjekt, Arbeitsmaterial.

Zigarettenpause. Die Vollzugsbeamtin wird angerufen. Das Schlüsselbund rasselt, sie öffnet die Tür des Probenraums und begleitet uns auf den Hof. Man kann die renovierten Altbauten auf der anderen Seite der Mauer sehen. Große Fenster, Balkon mit Gefängnisblick. Sehnsuchtsorte? Claudia wendet sich ab und zeigt mir die Rabatten, die sie hier selbst pflegen. Ende des Kurzausflugs in die Sonne. Christian Schodos berichtet von den Vorbereitungen für die Projektpräsentation. Die findet in gut vier Wochen im Kino BABYLON statt. Geplant ist die Erstaufführung von »Dornenkronen«, dem Film, der hier entwickelt wurde, und in dem auch Inhaftierte aus den anderen Haftanstalten mitspielen. Die Draußenwerkstatt, mit Haftentlassenen und Teilnehmern aus dem offenen Vollzug, steuert ein eigenes Theaterstück bei. Heute soll hier noch eine Ton-Aufnahme gemacht werden. Die beiden Frauen haben Gedichte geschrieben, über Liebe und Toleranz. Sie lesen sie vor, erst einzeln, dann im Chor. Christian Schodos korrigiert wenig. Es klappt gut, er richtet das Mikrofon aus, drückt die Aufnahme-Taste:

Die Liebe ist ein bekanntes Instrument. Unterschiedliche Töne bis zu unterschiedlichen Melodien können nur klingen, wenn sie gespielt und gehört werden. Die vielen Instrumente, die es gibt, passen alle zusammen In ein Orchester und jedes das will, darf mitspielen. Es ist ein Beitrag für die Theaterszenen der »Jungs« in der Jugendstrafanstalt Berlin. Dort geht es um Würde und auch immer wieder um Liebe. Kein einfaches Thema im Gefängnis. Spielt Homosexualität eine Rolle? Bei uns, sagen die Frauen, ist das egal, es ist kein Problem, wenn eine lesbisch ist. Bei den Jungs ist das anders. »Schwulsein ist eigentlich kein Randgruppen-Thema mehr«, wirft Claudia ein. »Aber im Knast schon.« Bei den Jugendlichen bieten die SchauspielerInnen jetzt ein Training dazu an. Jeder Mensch in der Gesellschaft spielt in der Liebe seine eigene Melodie. Geschlechtsneutrale Instrumente begeistern mit unterschiedlichen Klangtönen, die eine Harmonie ausdrücken. Aber die auch unruhig und zerstörend wirken können (…)

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G esch e n kt e Sch uhe und W ü r de , die ma n nicht sieht

»Das sind so Gedanken, die fallen mir blitzartig ein. Die muss ich dann aufschreiben«, sagt Claudia. »Ganz am Anfang der Trainings wurden wir gefragt: Was versteht ihr unter Würde? Das sind so neue Denkanstöße. Ich habe die Würde dann unterteilt. Würde, die man sieht, die man mit dem verbindet, was eine Person leistet, beruflich, gesellschaftlich. Und dann die Würde, die nicht nach außen tritt, die man aber hat. Die, die Gesellschaft nicht sieht. Wir sind hier würdevolle Menschen.« Würde war das gemeinsame Thema der Workshops in allen Haftanstalten. Die Gespräche über Würde wurden zum Ausgangspunkt für Improvisationen und Texte und schließlich für den Film »Dornenkronen«. Claudia drängt es, davon zu erzählen. Christian Schodos macht mit. Ilona hört konzentriert zu, fragt, steuert manchmal etwas Allgemeines bei.

»Als wir gedreht haben«, sagt Christian Schodos, »haben wir hier sechs Tage hintereinander gearbeitet. 50 Stunden. Alle zusammen in diesem Raum, Kamera, Kostümständer, Maske, Requisiten, Scheinwerfer.« »Es war so heiß«, ergänzt Claudia, »und dann diese Kostüme und das frauliche Getue, mit den roten Fingernägeln und so. Das ist nicht so meine Sache.« Christian Schodos lacht. »Aber erinnere Dich, wie Dalida Dir die Schuhe zur Probe mitgebracht hat.« Claudia zeigt auf ihre Füße: »Ich hatte wieder so flache an und Dalida sagt: Eh, die sind ja furchtbar. So willst du als Königin regieren, das geht doch gar nicht. Ich bring Dir nächstes Mal andere mit.« Dalida, erklären sie mir gemeinsam, trägt Schuhe mit »sagenhaften« Absätzen, flucht ständig und lautstark und bekam auf den Proben Wutausbrüche, wenn sie mal eine Viertelstunde nur zuhören musste. Claudia lacht: »Ich habe gedacht, oh Gott, jetzt bringt die mir so Dinger mit, in denen kann ich gar nicht laufen. Und dann kommt sie mit Riemchenschuhen, mit einem ganz normalen Absatz. Ich zieh die an, geh ein paar Schritte und dann geht mir durch den Kopf: So etwas hast du

schon sechs Jahre nicht mehr getragen. Und dann liefen mir die Tränen runter. Aber ich bin gelaufen. Ich will nicht sagen, dass ich mich wieder als Frau gefühlt habe, aber irgendwie anders. Und die Schuhe, die hat sie mir später geschenkt.« »Das ist das Schöne an Dalida«, sagt Christian Schodos, »in der steckt ein großes Herz, da kann spontan so viel Liebe rüberkommen.« Dalida ist unterdessen im offenen Vollzug. Claudia und Christian Schodos hoffen, dass ihr die Erfahrungen aus der Probenzeit, aus dem Filmprojekt helfen werden, besser ihren Weg zu finden. 19.30 Uhr. Hier ist man pünktlich. Wir räumen auf und Claudia gibt mir ein zusammengerolltes Blatt Papier, verschlossen mit einer selbstgedrehten Wollkordel. »Das habe ich für Euch geschrieben«, sagt sie und verabschiedet sich.

Stimmen der TeilnehmerInnen

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Gemeinschaftswerk

JVA für Frauen Berlin Pankow Februar 2012

W

Ü

R

D

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Wille Wohlbefinden Widerstand Wahrhaftigkeit Warnung Wahrheit Wege Wünsche Widerspruch

Übermut Überlegen Überbrücken Übergeben Übergang Überlaufen Überschreiten Überhaupt Überzeugung Überleben

Reden Rache? Rauchen Richter Richtung Recht Respekt Reflektion Reflexe Ruhe Ruhestand Reue Reinheit Reich Resozialisierung Rechnen

Dunst Denken Danken Dankbarkeit Distanz Diskretion Drohung Demokratie Demonstrieren Datenbank

Ehre Ehrlichkeit Ehe Einsamkeit Ende Einigkeit Ekel Erdrückend Ehrgeiz Elternhaus Effektiv Effizienz Elend

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D

ie Liebe ist ein bekanntes Instrument. Unterschiedliche Töne bis zu unterschiedlichen Melodien Können nur klingen, wenn sie gespielt und gehört werden. Die vielen Instrumente, die es gibt, passen alle zusammen In ein Orchester und jedes das will, darf mitspielen. DIANA

J

eder Mensch in der Gesellschaft spielt in der Liebe seine eigene Melodie. Geschlechtsneutrale Instrumente begeistern mit unterschiedlichen Klangtönen, die eine Harmonie ausdrücken. Aber die auch unruhig und zerstörend wirken können. Entscheidend sind das Einbringen der Gefühle und die Klarheit zum Liedtext. Bei der Melodiegestaltung ergibt sich nicht immer eine absolute Resonanz. Dies muss ausgehalten und ertragen werden. Trotz vieler Hindernisse wird es zum eigenen Erfolg führen. Die Gesellschaft hat sich langsam von der herkömmlichen Musikwelt gelöst und öffnet sich für weitere Klangkünste.

IRENE

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JVA für Frauen Berlin Lichtenberg März 2012

I 

ch sitze hier am Flughafen, habe ein Ticket in der Hand und kenne mein Ziel nicht… Am liebsten würde ich nach Ägypten fliegen… Sonne, Strand und Meer… Würde auf jeden Fall auf einem Kamel zu den Pyramiden reiten und mir diese angucken, da ich’s sehr interessant finde. Hätte am liebsten meinen Freund und mein Kind dabei… Stelle mir ein schönes Sterne-Hotel mit Pool vor, wo wir schön frühstücken und danach zum Strand gehen und uns sonnen und mein Sohn baden kann… Mir würde es nicht schwer fallen, einfach öfters irgendwohin zu reisen… Mal Abstand vom Alltag haben, mal andere Dinge sehen und erleben… VERA

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I 

ndien – wollte mit 5 Jahren immer nach Indien entführt werden. Haiti – muss an den haitianischen Voodoo denken. Ich weiß nicht weiter, gern würde ich gehen, woanders kann es auch nicht schlimmer sein wie hier…

H

ab ich denn alles dabei, was ich brauche? Ich will Sonnenschein! Ich will unbedingt nach Kuba – Havanna – Cuba Libre trinken, Spanisch reden verbessern – Leute kennenlernen.

Kein Geld, Armut, Schmerzen…

Ich will meinen Freund dabei haben.

RENÉE

Ich will in so ’ner Pension unterkommen, wo es eine coole alte Herbergsmama gibt. Und eine gute Köchin mit original kubanischer Küche, Straßenmusik wie Buena Vista Social Club, vielleicht tanzen… Ich will Krokodile / Kaimane sehen. Durch das Land reisen oder faul am Strand liegen… In ’nem alten Bus – der zu unserem Zuhause wird – an Melonenständen vorbei. NADJA

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H

allo Babo! Ich sitze hier am Flughafen und warte auf meinen Flieger! Ich möchte in die Türkei fahren zu meiner Freundin Gül! Weil ich ein neues Leben anfangen möchte und mit den Drogen aufhören! Bitte entschuldige, dass ich Dich schon wieder im Stich lasse! Doch ich kann alles versuchen was in meiner Macht steht damit ich von den Drogen los komme und gleichzeitig zu Dir! Du bist schon ein großes Mädchen und ich weiß, dass Du mich verstehst! Wenn alles gut geht, bin ich bald wieder zuhause! Oder Du könntest mich besuchen!? Ich liebe Dich mehr als mein eigenes Leben! Bitte vergiss das nicht. Bitte sei nicht allzu sauer auf mich. Ich liebe Dich über alles und noch viel weiter. Tschüss bis bald! ANGEL

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Le b e n d e r Ko lu m ne nti te l

Stückentwurf

JUGENDSTRAFANSTALT BERLIN Mai 2012

Wolle aus Charlottenburg: Variation I Wolle kommt lachend und betrunken, Achmed sitzt bereits auf der Bank. Achmed: Ey, was willst du denn? Wolle: lacht! Sag mal, wie alt bist du denn überhaupt, Kleener? Achmed: Ich bin 18. Wolle: 18…! Boa, 18… 18 Mann… Weeßt du, wat ick mit 18 jemacht hab? Achmed: Nee, interessiert mich nicht. Wolle: Warum? Achmed: Weil es mich nicht interessiert. Wolle: Aber lass mich doch erst mal erzählen verdammt. Achmed: Ich will es aber nicht hören. Wolle: Ey, kleiner Furz, willst du mir jetzt drohen oder was? Ich ruf gleich die Polizei! Achmed: Ruf doch die Bullen. Wolle: Das ist Beleidigung! Die kleenen Kinder heutzutage… darf ick dir mal wat anvertrauen…? Achmed: Nee! ich will es nicht wissen. Es interessiert mich nicht! Wolle: Ick hatte mal een besseret Leben, weeßte? Ick hatte ne Frau, vier Kinder. Jetzt hab ick nischt mehr… Ick hatte vier schöne Kinder! Achmed: Mensch, hau ab, Mensch. Wolle: Halt doch mal die Schnauze! Laberst hier am laufenden Band! Achmed: Du bist doch besoffen, hau ab! Achmed geht.

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E

s ist jetzt Frühling und ich bin in meiner verdammten Zelle! Denke nur noch nach, wie gern ich jetzt bei Mam wär! Leider ist das Leben kein Ponyhof. Ich muss jetzt da durch, muss stark bleiben! Egal, ob jetzt mein Leben zerstört ist. Ich muss einfach da durch! Jede Nacht habe ich wieder Angst, dass es wieder kracht. Mam, du bist mein ein und alles, Bist der allergrößte Planet, bist meine Sonne! MOUSSAs Rap

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Aus: Böze Mädchen *

Wir spielen wieder Theater

JVA für Frauen Berlin Pankow MAI UND AUGUST 2012

[…] Die »königlichen« Gitterfiguren reisen durch die Zeit und zu den Ereignissen, die uns das Stück erzählen wird, mit vorgegebenen und eigenen Texten. Wir sind inhaftierte Lernende, die in die Welt der Figuren dringen, die unserem Leben entgegenstehen. Die Produktions­ leitung, unsere Theaterchefin und Chef bieten eine Chance und Wahl der Fragestellung und der Wahrnehmungen. Sabine Winterfeldt und Christian Schodos spielen mit uns »aus dem Augenblick« heraus. Entscheidend ist die kreative Auseinander­setzung mit verschiedenen Themen und die Veränderung der Perspektive. Was ist Würde? Sie ist prägend für Ruhm und Ehre in der äußeren Erscheinung. Die eigene Sinnhaftigkeit ist der Moral unterworfen und wird von der Gesellschaft bewertet. Abweichungen sind nicht unwürdig, sondern werden als öffent­ liche Schande benannt mit Einschränkungen des Daseins oder aber: ich würde gern ein Handy haben! Mit dem ersten Gruppentanz wurden Gefühle mit körperlichem Ausdruck und dynamischer Bewegung gefunden. Diese wurden vom Kameramann, von Jarek R. aufgefangen und festge­ halten. Die Sprache des Körpers bringt etwas zum Ausdruck, das in Worte vielleicht nie erfasst werden könnte. Durch das Knast-Theater drücken wir uns und unsere Haltbarkeit in der Gesellschaft aus. »Nehmt uns ernst!«

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Magazin der Inhaftierten der JVA für Frauen Berlin Pankow, Mai 2012

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Brief

Die Darstellerinnen des Theaterprojekts begeben sich auf eine erdichtete Reise durch Traum und Wirklichkeit. Im Gepäck Angst, Sehnsucht und Ideenfragmente. Das Theaterstück wurde zu einem fiktiven Film umgeformt und wir sind die Spielbälle der Welt. Die Erzählung mit Bevorzugung des Wunderbaren; nicht Vorhandenes und Geschehenes wird als vorhanden und geschehen angenommen. Jede weibliche Person lässt sich vereinzelt von eigenen Erinnerungen treiben und formuliert die persönliche Haltung zur Wahrnehmung. Die Produktion gewinnt ihre besondere Bedeutung mit der Darstellung der unter­schiedlichen kostümierten und kosmetischen Schönheiten. Ein einziges Leben meistern wir in zwei unterschiedlichen Welten. In dem Projekt werden die Bestandteile zerlegt und in einem Film neu zusammen­gefügt. Die Hintergrundorte zeugen Umbrüche, als Übergang zwischen den Zeiten, die die Zuschauer »verzücken« werden. Der Film erzählt vom Leben, vom Unglück, vom Abstieg und vom monströsen Ruhm; es ergeben sich keine bürgerlichen Zwänge. Unser Credo: konsumiere, sei reich und illusionslos. Das alte, ewig neue Empfinden von Vertrautheit, Enttäuschung, Eifersucht und Angst entsteht, wächst und vergeht mit überraschenden Wendungen. Wie bisher können wir nicht weitermachen und so halten wir an und suchen – jeder für sich – nach neuen Wegen. Die Produktion zeigt in nachvollziehbaren Schritten die Überwindung des inneren Schweine­hunds, die selbständige Weiter­entwicklung, mit dem kreativen Protest zu leben.

Oft glühen die Gefühle so sehr, dass Sicherungen durchbrennen – gleichwohl auch ein ungeheurer Kraftakt. Ich spüre die Lebhaftigkeit, aber ich spüre auch einen Widerstand gegen die ungewohnten Sinnesempfindungen. Für mich ist das »andere Spielen« eine seelische Erfahrung, ohne Momente der Stille. Es löste sich eine innere Bewegung, eine Selbsterkenntnis, die unter die Haut geht, wenn Erlebnisse des eigenen Lebens verknüpfbar sind. Aber ich muss nicht immer über mich selbst nachgrübeln, interessant ist die Figur, die man spielt. Das Ausloten des eigenen Platzes in der regierenden Welt wird bestimmt durch das Sprechen. Die Wörter werden lebendig durch Form, Klang und Körper. Sie mischen unser Leben auf. »Aber oft ist das Wort der Schatten der Wirklichkeit.« (Bruno Schulz) Das Gipfeltreffen am runden »Sandtisch«, mit ihm geraten die Zuschauer in einen überdrehten Strudel von miteinander verwobenen Ansichten, die nach eigenen rechthaberischen Regeln ablaufen. Der Griff an meinen wallenden, steifen, langen Rock war für mich ein Erkennungszeichen der Damen höheren Standes der Jahrhunderte, abgesehen vom Korsett, welches Brüste in die Höhe schnürt. Sie prallen aus dem Ausschnitt, über dem am Hals ein steifer runder Plisseekragen aufgehängt ist. Ein Rundgang von aktuellen und »histo­rischen« fiktiven Darstellungen und eine Perücke umschmeicheln mein Antlitz. Wir sind Schönheiten der Welt.

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Natürlich darf eine weiße, fast farblos regierende Naturschützerin mit ­ökologischen Ansätzen nicht fehlen, aber auch die erotisch-wild regierende Angreiferin mit der klirrenden Metallhand verkündet ihre Forderungen neben weiteren Verhandlungen – ein aufregender Anblick. Die »Mutter Erde« ist eine Figurantin; eine fast stumme Person, die mit Gelassenheit zu den Regierenden schaut mit dem Blick über Völkerball. »Die Stimme des Einzelnen auf würdevolle Spurensuche im Haus der Vergangenheit« Aus den höfischen Verhandlungen wird jedoch bald eine fast gefährliche Konfrontation ohne schleimige Unterwürfigkeit. Oft wird eine erdichtete Zukunft noch geträumt auf unsicherem Grund und Boden, aber es entstehen Gedanken zu einer einheitlichen, regierenden Zukunft in einem abschließenden schnellen gemeinsamen »Tanzkreis«. Er umwölbt die Zeit der Feind-Freund-Gemeinschaft. Wir haben miteinander Antworten gefunden! Wir danken der professionellen Theater­führung für die »Gesprächstherapie«, für die Kostü­mierung und Schminktechnik der Verjüngung und für die liebevolle Versorgung und Geborgenheit. Eine eindrucksvolle, phantastische Regie- und Kameraführung mit verbleibenden Momenten der Freude. Einige inhaftierte Frauen wurden in den offenen Vollzug verlegt und erleben die freiheitliche »Teilwelt«. Eine kleine Theatergruppe verbleibt in der JVA. Herzlichen Dank für die Ermöglichung und für das Gelingen des Projekts. Die geschenkten Fotos hinterlassen bleibende Erinnerungen an das »schauspielerische« Theater im regierenden Verlies.

IRENE

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Ausverkauftes Haus und  tosender Beifall im Berliner Kino BABYLON  Eine Projektpräsentation.

Berlin-Mitte, 25. September 2012. Premiere im BABYLON. Das legendäre Kino mit seinen rund 500 Plätzen ist ausverkauft. Und das, obwohl hier keine bekannten Schauspieler zu sehen sind, es läuft kein Kultfilm, keine deutsche Erstaufführung. Auf dem Programm steht die Präsentation eines Gefängnisprojekts. Neun Monate lang hat ein Team von SchauspielerInnen in drei Berliner Haftanstalten gearbeitet, parallel dazu haben sich Inhaftierte aus dem offenen Vollzug und Haftentlassene in der sogenannten Draußenwerkstatt zum Proben getroffen. Das Thema der wöchentlichen Trainings: Würde. Entstanden sind ein Film und ein Theaterstück. Schon vor Beginn der Aufführungen ist das Thema präsent. Im Foyer stehen Kulissen und Texttafeln, im Kinosaal sind kurze Texte zu hören, geschrieben und gesprochen von Inhaftierten der Jugendstrafanstalt BerlinPlötzensee.

»Dornenkronen«. Der Film. Zunächst wird der Film »Dornenkronen« gezeigt, Regie, Kamera und Schnitt: Jarek Raczek. Eine Apokalypse, die am letzten Tag des 3. Weltkrieges irgendwann im Jahr 2020 spielt. Frauen werden entführt, per Los wurden sie auserwählt, um als neue Herrscherinnen die Welt in eine bessere Zukunft zu führen. Der Film ist eine Collage aus Szenen und Fragmenten, aus starken, verstörenden Bildern und absurden Situationen. Da werden

Charaktere und Lebenseinstellungen sichtbar, manchmal scheinen Schicksale durch. Alle, die hier spielen, sind Inhaftierte. Die »Königinnen« sitzen in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin-Pankow ein. Die smarten Bodyguards in den dunklen Anzügen verbringen ihre Zeit hinter den Gefängnismauern in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Und die jungen Frauen, die als Volk kritische Fragen stellen, sind Inhaftierte aus der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin-Lichtenberg.

»Let’s dance«. das Theaterstück. Nach dem Film folgt das Theaterstück »Let’s dance«, das unter der Leitung von Regisseur Fritz Bleuler in der Draußenwerkstatt entstanden ist. Männer und Frauen zwischen 19 und 43 Jahren stehen auf der Bühne, die zu einer Landungsbrücke wird. Die Gruppe ist unterwegs, wandelt zwischen zwei Welten: Auf der einen Seite ist die »Arche«, die sie zurzeit bewohnen, auf der anderen B, der Sehnsuchtsort, den sie erreichen wollen. Um dort (wieder) aufgenommen zu werden, müssen sie eine Prüfung bestehen, die durchaus symbolischen Charakter hat: Vortanzen. Ausgerechnet Standardtänze werden den Kandidaten abverlangt. Sie üben die ihnen fremden Bewegungen und versuchen, den Rhythmus zu finden. In Matrosenanzügen wagen sie sich unsicher aufs Parkett – zum Vergnügen des Publikums. Ein Contest wie im Fernsehen, mit einer Moderatorin, die unerbittlich das Einhalten der strengen Regeln fordert. Dabei

findet das eigentliche Geschehen nicht beim Schautanzen im Rampenlicht statt. Es entwickelt sich aus den Gesprächen der Wartenden am Rande. Hier kommen Angst und Wut, Hoffnung und das Ringen um Würde zum Vorschein. Als der Vorhang fällt, ist die Begeisterung des Publikums groß. Die AkteurInnen sind sichtbar glücklich und erleichtert: Die Sonnenblumen, die sie an diesem Abend bekommen, werfen sie befreit ins Publikum.

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SECHS KÖNIGINNEN    TROTZEN DEM WELTUNTERGANG Der Film »Dornenkronen« stellt die Frage nach Gerechtigkeit und Verantwortung Stefan Keim

Die Welt ist zerstört. Mit Schwarzweißbildern einer Katastrophe beginnt der Film ­»Dornenkronen«. Im Fenster eines zerbombten Hauses steht eine Frau. Hinter ihr taucht ein Mensch in Ganzkörperschutzanzug auf, stülpt ihr einen Sack über den Kopf, wirft sie sich über die Schulter und nimmt sie mit. Die ersten fünf Minuten sehen aus wie ein düsterer Science-Fiction-Film über eine Gesellschaft jenseits der Menschlichkeit. Auf einem Laster lernen sich sechs entführte Frauen kennen. An ihrem Ankunftsort treffen sie einen Hubschrauber. Daraus ertönt per Lautsprecher eine Stimme, die ihnen die Aufgabe stellt, die Welt zu retten. Die Politiker haben es verbockt, nun müssen die willkürlich zusammengeworfenen Mädels ran. Jede bekommt einen Erdteil zugewiesen und ist nun Königin. Die Gesichter der Darstellerinnen erzählen eine Menge. Auch und gerade wenn sie keinen Text haben. Da ist Irene, mit scharfen Linien im Gesicht und klugen, melancholischen Augen. Im Theater könnte man sie mit der Rolle der Kassandra besetzen, der Seherin aus den antiken Dramen, die schlimme Dinge vorhersagt, ohne dass ihr jemand Glauben schenkt. Dennoch wendet sich Kassandra nicht ab, sondern versucht immer wieder, ihre Mitmenschen zu überzeugen. Irene schaut direkt in die Kamera, verletzbar, mit großer innerer Stärke. Eine, die was aushalten kann, auch wenn sie manchmal weint. Carmen ruht in sich. Sie wirkt wie ein Fels, eine Latina mittleren Alters, die um sich eine eigene Sphäre errichtet. Später sieht man, wie stark sie im christlichen Glauben verwurzelt ist. Die Religion ist der unhinterfragte Leitfaden ihres Lebens. Einmal sagt sie: »Alles wird gut«. Sie weiß nicht, woher sie diese Zuversicht nimmt, aber sie hat sie. Ganz anders die junge Dalida, die schon direkt nach der Entführung durch die Männer in den Schutzanzügen immer wieder Lachanfälle bekommt. Man könnte sie für liebenswert und fast schüchtern halten, solange sie den Mund hält. Doch in Dalida vibriert eine Menge ungebändigter Energie. Sobald sie eine Gelegenheit hat, bricht sie aus wie ein Vulkan, schimpft, beleidigt, ballert mit einer Maschinenpistole herum und fordert immer wieder Party. Ein erwachsenes Kind, das mit echten Waffen spielt. Dalidas wilder Lebensmut birgt viel Verzweiflung. Franzi mit ihrer blonden Kurzhaarfrisur ist eine nachdenkliche Intellektuelle. Oft sieht man ihr Gesicht in Großaufnahme mit unbewegten Lippen, während sie auf der Tonspur Rilkes Gedicht »Der Panther« zitiert. Einer der ergreifendsten Texte zum Thema Gefangenschaft. Wenn Franzi flucht, klingt es, als denke sie über die Begriffe »Arschloch« und »Dreckschwein« nach. Sie wird später eine der konstruktivsten Königinnen, die den »Ausverkauf der Erde« aufhalten will. Naive Selbstgewissheit verströmt Susi, die Königin von Sylt und Afghanistan. Auf die Frage einer Journalistin, was ihre erste Tat als Regentin nach den vielen Jahren des Krieges sei, antwortet sie: »Jedermann, der hässlich ist, kriegt eine Schönheits-OP, und dann sehen wir mal weiter.« Denn Schönheit sei für jeden wichtig. So präsentiert Susi sich auch dem Volk, in eleganter Abendgarderobe, lächelnd, auch wenn sie heftig angegriffen wird. Alles mit Humor zu nehmen lautet ihre Devise. Dass niemand ihre Ideen von einem steuerfreien Leben ernst nimmt, löst keine Zweifel aus. Den einen gefällt man halt, den anderen nicht. So einfach ist das.

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Mit ihrem leichten Lispeln erinnert Rosi, die sechste im Königinnenbunde, an Angela Merkel. Auch ihre Statur hat Kanzlerinnenformat, klein, etwas gedrungen. Doch den Vergleich mag sie überhaupt nicht. Rosi hat seltsame Ideen, zum Beispiel will sie die Antarktis für den Tourismus erschließen. Eine Wellness-Oase in der Eiswüste. »Der Schnee bleibt weiß«, lautete einer ihrer Sätze bei der Gipfelkonferenz der Königinnen. Männer kommen im Film »Dornenkronen« nur am Rande vor. Was nicht verwundert, denn die Grundidee des Films entstand in der JVA für Frauen in Berlin-Pankow. Dort wurde auch gedreht, in einem etwa 40 Quadratmeter großen Raum, vor einem sogenannten Green Screen. Dieser ermöglicht es, später verschiedene Spielorte als Hintergrund in die Aufnahmen hinein zu montieren. Dass es nicht möglich war, an Schauplätzen außerhalb des Gefängnisses zu drehen, gibt dem Film eine große Künstlichkeit. Denn natürlich sieht man, dass die Königinnen nicht wirklich in einer Ruinenlandschaft stehen. Aus dieser Notlage machte das Künstlerteam, das mit den gefangenen Frauen arbeitete, allerdings eine Tugend. Denn nach dem überraschenden Beginn versucht der Film gar nicht erst, eine realistische Atmosphäre zu erzeugen. Wie in einem Traum vermengen sich die Bilder. Hinter der Fassade einer zerstörten Mauer dreht sich ein Riesenrad, auf dem »Liberty Wheel« steht. Bilder von Volksmassen wurden ebenso in den Film hineingeschnitten wie ihre Geräusche. Die Handlung folgt auch nicht den Regeln eines Genrethrillers. Sondern den Gedanken der Königinnen und der heftigen Kritik, der sie durch die Überlebenden ausgesetzt sind. Wie in einem Traum wechseln die Schauplätze. Da gibt es einmal die Diskussion der Königinnen auf der Gipfelkonferenz, dann ihre Reden an das Volk, schließlich Fragen von Journalistinnen. Die Szenen aus der Pressekonferenz

sind als einzige in Farbe gedreht worden, alle anderen in schwarzweiß. Auch das lässt gar nicht erst den Gedanken aufkommen, hier solle Wirklichkeit vorgetäuscht werden. »Dornenkronen« ist ein Film über die Menschen, die darin zu sehen sind. Obwohl die Frauen Rollen spielen, erzählen sie viel über sich selbst, ihre Träume, Frustrationen, Ängste. In einem Dokumentarfilm hätten sie sich anders geäußert. Das Spiel ermöglicht nicht nur ihnen, sondern auch den Zuschauern einen lockeren Blick. Dalida macht es enormen Spaß, sich als gewissenloses Partygirl zu präsentieren, als sei sie einem Film von Robert Rodriguez entsprungen. Franzi und Irene hingegen wirken introvertierter. Wahrscheinlich brauchen sie einen Rahmen, wie ihn die Handlung und die Rollenprofile bieten, um sich zu öffnen. Die Hauptleistung des Films besteht allerdings darin, dass man kaum an den sozialpolitischen Hintergrund dieses Projekts denkt. Vielschichtige, authentische Charaktere treten einem da entgegen, die man so aus Film und Fernsehen nicht kennt. Man ahnt, dass hinter jeder dieser Frauen eine tragische Geschichte steckt. Doch die wird nicht thematisiert, und das ist gut so. Denn dadurch eröffnet der Film Assoziationsräume. Man achtet nicht so sehr auf Taten, die trennen, sondern auf Gedanken und Gefühle, die verbinden. Es geht nicht nur um die Königinnen. Vier Überlebende schlagen sich zum Zufluchtsort durch, von dem aus die Geschicke der Menschheit neu geregelt werden sollen. Schwarz gekleidete Anzugmänner mit Sonnenbrillen versperren ihnen den Weg. Es ist der Gesang einer der Frauen, der sie betört, lähmt, aus dem Weg gehen lässt. Das ist eins von vielen märchenhaften Motiven in diesem Film.

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Die Überlebenden wagen es, den Königinnen zu widersprechen. Sie verlangen Freiheit, Gerechtigkeit, haben nichts zu verlieren und keine Lust mehr, sich mit schönen Worten abfertigen zu lassen. Die Auffälligste von ihnen, ein unzählige Male gepierctes und heftig geschminktes Stachelgirl, spricht vom »Dreckskapitalismus«. Sie sprechen leise, müssen nicht brüllen, um vom Volke verstanden zu werden. Skeptisch sind ihre Blicke, das Träumen haben sie längst verlernt. Aber immerhin sind sie da, hören zu, diskutieren, wollen die Zukunft trotz aller Enttäuschungen mitgestalten. Sie gehen nicht in den Untergrund und machen eine Terrorzelle auf. Mit diesen Frauen könnte man im wahrsten Sinne des Wortes Staat machen. Aber das kriegen die Königinnen nicht mit. Sie reden von Erotik und Wellness, von Religion und Partys. Die Last der Dornenkronen und der plötzlichen Verantwortung überfordert sie und drückt aufs Hirn. Auf der Pressekonferenz herrscht ebenfalls ein nüchterner Ton. Auch aggressive Fragen werden ruhig gestellt, denn die Fragenden wollen eine Antwort, nicht nur die Bestätigung ihrer Vorurteile. »Würden Sie auf Ihr Volk schießen?«, ist eine dieser Fragen. Dalida sitzt da mit einem Maschinengewehr in der Hand und sagt nicht eindeutig, dass sie es tun würde. Aber die Gesten erzählen mehr als es Worte können. Der Titel »Dornenkronen« könnte falsch verstanden werden. Die gefangenen Frauen werden nicht als Märtyrerinnen stilisiert. Hier ist niemand ein Heiland, der die Welt erlösen wollte und unschuldig ans Kreuz genagelt wurde. Die frisch ernannten Königinnen sind ebenso ratlos, korrupt, versponnen und brutal wie viele reale Machthaber auch. Vielleicht wären die Überlebenden, deren Worte so vernünftig klingen, ähnlich überfordert, wenn sie die Macht übernehmen müssten. Kronen sind nun mal dornig, so könnte man den Titel jenseits der religiösen Bedeutung verstehen. Wer sie sich aufsetzen lässt, blutet. Und verletzt damit auch andere. Lange verzichtet der Film auf klare Botschaften. Erst gegen Ende mischen sich einige Sätze hinein, die ganz direkt in die Köpfe der Königinnen und Überlebenden aus dem Volke zu führen scheinen. »Wir sind unsere eigenen Teufel«, lautet einer. »Wir vertrieben uns selbst aus dem Paradies.« Und dann geht es zur Sache. Die Frauen stellen Fragen, auf die sie außerhalb aller Filmgeschichten gern eine Antwort hätten. »Warum gelten für uns andere Gesetze? Warum sperrt man uns ein? Und nicht euch? Kriege sind doch euer Werk. Aber nur wir sitzen hier.« Diese Fragen wirken nach.

Stefan Keim ist freier Kulturjournalist, Autor, Moderator und Entertainer. Er arbeitet regelmäßig für den WDR, das Deutschlandradio Kultur, die Welt und die Deutsche Bühne. Er schreibt Bücher, Kabarettprogramme, Theaterstücke und steht auch selbst oft auf der Bühne. Er lebt in Wetter an der Ruhr.

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Von temporären Freiräumen und dem menschlichen Kontakt zwischen den Gitterstäben Ein Gespräch über Gefängnistheater zwischen den Kontinenten von Mirella Galbiatti und Till Baumann

Till Baumann: Mirella, wir wollen uns über das unterhalten, was wir beide seit Jahren machen: Gefängnistheater. Mirella Galbiatti: Ja, und ich freue mich, dass wir mit diesem Gespräch zur Publikation »Freispieler – Theater im Gefängnis« über die Projekte von Minor e. V. beitragen können. Till Baumann: Wir haben uns vorgenommen, dabei von zentralen Zitaten auszugehen, die wir als bedeutsam für unsere Arbeit erachten. Beide haben wir Schlüsselsätze ausgesucht, die wir zur Grundlage dieses Gespräches machen wollen. Ich schlage vor, dass wir mit einem Zitat von Michel Foucault beginnen. Es kommt in deiner aktuellen Performance »Poema Solo« vor, die sich mit dem Eingeschlossensein inner- und außerhalb der Institution Gefängnis auseinandersetzt. Mirella Galbiatti: Du meinst den Satz: »Ist es erstaunlich, dass das Gefängnis den Fabriken ähnelt, den Schulen, den Kasernen, den Krankenhäusern, und diese ihrerseits dem Gefängnis?« Till Baumann: Genau. Wenn das Gefängnis so universal ist, was ist dann das Spezifische daran, das es von den anderen Orten unterscheidet? Mirella Galbiatti: Mir fallen in der Tat zunächst einmal die vielen Gemeinsamkeiten zwischen diesen Orten ein. Lass mich nachdenken… der grundlegendste Unterschied ist sicherlich, dass der Mensch im Gefängnis jedes Recht auf Bewegungsfreiheit verliert. In den Fabriken, Schulen, Kasernen und Krankenhäusern ist es in der Regel möglich hinauszugehen. Im Gefängnis gibt es ein absolutes Verbot, die Institution zu verlassen. Die Menschen geben sogar ihre Ausweise ab und damit ihre rechtliche Identität. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Till Baumann: Ich habe hier ein weiteres Zitat, es ist von Augusto Boal, dem brasilianischen Begründer des Theaters der Unterdrückten. Er schreibt über seine Theaterarbeit im Gefängnis: »Schon zu Beginn des Projekts entdeckten wir das Offensichtliche: Gefangene sind gefangen im Raum, aber frei in der Zeit – wir hingegen sind im Gegensatz dazu meist frei im Raum, aber gefangen in der Zeit.«

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Mirella Galbiatti: Diesen Satz habe ich zum ersten Mal in Buenos Aires gehört, als ich bereits im Gefängnis arbeitete. Schon damals hat er mich fasziniert, darin steckt sehr viel Wahres. Auf der anderen Seite habe ich jetzt in Europa die Erfahrung gemacht, dass es manchmal etwas absurd sein kann, vom »frei sein im Raum« zu sprechen. Wenn ich neben meinem argentinischen keinen spanischen Pass hätte, könnte ich mich in Europa nicht frei bewegen und wäre vermutlich schon längst abgeschoben worden. So gesehen hat der Satz für mich in Berlin eine neue Bedeutung bekommen. Übrigens haben mich Boal und sein Theater der Unterdrückten auch sonst immer wieder sehr inspiriert. Für ihn kann Theater dazu beitragen, Realität zu verändern und sich zu befreien, was natürlich etwas widersprüchlich klingt… Till Baumann: …Boals Theater der Befreiung in einem Kontext, der alles andere als frei ist, im Gegenteil… Mirella Galbiatti: …genau. Das klingt widersprüchlich, ist es aber letztlich nicht. Till Baumann: Augusto Boal schreibt: »Theater der Unterdrückten schafft Freiräume, in denen Menschen ihre Erinnerungen, Gefühle, ihre Phantasie, ihre Gedanken über die Vergangenheit und die Gegenwart befreien können und in denen sie ihre Zukunft erfinden können, anstatt auf sie zu warten.« Mirella Galbiatti: Ein wunderbarer Satz über die Arbeit mit Erinnerung, mit Identität und darüber, uns als Menschen mit Rechten fühlen zu können, die ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Aber was bedeutet er in der Praxis? Das stellt für mich als Künstlerin eine große Herausforderung dar. Es gibt einen ungarisch-brasilianischen Schriftsteller und Philosophen, der auch in der Psychi­ atrie arbeitet, Peter Pál Pelbart. Er fragt: »Wie kann ein Prozess gestaltet werden, der Literatur und Leben von dem befreien kann, was lebensfeindlich und einkerkernd ist?« Till Baumann: Wie würdest du diese Frage beantworten? Mirella Galbiatti: Wir können es durch das Theater, durch die Kunst versuchen. Zum Beispiel wird im Gefängnis das gemeinsame Schaffen eines Theaterstücks, eine creación colectiva, nur möglich durch die Begegnung unterschiedlicher Subjektivitäten und durch die Arbeit mit verschiedenen menschlichen Sprachen und Ausdrucksformen. Das Erleben und Gestalten dieses Prozesses kann dazu beitragen, diesen lebensfeindlichen Ort eines Tages hinter sich zu lassen – und nicht wieder zurückzukehren.

Till Baumann: Ich habe hier noch etwas, diesmal kein Zitat, sondern ein Foto (S. 79). Der Umgang mit der Schwarz-Weiß-Symbolik darauf mag ein wenig fragwürdig erscheinen, aber dennoch spricht das Bild für mich einen wichtigen Aspekt unserer Arbeit an. Ob in Berlin oder Lateinamerika, die Institution Gefängnis isoliert Menschen, wirft sie auf sich selbst zurück, individualisiert sie in einem Kontext von Misstrauen und Gewalt. Eine kollektive künstlerische Arbeit kann dazu beitragen, diese räumliche und seelische Isolation wenigstens temporär zu überwinden, sie kann sozusagen menschlichen Kontakt zwischen den Gitterstäben herstellen. Mirella Galbiatti: Ja, das ist auch meine Erfahrung, ob in Argentinien oder in Deutschland: Theater kann dabei unterstützen, in Kontakt miteinander zu kommen, zusammenzuarbeiten oder auch einfach gemeinsam zu lachen, obwohl der Ort überhaupt nicht zum Lachen ist. Till Baumann: Mich hat zum Beispiel bei unserer jahrelangen Arbeit mit männlichen Jugendlichen in der Jugendanstalt Rassnitz in Sachsen-Anhalt immer wieder beeindruckt, wie viel Mechanisierung, Verhärtung und Abgrenzung notwendig sein muss, um im Knast leben oder überleben zu können. Theater machen erfordert hingegen den ganzen Körper, braucht viel Bewegung, bezieht das Herz und die Seele ein, es benötigt eine Ent-Mechanisierung der gewohnten Abläufe, und das Ganze funktioniert nur gemeinsam mit anderen. Wer sich darauf einlässt, hat die Chance, eine Erfahrung kollektiver Kreativität zu machen, was für viele der jungen Männer dort eine neue Erfahrung ist. Manche überraschen sich dabei selbst, da sie nicht in der Lage zu sein glaubten, Schauspieler und Ko-Autoren eines Theaterstückes zu werden, auf der Bühne zu stehen – und dafür Anerkennung und Applaus zu bekommen… Mirella Galbiatti: …und auf diese Weise nicht mehr nur als Gefangene oder Gefangener wahrgenommen zu werden, sondern auch als Schauspielerin oder Schauspieler. Das kenne ich auch aus meiner Arbeit in der argentinischen Stadt La Plata. Die Jugendlichen im dortigen Knast kommen aus marginalisierten gesellschaftlichen Verhältnissen, kennen die Welt der pandillas, der Jugendbanden, aus nächster Nähe und haben viel Erfahrung darin, in der Gesellschaft als böse und für immer bandenkriminell stigmatisiert zu werden. Gruppenerfahrungen sind für sie meist mit Gewalt und dem gemeinsamen Begehen von Straftaten verbunden. Einen Prozess der creación colectiva zu erleben bedeutet für sie auch ein anderes Erleben von Gruppe. Sie können gemeinsam mit anderen kreativ sein, spielen, ein Theaterstück auf die Bühne bringen, zu Künstlerinnen und Künstlern werden. Aber nicht auf Kosten der anderen, sondern nur gemeinsam mit den Anderen. Diese Erfahrung kann ihnen dabei helfen, sich dann auch draußen in anderen Gruppenlogiken zu bewegen als in denen der pandillas.

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Till Baumann: Du kennst Knastrealitäten in Berlin und Buenos Aires und wir haben viel über die Gemeinsamkeiten geredet. Was ist dir denn an Unterschieden aufgefallen? Mirella Galbiatti: Das werde ich öfter gefragt. Ich sage dann immer: Das Prinzip Strafvollzug und die dahinterstehende Logik sind das Gleiche, der Unterschied liegt im Standard der Unterbringung. In den Frauengefängnissen in Ezeiza wohnen die Gefangenen zum Beispiel in großen Schlafsälen, in Pankow oder Lichtenberg sind sie eher in Einzel- oder Zweierzellen untergebracht. Ein weiterer Unterschied ist, dass es in vielen lateinamerikanischen Gefängnissen starke Gefangenenselbstorganisationen gibt. Aber im Allgemeinen gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, würde ich sagen. Till Baumann: Nochmal zurück zu dem Foto und dem menschlichen Kontakt zwischen den Gitterstäben. Ein Stück weit steht das für mich auch für den Versuch, den wir in den letzten Jahren zwischen unseren unterschiedlichen Gefängnistheaterprojekten in Argentinien und Deutschland unternommen haben, nämlich über Gefängnismauern, Grenzen und Meere hinweg Kommunikation zwischen inhaftierten Menschen und ihrer künstlerischen Arbeit herzustellen. Zuerst über die Forumtheaterproduktionen »lotte«, »lola« und »lili«, wo wir zunächst im Roten Ochsen in Halle und dann in zwei Gefängnissen in Buenos Aires mit Frauen an biografischen Geschichten gearbeitet haben. Verbindendes Element war dabei eine lebensgroße Figur aus Holz und Gips, die von den Frauen in Halle gebaut worden war und dann mit Unterstützung des Goethe-Instituts nach Argentinien reiste. Letztlich entstanden mit »lotte«, »lola« und »lili« drei unterschiedliche, aber eng verbundene Identitäten, die zu den Protagonistinnen der Forumtheaterstücke wurden. Mirella Galbiatti: Eine andere Art von Kommunikation zwischen den Kontinenten haben wir dann im Projekt »frei sein« realisiert, an dem zunächst Freigängerinnen aus Buenos Aires, dann Freigänger aus Rassnitz mitgearbeitet haben. Sie haben an verschiedenen Orten und mithilfe unterschiedlicher künstlerischer Formen recherchiert, was »frei sein« eigentlich alles bedeuten kann. Sie haben Gedichte geschrieben, fotografiert, gemalt, gefilmt… ein Teil des Materials reiste dann von Argentinien nach Deutschland und floss in die Arbeit in der Jugendanstalt Rassnitz ein. Es entstand zum Beispiel ein gemeinsames Video, in dem Passanten sowohl auf der Plaza Once in Buenos Aires als auch auf dem Halleschen Marktplatz von Freigängerinnen und Freigängern dazu interviewt werden, was für sie »frei sein« bedeutet.

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Till Baumann: Dabei habe ich den Eindruck, dass es paradoxerweise fast einfacher ist, Gefängnistheaterarbeit auf verschiedenen Kontinenten miteinander zu verbinden als am selben Ort. Als wir 2007 in Halle »lotte« im Roten Ochsen gemacht haben und im Anschluss »anton« in der Jugendanstalt Rassnitz, hätten wir am liebsten die jungen Männer und Frauen aus beiden Theatergruppen zusammengebracht, damit sie die jeweilige Arbeit sehen können. Aber leider galt diese Art von »Gefangenenkontakt« als Sicherheitsrisiko und war für die Anstaltsleitung undenkbar.

Till Baumann: Die Utopie einer Gesellschaft ohne Gefängnisse? Mirella Galbiatti: Die Utopie einer Gesellschaft, die keine Gefängnisse braucht. Till Baumann: Da gibt es auch draußen noch eine Menge zu tun. Mirella Galbiatti: Ja, das stimmt.

Mirella Galbiatti: In diesem Sinne finde ich es beeindruckend, wie Minor in Berlin über die Arbeit mit unterschiedlichen Medien künstlerisch-pädagogische Projekte in mehreren Berliner Gefängnissen miteinander verbindet. Beispielsweise waren an einer Filmproduktion männliche Jugendliche aus der Jugendstrafanstalt in Plötzensee und dem Frauenvollzug in Pankow und Lichtenberg beteiligt, als Schauspielerinnen, Klangproduzenten und Ko-Autorinnen. Till Baumann: Das finde ich auch bemerkenswert. Vielleicht noch zum Abschluss unseres Gesprächs: Das Foto erscheint mir auch deshalb interessant, weil darauf einerseits deutlich wird, dass das Spiel durch die Gitterstäbe den Kontakt zwischen den gefangenen Menschen möglich macht. Andererseits werden die Gitterstäbe an sich aber nicht in Frage gestellt. Wie kritisch auch immer wir diese Institution Knast in ihrer aktuellen Form sehen, wir müssen uns ein Stück weit auf sie und ihre grundlegenden Regeln und Abläufe einlassen, um mit den Menschen arbeiten zu können, mit denen wir arbeiten wollen. Auch wenn wir zum Thema »frei sein« arbeiten, wenn wir die Phantasie anregen und gemeinsam mit der Gruppe temporär einen anderen Ort entstehen lassen, enden die »Freiräume«, von denen Boal spricht, rein physisch immer an der nächsten Tür, für die man keinen Schlüssel hat. Auch das ist das Gleiche in Buenos Aires, in Berlin oder in Rassnitz. Mirella Galbiatti: Ja, und das stellt für mich letztlich den größten Widerspruch bei unserer Arbeit dar. Im Knast kann Theaterarbeit zwar dazu beitragen, dass sich Menschen zumindest zeitweise freier fühlen, aber letztlich gibt es eine Realität, der wir nicht entkommen können, weder die Gefangenen noch wir selbst. Was uns vielleicht gelingen kann, ist im Deleuze’schen Sinne »Risse« oder »Spalten« zu schaffen, mit deren Hilfe auf lange Sicht die Mauern ins Bröckeln geraten können. Symbolisch oder real.

Das Gespräch wurde in spanischer Sprache geführt und von Till Baumann übersetzt.

Literaturangaben: Boal, Augusto: Juegos para actores y no-actores, Barcelona 2001. Foucault, Michel: Vigilar y Castigar, Buenos Aires, Mexico 2008. Pelbart, Peter Pál: Filosofía de la Deserción, Buenos Aires 2009. Mirella Galbiatti ist Schauspielerin und Theaterpädagogin aus Buenos Aires, Argentinien. Sie arbeitet in Argentinien und Deutschland, insbesondere im Bereich community-Theater, mit Frauengruppen sowie im Strafvollzug, seit 2010 auch für Minor e. V. in Berlin. Till Baumann ist Theatermacher und lebt in Berlin. Sein Schwerpunkt sind die Theateransätze Augusto Boals, mit denen er in Europa und Lateinamerika arbeitet. Seit 2004 macht er gemeinsam mit Katrin Wolf für Miteinander e. V. und Theater-Dialog Theater mit inhaftierten Jugendlichen und Erwachsenen in Sachsen-Anhalt. Beide arbeiten seit Jahren in Theaterprojekten zwischen Berlin und Buenos Aires zusammen.

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So ein Theater – und das im Häfn! Ein (österreichisches) Plädoyer für das Theater im Gefängnis

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Seit 13 Jahren leite ich eine Theatergruppe in einem Hochsicherheitsgefängnis in Oberösterreich. Trotz teils massiver Systemabwehr, die sich in Form von Widerständen zeigt, und vieler Unannehmlichkeiten dachte ich nie daran, das Projekt aufzugeben. Zu sehr berührten mich die Erlebnisse, die ich im Rahmen dieser Arbeit machen durfte. Da ich aber besser verstehen wollte, warum auf der einen Seite das Erlebnis »Theater« für die beteiligten Insassen so bereichernd ist, und warum auf der anderen Seite das System Gefängnis so große Probleme hat, solche Projekte zuzulassen, machte ich mich im Rahmen meiner Dissertation daran, qualitative Interviews mit allen Beteiligten durchzuführen. Im Folgenden möchte ich nun einladen, die Perspektive der Schauspieler einzunehmen und so eine Idee zu bekommen, was denn Theater im Gefängnis für die Mitwirkenden bedeuten kann und welches die wichtigsten Themen für die beteiligten Insassen sind.

1. AuSSenwahrnehmung Die Wahrnehmung durch andere ist ein zentrales Thema bei allen befragten Insassen, wobei die verschiedenen »anderen« mit unterschiedlicher Wichtigkeit beschrieben werden. Grundsätzlich ist aber das Publikum, das ins Gefängnis kommt, um sich eine Aufführung anzusehen, die wichtigste Quelle für das Feedback. Für einige andere erfüllt diese Aufgabe vorrangig die Regisseurin, aber auch die Kollegen der Theatergruppe oder die andere Bediensteten spielen hierbei eine wichtige Rolle. Über das Theaterspiel erhoffen sie sich, die Festlegung auf die ausschließliche Identität des Kriminellen durchbrechen zu können. Denn das System und die Gesellschaft versuchen, den Menschen eine bestimmte Bandbreite an Identitäten zuzusprechen. In der Außenwahrnehmung werden die Menschen auf wenige Teilidentitäten reduziert, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Gerade Häftlinge werden von Justiz und Gesellschaft meist nicht einmal auf mehrere Teilidentitäten reduziert, sondern oftmals nur auf eine einzige: »Einbrecher«, »Mörder« etc. Kein Wunder also, dass die am Theaterprojekt in Garsten beteiligten Insassen hoffen, diese negative, drastisch reduzierte Fremdwahrnehmung als »Verbrecher« verändern zu können. Die kreative Tätigkeit als Schauspieler wird als Chance wahrgenommen, ein anderes Bild, ein anderes Image in der eigenen und in der Wahrnehmung anderer zu schaffen. Im Gefängnis gibt es sehr wenig positive Anerkennung, für Bedienstete wie auch für Insassen. Normalerweise geschieht dies noch am ehesten über die Arbeit, wenn jemand als besonders fleißig, zuverlässig, diszipliniert und folgsam gilt. Über das Theater ist es nun plötzlich möglich, sehr viel positive Aufmerksamkeit für das eigene Tun zu bekommen – nicht nur für Disziplin und Fleiß, sondern auch für Kreativität, Humor, Ideen… So werden die Teilnehmer in ihrer Individualität sichtbar und dies in einer Umwelt, in der das »Sich-in-die-Masse-einordnen-müssen« eigentlich systemimmanent ist.

Sabine Sandberger

* Österreichisch für: Gefängnis

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2. Selbstwahrnehmung

4. Die Rolle der Regisseurin

Die Theaterarbeit schafft Momente der positiven Selbstwahrnehmung oft zum ersten Mal nach einer langen Zeit der Selbstunsicherheit, des Selbstzweifels und der eigenen Abwertung. Viele Insassen, gerade nach massiven Delikten, verlieren oft das Vertrauen in sich. Sie sind sich selbst fremd geworden. Die Theaterarbeit ermöglicht es nun, mit sich selbst wieder mehr in Kontakt zu kommen und sich positiv wahrzunehmen. Sie fördert den Selbstwert und das Vertrauen in die eigene Person und schafft letztlich einen Raum, in dem man sich selbst und auch das Kollektiv wirksam erleben kann. Auch ein »Auf-sich-stolz-sein-dürfen« nach dem Gelingen einer Aufführung und das positive Feedback des Publikums sind sehr wichtige Erfahrungen.

Die Rolle der Regisseurin ist sehr vielfältig, auf jeden Fall aber zentral. Von allen Teilnehmern werden das Bestehen der Theatergruppe und ihr Erfolg als von der Person der Regisseurin abhängig wahrgenommen. Meist wird die Regisseurin klar als Autorität erlebt, die auch die Letztverantwortung in der Gruppe übernimmt und auch übernehmen soll. Sie ist dafür verantwortlich, einen sicheren Rahmen zu schaffen, in dem sich die Gruppe gut entwickeln kann, und soll bei der Lösung von Konflikten helfen. Auch das Thema Gerechtigkeit kommt sehr häufig vor. Es gibt immer wieder Bedenken, dass es Lieblinge geben könnte, die bevorzugt werden. Durch die zentrale Stellung der Regisseurin in der Gruppe wird sehr genau beobachtet, wie sie mit jedem einzelnen umgeht und ob sie im Umgang Unterschiede macht. Sie hat in der Gruppe eine Modellfunktion, was die zwischenmenschliche Kommunikation und den Umgang mit Konflikten betrifft. Dass die Regisseurin (wie in meinem Fall) eine Frau ist, ist für einige durchaus ein Anreiz, an der Gruppe teilzunehmen. Ihre Rolle reicht also von der Regisseurin über die Therapeutin bis hin zur Übermutter oder gar zur möglichen Geliebten. Darüber muss sich jeder, der in einem solchen Setting arbeitet, klar sein und auch die Bereitschaft mitbringen, die eigene Position und das eigene Handeln ständig zu reflektieren und zu hinterfragen.

3. Die Gruppe In der Theatergruppe treffen sich Menschen, die sich durch die gemeinsame Arbeit sehr nahe kommen. Sie beginnen einander zu vertrauen, sich aufeinander zu verlassen. Auch fordert die Bühne sehr viel Sensibilität für die Mitspieler. Ich muss gut wahrnehmen, wer wann was »liefert«, um entsprechend darauf reagieren zu können. Deshalb gehört es immer zu den Vorarbeiten eines Stückes, ein arbeitsfähiges Team zu bilden (durch Übungen und Spiele). Alle Beteiligten realisieren, dass man nur im Miteinander erfolgreich sein kann und dass jeder individuelle Beitrag für das Gelingen des Gesamtprojekts wichtig und notwendig ist. Es entsteht Verständnis und im besten Fall Empathie für alle Mitwirkenden und deren Tätigkeiten, weil man beginnt zu erkennen, dass die anderen für den eigenen Erfolg unumgänglich sind. Eine ständige Kommunikation in der Gruppe ist notwendig, und es kommt natürlich auch zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten, die verlangen, konstruktiv gelöst zu werden. Das heißt also, dass ganz nebenbei sehr viel an sozialem Lernen stattfindet, da eine intensive Interaktion mit den anderen unvermeidlich ist. Von manchen wird die Theatergruppe deshalb auch als Familie oder Heimat beschrieben. Die Aufführung mit der Öffnung nach außen, der damit verbundenen Anerkennung und dem positiven Feedback als Höhepunkt und Abschluss einer gemeinsamen Arbeit trägt ebenfalls dazu bei, dass sich die Gruppe als Gemeinschaft wahrnimmt und auch miteinander Freude und Stolz teilt. Auch die Tatsache, dass das Theaterensemble im Gefängnis oft unter »Beschuss« steht, erhöht noch einmal das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Teilnehmern – ganz nach dem Motto: »Der Außenfeind stärkt die Gruppe«.

5. Erleben von Freiheit, Lebendigkeit und Normalität Von allen Befragten wird das Gefängnis als gleichbleibend, monoton und kontrastarm beschrieben. Das Theater bietet nun Möglichkeiten, sich Abwechslung zu verschaffen und – wie viele es formulieren – dem Gefängnis für einige Stunden zu entfliehen. Kurz darf man abheben, wegfliegen, meint ein Interviewpartner. Auch die Regisseurin, die von »draußen« herein kommt, bringt etwas an Freiheit mit. Es ist aber nicht nur die Tatsache, dass jemand von außen kommt, sondern auch eine völlig andere Form von Kontakt als jene, die üblicherweise im Gefängnis erlebt wird. Als Regisseurin ist man auf die Mitarbeit, das Engagement und das Miteinander angewiesen und man muss sich auf die Schauspieler auch verlassen können. Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit weit weniger hierarchisch und distanziert erfolgt, sondern auf einem Vertrauensverhältnis aufbaut. Theater bedeutet auch Freude, Spaß und die Möglichkeit, etwas ausleben zu dürfen. Das heißt, es ist mit vielen positiven Gefühlen verbunden, die während des ganzen Prozesses immer wieder wahrgenommen werden. Ein Insasse formuliert: »Meine Kindheit erlebte ich, als ich erwachsen war. Als Kind durfte ich nicht spielen und ausgelassen sein, ich wurde zur Härte erzogen. Im Theater hatte ich plötzlich die Möglichkeit, wieder Kind sein zu dürfen und zu spielen. Ich lernte durch das Theater zu genießen und erlebte die Freude am Leben und am Spiel. Ich lernte mich selbst ernst zu nehmen und die Wirklichkeit neu zu sehen.«

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Immer wieder wird die Theaterarbeit in Zusammenhang mit dem Erleben von Normalität gebracht. Interessanterweise entspricht die Theaterarbeit im Gefängnis aber gerade nicht der Normalität dieses Systems. Sie fällt in vielerlei Hinsicht aus der Norm, ist also anormal. »Normalität erleben« meint hier also eine Normalität, wie sie draußen vor der Haft erfahren wurde.

6. Der Schaffensweg zum Ziel Das Theater ermöglicht es, eigenständig und konstruktiv ein sinnvolles Ziel zu erreichen. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Aktivität, Produktivität und Kreativität. Während es über die Arbeit für manche noch die Möglichkeit gibt, etwas zu produzieren und sich aktiv einzubringen, ist die kreative, originelle und spontane Seite meist wenig erwünscht. Denn diese Eigenschaften erschweren es dem Gefängnis als totale Institution, die Insassen zu kontrollieren und zu verwalten. Die Theaterarbeit fordert also all das ein, was normalerweise nicht gelebt werden kann oder soll. Die Häftlinge sollen spontan improvisieren, eigene Ideen einbringen, aktiv und konstruktiv sein. Das heißt, es gibt einen Rahmen, in dem vieles gelebt werden darf, ja sogar gelebt werden soll, was ansonsten nicht erwünscht ist. Kein Wunder also, dass dies auch immer wieder im Zusammenhang mit Freiheit und Normalität gesehen wird, da hier ein Raum entsteht, in dem Gefühle und Handlungen gelebt werden dürfen, die ansonsten im System unterdrückt und verdrängt werden müssen. Theater erfordert aber auch eine gewisse Disziplin und Leistung – beides Werte, die im System Gefängnis sehr angesehen sind und von den Bediensteten an Häftlingen sehr geschätzt werden. Auch in der Theaterarbeit vermuten die meisten, dass die Akzeptanz des Theaters durch die Autoritäten eng mit dem Sichtbarwerden von Anstrengung, Arbeit und Disziplin zusammenhängt, nicht aber mit einer wahrgenommenen Originalität und Kreativität. Die Theaterarbeit wird auch immer wieder in Zusammenhang damit gesehen, dass es wichtig ist, etwas Sinnvolles zu tun, weil vieles in diesem System sehr sinnlos erscheint. Das, was man tut, soll eine Bedeutung und einen Wert haben, und man möchte auch wissen, wozu man es tut und wohin es führt.

7. Was sonst noch wichtig war Weitere wichtige Aspekte der Theaterarbeit waren die Übernahme von Verantwortung sowie die Auflösung von informellen Rangordnungen. Als ebenso bedeutend wurde die Möglichkeit eingeschätzt, in einem sicheren Rahmen kritisch (auch systemkritisch) sein zu dürfen, zu gestalten und damit individuell auch wieder sichtbar zu werden. Und auch die Option, gewisse Images – wie etwa das der »harten Kerle« – aufweichen und hinterfragen zu können, wurde als Chance erkannt, obwohl dieser Prozess oft als sehr unangenehm erlebt wurde. Für mich persönlich war und ist Theaterarbeit im Gefängnis eine sehr kraftvolle Erfahrung. Ich verstehe es als Privileg, dass ich Menschen in einer Extremsituation, in der die persönliche Freiheit auf ein Minimum reduziert ist, ein Forum schaffen darf, indem fast alles Platz hat: ihre Wünsche, Hoffnungen, Fantasien, aber auch Ängste, Aggressionen, Enttäuschungen und vieles mehr. Ich schätze mich glücklich, dass ich Teil eines Prozesses sein darf, in dem sich Menschen begegnen, ihre Geschichten erzählen, sich gegenseitig bereichern, gemeinsam wachsen und Kunstwerke schaffen, wodurch sie mit den anderen draußen, die für sie normalerweise nur sehr schwer oder gar nicht erreichbar sind, in einen Dialog eintreten. Deshalb also Theaterarbeit in einem Hochsicherheitsgefängnis!

Literaturangabe: Sandberger, Sabine: Theater in geschlossener Gesellschaft – Analyse des Gefängnistheaterprojektes in der Justizanstalt Garsten. Saarbrücken 2009. Dr. Sabine Sandberger ist als ausgebildete Psychotherapeutin seit vielen Jahren im Strafvollzug, bei der Flüchtlingshilfe und in freier Praxis tätig. Seit 1999 leitet sie eine Theatergruppe in einem Hochsicherheits­gefängnis für Männer. Sie lebt in Linz (Oberösterreich).

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Bio g r afi e n d e r A kte urI nne n

FRITZ BLEULER

FRITZ EGGERT

HANNA ESSINGER

*1965 in Luzern (CH), lebt in Berlin Schauspieler, Regisseur, Autor und Sänger Fritz Bleuler war 2012 Werkstattleiter und Initiator der Draußenwerkstatt, an der Inhaftierte aus dem offenen Vollzug teilnehmen.

*1958, lebt in Berlin Schauspieler & Performer, Regisseur & Coach, Sänger & Klangmann Fritz Eggert arbeitet seit vielen Jahren als Selbstständiger und unterstützt das Projekt seit 2012 als Trainer.

*1965, lebt in Berlin Schauspielerin und Theaterpädagogin Hanna Essinger realisiert seit 2007 Theaterprojekte in Kooperation mit Berliner Schulen und Vereinen. Seit 2011 ist sie Werkstattleiterin in der Jugendstrafanstalt Berlin.

Künstlerische Stationen 52 Premieren in Bonn, Aachen, Köln, Hamburg, u. a. bei Krzysztof Zanussi, Paul Bäcker, Gottfried Greiffenhagen, Manfred Langner, Folke Braband, Martin Woelffer… 1999–2003 Gründung und Mitglied von Dramateum Berlin, Theaterproduktionsgesellschaft 2004–2007 Eröffnung und Leitung von Fritznielsen, Club/Bühne in Berlin (Halensee) 2012 Initiator und Gründungsmitglied von LANDGANG. LANDGANG ist ein Verein, der es sich zur Aufgabe macht, Menschen mit extremen Erfahrungen und nach sozialer Exklusion, z. B. ehemalige Strafgefangene, mittel- und lang­ fristig zu begleiten und deren Wiederanbindung an das gesellschaftliche Leben zu unterstützen.

Künstlerische Stationen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Hamburg, Schauspiel-Diplom 5 Jahre Ensemblemitglied am Schiller Theater, Berlin Musical, Behindertentheater, Film & Fernsehen u.v.m.

Künstlerische Stationen Studium an der Hochschule für darstellende Kunst Mozarteum, Salzburg Engagements u. a. am Stadttheater Heidelberg, Landestheater Salzburg, Staatstheater Braunschweig, Staatstheater Kassel Freie Schauspielerin seit 2005

Theaterarbeit mit Straffälligen ist in erster Linie Beziehungs­ arbeit, die nur dann mit Vertrauen belohnt wird, wenn Vertrauen geschenkt wird. Diese Arbeit braucht Zeit, viel Zeit und Geduld von allen Beteiligten. Kontinuität also, die sich aber im besten Falle in Freundschaft und einen berührenden Theaterabend verwandelt.

Wert geben & Vertrauen schenken. Stärken sichtbar/spürbar machen & fördern.

Durch die Arbeit mir den jugendlichen Inhaftierten in der Jugendstrafanstalt war ich zunächst mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Mir wurde recht schnell klar, dass der Weg eines Jugendlichen in die Erwachsenenwelt einem Tanz auf Messers Schneide gleicht. Die Jugendlichen haben ihr Leben noch vor sich. Gerade Theaterarbeit halte ich für ein gutes Mittel sich auszuprobieren, den eigenen Standpunkt zu reflektieren und neue Rollen spielerisch zu erproben. Perspektivwechsel sind ungemein wichtig – sowohl für die Inhaftierten als auch für unsere Gesellschaft. In unserer Arbeit geht es immer um die Menschen und den gemeinsamen Prozess – das ist die Kunst.

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MIRELLA GALBIATTI

ELISABETH HOFFMANN

VIOLA NEUMANN

JAREK RACZEK

*1974 in Buenos Aires (Argentinien), lebt in Berlin Schauspielerin, Theaterpädagogin und Schauspiellehrerin in Berlin und Buenos Aires Mirella Galbiatti ist seit 2011 im Projekt tätig und leitet seit Oktober 2012 die Draußenwerkstatt.

*1980, lebt in Berlin Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Hoffmann koordiniert seit Beginn des Projekts im Februar 2011 die Zusammenarbeit mit KünstlerInnen, den beteiligten Justizvollzugsanstalten und alle Aufgaben, die damit zusammenhängen.

*1974, lebt in Berlin Schauspielerin Viola Neumann begann 2011 mit der Arbeit mit Strafgefangenen und arbeitete im Team mit Inhaftierten aus dem offenen und geschlossenen Vollzug.

*1974, lebt in Berlin Produzent, Regisseur, Kameramann Jarek Raczek unterstützte das Projekt seit 2011 durch filmische und fotografische Begleitung, u. a. gemeinsam mit Sabine Winterfeldt und Christian Schodos als Regisseur des Films »Dornenkronen«.

Künstlerische Stationen Arbeit in Argentinien und Deutschland Projekte über Marginalisierung, Strafvollzug und Geschlechterfragen Arbeit in mehreren Haftanstalten mit inhaftierten Männern und Frauen, Jugendlichen und Erwachsenen (Colonia Penal U19, Inst. Correccional de Mujeres 3 y 31, Inst. Almafuerte) und mit der Gruppe TheaterDialog (Katrin Wolf & Till Baumann) in der Jugendanstalt Rassnitz Klinikclown für »Payamédicos« im Hospital Muñiz

Die Inspiration ging von Michel Foucaults Frage aus: Ist es erstaunlich, dass das Gefängnis den Fabriken ähnelt, den Schulen, den Kasernen, den Krankenhäusern, und diese ihrerseits dem Gefängnis? Das Gefängnis ist ein Teil unserer Gesellschaft, ich/wir auch… aber was bedeutet das?

Wichtige Stationen Studium Erziehungswissenschaften, Slawistik und Osteuropäische Geschichte Koordinatorin Internationale Freiwilligendienste Friedenskreis Halle e. V., Halle/Saale Projektleiterin Servicestelle Internationale Freiwilligendienste, Bonn

Künstlerische Stationen 2009/10 »Seestücke«, Volksbühne Berlin 2010 Teilnahme Ruhrfestspiele Recklinghausen, Kooperation Zimmertheater Tübingen 2011 Schauspiel-Diplom, Hochschule für Musik und Theater Rostock

Eine sinnvolle Arbeit, die weiter gefördert und optimiert werden sollte. Ich bin stolz auf die Arbeit unserer KünstlerInnen, weil sie es schaffen, die Teilnehmenden mit ihren künstlerischen und sozialen Fähigkeiten so zu stärken, dass sie selbst Texte, Songs oder Szenen entwickeln. Die Ergebnisse beeindrucken mich immer wieder, da sie authentische Zeugnisse der vertrauensvollen Zusammenarbeit sind.

Künstlerische Stationen Filmstudium in Potsdam Babelsberg Seit 2002 etliche Musikvideos, Imagefilme und Werbespots Spielfilmdebüt mit dem Roadmovie zur See, einem Piratenfilm der Moderne: »Blinde Passagiere« (2011)

Mein Bild von Schuld und Sühne wurde durch den Dreh mit den Gefangenen schwer durcheinander gewirbelt. Bewegend zu sehen, wie das Bild von Opfer und Täter verschwimmt. Auch wie die Schuld des Einzelnen manchmal durch unsere Kollektivschuld beinahe nichtig wird. Die inhaftierten Frauen brauchen definitiv eher eine Therapie als Knast. Und das Projekt ist eine sinnvolle Variante, sich ihren Konflikten zu nähern. Habt Dank für die Erfahrung.

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Bio g r afi e n d e r A kte urI nne n

JULIA ROGGE

LEXA SCHÄFER

CHRISTIAN SCHODOS

SABINE WINTERFELDT

*1976, lebt in Berlin Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Rogge ist im Projekt tätig in den Bereichen Bühnenbild, Szenenbild und Kostümbild.

*1962, lebt in Berlin Musiker Lexa Schäfer ist seit 2008 aktiv in der Zusammenarbeit mit Inhaftierten, u. a. im Projekt »EastWestSideStory«.

*1965, lebt in Berlin Schauspieler Christian Schodos arbeitet seit über 20 Jahren als Schauspieler. Seit 2012 ist er als Trainer in der JVAF tätig.

Künstlerische Stationen Tätigkeiten am Bayerischen Staatsschauspiel, am Berliner Ensemble und für den Cirque du Soleil

Künstlerische Stationen Studium an der Hochschule für Musik Franz Liszt, Weimar Seit 2006 Bassist des Baltic Soul Orchesters, damit u. a. tätig für Supremes, Temptations, Alexander O’Neal, Kurtis Blow, Ann Sexton, Omar, Leon Ware u. v. a. Seit 1990 Bobo in White Wooden Houses, Veronika Fischer, Stern-Combo-Meissen Engagement am Theater des Westens und Wintergarten Berlin

Künstlerische Stationen Abschluss an der Hochschule der Künste Berlin 2000 Nominierung als bester Schauspieler für seine Darstellung von Heinz Rühmann in dem Theaterstück »Der Clown« in Berlin Duett-Abend mit Marianne Rosenberg in der Berliner Bar jeder Vernunft

*1966, lebt in Berlin Schauspielerin Sabine Winterfeldt hat die künstlerische Leitung und Werkstattleitung in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin. Sie arbeitet bereits seit 2003 mit Inhaftierten in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten.

Mich interessierte, erfreute und erfüllte die Arbeit mit Laien an/in einem ungewöhnlichen Ort.

Ich arbeite gern mit den Jugendlichen im Gefängnistheater, weil dadurch, wie zum Beispiel in der »EastWestSideStory«, Vorurteile abgebaut werden und Toleranz entstehen kann. Außerdem haben die Teilnehmer noch viele unerkannte Talente, die ihnen mit Hilfe von Musik und Theater bewusst werden und neue Impulse für ihr Leben geben können. Sie darin zu unterstützen liegt mir sehr am Herzen.

Nach einem Jahr in der Justizvollzugsanstalt für Frauen sehe ich es als wichtig an, dass die Gesellschaft jedem Menschen eine zweite Chance gibt, sich selbst zu verstehen und durch das Spielen neu zu erfahren. So können im eigenen Leben Veränderungen zugelassen werden. Auch wenn es nicht jedem gelingt, bin ich glücklich zu sehen, dass einige Teilnehmerinnen Schritte für sich tun, die vorher nicht als möglich erachtet wurden.

Künstlerische Stationen Pantomimenschule London Filmschule New York Rolle: Sandra, the secret society of fine arts, zentropa

Das Wichtige bei dieser Arbeit ist weniger das Produkt als vielmehr der gemeinsame Weg zu dem individuellen kreativen Potential jedes einzelnen.

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Impressum Die Publikation »Freispieler. Theater im Gefängnis« dokumentiert das Projekt »Gefängnis – Kunst – Gesellschaft« des Berliner Vereins Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V.

KünstlerInnen Fritz Bleuler, Fritz Eggert, Hanna Essinger, Mirella Galbiatti, Viola Neumann, Jarek Raczek, Julia Rogge, Christian Schodos, Lexa Schäfer, Sabine Winterfeldt

2011 wurde das Projekt von der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft mit der Auszeichnung »faktor kunst« prämiert. Darüber hinaus begleitete die Stiftung das Projekt 2012 als Kooperationspartnerin.

Haftanstalten Jugendstrafanstalt Berlin Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin

Auslobung faktor kunst Ideen und Konzepte für partizipatorische Kunstprojekte Deutschland, Österreich, Schweiz | 2011 Herausgeber Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft Adenauerallee 127 53113 Bonn Telefon +49 (0)228.26 71 60 www.montag-stiftungen.de Projektträger Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V. Alt-Moabit 73 10555 Berlin Telefon +49 (0)30.28 86 16 30
 www.minor-kontor.de Projektleitung Elisabeth Hoffmann, Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V. Sabine Winterfeldt, Künstlerische Leitung

Projektbegleitung der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft Ingrid Raschke-Stuwe, Vorstand Niina Valavuo, Projektkoordination Waltraud Murauer-Ziebach, PR und Kommunikation Dr. Stefan Rasche, wissenschaftliche Mitarbeit Redaktion Niina Valavuo, Bonn Stefan Rasche, Berlin Lektorat Stefan Rasche, Berlin AutorInnen Till Baumann und Mirella Galbiatti, Stefan Keim, Dr. Sabine Sandberger Beiträge von Waltraud Murauer-Ziebach: S. 10–13, 14–18, 20–21, 24–27

Fotografie Lutz Kampert, Dortmund, S. 5–7 Jarek Raczek, Berlin, S. 10–13, 22–23, 64–65, 70, 71, 72 (oben, unten re.), 73, 98, Cover Christoph Reichelt, Berlin, S. 51–61 Julia Rogge, Berlin, S. 15–17, 19, 42–43, 49, 68–69, 72 (unten li.) Benjamin Talsik, Berlin, S. 25–27, 39 © Robert Capa © International Center of Photography / Magnum Photos / Agentur Focus, S. 79 Falls trotz sorgfältiger Recherche nicht alle Bildrechte berücksichtigt wurden, können berechtigte Ansprüche bei der Stiftung geltend gemacht werden. Gestaltung labor b designbüro, Dortmund Druck DruckVerlag Kettler, Bönen DVD Der Dokumentation liegt eine DVD mit folgenden Filmbeiträgen bei: »Dornenkronen«, 2012 (Director’s Cut) Regie: Jarek Raczek, Christian Schodos, Sabine Winterfeldt, Berlin Kamera und Schnitt: Jarek Raczek, Berlin Öffentliche Projektpräsentation im Kino BABYLON, Berlin 2012 Web TV Video Produktion, Berlin Redaktion: Michael Krömer, Berlin

Auflage 1.000 © Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft, Autoren, Fotografen, 2012 transcript Verlag, Bielefeld ISBN 978-3-8376-2349-9 transcript Verlag, Bielefeld www.transcript-verlag.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra­ fische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de

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Theaterprojekte mit Inhaftierten sind wie eine Brücke in die Gesellschaft – sie fördern soziale und künstlerische Kompetenzen, verleihen den TeilnehmerInnen eine Stimme und regen zu einem Perspektivwechsel diesseits und jenseits der Gefängnismauern an. Am Beispiel der Projektarbeit von Minor e. V. in verschie­denen Berliner Haftanstalten werden diese Prozesse in Text und Bild vorgestellt. Für seine herausragenden ­partizipatorischen T ­ heater- und Filmprojekte, die auf den individuellen Fähigkeiten und biogra­fischen Erfahrungen der Inhaftier­ten basieren, wurde Minor e. V. 2011 durch die ­Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft ausgezeichnet.