Passagenräume: Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839431986

What do transitory spaces like train stations and public transport have to do with theater? This study shows that functi

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German Pages 388 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
I. Zum Eingang: Vorüberlegungen zu Passagenräumen in Alltag & Theater
1. Passagenräume – Ein Begriffspanorama
2. Methodische Annäherungen, Passagen und Abgrenzungen
II. Passagen zwischen Mobilität & Verortung
3. Hinführende Denkfiguren: Aggregatzustände passagerer Mobilität
4. Somatisches ErFahren und rhythmisches Erproben – Schwarztaxi von Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar
5. ÜberGang – Parkour als passagere Entgrenzung durch städtische Querlektüre
6. Initiativen temporärer Verortung im Durchgang – Die Eichbaumoper von Raumlabor Berlin
III. Passagen zwischen Nahraum & Fernraum
7. Hinführende Denkfiguren: Globalisierung im Spiegel alltäglicher Praktiken in städtischen Passagenräumen
8. Auf der Ladefläche durch ferne Nah- und nahe Fernräume – Cargo Sofia von Rimini Protokoll
9. Ferngesteuerte Ferngespräche an der Schnittstelle von Nähe und Distanz – Call Cutta von Rimini Protokoll
IV. Passagen zwischen Öffentlichkeit & Privatheit
10. Hinführende Denkfiguren: Passagere Öffentlichkeit und Privatheit im Kontinuum performativer Hervorbringung
11. Überwachen und Kaufen: Grenzverläufe der Passagenfreiheit – LIGNAs Shopping Centre. The First International of Shopping Malls
12. Theatrale Momentaufnahmen ostentativer Beobachtung – Mariano Pensottis Sometimes I think I can see you
13. Performative Erprobung wohnräumlicher Durchlässigkeit – Matthias Lilienthals X Wohnungen
V. Zum Ausgang
14. Performative Passagen und Passagen des Performativen
Literatur
Dank
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Passagenräume: Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839431986

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Annika Wehrle Passagenräume

Theater | Band 78

Annika Wehrle (Dr. phil.), geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bereichs Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Neben Lehre und Forschung koordinierte sie dort von 2011 bis 2013 das Internationale Promotionsprogramm IPP Performance and Media Studies.

Annika Wehrle

Passagenräume Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Annika Wehrle, Mainz, 2015 © Annika Wehrle Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3198-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3198-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt I

ZUM E INGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & THEATER 1

Passagenräume – Ein Begriffspanorama | 11

2

Methodische Annäherungen, Passagen und Abgrenzungen | 27

2.1 Zugänge und Übergänge zu einem zeitgemäßen Urbanitätsbegriff – Raumbegriffe im Echoraum des Spatial Turn | 27 2.2 Theater in Passagenräumen – Historische und theoretische Annäherungen an einen zeitgenössischen Theaterbegriff | 41

II

P ASSAGEN ZWISCHEN MOBILITÄT & VERORTUNG 3

Hinführende Denkfiguren: Aggregatzustände passagerer Mobilität | 83

4

Somatisches ErFahren und rhythmisches Erproben – Schwarztaxi von Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar | 97

5

ÜberGang – Parkour als passagere Entgrenzung durch städtische Querlektüre | 127

6

Initiativen temporärer Verortung im Durchgang – Die Eichbaumoper von Raumlabor Berlin | 137

III P ASSAGEN ZWISCHEN NAHRAUM & FERNRAUM 7

Hinführende Denkfiguren: Globalisierung im Spiegel alltäglicher Praktiken in städtischen Passagenräumen | 161

8

Auf der Ladefläche durch ferne Nah- und nahe Fernräume – Cargo Sofia von Rimini Protokoll | 177

9

Ferngesteuerte Ferngespräche an der Schnittstelle von Nähe und Distanz – Call Cutta von Rimini Protokoll | 191

IV P ASSAGEN ZWISCHEN Ö FFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT 10

Hinführende Denkfiguren: Passagere Öffentlichkeit und Privatheit im Kontinuum performativer Hervorbringung | 223

11

Überwachen und Kaufen: Grenzverläufe der Passagenfreiheit – LIGNAs Shopping Centre. The First International of Shopping Malls | 239

12

Theatrale Momentaufnahmen ostentativer Beobachtung – Mariano Pensottis Sometimes I think I can see you | 281

13

Performative Erprobung wohnräumlicher Durchlässigkeit – Matthias Lilienthals X Wohnungen | 303

V ZUM AUSGANG 14

Performative Passagen und Passagen des Performativen | 339

Literatur | 351 Dank | 385

Wir lassen etwas von uns zurück, wenn wir einen Ort verlassen, wir bleiben dort, obgleich wir wegfahren. Und es gibt Dinge an uns, die wir nur dadurch wiederfinden können, daß wir dorthin zurückkehren. Wir fahren an uns heran, reisen zu uns selbst, wenn uns das monotone Klopfen der Räder einem Ort entgegenträgt, wo wir eine Wegstrecke unseres Lebens zurückgelegt haben, wie kurz sie auch gewesen sein mag. PASCAL MERCIER: NACHTZUG NACH LISSABON

I Zum Eingang: Vorüberlegungen zu Passagenräumen in Alltag & Theater

1 Passagenräume – Ein Begriffspanorama

In einem nächtlichen Taxi sitzen fünf Menschen und fahren mit überhöhter Geschwindigkeit durch Leipzig und Umgebung, während sich um sie ein Spiel aus vergangener Liebe, unabgeschlossenen Geschäften und mythischen Ahnungen entspinnt. Ein Mann läuft über Hausdächer, Mauern und Absperrungen, um sich einen Weg in direkter Luftlinie durch die Stadt zu bahnen. In einem U-Bahnzug beginnt eine junge Frau unvermittelt eine zeitgenössische Opernarie zu singen. Auf der Ladefläche eines Lastwagens fahren fünfzig Passagiere 1 in zwei Stunden von Sofia nach Basel und verlassen dabei doch für keinen Moment die eigene Stadt. Eine Frau läuft mit dem Handy am Ohr durch Berlin, ihre Wege werden gesteuert durch einen indischen Callcenter-Mitarbeiter in Kalkutta, der die Straßen, durch die er die Telefonpartnerin navigiert, selbst noch nie betreten hat. In einer Shopping Mall gehen ohne sichtbaren Impuls plötzlich und zeitgleich fünfzig Menschen rückwärts und mischen sich anschließend wieder unter die übrigen Passanten. Auf Leinwänden über den Gleisen eines U-Bahnhofes können die Wartenden Beschreibungen ihrer selbst und der umgebenden Passanten lesen, die simultan von unauffällig gekleideten Autoren verfasst werden, welche mit einem Laptop auf dem Schoß auf einer Bank sitzen. Für eine Nacht bietet das Dach eines Parkhauses ein Doppelbett mit Blick über die Stadt. Zwei Besucher treffen in einer fremden Wohnung ein, setzen sich an den Wohnzimmertisch und stellen Familienszenen aus den letzten Jahrzehnten nach, während die Hausbewohner zu Beobachtern ihres eigenen Alltags werden. Diese kurzen Impressionen skizzieren Momentaufnahmen verschiedener Theaterereignisse aus den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Gemeinsam ist den disparaten szenischen Anordnungen, dass ein Stadtraum zur Spielstätte wird, der im alltäglichen Gebrauch wie auch während des Aufführungsgeschehens selbst der Durchgangsbewegung dient. Darunter fallen Verkehrsknotenpunkte wie Bahn-

1

Wird im Folgenden der maskuline Genus verwendet, so erfolgt dies im Sinne des Leseflusses, die weibliche Form, wie Teilnehmerinnen, Passantinnen und Akteurinnen ist dabei stets mitgedacht.

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höfe, städtische Verkehrsmittel wie U-Bahnen oder auch Taxen ebenso wie Shopping Malls und Fußgängerzonen als Räume städtischen Gehens, Passierens und Flanierens. Dieser durch Veränderung und Bewegung geprägte Raumtypus wird im Folgenden als Passagenraum bezeichnet. Anders als Walter Benjamin, der in seinem vielzitierten, wenn auch nur in Fragmenten überlieferten Passagen-Werk über die Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts schreibt,2 wird in der vorliegenden Untersuchung der Blick auf zeitgenössische Ausprägungen urbaner Durchgänge gelenkt. Über die architektonische und funktionelle Ebene hinaus umgibt den Begriff der Passage und des Passageren ein weites Assoziationsspektrum, das im weiteren Verlauf näher ausgeführt werden soll, und mittels dessen sich die Brücke zu performativen wie auch sozio-kulturellen Praktiken schlagen lässt.3 Der Begriff des Passagenraums wird so zum Nexus der tragenden Gedankenstränge vorliegender Untersuchung und zur Basis eines analytischen Zugangs, der den Fokus nicht auf Zustände, sondern Übergänge legt, wodurch die Nähe zwischen Theaterereignissen und alltäglichen Passagenräumen deutlich zu Tage tritt: Beide sind geprägt durch Transitorik, Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit und Prozessualität bei gleichzeitiger Materialisierung und Verräumlichung. Aus dieser Parallele leitet sich das erste der beiden zentralen Vorhaben der vorliegenden Studie ab: Theaterwissenschaftliches Vokabular, wie der Begriff des Performativen 4 oder Transitorischen, soll als methodisches Werkzeug dienen, um Inszenierungsprinzipien, Vorgänge der Alltagstheatralik sowie Raum- und Bewegungskonzepte in Passagenräumen beschreibbar zu machen und zu analysieren. Vor dem Hintergrund dieses Zugangs geht die Untersuchung der Beobachtung nach, dass sich besonders in Großstädten seit den späten 1990er Jahren in zunehmendem Maße performative Formen aus den Bereichen Theater, Performance, Installation und Oper in Passagenräumen des Alltags einfinden und ab der Jahrtausendwende nicht mehr aus den Theater- und Stadtlandschaften wegzudenken sind. Darunter fallen öffentlich angekündigte und deutlich exponierte Aufführungsformen, die Passagenräume als Kulisse nutzen und sich dabei deutlich von dem

2

Benjamins Beobachtungen und Analysen zu den Passagen des 19. Jahrhunderts finden sich in Form einer Zusammenstellung fragmentarischer Aufschriften in seinem zweibändigen Passagen-Werk (vgl. Benjamin 1982).

3

Auch Helene Varopoulou wählt für ihre Ausführungen zum zeitgenössischen Theater den Begriff der Passage, wendet sich dabei jedoch den Auflösungen der Gattungsgrenzen und dem Verhältnis von Text und szenischem Ereignis zu. Theater in Alltagsräumen wird hier nicht in Augenschein genommen (vgl. Varopoulou 2009).

4

Der Begriff des Performativen wird im Folgenden im Sinne der Sprechakttheorie von John L. Austin sowie deren theaterwissenschaftlichen Erweiterung durch Erika FischerLichte verwendet (vgl. Austin 1975 sowie Fischer-Lichte 2004 und 2013).

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umgebenden Geschehen abheben.5 Der Fokus vorliegender Untersuchung richtet sich vorwiegend auf jene Projekte, die einerseits von institutioneller Seite aus organisiert werden, andererseits aber in vielschichtiger Weise mit dem Geschehen vor Ort interagieren, wodurch ein Spiel mit alltäglichen und theatralen Rahmungen erwächst.6 Erweitert wird dieses Spektrum durch performative Formen, die theatrale Züge aufweisen, ohne explizit als Aufführungen gerahmt zu sein wie Flashmobs oder urbane Sportpraktiken, etwa Parkour oder Skateboarden.7 Mit dieser Durchdringung des Theatralen seitens städtischer Alltagswelten und zugleich der alltäglichen Praktiken und Räume durch theatrale Einflüsse bestätigt sich die These Erika Fischer-Lichtes, dass das Theater ab den späten 1990er Jahren ein Ort vielfältiger Verwandlungen und Auseinandersetzungen mit anderen kulturellen Äußerungsformen ist: »Es transformiert sich in andere Künste, Medien, kulturelle Veranstaltungen, so wie umgekehrt andere Künste, Medien, kulturelle Veranstaltungen sich in Theater transformieren. Theaterinszenierungen begreifen sich im Wettstreit mit Inszenierungen in Politik, Sport, Medien, Werbung. Die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen.«8

Durch die daraus erwachsende Notwendigkeit seitens des Theaters, seinen Gegenstandsbereich und seine (Spiel-)Räume neu zu definieren und zeitgemäße performative Strategien zu entwickeln, befindet es sich selbst – so meine These – in einer Phase passagerer Neuausrichtung, es »wandelt sich ständig, nimmt immer wieder neue Gestalt an. Es lebt in und durch permanente Transformationen.«9 Ganz im Sinne des hier entwickelten Konzept des Passageren entstehen in der Folge zu Beginn des neuen Jahrtausends zahlreiche performative Projekte, die gezielt mit Formen des Übergangs und der produktiven Instabilität spielen, anstelle eine rückwärtsgewandte Tradierung des Bewährten vorzunehmen. Das zweite der beiden zentralen Vorhaben der Untersuchung besteht daran anschließend darin, am Beispiel einer exemplarischen Auswahl zeitgenössischer Theaterprojekte in alltäglichen Passagenräumen des 21. Jahrhunderts – von Raumlabor Berlin, Rimini Protokoll, Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar, LIGNA, Mariano Pensotti und 5

Beispiele hierfür sind die Opernaufführung La Traviata im Hauptbahnhof 2008 (vgl. aus-

6

Vgl. hierfür aus dem Beispielkorpus vor allem Sometimes I think I can see you (Kapitel

führlicher Kapitel 12) oder die Eichbaumoper 2009 (Kapitel 6). 12) und Call Cutta (Kapitel 9). 7

Zu der Praxis des Flashmobs vgl. Kapitel 11, zu Parkour Kapitel 5. Unter dem Aspekt performativer Praktiken im urbanen Raum ist in diesem Zusammenhang auch die Hip Hop Kultur zu erwähnen (vgl. Klein/Friedrich 2003).

8

Fischer-Lichte 1999, 8.

9

Fischer-Lichte 1999, 8.

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Matthias Lilienthal – einen analytischen Zugang zu einer performativen Strömung zu legen, die das Theater seit der Jahrtausendwende maßgeblich prägt. Denkräume des Passageren In Form eines gedanklichen Flanierens durch die Denkräume vorliegender Untersuchung werden nun die für die Rahmenüberlegungen relevanten Theoriemodelle angerissen, um später im Einzelnen anhand der Fallbeispiele vertieft werden zu können. Mit dem Abschreiten eines Begriffspanoramas10 des Passageren als ein Rundblick auf assoziierte kulturwissenschaftliche, soziologische und philosophische Ideen wird der hier entwickelten spezifischen Zugangsweise Rechnung getragen, die in einer steten Verschränkung theatraler Ereignisse in Passagenräumen und der performativen Perspektivierung (alltags-)theatraler und sozio-kultureller Vorgänge besteht. Die gesellschaftlichen Entwicklungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zeigen, dass sich der Alltag der meisten Menschen zunehmend auf dem Weg abspielt. Verortung und Lokalisierbarkeit weichen ephemerer, flüchtiger Mobilität und Flexibilität11, ein Phänomen, das von Hartmut Rosa als Entwicklung von einer Positionalität zur Performativität beschrieben wird. Diese Wortwahl dient der Beschreibung einer Ablösung von festen Verortungen und der Suche nach einem stabilen Standpunkt in der Welt hin zu durch Handlungen und stete Aushandlungsprozesse ereignishaft hervorgebrachten Relationen, durch die das Einnehmen einer festen Position nicht mehr möglich ist beziehungsweise nicht mehr als gegeben angesehen wird.12 Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher sozio-kultureller Beobachtungen wird deutlich, dass sich theaterwissenschaftliche Begrifflichkeiten wie Performativität, hier im Sinne wirklichkeitskonstituierender und prozessualer kultureller Hervorbringungsakte, in besonderem Maße eignen, um gesellschaftliche wie

10 Diese Metapher lehnt sich zum einen an einen Rundblick an, bei dem sich die Landschaft in ihrer Vielfalt dem Blick darbietet, zum anderen an das Panorama des 19. Jahrhunderts, das durch eine Positionierung des Betrachters in der Mitte eines zylindrischen Bildes im Vergleich zur zentralperspektivischen Festlegung eine Vervielfältigung der Betrachtungswinkel mit sich bringt. Vgl. hierzu Benjamin 1982b, 655ff, Lazardzig/Tkaczyk/Warstat 2012, 19f, Leonhardt 2007, 75ff, Marx 2008, 317ff. 11 Vgl. Bauman 2003 sowie Sennett 1998. Zu den Begriffen Mobilität und Flexibilität vgl. ausführlicher Kapitel 3. 12 Vgl. hierzu das Interview mit Rosa, Hartmut: »Die kommenden Tage: Risiken und Chancen in der Wissensgesellschaft« im Rahmen der HORIZONTE Expertengespräche im webTV des Stifterverbandes, Juni 2011 (http://www.stifterverband.info/publikationen_ und_podcasts/webtv/rosa/, Stand: 21.7.2015) sowie weiterführend Rosa 2005.

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ästhetische Phänomene beschreibbar zu machen – ein Zusammenhang, der für diese Studie von zentraler Relevanz ist. Parallel zu den von Rosa benannten Veränderungen bilden sich vermehrt Passagenräume des Alltags heraus, die durch Bewegung konstituiert sind und das Bild der Städte und den Alltag der Menschen maßgeblich prägen. Auf erster Ebene sollen mit dem Begriff des Passagenraums somit bauliche städtische Räume bezeichnet werden, die der alltäglichen Passage im Sinne eines Durchgangs dienen. Neben Fußgänger- und Einkaufspassagen zählen dazu – wie bereits eingangs erwähnt – auch Bahnhöfe, U-Bahnhaltestellen, Flughafenterminals, Shopping Malls, Hotels sowie Fahrzeuge im Sinne mobiler Passagenräume.13 Diese Räume sind in ihrer Grundanlage und Funktion durch Bewegung, nicht durch Verweilen, gekennzeichnet – sie sind also Räume der Passage. Im Sinne Marc Augés fallen diese unter die Kategorie der ›Nicht-Orte‹14, verstanden als rein funktionale Bewegungs- und Übergangsorte. Vor dem Hintergrund des Abbaus territorialer Grenzen und der Überwindung großer Distanzen in einer globalisierten Welt diagnostiziert er eine maßgebliche Expansion dieses Raumtypus in westlichen Städten. Aufgrund ihres hohen Aufkommens weist er ihnen einen maßgeblichen quantitativen Stellenwert zu, spricht ihnen jedoch auf qualitativer Ebene ihre Geschichtlichkeit sowie eine identitätsstiftende Funktion ab, worin sie sich von seinem Terminus des Ortes unterscheiden. Zudem seien sie maßgeblich dadurch geprägt, dass sie nicht in Relation zu (geschichtsträchtigen) Orten treten oder diese integrierten, sondern ihnen in musealer Weise einen »speziellen, festumschriebenen Platz«15 einräumten und dadurch von ihnen separiert blieben. Nicht-Orte lösen somit nach Augés Einschätzung nicht die Orte, die in seiner Terminologie durch »Identität, Relation und Geschichte«16 gekennzeichnet sind, ab. Beide bestehen in der Postmoderne zur gleichen Zeit nebeneinander, »[d]ennoch sind die Nicht-Orte das Maß unserer Zeit […]«17. Die Augésche Lesart des Städtischen und die Kategorisierung von Shopping Malls oder U-Bahnhöfen als Nicht-Orte übersieht aber, wie Bareis hervorhebt, dass diese »eben auch Orte des Alltags sind und in alltäglichen Bearbeitungen von Lebensrealitäten im postfordistischen Städtischen eine Rolle spielen.«18 In diesem Sinne sollen sie im Folgenden im Kontext aktueller Entwicklungen des 21. Jahrhunderts neu in den Blick genommen und reevaluiert werden. Passagenräume kön13 Vgl. zur beispielbezogenen Betrachtung von städtischen Durchgangsräumen Geisthövel/ Knoch 2005, Harrison/Pile/Thrift 2004, Legnaro/Birenheide 2005, Marquardt/Schreiber 2012. 14 Vgl. Augé 2010. 15 Augé 2010, 83. 16 Augé 2010, 83. 17 Augé 2010, 84 sowie zur Idee separierter Koexistenz von Orten und Nicht-Orten 109f. 18 Bareis 2007, 153.

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nen folglich nicht als randständig und geschichtslos beschrieben werden, sondern sind im Gegenteil als mikrostrukturelle Verdichtungsräume makrostruktureller gesellschaftlicher Wandlungsprozesse des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu begreifen, die sich in besonderem Maße dazu eignen, die oben skizzierten Passagen des Raumes zu erfassen.19 In diesem Sinne sind sie nicht nur als lokale Räume zu verstehen, sondern als Knotenpunkte weltweiter Bewegungen und globaler Strömungen sowie als Spiegel naher und ferner Entwicklungen: »Schauplätze werden von entfernten sozialen Einflüssen geprägt und gestaltet. Der lokale Schauplatz wird nicht nur durch Anwesendes strukturiert, denn die ›sichtbare Form‹ des Schauplatzes verbirgt die weit abgerückten Beziehungen, die sein Wesen bestimmen.«20

In diesem Sinne fokussiert die vorliegende Untersuchung die Kristallisationen ›entfernter Einflüsse‹ in ›lokalen‹ Passagenräumen des Alltags, die als Schau-, aber auch als Erlebnisplätze gesellschaftlicher und performativer Ereignisse, Wandlungsprozesse und Inszenierungsstrukturen fungieren. Passagenräume dienen in diesem Sinne als Brenngläser von Mobilisierung, Medialisierung, Globalisierung und dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in alltäglichen und theatralen Praktiken des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Ohne ein lineares Geschichtsverständnis zu etablieren, sollen im Zuge der Studie historisierende Querverweise in Form einer genealogischen Perspektivierung vorgenommen werden. Das Schreiben über Gegenwärtiges erfolgt somit mit stetem Blick auf sein historisches Geworden-Sein. In dieser Perspektivierung wird deutlich, dass die Anfänge beschriebener Entwicklung bereits am Beginn der Moderne zu verorten sind, sich jedoch zur Jahrtausendwende hin zuspitzen und eine neue Qualität aufweisen. In der Passage von der Moderne zur Postmoderne finden Bewegungen unmittelbarer, eindeutiger Abgrenzung statt; es lassen sich – gerade retrospektiv – aber gleichermaßen auch Kontinuitäten nachzeichnen, die bis in die heutige Lebensrealität hineinragen. Folglich kann es nicht darum gehen, das Heute linear aus dem Gestern abzuleiten. Vielmehr ist es das Ziel, eine Spurensuche zu unternehmen und in den heterogenen Strömungen der Gegenwart die Auswirkungen der Moderne aufzuspüren.

19 Zur Unterscheidung von Mikro- und Makroebene vgl. Läpple 1991, 43f. Um benannte ›neue Zeit‹ zu beschreiben, entstehen zahlreiche Begriffe, die von ›Postmoderne‹ (Bauman) über ›zweite Moderne‹ (Beck) bis hin zu ›Übermoderne‹ (Augé) reichen. All diese Begriffe grenzen sich explizit von der Moderne ab. Eine andere Kategorisierung, wie sie beispielsweise Giddens vornimmt, geht hingegen eher von einer Radikalisierung modernespezifischer Merkmale aus (vgl. Vonderau 2003, 8f). 20 Giddens 1996, 30.

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Die Fallbeispiele der vorliegenden Untersuchung entstammen dem 21. Jahrhundert. Dennoch setzt die Studie in ihrem theoretischen Betrachten bereits in den späten 1990er Jahren ein: Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges gehen maßgebliche faktische wie gedankliche Veränderungen geographischer Raumstrukturen und individueller Bewegungsfreiheit einher, wodurch die anfangs erwähnten Passagenräume an Bedeutung gewinnen. Besonders deutlich wird die Notwendigkeit des Überdenkens herkömmlicher Betrachtungsweisen gegenüber Räumen, Bewegungen, Grenzen und Entfernungen zudem mit Blick auf die exponentielle Entwicklung digitaler Kommunikationsmedien, wie sich an dem Aufkommen und der rasanten Verbreitung des Internets und des Mobiltelefons zeigen lässt. Mediale Kommunikation wird auf diese Weise ›passagentauglich‹, virtuelle Passagenräume durchdringen das städtische und persönliche Leben und ermöglichen ortsunabhängige, multimediale Verknüpfungen mit der ganzen Welt. In diesen Beobachtungen zeichnet sich ab, dass die heutige Lebenswelt durch eine Verzeitlichung von Grenzverläufen und eine Loslösung von starren geographischen Verortungen geprägt ist. Daraus resultiert für die vorliegende Untersuchung keine Hierarchisierung von Raum und Zeit, vielmehr soll gezeigt werden, dass die von Orten emanzipierten Grenzverläufe und Lebensläufe sich stets aufs Neue situativ räumlich konkretisieren. Passagenräume des Alltags stellen dabei – wie gezeigt werden soll – einen Inbegriff verzeitlichter Räume beziehungsweise verräumlichter Zeitlichkeit dar, was sich auf baulicher, bewegungspraktischer wie auch wahrnehmungsspezifischer Ebene niederschlägt. Die damit einhergehende Verschiebung zum Fragmentarischen und Disparaten ist ebenfalls ein Aspekt, der in dem Wortspektrum des Passageren enthalten ist: So spricht man bei einem Abschnitt beziehungsweise fragmentarischem Bestandteil, beispielsweise eines Textes, der aus dem Gesamtzusammenhang entnommen wurde, von einer Textpassage. Im Kontext des Theaters treten bei den betrachteten Passagen zu der für Texte geltenden Fragmenthaftigkeit noch die Merkmale des Prozessualen und Transitorischen hinzu, da sich die Form momentbasierter Aufführung einer Festschreibung, wie dies auf textueller Basis möglich ist, entzieht. Dies gilt besonders für die hier fokussierten Beispiele, bei welchen durch die Situierung im Stadtraum das Moment des Ungeplanten eingeplant werden muss. Wichtig ist bei aller prozessualen Ausrichtung aber, dass bei Theater in Passagenräumen nicht von reiner Kontingenz oder einem unaufhörlichen Fließen auszugehen ist. Vielmehr handelt es sich um passagere Formen kurzfristiger Verstetigung, Materialisierung und Auflösung. Die ebenfalls der Wortfamilie zugehörige Formulierung jemandem passiert etwas beziehungsweise jemand passiert etwas unterstreicht diese Ambivalenz, die gerade in ihrer Gleichzeitigkeit maßgeblich prägend für Passagenräume ist: So überlagern sich in ihnen unvorhersehbare Zufälle und einmalige Konstellationen, bei welchen jemandem etwas passiert beziehungsweise widerfährt und alltägliche

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Routinen, indem beispielsweise jemand Tag für Tag etwas passiert, sprich: an etwas vorbeigeht. Am Beispiel konkreter performativer Ereignisse in Passagenräumen soll überprüft werden, inwieweit sich durch diese spezifische Kombination aus alltagsspezifischer Regelmäßigkeit, gleichzeitiger steter Veränderung, Transformation und Ereignishaftigkeit in besonderem Maße Raum für Passagen und ein Überdenken beziehungsweise spielerisches Erproben von Alternativen eröffnen. Verbunden ist damit die Frage, ob sich Passagenräume durch die Veränderungen und Passagen im ausgeführten vielschichtigen Sinne in besonderem Maße als Raum für Theaterereignisse anbieten: »Alltag ist eine Form, die sich gerade durch das auszeichnet, was nicht signifikant erscheint, für die Produktion von Bedeutung, für Sinnzuschreibungen aber durchaus signifikant ist: beiläufiger Abfall, die ›Summe der Bedeutungslosigkeiten‹ [Lefebvre, m.E.]. Nicht das Einzigartige, Einschneidende, Entscheidende, sondern die Wiederholung des Gleichen, getaktet in der Aneinanderreihung von wiederkehrenden Zyklen, Tag für Tag, Woche für Woche. Alltag hat etwas Beruhigendes, verspricht Bequemlichkeit, nicht Aufregung und Überraschung, sondern die Institutionalisierung des Gewohnten, Gewöhnlichen. Und doch setzt das, was Alltag genannt wird, zugleich eine innere Unruhe voraus, die nicht nur jene Rhythmisierung unterminiert, die das Wort ›Alltagstrott‹ benennt, sondern den Alltag strukturell anfällig macht für Interventionen.«21

In den Untersuchungsbeispielen, die für unterschiedlichste Formen theatraler Alltagsinterventionen stehen, soll dieses Spannungsgefüge aus Verstetigung und Momenthaftigkeit, Regelmaß und Emergenz, Planbarkeit und Überraschung ausgelotet werden. Dabei schwingt stets die Frage mit, ob sich durch das Strukturgerüst der Regelmäßigkeit, das Passagenräume beispielsweise durch Fahrpläne bieten, die Chance auf längerfristige Veränderungen und sozio-kulturelle Passagen im Sinne gesellschaftlicher Übergänge erhöht. Dies führt zu einer Suche nach Übergängen im Sinne von Schwellen und Grenzverläufen, die in ihren zeitgenössischen Ausprägungen und Anwendungsbereichen in Passagenräumen ausgelotet und kritisch überprüft werden sollen. Zu diesem Zwecke lässt sich eine Anlehnung an die Ritualforschung Arnold van Genneps aus dem Jahr 1909 vornehmen. Trotz zeitlicher Distanz und einem abweichenden Forschungsinteresse lassen sich einige der Grundgedanken seines dreistufigen Modells der rîtes de passages auf heutige Kontexte übertragen. Bei den drei Phasen handelt es sich um eine Trennungsphase, bei der eine Loslösung aus dem bisherigen Zusammenhang erfolgt, genannte Übergangsphase, auch Schwellen- oder Transformationsphase genannt, bei welcher sich ein Zustand des ›Zwischen‹ einstellt, eine Zeit des Ephemeren, die auch Raum bietet für Ängste und 21 Schumacher 2005, 137. Vgl. weiterführend Lefebvre 1972, 31 sowie ders. 1974.

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Träume, und schließlich die Wiedereingliederungs- oder Inkorporationsphase, in der sich der Übergang in einen neuen, gesellschaftlich anerkannten Status vollzieht. Victor Turner nimmt eine Weiterentwicklung des von Gennep entwickelten Modells vor und konzentriert sich dabei auf die mittlere Phase des Übergangs, die Phase des Passageren, die im Kontext dieser Untersuchung von Interesse ist.22 Nicht nur die Übergänge, auch die Bewegungsformen – die Passagen durch Räume – verändern sich am Übergang zum 21. Jahrhundert grundlegend. Mit unterschiedlichen Bewegungsformen und -praktiken, wie Flanieren, Gehen, Passieren, Fahren oder Fliegen verändert sich auch die Selbst- und Außenwahrnehmung maßgeblich. In der theoretischen Reflexion dieser Zusammenhänge zeigt sich, dass über Bewegungspraktiken häufig zugleich gesellschaftliche Leitbilder verhandelt werden. Dies lässt sich beispielhaft anhand des Flaneurs zeigen, mit dem die Figur eines Gehenden etabliert wurde, der sich in mußevoll-genießerischer, aber zugleich in abständig-kritischer Haltung durch Stadt- und Gesellschaftsraum bewegt.23 Der sich um die Bewegungsform des Flanierens formierende Diskurs schließt sich an frühere Literarisierungen des Gehens im Sinne des Wanderns oder Spazierengehens an und grenzt sich zugleich von diesen ab. Denn schon zu Beginn der Moderne, »im Schrittrhythmus von Schuberts Liederzyklus Die Winterreise, fand die Erfahrung des ziellos wandernden, jeder Heimat verlustig gegangenen Bürgers ihren Niederschlag […]. Und Büchner, der seinen Lenz wie verrückt und doch gleichgültig durchs Gebirg gehen ließ […].«24

Etabliert, aktualisiert und tradiert wurde die Figur des urbanen Gehenden durch eine Reihe von Autoren, wie Edgar Allan Poe, Gustave Flaubert, Charles Baudelaire,

22 Vgl. Gennep 1986 [1909] sowie Turner 1989 [1969] sowie ausführlicher Kapitel 2.2. 23 Es handelt sich hierbei um eine Sozialfigur und zugleich einen literarischen Typus, der als ein explizit männlicher beschrieben wird, da es im 19. Jahrhundert kein vergleichbares weibliches Pendant gab: Frauen waren »Begleiterinnen, die Kurtisanen der Adligen oder die Grisetten der jungen Herren, sie gehörten zu dem, was zur Schau gestellt werden und dem Amüsement dienen sollte. Sie waren Objekte nicht Subjekte in den Passagen« (Dörhöfer 2007, 59). Mit der Entstehung der Warenhäuser und der damit einhergehenden Öffnung der Passagen, ging auch eine Öffnung der Räume für Frauen einher, was seitens der männlichen Raumbetreiber als Emanzipationsbewegung und Bewegung aus der privaten, häuslichen Umgebung in die Öffentlichkeit bezeichnet wurde (vgl. Dörhöfer 2007, 60f). 24 Primavesi 2007, 91 [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Kreuder 2002, 80ff.

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Walter Benjamin, Georg Simmel und Jean Baudrillard.25 Die performative Praxis des Flanierens lässt sich mit Gabriele Klein als ein »Umherschweifen als ›Vermessungsmethode‹« verstehen, als eine »Topographie der gelebten Erfahrung, eine Erzählung des Gehens, die sich als soziale Geographie formuliert und in der das körperliche Empfinden eine zentrale Stellung einnimmt.«26 Dabei ist die Frage nach der Wahrnehmung der Außenwelt sowie durch die Außenwelt entscheidend, denn die Bewegung des Flaneurs durch den Stadtraum erfolgt nicht zum Zwecke des Erreichens eines räumlichen, sondern eher eines gesellschaftlichen Ziels: Es geht ihm darum, gehend zu beobachten und dabei selbst beobachtet zu werden. Ostentativ werden auf diese Weise Muße und Zeit sowie die eigene Person zur Schau gestellt und dabei die Haltung gegenüber dem Zeitgeist – der beispielsweise durch Beschleunigung geprägt ist – sichtbar gemacht: »Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben.«27 Zwar handelt es sich hier um eine Denk- und Gesellschaftsfigur des 19. Jahrhunderts, es lässt sich aber die Brücke über die Moderne hinaus in die Postmoderne schlagen: »Etwa gleichzeitig mit dem Fließband der Fabriken wurden, um bei den ersten Weltausstellungen den Besucherstrom zu regulieren, die rollenden Bürgersteige erfunden, die noch heute im Pariser Untergrund zu finden sind, in den endlosen Gängen von Messen und Flughäfen oder, stufenlos regelbar, als Laufband bei der Fitness-Produktion. Das Flanieren war aber immer schon zweideutig als Grenzgang oder dérive, Abdrift: Mimikry des Fußgängers an den Lauf der Dinge und zugleich eine Form der Subversion, demonstrativ langsames Gehen als letzter Widerstand gegen eine beschleunigte Warenzirkulation. Wenn alles fährt, rollt oder fliegt, kann der eigene, womöglich kollektiv verlangsamte Schritt plötzlich wieder zu einem Akt der Ausschweifung werden.«28

Mit dem Gehen in der Stadt29 befasst sich aus anderer Perspektive auch Michel de Certeau, der die städtischen Passagenvorgänge eines körperlich in die Abläufe in25 Ist die räumliche Heimat des städtischen Flaneurs die Passage des 19. Jahrhunderts, in der und durch welche sich diese Form des Gehens erst herausbildet (vgl. Benjamin 1982b, Dörhöfer 2007, 55 und Sennett 1995, 409), lassen sich als literarische Heimat der Flaneur-Figur die Schriften diverser Philosophen, Literaturwissenschaftler und Literaten bezeichnen (vgl. zum Diskurs des Flaneurs Corbineau-Hoffmann 2011, 118ff, Düllo 2010, 119ff, Neumeyer 1999 und Proske 2010). 26 Klein 2005a, 22. 27 Benjamin 1991, 556. 28 Primavesi 2008, 102 [Hervorhebung im Original]. 29 Vgl. de Certeau 1988.

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volvierten Gehenden mit einer abständigen Betrachterposition kontrastiert, die sich außerhalb des Geschehens befindet. Die von de Certeau vorgenommene Verschränkung eines konkreten Fortbewegungsaktes mit gesellschaftlichen Positionen und Erfahrungsmodi soll in den Fallbeispielanalysen, in denen die Positionen de Certeaus im Einzelnen ausgeführt werden, als wichtige Anknüpfungs- und Abgrenzungsgrundlage bei der Anwendung auf performative Entwürfe städtischen Gehens dienen. Neben dem Flanieren und Gehen bildet das pragmatische Passieren, dem die Figur des Passanten entspricht, einen weiteren Modus städtischer Bewegung. HannsJosef Ortheil grenzt den Passanten folgendermaßen vom Flaneur ab: »Der Passant – das ist nicht nur einer, der vorübergeht; es ist auch der, dem nichts mehr zustößt, auffällt, einer, dem nichts mehr begegnet oder geschieht. […] Dieser nach allen Seiten hin durchlässige Passant, der sich der Einrichtungen bedient und von ihrer Gestaltung verschluckt wird, ist an die Stelle des Flaneurs getreten. […] Wesentlich für den Passanten ist, daß er vorankommen will; er will weiter, fort, an einen anderen Ort, irgendwohin.«30

Diese Form des Gehens erfolgt zu einem spezifischen Zweck unter Fokussierung eines zuvor festgelegten Ziels. Dabei rückt der Weg und das, was unterwegs passiert, beziehungsweise das, was der Passant unterwegs passiert, in den Hintergrund. Meist spielen konkrete Zeitvorgaben eine Rolle, die Strecke soll innerhalb einer vorgesehenen Dauer und möglichst reibungslos zurückgelegt werden, woraus ein Modus flüchtiger Begegnung resultiert: »Die Fußgänger eilen aneinander vorbei, ohne in unmittelbaren Kontakt zu treten. Jeder Einzelne, ein Fremder unter Fremden. Die Menschenmenge ist kein Ort der Begegnung und des Verharrens, sondern ein Ort des Durchgangs, der Passage, ein performativer Zwischen-Raum, der durch die Bewegung des Gehens – das eilige Dahinhasten über Pflaster und Asphalt – erzeugt und strukturiert wird. Doch dieser transitorische Raum bleibt nicht, entzieht sich, ist so flüchtig wie die Bewegung des Gehens selbst: Er entsteht und entschwindet im Augenblick. Denn die Bewegung erzeugt Verschwinden. Gehen ist stets, wie die Etymologie des Wortes bereits andeutet, ein Verlassen und Zurücklassen.«31

Mit dem paradoxalen Begriff des ›rasenden Stillstands‹32 beschreibt der (Medien-) Philosoph Paul Virilio die Gleichzeitigkeit zweier konträrer Strömungen: den zunehmenden körperlichen Stillstand bei gleichzeitig exponentiell zunehmender Beschleunigung und Geschwindigkeit, wodurch der Körper unbewegt durch den 30 Ortheil 1986, 30. 31 Fischer 2011, 157. 32 Vgl. Virilio 2002.

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Raum bewegt wird.33 Mit der Frage: »Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen, um anzukommen...?«34 weist Virilio pointiert auf das empfundene Verschwinden des Raums durch kurze Reisedauern trotz weiter Strecken und die damit verbundene Herausforderung räumlicher Verortung des Einzelnen hin. Die damit verbundenen Überlegungen zu veränderten Raum-, Zeit- und Körpererfahrungen sollen im Kontext der vorliegenden Studie fruchtbar gemacht und im Hinblick auf das 21. Jahrhundert weitergedacht werden.35 Zwar stehen die hier jeweils nur kurz skizzierten Ansätze in der historischen Genealogie ihrer jeweiligen Zeit, gleichwohl können sie als Vergleichsfolien dienen, um davon ausgehend Spezifika heutiger Raumformen und -praktiken in theatralem und alltäglichem Kontext kenntlich zu machen, wie auch diesbezügliche Kontinuitäten oder zyklisch auftretende Denkfiguren und Bewegungsmuster aufzuspüren und zu kontextualisieren. Wie sich damit bereits andeutet, durchlaufen nicht nur die Räume selbst und die Bewegungspraktiken, sondern auch das Denken und Forschen über Räume eine Passage:36 In Anbetracht der Raumdiskurse, die sich in Folge des ›Spatial Turn‹37 entfalten, sind Räume nicht mehr als rein baulich-architektonische Gebilde im Sinne eines Containerraums zu beschreiben,38 sondern werden durch Handlungen und Bewegungen situativ und relational hervorgebracht: Räume bilden sich durch Passagen heraus. Diese konzeptionelle Annäherung lässt sich paradigmatisch an Passagenräumen des Alltags exemplifizieren. Wie oben bereits ausgeführt sind Bewegung, Prozessualität und Temporalität hierbei konstitutive Elemente. Ist somit in Räumen im Allgemeinen ein Aushandlungsprozess bezüglich Konstellationen, Raumgefügen und Aneignungsformen erforderlich, trifft dies bei Passagenräumen in theatraler Praxis in gesteigertem Maße zu: Im städtischen Raum überschreiben sich Bedeutungen und Fährten ständig und werden unaufhörlich neu hervorgebracht. Theatrale Ereignisse fügen – wie die Analyse der zu Beginn angedeuteten Beispiele zeigen soll – diesem sich ständig wandelnden Gefüge weitere Bedeu-

33 Zum Thema Geschwindigkeit und Mobilität vgl. Kapitel 3. 34 Virilio 1978, 31. 35 Shuhei Hosokawa befasst sich mit den Zusammenhängen von Bewegung und Wahrnehmung mit Fokus auf die Einflüsse medialer Prozesse am Beispiel des Walkman-Hörens (vgl. zur Praktik des Kopfhörerhörens und zum Walkmaneffekt Hosokawa 1987 sowie weiterführend Bull 2004, 275-293, Föllmer 1999, 208ff, Kolesch, 2009, 15, Thomsen/ Krewani/Winkler 1990, 52ff). 36 Zur Idee vagabundierender Denk- und Wissensformen vgl. auch Gebhardt/Hitzler 2006. 37 Vgl. zum Begriff des Spatial Turn Kapitel 2.1. 38 Zum Konzept des Container- oder Behälterraums vgl. Läpple 1991 sowie Löw 2001, 1735.

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tungsschichten hinzu.39 Dies geschieht jedoch nicht wie bei einem Palimpsest oder der Ablagerung von Erdschichten, wobei die eine Ebene die darunter liegenden überdeckt, vielmehr findet ein vitales Wechselspiel zwischen den Ebenen statt. Im Sinne eines Theatralitätskontinuums wird dabei sichtbar, dass die Alltagstheatralität der Passagenräume auf das Theaterereignis einwirkt und dieses mitprägt, sich das Theaterereignis jedoch zugleich auch in den Alltagsraum einschreibt. Der Begriff des Theatralitätskontinuums wird im Rahmen dieser Untersuchung verstanden als ein graduelles, kontinuierliches Hervorbringen performativer Merkmale – in diesem Fall in Passagenräumen des Alltags. Mittels dieses Terminus’ soll gezeigt werden, dass Vorstellungen trennscharfer Grenzen zwischen alltäglichen und theatralen Praktiken Denkfiguren der Schwellen und Übergänge weichen müssen, innerhalb derer Graustufen sowie die Gleichzeitigkeit disparater Vorgänge Berücksichtigung finden. Diese Erweiterung bietet für das Theater zum einen die Chance steter Neuausrichtung, zum anderen erfolgt daraus auch die Notwendigkeit der Suche nach neuen Räumen und Formen. Damit sind unter anderem die Fragen verbunden, inwieweit institutionelle Strukturen in Zeiten flüchtiger Mobilität einem langfristigen Wandel ausgesetzt sind, welche strukturellen und ästhetischen Effekte eine Verortung in Passagenräumen mit sich bringt und inwieweit Theater als Reflexionsraum und Mittel des Sichtbarmachens und der produktiven Unterbrechung von Bewegungspraktiken, Beschleunigungslogiken und Fortschrittsfixierung dienen kann. Im Unterschied zur alltäglichen Nutzung der Passagenräume enthebt sich das theatrale Ereignis vieler der Notwendigkeiten und eingeübter Regularien, die beispielsweise eine zielgerichtete Passage von Wohn- zu Arbeitsstätte mit sich bringen würde. Dadurch erwächst eine gesteigerte Freiheit im Umgang mit Passagenräumen: Im Spiel können Handlungsmöglichkeiten erprobt und tägliche Nutzungsweisen theatral gerahmt oder gegebenenfalls affirmativ übersteigert werden, um gesellschaftliche Tendenzen zu markieren und zu verhandeln. Der Spielraum kann aber auch genutzt werden, um theatrale Widerständigkeiten in Passagenräumen zu bilden und auf diese Weise alltäglichen Bewegungs- und Durchgangslogiken einen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund des hier skizzierten Passagen-Panoramas entwickelt die vorliegende Studie drei Untersuchungsperspektiven: Die erste Perspektive richtet sich auf das Spannungsverhältnis von Mobilität und Verortung, wobei performative Ansätze im Umgang mit Geschwindigkeit, Flexibilisierung und Beschleunigung sowie passagerer Verortung und Vergemeinschaftung betrachtet werden. Der Stellenwert des Körpers ist hierbei ebenso entscheidend wie die flüchtigen Formen räumlicher Bezüge und zwischenmenschlicher Interaktion. Die zweite Perspektive 39 Zur Wechselwirkung von städtischen und theatralen Veränderungen vgl. Harvie 2009, 4ff sowie Whybrow 2010.

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fokussiert das sich im Kontext von Globalisierungs- und Medialisierungsphänomenen verändernde Verhältnis von Nahraum und Fernraum. Dabei werden Theaterereignisse auf ihre Möglichkeiten und Strategien hin befragt, sich in globalen Raumgefügen lokal zu verankern und performative Spielarten zu entwerfen, die über den Raum geteilter Anwesenheit hinausweisen. Die dritte Perspektive auf Passagenräume in theatraler und alltäglicher Praxis widmet sich den eng mit Mobilisierung, Globalisierung und Medialisierung verbundenen Verschiebungsprozessen von Öffentlichkeit und Privatheit. In Zeiten mobiler Kommunikation, medialer Durchlässigkeit von Wohnumgebungen und virtuell geteiltem Alltagsgeschehen sowie der Privatisierung und Überwachung städtischer Räume müssen die Möglichkeiten theatraler Veröffentlichung und temporärer Privatheit neu ausgelotet werden. Anhand dieser drei Begriffspaare, die explizit nicht im Sinne dichotomischer Gegensätze, sondern als Spannungsfelder im Sinne von Kontinuen verstanden werden, sollen die Verschränkungen performativer und alltagspraktischer Tendenzen der heutigen Gesellschaft, die sich in Passagenräumen kristallisieren, anhand folgender Leitfragen untersucht werden:40 Welche Wechselwirkungen, Synergieeffekte und Kollisionen entstehen bei der Positionierung von Theaterereignissen in Passagenräumen des Alltags und welches Transformationspotenzial wohnt dieser Zusammenführung inne? Inwiefern kann Theater in Passagenräumen zu einem performativen Urbanitätsbegriff beitragen, dessen Räume, Grenzen und Leitbilder ebenso wie routinierte Raumpraktiken und die eigene Raumwahrnehmung im Durchgang nicht als normativ und ontologisch gegeben, sondern in ihrer passageren Hervorgebrachtheit und Prozessualität zu kennzeichnen sind? Inwiefern eröffnen sich durch Theater in Passagenräumen des Alltags Reflexions- und Erfahrungs40 Neben der Eingrenzung des Analysezeitraums auf die Spanne von der Jahrtausendwende bis heute erfolgt bezüglich des Analyseraums eine geographische Eingrenzung auf Deutschland. Diese Fokussierung dient der erhöhten Vergleichbarkeit, da jedes Land durch seine geschichtlichen, sozio-kulturellen und politischen Implikationen unterschiedliche Passagenbewegungen hervorbringt. Darüber hinaus weichen die institutionelle Einbindung, der Stellenwert und die Räume des Theaters in unterschiedlichen Staaten stark voneinander ab. Dabei sollen jedoch nicht die nationalen Grenzen zugleich die Grenzen des Denkhorizonts sein. Ebenso wenig ist damit die Behauptung einer homogenen Theaterlandschaft innerhalb eines Landes verbunden. Vielmehr handelt es sich um einen Blick auf ein spezifisches sozio-kulturell-ökonomisches Gefüge innerhalb eines umgrenzten Zeitraums, welches jedoch in seinen Verweisen und Querbezügen sowohl räumlich als auch zeitlich über diesen gesteckten Rahmen hinausreicht. Die Vorgehensweise bei der Analyse der Fallbeispiele in Verschränkung mit gesellschaftlichen Tendenzen erfolgt nicht in Form einer quantitativen Erhebung, sondern als qualitative Untersuchung eines Phänomens, das unter topographischen, soziologischen und ästhetischen Gesichtspunkten anhand paradigmatischer Einzelphänomene untersucht wird.

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räume jenseits pragmatischer Zweckmäßigkeit? Inwieweit lässt sich eine kulturwissenschaftliche Einbettung des Theaters in ein alltägliches Theatralitätskontinuum vornehmen? Auf welchen Wegen kann Theater so zu einem Moment des Widerständigen werden und damit zu einem kritischen Befragen alltäglicher Abläufe und Leitbilder anregen? Mit der in den Forschungsfragen vorgenommenen Vereinigung von durch Bewegung hervorgebrachten, sich stets im Wandel befindlichen Passagenräumen des Alltags und dem Theater als immanent transitorische Kulturpraxis werden Begriffe wie Flüchtigkeit, Wandel und Übergang auch innerhalb des Schreibprozesses zu zentralen Denkfiguren. Anstelle des Fixierens von Spuren tritt der Versuch, die Prozessualität der Vorgänge mitzudenken. Darüber hinaus wird deutlich, dass im Akt des Schreibens und Beschreibens dieser flüchtigen Vorgänge stets die bestehenden und entstehenden Abwesenheiten und die eigene Historizität mitbedacht werden müssen, um das Geschriebene im Sinne de Certeaus nicht zur reinen Spur, zu einem Abbild werden zu lassen: »[D]ie Prozesse des Gehens können auf Stadtplänen eingetragen werden, indem man die (hier sehr dichten und dort sehr schwachen) Spuren und die Wegbahnen […] überträgt. Aber diese dicken oder dünnen Linien verweisen wie Wörter lediglich auf die Abwesenheit dessen, was geschehen ist. Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. […] Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens.«41

Passagen weisen sich stets aufs Neue als ephemer und transitorisch aus, da sich in dem Moment, in dem man sich um ihre Beschreibung und Materialisierung bemüht, die Grundkonstellationen bereits wieder grundlegend geändert haben. Fragmentarisches und Sich-In-Bewegung-Befindliches soll in der Analyse daher zwar in seinen Querbezügen transparent gemacht, jedoch nicht homogenisiert und fixiert werden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, Ambivalenzen aufzuzeigen und Unbeschreibbarkeiten zu kennzeichnen, um die zugrunde liegenden Vorgänge nicht zu überschreiben, sondern sichtbar werden zu lassen.

41 De Certeau 1988, 188f.

2 Methodische Annäherungen, Passagen und Abgrenzungen Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. IMMANUEL KANT

2.1 Z UGÄNGE UND Ü BERGÄNGE ZU EINEM ZEITGEMÄSSEN U RBANITÄTSBEGRIFF – R AUMBEGRIFFE IM E CHORAUM DES S PATIAL T URN »Von einem Turn kann man erst sprechen, wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten ›umschlägt‹, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte aufweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird.«1

In der von Doris Bachmann-Medick ausgeführten Weise lassen sich die Auswirkungen des Spatial Turn2 auf die Kultur- und Sozialwissenschaften beschreiben. Der in den späten 1980er Jahren erfolgte Paradigmenwechsel rückt somit den Raum als Betrachtungsgegenstand ebenso wie als Analysewerkzeug in den Fokus. 3 Die Vertreter dieser ›Raumwende‹ postulieren häufig eine Verschiebung von einer Zeit-

1

Bachmann-Medick 2006, 26. Als wichtige Referenzgrundlage folgender Ausführungen dient Markus Schroers Publikation unter dem Titel Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (vgl. Schroer 2006).

2

Den Begriff des Spatial Turn führte der Geograph Edward W. Soja in die Kulturwissenschaften ein (vgl. Soja 1989). Für einen Überblick vgl. Däumer/Gerok-Reiter/Kreuder 2010, Döring/Thielmann 2008, Dünne/Günzel 2006, Dünne/Friedrich/Kramer 2009, Günzel 2007 und 2010, Schroer 2006, Lippuner/Lossau 2004, 47-64, Löw 2001, Werlen 1997b.

3

Vgl. Bieri 2012, 113.

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zu einer Raumdominanz im zeitgenössischen Diskurs, wie dies unter anderem bei Michel Foucault zu lesen ist: »Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes.«4

Auch Fredric Jameson teilt diese Einschätzung und geht davon aus, »daß unser Alltag, daß unsere psychischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute – im Gegensatz zur vorangegangenen Epoche der ›Hochmoderne‹ – eher von den Kategorien des Raums als von denen der Zeit beherrscht werden.«5 Neben der Diagnose einer Raumdominanz werden jedoch auch zahlreiche Gegenstimmen laut, die wie Paul Virilio von einem »Ende des Raums«6 in der Postmoderne, wie Frances Cairncross vom »Tod der Distanz«7 oder wie David Harvey von einer »time-space compression«8 sprechen. Bei der Historisierung dieser Aussagen zeigt sich, dass darin ein wiederkehrendes Motiv liegt, das stets beim Aufkommen neuer medialer beziehungsweise technischer Entwicklungen, die sich im Raumumgang niederschlagen, zum Tragen kommt: »Das heutige mediale und räumliche Neue präsentiert sich […] im Rahmen einer Geschichte des Neuen, der Umbrüche und einer damit verbundenen wiederkehrenden Rede vom verlorenen oder überwundenen unmittelbaren Raum selbst, die das mediale Neue immer wieder als eines zugleich des Räumlichen kennzeichnet. […] Sie repräsentiert, paradoxerweise, im Diskurs des Umbruchs und des Neuen ein Statisches der Wiederholung.«9

Zeit und Raum können, gerade heute, nicht unabhängig voneinander gedacht werden, denn vor dem Hintergrund mobiler und medialisierter Raumgefüge und den mit ihnen verbundenen komplexen Zeitlichkeiten ist es wenig sinnvoll, diesen Hierarchiekampf beziehungsweise die Abgesänge auf eine der beiden Größen weiterzuführen. Nimmt die vorliegende Untersuchung den Raum zum Ausgangspunkt der Betrachtung, so soll dabei ein Raumbegriff zur Anwendung gelangen, der Verschie4

Foucault 1990, 34.

5

Jameson 1986, 60f.

6

Virilio 1994, 63.

7

Vgl. Cairncross 1997.

8

Vgl. Harvey 1990, 240-307.

9

Buschauer 2010, 16f. Zum historischen Zusammenhang neuer medialer Entwicklungen und der Rede um das Verschwinden des Raums vgl. Buschauer 2010, 15ff, Kaschuba 2004, 97, Schivelbusch 1977, 16.

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bungsprozesse im Umgang mit und in der Wahrnehmung von Zeit stets mitdenkt. Daran wird deutlich, »dass der Spatial Turn nicht ex negativo als Überwindung eines auf die Kategorie ›Zeit‹ fixierten Denkschemas bestimmt werden kann. Gerade weil ein simpel evolutionistisches Geschichtsbild nicht mehr gilt, ist der Spatial Turn nicht einfach das, was nach jener Zeit kommt, in der die Zeit alles galt. Insofern scheint es auch nicht besonders opportun, auf einer epochalen Bedeutung des Spatial Turn zu bestehen, wenn mit diesem Spatial Turn vorgeschlagen wird, zeitliche Kategorien, wie sie jene der Epoche darstellt, zu überwinden und das Denken von räumlichen Metaphern leiten zu lassen.«10

Dies zeigt sich auch darin, dass sich in scheinbar paradoxaler Manier die Diskurse um den Spatial Turn besonders gut mittels eines Begriffs zusammenführen lassen, »der sich an der Kategorie der ›Zeit‹ orientiert: Gleichzeitigkeit, Synchronizität. Die Gleichzeitigkeit von Phänomenen zu betonen, wie der Spatial Turn das tut, bedeutet, in räumlichen Begriffen gesprochen, sie neben-, unter-, über-, auf-, in- und umeinander zu sehen.«11

Besondere Relevanz entfaltet diese Perspektive vor dem Hintergrund medialer Raumverschiebungen: »Insofern kann nicht davon die Rede sein, dass Raum verschwinde. Vielmehr wird seine Wahrnehmung mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Technologie reorganisiert.«12 Es reicht daher nicht aus, sich ausschließlich auf die Errungenschaften der Raumwende in den 1980er Jahren zu berufen, obgleich viele der in diesem Kontext entstandenen Gedanken und Thesen noch immer grundlegend für die heutige Auseinandersetzung mit Räumen sind. Diese werden daher zum Ausgangspunkt genommen und durch aktuelle Forschungen erweitert und ergänzt. So vielfältig die Diskurse, die sich in den verschiedenen Wissenschaften seit dem Spatial Turn bis heute um das Thema Raum ranken, auch sein mögen, so scheinen einige Punkte in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion weitgehende Konsensfähigkeit erreicht zu haben: Dazu zählt die Annahme, dass sich Raum nicht auf seine baulichen Kriterien beschränkt, wie dies in der bereits genannten Perspektivierung eines Containerraums der Fall ist, sondern maßgeblich von der Bewegung, Nutzungsweise, Wahrnehmung und Sichtweise der Raumnutzer geprägt und hervorgebracht wird. Daraus lässt sich ableiten, dass sich Raum nicht als etwas Abgeschlossenes, Fixiertes und eindeutig Definierbares darstellt, sondern Anordnungen und Konstellationen, Nutzungsweisen und -intentionen eine zentrale Rolle spielen, wodurch so viele Räume wie Betrachter beziehungsweise Betrach10 Bieri 2012, 116. 11 Bieri 2012, 128 [Hervorhebung im Original]. 12 Bieri 2012, 117.

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tungswinkel bestehen.13 Es gibt folglich nicht den einen Raum als feste, messbare Größe, sondern vielmehr verschiedenste Räume und Raumebenen, die konstruiert, etabliert, dekonstruiert, imaginiert, bestimmt und begrenzt werden können und müssen. Im Anschluss an diese Grundannahmen, die zum Ausgangspunkt der Analyse werden sollen, erscheint es sinnvoll zu sein, die Frage, was der Raum ist, durch die Frage zu ersetzen, welche Raumvorstellungen vorliegen und welche dieser Konzepte für die Überlegungen zu Passagenräumen fruchtbar gemacht werden können. Durch das Ersetzen der »Was«- durch »Wie«-Fragen wird der Fokus auf die gedankliche und kulturelle Hervorbringung von Räumen und Raumvorstellungen gelenkt. Diese Schwerpunktverlagerung wie auch die Verabschiedung des Container-Modells sind jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Ablösung vom Materiellen; vielmehr sei hiermit auf die Gleichzeitigkeit konkreter und abstrakter Raumebenen verwiesen: »Auf der einen Seite ist der Raum sehr konkret, da er uns ständig zu umgeben scheint, wir uns ständig ›in‹ ihm aufhalten. Wir können Raum erfahren, können Räume begehen, betreten und wieder verlassen. Auf der anderen Seite ist der Raum äußerst abstrakt. Können wir uns unter ›Lebensraum‹ noch etwas Konkretes vorstellen, scheint schon der ›Weltraum‹ nicht mehr recht fassbar, weil er sich in seinen unendlichen Weiten und seinen immer noch expandierenden Ausmaßen unserer Erfahrung entzieht.«14

Markus Schroers Unterscheidung, die die Kontrastierung wie auch die Gleichzeitigkeit konkreter und abstrakter Elemente umfasst, lässt sich auf die Beschreibung und Analyse städtischer Passagenräume übertragen. Über den bei Schroer genannten Aspekt hinaus, dass es Räume gibt, die sich durch ihre Ferne der Erfahrung entziehen, finden hier neben konkreten, greifbaren Räumen im Sinne baulicher, materieller Substanz und architektonischer Struktur auch abstraktere Ebenen wie Raumpraktiken, soziale Interaktionen sowie Imaginationen Berücksichtigung. Eine begriffliche Differenzierung der architektonischen und der handlungs- und bewegungsbasierten Räume schlägt de Certeau in seinen Ausführungen zu Die Kunst des Handelns vor, indem er zwischen Orten und Räumen unterscheidet: Laut seiner Formel ist der »Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«15 Dieser Raumbegriff, den de Certeau Ende der 1980er Jahre entwickelt, findet in den folgenden Jahrzehnten breiten Anklang und kann auch für die vorliegende Studie zu einem Ausgangspunkt werden. Jedoch gilt es, diesen einer historisierenden Einbindung zu un-

13 Vgl. Koyré 1969 sowie Löw 2001, 24ff. 14 Schroer 2006, 10. 15 De Certeau 1988, 218.

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terziehen, ihn unter zeitgenössischen Bezügen neu zu denken und ihn auf die spezifische Raumform des Stadtraums anzuwenden. Das Ende des Urbanen? Würde man urbane Räume auf ihre baulichen Komponenten und somit nach de Certeau auf ihre Orte reduzieren,16 so bestünden diese lediglich aus einer Ballung an Gebäuden und Straßen, die in je spezifischer Anordnung und Ausprägung zu einem charakteristischen Stadtbild führten.17 Schnell wird bei einer solchen Herangehensweise aber deutlich, dass sich die daran geknüpfte Betrachtung der Stadt einer Raumvorstellung bedient, die für eine kulturwissenschaftliche Analyse von Stadträumen, besonders aber von Passagenräumen, ohne nennenswerte Aussagekraft wäre. Auf der Suche nach einem weiter gefassten, der vorliegenden Untersuchung dienlichen Stadtraumkonzept stellt sich heraus, dass zahlreiche Publikationen zum Thema Stadt durch einen Grundtenor der Klage über deren Verfall und den drohenden Untergang der Urbanität geprägt sind. Ein Beispiel hierfür liefert Vilèm Flusser, der schreibt: »Städte gibt es seit mehreren Jahrtausenden. Es wird sie möglicherweise nicht mehr lange geben. […] Städte haben nämlich – wie alle Kulturphänomene – spezifische Funktionen. Sie sind entstanden, um diesen Funktionen gerecht zu werden. Gegenwärtig häufen sich die Anzeichen dafür, daß diese Funktionen nicht mehr benötigt werden.«18 Um zu einem produktiven Stadtraumbegriff zu gelangen, gilt es zunächst den Gründen dieser Negativprognosen nachzuspüren. Dabei zeigt sich, dass die »ubiquitären Abschiedsgesänge«19, wie Schroer sie nennt, nicht ausschließlich ein Phänomen der letzten Jahre sind, sondern diese in der Geschichte der Stadtforschung durchgehend präsent waren: »Es gibt wohl kaum einen anderen Gegenstand, dem so oft ein baldiges Ende vorhergesagt wurde, wie die [sic!] Stadt.«20 Anstatt auf den Zug dieser Krisendiagnosen aufzuspringen, soll im Folgenden hinterfragt werden, ob Städte wirklich besonders anfällig für Verfallserscheinungen sind oder ob es sich dabei nicht vielmehr um den Ausdruck stark empfundener gesellschaftlicher Veränderungen und Dynamiken handelt, die sich in Städten als Kulminationspunkte von Entwicklung in besonderem Maße bemerkbar machen.

16 Vgl. de Certeau 1988, 218. 17 Zu der Diversität von Stadtdefinitionen und einem Überblick zur Geschichte des Städtischen vgl. Lichtenberger 2002. 18 Flusser 1991, 20. 19 Schroer 2006, 227. 20 Schroer 2006, 227.

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Neben einer allgemeinen Scheu vor Veränderung könnte das Gefühl des Verfalls zudem dadurch gespeist werden, dass der Beurteilung von Stadtentwicklungsprozessen fest in den Köpfen verankerte Vorstellungen und Idealbilder des Gebildes ›Stadt‹ vorauseilen, die als latente Vergleichsfolie fungieren. Eine zentrale Referenz bietet hierbei die heutige Vorstellung mittelalterlich geprägter europäischer Großstädte des 18. und 19. Jahrhunderts, die einen »verklärenden Blick in die Vergangenheit und einem mitunter geradezu katastrophischen Blick auf Gegenwart und Zukunft«21 befördern. Darin lässt sich eine stark normative Aufladung des Urbanitätsbegriffs erkennen, der mit Vorstellungen wie Bildung, Freiheit und aufgeklärtem Geist verknüpft ist und zudem in Sprachgebrauch und Vorstellungswelten einen diffus-überzeitlichen Erwartungshorizont zu erzeugen scheint: »Wer von urbanem Leben spricht, der denkt an Vielfalt, Mischung und Dichte, an belebte Boulevards und Flaneure, offene Plätze und Straßencafés als Stätten der Begegnung mit dem Fremden; an einen Ort, der pulsiert und in dem ein lebhaftes Treiben stattfindet.«22 Diese Bilder, die mit der heutigen Stadtrealität nur noch partielle Überschneidungen aufweisen, werden dennoch weiter tradiert und auch von Interessensgruppen wie der Tourismusbranche gezielt aufgegriffen und gespeist: »Der Tourismus macht sich diese Sehnsucht nach den übersichtlichen Städten mittelalterlichen Ursprungs mit ihren öffentlichen Plätzen längst zunutze. Städte, die vom Tourismus leben, tun alles dafür, das ursprüngliche Stadtbild zu bewahren oder wiederherzustellen, damit ihre Besucher in den Kulissen vergangener großer Tage umherwandeln können.«23

In Abgleich mit diesen Vorstellungsmustern wird die heutige Stadtrealität häufig – wie Schroer es beschreibt – »als Ort des Verfalls und der Barbarei« gesehen, in dem »Gewalt an der Tagesordnung ist und Krieg herrscht. Städte sind Orte der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gruppen, unterschiedlichen Ethnien, verfeindeten Gangs oder unterschiedlichen Lebensstilen. Die Kriminalität ist hoch, die Luft schlecht und die Einkaufspassagen öde. Nichts, so scheint es, ist übrig geblieben vom einstmaligen Glanz der Städte, in denen sich der Flaneur in das Abenteuer Großstadt stürzte – gierig nach Begegnungen mit dem Unbekannten und immer auf der Suche nach aufregenden Erfahrungen.«24

Zum Kanon nostalgischer Stadtverklärung gehört zudem die Vorstellung einer Stadteinheit, die sich heute im Zuge einer Fragmentierung – die sich vor allem in den Megacities des 21. Jahrhunderts zeigt – in Einzelteile auflöst, wie es Hartmut 21 Schroer 2006, 228. 22 Schroer 2006, 230. 23 Schroer 2006, 230. 24 Schroer 2006, 230.

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Häußermann schildert: »Es besteht die Gefahr, daß die Stadt als soziale Einheit zerbricht.«25 Eine wichtige Referenz für das Ideal der Ganzheit im Sinne städtischer und zugleich politischer Einheit, das die Moderne bestimmt, bietet die Polis der griechischen Antike. Obgleich es im Kontext heutiger Stadtrealitäten in globalen Zusammenhängen gänzlich neuer Entwürfe und Zuschreibungsmuster bedürfte, wird dieses bis heute immer wieder neu belebt, wodurch Politik und Stadt als Einheit gedacht werden, deren Schicksale miteinander verbunden sind.26 Um heutige Stadtgefüge zu analysieren, gilt es, sich von diesen überzeitlichen Vorstellungsmustern zu lösen, denn die »Gewohnheit, Stadt als Einheit zu denken, wird spätestens in unserer Gegenwart immer weniger plausibel. Ihre einzelnen Teile streben auseinander und können nur mehr mühsam zusammengehalten werden.«27 Es lässt sich somit zeigen, dass städtische Tendenzen vornehmlich als krisenhaft wahrgenommen und beschrieben werden, wenn an einer bestimmten Ausprägung des Städtischen unter der Idee der Ganzheitlichkeit festgehalten wird.28 Ohne die damit einhergehende Kritik an heutigen Stadtentwicklungen pauschal zu entkräften, soll von dieser Kopplung in der vorliegenden Untersuchung Abstand genommen werden, da ein rein negativer Blick auf der Suche nach Defiziten der Analyse keinen produktiven Ansatzpunkt bietet. Waren Städte schon immer durch die Koexistenz von Differenzen gekennzeichnet, spitzt sich der Aspekt der Heterogenität heute besonders zu, denn angesichts »zunehmender Globalisierung, also der Konfrontation und Kontamination mit weltweiten Einflüssen an einem Ort, sind die Städte Plätze krassester Gegensätze, Unterschiede und Vielheiten.«29 Anstatt diese Heterogenität als Zersplitterung abzutun, soll im Folgenden eher ein mobiler, flexibler Begriff von Stadt zur Anwendung kommen, der es ermöglicht, zeitgenössische Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, ohne dabei deren Vielschichtigkeit und Prozessualität zu verkennen. Dies erfolgt mittels einer Einbettung in globale Zusammenhänge, sodass die Wechselwirkungen zwischen Nahund Fernräumen, die sich in Passagenräumen kreuzen, eruiert werden können. Denn in der Diagnose, dass mit den Veränderungen »der Begriff Stadt selbst überholt«30 sei, wie Habermas überspitzt äußert, drückt sich nach Schroer »die problematische Haltung aus, dass den Dingen, die mit den Begriffen bezeichnet werden, keine inhärente Veränderung, kein Gestaltwandel zugestanden wird. Unterschlagen wird da25 Häußermann 1998a, 173. Zur Fragmentierung und Entgrenzung des Städtischen vgl. auch Pohl 2009. 26 Vgl. Schroer 2006, 236f. 27 Schroer 2006, 237. 28 Vgl. Schroer 2006, 238. 29 Schroer 2006, 240. Zum Zusammenhang von Nahräumen und Fernräumen vgl. Kapitel 7. 30 Habermas 1990b, 71.

34 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER bei, dass die Stadt schon immer als Sammelbegriff für eine Vielfalt städtischer Formen fungierte. Die Einheit des Gegenstandes, die der Begriff suggeriert, ist insofern eine Chimäre. […] Was wir beobachten können, ist ein fortwährender Wandel der Stadt, die durch alle Entwicklungsstufen und Veränderungsschübe hindurch durchaus als Stadt erkennbar bleibt. Oder besser: Die Verwendung des Terminus ›Stadt‹ ermöglicht es uns, jenseits des Wandels Kontinuität erkennen zu können.«31

Dieses Plädoyer für eine Passage des Begriffs Stadt ermöglicht die Abkehr von einer rein defizitären Betrachtungsweise und bietet Raum für eine zeitgenössische, kritische Haltung. In dieser Lesart erweist es sich als produktiv, Gesellschaft und Stadt zu Ableseflächen des jeweils anderen zu machen, wie auch Jürgen Friedrichs es anstrebt: »Stadtanalysen sind Gesellschaftsanalysen, Gesellschaftsanalysen auch Stadtanalysen.«32 Ergänzen ließe sich diese Aussage im Rahmen der vorliegenden Studie durch die Spezifizierung: Stadtanalysen sind auch Kulturanalysen, Kulturanalysen sind auch Stadtanalysen. Um diesen Ansatz fruchtbar zu machen, bedarf es eines gesteigerten Interesses für die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen raumbildenden Elementen, auf die im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird. Relationale (Stadt-)Räume Das Denken in Relationen gehört zu den zentralen Bestandteilen innerhalb von Michel Foucaults Schriften, wodurch eine Verschiebung von Zuständen zu Bezügen und Übergängen erfolgt und dynamische Abläufe Berücksichtigung finden. Mit seinen Überlegungen unter dem Titel »Andere Räume«33 setzt Foucault grundlegende Impulse für nachfolgende Raumkonzepte, die auch bei der Anwendung auf Passagenräume nutzbar gemacht werden können, da bei diesen der Aspekt relationaler Raumbildung durch Bewegung und Interaktion von besonderer Bedeutung ist.34 Unter den zahlreichen zeitgenössischen Theoretikern, die eine Weiterentwicklung des Foucault’schen Raumzugangs vorgenommen haben, sind für die vorliegende Untersuchung die Ansätze der Vertreterinnen und Vertreter der heutigen Stadtforschung wie Martina Löw, Markus Schroer oder Gabriele Klein von besonderer Relevanz. Auch jenseits dezidierter Stadtforschung ist seit einigen Jahren ein vermehrtes Interesse an städtischem Raum seitens unterschiedlicher Disziplinen zu beobachten: Geographie, Soziologie und diverse Kulturwissenschaften befassen

31 Schroer 2006, 241. 32 Friedrichs 1980, 14. 33 Foucault 1990. 34 Vgl. Foucault 1990, 38.

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sich eingehend mit urbanen Entwicklungen und Tendenzen, was auch für die Untersuchung von Theater in alltäglichen Durchgangsräumen eine wichtige Referenzgrundlage darstellt.35 Im Sinne Löws lassen sich heutige urbane Räume als Kondensationspunkte und zugleich Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen, Handlungen und Aneignungsprozesse bezeichnen, deren Bezüge sie als »relationale (An)Ordnungen«36 beschreibt. Wie bereits bei Foucault angelegt, werden hier die Relationalität und Dynamik, die für den Fokus auf Passagenräume von besonderem Interesse sind, weiter ausgebaut. Auf diese Weise rückt der Bewegungsbegriff mit besonderem Fokus auf spezifische Rhythmusstrukturen ins Zentrum des Stadtraumbegriffs. Der Terminus des Relationalen, hier verstanden als vielfältiges komplexes Beziehungsgefüge, das situativ ausgehandelt werden kann und muss, bietet sich als zentraler Baustein eines zeitgenössischen (Stadt-)Raumkonzepts an. Löw schreibt: »Um nicht zwei verschiedene Realitäten, Raum und Handeln, zu unterstellen, knüpfe ich an relativistische Raumvorstellungen an und verstehe […] Raum als eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst verändert.«37 Auch Klein befasst sich mit ähnlichen Fragen und beschreibt diese Zusammenhänge wie folgt: »Die Stadt, so Aldo Rossi, ist ein Kunstwerk. Vielleicht das größte Gesamtkunstwerk der Menschheit überhaupt. Die Stadt, so ließe sich ergänzen, ist ein dynamisches Kunstwerk, ein Kunstwerk, das lebt. Sie ist ein rhizomartiges Gebilde, das erst in der Bewegung wahrnehmbar und erfahrbar wird. Die Stadt, so Roland Barthes, ist ein Gedicht, ein auf das Subjekt bezogenes Gedicht. Ein Gedicht, dem die Menschen einen Rhythmus geben, indem sie die Stadt bewohnen und durchwandern. Ihr Bewegungsrhythmus ist es, der sich in den Raum einschreibt und die Stadt als eine In-Schrift und den Bewohner als deren Leser vorstellt, der in der Bewegung und Nutzung der Stadt die Textur des Städtischen aktualisiert und umschreibt.«38

Bei diesem Konzept von Stadt handelt es sich um einen steten Vorgang der Lektüre und Relektüre, der gleichzeitigen Einschreibung sowie um einen kreativen Prozess, der Möglichkeitsräume birgt. Auf diese Weise wird die Annahme gestützt, dass die Stadt nicht als vorproduzierter Text besteht, sondern erst durch Bewegungen und Handlungen hervorgebracht wird: »Die über Bewegung erzeugte Stadt ist eine 35 Vgl. zur aktuellen Stadtforschung exemplarisch Belina/Naumann/Strüver 2014, Löw/ Terizakis 2011, Berking/Löw 2008, Häußermann/Siebel 2004, Hauser/Kamleithner/ Meyer 2013, dies.: 2011, Kaplan/Wheeler/Holloway 2009, Lindner 2004. 36 Löw 2001, 166. Vgl. auch Schuler 2007, 39ff. 37 Löw 2001, 131. 38 Klein 2005a, 13. Vgl. zudem Barthes 1988, 199-209.

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räumliche In-Schrift körperlicher Bewegungen, eine imaginäre Stadt, die über die Einschreibung des durchwanderten Ortes in den Körper entstanden ist.«39 Im Folgenden soll von einem komplexen, relationalen Vorgang städtischer Hervorbringung ausgegangen werden, der in einer gegenseitigen Einschreibung von Stadtraum und den agierenden Akteuren vollzogen wird, bei welcher eine unentwegte Überlagerung von Bestehendem und Neuem zu beobachten ist. Damit grenzt sich die vorliegende Studie von der Vorstellung eines leeren Blattes, das es zu füllen gilt, oder einem bestehenden, gedruckten Text, den es zu lesen gilt, ab. In ähnlicher Weise merkt auch Foucault an: »[W]ir leben nicht innerhalb einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird.«40 Der sich daraus für diese Untersuchung ableitende Ansatz berücksichtigt die Gleichzeitigkeit und Untrennbarkeit von Räumen in materieller, bewegungsbedingter und imaginärer Gestalt.41 Performative Praktiken, die sich mit städtischen Passagenräumen auseinandersetzen, füllen dementsprechend auch keine Leerstellen, sondern modulieren Relationen und Rahmensetzungen. Neben diesen terminologischen Überlegungen mit dem Ziel, die Ausprägungen heutiger Bezüge beschreibbar zu machen, stellt sich die Frage, wie sich daran anschließend heutige Städte in ihrer relationalen Komplexität sinnbildlich darstellen lassen. Eine zu diesem Zweck häufig verwendete Metapher ist die des Rhizoms, die auf Gilles Deleuze und Félix Guattari zurückgeht. Zur Beschreibung komplexer Netzstrukturen und diversifizierter Strömungen eignet sich dieser Terminus besonders, da er – wie Dieter Mersch es formuliert – die Eigenart besitzt, »ein Drittes zwischen Ordnung und Chaos zu markieren, das sich einfacher Theoretisierung widersetzt.«42 Bei einem Rhizom handelt es sich um ein komplex wucherndes, multizentrisches und nomadisches Wurzelsystem, bei welchem Vielheit und Einheit nicht mehr gegensätzlich zu denken sind, da in der botanischen Klassifizierung prinzipiell jeder beliebige Punkt mit jedem anderen in Verbindung steht und sich zugleich – im Sinne des Passageren – die Bezüge stets ändern. Das Rhizom ist folglich ein »nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne

39 Klein 2005a, 23. 40 Foucault 1990, 38. 41 Zum Verhältnis von materiellen oder realen und imaginierten Räumen vgl. Soja 1996. Auch Manuel Castells nimmt bei seinem Ansatz zum ›global space of flows‹ einen Brückenschlag zwischen materiellen Strömungen, etwa dem Warenstrom, und immateriellen Strömungen, wie Gedanken-, Wissens- und Kommunikationsströmen vor (vgl. Castells 1989, ders.: 1994, 120-134). 42 Mersch 2011, 50. Vgl. für den folgenden Abschnitt Deleuze/Guattari 1977, 11ff.

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General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.«43 Die Übertragung auf postindustrielle Städte benennt eine Abgrenzung gegenüber der tradierten Raumvorstellung, die sich in der Idee des Baumes manifestiert. Charakteristisch dafür ist eine primäre Hauptwurzel, auf welche die einzelnen Verzweigungen linear zurückzuführen sind, wodurch sich eine eindeutige, hierarchische Ordnung ergibt.44 Ein solch zentristisches Bild zeigen die historischen Stadtmetaphern wie das Konzept des Organismus, das die Antike bestimmt oder auch das der Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts, bei welcher die Anordnung und die (Transport-)Wege auf ein klar verortbares Zentrum ausgerichtet sind. Im Anschluss an Deleuze und Guattari grenzt sich Klein bei ihrer Beschreibung postindustrieller Städte von dieser Form linearer Ansätze ab, greift die rhizomatische Denkweise auf und schlägt zugleich eine Brücke zu performativen Praktiken und Terminologien: »›Stadt‹ ist weit mehr als eine geographisch definierte räumliche Ansammlung von Straßen, Wohnhäusern, Gebäuden und Parks. Stadt – das sind vor allem Menschen, ihre Figurationen und Netzwerke, ihre Lebenswelten und Lebensläufe. Arbeiten, Wohnen, Lernen, Kranksein, Sterben, Feiern und Genießen – hierfür werden Häuser gebraucht. Aber: Um Stadt als Gemeinschaft von Stadtbewohnern erfahren zu können, braucht es Räume in der Stadt. Es sind Räume, die nicht nur über stadtplanerische Entwürfe sondern in der alltäglichen Praxis über ein performatives Aushandeln und Definieren aller Stadtbewohner entstehen. Sie definieren den öffentlichen Raum als ein Netzwerk von lokalen Orten. […] Stadt, verstanden als imaginärer und realer Raum, ist also nicht primär eine Frage der räumlichen Ordnung, der Stadtplanung und Architektur, der Straßen und Gebäude. Stadt ist ein dynamisches Gebilde mit Systemeigenschaften. Es ist ein Kunstwerk, dessen Gestalt performativ immer wieder neu gebildet wird.«45

Damit bietet Klein der vorliegenden Untersuchung eine anschlussfähige Bezugsgrundlage, da auf dieser Basis gezeigt werden kann, wie vielversprechend eine 43 Deleuze/Guattari 1977, 35. Vgl. zum Prinzip der Zirkulation, unter anderem in Auseinandersetzung mit den Ansätzen Stephen Greenblatts, Karl Marx und Arjun Appadurais die Ausführungen von Peter W. Marx (Marx 2008, 33ff). 44 Vgl. Deleuze/Guattari 1977, 29f. 45 Klein 2005a, 18. Das Netz ist eine häufig verwendete Stadtmetapher: Foucault spricht von einem »Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt« (Foucault 1990, 34), Funken und Löw von einer Entwicklung der »Konzeptualisierung des Raums vom Container hin zum Netzwerk« (Funken/Löw 2002, 69) und Castells spricht im Zusammenhang mit seinem Konzept des space of flows von einer ›network society‹ (Castells 1996). Zu den Überschneidungen und Abgrenzungsmerkmalen genannter Ansätze vgl. Buschauer 2010, 136f.

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Analyse theatraler Phänomene in städtischen Räumen sowie auch die Anwendung performativer Begriffe im Rahmen von Stadtanalysen sind. So sind die »Interventionen der Kunst in die Stadt […] aus dieser Perspektive des Umbruchs der Stadt nicht nur von ästhetischer, sondern vor allem von aktueller gesellschaftlicher und politischer Relevanz.«46 Von theaterwissenschaftlicher Warte aus lassen sich daraus kulturelle und gesellschaftliche Handlungsräume und performative Spielräume ableiten, die in körperlichem Ausagieren stets aufs Neue gefüllt und aktualisiert werden können und müssen. Neben der dynamischen, relationalen Lesart des Städtischen, die, wie sich zeigen ließ, deutliche Anleihen bei performativen Prinzipien vornimmt, ist für die heutige Einordnung und Kategorisierung von Städten auch die urbane Tendenz zur Theatralisierung und Eventisierung von Bedeutung, deren Beginn Fischer-Lichte auf die 1990er Jahre datiert: »Nun ist seit den neunziger Jahren immer wieder darauf hingewiesen worden, daß seit der performativen Wende nicht nur neue Arten von Aufführungen entstanden sind, sondern wir es ganz allgemein mit einer Ästhetisierung und Theatralisierung nicht-künstlerischer Aufführungen zu tun haben.«47 Diese Beobachtung stellt auch Klein an und leitet daraus den Bedarf an neuen ästhetischen Ausdrucksformen sowie an performativen Interaktionsstrategien mit der sozialen Lebenswelt und dem urbanen Gefüge ab: »Mit der Szenifizierung des urbanen Raumes, der Theatralisierung des Sozialen und der Eventisierung der Stadtpolitik ist die Stadt zur Bühne mutiert, zu einem theatrum mundi des Neoliberalismus. Wenn cultural performances als Medienevents inszeniert, als profitversprechendes Entertainment konzipiert und als Show angelegt sind, wenn also die Interventionen in den Stadtraum längst zu einem Geschäft geworden und selbst künstlerische Aktionen im Stadtraum zum Bestandteil von kommunaler Imagepolitik geworden sind, stellen sich neue Anforderungen an Kunst im öffentlichen Raum. Anders als noch in den 1960er Jahren sind performative Eingriffe mit dieser sozialräumlichen Allgegenwärtigkeit des Theatralen konfrontiert; […] die Performance-Kunst ist aufgefordert, eine ästhetische Strategie zu finden, die die immer subtiler gewordenen Grenzen zwischen Spiel und Ernst, Schein und Sein, Imaginärem und Realem auszuloten und sich als das Andere, das Ver-Störende, das BeFremdliche im theatralisierten Raum der postindustriellen Stadt zu zeigen vermag. Gerade indem sie ästhetische Praxis im und als sozialen Prozess definiert, indem sie auf Skript und Charakterrolle verzichtet und ihr Spiel ein ›serious game‹ ist, das nicht so tut als ob, sondern das ist, Gegenwart herstellt und unwiederholbar ist, ist gerade die auf Körper und Bewegung, auf Selbst-Erleben und Mitbeteiligung der Zuschauer abhebende Performance ein anderes Medium der Wissensproduktion – auch über den urbanen Raum.«48 46 Klein 2005a, 16. 47 Fischer-Lichte 2004, 343. Vgl. auch Klein 2005c, 67-82 sowie Willems/Jurga 1998. 48 Klein 2005a, 27f.

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Kulturelle Prozesse schreiben somit Stadträume mit, stellen Teile des Gefüges dar, aus dem Stadt hervorgebracht wird. Dieser performativ ausgerichtete stadtsoziologische Ansatz befördert im Sinne der oben ausgeführten konzeptionellen Überlegungen einen zeitgenössischen, offenen Blick auf Städte und Stadträume. Auf diese Weise können künstlerische und kulturelle Prozesse im Wechselspiel mit kulturwissenschaftlicher Reflexion zu einem neuen Urbanitätsbegriff beitragen.49 Dadurch wird auch eine Öffnung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Stadtplanung, Kultur und Wissenschaft befördert, deren Engführung auch die vorliegende Studie anstrebt: »Urbanität wandelt sich damit von einem normativen Konzept von Stadtplanern, Stadtsoziologen, Urbanisten und Architekten zu einer ästhetischen Erfahrung von Bewohnern und Reisenden in urbanen Landschaften. […] Gerade die ›neue Urbanität‹ macht einen Dialog zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen, theoretischen und erfahrungsgeleiteten, strukturellen und an Praxis orientierten Perspektiven notwendig. Zunehmend sind die Künste aufgefordert, ästhetische Positionen zu urbanen Kulturlandschaften zu formulieren und auf diese Weise stadttheoretische Diskurse zu flankieren.«50

Bei aller Hervorhebung und Betonung der Durchlässigkeit ist, um eine Analyse städtischer Räume in Verbindung mit performativen Ereignissen zu ermöglichen, ein Bewusstsein dafür erforderlich, dass dadurch städtische Räume – besonders in ihrer Verschränkung mit Theaterereignissen – eine solche Komplexität aufweisen, dass letztlich jeder Versuch, diese zu erfassen und zu analysieren, an seine Grenzen stoßen wird, wie Mersch betont: »Was bleibt, ist eine Unbestimmbarkeit. Entsprechend sind wir mit multiplen Schichten und Ebenen konfrontiert, die einen ständigen Wechsel von Perspektiven erfordern und zwischen denen allenfalls rudimentäre Verbindungen vermitteln – sprunghafte Übergänge, Passagen evoziert durch Ereignisse und Leerstellen, die die Verkehrsnetze füllen und in der dezentrierten Stadt ihre Bilder vorgeben. Sie verwandeln deren Ausbreitung in visuelle Oberflächen. Die Stadt erscheint als ein Konglomerat aus wechselnden Tableaus, aus Einzelbelichtungen. Sie beruht nicht mehr auf Orten und Wegen, die Orientierung versprechen, sondern auf Differenzen, Augenblicken und Fragmenten. Kein Zweifel – die Städte sind unlesbar geworden. Sie gleichen einer amorphen Streuung, einer Kette aus disparaten Lokalitäten und Zeitschnitten. Sich in ihnen zu bewegen heißt, lediglich regionale Ausschnitte zu überblicken, einzelne Zonen oder Parzellen zu bewohnen, ohne eine genaue Karte zu besitzen.«51

49 Vgl. Klein 2005a, 15f. 50 Klein 2005a, 18f. 51 Mersch 2005, 51.

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Es gilt einschränkend zu bemerken, dass Städte nicht erst heute durch ihre Komplexität und Unlesbarkeit gekennzeichnet sind, sondern diese Eigenschaften zu ihren überzeitlichen Spezifika gehören. In jeder Zeit erscheinen rückblickend Stadtgefüge vergangener Epochen als vermeintlich übersichtlicher als die der eigenen, was von der Dichte an Neuem und Unbekanntem abhängen mag. Folglich ist es immer wieder aufs Neue erforderlich, kontext- und zeitgebundene Strategien des Ordnens und Überblickens aktueller urbaner Gefüge zu entwerfen. Waren Städte somit schon immer Räume, in denen sich Neuerungen zeigen und Impulse für Veränderungen entstehen, lassen sich diese in Zeiten der Mobilität und globalen Vernetzung darüber hinaus als Brenngläser weltweiter Entwicklungen nutzen. Hier werden Vorgänge des Aufbruchs und der Stabilisierung, der Bewegung und des Fixierens, des Globalen in Verschränkung mit dem Lokalen und die Grenzverläufe des Privaten und Öffentlichen neu verhandelt und unentwegt passager auf die Probe gestellt. Gilt dies für Stadträume im Allgemeinen, stellen Passagenräume hinsichtlich genannter Veränderungen gewissermaßen einen Verdichtungsraum innerhalb eines Verdichtungsraums dar, was sie für die vorliegende Studie als Analysegegenstand prädestiniert. Anstatt somit die von Mersch benannte Unbestimmbarkeit und die Komplexität des Urbanen als Anlass zur Kapitulation zu nehmen, gilt es im Bewusstsein dieser Begrenztheit gezielt Facetten des Städtischen im frühen 21. Jahrhundert herauszuarbeiten, diese analytisch zu rahmen und näher zu beleuchten: »Der Bruch ist […] ein Prinzip von Urbanität ebenso wie die Fähigkeit, sich über den Bruch hinwegzusetzen.«52 Dieses Vorgehen eines produktiven Umgangs mit Bruchstückhaftem und Transitorischem schließt sich an die Idee de Certeaus an, Stadt als Konzept anstatt als Tatsache zu denken, wodurch das Prozessuale und Passagere betont wird. Die sich dabei eröffnende Möglichkeit zur Gleichzeitigkeit des Wissens um Pluralität und zu pragmatischer Vereinfachung führt de Certeau in Bezug auf Stadtplanung aus; ein Gedanke, der ebenso für Stadt- und Theateranalysen nutzbar gemacht wird: »Die Allianz von Stadt und Konzept führt zwar niemals dahin, daß sie identisch werden, aber sie bemüht sich um ihre immer engere Symbiose: Stadtplanung bedeutet, gleichzeitig die Pluralität (auch der Wirklichkeit) zu denken und diesem Pluralitätsgedanken Wirksamkeit zu verleihen; und das wiederum bedeutet, wissen und artikulieren zu können.«53

Die Umsetzung dieses Pluralitätsgedankens soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung somit nicht als eine Suche nach klar definierten Stadtgrenzen und -konzepten erfolgen, sondern mittels eines Herantastens über heterogene Einzelphänomene des Passageren Urbanen in alltäglicher und kultureller Praxis. 52 Klein 2005a, 21. 53 De Certeau 1988, 183 [Hervorhebung im Original].

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2.2 T HEATER IN P ASSAGENRÄUMEN – H ISTORISCHE UND THEORETISCHE ANNÄHERUNGEN AN EINEN ZEITGENÖSSISCHEN T HEATERBEGRIFF Dem Facettenreichtum des zu Beginn des Kapitels entfalteten Passagenpanoramas sowie des soeben entwickelten Stadt-Raum-Begriffs kann nur ein weites Theaterverständnis gerecht werden, das weniger nach Abgrenzungen zwischen theatralen und alltäglichen Vorgängen als nach deren Überschneidungen und Wechselwirkungen in kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Ausrichtung sucht. Nur so scheint eine Einbettung theatraler Ereignisse und Projekte in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang möglich und sinnvoll zu sein und eine rein kunstwissenschaftliche Fokussierung kann durch die Engführung mit sozio-kulturellen Strömungen, Umbrüchen und Entwicklungstendenzen ergänzt werden. Neben dieser Weitung des Blicks sollen auch die Grenzverläufe zwischen performativen Formen durchlässig gestaltet werden. Dies bedeutet, dass weder ein Ausschluss einzelner Gattungen – wie Theater, Oper oder Performance54 – noch solcher kultureller Praktiken erfolgt, die jenseits institutioneller Einbindung Aufführungscharakter aufweisen. Dazu zählen beispielsweise Darstellungs- und Versammlungsformen wie Flashmobs oder auch urbane Sportarten wie Parkour. Diese Erweiterung des Gegenstandsbereichs entspricht laut Fischer-Lichte einem wissenschaftlichen Perspektivwechsel, dessen Beginn sie in den 1990er Jahren ansiedelt: »Nun traten die bisher weitgehend übersehenen performativen Züge von Kultur in den Blick, die eine eigenständige Weise der (praktischen) Bezugnahme auf bereits existierende oder für möglich gehaltene Wirklichkeiten begründen und den erzeugten kulturellen Handlungen und Ereignissen einen spezifischen, vom traditionellen Text-Modell nicht erfaßten Wirklichkeitscharakter verleihen. Die Metapher von ›Kultur als Performance‹ begann ihren Aufstieg.«55

Um den der Studie zugrunde liegenden Theaterbegriff trotz seiner weit gesteckten Grenzen zu schärfen, sollen in den folgenden theoretischen Überlegungen einige Spezifika herausgearbeitet werden, die das Theater in Passagenräumen des 21. Jahrhunderts prägen. Wird Theater als Terminus in vielen zeitgenössischen Studien umgangen oder umschrieben, soll dieser hier ganz gezielt als ein Oberbegriff disparater Vorgänge des Zeigens, Schauens und Erlebens in Passagenräumen weitergeführt und im Sinne performativer Vielfalt aktualisiert werden. Zur Konturierung des Theaterverständnisses erfolgt neben theoretischen Annäherungen eine eng damit verknüpfte Einbettung in den historischen Tiefenraum. Diese strebt keine ausgiebige

54 Zu den Grenzverläufen zwischen den Gattungen vgl. Fischer-Lichte 2004, 78f. 55 Fischer-Lichte 2004, 36.

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Untersuchung vergangener Strömungen an und möchte ebenso wenig eine evolutionäre Lesart implizieren, bei der das zeitgenössische Theater als stringente Weiterentwicklung beispielsweise der historischen Avantgarden gedeutet würde. Stattdessen soll die Geschichtlichkeit der Gegenwart in ihren historischen Spuren, Querverbindungen, Kontinuitäten und Brüchen im Sinne eines genealogischen Abtastens nachgezeichnet werden. Räume des Theaters Die Vorstellung von einem Theater, das fest an ein dafür eingerichtetes oder gar erbautes Haus gebunden ist, dient in vielen zeitgenössischen Diskussionen als Vergleichsfolie, vor der Spielformen außerhalb dieser Raumgrenzen als zeitgenössische Sonderformen des Theatralen beschrieben werden. Das Theater zieht aus dem Theater aus, so heißt es häufig, womit eine begriffliche Gleichsetzung des Theatergebäudes mit dem Theaterereignis verbunden ist.56 Jedoch handelt es sich bei dieser Referenzgrundlage um eine Form, die einen vergleichsweise kurzen Abschnitt der Theatergeschichte ausmacht: So entstehen geschlossene Theatergebäude, die eigens künstlerischen Zwecken dienen, erst im 16. Jahrhundert mit dem Teatro Olimpico in Vicenza, dem ersten freistehenden Theaterbau jenseits einer engen Einbettung in den höfischen Kontext seit der Antike.57 Deutlich längere Zeitspannen werden hingegen durch theatrale Formen geprägt, die mobil und ohne festen Sitz agieren, wie sich am Beispiel der Wandertruppenbewegungen, der Commedia dell’Arte und den mittelalterlichen Passions- und Osterspielen exemplarisch zeigen lässt.58 Damit verbunden ist eine lange Geschichte der sozio-kulturellen und politischen Einbindung des Theatralen in andere Gesellschaftsbereiche und in das städtische Geschehen, wie es beispielsweise der enge Zusammenhang theatraler und politischer Vorgänge im Rahmen der antiken Polis oder der höfischen Festformen in Barock und Renaissance deutlich erkennen lässt. Der dezidiert der Kunstrezeption und der sozialen Zusammenkunft gewidmete Theaterbau kommt in der Zeit der Nationaltheaterbewegung sowie des aufkommenden Bürgertums zu voller Blüte, das »sich im 18. und 19. Jahrhundert einen geschützten Innenraum zur Selbstverstän-

56 Vgl. Kramer/Dünne 2009, 22. Für einen Überblick zur Geschichte theatraler Raumanordnungen vgl. auch Fischer-Lichte/Wihstutz 2013 sowie Wiles 2003. 57 Vgl. Haß 2005, 256ff, Rigon 2004. Der erste freistehende Theaterbau in Deutschland ist das Ottoneum in Kassel aus dem Jahr 1606 (vgl. Burkhardt 2010, 11 und Lange 1997). 58 Vgl. Primavesi 2007, 81.

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digung über ihre emotionalen Befindlichkeiten und moralischen Werte«59 schafft, was in der Verbreitung von Stadt- und Staatstheatern und der Form theatraler Einbindung in die Gesellschaft bis heute nachwirkt. Damit erklärt sich, dass Mitte des 20. Jahrhunderts geschlossene Theaterhäuser bürgerlichen Vorbildes so weitreichend institutionalisiert und tradiert sind, dass diese im Zuge der Umwälzungen und Proteste der 1968er-Bewegung zur zentralen Referenz- und Angriffsfläche werden. Wie oben erwähnt ist bei vielen Formen, die außerhalb eines institutionalisierten, architektonischen Rahmens stattfinden, häufig von einem Auszug aus den Theatergebäuden die Rede, auch wenn es sich dabei um theatrale Ausprägungen handelt, die noch nie in einem solchen angesiedelt waren. In den späten 1960er Jahren kann diese Redewendung jedoch wörtlich genommen werden: In einem demonstrativen, sichtbaren Akt der Abgrenzung ziehen Theatermacher dieser Zeit buchstäblich aus den Theaterhäusern aus und machen sich auf die Suche nach neuen Räumen, Ausdrucksformen und Schaukonstellationen. Dabei wird teilweise dezidiert auf eine »dem bürgerlichen Theater vorausgehende Tradition« zurückgegriffen, »die von der Antike über das Mittelalter bis zur Renaissance den Theaterraum eher als Außen, als öffentlichen und zugleich politischen Schauplatz definiert hat«60. Dieses Bestreben, das sich beispielsweise in Richard Schechners Aussage »The street is the stage«61 niederschlägt, ist in engem Zusammenhang mit einem Aufbegehren gegen etablierte Strukturen, Grenzen und institutionelle Einbindung in ein Stadt- und Staatstheatersystem sowie mit dem Wunsch nach Aneignung und Politisierung des öffentlichen Raums und des privaten Lebens zu sehen.62 Bereits damals fanden sich unter den zu Theaterräumen deklarierten Stadträumen zahlreiche Passagenräume wie U-Bahnstationen oder Einkaufszentren. Eines der mit den performativen Projekten in Passagenräumen der 1960er und 1970er Jahre verbundenen zentralen Anliegen liegt in der Erprobung der AkteurZuschauer-Konstellationen, wobei noch unmittelbar der Vergleich mit der tradierten Guckkastenanordnung und die Vorstellung fest definierbarer Zuordnungen von Akteuren und Zuschauern mitschwingt. Die Theaterteilnehmer gelangen dadurch zwar zu neuen Freiheiten, bilden aber dennoch nach wie vor zwei separate Gruppen: »In der Mehrzahl handelte es sich um Räume, die eine ständige Redefinition dieses Verhältnisses zulassen, beiden Gruppen kein festes Raumsegment zuweisen und so für beide eine Fülle von Bewegungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten be59 Primavesi 2007, 80. Unter dem Aspekt gesellschaftlicher Repräsentation lassen sich Vorläuferformen solcher Theaterstätten bereits bei Ludwig XIV. finden (vgl. Kolesch 2006). 60 Primavesi 2007, 80. 61 Vgl. das Kapitel »The street is the stage« in Schechner 1993, 45-93. 62 Zur Politisierung des Theaters im Kontext der 1968er Jahre vgl. Gilcher-Holtey/Kraus/ Schößler 2006, Kreuder/Bachmann 2009, Marschall 2010. Zu den Begriffen des Öffentlichen und Privaten vgl. ausführlich Kapitel 10.

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reithalten.«63 Mit den in der Folgezeit florierenden Experimenten und Ereignissen im Kontext der sogenannten »performativen Wende«64 der Künste westlicher Kultur seit den 1960er Jahren, die zu einer Entgrenzung der Künste wie auch der Raumkonzepte führte, geht eine verstärkte Hinwendung zum Handlungsvollzug sowie zu erhöhter Sichtbarkeit in städtischen Räumen einher, »die nicht nur in den einzelnen Künsten einen Performativierungsschub bewirkt, sondern auch die Herausbildung einer neuen Kunstgattung nach sich zieht, der sogenannten Aktions- und Performancekunst.«65 Bei dieser handelt es sich unter Raumaspekten um eine »Kunstpraxis, die nicht-linear und disharmonisch, nicht-repräsentierend und interpretierend agiert. Sie ist eine theatrale Praxis, die Räume herstellt, indem sie diese in und durch die Aufführung erst als theatrale Räume definiert. Von daher wundert es nicht, dass sich die Performance-Kunst seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren als eine Kunstpraxis jenseits des klassischen Theaterrahmens definierte und sich Orte im öffentlichen Raum suchte.« 66

Zentrale Impulse gehen von den bildenden Künstlern um die Fluxus-Gruppe, die Wiener Aktionisten, Joseph Beuys und Wolf Vostell aus. 67 Den genannten Einzelakteuren und Gruppierungen ist eine Interessensverlagerung vom Werk- zum Prozesshaften sowie die Neuaushandlung des Zuschauer-Akteur-Verhältnisses gemein, auf die im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. Zudem rückt die Kategorie der Bewegung in den Fokus theatraler Vorgänge. Mobile Raumanordnungen Wurde Bewegung seit dem 18. Jahrhundert bis in die Zeit der Avantgarden vornehmlich im Sinne eines inneren, seelischen Vorgangs diskutiert, eine »übertragene Redeweise, die eben das ausschließt, was eigentlich, wörtlich gesagt wird.«68, wird sie nun im Sinne einer körperlichen Mobilisierung im Raum zu einem entscheidenden Motor des Produktions- und Rezeptionsvorgangs. Damit rücken auch Fortbewegungsformen wie das Gehen ins Zentrum künstlerischen Interesses: »Jene elementare Körpertechnik wird nicht als untergeordnetes Element verwendet, sondern

63 Fischer-Lichte 2004, 192. 64 Fischer-Lichte 2004, 22. Vgl. zudem dies. 1998, 15ff. 65 Fischer-Lichte 2004, 22. Vgl. auch Carlson 1996, Fischer-Lichte/Roselt 2001, 237-253, Phelan 1993. 66 Klein 2005a, 24. 67 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 22f. 68 Primavesi 2008, 87.

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in den Status einer autonomen künstlerisch-performativen Handlung gehoben.«69 Damit wird der Grundstein für das Gehen als Kunstform in postmodernen Entwürfen gelegt, deren »Früchte in Kunst und Theater der Gegenwart zu finden sind.«70 Klein thematisiert das Gehen im Kontext der Performance mit Schwerpunkt auf die damit verbundene Heterogenisierung und Diversifizierung: »Das Gehen konzentriert sich auf das Gegenwärtige, Diskontinuierliche. Es thematisiert die Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Städtischen als Bewegungserfahrung. […] Es ist eine Aussage von unbestimmter Vielfalt, Gehen als Äußerung vervielfacht die Stadt, es produziert mannigfaltige Stadtbilder, die die Stadt als dynamische Vielheit, als rhythmisches Geschehen wahrnehmbar machen. Das Gehen verhindert Einheit, es schreibt die vielen Dimensionen des Städtischen, ihre Plateaus. Es ist eine Kartierung in der Performanz.«71

Auch Primavesi bezeichnet die körperliche Mobilisierung als Charakteristikum heutigen Theaters: »Gegenwärtige Theaterformen arbeiten vielfach daran, Zuschauer auf neue Weise zu bewegen, nicht bloß metaphorisch, durch innere Rührung, sondern auch physisch, durch körperliche Aktivität. Offensichtlich beeinflusst von Impulsen der Performance und der bildenden Kunst werden im Theater außerhalb davon immer häufiger Situationen geschaffen, wo die Wahrnehmung der Zuschauer ähnlich wie bei einer Ausstellung oder Installation einen Prozess des Herumgehens voraussetzt oder gar eine gemeinsame Autofahrt, wie bei Stefan Kaegis Cargo Sofia.«72

Als paradigmatische Strömung, die sich explizit mit dem Vorgang des Gehens befasst, sei aufgrund ihrer mannigfaltigen Querverbindungen zu heutigen Theaterkonzepten die Situationistische Internationale73 hervorgehoben, die durch Guy Debord geprägt wurde und »als die letzte große Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts, die Wende zur postmodernen Ästhetik markiert.«74 Debord wählt die Bewegungsform des umherschweifenden Gehens, des dérive, dessen Spezifika Klein wie folgt zusammenfasst: »Das Herumschweifen als ›Vermessungsmethode‹ ist eine Topographie der gelebten Erfahrung, eine Erzählung des Gehens, die sich 69 Fischer 2011, 18. Auch Rebecca Solnit datiert die Etablierung des Gehens als eigenständige Kunstform in den 1960er Jahren: »But one new realm of walking opened up in the 1960s, walking as art.« (Solnit 2001, 267.) 70 Fischer 2011, 23. 71 Klein 2005c, 72f. 72 Primavesi 2007, 79. 73 Vgl. Debord 1995a, 17ff, ders. 1995, 64ff, Thorau 2013, Wiegmink 2005. 74 Fischer 2011, 102.

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als soziale Geographie formuliert und in der das körperliche Empfinden eine zentrale Stellung einnimmt.«75 Neben dem gesteigerten Stellenwert somatischer Aspekte wohnt dieser Form städtischer Raumaneignung auch ein subversiver Gedanke inne, der naheliegende und nahegelegte Bewegungspraktiken und Lenkungsprinzipien durch deren Nichtbefolgung zu unterwandern sucht. Auch der Flaneur stellt sich der Bewegung der Massen durch eine GegenBewegung entgegen, wodurch sich das dérive auf den ersten Blick wie eine Neuauflage der flânerie im 20. Jahrhundert darstellt. Jedoch liegt eine unterschiedliche Intention vor, da das Flanieren weniger in Form einer aktivistisch motivierten gesellschaftlichen Gegenbewegung erfolgt, sondern im Sinne des Einnehmens einer individuellen Sonderstellung. Diese erzeugt der Flaneur über die demonstrativ zur Schau gestellte Muße, denn bereits der Vorgang, seine Zeit mit bloßem Herumgehen zu verbringen, stellt für ihn ein gesellschaftskritisches Moment dar: »Müßig geht er [der Flaneur] als eine Persönlichkeit; so protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Menschen zu Spezialisten macht.«76 Damit verbunden ist ein Blick von außen auf die ihn umgebenden Ereignisse, wodurch er die Rolle eines Beobachters einnimmt. Beim dérive hingegen wird diese rein beobachtende Funktion des Gehenden nicht als ausreichend angesehen: »For the situationists, however, the dérive was distinguished from flânerie primarily by its critical attitude toward the hegemonic scopic regime of modernity.«77 Stattdessen stellt sich der Gehende des dérive durch abweichende und störende Bewegungsformen widerständig gegen den Bewegungsablauf und den Konsumkreislauf. Wird der Flaneur in der literarischen Verarbeitung als ein Gehender beschrieben, der seine mußevolle Bewegung zur Schau stellt, dabei aber in den Passagen selbst zu einer Form exponierter Ware wird, setzt sich das dérive im Sinne Debords zum Ziel, sich der Warenlogik und den alltäglichen Formen rein pragmatisch-funktionaler Bewegung im Dienste steter Beschleunigung nicht nur zu entziehen, sondern entgegenzustellen. Das Umherschweifen dient somit als »Mittel des Widerstands gegen die Entfremdung und Funktionalisierung des urbanen Systems.«78 Denn wenn »alles fährt, rollt und fliegt, kann der eigene, womöglich kollektiv verlangsamte Schritt plötzlich wieder zu einem Akt der Ausschweifung werden.«79 Die damit verbundene angestrebte Unterbrechung und Konterkarierung routinierter Abläufe appelliert an die Hoffnung auf Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse:80

75 Klein 2005c, 73. 76 Benjamin 1991, 556. 77 McDonough 2002, 257. 78 Fischer 2011, 37. 79 Primavesi 2007, 91f. 80 Vgl. Debord 1978, 8ff.

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»Das temporäre Ablegen automatisierter Routinen und konventioneller Verhaltensmuster bildet die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Durchführung eines Umherschweifexperiments. Die Nutzung des öffentlichen Raumes muss ihrer konventionellen Mechanismen und Funktionen enthoben sein und darf vor allem nicht mit den alltäglichen Praktiken von Arbeit und Konsum verbunden werden.«81

Wie bereits erwähnt, zeigt sich am Übergang zum postdramatischen Theater, dass einige der im Zuge der historischen Avantgarden und besonders der Neo-Avantgarden geführten Diskurse und Ansätze weitergetragen und zugespitzt werden: »Postdramatisches Theater setzt an realen Orten an, beschäftigt sich mit den ihnen eingeschriebenen Konventionen, Verhaltensweisen und Regeln, um ihnen andere Praktiken entgegenzustellen und das Verhältnis zwischen ihnen zu reflektieren. Der Raum der Performance ist eine Veränderung auf Zeit, eine temporäre autonome Zone, die jedoch immer auf den realen Ort zurückverweist. Dies gilt sowohl für Aufführungen außerhalb des Theaters, etwa in Bahnhöfen, Bunkern oder Industriehallen als auch für den Ort Theater und den Umgang mit dessen Konventionen und Regeln.«82

Bei den gegenwärtigen Theaterformen in Passagenräumen des Alltags müssen Raumbezüge und räumliche Grenzen vor dem Hintergrund globalisierter Weltzusammenhänge und virtueller Raumerweiterung neu gedacht werden. In einem Aufspüren sozio-kultureller Strömungslinien wird in unterschiedlichsten räumlichen Anordnungen nach graduellen Abstufungen theatraler Hervorgehobenheit83 gesucht. Dadurch erfolgt ein Einblick in die zeitgenössische Diversität der Theatralisierung von Städten und der Alltagstheatralik von Räumen und Praktiken. Finden sich heute immer wieder performative Raumanordnungen, die sich von außen betrachtet nicht maßgeblich von jenen der Avantgarden unterscheiden, so wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein, in welchen spezifischen kontextuellen und strukturellen Kräfteverhältnissen sich die mobilen Schauanordnungen in Passagenräumen des beginnenden 21. Jahrhunderts einfinden und welche multimedialen und polyvalenten Raumgefüge daraus erwachsen. Primavesi verweist in diesem Zusammenhang verstärkt auf den Aspekt der Wahrnehmung und Erfahrung: »Spielräume für ungewohnte Wahrnehmungen entstehen in postdramatischen Theaterformen eben dadurch, dass sie von einem bloß abgebildeten Raum der Bühne zu einer auch den Ort des Publikums umfassenden Raumerfahrung übergehen.«84 Dies zeigt sich besonders deutlich bei den hier fokussierten Formen mobilen Theaters, 81 Fischer 2011, 114. 82 Deck 2008, 17. 83 Zum Begriff räumlicher Hervorhebung szenischer Vorgänge vgl. Kotte 2005, 66-79. 84 Primavesi 2007, 80.

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bei welchen die Komplexität der Raumerfahrung gegenüber geschlossenen Innenräumen gesteigert ist. Dass daraus auch ein vielschichtigerer räumlicher Aneignungsprozess resultiert, zeigt sich exemplarisch an der Passagenform des Gehens, die – anders als dies bei den oben beschriebenen Formen der 1960er Jahre der Fall ist – in heutiger Einbettung als »Reaktion auf die Emergenz einer heterochronischen und heterotopischen Lebenswirklichkeit betrachtet werden muss, in deren komplexen Netzwerken die Kategorien Präsenz und Absenz, Realität und Virtualität permanent miteinander interagieren, interferieren und kollidieren.«85 Neben diesem Passagenmodus werden in den Fallbeispielen auch andere Bewegungsformen wie das Fahren in den Blick gerückt und auf ihren spezifischen Raumzugang und -umgang hin untersucht. Entwürfe zeitgenössischer Partizipation Zuschauerpartizipation mag zwar ein hervorstechendes Merkmal heutiger Theaterpraxis sein, dennoch ist sie keine ›Erfindung‹ der Gegenwart: Wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde, legt die theatrale Praxis der historischen Avantgarden und insbesondere der Neoavantgarden – neben dem Spiel mit Alltag und Kunst und dem Abbau beziehungsweise der Mobilisierung der Rampe – einen wichtigen Grundstein für eine Rezeptionshaltung, die sich im Theater in Passagenräumen seit den 1990er Jahren fortsetzt und weiterentwickelt. Bereits die Futuristen und Dadaisten, die den historischen Avantgarden zuzuordnen sind, streben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem aktivierten Zuschauer. Steht der Theaterteilnehmer dabei zwar im Fokus, wird er doch eher als eine Art ›Material‹ des Theaterprozesses verstanden, welches durch klar gesetzte Impulse zu spezifischen Reaktionen provoziert werden soll.86 Mitte des 20. Jahrhunderts finden sich vornehmlich Theaterformen, die sich auf die Repräsentation, nicht so sehr auf die Präsentation und Interaktion, konzentrieren, wie Fischer-Lichte die vorherrschende Theatertradition der 1950er Jahre beschreibt: »Theater erfüllt immer zugleich eine referentielle und eine performative Funktion. Während die referentielle Funktion auf die Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc. bezogen ist, richtet sich die performative auf den Vollzug von Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung. Die europäische Theatergeschichte läßt sich in gewisser Weise als Geschichte von beiden

85 Fischer 2011, 22. 86 Die Umschreibung des Zuschauers als »Hauptmaterial des Theaters« entstammt Sergej M. Eisensteins Schrift über Die Montage der Attraktionen aus dem Jahr 1923 (vgl. Fischer-Lichte 1998, 7).

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Funktionen begreifen und schreiben. In den fünfziger Jahren dominierte im Theater der westlichen Kultur seine referentielle Funktion – und das in einem Ausmaß, daß seine performative Funktion nahezu aus dem Blickfeld geriet.«87

Aus der im Zuge der performativen Wende erfolgten Abkehr vom Referentiellen und Repräsentativen in den 1960er und 1970er Jahren erwächst ein neues Rezeptionsverhalten, das im Sinne einer Politisierung der Alltagswelt wie auch der Künste verstärkt auf eigenbestimmtes Handeln ausgelegt ist, die Konstitution von Bedeutung durch eine Hinwendung zum körperlichen Erleben ablöst und Freiräume im Umgang mit der theatralen Situation ermöglicht: »Im Mittelpunkt des Interesses stand hier nicht Zuschauen als Handeln schlechthin, sondern eine spezifische Form von kreativem Handeln.«88 Eine der zentralen Strömungen, die diesen Gedanken der Beteiligung und des aktiven Handelns in sich trägt, ist die oben bereits angesprochene Fluxus-Bewegung, deren spezifischer Zugang in dieser Zeit darin besteht, mittels Instruktionen oder Gegenständen simple Vorgänge zu initiieren und ein Spektrum an möglichen Handlungen offen zu halten, den Zufall als Größe mit einzuplanen und den gerichteten Blick der damals dominierenden Theaterkonvention in eine Multiperspektivität aufzulösen.89 Dieser und andere avantgardistische Ansätze, die aufgeladen waren von politischen Implikationen zur Redefinition von Kunst und ihrem Bezug zum alltäglichen Leben, setzten Partizipation als ein politisches Moment ein, um gegen Normierung und gesellschaftliche Passivität vorzugehen. Bekannte Vertreter einer programmatisch politisierten Ausrichtung sind beispielsweise das 1963 gegründete Living Theatre um Judith Malina und Julian Beck sowie Richard Schechners Environmental Theatre, das er im Rahmen seiner Performance Group erprobt.90 Mittels Handlungen, die zunächst nur das zu bedeuten erzielten, was sie situativ vollzogen, erfolgte eine Neubestimmung theatraler Ausrichtung:

87 Fischer-Lichte 1998, 2f. 88 Fischer-Lichte 1998, 7. Vgl. hierzu Kreuder/Bachmann 2009. 89 Innerhalb der Avantgarden lässt sich eine Binnenentwicklung nachzeichnen, bei welcher zunächst eine Tendenz zur Auflösung bestehender Strukturen und anschließend eine Art Restrukturierung zu beobachten ist: »Spontane Formen von Happenings im öffentlichen Raum werden zu elaborierten Formen von (Straßen-)Theater der direkten politischen Aktion und zur alternativen Vergemeinschaftung nach neosozialistischen Entwürfen verdichtet.« (Kreuder/Bachmann 2009, 7.) 90 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 28 sowie weiterführend Beck 1972, Beck/Malina 1971, Schechner 1973.

50 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER »Theater sollte sich nicht durch die Darstellung einer ›anderen Welt‹ legitimieren. Es wurde nicht länger als Repräsentation einer fiktiven Welt begriffen, die der Zuschauer beobachten, deuten und verstehen soll, sondern als Herstellung eines besonderen Verhältnisses zwischen Akteuren und Zuschauern. Theater konstituierte sich hier, indem sich etwas zwischen Akteuren und Zuschauern ereignete.«91

Durch die sich daraus ableitende wirklichkeitskonstituierende und selbstreferentielle Ausrichtung der Aufführungen sind diese im Wortsinne Austins als performativ zu bezeichnen.92 Darin kann zum einen – wie es der oben angeführte Begriff der performativen Wende impliziert – eine grundlegende Perspektivverschiebung des Theaters sowie ein gesellschaftskritisches Potenzial gesehen werden. Zum anderen lässt sich diese Entwicklung aber auch im Lichte des allgemeinen gesellschaftlichen ›Performativitätsbestrebens‹ der Zeit lesen,93 das der heutigen »Inszenierungsgesellschaft« 94, wie Willems und Jurga es ausdrücken, den Weg bereitete. Unter diesem Blickwinkel kann in Frage gestellt werden, inwieweit die theatralen Bestrebungen tatsächlich als Gegenströmungen oder doch auch teilweise als eine Form neuer Konsensbildung gewertet werden könnten, »[…] ob also auch die performative Avantgarde weniger Opposition als eben Avantgarde ist: Wegbereiter für das nachziehende Heer und für kulturelle Umbrüche, die nicht zuletzt technologisch und ökonomisch bedingt sind. Anders ausgedrückt: Das Performative sehnt sich nach einem aktivierten Zuschauer, den man aus seiner Passivität befreien bzw. in seiner distanzierten Zurückhaltung nicht mehr in Ruhe lassen will. Der Ort aber, an dem dieses performative Ideal entsteht, ist die Gesellschaft des Spektakels. Von Guy Debord, im gleichnamigen Pamphlet von 1968 so benannt, stellt sie die Kehrseite und den Nährboden eines ›Konversationsideals‹ dar, das Theater und Medien seit Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem Bann hält.«95

Kommt man nun zurück zur Rolle des Theaterteilnehmers in heutigen Passagenraumentwürfen und sucht nach Spuren beschriebener Formen in der Gegenwart, griffe somit die Gleichsetzung des aktivierten Zuschauers und der Partizipation im Sinne der 1960er Jahre mit heutigen Teilnahmevorgängen zu kurz. Denn bei einer reinen Adaption würden beispielsweise politische Implikationen übernommen, die 91 Fischer-Lichte 2004, 26. 92 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 26f sowie Austin 1979. 93 Vgl. Fischer-Lichte 1998, 13ff. 94 Zum Begriff der Inszenierungsgesellschaft vgl. das gleichnamige Buch von Willems/ Jurga 1998. 95 Otto 2013, 80.; vgl zudem Debord 1967. In vielen Ansätzen wird der Beginn einer gesellschaftlichen Form des Spektakels im 19. Jahrhundert verortet, vgl. dazu Balme 2006 und Marx 2008.

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unmittelbar an ihren historischen Kontext gekoppelt sind. Sucht das Theater dieser Zeit vornehmlich nach Spielarten der Partizipation mit dem Ziel, den Einzelnen durch Aktivierung aus einer gesellschaftlichen Haltung zu lösen, die nur sehr bedingt durch direkte Partizipation geprägt war, stehen die Theaterformen der Gegenwart nun vor der Aufgabe, die Ubiquität der Partizipationsgesellschaft in ihrem Anspruch auf uneingeschränkte Präsenz zu reflektieren und einen Weg der Beteiligung zu finden, der nicht auf reinem Teilnehmen beruht. Denn in einer Zeit, in der Partizipation und Erreichbarkeit Bestandteil alltäglicher Normalität sind, bergen diese kein gesellschaftskritisches Potenzial mehr. In diesem verschobenen Kräfteverhältnis gesellschaftlicher Teilhabe gilt es somit für die theatrale Praxis, neue Modi der Auseinandersetzung zu finden, um damit Passivitäten und Widerständigkeiten in scheinbar aktivierten und mobilisierten Gefügen rahmend zur Anschauung bringen. 96 In diesem Sinne entstehen vermehrt Entwürfe, bei denen die Teilnehmer nicht nur einen gewissen Handlungsspielraum innerhalb einer bestehenden Aufführung bereitgestellt bekommen, sondern selbst für den Fortgang der Aufführung verantwortlich sind. Die Form der Partizipation wird dabei nicht als Möglichkeit, sondern als aufführungskonstituierende Notwendigkeit konzipiert. Daraus entsteht eine Form der Konfrontation, bei der die Teilnehmer »mit den Ereignissen kollaborieren müssen, ob sie wollen oder nicht. Sich verhalten zu müssen, sich nicht entziehen können, die Tatsachen nicht zu leugnen, die Teilnahme nicht zu verweigern – darin bestehen heute die Herausforderungen einer ethisch-ästhetischen Tugend der Aktion; sie bedeutet, sich als Beteiligter wahrzunehmen, die Distanz zu verlieren und die gemachten Erfahrungen in einem Maße zu verantworten, wie sie eine Antwort, eine ReAktion forciert. Entscheidend ist dabei, mit dem inszenierten Event, dem mediatisierten Ereignis ebenso wie mit der Bühne und den Institutionen der Aufführung zu brechen, um stattdessen die Aktionen ästhetisch auszurahmen und sie an jene Orte zurück zu tragen, wo sie ihre öffentliche Wirksamkeit entfalten können.«97

Es geht bei diesem Ansatz vorrangig darum, sich in seinen Relationen zu der Situation, den Mitmenschen und dem Raum wahrzunehmen und zu überprüfen, was – anders als in den 1960er und 1970er Jahren – weniger durch einen unmittelbaren Akt der Provokation und auch nicht »durch die Einbindung des Publikums in eine gemeinsam mit den Akteuren zu vollziehende Handlung, sondern vor allem durch die Erzeugung sinnlich oder mental erfahrbarer Situationen, die die Zuschauer auf

96 Vgl. Mersch 2005, 57, Stegemann 2013, 264-279, Otto 2013, 16f und 132ff sowie Umathum/Rentsch 2006. 97 Mersch 2005, 58f.

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ihre eigene Wahrnehmung zurückwerfen«98 initiiert wird. Bei einer die genannten Prozesse flankierenden zeitgenössischen theater- beziehungsweise kulturwissenschaftlichen Analyse, bedarf es in der Folge einer gezielten, historisierenden »Auseinandersetzung mit aktuellen Wahrnehmungsweisen, die gerade die Unmöglichkeit ideologischer ›Standpunkte‹ reflektieren. Längst schon haben sich die Visionen von Marshall McLuhan und anderen bestätigt, die dem Leben in der Mediengesellschaft einen wachsenden Zwang vorhergesagt haben, ständig und überall dabei zu sein, sich daher einen Standpunkt oder eine individuelle Perspektive gar nicht mehr leisten zu können. […] Man nimmt überall teil, ob man will oder nicht, ob man gerade online, vernetzt oder erreichbar ist oder nicht. Der Imperativ der Partizipation, einer dauernden Beteiligung an den Kommunikationsnetzen ist als Kontext für neue Formen von Theater zu berücksichtigen, in denen die gewohnte frontale Perspektive, das Rollenspiel und die Einfühlung verweigert werden.«99

Bei dieser Ausrichtung rückt weniger die unmittelbare Agitation, als die Auseinandersetzung mit der Relationalität heutiger Bezugssysteme ins Zentrum theatralen Interesses, wie bereits Schechner zu Beginn der 1980er Jahre schreibt: »In the modern period people could correctly speak of absolutes. In the postmodern each set of relationships generates transformations that hold true for this or that operation. As modern seeing becomes postmodern experiencing, postmodern performance leaves the proscenium theatre and takes place in the multiplicity of spaces.«100

Nicolas Bourriaud bezeichnet die daraus erwachsende Tendenz der Kunst – bei ihm ausgehend von der bildenden Kunst – seit den 1990er Jahren als »relationale Ästhetik«101. Damit bezieht er sich auf den sozialen Vorgang der Kunstrezeption, der mit der Produktion zusammenfällt und dadurch zu einem performativen Aushandlungsakt wird, wie dies beispielsweise auf die Arbeiten von Felix Gonzales-Torres oder auch von Vanessa Beecroft zutrifft.102 Da Theater diese Kommunikationsform gewissermaßen eingeschrieben ist, wählt Bourriaud es modellhaft als Prototyp relationaler Ästhetik. 103 Jenseits dieser allgemein formulierten Parallelisierung, erhöht sich die Relevanz des Relationalen bei performativen Ereignissen in Passagenräumen, da diese durch ihre räumliche Einbindung in einen Bewegungsraum ein Denken und Handeln in Relationen nicht nur ermöglichen, sondern erfordern. 98

Husemann 2009, 18.

99

Primavesi 2008, 86.

100 Schechner 1982, 121. 101 Vgl. Bourriaud 2009. 102 Vgl. Umathum 2011 und Gronau 2010. 103 Vgl. Bourriaud 2009, 15.

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Um den dabei entstehenden multidirektionalen und beweglichen Anordnungen begrifflich Rechnung zu tragen, ist auch ein differenzierter Umgang mit der Bezeichnung der Beteiligten vonnöten. Denn die dichotomische Vorstellung des aktivierten Teilnehmers und des passiven Betrachters erweist sich vor dem Hintergrund relationaler Bezüge als ein Relikt aus den historischen Avantgarden, von dem es sich bei der zeitgenössischen Annäherung zu lösen gilt.104 Statt der Suche nach einer oppositionellen Einteilung sollen daher im Folgenden die konkreten Strategien der Aktivierung und Passivierung eruiert, der Vorgang des Sehens und Wahrnehmens ebenfalls als Handlung verstanden und die klare Trennung von Ausführenden und Teilnehmenden in Frage gestellt werden. Sinnvoller scheint es, die am Ereignis Beteiligten situativ in ihren Funktionen, Dominanzverhältnissen und Aktivitätsgraden zu betrachten, und dabei die Prozessualität dieser Vorgänge, die innerhalb einer Aufführung ständig neu ausgehandelt wird, zu berücksichtigen. Je nach theatraler Situation wird in diesem Sinne im Folgenden von Theaterteilnehmern, Theaterpassanten oder auch Theaterpassagieren die Rede sein. Diese begriffliche Ausweitung beziehungsweise Ausdifferenzierung steht in engem Zusammenhang mit einer allgemeinen Heterogenisierung und Diversifizierung der Lebenswelt, die sich ebenso auf städtische und zwischenmenschliche Ebenen wie auch auf die Theater- und Medienlandschaft auswirkt: Es gibt somit nicht mehr das Publikum, sondern eine Vielzahl an Schau- und Rezeptionsmöglichkeiten und -modi, zwischen denen der Einzelne stets aufs Neue wählen kann und muss. Gemeinschaft und Vereinzelung Die beschriebene Ausdifferenzierung bezüglich der Partizipation bezieht sich ebenfalls auf die Ansätze der Gemeinschaftsbildung. Ein Blick auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts zeigt die Bemühungen zahlreicher Theaterschaffender – wie Max Reinhardt, Georg Fuchs und Erwin Piscator – um einen positiv besetzten Massenbegriff für das Theater. Vorstellungen atmosphärisch ausgerichteter, konsensueller Beziehungsaushandlungen prägen die in diesem Kontext entstehenden Konzepte und Ereignisse. Jedoch lassen sich die nachfolgenden zeitgeschichtlichen Entwicklungen im Kontext der Thematik von Gemeinschaft und Masse im 20. Jahrhundert nicht ohne die Geschichte des Nationalsozialismus beschreiben: »Der Nationalsozialismus diskreditierte nicht nur die Konzepte einer das Individuum vollständig inkorporierenden Gemeinschaft, die dessen Individualität mißachtet und letztlich auszulöschen versucht, sondern führte dazu, daß nach dem Zweiten Weltkrieg sogar der Terminus ›Gemeinschaft‹ aus dem offiziellen Sprachgebrauch verschwand. Das Theater wurde

104 Vgl. Umathum 2006, 14.

54 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER wieder zum Kunstraum – wenn nicht gar zum Kunsttempel –, der jegliche Befleckung mit dem Politischen, ja selbst mit dem Sozialen ausschloß.«105

Erst mit der performativen Wende der 1960er Jahre rückt – mit Blick auf Westdeutschland – die Idee theatraler Gemeinschaft wieder in den Fokus, nun in enger Anlehnung an die Ritualforschung, wie sie beispielsweise Turner zu dieser Zeit betreibt.106 Im Unterschied zu den Formen des Massentheaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auch in deutlicher Abgrenzung zu den Massenkonzepten der Nationalsozialisten, die sich etwa in Form der Thingspiele zeigt, zielen diese Projekte auf eine über gemeinsames Handeln hervorgebrachte Gemeinschaft ab.107 Ziellinie vieler Theaterformen mit dem Vorhaben ritueller Gemeinschaftsbildung – beispielsweise bei Richard Schechner – ist es, ein Gegengewicht zu der zunehmenden Anonymisierung der urbanisierten Masse und der damit verbundenen Vereinzelung zu bieten. In Wechselwirkung zwischen den Beteiligten entstehen situativ hervorgebrachte, temporäre theatrale Gemeinschaften, die ihre soziale Relevanz für die Zeit der Aufführung entfalten.108 Eine Gegenentwicklung setzt – so Fischer-Lichte – in den 1990er Jahren ein: Anstelle einer Integrierung des einzelnen Theaterteilnehmers in einen gemeinschaftlichen Verbund, innerhalb dessen in den 1960ern die Erfahrung einer rituellen »Schwelle als eine Stabilisierung seines Selbst erfahren«109 wurde, zeichnen sich in den 1990er Jahren vermehrt theatrale Strategien der Verunsicherung und Vereinzelung ab, die ebenfalls zu einem Schwellenzustand führen können, aber dabei eine andere Wirkung erzielen: »Diese Art von Schwellenzustand führte eher zu einer Destabilisierung des Selbst.«110 Komplementär zu dem daraus resultierenden und 105 Fischer-Lichte 2004, 85. 106 Vgl. Turner 1989 [1969] und ders.1998, 251-264. 107 Die hier beschriebene Ausrichtung bezieht sich jedoch, wie Warstat differenziert, weniger auf den deutschsprachigen denn auf den anglo-amerikanischen Raum: »Es ist naheliegend, einen Grund dafür in der historischen Diskreditierung des Begriffs durch die Nationalsozialisten zu sehen. Der Gemeinschaftsbegriff erinnerte an Volksgemeinschaft, Massenästhetik, Gleichschaltung und rassistische Ausgrenzung. […] Was am Gemeinschaftsbegriff in den Jahren nach 1968 störte, war aber möglicherweise nicht nur der desavouierende historische Beiklang, sondern auch die Ahnung, dass die allermeisten theaterbezogenen Gemeinschaftsprojekte des 20. Jahrhunderts als gescheitert betrachtet werden müssen.« (Warstat 2009, 17f.) Zur politischen Dimension von alternativen Gemeinschaftsformen im Kontext von Körperkonzepten seit 1968 vgl. Kreuder/Bachmann 2009. 108 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 86ff. 109 Fischer-Lichte 2006b, 29f. 110 Fischer-Lichte 2006b, 30.

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bis in die heutige Zeit prägenden Prinzip der Vereinzelung, entsteht zu Beginn des neuen Jahrtausends eine neue Form der Gemeinschaftsbildung unter der Bezeichnung der community based art, bei welcher es »um das Aufbrechen des geschlossenen, kunstimmanenten Kreislaufs von Produktion und Rezeption [geht], indem ›kunstfremde‹ Personengruppen unmittelbar in den Produktionsprozess einbezogen werden, welcher bei der Einbeziehung von sozial schwachen Gruppen in erster Linie als Mittel einer realen und womöglich nachhaltigen sozialen Hilfestellung angesehen und eingesetzt wird.«111

Anders als in den 1960er und 1970er Jahren ist der Begriff der Community hier nicht vorrangig verstanden als identitätsstiftende Gemeinschaft, sondern als eine Art Interessensgemeinschaft oder auch, wie Warstat es nennt, Produktionsgemeinschaft, die er als zeitgenössische Wiederkehr des Gemeinschaftsgedankens beschreibt: »Zum einen haben sie den Vorteil größerer Kontinuität. Die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt verbindet Menschen über längere Zeiträume. […] Oft entstehen sie aus dem Versuch, Einmaligkeit und Dauer, Hervorhebung und Kontinuität miteinander zu verbinden. […] Zum anderen haben Arbeitsgemeinschaften die Chance, eine Erfahrung von Gleichheit hervorzubringen […].«112

Warstat ist es wichtig, in diesem Zusammenhang zu betonen, »dass Gleichheit nicht als Auflösung von Subjektgrenzen, als Gemeinschaftsrausch oder Entindividualisierung verstanden werden muss. In manchen emphatischen Gemeinschaftsträumen des 20. Jahrhunderts […] erscheint Gleichheit tatsächlich als Entdifferenzierung: Unterschiede verschwimmen, gehen auf in einem alles umfassenden Organismus. Diese homogenisierende Sicht ist aber nicht zwangsläufig, denn Gleichheit kann auch darin bestehen, dass man an der gleichen Aufgabe arbeitet […].«113

Wie sich hier andeutet, sind den heutigen Theaterentwürfen bezüglich der Rezeptionsmodi und der Bezüge zwischen den Teilnehmenden Spuren der Projekte aus den 1960er und 1970er Jahren eingeschrieben, ohne dass eine unmittelbare Adaption denkbar oder sinnvoll wäre. Denn setzte die Studentenrevolte der 1968er-

111 Möntmann 2005, 158. 112 Warstat 2009, 24. Zu der Idee längerfristiger Gemeinschaftsbildung durch theatrale Intervention vgl. die Analyse der Eichbaumoper in Kapitel 6. 113 Warstat 2009, 25.

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Bewegung »der repräsentativen Demokratie die direkte Opposition der Straße«114 entgegen, müssen heute Formen gefunden werden, die über die rein körperliche Präsenz im Stadtraum hinaus, auf die Relationalität heutiger (Raum-)Bezüge reagieren. Es gilt somit zu ermitteln, welche Aufgaben und Funktionen dem Einzelnen im Theater des beginnenden 21. Jahrhunderts zukommen und welche neuen Formen der Gemeinschaftsbildung sich vor dem Hintergrund distribuierter und medialisierter Interaktionsmuster in Zeiten der Mobilisierung, Globalisierung und Medialisierung herausbilden. Theatrale Spielformen im Kontext der Medialisierung »Wie immer man das Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts beschreiben und deuten will, es ist in jedem Fall auch als Theater im Medienzeitalter zu bestimmen. Denn es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß Entstehung und Verbreitung der neuen Medien – Film, Rundfunk, Fernsehen, Video – Struktur und Funktion des Theaters wesentlich berührt haben.«115

Wurde Theater auch in anderen Zeiten im Kontext des Aufkommens jeweils neuer Medien und Technologien verhandelt und diskutiert,116 ist es in der heutigen Zeit nicht mehr losgelöst von der Allgegenwart medialisierter Lebenswelten zu betrachten. Mit der Verbreitung von Internet und Mobiltelefonen, deren heutige Tragweite Fischer-Lichte 1997, als sie die soeben zitierte Aussage verfasste, noch nicht absehen konnte, ist ein Grad medialer Durchwirkung eingetreten, der Alltag, Kommunikation und Wahrnehmung so weitreichend prägt, dass eine bipolare Opposition von Medialem und unmittelbar Anwesendem hinfällig zu sein scheint.117 Die zeitgenössische Theaterlandschaft reagiert auf diese Verschiebung mittels unterschiedlicher Strategien: Zum einen fallen jene Ereignisse ins Auge, die dennoch versuchen, eine Loslösung aus dieser Einflussnahme zu erzielen, indem sie sich besonders auf den Live-Charakter von Theater, die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption und den Kommunikationsakt konzentrieren. Theater wird hier selbst als Medium der Erfahrung gedacht, das sich jenseits des technisch gestützten Medialen entwirft.118 Dabei rücken beispielsweise körperliche Praktiken

114 Mersch 2005, 55. 115 Fischer-Lichte 1997, 205. 116 Vgl. exemplarisch: Causey 2006, Dünne/Friedrich/Kramer 2011, Fiebach 2007, ders. 1997, Fischer-Lichte u.a. 2001, Pfahl 2008, Schoenmakers 2008, Otto 2013. 117 Vgl. Kramer/Dünne 2009, 21. 118 Für einen Einblick in den weitreichenden theaterwissenschaftlichen Diskurs um das Verhältnis von Theater und Medien sowie die Frage, ob es sich bei Theater selbst um

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und somatische Theater- und Stadterfahrungen als eine »Lust am Erleben der körperlichen Physis«119 in den Mittelpunkt. In dieser Schwerpunktsetzung sieht Klein die »politische Chance der künstlerischen Performance: Über Präsenz und Liveness schafft sie einen Raum, in dem ›Stadt‹ nicht nur imaginiert, sondern ein anderes urbanes Leben erprobt und erlebt werden kann.«120 So haben, wie auch Fischer-Lichte beschreibt, »Entstehung und Verbreitung der neuen Medien zu einer verstärkten Reflexion auf die phänomenologische Eigenart des Theaters in Abgrenzung zu den neuen Medien geführt.«121 Komplementär zu der Strategie hervorgehobener leiblicher (Ko-)Präsenz finden sich im zeitgenössischen Theater auch zahlreiche Formen, die Varianten der Auflösung gleichzeitiger Anwesenheit durch Spielarten medialer Gleichzeitigkeit erproben. Eine mögliche Ausformung dessen ist beispielsweise, dass sich Teilnehmer und Akteure an unterschiedlichen Orten aufhalten und erst über die mediale Interaktion eine gemeinsame Aufführung hervorgebracht wird. Daraus leitet Philip Auslander eine Angleichung von Liveereignissen und medialen Vermittlungsformen ab: »[W]hatever distinction we may have supposed […] to be between live and mediatized events is collapsing because live events are becoming more and more identical with mediatized ones.«122 Ohne eine Hierarchisierung der Kunstformen und der kulturellen wie medialen Praktiken vorzunehmen, und ebenso ohne die Unterschiede zwischen den Ausdrucksformen zu nivellieren, erscheint es meiner Auffassung nach hilfreich für die Analyse heutiger medial geprägter Theaterentwürfe einen erweiterten Begriff von theatraler Teilhabe anzuwenden. Dazu bedarf es einer Ausweitung der von FischerLichte vorgenommenen Setzung bezüglich der leiblichen, gleichzeitigen Anwesenheit als Aufführungsvoraussetzung. Sie schreibt:

ein Medium handelt, vgl. stellvertretend Landfester/Prost 2010 sowie Schoenmakers u.a. 2008. 119 Klein 2005c, 79. Gabriele Klein bezieht sich an dieser Stelle auf Tanz und Sport, es handelt sich dabei jedoch um eine Tendenz, die sich auf viele Theaterformen der Gegenwart anwenden lässt, wie einige der Fallbeispiele, zum Beispiel Schwarztaxi, zeigen werden. 120 Klein 2005a, 28. Zum Wechselverhältnis von physischem Erleben und dem Aufkommen des Computers vgl. Otto 2013, 14. 121 Fischer-Lichte 1997, 206. Vgl. auch Kramer/Dünne 2009, 21. 122 Auslander 1999, 32. Auslander betont, dass die Bezeichnung ›live‹ nur möglich ist, wo sie – seit Einführung des medial vermittelten Bildes – gegen etwas anderes abgegrenzt werden kann, wodurch sie keine ontologische Kategorie, sondern eine soziale Konstruktion darstellt (vgl. Auslander 1999).

58 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER »Es ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche eine Aufführung allererst ermöglicht, welche die Aufführung konstituiert. Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln und gemeinsam etwas tun.«123

Im Sinne des vorangegangenen Stadt-Raum-Kapitels soll dieses Verständnis von einem gemeinsamen Ort auf eine Raumidee ausgeweitet werden, bei welcher raumbildende Handlungen nicht ausschließlich durch körperliche Gleichzeitigkeit und Präsenz hergestellt werden können, sondern auch über andere Formen der Interaktion und Kommunikation, beispielsweise durch medial gestützte Vermittlung. HansThies Lehmann bezieht in seinen Präsenzgedanken des Theatralen auch Formen der Abwesenheit mit ein und räumt gerade jenem Theater, das »mit Stufen der Abwesenheit spielt« eine Steigerung »intensivierter Erfahrung von Gegenwart«124 ein. Dennoch spricht auch er noch von der Voraussetzung einer »mit den Besuchern geteilte[n] Zeit, in der alle die gleiche Luft atmen«125. Im Zuge der Beispiele, bei welchen einige Entwürfe zur Sprache kommen, die diese Idee von (Ko-)Präsenz mit visuellen, akustischen oder medialen beziehungsweise virtuellen Mitteln neu interpretieren, gilt es, diese Grundannahmen einer zeitgenössischen Relektüre zu unterziehen.126 Denn sieht Fischer-Lichte die theatrale Interreferentialität bei Aufhebung körperlicher Kopräsenz unterbrochen, so möchte ich im Kontext vorliegender Untersuchung die These aufstellen und überprüfen, dass es auch medialisierte Formen der Feedbackschleife gibt.127 Zudem sollen vor dem Hintergrund medialer Durchdringung alltäglicher Lebenswelt, die sich Ende der 1990er Jahre bereits nicht mehr als Neuerung, sondern als habitualisierte Praxis darstellt, anstelle eines Konkurrenzdenkens die (politischen) Wirkungspotenziale des Theaters in eben diesen medialisierten Zusammenhängen ergründet und dabei die Stärken körperlicher wie auch medialer Strategien für den theatralen Einsatz ausgelotet werden.128 In eine ähnliche Richtung zielt der von Christopher Balme geprägte Begriff »distribuierter Ästhetik«129, mit welchem sich, nun im Medienkontext betrachtet,

123 Fischer-Lichte 2004, 47. 124 Lehmann 1999a, 13. 125 Lehmann 1999a, 13. 126 Vgl. Otto 2013 und Schrum 1999. 127 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 115. Das Konzept der Feedbackschleife schließt laut Julia Stenzel an die Theorie Humberto R. Maturanas an, die sich auf die Autopoiesis kognitiver Systeme bezieht (vgl. Stenzel 2010, 32 sowie Maturana 1998). 128 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 119. 129 Vgl. Balme 2010, 41-54 sowie ders. 2014, 174-202.

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nochmals der Bogen zu den Formen zeitgenössischer Rezeption schlagen lässt. Balme merkt an, »dass die aktuelle Forschung zum postdramatischen Theater […] noch immer von der Vorstellung ausgeht, dass Zuschauer und Publikum den Schauspielern und Performern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Unter ›Netzbedingungen‹ und unter den Auswirkungen einer aufblühenden Medienlandschaft erscheint es aber von größter Bedeutung, dass wir unsere Parameter erweitern, indem wir den Begriff der Öffentlichkeit erneut in den Blick nehmen.«130

Damit verbunden ist eine Loslösung des Theaters in Zeiten digitalisierter Gesellschaft von der fixen Vorstellung einer medialen Spezifizität wie auch die Öffnung ästhetischer Kategorien gegenüber neuen medialen Vernetzungsformen.131 Durch die Möglichkeiten dezentraler Theaterteilnahme, schwindet zudem die Bindung an den Produktionsort. Auf diese Weise ist nicht nur die temporäre Aktion ausschlaggebend, sondern diese kann durch mediale Distribution über die Grenzen des geographischen Raums und die Zeitspanne des Ereignisses hinaus Wirksamkeit erlangen. Balme führt zur Veranschaulichung Christoph Schlingensiefs Aktion Ausländer Raus. Bitte liebt Österreich (2000) an,132 bei welchem ein Container auf dem Wiener Opernplatz zwar die Austragungsstätte, nicht jedoch alleiniger Ort des Geschehens und des Wahrnehmens war: »In einer Welt verteilter und distribuierter Ästhetik ist es selbst schwierig, das Theater zu lokalisieren. Der Container ist zwar offensichtlich der ›Ort der Performance‹, aber der ›Ort der Rezeption‹ ist potenziell unbegrenzt und überschreitet sogar die Stadt- und Staatsgrenze.«133 Dieser Ansatz lässt sich vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Studie gewählten Beispiele ausweiten, da nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion mittels medialer Kommunikationsformen distribuiert sein kann, oder – wie bei einem Radioballett, Audiowalk oder Flashmob – gar kein definierbarer Ort der Performance mehr besteht, da diese dezentral organisiert ist. Dabei erfolgt auch ein Spiel um die Grenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sich-Zeigen und Verbergen, das unter Mithilfe technischer Mittel erfolgt und somit neue Ebenen 130 Balme 2010, 53. 131 Vgl. Balme 2010, 47. 132 Zu Christoph Schlingensiefs Ausländer Raus. Bitte liebt Österreich (2000) vgl. Lilienthal/Philipp 2000, die Videodokumentation: AUSLÄNDER RAUS – Schlingensiefs Container (Regie: Paul Poet, Österreich 2001) sowie die Onlinedokumentationen unter http:// www.schlingensief.com/projekt.php?id=t033 (Stand: 21.7.2015). 133 Balme 2010, 53. Dieser lehnt sich dabei an Anna Munster und Geert Lovink an (vgl. Munster/Lovink 2005).

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performativer Erprobung (körperlicher) An- und Abwesenheit, gleichzeitigen Wahrnehmens ungleichzeitiger Geschehnisse sowie für den Außenblick nicht durchschaubarer Kommunikationsakte ermöglicht. Die dadurch erzeugte Simultaneität134 von Prozessen in Kombination mit einem dem Passagenraum inhärenten ständigen Bewegungsfluss, verhindert – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne – die Wahl eines festgelegten StandPunktes. Theatrale Ereignisse bewegen sich zwischen dem Aufgreifen dieser fluiden Form, dem ironischen Kommentar dessen – wie dies beispielsweise bei Schlingensiefs Bitte liebt Österreich als Reaktion auf Big Brother der Fall war135 – und der Etablierung eines Kontrapunktes in Form temporärer Standpunkte und Reflexionsmomente. Mit der theatralen Hervorhebung von Relativität und Simultaneität geht auch eine medial gestützte Relativierung der Grenzen zwischen geographisch-baulichen und medial-imaginären Räumen einher, da in der Aneignung beide den gleichen Realitätsgrad aufweisen können. Dies lässt sich mit Arjun Appadurais Ansatz zum Imaginären zusammendenken: Indem er Imagination vor dem Hintergrund globalisierter und medialisierter Welt als soziale Praxis deklariert, ist diese nicht länger von gesellschaftlichen Vorgängen abgelöst, sondern selbst als sozio-kultureller Aushandlungsraum zu betrachten: »The imagination is now central to all forms of agency, is itself a social fact, and is the key component of the new global order.«136 Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass mediale Handlungen rein imaginäre Vorgänge sind. Vielmehr entsteht ein ständiger Aushandlungsprozess zwischen ineinander verwobenen sozialen Praktiken des Imaginär-Gedanklichen und des Räumlich-Materiellen. In der Übertragung auf Theater in Passagenräumen können die Graustufen von vermeintlich Realem und Erdachtem, medial Übertragenem und unmittelbar Erfahrenem als Spielelemente eingesetzt werden, wodurch das theatrale Spezifikum des Changierens zwischen Materialität und Imagination betont und neu interpretiert wird. (Theater-)Rahmen Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, ist das Theater des 21. Jahrhunderts im Vergleich zu früheren Formen verstärkt durch die Effekte der Überlagerung, Gleichzeitigkeit und Hybridität gekennzeichnet. Die Suche nach einem methodischen Ansatz, der sowohl zeitgenössische gesellschaftliche Strömungen einschließt, die steigende Komplexität von Bezugsrahmen theoretisch flankiert und die

134 Zu zeitgenössischen Konzepten der Simultaneität vgl. Hubmann/Huss 2013 sowie Lehmann 1999, 149ff und 342ff. 135 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 119. 136 Appadurai 1996, 31.

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vielschichtigen Formen theatraler Einbettung in Alltagsräume berücksichtigt, führt zu der Rahmenanalyse Erving Goffmans, deren Grundgedanke der Organisation alltäglicher Erfahrung und Wahrnehmung mittels des Anlegens unterschiedlicher Rahmungen sich noch heute als äußerst gewinnbringend erweist.137 Dies trifft in gesteigertem Maße auf die Analyse von Theater in Passagenräumen zu, da sich bei dem Verlassen klar abgegrenzter Räumlichkeiten und der Verlagerung in einen Alltagsraum, der überdies von einer rastlosen, transitorischen Form der Bewegung gekennzeichnet ist, zahlreiche Rahmungen überlagern. Dies ist gekoppelt an das durch die Rahmenanalyse gestützte Überprüfen und Rekontextualisieren einiger theatraler Grundvereinbarungen wie dem Verhältnis von Schau- und Spielräumen, von Schauen und Agieren, ebenso wie von gezielter Partizipation und dem zufälligen Hineingeraten in ein theatrales Geschehen inmitten routinierter Alltagsbewegungen. Das Ziel ist es dabei nicht, Theater und Alltag, oder gar Theater und ›Wirklichkeit‹ voneinander abzugrenzen und als zwei Sphären zu entwerfen. Ebenso wenig bedeutet dies, dass Theaterereignisse und Alltagsabläufe identisch werden und gänzlich verschmelzen. Vielmehr werden genau die Momente der Verdichtung und gegenseitigen Durchdringung aufgesucht, verstanden im Sinne eines Interdependenzgefüges, das von Affirmation, Distanzierung, Irritation, Überzeichnung bis hin zur Durchbrechung von Rahmungen reicht. Den Begriff des Rahmens und die ihn konturierenden methodischen Überlegungen, entwickelt Goffman in seiner 1977 erschienenen Publikation Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Dieser Ansatz dient im Zuge der vorliegenden Untersuchung der Verdeutlichung, Strukturierung und Konturierung sich überlappender und durchdringender Passagenraumfacetten. »Was geht hier eigentlich vor?«138 so lautet die ebenso einfache wie komplexe Frage, die Goffman zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Auf der Suche nach Antworten versucht er mit der Rahmenanalyse ein systematisches Modell zu entwickeln, das das notwendige Begriffsinstrumentarium zur Einordnung und Organisation alltäglicher Situationen zur Verfügung stellen soll. Dabei strebt er keine Objektivität an, sondern sucht im Bewusstsein der Vielfalt möglicher Rahmungen, Blickwinkel, Perspektiven und Standpunkte nach Ansätzen intersubjektiver Verständigung:139 137 Hierbei handelt es sich um eine Theorie, die bereits 1977 verfasst wurde und somit dem hier gesetzten Untersuchungszeitraum um circa zwanzig Jahre zuvorkam, weshalb eine zeitliche Kontextualisierung vonnöten ist. Zur Anwendung kommt die Rahmenanalyse im Kontext theatraler Formen außerhalb geschlossener Gebäude beispielsweise auch bei Petra M. Meyer (vgl. Meyer 1998, 135-195). 138 Goffman 1977, 16. 139 Vgl. Goffman 1977, 16ff. Goffman reflektiert den Anteil der Willkürlichkeit in seinem eigenen Arbeitsprozess: Ich habe die Daten »im Laufe der Jahre aufs Geratewohl ge-

62 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER »Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ›Rahmen‹. […] Mein Ausdruck ›Rahmen-Analyse‹ ist eine Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation der Erfahrung.«140

Der hier skizzierte Rahmenbegriff, den Goffman in Anlehnung an Gregory Bateson141 entwirft, wird im Verlauf seiner Ausführungen genauer differenziert: »Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu […], seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. Dies deshalb, weil die Anwendung eines solchen Rahmens oder einer solchen Sichtweise von den Betreffenden so gesehen wird, dass sie nicht auf eine vorhergehende oder ›ursprüngliche‹ Deutung zurückgreift; ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, daß er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht.«142

Primäre Rahmen sind ihrerseits nochmals unterteilt in natürliche und soziale Rahmen: Ist der natürliche Rahmen »nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, nicht geleitet, ›rein physikalisch‹«143, beispielsweise die Schwerkraft, so liefern soziale Rahmen einen »Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Lebewesens, in erster Linie des Menschen, beteiligt sind. […] Sein Tun kann man als ›orientiert‹ bezeichnen. Der Handelnde ist ›Maßstäben‹ unterworfen, sozialer Beurteilung seiner Handlung […]. Die Folgen lösen ständig Korrekturen aus, am deutlichsten, wenn die Handlung unerwartet blockiert oder in eine andere Richtung gelenkt wird […].«144

Da es sich im Falle der Bewegung durch städtische Passagenräume in all ihren Zusammenhängen um gelenkte, sozial eingebundene Vorgänge handelt, ist der adapsammelt, wobei mir meine eigene Auswahlgrundsätze ein Rätsel waren und dazuhin von Jahr zu Jahr wechseln; ich könnte sie gar nicht rekonstruieren, selbst wenn ich es wollte. Auch hier liegt eine Karikatur einer systematischen Auswahl vor.« (Goffman 1977, 24.) 140 Goffman 1977, 19. 141 Vgl. Bateson 1983, 45ff. 142 Goffman 1977, 31. 143 Goffman 1977, 31. 144 Goffman 1977, 32.

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tierte Rahmenbegriff in diesem Zusammenhang als sozialer Rahmen zu verstehen. Neben den primären Rahmen führt Goffman zwei mögliche Formen der Transformation aus, die beide in unterschiedlicher Weise die primären Rahmungen modifizieren: Die Modulation und die Täuschung.145 Hinter dem Begriff der Modulation verbirgt sich »das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird.«146 Voraussetzung zum Gelingen ist dabei, dass zeitliche und räumliche Klammern das Gebiet der Modulation markieren und zudem der primäre Rahmen als Referenz bekannt ist, sodass bei den Beteiligten das Wissen darüber besteht, dass eine Modulation vorliegt. Als Beispiele lassen sich Spiel und Scherz, Wettkämpfe oder auch Zeremonien nennen.147 Die Antwort auf die Frage ›Was geht hier vor?‹ könnte somit in diesen Fällen lauten: ›Es wird nur gespielt‹. Die zweite Form der Transformation primärer Rahmen stellt die Täuschung dar, als das »bewußte Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, daß einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht. Es liegt ein böswilliger Plan vor, eine Verschwörung, eine hinterhältige Absicht, die – wenn sie verwirklicht wird – zur Verfälschung eines Teils der Welt führt.«148

Die Absicht unterscheidet sich somit grundlegend: Ist bei der Modulation das Ziel, »daß alle Beteiligten zur gleichen Sicht dessen kommen, was vor sich geht, ist ein Täuschungsmanöver auf Unterschiede angewiesen.«149 Diese führen zu einer bewusst herbeigeführten Rahmenkollision: »[F]ür die Wissenden bei einem Täuschungsmanöver geht ein Täuschungsmanöver vor sich; für die Getäuschten geht das vor sich, was vorgetäuscht wird. Der Rand des Rahmens ist eine Fälschung, doch nur die Fälscher erkennen sie als solche.«150 Erst wenn dieses Auseinanderklaffen auch für die Getäuschten deutlich wird, kommt es zur Entlarvung und einer dauerhaften Veränderung der Situation. Wendet man diesen Ansatz auf Theater in Passagenräumen an und bezeichnet zunächst die alltägliche Durchgangsbewegung als primäre Rahmung – was es bei genauerem Hinsehen zu differenzieren gilt –, so erzeugt ein Theaterereignis in diesen Räumen eine Rahmentransformation. Für all jene Projekte, bei welchen das Ereignis als ein Hervorgehobenes gekennzeichnet wird und für jeden als außer145 Vgl. Goffman 1977, 98. 146 Goffman 1977, 55f. 147 Vgl. Goffman 1977, 57ff. 148 Goffman 1977, 98. 149 Goffman 1977, 99. 150 Goffman 1977, 99.

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alltäglich erkennbar und einsehbar ist, lässt sich von einer Modulation sprechen. Bei denjenigen Inszenierungen hingegen, bei welchen diese Rahmung nicht so deutlich markiert wird, und die Grenzverläufe zum Verschwimmen oder Verschwinden gebracht werden – wie es häufig aus Sicht von Passanten der Fall ist, die unvorbereitet auf ein Ereignis treffen – ließe sich von einer Form der theatralen Täuschung sprechen. Ist der Begriff der Täuschung im Sprachgebrauch meist rein negativ besetzt, unterscheidet Goffman Täuschungsmanöver zusätzlich entsprechend ihres Zwecks nach schädigenden Täuschungen und solchen, die in guter Absicht vorgenommen werden.151 Zu letztgenannter Form zählt zum Beispiel ein Täuschungsmanöver, das einen scheinbaren Ernstfall erprobt oder ein Experiment, bei welchem die Beteiligten aus Forschungsgründen nichts von den realen Zielen erfahren dürfen. Auch im Falle jener Theaterereignisse, die in ihrer Grundanlage zu dem Modifikationstypus der Täuschung zu rechnen wären, werden die Verschleierungsstrategien und Rahmenkollisionen meist zur Eröffnung produktiver, performativer Spielräume genutzt. Unabhängig davon, ob man nun von Modulationen oder Täuschungen ausgeht, lässt sich generell sagen, dass eine Analyse von Rahmungen erst wirklich fruchtbar gemacht werden kann, sobald Modifikationen der primären Rahmung vorgenommen werden: »Wenn keine Modulation vorliegt, also nur primäre Deutungen zutreffen, kommt es kaum zu Antworten, die auf Rahmen abheben […].«152 Bei dem Untersuchungsgegenstand – Theater in Passagenräumen des Alltags – ist die Modulationsstruktur hingegen so komplex, dass eine Anwendung der Rahmenanalyse zur Aufschlüsselung und Strukturierung besonders dienlich erscheint. Die dabei zu Stande kommende Vielschichtigkeit lässt sich mit Goffman als Modulation von Modulationen bezeichnen. Dabei ist »[…] gar keine objektive Grenze für die Anzahl der erneuten Modulationen zu erkennen, denen ein Stück Tätigkeit unterworfen werden kann; zweifellos sind mehrere erneute Modulationen möglich.«153 Diesen gilt es sich bei der Analyse Schicht für Schicht zu nähern: »Da es Rahmen geben kann, in denen Modulationen von Modulationen enthalten sind, empfiehlt es sich, sich jede Transformation als Hinzufügung einer Schicht zu dem Vorgang vorzustellen. Und man kann sich mit zwei Seiten des Vorgangs beschäftigen. Eine ist die innerste Schicht, in der sich ein dramatisches Geschehen abspielen kann, das den Beteiligten gefangennimmt. Die andere ist die äußere Schicht, gewissermaßen der Rand des Rahmens,

151 Neben diesen beiden Formen existieren zudem der Irrtum und die Selbsttäuschung. Vgl. hierzu Goffman 1977, 130. 152 Goffman 1977, 58. 153 Goffman 1977, 94.

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der uns sagt, welchen Status das ganze eigentlich in der äußeren Welt hat, wie kompliziert auch die Schichtung nach innen sei.«154

Goffman thematisiert in seiner Publikation explizit das Theater und weist darauf hin, dass dieses sich mit dem Alltag auf vielfältige Weise überlagert: »Die Welt ist nicht einfach eine große Bühne – und das Theater ist es gewiß auch nicht ausschließlich.«155 Bei näherer Betrachtung des verwendeten Theaterbegriffs wird jedoch schnell deutlich, dass Goffman vorwiegend theaterspezifische Begrifflichkeiten wie den der Rolle entlehnt, um sie im Sinne von Metaphern auf Alltagserfahrungen zu übertragen. Der zugrunde liegende Theaterbegriff greift daher bei der Anwendung auf Theater in Passagenräumen nicht, weshalb bei der Rückübersetzung auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand lediglich eine Anlehnung an die Grundidee der Rahmung unternommen wird, ohne den Goffman’schen Theaterbegriff selbst dabei zu adaptieren. Veranschaulichend lässt sich anführen, dass Goffman den Begriff der Rolle auf das soziale Leben als Unterscheidungsmerkmal unterschiedlicher alltäglicher Funktionen überträgt. Lässt sich dieser erste Schritt übernehmen, stößt man im zweiten Schritt auf eine daran gekoppelte klare Kategorisierung des Theaters als Schein, dem die Realität oder Wirklichkeit gegenübergestellt ist.156 Wird in Abgrenzung dazu im Folgenden davon ausgegangen, dass Theater performative Wirksamkeit in der sogenannten Wirklichkeit entfalten kann und als kulturelle Praxis Teil des gesellschaftlichen Lebens ist, so liegt mir bezogen auf den Gegenstand dieser Studie eine solche Zweiteilung besonders fern: Denn diese befasst sich mit theatralen Formen, die sich außerhalb von Kunsträumen inmitten der Wirklichkeit positionieren und somit verstärkt performativ – im Sinne von wirklichkeitskonstituierend – wirken. Auch bei der Beschreibung des Akteur-Zuschauer-Verhältnisses wird deutlich, dass Goffman hier von gänzlich anderen Schauanordnungen ausgeht, als dies in Passagenräumen der Fall ist: »Bei einer Aufführung reagieren nur die Schauspieler untereinander in dieser unmittelbaren Weise als Angehörige des gleichen Reiches; das Publikum reagiert mittelbar, es schaut, geht gewissermaßen nebenher, spendet Beifall, aber unterbricht nicht.«157 Und auch die Angaben zur grundlegenden Spielvereinbarung lässt die abweichende Referenz des Theaterbegriffs plastisch werden: »Man hat sich absichtlich in eine Situation begeben, in der man zeitweilig getäuscht oder jedenfalls in Unwissenheit gehalten werden kann, kurz, in einen Mitwirkenden an der 154 Goffman 1977, 96. 155 Goffman 1977, 9. 156 Vgl. Goffman 1977, 147. 157 Goffman 1977, 146.

66 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER Nichtwirklichkeit verwandelt werden kann. Und man wirkt aktiv an der Aufrechterhaltung dieser dem Spiel entsprechenden Unkenntnis mit.«158

Diese Anordnung steht vielen zeitgenössischen Beispielen diametral entgegen, bei welchen Zuschauende entweder unvorbereitet in eine theatrale Situation geraten oder aber als Rezipierende mündig, selbständig und kontrovers handeln und handeln sollen. Auch Anfang und Ende einer Aufführung sind durch die offene Raumkonzeption nicht immer klar bestimmt, anders als dies Goffman in seinem Blick auf Theater beschreibt: »Eine offensichtliche Eigenschaft von Bühnendarstellungen ist, daß der Schlußbeifall den Schein hinwegfegt. Die Bühnenfiguren lösen sich auf, ebenso die Teilnahme der Zuschauer an dem ablaufenden Drama, und Menschen in der Funktion des Schauspielers oder Darstellers grüßen Menschen in der Funktion des Theaterbesuchers. Und auf beiden Seiten herrscht Einverständnis darüber, was vor sich gegangen ist […]. Kurz, der Schein wird aufgelöst.«159

Bei Theater in Passagenräumen, das sich jenseits eines abgeschlossenen, fiktionalen Rahmens einordnet, werden auch Anfang und Ende der Aufführung ebenso wie die Relation zwischen Teilnehmer und theatralem Geschehen passager. Je nach Rahmung können beispielsweise Passanten zu Zuschauern oder auch zu Akteuren werden – und dies sogar zur selben Zeit am selben Ort. Da es sich grundsätzlich um Zuschreibungsprozesse handelt, kann ein und derselbe Passant von einem anderen als Mitpassant, von wieder einem anderen als Schauender und von einem dritten als Teil des theatralen Geschehens eingeordnet beziehungsweise gerahmt werden. »Ich gehe von der Tatsache aus, daß vom Standpunkt eines bestimmten Menschen aus etwas als das erscheinen kann, was tatsächlich vor sich gehe, während es sich in Wirklichkeit einfach um einen Scherz oder einen Traum oder einen Zufall oder einen Fehler oder ein Mißverständnis oder eine Täuschung oder eine Theateraufführung usw. handeln kann.«160

Dieser Prozess kann unterschiedlich stark forciert werden: So arbeiten einige Theatermacher des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts – wie Christoph Schlingensief, aber auch Rimini Protokoll und LIGNA – gezielt mit der Methode der Kollision: »Die Rahmenkollisionen und -brechungen erwiesen sich als die wirkungsvollste Inszenierungsstrategie, um Rollenwechsel der Zuschauer zu Akteuren, aber auch der Akteure zu Zuschauern zu initiieren und die Unvorhersagbarkeit der 158 Goffman 1977, 155f. 159 Goffman 1977, 151f. 160 Goffman 1977, 18f.

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Aufführung enorm zu erhöhen.«161 Fischer-Lichte beschreibt, bezogen auf die 1990er Jahre, als die Arbeitsweise der Rahmenkollision – die bereits in Formaten der historischen Avantgarden wie der Futuristischen Soirée eine Rolle spielte162 – erneut und in gesteigertem Maße an Relevanz gewinnt, ein weites Spektrum möglicher Reaktionen: »In den neunziger Jahren nun läßt sich beobachten, wie sich die Rahmen ständig verschieben und unterschiedliche Rahmen miteinander kollidieren. Die Teilnehmer/Zuschauer werden in ihren Erwartungen enttäuscht, wenn sie sich auf einen bestimmten Rahmen beziehen wollen, sie sind irritiert und wissen häufig nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen. Verunsicherung bis hin zur Orientierungslosigkeit, Enttäuschung, Wut, Aggression sind häufig die Folge; oft allerdings wecken solche Veranstaltungen beim Zuschauer auch die Lust am Spiel mit Rahmen und Erwartungshaltungen, mit den Möglichkeiten permanenter Entgrenzungen und Grenzüberschreitungen, mit Verunsicherung und Destabilisierung.«163

Eine zentrale These Goffmans zur Anwendungsweise von Rahmen lautet, dass Erfahrungen und daran anschließende Einschätzungen stets mit Bekanntem abgeglichen werden: »Kurz, die Beobachter tragen ihre Bezugssysteme aktiv in ihre unmittelbare Umwelt hinein, und das verkennt man nur, weil die Ereignisse gewöhnlich diese Bezugssysteme bestätigen, so daß die Hypothesen im glatten Handlungsablauf untergehen.«164 Durch theatrale Rahmenmodulationen entstehen Möglichkeiten aber auch Notwendigkeiten, scheinbar Vertrautes, primäre Rahmen und ›glatte Handlungsabläufe‹ neu zu überdenken und die eigene Rolle innerhalb des theatralen und gesellschaftlichen Gefüges kritisch zu reflektieren. Gegebenenfalls kann auf diese Weise »implizites politisches Potential explizit und unmittelbar erfahrbar«165 werden, wie Fischer-Lichte anführt: »Die ständigen Rahmenkollisionen und -brüche schufen für die Zuschauer immer wieder Situationen, in denen sie sich nicht ›automatisch‹, d.h. nach den mit dem Rahmen gesetzten Regeln, angemessen verhalten konnten, sondern entscheiden mussten, welcher Rahmen für sie gelten sollte – ob sie als Zuschauer oder als Akteure agieren wollten.«166

Eine performative Praxis, die mit diesem Verunsicherungsmoment bereits in den 1960er Jahren spielt, ist das Unsichtbare Theater. Augusto Boal greift im Kontext 161 Fischer-Lichte 2006b, 27. 162 Vgl. Schmidt-Bergmann 2009. 163 Fischer-Lichte 1999, 8. 164 Goffman 1977, 50. 165 Fischer-Lichte 2006b, 28f. 166 Fischer-Lichte 2006b, 28.

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der brasilianischen Militärdiktatur wiederum auf Formen performativen Widerstands zurück, die bereits in den 1930er Jahren von kommunistischen Gruppierungen im Kampf gegen den Faschismus entwickelt wurden.167 Charakteristisch für diese theatrale Form ist das Einfügen in Alltagsabläufe, sodass die Beteiligten sich nicht, beziehungsweise nicht unmittelbar darüber bewusst werden, dass es sich um eine theatral gerahmte Situation handelt. Dadurch werden Abläufe irritiert, Reaktionen getestet und gesellschaftliche Ordnungen in Frage gestellt, ohne dass es einen fest umgrenzten, von der Alltagsumgebung abgehobenen Theaterrahmen gäbe, wodurch eine Form der Distribution und des Multizentrismus vorliegt. Bei heutigen Theaterformen und performativen Ereignissen in Passagenräumen lassen sich – wie anhand der Performance Shopping Centre. The First International of Shopping Malls exemplarisch gezeigt werden wird – einige dieser Wirkmechanismen und Strategien wiederfinden, die jedoch mit Hilfe zeitgenössischer medialer Möglichkeiten weiterentwickelt werden: Mittels Mobiltelefonen oder Radiosendern können gezielt Streueffekte distribuierter Ästhetik befördert, individuelle Rezeptions- und Wahrnehmungsmodi angeregt und zugleich die entstehenden disparaten Abläufe dezentral gesteuert werden. Die nachfolgenden Analysen bemühen sich darum, am Beispiel konkreter Theaterentwürfe der Gegenwart zu untersuchen, welche Verschränkungen das Theater mit den gegenwärtigen sozio-kulturellen Gefügen in urbanen Räumen eingeht, und welche Rahmenstrukturen sich dabei ergeben. Rahmungsprozesse sind hierbei nicht als sukzessive und klar voneinander separierbare Vorgänge zu denken, sondern als synchron ablaufende, sich vielfach überlagernde und durchdringende Geflechte, deren Wechselwirkungen, Überschneidungen, Unvereinbarkeiten und Kollisionen untersucht werden sollen. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass Theaterereignisse – unabhängig von dem gewählten Raum und den sonstigen Rahmenbedingungen und selbst bei nahezu vollständigem Verschwimmen der Grenzverläufe zu Alltagsabläufen – immer theatral gerahmt und somit künstlerisch überformt sind: »Wenn sich also Besucher von Ausstellungen oder Aufführungen […] als essende, schlafende, kochende oder spazieren gehende Protagonisten bewegen, dann lassen sich ihre Aktivitäten von der Einfachheit alltäglicher Verrichtungen zwar nicht unbedingt unterscheiden, werden aber durch die institutionelle Rahmung in spezifischer Weise zur Ausstellung gebracht.«168

Ein weiterer Aspekt, der bei der Analyse zeitgenössischer Theaterereignisse des 21. Jahrhunderts nicht außer Acht gelassen werden darf, ist, dass viele der Theaterteilnehmer bereits über eine breite Seherfahrung hinsichtlich derartiger performa167 Vgl. Thorau 2013 und Besel 1986. 168 Umathum 2006, 18.

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tiver Strategien verfügen, was die Reaktionen, die Modulationsstruktur und den Grad an Verunsicherung mitprägt. Grenzen und Schwellen Dient der Begriff des Rahmens der Organisation von Erfahrung und einer Konturierung der jeweiligen Betrachtungsperspektive, verlangt der Gegenstand des Theaters in Passagenräumen ergänzend nach einem weiteren methodischen Instrument, um nicht nur die Rahmensetzung zu ermitteln, sondern auch Widerständigkeiten und Übergänge beschreibbar machen zu können. Bietet sich dafür beispielsweise der Begriff der Grenze an, handelt es sich dabei jedoch um einen Terminus, der häufig mit etwas Fixem, Punktuellem und Trennscharfem assoziiert ist und damit gewisse Tendenzen zu Starrheit aufweist:169 »Die Rationalität der Moderne ist bestrebt, die Grenze zur Linie zu verdichten, deren Breite unendlich minimiert gedacht werden muß. Übergänge und indifferente Zonen haben scharfen Bestimmungen zu weichen. Man kann die Grenze als Schnitt metaphorisieren, d.h. als eine subtile Operation, die etwas bewirkt, selbst aber nicht wahrnehmbar ist. Mit dem Schnitt kann die Grenze als objektiv gelten, ohne gleichzeitig ein Objekt zu sein. Die Realisierung der Grenze steckt in einem apriorischen Paradox: Ohne die erkannte oder bestimmte Grenze sind die Dinge nicht verfügbar, oft auch nicht sichtbar. Mit den Dingen ist wiederum die Grenze nicht mehr sichtbar. Die Grenze des Grenz-Begriffs ist der Gegenstand.«170

Wird hingegen im Laufe der vorliegenden Untersuchung von Grenzen gesprochen, so ist dies zu verstehen im Sinne eines Begriffsverständnisses, das Grenzen als Grenzverläufe entwirft und dabei die Aspekte der Modifizierbarkeit und Hybridität171 hervorhebt, was dem Zusammenschluss der beiden transitorischen Komponenten des Theaters und des Passagenraums besser zu entsprechen scheint. Damit

169 Dies gilt nur in der hier vorgenommenen Form der Abgrenzung von anderen Begriffen wie der Schwelle und dem Grenzverlauf, es gibt jedoch auch Grenzbegriffe, die sich um eine solche terminologische Öffnung bemühen (vgl. hierzu Bauer/Rahn 1997, Kleinschmidt/Hewel 2011, Mayer-Tasch 2013, Reckwitz 2008 und Schroer 2006). 170 Bauer/Rahn 1997, 7f. 171 Der Begriff der Hybridität wird im Rahmen unterschiedlicher Diskurse fruchtbar gemacht wie den postkolonialen Studien (vgl. Bhabha 2012 und 1994), der Konsumforschung (vgl. Ha 2005), der Subjekttheorie (vgl. Reckwitz 2008 und 2006) oder philosophischen Überlegungen zu transparenten Gesellschaften (vgl. Han 2012).

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ist zudem verbunden, dass Grenzverläufe als Konstrukte, nicht als ontologische Gegebenheiten betrachtet werden sollen.172 Die damit vorgenommene erneute Betonung des Relationalen legt es nahe, bei Grenzverläufen den prozessualen Aushandlungsprozess in den Mittelpunkt zu stellen, der mit dem Moment des Transits beziehungsweise der Passage verbunden ist. Dies leistet innerhalb des Begriffsfeldes der Grenzen am ehesten der Terminus der Schwelle: »Im Unterschied zu Grenzgängen handelt es sich um Bewegungen, die sich nicht auf eine fixierte Demarkationslinie beziehen können, vielmehr zu tun haben mit Bereichen des Übergangs und der Veränderung von Zuständen. Ähnlich lassen sich auch mit gegenwärtigen Formen der Inszenierung Erfahrungen machen, die eine Erweiterung des Theaterbegriffs von den Randzonen her zugleich erfordern und ermöglichen. Gerade im Hinblick auf die räumlichen Gegebenheiten von Theater, seinen Ort und seine Verortung im städtischen Raum, geht es um Phänomene eher des Übergangs und der Schwelle als um Fixierungen.«173

Bereits Benjamin hebt in diesem Sinne in seinem Passagenwerk – an welchem er von 1927 bis zu seinem Tod 1940 arbeitete und welches selbst nur in Einzelpassagen überliefert ist174 – die Schwelle begrifflich von der Grenze ab: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen.«175 Schwellen werden in diesem Sinne auch im Folgenden verstanden als merkliche Hürden, denen allerdings auch das Verbindende beider Bereiche sowie das Bewegliche und Fließende inhärent ist. Eine Schwelle stellt somit zwar ein Hindernis dar, legt jedoch zugleich nahe, dass dieses überwindbar ist, wobei der Moment des Übergangs als liminales Ereignis auf dem Weg zu etwas Neuem umschrieben werden kann. »Erhellend ist dabei nicht zuletzt die Ambiguität der Metaphorik von Grenze und Schwelle: Viele Grenzen werden überhaupt erst dadurch erfahrbar, dass man sie überschreitet. Umgekehrt kann es nur dort zu Überschreitungen kommen, wo auch Grenzen wahrgenommen werden.«176 Dieses Spiel mit Grenzen, die durch ihre spezifische Wahrnehmung und Kontextualisierung zu Schwellen werden, trifft sowohl auf sichtbare wie auch unsichtbare, auf materielle wie immaterielle Grenzverläufe zu, die Alltagsabläufe, Theater und ästhetische Phänomene generell maßgeblich prägen.

172 Vgl. Bauer/Rahn 1997, 7. 173 Primavesi 2008, 86f. 174 Vgl. Benjamin 1982a und Witte 2007. 175 Benjamin 1982a, 618. 176 Warstat 2005a, 188.

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Der Begriff des Liminalen, der sich etymologisch direkt von dem lateinischen Terminus limen für Schwelle ableitet, wurde – wie bereits im letzten Kapitel erwähnt – entscheidend geprägt durch den Ethnologen van Gennep und den Anthropologen Turner177. Im Kontext der Ritualforschung entwickelte Gennep das dreistufige Modell der rîtes de passage, »die den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere begleiten.«178 Ihre Funktion fasst Warstat wie folgt zusammen: »Übergangsriten dienen dazu, in Gesellschaften mit voneinander abgegrenzten sozialen Positionen, Gruppen und Lebensphasen einzelnen oder mehreren Individuen den Übergang von einer Position bzw. Gruppe in eine andere oder auch von einer Lebensphase in eine andere zu ermöglichen.«179

Dabei ist die Phase der Trennung oder auch Separation, in der sich der Einzelne aus seiner bisherigen Position mit all ihren Beziehungen und Regeln löst, gefolgt von einer Schwellenphase, die durch Transformation gekennzeichnet ist. Diese zweite Phase lässt sich als Zwischenstadium verstehen, bei dem weder die Merkmale des vorherigen noch des zukünftigen Zustands greifen. Die dritte Phase schließlich ist die Wiedereingliederungsphase oder auch Aggregation, bei der eine Rückkehr in einen relativ stabilen, aber neuen sozialen Status erfolgt.180 Turner, der auf das Modell Genneps aufbaut, legt den Schwerpunkt auf die zweite Phase, die auch für den Zusammenhang der vorliegenden Studie entscheidend ist, nicht zuletzt da es sich hierbei ebenfalls explizit um ein Passagenkonzept handelt.181 Fischer-Lichte, die eine Adaption des Turner’schen Modells für die Theaterwissenschaft vorlegt, fasst diese Zwischenphase wie folgt zusammen: »Übergangsriten dienen dazu, einzelnen oder mehreren Individuen einer Gesellschaft den Übergang von einer Position bzw. Gruppe in eine andere oder auch von einem Lebensabschnitt in einen anderen zu ermöglichen. Während der Schwellenphase befindet sich das rituelle Subjekt genau zwischen alter und neuer Position, d.h. in einem Stadium, das weder Merkmale des vergangenen noch des künftigen Zustands aufweist. Diese Unbestimmtheit ist es, die verstörende Erfahrungen des Weder-Noch und der Emergenz ermöglicht: Alte Bindungen sind aufgelöst, neue jedoch noch nicht geschaffen, sondern erst im Werden bzw. im Erscheinen begriffen. Wer eine solche Erfahrung macht, muss vorübergehend ohne feste Po177 Vgl. Gennep 1986 [1909], Turner 1989 [1969], ders. 1967, 93-111 und ders.1998, 251264. 178 Vgl. Gennep 1986 [1909], 21. 179 Warstat 2005a, 186. 180 Vgl. Gennep 1986/1909, 21. 181 Vgl. Turner 1967, 93-111.

72 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER sition, ohne verlässliche Beziehungen, ohne klare Regeln und ohne eindeutig definierte Aufgaben auskommen. Im Tausch gegen die Sicherheiten des Alltags erhält man die Aussicht auf Transformationen aller Art.«182

Nach Warstat bezeichnet der Begriff der Liminalität »Schwellenerfahrungen, Prozesse der Grenzüberschreitung und Zustände des ›Zwischen‹, wie sie u.a. im Rahmen kultureller Aufführungen und ästhetischer Ereignisse auftreten können.«183 Gehören Grenzüberschreitungen allgemein gesprochen zu den zentralen Wirkungsansprüchen des zeitgenössischen Theaters seit Beginn der Theateravantgarden und bilden diese eines der zentralen Momente mobilen zeitgenössischen Theaters, erweist sich die Schwelle als ein für die theaterwissenschaftliche Analyse vielversprechender Terminus.184 Dies gilt besonders für Theater in Passagenräumen, da es sich dabei um Spielstätten handelt, die selbst Schwellenbereiche darstellen, wie der Bahnhof oder die U-Bahn für Pendler zwischen Berufs- und Privatleben. Die Besonderheit in städtischen Bewegungs- und Mobilitätsgefügen ist jedoch, dass häufig der Anschein erweckt werden soll, als seien jegliche Hürden und Hindernisse eliminiert. Auf diese Weise werden transformative Übergänge weitgehend zum Verschwinden gebracht, um eine möglichst reibungslose, schwellenfreie Passage zu ermöglichen. Dabei rücken die Räume selbst in ihrer Gestalt und mit ihren Spezifika in den Hintergrund und die Aufmerksamkeit verlagert sich auf das Erreichen des gesetzten Ziels oder auf das konkrete Ausüben einer Tätigkeit. Bestehende Grenzverläufe während der Passage, Strukturen der Exklusion und Inklusion sowie Übergänge zwischen Einzelsituationen werden dabei häufig nivelliert, obgleich sie nach wie vor vorhanden und situationsleitend sind. Durch die Theatralisierung dieser Räume findet eine Aufmerksamkeitsverlagerung auf die Momente des Zwischen im Sinne von Schwellenbereichen statt, die unablässig den Umgang mit Übergängen erfordert. Ein in Genneps und Turners Ausführungen mit der rituellen Schwellenphase unmittelbar verbundener Vorgang ist jener der Transformation, einem Ziel zahlreicher Theaterentwürfe: So setzte sich das Theater der 1960er und 70er Jahre, das den Stadtraum einnahm und zur Partizipation animierte, gesellschaftliche Veränderung und konkrete politische Wirksamkeit zum Ziel. Dies zeigt sich beispielhaft an der performativen Abkehr von konsequenzverminderten Formen, die den Vollzug an die Stelle des Als-Ob rücken und ein rituelles Erleben von Gemeinschaft anstreben, wie dies im oben bereits erwähnten Living Theatre zum Tragen kam.185 Die in diesem Zuge entstehenden Ereignisse basierten laut Fischer-Lichte 182 Fischer-Lichte u.a. 2006b, 8f. 183 Warstat 2005a, 186. 184 Vgl. Fischer-Lichte 1995. 185 Vgl. Beck 1972 und ders./Malina 1971.

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auf der Annahme, dass »die unmittelbare Wirkung der Objekte und Handlungen […] nicht von den Bedeutungen abhängig [sei], die man ihnen beilegen kann […].« Die in dieser Weise entstandenen Projekte eröffneten »allen Beteiligten – d.h. Künstlern und Zuschauern – die Möglichkeit, in ihrem Verlauf Transformationen zu erfahren – sich zu verwandeln.«186 Fischer-Lichte unterscheidet theatrale Transformation von ritueller dadurch, dass diese ihrer Ansicht nach im Theater meist nicht zu einer dauerhaften Statusänderung führe, sondern gesellschaftlich betrachtet auf den Moment des Ereignisses beschränkt und reversibel sei. In diesem Sinne spricht sie – unter anderem in der Ästhetik des Performativen – von der passageren Beschaffenheit ästhetischer Gemeinschaften, die sich nach Ende der Aufführung wieder auflösen: »Denn während die Transformation, die das Ritual bewirkt, unumkehrbar ist und der in ihm erworbene neue Status der gesellschaftlichen Akzeptanz bedarf, konnte davon in diesem Fall nicht die Rede sein. Die Transformation war lediglich vorübergehend und erlangte auch in der oder durch die Prozession nicht eine gesellschaftliche Anerkennung, Es handelte sich entsprechend auch nicht um eine rituelle, sondern um eine ästhetische Erfahrung.«187

Damit spricht sie Theater keinesfalls die soziale Relevanz ab, noch bedeutet dies, dass im Zuge einer Theateraufführung keine Transformationen erfolgen würden.188 Diese siedeln sich jedoch in Fischer-Lichtes Lesart vornehmlich auf Einstellungsund Wahrnehmungsebene an und bringen »Veränderungen des physischen, energetischen, affektiven und motorischen Zustands«189 mit sich, deren Auslöser, ihrer Auffassung nach, in erster Linie »Autopoiesis und Emergenz sowie der Zusammenbruch von Gegensätzen«190 sind. Über diesen Zugang hält Fischer-Lichte auch die Option dauerhafter Transformation offen: »Ob die Erfahrung der Destabilisierung von Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmung, des Verlusts gültiger Normen und Regeln tatsächlich zu einer Neuorientierung des betreffenden Subjekts, seiner Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung führt und in diesem Sinne zu einer andauernden Transformation, wird sich nur im jeweiligen Einzelfall entscheiden lassen.«191

Einen grundlegenden strukturellen Unterschied zwischen Ritualen und Performances sieht sie darin, dass die »künstlerische Performance, die auf Übergangs186 Fischer-Lichte 2004, 29. 187 Fischer-Lichte 2006b, 23. 188 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 82-100. 189 Fischer-Lichte 2004, 309f. 190 Fischer-Lichte 2004, 307. 191 Fischer-Lichte 2004, 313.

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rituale anspielt und sie auf je spezifische Weise transformiert, […] Liminalität als Dauerzustand«192 und somit als künstlerische Strategien, weniger als Übergang zu etwas anderem erzeugt. Dadurch erfolgt eine »Negation eines jeden fixierten Status; sie intendiert ein Selbst, das sozusagen ständig im Fluß ist, das sich immer wieder neu konstituiert und so permanent wandelt.«193 Ist die Idee des Fließens auch den im Rahmen vorliegender Arbeit ausgewählten Fallbeispielen inhärent, so ergeben sich daraus für die folgende Untersuchung doch abweichende Schlüsse: Zum einen liegt der Fokus weniger auf den von Fischer-Lichte hier benannten Fragen nach dem Selbst, sondern auf einem komplexen Fließ-Gefüge, das sich aus Raum-, Bewegungs-, Kommunikations- und Medienpraktiken situativ herausbildet. Zum anderen folgt aus der Fließbewegung gerade eine unweigerliche Anbindung an ein Vorher und Nachher, ohne die ein Passagenraum keine Funktion hätte. Anders als es die Bezeichnung des gesamten performativen Ereignisses als liminalen Zustand besagt und als es in vielen Zielsetzungen der 1960er und 70er Jahre der Fall war, treten die Theaterereignisse in Passagenräumen des 21. Jahrhunderts somit nicht als Mittel der Befreiung aus tradierten gesellschaftlichen Mustern oder als »handlungsentlastender Raum«194 in Kraft. Stattdessen soll hier betont werden, dass auch Theater und Kunst im Allgemeinen nicht als bezugsloser oder machtfreier Raum angesehen werden können. »Es hat den Anschein, als hätten sich in den letzten Jahren die Verhältnisse umgekehrt. Während im ›wirklichen Leben‹ die Menschen sich immer häufiger als Zuschauer verhalten, wenn sie Zeugen von Gewalttaten werden, und sich offensichtlich nicht zum Eingreifen, zum Handeln genötigt sehen […], arbeiten die Künstler daran, in Aufführungen Menschen Situationen auszusetzen, in denen diese es nicht mehr fertigbringen, sich ausschließlich als Zuschauer zu betrachten und zu verhalten, in denen sie sich zum Eingreifen, zum Handeln aufgerufen fühlen.«195

Wichtiger als der unmittelbare, körperlich ausagierte Protest scheint damit in vielen heutigen Entwürfen das performative Kennzeichnen und Offenlegen der Vielschichtigkeit von Einflussströmungen, der Komplexität von Bezugsrahmen und der Grenzverläufe politischer Teilhabe zu sein. Wie bereits Mitte des 20. Jahrhunderts stellt sich auch heute erneut die Frage, welche Formen gefunden werden können, um vor dem aktuellen sozio-kulturellen Hintergrund zu einer produktiven Widerständigkeit gegen Logiken reiner Zweckrationalität zu gelangen und wie eine Wiedereingliederung nach Ablauf des Theaterereignisses gestaltet werden kann. 192 Fischer-Lichte 1998, 47f. 193 Fischer-Lichte 1998, 47. 194 Fischer-Lichte 2006b, 29. 195 Fischer-Lichte 2004, 299.

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»Entscheidend aber ist, dass jeder Störfaktor nicht Störfaktor bleiben muss, sondern seinen potentiellen Status als Störfaktor verlieren könnte, indem er entweder selbst zum gesuchten Anderen oder zum willkommenen Publikum für großstädtische Inszenierungen des eigenen Selbst avanciert.«196

In diesem Sinne suchen einige der hier exemplarisch gewählten Entwürfe des frühen 21. Jahrhunderts – so eine These, die es anhand der Fallbeispiele zu prüfen gilt – nach zeitgemäßen Formen längerfristiger Transformation; und dies trotz oder gerade wegen der zunehmenden Fluidität von Gesellschaftsformen. Turner selbst betont die Übertragbarkeit der Ritualtheorie auf andere gesellschaftliche Bereiche wie eben das Theater. Als terminologisches Abgrenzungsmerkmal benennt er die dort zum Einsatz kommende, spielerische Form liminaler Erfahrung mit dem Begriff des Liminoiden. Kennzeichnend hierbei ist, dass Eigenschaften der liminalen Phase vorliegen, ohne dass zwangsläufig eine persönliche oder gesellschaftliche Krisensituation vorliegen muss, ebenso wenig wie sich unbedingt eine dauerhafte Transformation anschließt: »Crucial differences separate the structure, function, style, scope and symbology of the liminal in tribal and agrarian ritual and myth from what we may perhaps call the ›liminoid‹, of leisure genres, of symbolic forms and action in complex industrial society.«197 In diesem Begriffsverständnis bietet die Einbindung der Begriffe Schwelle und Liminalität in die theaterwissenschaftliche Analyse ebenso viel Potenzial wie Konkretisierungsbedarf: »Aus heutiger Perspektive stellt sich Liminalität für die Theaterwissenschaft als ein offenes, weiter auszuarbeitendes theoretisches Konzept dar, das für Aufführungsanalysen erhebliches heuristisches Potenzial birgt, wenn es darum geht, den Wirkungen performativer Prozesse bzw. den Erfahrungen ihrer Teilnehmer nachzugehen.«198

Diese These stützt Fischer-Lichte, indem sie schreibt: »Das Ästhetische lässt sich nie auf einen Nenner bringen – schon gar nicht auf einen vorgefertigten –, sondern wird als ein Wechselbad erlebt, das Bestimmungen in der Schwebe und Erfahrungen auf der Schwelle hält.«199 Dadurch werden Reibungsflächen erzeugt, die zu einer Überprüfung der eigenen Zuschreibungsmuster und Rezeptionsweisen herausfordern: »Die Metapher der ›Schwelle‹ und der aus ihr abgeleitete Begriff der ›Schwellenerfahrung‹ bieten eine Chance, für diese irritativen Erfahrungen von Kunst, die tradierte Rezeptions196 Schroer 2006, 246. 197 Turner 1982b, 41. 198 Warstat 2005a, 188. 199 Fischer-Lichte u.a. 2006b, 9 [Hervorhebung im Original].

76 | Z UM EINGANG : V ORÜBERLEGUNGEN ZU P ASSAGENRÄUMEN IN ALLTAG & T HEATER ideale wie das ›interesselose Wohlgefallen‹ oder die ›distanzierte Betrachtung‹ obsolet erscheinen lassen, genauere Beschreibungssprachen zu finden.«200

Die Konkretisierung der Beschreibungssprache hinsichtlich des hier betrachteten Gegenstandes besteht in der Markierung einer weiteren Schwelle, die sich in Form der These fassen lässt, dass sich Theater in Passagenräumen des Alltags auf einer Schwelle zwischen liminalen und liminoiden Vorgängen situiert. Folgt man diesem Vorschlag, wäre es denkbar, dass durch die dabei entstehende Durchdringung von alltäglichen und theatralen Vorgängen und das stete Bewegen an den Rändern des Spielcharakters, Theater in Passagenräumen ein verstärkt wirklichkeitstransformierendes Potenzial birgt, wodurch die Frage nach gesellschaftlicher Reversibilität neu zu stellen wäre. Denn durch die Positionierung eines theatralen Ereignisses inmitten gewohnter Alltagsabläufe werden in ansonsten häufig als ›schwellenlos‹ wahrgenommenen Räumen sichtbare Schwellen gesetzt oder auch einfach die bereits bestehenden markiert, was eine aktive Auseinandersetzung erforderlich macht. Deren Ausprägung kann in einem bewussten Einlassen auf die neue Situation, oder aber in dem Beschluss bestehen, die unerwartete Schwelle im alltäglichen Ablauf zu ignorieren und dem gewohnten Tagwerk nachzugehen. Jedoch auch für den Akt der Ablehnung bedarf es einer bewussten Entscheidung und somit ebenfalls des Überwindens einer Schwelle. Erfolgt somit auch meist keine unmittelbare gesellschaftliche Statusveränderung des Einzelnen, so können ästhetische Erfahrungen doch zu Transformationen von Raumpraktiken und diese bestimmenden Leitbildern führen. Der damit initiierte Reflexionsprozess erfolgt nicht zuletzt auch durch eine Außensicht auf das Vertraute, wodurch sich Parallelen zum Brecht’schen Verfremdungseffekt201 ergeben. Alltägliche Grenzverläufe werden sichtbar gemacht und zugleich in ihrer Konstrukthaftigkeit offen gelegt. Fischer-Lichte sieht darin das Potenzial zu produktiver Überschreitung: »Wenn Gewöhnliches auffällig wird, Gegensätze kollabieren und die Dinge sich in ihr Gegenteil verwandeln, dann erlebt der Zuschauer die Welt als ›verzaubert‹. Und es ist diese Verzauberung, die ihn in einen Zustand der Liminalität versetzt und zu transformieren vermag.«202 Außer dieser Verzauberung kann Theater umgekehrt aber auch zu einer produktiven Entzauberung wie auch Grenzziehung führen. So muss – in Anlehnung an Bertolt Brecht – von einer Illusionsbildung und Wirklichkeitsabbildung Abstand genommen werden, um Wirksamkeit in der Gesellschaft zu entfalten und die Veränderbarkeit der Verhältnisse aufzuzeigen.203 Im zeitgenössischen Theater findet sich häufig die Strategie, unsichtbar 200 Fischer-Lichte u.a. 2006b, 8. 201 Vgl. Brecht 1989, 655. 202 Fischer-Lichte 2004, 314. 203 Vgl. Brecht 1967b, 661-708, ders. 1989, 655.

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wirkende Grenzen auf unterschiedlichen ästhetisch-performativen Wegen, etwa durch verfremdende Verfahren, zu Schwellenbereichen zu vergrößern, um ihnen dadurch Sichtbarkeit und Wirksamkeit zu verschaffen.204 Jenseits dieser Strategien und Effekte, die auf Konsequenzen des Theaterereignisses abzielen, gilt es auch nach dem Umgang und der bewussten Inkaufnahme von Kontingenzen im Sinne unvorhersehbarer, unplanbarer Ereignisverläufe zu fragen. Fischer-Lichte erklärt das Prinzip der Kontingenz zu einem zentralen Element, das die performative Wende mit sich brachte, da es »nun überwiegend als Bedingung der Möglichkeit von Aufführungen nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich begrüßt [wird]. Das Interesse richtete sich nun explizit auf die feedbackSchleife als selbstbezügliches, autopoietisches System mit prinzipiell offenem, nicht vorhersagbarem Ausgang, das sich durch Inszenierungsstrategien weder tatsächlich unterbrechen noch gezielt steuern läßt.«205

Bourriaud beschreibt in seiner relationalen Ästhetik neben der oben ausgeführten Verschiebung der Rezeptionssituation ab den 1990er Jahren auch einen veränderten, relationalen Bezug des Kunstwerks zum Kontext: »[P]resent-day art shows that form only exists in the encounter and in the dynamic relationship enjoyed by an artistic proposition with other formations, artistic or otherwise.«206 Diese Verschränkung theatraler und alltäglicher Vorgänge potenziert die dem Theater ohnehin eingeschriebene Kontingenz und Unvorhersehbarkeit, was in ganz besonderem Maße auf performative Projekte in Räumen alltäglichen Durchgangs zutrifft, da hier die Fluktuation erhöht ist: »Während es auf der einen Seite unter Umständen […] gar nicht so einfach ist, dem Publikum seine Betrachterrolle streitig zu machen und es in Aktion zu versetzen, ist auf der anderen Seite der aktivierte Besucher, einmal aus seiner tradierten Betrachterrolle gelockt und mit der Option auf andere als die üblichen Aktivitäten und Verhaltensweisen konfrontiert, nicht immer ganz einfach in Schach zu halten. Mit der Preisgabe der distanzierten Kunstbetrachtung ist das Publikum zu einem erhöhten Unsicherheitsfaktor geworden, und Verlass scheint allenfalls darauf zu sein, dass man sich nicht mit Sicherheit auf es verlassen kann.«207

Der Umgang zeitgenössischer Theaterformen in Passagenräumen mit Zufall und Unvorhersehbarkeit bedarf einer ausführlichen Untersuchung, die im Zuge der Bei204 Vgl. Bauer/Rahn 1997, 8. 205 Fischer-Lichte 2004, 61. Zur performativen Wende vgl. zudem Stegemann 2013, 24-40. 206 Bourriaud 2009, 21. 207 Umathum 2006, 16.

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spielanalysen erfolgt. Genauer in Augenschein genommen werden dabei auch die Prinzipien theatraler Mehrfachrahmung: Denn impliziert die Wahl eines Passagenraumes des Alltags, im Vergleich zu anderen Spielorten, ein erhöhtes Maß an Kontingenz, so gilt es genauer zu untersuchen, inwiefern häufig auch nur der Eindruck von Zufälligkeit vermittelt wird, dieser aber durch minutiöse Planung der Abläufe zum wirkungsästhetischen Stilmittel avancieren kann. So werden in den Einzelanalysen die Verschränkungen von inszenatorischer Setzung und spontaner Ereignishaftigkeit geprüft und auf ihre theatrale Funktion hin untersucht. Erscheinen Kontingenz und längerfristige Konsequenz sich zunächst oppositionell entgegenzustehen, bezeichnet Fischer-Lichte gerade das Unplanbare und den Moment des Kontrollverlustes als Voraussetzung für die Möglichkeit transformativer Veränderungen: »Nur wer sich auf das Risiko gesteigerter Kontingenz einlässt, wird mit weitreichenden Wirkungsversprechen belohnt – ob diese dann eingelöst werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt.«208 Durch die Durchlässigkeit der Räume mischen sich meist intentionale, über den Rahmen einer stattfindenden Aufführung informierte Theaterbesucher mit zufälligen Passanten, wodurch die Unvorhersehbarkeit der Schwellensituation hervorgehoben wird. Das Besondere an vielen der gewählten Beispiele ist – so die These – dass durch die ›Auslieferung‹ des theatralen Ereignisses an einen passageren Raum keiner der Beteiligten die Rahmenkontrolle gänzlich für sich beanspruchen kann, wie Fischer-Lichte am Beispiel der Arbeiten Schlingensiefs zeigt: »Zwar war der einzelne Zuschauer – wie die Darsteller, der Regisseur, die anderen Zuschauer – Miterzeuger der Aufführung und nahm unablässig auf ihren Verlauf Einfluss, gleichwohl war er ebenso wenig wie alle anderen imstande, diesen Verlauf zu bestimmen, zu steuern und zu kontrollieren. Die Aufführung entzog sich der Verfügungsgewalt jedes einzelnen an ihr Beteiligten.«209

Durch diesen Effekt, der besonders in Räumen des Durchgangs zu beobachten ist, werden Emergenz und Transitorik in besonderem Maße hervorgehoben. Es wäre folglich denkbar, für Theater in Passagenräumen des Alltags Fischer-Lichtes Begriff der Feedbackschleife aufzugreifen und hinsichtlich des hier fokussierten Themas zu erweitern. Bei Fischer-Lichte heißt es: »Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich perma-

208 Fischer-Lichte u.a. 2006b, 8f. 209 Fischer-Lichte u.a. 2006b, 29.

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nent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar.«210

Anstelle einer Schleife ließe sich hier von einem Feedbacknetz sprechen, da nicht nur die unterschiedlichen Teilnehmergruppen aufeinander reagieren, sondern zudem eine Vernetzung beziehungsweise ein Interdependenzgefüge zwischen theatralem Ereignis und dem durch Bewegung konstituierten Raum entsteht. Diese Form des Netzes besteht jedoch nicht aus klar definierten Fasern, die mit Knotenpunkten stabil und dauerhaft verbunden sind, es handelt sich vielmehr um eine netzartige Struktur, deren Verbindungen beweglich sind und stets neu angeordnet werden, wodurch sich jedes Gefüge nur als eine situative Momentaufnahme erweist.211 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung gilt es im Folgenden zu eruieren, ob die Wahrscheinlichkeit längerfristiger Veränderungen dadurch gesteigert ist, dass die kontingenten Aspekte durch die passagere Anordnung radikal erhöht werden und somit unter-schwellige, aber dauerhaftere Veränderungen durch theatrale Mittel denkbar sind. Die in abstrakter Form skizzierten Grundtendenzen des zeitgenössischen Theaters in Passagenräumen, sollen nun in konkreter Anwendung auf theatrale und gesellschaftliche Phänomene unter den Blickwinkeln der Mobilität, der Globalität und der Öffentlichkeit auf Tragfähigkeit geprüft werden. Dabei dienen die im gesamten Eingangskapitel gelegten Spuren, Ansätze, Ideen und Fragen als methodisch-theoretisches Gerüst, das im Sinne einer Grundierung die gesamte Untersuchung – teilweise explizit, teilweise implizit – durchzieht und stützt.

210 Fischer-Lichte 2004, 59 [Hervorhebung im Original]. 211 Vgl. Otto 2013, 12.

II Passagen zwischen Mobilität & Verortung

3 Hinführende Denkfiguren: Aggregatzustände passagerer Mobilität

Bewegung, welche die Grundlage von Mobilität ist, stellt ein äußerst disparates Forschungsthema dar. Dies liegt unter anderem daran, dass es sich um einen per se schwer beobachtbaren, da genuin flüchtigen Analysegegenstand handelt. Dennoch, oder vielleicht auch gerade deshalb, bildet dieser für Vertreter unterschiedlicher Disziplinen – beispielsweise der Theaterwissenschaft, der Philosophie, der Soziologie oder der Sportwissenschaft – ein an Bedeutung in jüngster Zeit sukzessive zunehmendes Arbeitsfeld. Es soll hier nicht darum gehen, die teilweise konträren Einzelpositionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen oder gar einen allgemeinoperablen Begriff von Bewegung zu formulieren. Mit Blick auf den Gegenstand der vorliegenden Studie sollen stattdessen einzelne Ansätze aufgegriffen und auf ihre Relevanz für die zu untersuchenden passageren Prozesse zwischen Mobilität und Verortung geprüft werden. Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel wirft im Rahmen seiner philosophischen Überlegungen die Frage auf, ob und in welcher Form es möglich sei, sich dem Phänomen der Bewegung auf sprachlichem Wege zu nähern: »Wenn wir von der Bewegung überhaupt sprechen, so sagen wir: der Körper ist an einem Orte, und dann geht er an einen anderen Ort. Indem er sich bewegt, ist er nicht mehr am ersten, aber auch noch nicht am zweiten; ist er an einem von beiden, so ruht er. Sagt man, er sey zwischen beiden, so ist dieß nichts gesagt; denn zwischen beiden ist er auch an einem Orte, es ist also dieselbe Schwierigkeit hier vorhanden. Bewegen heißt aber: An diesem Orte seyn, und zugleich nicht; dies ist die Kontinuität des Raums und der Zeit, – und diese ist es, welche die Bewegung erst möglich macht.«1

Die Gefahr, durch den Versuch einer Beschreibung zu einer Fixierung des Beweglichen zu kommen, sieht auch Henri Bergson, woraus sich bei ihm ein verstärktes In1

Hegel 1965 [1833], 337f.

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teresse an Übergängen, anstelle von festlegbaren Zuständen ableitet: »Wie könnte das Ding, das sich bewegt, an einem Punkt seiner Bahn sein? Es geht durch ihn hindurch oder in anderen Worten, es könnte dort sein, es wäre dort, wenn es dort anhielte, aber wenn es dort anhielte, dann würden wir es nicht mehr mit derselben Bewegung zu tun haben.«2 Als Konsequenz nimmt Bergson eine veränderte Perspektive ein und zielt weniger auf eine sprachlich-kognitive Definition von Bewegung ab, sondern bezieht sich in seinen Beschreibungen vorrangig auf die Aspekte der Wahrnehmung und des körperlichen Erlebens von Bewegung.3 In ähnlicher Weise verdeutlicht Merleau-Ponty im Rahmen seiner Phänomenologie der Wahrnehmung den zentralen Stellenwert selbiger innerhalb von Bewegungsvorgängen und betont dabei besonders das Moment des Relationalen: »Ich werfe einen Stein. Er fliegt über meinen Garten. Für einen Augenblick wird er zum verschwommenen Meteoriten, wird dann wieder zum Stein, wenn er in einigem Abstand zu Boden fällt. […] Der Stein selbst, werde ich sagen, wird durch die Bewegung in Wirklichkeit nicht modifiziert. Es ist derselbe Stein, den ich zuvor in der Hand hielt und den ich, nachdem er seine Bahn durchlaufen hat, an der Erde wiederfinde, es ist also derselbe Stein, der die Luft durchflogen hat. Die Bewegung ist nur ein akzidentelles Attribut des Beweglichen, sie ist nicht irgendwie am Stein selbst zu sehen. Sie kann nur eine Veränderung in den Verhältnissen zwischen dem Stein und seiner Umgebung sein.«4

Wurde der für die vorliegende Studie verwendete Raumbegriff durch die enge Verknüpfung mit Bewegungen und Handlungen bereits als ein relationaler ausgewiesen, kann also auch Bewegung in diesem Sinne selbst als ein Vorgang verstanden werden, der nur in Relationen und prozessualen Verhältnissen zu denken ist. Daraus folgt, dass Bewegung, wie die Soziologin, Kultur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein ausführt, keine »›physikalische Tatsache‹ und damit etwas quasi Natürliches ist, sondern ein soziales und kulturelles Konzept [...].«5 Die Grundkonstanten ihres darauf aufbauenden Bewegungsbegriffs fasst sie wie folgt zusammen:

2

Bergson 1948 [1946], 163. Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, strebt er eine Betrachtung von Veränderung und Dauer an und macht sich unter Verwendung eines Passagenraumbegriffs auf die Suche nach dem Kernprinzip menschlichen Lebens, dass für ihn in einem Geheimnis liegt, dass ahnen lässt, »daß jedes Lebewesen vor allem andern Durchgangspunkt [im französischen Original: lieu de passage] ist, ahnen, daß das Wesen des Lebens in der Bewegung liegt, die es weiterpflanzt.« (Bergson 1912 [1911], 133; vgl. zudem Klein 2004a, 12.)

3

Vgl. Bergson 1948 [1946], 161ff.

4

Merleau-Ponty 1966 [1945], 312.

5

Klein 2004a, 14.

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»Bewegungskonzepte sind historisch kontextualisiert und mit Gesellschaftskonzepten eng verknüpft. […] Bewegungen sind kulturell kodiert […]. Bewegungen sind relational und figurational […]. Bewegungen sind repräsentativ und performativ […]. Bewegungen sind theatral gerahmt […]. Bewegungen sind raum-zeitliche Orientierungen und Ordnungsmuster des Körpers […].«6

Kleins Ansatz eignet sich durch den hier formulierten untrennbaren Zusammenhang von Relationalität, Bewegung, Raum und theatralen Vorgängen besonders für den analytischen Blick auf Passagenräume in performativer Praxis, denn Passagenräume sind nicht nur durch Bewegung hervorgebracht, sondern werden zudem überhaupt erst zu dem Zweck errichtet, Bewegung zu ermöglichen und zu inszenieren. Mehr noch: Der Entstehungszeitraum der in der vorliegenden Studie zu untersuchenden performativen Ereignisse lässt sich als eine Zeit beschreiben, in der Formen mobiler und flexibler Bewegung ins Zentrum gesellschaftlichen Selbstverständnisses rücken und Raumaneignungsformen, Handlungsweisen und Lebensentwürfe grundlegend mitprägen. Auf dieser Grundlage weisen sich Passagenräume des frühen 21. Jahrhunderts als paradigmatische Räume des relationalen Bewegungsbegriffs aus. Bevor im Zuge der Beispielanalysen ausführlich auf die performative Dimension von Bewegung und Mobilität eingegangen wird, soll zunächst auf Grundlage des soeben skizzierten Bewegungsverständnisses der Blick auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse im Kontext zunehmender Mobilisierung gerichtet werden.7 Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman, dessen Überlegungen hier als einer der zentralen Referenzpunkte dienen, spricht hinsichtlich dieser Verschiebung von einer Entwicklung von der schweren zur leichten, oder auch von der festen zur flüssigen Moderne: Als schwere Moderne bezeichnet Bauman die Zeit der späten Industrialisierung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Anders als der Begriff zunächst vermuten ließe, beschreibt er damit keine Phase, in der Mobilität und Beschleunigung keine Rolle spielten, im Gegenteil: Gerade zu dieser Zeit werden Bewegung und Geschwindigkeit zu zentralen Leitideen der Gesellschaft, was sich in der Beschleunigung der Fortbewegung und der Etablierung von Fabriken fordistischer Prägung zeigt.8 Als fest oder schwer bezeichnet er die Phase deshalb, weil ihre Zielrichtung eine Festigung von Strukturen bei fortwährender Raumeroberung in immer kürzerer Zeit ist. Dies zeigt sich in der Erfindung großer, schwerer Maschinen ebenso wie daran, dass Fortschritt maßgeblich in räumlicher Ausdehnung und 6

Klein 2004b, 150f. Zur Idee relationaler Ästhetik vgl. auch Bourriaud 2009.

7

Vonderau 2003, 8. Vgl. des Weiteren Hofmann/Sennewald/Lazaris 2004, Nyíri 2007 und Sennett 1998. Zur Geschichte zunehmender Mobilisierung sowie der Idee des Ambulanten vgl. Buschauer 2010, 264-272.

8

Vgl. Bauman 2003, 36.

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Effizienzsteigerung gemessen wird.9 In der festen Moderne liegt somit der Sinn nicht in der Bewegung um der Beweglichkeit willen, sondern in der räumlichen Erschließung, die aus ihr folgt. Der Einzelne musste sich dieser Bewegung anpassen, um mit den Entwicklungen und den eigenen Zielen Schritt halten zu können, was jedoch durch die Idee steter Steigerung per se nicht möglich war, da Ziele bei ihrem Erreichen immer bereits durch neue abgelöst worden waren: »Modern zu sein hieß von da an, unfähig zum Stillstand zu sein. […] Der Horizont der Befriedigung, die Ziellinie der Anstrengung und der Augenblick erschöpfter Zufriedenheit entfernen sich immer weiter von uns je schneller wir uns darauf zu bewegen«10. Aus dieser Gesellschaftsdynamik heraus, die in der Folge eine flächendeckende Beschleunigungs- und Steigerungslogik hervorbringt und schürt, wird – so Bauman – eine Verflüssigung und somit eine Entwicklung hin von der schweren zur leichten beziehungsweise, wie er es ebenfalls nennt, von der festen zur flüssigen Moderne in Gang gesetzt: »Flüssigkeiten können, einfach ausgedrückt, im Gegensatz zu Festkörpern kaum ihre Form wahren. Sie fixieren sozusagen weder den Raum, den sie einnehmen, noch fesseln sie die Zeit. […] Die außerordentliche Mobilität von Flüssigkeiten legt die Assoziation der ›Leichtigkeit‹ nahe.«11

In dieser Übergangszeit wandelt sich laut Baumann auch das Verhältnis von Zeit und Raum, da nun nicht mehr wie in der festen Moderne die Zeit schrumpfen und der Raum sich ausdehnen soll, sondern eine zunehmende Verzeitlichung des Raumes erfolgt, was eine sich bis heute fortsetzende Hinwendung zum Momenthaften, zur Flexibilität und Unmittelbarkeit zur Folge hat.12 Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der Überwindung tradierter Strukturen und Werte und einer Hinwendung zu einer Ökonomisierung der Gesellschaft, deren Ziel am Übergang zur flüssigen Moderne noch – wie Bauman schreibt – das Erreichen eines idealen Zustands ist. Es war somit zunächst nicht das Ziel, gänzlich gegen Strukturen als solche vorzugehen, sondern die alten Ordnungen durch neue abzulösen. Daran knüpft sich die Vorstellung, dass das Erreichen dieses neuen Zustandes Veränderungen schließlich weitreichend überflüssig machen würde. Stattdessen stellt sich jedoch zunehmend heraus, dass die initiierten Impulse eine Dynamisierung mit selbstläuferhaften Zügen entfesselt hatten, wodurch der anfängliche Glaube an das Überführen in eine neue, stabile Ordnung kontinuierlich abnimmt. Die durch Beschleunigung geprägte Lebenswelt wird von nun an nicht mehr als passagerer Übergang, sondern als Zu9

Vgl. Bauman 2003, 134ff sowie weiterführend ders. 1999 und 2008.

10 Bauman 2003, 39. 11 Bauman 2003, 7f. 12 Vgl. Bauman 2003, 150ff.

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stand ohne Ziellinie wahrgenommen, als dessen zentrales Kennzeichen die Prozessualität als solche beschrieben werden kann: »Ist die Zeit erst einmal unkenntlich gemacht und kein Vektor, kein Pfeil mit einer Spitze oder Fluß mit einer Richtung mehr, dann strukturiert sie auch den Raum nicht länger; vorwärts und rückwärts werden obsolet; es zählt nur noch die Fähigkeit, sich zu bewegen und nicht still zu stehen.«13 Damit wandeln sich auch die gesellschaftlichen Dominanzverhältnisse zwischen mobilen und verorteten Lebensentwürfen und Ausrichtungen: »Wir sind Zeugen eines Rachefeldzugs des nomadischen Prinzips gegen die Prinzipien der Territorialität und Seßhaftigkeit. In der flüchtigen Moderne steht die seßhafte Mehrheit unter der Herrschaft der nomadisierenden, exterritorialen Elite.«14 Der beschriebene Dreischritt lässt sich also als eine anfänglich dynamisierte Verortung in Zeiten fester Moderne beschreiben, die mit dem Zielhorizont anschließender Verstetigung mobilisiert, verflüssigt und aus der Verortung gelöst wurde. Stattdessen setzt ein flüssiger ›Zustand‹ steter Mobilität ein, bei welchem diese zum Selbstzweck ohne zu erwartende Restabilisierung beziehungsweise Verfestigung wird. Eine Kurzlebigkeit sozialer Strukturen ist ebenso Folge wie eine Entmaterialisierung täglicher Gebrauchsgegenstände, die sich besonders in technischen Geräten niederschlug, die immer handlicher wurden. Waren die ersten Computer noch raumfüllend, passt heute das Vielfache an Rechenleistung spielend in jede Hosentasche. Hinzu kommt, dass technische Geräte in immer kürzerer Zeit an Aktualität verlieren, was ihre Flüchtigkeit erhöht.15 An diesen technischen Aspekt schließt sich ein weiterer maßgeblicher Unterschied der flüssigen Moderne gegenüber der festen an, der besonders seit dem 21. Jahrhundert zunehmend an Relevanz gewinnt: eine neue Beweglichkeit und Raumungebundenheit, die sich nun auch auf die Verflüssigung von Kommunikationsvorgängen bezieht. Denn Tele-Kommunikation und Passagenvorgänge schließen sich heute nicht mehr aus, wie dies noch in Zeiten drahtgebundener Kommunikation der Fall war: Den Schilderungen Artur Fürsts von 1923 ist zu entnehmen: »Wir können uns keineswegs von jedem beliebigen Punkt mit jedem Menschen drahtlos in Verbindung setzen; sobald der Körper sich in Bewegung befindet, ist ihm diese Möglichkeit genommen. Das Telegraphieren oder Fernsprechen vom Schiff, vom Eisenbahnzug, ganz allgemein von irgendeinem bewegten Fahrzeug aus, ja auch während eines Spaziergangs ist ausgeschlossen.«16 13 Bauman 1999, 159/160. Vgl. zudem ders. 2003, 35ff. 14 Bauman 2003, 20f. Die Kehrseite bilden Ausprägungen unfreiwilliger Mobilität, wie dies auf Flüchtlinge zutrifft, deren Lebensform dem Ausgeliefertsein gegenüber den jeweils herrschenden Machtverhältnissen geschuldet ist (vgl. Bauman 2008, 58ff). 15 Vgl. Bauman 2003, 73f. 16 Fürst 1985 [1923], 229.

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Anders als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Mobilitätssteigerung vorwiegend dadurch zustande kam, dass die Weiterentwicklung und Verbreitung von Verkehrsmitteln eine erhöhte Mobilität im Sinne eines beweglicheren, schnelleren Vorankommens und Raumüberwindens ermöglichten, lässt sich am Übergang zur Postmoderne – oder in Baumans Worten: zur flüssigen Moderne – mit besonderer Zuspitzung ab den 1990er Jahren, eine Entwicklung zu »mobilen Orte[n] mit fließenden Inhalten«17 feststellen, ein Übergang, den John Urry als »mobility turn«18 bezeichnet. Dieser besteht in einem Zusammenspiel räumlicher Widerstandsminimierung, dem Ausbau der zugehörigen Infrastruktur und einer Mobilisierung von Kommunikationsmitteln19, wie sie sich beispielhaft an der flächendeckenden Verbreitung von Mobiltelefonen und deren Funknetzen sowie dem Internet und seiner raumungebundenen, mobilen Verfügbarkeit zeigt, wodurch es ›passagentauglich‹ wird: »Sämtliche Einzelmedien sind entweder von jeher mobil (wie Geld, Buch, Zeitung, Fotografie) oder wurden in ihrer Entwicklung zunehmend mobiler. Daher wird in der medienwissenschaftlichen Literatur der Begriff ›portabler Medien‹ genutzt, um zu markieren, wie elektrische und elektronische Medien neben ihrer ›Übertragungsfähigkeit‹ auch eine ›Tragfähigkeit‹ entwickelt haben.«20

In Zusammenhang mit der global vernetzten Arbeits- und Lebenswelt kann Mobilität somit heute als eines der bestimmenden Leitbilder der Gesellschaft und als wirkmächtige dynamische Kraft bezeichnet werden. Auf diese Weise rücken Passagenvorgänge und weltweite Ströme in den Fokus, denn im 21. Jahrhundert – so Regine Buschauer – »überlagern sich gleichsam die Zirkulation des Verkehrs und des Verkehrens in einer mobilen Kommunikation, in der sich Mobilität und TeleMedien verschränken.«21 Diese Metaphorik des Stromes und der Zirkulation findet sich auch bei Manuel Castells, der in seinen Ausführungen zum space of flows22 explizit eine Abkehr von fixen, isolierbaren Verortungen, die losgelöst von mobilen Zusammenhängen ge17 Bauman 1997, 76. 18 Vgl. Urry 2000 und 2007. Dieser Umschwung macht auch eine Mobilisierung der wissenschaftlichen Perspektive notwendig (vgl. Büscher/Urry/Witchger 2011). 19 Vgl. Buschauer 2010, 18ff sowie weiterführend Burkart 2007, Castells 2007, Snickars/ Vonderau 2012, Steinbock 2005, Thielmann 2014, 350ff, Wimmer/Hartmann 2013. 20 Thielmann 2014, 350. Einen Überblick bieten die Sammelbände von Glotz, Katz 2008, Goggin/Hjorth 2009, Stingelin/Thiele 2010, Arceneaux/Kavoori 2012 und Snickars/Vonderau 2012. 21 Buschauer 2010, 19. 22 Vgl. Castells 1994.

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dacht werden, vornimmt: »[N]o place exists by itself, since the positions are defined by flows«23. Eine daran angelehnte Denkfigur entwickelt Hartmut Rosa, in dessen Augen die heutige Welt maßgeblich geprägt ist durch »globale Ströme, die […] hohe Geschwindigkeiten aufweisen. Das sind Kapitalströme in erster Linie, […] Ideenströme, kommunikative Ströme, aber auch Menschenströme, die wir über den Globus leiten.«24 Passagenräume können also – so meine These – gewissermaßen als Prototypen zur Veranschaulichung und als Kristallisationsmomente dieser Ströme dienen: An ihnen lässt sich durch ihre Funktionen des Übergangs und der Mobilität besonders deutlich zeigen, dass es sich dabei um Räume handelt, die nicht ohne Einbindung existieren können, da sie immer ein ›Zwischen‹ bilden, das nur in zeitlicher und räumlicher Relationalität gedacht werden kann. Der eng mit dem in diesem Sinne verstandenen Mobilitätsbild verbundene Anspruch höchster Flexibilität25, der sich unter anderem in der Arbeitswelt niederschlägt, führt zu einem Bewegungsverhalten, das neben dem Prinzip der Zirkulation von einem hohen Grad räumlicher und zeitlicher Spontanität und Variabilität geprägt ist. Auf der Ebene der Fortbewegung drückt sich die Flexibilisierung – neben den ökologischen Überlegungen, die damit verbunden sind – beispielhaft in der Tendenz zu vermehrter Leihmobilität wie dem Carsharing oder städtischen Fahrradverleihsystemen aus. Auch diese Tendenz baut in ihrer heutigen Tragweite auf Möglichkeiten auf, die erst durch die Etablierung mobiler Medien eröffnet werden. Scott Ruston führt eine Reihe an zentralen Merkmalen dieser mobilen Medien als Basis für eine flexible Lebensgestaltung auf: Neben der Ubiquität, hier verstanden im Sinne ständiger Verfügbarkeit, nennt er die Miniaturisierung der Geräte, die deren Portabilität ermöglicht, die personengebundene Konfiguration, die die jeweiligen Bedarfsmomente individuell abdeckt, die Möglichkeiten raum- und zeitungebundener Vernetzung sowie die Ortungsmöglichkeit anhand von Sendesigna23 Castells 1996, 412. 24 Zitiert aus dem Interview mit Rosa, Hartmut: »Die kommenden Tage: Risiken und Chancen in der Wissensgesellschaft« im Rahmen der HORIZONTE Expertengespräche im webTV des Stifterverbandes, Juni 2011 (http://www.stifterverband.info/publikationen_ und_podcasts/webtv/rosa/, Stand: 21.7.2015). 25 »Das Wort ›Flexibilität‹ wurde im 15. Jahrhundert Teil des englischen Wortschatzes. Seine Bedeutung war ursprünglich aus der einfachen Beobachtung abgeleitet, daß ein Baum sich zwar im Wind biegen kann, dann aber zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrt. […] Im Idealfall sollte menschliches Verhalten dieselbe Dehnfestigkeit haben, sich wechselnden Umständen anpassen, ohne von ihnen gebrochen zu werden. Die Gesellschaft sucht nach Wegen, die Übel der Routine durch die Schaffung flexiblerer Institutionen zu mildern. Die Verwirklichung der Flexibilität konzentriert sich jedoch vor allem auf die Kräfte, die die Menschen verbiegen.« (Sennett 1998, 57.)

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len und GPS.26 Damit ist ein ambivalentes Spannungsfeld aus mobilen Alltagswirklichkeiten und Verortungs- beziehungsweise Lokalisierungsbestrebungen verknüpft, woraus ein neues Bewusstsein und ein vermehrter Bedarf an geographischen Bezügen erwachsen. Sichtbarkeit erlangt diese Tendenz in Praktiken wie dem sogenannten Geotagging von Fotos in Blogs und Posts oder georeferenzierenden Strömungen wie Geocaching.27 Ausgehend von der oben entwickelten Grundannahme, dass sich Raum und der sich bewegende Mensch in einem Wechselverhältnis zueinander befinden, in Erinnerung und richtet den Blick dann auf die konkreten Bewegungsausprägungen heutiger städtischer Gefüge, so zeigt sich die Komplexität, die sich aus dieser Bewegungs-Raum-Lesart ergibt: Da jeder Passant und Passagier seine eigenen Wege durch die Stadt wählt und dadurch individuelle Räume hervorbringt, entsteht im Stadtraum eine Vielzahl sich überlagernder und überschreibender Räume ohne übergeordnetes Konzept, im Sinne einer Summe aus vielgestaltigen Bewegungsräumen, die keiner ›Autorenschaft‹ mehr zuzuordnen ist. »Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisierte. Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden ›Schriften‹ bilden ohne Autor oder Zuschauer eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert.«28

Bei aller Betonung der Relativität und der momenthaften Hervorbringung dürfen jedoch auch die normativ und habituell wirkenden Kräfte und Grenzverläufe nicht außer Acht gelassen werden, die trotz der Verflüssigung Einfluss auf Bewegungen und Handlungen ausüben und die Bauman in seinen Ausführungen nur peripher streift. Gebauer merkt in diesem Zusammenhang an, dass sich das »Subjekt […] nicht in einem Raum freier Beliebigkeit [bewegt], sondern in einer gesellschaftlich geformten, von Kulturtechniken geprägten und von Machtbeziehungen durchzogenen Sozialwelt.«29 Ebenso soll im Folgenden nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Aggregatzustände des Festen und Flüssigen gegenseitig ausschließen.30 Vielmehr bauen die Überlegungen und Analysen zu Mobilität und Verortung auf der Annahme auf, dass beide Zustände zeitgleich bestehen können und in einem performativen 26 Vgl. Thielmann 2014, 355 sowie Ruston 2012. 27 Vgl. Coyne 2010 sowie Thielmann 2013, 35-59. Auf die damit eng verbundenen Auswirkungen auf das Verhältnis von Nah- und Fernräumen in Verschränkung mit Entwicklungen des Globalen und Lokalen wird in Kapitel 7 ausführlich zurückgekommen. 28 De Certeau 1988, 182. 29 Gebauer 2004, 26. 30 Vgl. Grigull 2014, 28f.

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Aushandlungsakt in ihrem ›Härtegrad‹ variieren. So sind Theaterereignisse wie auch alltägliche Passagenvorgänge von einem hohen Grad an ›flüssiger‹ Flüchtigkeit im Sinne Baumans geprägt, sie bringen jedoch zugleich Materialisierungsmomente hervor und sind durch haptische wie auch habituelle und gedankliche Widerstände und feste Strukturelemente mitgeprägt. In dieser Gleichzeitigkeit von Ent- und Begrenzung sowie Ent- und Verräumlichung werden Grenzen – in der vorliegenden Untersuchung verstanden als Grenzverläufe oder auch Schwellen – als solche selbst passager, bilden sich situativ heraus und lösen sich wieder auf, ohne dass sie notgedrungen eindeutige, lokalisierbare Marker hervorbringen:31 »Wir haben es mit hybriden Räumen zu tun, mit solchen, die sich immer weniger eindeutig auseinander halten lassen, weil sie zunehmend ineinander übergehen, die zwar über Grenzen verfügen, welche sich aber permanent auflösen, um an anderer Stelle neu errichtet zu werden – vagabundierende Grenzen, die nicht mehr an einem Ort unverrückbar vorzufinden sind.«32

Als Beispiel dieser vagabundierenden Grenzverläufe lässt sich das Internet als virtueller Raum anführen: Als vermeintlich ›flüssigste‹ Form eines Passagenraums33 fungiert es häufig auf den ersten Blick als Inbegriff der Entgrenzung und des Mobilen auf gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Ebene: »Doch geographische Grenzen sind nicht die einzigen, die durch den Cyberspace zunehmend irrelevant werden. Auch die Grenzen des Geschlechts, des Alters und der eigenen Identität sollen hier mühelos zu überwinden sein. Offenbar haben wir es nicht nur mit einer Enträumlichung und Entterritorialisierung, sondern auch mit einer Entgrenzung der Gesellschaft zu tun. Der Cyberspace scheint uns einer grenzenlosen Gesellschaft ein gewaltiges Stück näher zu bringen.«34

Diese Argumentation, die Schroer hier mit deutlich kritischem Unterton anführt, ist getragen von der Idee einer virtuellen Parallelwelt35 oder einer Verdopplung der 31 Vgl. zur Thematik von Grenzen und Schwellen ausführlicher Kapitel 2.2. 32 Schroer 2006, 274 [Hervorhebung im Original]. 33 Die Einordnung des virtuellen Raums als eine Form des Passagenraums geschieht unter den Vorzeichen eines erweiterten Konzepts von Bewegungsraum, der sich nicht geographisch erschließt, sondern performativ durch Handlungen und Vorstellungen erzeugt wird. 34 Schroer 2006, 252 [Hervorhebung im Original]. 35 Einen prominenten Entwurf dieser Art bietet das Computerspiel Second Life. Innerhalb dieser Parallelwelt sind virtuelle Passagen möglich, die ein selbsterstellter und -gesteuerter Avatar durchläuft. So kann man diesen ferngesteuert als virtuelles, formbares Double

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Gesellschaft zum Aufbau einer besseren Welt. Der virtuelle Raum bietet in diesem Verständnis eine Projektionsfläche für eigene Wünsche und Vorstellungen, Raum zur Überprüfung und Überformung des Selbstbildes, weist auf die allgemeine Konstruiertheit von Subjektivität hin und zeigt Grenzen innerhalb des zunächst scheinbar grenzenlosen virtuellen Raums auf; denn schwingt dort das Versprechen von Grenzenlosigkeit mit, so greifen auf Nutzungsebene innerhalb des lebensweltlichen Simulacrums doch auch alltägliche Begrenzungen und Raumstrukturen. Wie »in der realen Stadt finden wir auch in der digitalen glitzernde Paläste neben schäbigen Häusern, Prachtboulevards neben verwahrlosten Gassen, Rotlichtviertel neben Spielplätzen.«36 Scheint das Internet auch jenseits virtueller Parallelwelten oftmals zunächst raumungebunden zu fungieren und ein Inbegriff der Verflüssigung zu sein, spiegelt sich in der Beschreibungssprache und den verwendeten Metaphern eine starke gedankliche Einbettung in tradierte Raummuster, da diese häufig aus dem Wortfeld des (Stadt-)Raums geschöpft sind, beziehungsweise konkrete räumliche Bezüge herstellen. So spricht man von virtuellen Räumen, dem Cyberspace 37, digitalen Städten, global villages, Chatrooms, dem Desktop, Windows und dem Netz. Auch die Komponente der Bewegung ist einigen Begriffen eingeschrieben, wie sich an den Bezeichnungen des Internetauftritts38, der Datenautobahn, des Datenflusses, oder auch der ›Fortbewegungsmethode‹ des Surfens, als »beinahe mühe- und schwerelose Art der Fortbewegung im Datenmeer«39 zeigen lässt. Schroer, der unterschiedliche Begriffe auf ihr Assoziationsspektrum hin untersucht, sieht in derlei Wortwahlen kulturwissenschaftliche Aussagekraft: »Metaphern sind niemals zufällig gewählt, und ihre Verwendung hat wirklichkeitskonstituierenden Charakter.«40 Was sich verändert, sind somit vor allem die Orientierungslinien und Bezüge, nicht jedoch das Vorhandensein von Grenzen an sich:41 für sich agieren und passieren lassen. Einer städtischen Struktur folgend wird eine Welt etabliert, die ihrerseits von Regeln der Inklusion und Exklusion gekennzeichnet ist (vgl. Peters 2014). 36 Schroer 2006, 256f. 37 Vgl. hierzu das Kapitel »Cyberspace« in Buschauer 2010, 193-255 sowie Schroer 2006, 252ff. 38 Als Referenz dient hierbei die Publikation Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien (vgl. Otto 2013). 39 Schroer 2006, 258. 40 Schroer 2006, 254. Vgl. Zur Auseinandersetzung mit den genannten Metaphern Schroer 206, 254ff und Buschauer 2010, 10ff. 41 Vgl. Bachmann-Medick 2006, 288. Schroer schreibt zu den Wechselwirkungen virtueller und städtischer Räume: »Was sich allerdings ändert, ist die Art und Weise der Wahrnehmung von Räumen, die vor der leiblichen Erkundung bereits virtuell besucht werden konn-

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»Der virtuelle Raum ist ebenso wenig ein einheitlicher Raum wie der reale. In ihm kreuzen sich verschiedene Grenzen, überlagern sich Räume wie im realen Raum auch. Nicht nur verschiebt sich die Grenze zwischen virtuell und real immer wieder, sie wandert vielmehr in das Virtuelle selbst ein.«42

Mit Blick auf die Kategorie der Bewegung besteht eine weitere Besonderheit an dieser Form des Passagenraums darin, dass weder ein Nachvollziehen des zurückgelegten Weges noch letztlich eine Orientierung möglich ist. Dabei gilt es zu differenzieren zwischen der Intransparenz der Zusammenhänge aus Sicht des Einzelnen, der sich auf der Benutzeroberfläche bewegt, und dem komplexen Gefüge aus dokumentierten Spuren, die im Netz hinterlassen werden. Dadurch entsteht ein Widerstreit zwischen der Entwicklung hin zu einer ›gläsernen‹ Identität einerseits und einem Moment der Undurchdringbarkeit andererseits. Der mobilisierte Passagenraum, virtuelle Räume eingeschlossen, ist somit als ein multipler, heterogener (Bewegungs-) Raum zu beschreiben, der jedoch in einem steten, teils ausschließlich unterschwelligen, Aushandlungsprozess mit gesellschaftlichen Rahmen steht. Zudem – und dies ist entscheidend im Zusammenhang mit der Frage nach Verdichtungsmomenten der Mobilität und der Verortung – ist mit vielen Effekten der Mobilisierung, wie der Verbreitung des Mobiltelefons, nicht notgedrungen Mobilität verbunden, sondern vielmehr die Möglichkeit von Mobilität.43 Anders als bei einem Fortbewegungsmittel, bei dem die Beweglichkeit der Benutzung innewohnt, kann ein Mobiltelefon ebenso von einer fest an einem Ort verankerten Warte heraus genutzt werden, zum Beispiel der eigenen Wohnung, wodurch sich zeigt, dass Mobilitätsoptionen und tatsächliche Mobilität getrennt werden müssen.44 Zu beobachten ist in diesem Zusammenhang, dass sich aus der »Entfesselung von Möglichkeiten«45 Eigendynamiken und Kettenreaktionen entwickeln, die diese

ten. Die Realwelt wird stärker daraufhin befragt, ob sie in der Lage ist, die Versprechen einzulösen, die die virtuelle Welt gemacht hat.« (Schroer 2006, 271.) Diese Tendenz lässt sich am Beispiel von Google Earth verdeutlichen. 42 Schroer 2006, 272f. 43 Durch Smartphones, Tablets und die flächendeckende Verfügbarkeit von W-Lan-Spots verliert der Internetzugang des Heimcomputers an Bedeutung, durch Mobilfunkverträge, bei welchen keine einzelnen Kommunikationsvorgänge mehr abgerechnet, sondern Pauschalen erhoben werden, ist der Begriff und die Praxis des Festnetz-Telefonierens im Verschwinden begriffen. 44 Vgl. Buschauer 2010, 24. 45 Interview mit Rosa, Hartmut: »Die kommenden Tage: Risiken und Chancen in der Wissensgesellschaft« im Rahmen der HORIZONTE Expertengespräche im webTV des Stif-

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in empfundene Notwendigkeiten umwandeln. Dies zeigt sich beispielsweise im verbreiteten Anspruch ständiger Erreichbarkeit und Ubiquität, der sich aus der Option mobiler Kommunikation abgeleitet hat. Augenscheinlicher Zugewinn an Freiheit kann im Gegenzug auch zu neuen Abhängigkeitsverhältnissen führen: »Räume und Zeiten werden dann durch Mobilität allererst hergestellt wie verändert, sodass wir es mit beweglichen Topologien zu tun bekommen, deren Durchquerung einer fortwährenden Rückkopplung und Rückversicherung bedarf, die nicht anders denn durch Interaktionen erfolgen kann. Kommunikativität und Interaktivität eignet darin ein selbstreferenzieller Zug, der die postmodernen urbanen Nomaden, die wie wandernde Horden von Event zu Event ziehen, an den Gebrauch ihrer Mobiltelefone und Black-Berries ketten.«46

Dazu kommt das zunehmende Auseinanderklaffen von Fortbewegungsgeschwindigkeit und körperlicher Aktivität im Sinne einer durch körperlichen Antrieb erzeugten Fortbewegung, eine Entwicklung, die von Virilio als »rasender Stillstand«47 beschrieben wird. Der Stellenwert des Körpers verschiebt sich auch durch die Möglichkeiten, diverse Handlungen wie die Orientierung im Raum, an technische Hilfsmittel zu delegieren, wodurch sich jenseits der Fortbewegung auch die heutigen Formen des Erlebens und Erfahrens verändern. Mediale Entwicklungen bringen stets einen veränderten Körpergebrauch mit sich, wie sich beispielhaft an den neuen taktilen Praktiken zeigt, die sich mit Aufkommen von Smartphones etablierten. Der vorwiegende Kommunikationsmodus des Verbal-Auditiven wurde hier von einer Dominanz des Textuell-Visuellen abgelöst, eine Tendenz, die zugleich einen Abbau haptischen Erfahrens der unmittelbaren Umgebung und des Gegenübers befördert und diese durch ein mediales Be-Tasten ersetzt.48 Die genannten unterschiedlichen Anordnungen und Konstellationen sollen im Folgenden im Sinne verschiedener, wandelbarer Aggregatzustände des Mobilen gedacht werden, die in jeglicher Abstufung eines Kontinuums auftreten können. Aufgrund dieser ambivalenten Kräfteverhältnisse stellt sich für die Auswertung der Fallbeispiele die Aufgabe, die Praktiken des Mobilen und Immobilen im Einzelnen auszuloten und dichotomische Unterscheidungen ebenso wie eine vorschnelle Gleichsetzung von Möglichkeiten und Wirklichkeiten zu vermeiden. Im Anschluss an das im Einführungskapitel umrissene Konzept Rosas von einer lokalisierbaren Positionalität zu einer mobilen Performativität 49 soll im Folgenden weder von einer terverbandes, Juni 2011 (http://www.stifterverband.info/publikationen_und_podcasts/ webtv/rosa/, Stand: 21.7.2015). 46 Mersch 2011, 59. 47 Vgl. Virilio 2002, 1994, 1989 und 1978. 48 Vgl. Thielmann 2014, 357 und Mersch 2011, 60. 49 Interview mit Rosa 2011.

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linearen Verflüssigung oder Verflüchtigung ausgegangen, noch zurückgekehrt werden zu einer Vorstellung festgelegter Verstetigung. Ebenso wenig dienlich erscheint die Idee linearer Entwicklung zu einer ausschließlich medial gestützten Mobilisierung, die im Mobiltelefon den Inbegriff körperloser Raumüberwindung gefunden hat. Vielmehr liegt den folgenden Ausführungen eine Idee beweglicher Relationen zugrunde, die performativ hergestellt und stets reformuliert werden, um – wie Buschauer ausführt – »über ein schematisches Denken der Opposition von Raum, Mobilität und Medien hinaus heterogene und sich wandelnde räumliche Bezüge des Mobilen und der Kommunikation beschreiben zu können.«50 Um eine Mobilisierung tradierter Begrifflichkeiten zu initiieren, schlage ich eine Erweiterung der Bauman’schen Terminologie um den Begriff der Gasform vor. 51 Dieser dient meiner Ansicht nach im Sinne einer Perspektivierung der Mobilitätsentwicklungen des 21. Jahrhunderts einer differenzierteren Beschreibung jener Vorgänge, die im Kontext medialisierter und digitalisierter Lebenswelten zeitgleich an unterschiedlichen Orten ablaufen und dabei dennoch miteinander in Interaktion stehen. Das Sinnbild der Gasform kann somit auf Interdependenzen verweisen, die nicht in sichtbarer oder haptischer Form erfolgen. Neben dieser Erweiterung erscheint es vor dem Hintergrund des hohen Durchwirkungsgrades der Lebenswelt mit mobilen Handlungen, Objekten und Raumbezügen in größerem Maße sinnvoll, die Referenzrahmen zu überdenken. Ein Ansatz hierzu wäre mit Thielmann das Unbewegliche und Verortete nicht als unhinterfragte Referenzgrundlage zu sehen, von der sich das Mobile abgrenzt, sondern diese Perspektive einmal ins Gegenteil zu wenden: »Wählt man nicht das Stationäre (PC, TV, Installationen, Museen, Immobilien etc.) als Ausgangspunkt der Betrachtung, sondern das Mobile (hand-held devices, Papier, immutable mobiles etc.), eröffnet sich ein neues disziplinäres Feld (Software Studies) und formiert sich Mediengeschichte neu. Aus dieser Perspektive erscheint konsequenterweise das Mobile als etwas Vorgängiges und das Stationäre als Übergangsstadium.«52

In ähnlicher Weise verstehen Deleuze und Guattari ihren Ansatz des Rhizoms, bei der sie ebenfalls das Bewegliche und Verzweigte zum Bezugspunkt der Betrachtung machen: »Man schreibt Geschichte aber immer aus der Sicht der Seßhaften im

50 Buschauer 2010, 26. 51 Bauman führt die Kategorie der Gasform nicht gesondert ein, sondern setzt diese lediglich in einer Erwähnung mit dem Flüssigen gleich, da beide Zustände variable Gestalt aufweisen (vgl. Bauman 2003, 7). 52 Thielmann 2014, 357 [Hervorhebung im Original].

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Namen eines einheitlichen Staatsapparats, und das war selbst dann noch möglich, als von Nomaden die Rede war. RHIZOMATIK = NOMADOLOGIE.«53 Anhand der exemplarisch gewählten theatralen Entwürfe soll daran anschließend ausgelotet werden, durch welche Praktiken in Alltag und Kunst Momente temporärer Verstetigung und Verortung innerhalb eines fluiden, flüssigen, mobilen Gefüges entstehen. Die Vorstellung sich wandelnder Aggregatzustände dient dabei als gedankliche Brücke, um Materialisierung, Verstetigung und Auflösung im Sinne temporärer Prozesse zu verbildlichen. Performative Praktiken eignen sich – so meine These – in dem ihnen eigenen flexiblen Raumumgang als Verhandlungsräume für diesen Ansatz relationaler und situativer Verräumlichung. In diesem Sinne werden im Folgenden exemplarische Projekte vorgestellt, an denen sich zeigen lässt, mittels welcher Strategien sich zeitgenössisches Theater diesen Räumen der Mobilität, Flexibilität, Beschleunigung und Verortung nähert. Dabei gilt es zu eruieren, welche Auswirkungen körperliche Bewegung durch den Raum auf das Theatererlebnis hat, welche somatischen und wahrnehmungsbezogenen Effekte theatrale Formen der Mobilisierung hervorbringen, welche Strategien gefunden werden, um Bewegungsgrenzen und -normen spielerisch in Frage zu stellen und inwiefern performative Ansätze der Verstetigung und Kontrastierung greifen. Bewirkt die zunehmende Mobilisierung eine Multiplikation oder eine Auflösung von Relationen? Wie stehen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit zueinander im Verhältnis und inwieweit erzeugt technisierte Mobilisierung zugleich eine Stillstellung des menschlichen Körpers? Mit welchen Strategien und zu welchem Zweck werden Momente der Verortung angestrebt oder aufgelöst? Hinzu kommen Fragen nach der Verortung des Theaters selbst, das aufgrund mobilisierter Alltagswelten ebenfalls vor der Aufgabe steht, seinen Raum innerhalb fluider Zusammenhänge neu zu definieren. Ohne bisherige Strukturen als gänzlich überwunden abzustufen, kann dies als Chance verstanden werden, etablierte Verortungen wie das innenstädtische Stadt- und Staatstheater auf den Prüfstand zu stellen und zugleich zu erproben, in welchem Maße eine Verlagerung auf Räume ›beiläufiger‹ Rezeption wünschenswert ist beziehungsweise inwieweit gerade passagere Räumlichkeiten Chancen bieten, ein Gegengewicht zu gesellschaftlichen Flüchtigkeiten zu bieten.

53 Deleuze/Guattari 1977, 37 [Hervorhebung im Original].

4 Somatisches ErFahren und rhythmisches Erproben – Schwarztaxi von Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar

Drei Theaterteilnehmer steigen am späten Abend in ein schwarzes Auto, das vor dem Centraltheater Leipzig hält. Aus dem Autoradio erklingt eine Mischung aus Taxifunk, kurzen Monologpassagen und Musik. Nach einiger Zeit nähert sich ein dunkel gekleideter Mann dem Auto, nimmt auf dem Fahrersitz Platz und fährt los – ohne Notiz von den Passagieren auf der Rückbank zu nehmen. Gegen die Vorgaben der Straßenverkehrsordnung lenkt der Fahrer den Wagen in einer steten Suchbewegung mit überhöhtem Tempo durch die umliegenden Wohngebiete und die Außenbezirke der Stadt. Nach einiger Zeit hält das Auto, die Tür öffnet sich und eine Frau nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Von der Rückbank aus können die Zuschauerpassagiere Erzählfragmenten lauschen, die weniger einem geschlossenen Narrativ folgen, als vielmehr einen Episodenteppich aus Gesprächen bilden, deren Themen sprunghaft wechseln und sich mit Einspielungen aus dem Radio überlagern. Inhaltlich kreisen diese um die beendete Liebesgeschichte zwischen Fahrer und Beifahrerin, verschränkt mit thematischen Referenzen auf den antiken Orpheus-Mythos. Aus diesen Narrativbruchstücken, die neben ihrem fragmentarischen Inhalt zudem häufig beiläufig und leise – vermeintlich ohne Sendebewusstsein gegenüber den Mithörern auf der Rückbank – ausgetauscht werden, wird sich bis zum Ende der Fahrt kein kohärenter Erzählstrang bilden, sondern vielmehr eine komplex rhythmisierte Theaterreise durch die Nacht. Die Einzelsituationen sind, wie bei Schnitten im Film, kontrastreich gegeneinandergesetzt, sodass beispielsweise in einem dunklen Wald das Außenlicht des Autos aus und die Innenbeleuchtung angeschaltet werden, wodurch ausschließlich das Geschehen innerhalb des Autos zu sehen ist. Als kurz darauf die Scheinwerfer wieder angeschaltet werden, steht wie aus dem Nichts eine Frau mit einem Wolfshund vor dem Wagen, die nur wenige Zeit zuvor in dem einige Kilometer entfernten, nahe des Flughafen gelegenen Ortes Kursdorf zum ersten Mal den Weg des Taxis gekreuzt hatte. Verstärkt werden die

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dadurch erzeugten dramaturgischen und visuellen Kontraste durch die SoundUntermalung, die seitens des Fahrers mithilfe eines Knopfes am Lenkrad minutiös auf das Geschehen abgestimmt werden kann. Diese collagenhaften Tonspuren mischen sich mit städtischen Klängen und den Gesprächen zwischen den Akteuren zu einem spannungsreichen Soundgefüge, das komplementär zu den wechselnden Fahrtgeschwindigkeiten des Taxis – variierend von Schritttempo bis hin zu 200 km/h auf der Autobahn – entsteht. Bei der Beschreibung handelt es sich um Momentaufnahmen aus der Produktion Schwarztaxi1, die im Jahr 2011 von Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar für das Centraltheater Leipzig inszeniert wurde. Ist Theater in Passagenräumen prinzipiell durch Bewegung und Mobilität gekennzeichnet, findet hier eine Zuspitzung auf diesen Aspekt statt, geht das Passieren der Leipziger Passagenräume doch in einem mobilen Passagenraum, dem Taxi, vor sich und werden zudem, wie die folgenden Analysen zeigen sollen, Bewegung, Raum, Körper und Wahrnehmung in performativer Weise in neue Relationen zueinander gesetzt. Mobile Passagenräume Martin Bieri bezeichnet Verkehrsmittel als »bewegte Materialisationen von Übergangszuständen, [welchen] in gewisser Weise selbst liminaler Charakter zukommt.«2 Unter dem Blickwinkel der Mobilität lässt sich eine Unterscheidung vornehmen zwischen jenen Verkehrsmitteln, die zentral gesteuert werden, und jenen des sogenannten Individualverkehrs. So gibt es bei U-Bahnen – wie auch bei anderen öffentlichen Verkehrsmitteln wie Zügen3, Straßenbahnen oder Bussen – ein festgelegtes Mobilitätsnetz, man kann einsteigen, aussteigen und die eigene Route planen. Diese muss sich jedoch an den infrastrukturellen Vorgaben ausrichten, da die Bewegungslenkung in vorgegebenen Bahnen und Taktungen erfolgt. Die UBahn kann innerhalb dieser Verkehrsmittel als Inbegriff widerstandsloser Mobilität 1

Schwarztaxi (Centraltheater Leipzig 2011), Regie und Ausstattung: Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar, Text: Pernille Skaansar und Anja Nioduschewski, Sound/Video: Alexander Nemitz, Dramaturgie: Anja Nioduschewski, Akteure: Sebastian Grünewald, Birgit Unterweger, Monique Ulrich und Uwe Altmann. Weitere Informationen zur Produktion Schwarztaxi finden sich unter Nioduschewski, Anja: »Schwarztaxi/Schauspiel Leipzig«, http://www.urbanite.net/de/leipzig/events/schwarztaxi-5, Stand: 21.7.2015. Nach dem Leipziger Vorbild war im Dezember 2013 in Stuttgart die Produktion Autostück. Belgrader Hund von Stefan Pucher und Tom Stromberg zu erleben. Ebenfalls in einem Taxi fand 2013 die Aufführung des Jungen Theaters Göttingen unter dem Titel Frauennachttaxi statt.

2

Bieri 2012, 352.

3

Zur Geschichte der Eisenbahn vgl. Buschauer 2010, 27-74 sowie Schivelbusch 1977.

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bezeichnet werden, da sie sich durch ein Netz unterirdischer Passagen bewegt und ihre Verlagerung unter die Stadt mögliche Störfaktoren oder ungeplante Einflussnahmen minimieren soll. Gegenüber Zügen oder U-Bahnen ist das Automobil – wie es schon die Semantik verdeutlicht – selbstbewegend. Bei dieser Passagenform kann der Fahrende selbst bestimmen, wann die Bewegung retardiert oder beschleunigt wird. »Die Vorstellung vom Raum als einer Funktion der Bewegung entspricht genau der Beziehung zwischen Raum und Bewegung, die das Auto ausdrückt. Man gebraucht den Wagen nicht, um die Stadt kennenzulernen […]. Stattdessen schafft das Auto Bewegungsfreiheit; man kann ohne Rücksicht auf feste Haltepunkte, wie es sie bei der U-Bahn gibt, und ohne die Fortbewegungsart zu ändern, also ohne vom Bus in die U-Bahn umzusteigen und dann zu Fuß weiterzugehen, eine Reise von A nach B machen.«4

Somit wird das Auto vielfach als »mobile Baukunst«5, »magisches Objekt«6, oder auch Symbol für Macht und Freiheit gegenüber den Kräften der Natur und der Gesellschaft7 bezeichnet, da es Auto-Mobilität und damit Unabhängigkeit von Fahrplänen und anderen Reglements verspricht. Über die pragmatische Ebene hinaus kann diese Form der Passage einen Identifikationsraum bereitstellen: »In diesem abgeschlossenen Innenraum, an dem die Welt in rasch wechselnden Bildern vorbeizieht, verfließen die Konturen von Fahrer und Gefährt, das Auto wird zum Identifikationsraum, wird zum ›Selbst‹ – wie es die griechische Herkunft des Wortes will; tò autò bedeutet aber auch ›Dasselbe‹ oder das ›Identische‹ – man ist automobil, selbstbestimmt, selbstbewegt, selbstvergessen.«8

Bei genauerem Hinsehen hingegen stellt sich diese Passagenform ambivalenter dar und es zeigt sich, dass auch die scheinbar unbegrenzte Bewegungsfreiheit des Autos durch städtische Bewegungsleitung reglementiert und gesteuert wird. Je nach Verkehrslage und Situation, kann sich somit das ›Freiheitssymbol‹ durch technisches Versagen oder – gerade im städtischen Kontext – Stau ebenso ins Gegenteil verkehren:

4

Sennett 2008 [1977], 41.

5

Le Corbusier 1963. Diese wie auch die folgende Metapher für das Automobil sind den

6

Barthes 1964 [1957], 76.

7

Bierbaum 1906, 319.

8

Steffen 1990, 15. Vgl. hierzu auch Krämer-Badoni/Grymer/Rodenstein 1971.

Ausführungen bei Steffen 1990, 11 entlehnt.

100 | P ASSAGEN ZWISCHEN M OBILITÄT & V ERORTUNG »Mobilität verwandelt sich in totale Immobilität, das ›fahrbare Haus‹ wird zur Falle, die Erholung gerät zur psychischen Zerreißprobe, der stolze Besitz wird zu einem Haufen zusammengepreßten Blechs, der auto-mobile Konkurrenzkampf ist ebenso lebensgefährlich wie der nachgeholte Trancezustand, jeder behindert den anderen, Autonomie wird zur Abhängigkeit und das Auto zum Tyrann.«9

Abseits der Mobilitätsambivalenz weist das Automobil weitere Spannungsfelder auf, wie die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz zu anderen Verkehrsteilnehmern: »An keinem Ort sind Nähe und Anonymität so miteinander verbunden wie im Auto […], aus dem die Öffentlichkeit (die ›anderen‹) per definitionem ausgeschlossen und doch greifbar nahe ist.«10 Dadurch entsteht eine besondere Situation von Innen und Außen sowie von Involviertheit in das städtische Geschehen und gleichzeitiger Entrückung durch Abkapselung. Besonders hebt auch Katherina Steffen den sich damit einstellenden Zustand des ›Zwischen‹ hervor: »Das Automobil ist, sobald es fährt, ein Mittler und Vermittler zwischen verschiedenen Sphären, verschiedenen Tätigkeiten, Rollen und Zeiten, ein Ding der Zwischenzeiten und Zwischenräume, die Umkleidekabine unserer Seelen und Persönlichkeiten. Selbst bei Berufsfahrern behält der Zustand des Fahrens noch diesen Charakter des Transitorischen […]. Die Situation im Auto ist eine Übergangssituation.«11

Dieser Übergang selbst, und damit der Moment der Passage, rückt jedoch nach Auffassung Virilios gerade bei einer Autofahrt meist in den Hintergrund, da »das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleunigung«12 durch eine Zielfokussierung sowie hohe Geschwindigkeiten überlagert wird. Somit beschreibt er einen unmerklichen Wechsel von einem Zustand zum nächsten, ohne verbleibenden »Platz für das ›Trajektive‹, nämlich dafür, dass eine Bewegung von hier nach dort stattfindet, eine Bewegung vom einen zum anderen, ohne die wir die verschiedenen Ordnungen der Wahrnehmung der Welt niemals wirklich verstehen werden.«13 Wie er aber betont und wie auch das Beispiel Schwarztaxi zeigt – bei welchem explizit das Augenmerk auf den Bewegungsvorgang als solchen gelenkt wird –, hat die Art und Weise der Fortbewegung sowie die Geschwindigkeit »schwersten Einfluß auf das Bild der durchquerten Landschaft […], denn zwischen zwanzig und zweihundert

9

Steffen 1990, 17.

10 Steffen 1990, 201. 11 Steffen 1990, 15. 12 Virilio 1978, 19. 13 Virilio 1993, 62.

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Stundenkilometern ist die Deutlichkeit des vorbeihuschenden Bildes radikal verschieden.«14 Auch Frers betont im Kontext mobiler Gefüge den entscheidenden Stellenwert von Übergängen, wobei er nicht nur jene während einer Bewegung, sondern beispielsweise auch die von Stadtraum zu Verkehrsmittel einschließt, bei welchen es einer temporären, momentbasierten Verortung bedarf: »Ähnlich dem Wechsel vom schlafenden zum wachen Sein gibt es auch im sonstigen Alltag einen ständigen Wechsel des Wahrnehmens und damit des sich in der Welt Verortens. Im Übergang von einem Ort zum anderen, im Übergang vom Zug in die Gleishalle, vom Aufzug in den Terminal, findet ein solcher Wechsel statt. Eine andere Welt tut sich vor mir auf, eine Welt, in die ich hineintrete und in der ich wahrnehmend verschiedenes voneinander differenziere.«15

Unabhängig davon, welche dieser gegensätzlichen Zuschreibungen angewendet werden, kann das Auto als mögliche Reflexionsfläche der Gesellschaft fungieren, da sich in ihm, beziehungsweise seiner Nutzung, die Passagenlogiken moderner Gesellschaft, wie Steigerung, Beschleunigung und Widerstandminimierung, spiegeln: »Sicher lassen sich in allen Kulturproduktionen die Wesenszüge ihrer Produzenten ablesen, aber unser Automobil, auf italienisch ›la macchina‹ schlechthin, ist dafür ganz besonders geeignet; auf seiner polierten Oberfläche erscheinen die vielfältigen Spiegelungen unserer Umrisse in speziell scharfen Konturen und in ihrer ganzen Ambivalenz.«16

Das Taxi unterscheidet sich rein äußerlich betrachtet nur durch seine Kennzeichnung und Farbe von anderen Autos im Straßenverkehr. Wie diese bewegt sich das Taxi als nach außen hin deutlich abgegrenzter Raum durch die Stadt. In seiner Funktionsweise bildet es jedoch eine Sonderform, da es sich weder als gänzlich öffentlich zugängliches, noch als ein wirklich privat abgeschirmtes Verkehrsmittel bezeichnen lässt. Vielmehr bietet es verzeitlichte Formen räumlicher Exklusivität. Der Taxipassagier bestimmt Start- und Ziel(zeit)punkt der Fahrt, erkauft sich in der Zwischenzeit eine Abgrenzung nach außen und ist zudem entbunden von der Steuerung des Fahrzeuges durch den Straßenverkehr. Dabei greifen Anonymität und räumliche Intimität ineinander, der Fahrgast überschreitet

14 Virilio 1978, 19. 15 Frers 2007, 42f. 16 Steffen 1990, 9.

102 | P ASSAGEN ZWISCHEN M OBILITÄT & V ERORTUNG »beim Einsteigen ins Taxi eine Schwelle, sowohl materiell wie auch symbolisch; er verläßt den öffentlich zugänglichen Raum der Straße und betritt einen Bereich, der mit eben diesem Akt privatisiert, vom Einsteigenden ›besetzt‹ wird, so wie er ihn am Ende wieder ›frei‹ macht, verläßt, verlassen muß.«17

Diese Situation ließe sich als mobiles, transitorisches Kurzzeit-Zuhause18 umschreiben: »Der Fahrgast […] verhält sich, als sitze er zu Hause auf dem Sofa, liest die Zeitung, kämmt sich das Haar, zündet sich eine Zigarette an, bringt die Kleidung in Ordnung, schaut abwesenden Blickes in die Ferne, denkt an Vergangenes etc.«19 Teilt man das Taxi hingegen mit anderen, so verdichtet sich dort – wie Steffen es beschreibt – die Grundbedingung des Städtischen in Form flüchtigen Kontakts: »Die kurzfristige zwischenmenschliche Nähe im Taxi, die mit unbekannten Fremden geteilte Zeit, trägt unverkennbar die Züge modernen großstädtischen Lebens. Möglichkeiten sozialer Kontrolle, längerfristiger Sanktionen, wie sie auf dem Dorf oder zwischen Freunden oder Familienangehörigen gegeben sind, entfallen; man sieht sich, davon kann man ausgehen, nie wieder. Das Ende der Fahrt ist das Ende der Beziehung, mit dem Klacken des Taxameters am Ziel erhält die Interaktion im Handumdrehen wiederum den nüchternen, neutralisierten Charakter einer ganz ›normale‹ öffentlich-rechtlichen Transaktion.«20

Eine Sonderform stellt das Schwarztaxi dar, auf welches der Titel der Theaterproduktion Bezug nimmt. Dabei handelt es sich um eine Form des illegalen, privaten Taxibetriebs, der sich in der DDR und besonders in Ostberlin aufgrund der stark limitierten Anzahl an Taxen etablierte. Um unentdeckt zu bleiben, war bei dieser Form der Fortbewegung entscheidend, dass ›Uneingeweihte‹ von außen nicht ausmachen konnten, dass es sich um eine Schwarz-Fahrt handelte.21 Diese historischen Anleihen schlagen sich bei der Theaterproduktion darin nieder, dass von außen nur sehr wenig von den getroffenen Vereinbarungen innerhalb des Autos – beispielsweise, dass dort gerade ein Theaterprojekt vonstattengeht, dass die Insassen des Autos sich in Akteure und Theaterteilnehmer teilen, dass die Passagiere für die Theaterfahrt bezahlen – sichtbar ist. Auch wenn sich das schwarze Auto in vielen Situationen auffällig und nicht den Konventionen und Regeln des Straßenverkehrs entsprechend durch die Stadt bewegt, lässt nahezu nichts darauf 17 Steffen 1990, 232. 18 Vgl. zur Idee des passageren, temporären Zuhauses Kapitel 13. 19 Steffen 1990, 202. 20 Steffen 1990, 201f. Vgl. zur Thematik flüchtigen Kontakts in städtischen Kontexten Kapitel 12. 21 Vgl. Gosse 1989, 150f sowie »Schwarztaxi« In: 40-Jahre-DDR.de; 8. September 2007: http://www.40-jahre-ddr.de/58/schwarztaxi/ (Stand: 21.7.2015).

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schließen, dass es sich dabei um eine Taxifahrt, geschweige denn um eine Theateraufführung handelt. In manchen Situationen wird der Wissensunterschied zwischen den Beteiligten und den außenstehenden städtischen Passanten allerdings doch bemerkbar, da diese mit kurzen, fragmentarischen Eindrücken zurückbleiben, die schwer kontextualisierbar sind: eine tanzende Frau auf einer nächtlichen Brücke, ein vorbeirasendes Auto, aus dem ungewohnte Geräusche dringen, eine Frau mit Wolfshund im Scheinwerferlicht. Dies lässt sich als ein Effekt der Mobilisierung benennen, da die mit ihr zustande kommende Flüchtigkeit den Austausch über eine Situation oder eine kopräsente Kommunikationssituation verhindert. Die Theaterteilnehmer wiederum wissen zwar um den Rahmen der Anordnung, können aber ebenfalls nicht als gänzlich Eingeweihte bezeichnet werden. Denn anstatt dass sie, wie bei einer alltäglichen Taxifahrt, das Fahrtziel bestimmen, finden sie sich ab dem Moment, in dem sie sich auf der Rückbank niederlassen, in einem mobilen Passagenraum wieder und erfahren dessen Möglichkeiten und Grenzen, ohne selbst lenkend eingreifen zu können. In einem Vorgang komplexer Rhythmisierung mittels Bewegung, Sprache und Musik wird so die Bandbreite möglicher Spielarten körperlich erlebter Mobilität, Geschwindigkeit und Beschleunigung ausgereizt. Im Folgenden soll dies näher in den Blick genommen werden. Auf der Suche nach einem performativen Rhythmusbegriff »Man stelle sich vor, jemand würde beschließen, eine Woche lang ohne jeden Rhythmus zu leben. Er hätte kein Glück. Selbst wenn er sich jeder Musik, jeder Bewegung, jedem Lichtstrahl entziehend, ohne Frühstück und Tagesschau zum stocksteifen Liegen ins Bett flüchtete, er entginge diesem nicht, ohne sich selbst das Atmen und seinem Herz das Schlagen zu verbieten. Schon vor jeder Bewegung, die wir rhythmisch vollziehen, vor jeder ästhetischen Form, die wir im Rhythmus erkennen, ist der Rhythmus ein Grundprinzip des Lebens.«22

Christa Brüstle beschreibt Rhythmus hier als ein allgegenwärtiges, unumgängliches Phänomen des Lebens und der Alltagswirklichkeit, der sich aber gerade deshalb häufig der bewussten Reflexion entzieht. Mit den folgenden Ausführungen soll daher der Rhythmus aus seiner Unhinterfragtheit herausgelöst und am Beispiel von Schwarztaxi im Wechselspiel theatraler und städtischer Rhythmen in seiner Varianz analysiert werden. Dieser Zugriff erweist sich besonders im Kontext heutiger, mobiler Lebenswelten als hilfreicher Schlüssel, da durch die Heterogenisierung der Bezüge, die Vervielfältigung von Lebensstrukturen und Abläufen sowie die Ablösung fester Verortung durch die Mobilisierung alltäglicher (Lebens-)Wege, die Rhythmisierung mehr denn je zu einer zentralen Größe avanciert.

22 Brüstle u.a. 2005, 11.

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Bevor konkret auf die rhythmischen Spielarten innerhalb der Theateraufführung eingegangen wird, soll vor diesem Hintergrund vorausgeschickt werden, dass über Rhythmus, trotz zeitungebundener Ebenen wie sie Brüstle beschreibt, nicht ohne eine kulturhistorische Einordnung gesprochen werden kann. So unterscheiden sich seine Funktion und sein Stellenwert in der Gesellschaft heute maßgeblich von jenen der Moderne: Diese war von Leitbildern geprägt, die durch Entwicklungen wie die Industrialisierung nach städtischen (Bewegungs-)Rhythmen und Zeitstrukturen strebten, welche »hierarchisch und zentralistisch geordnet, in Arbeit, Wohnen, Freizeit und Konsum räumlich untergliedert […]«23 waren. Durch diese gezielte rhythmische Vereinheitlichung, die sich auch in dem Anbringen erster öffentlicher Uhren im Stadtraum ausdrückte, ging eine Verschiebung des Bewegungs-ZeitVerhältnisses einher, da die Moderne den »Begriff der Bewegung selbst verzeitlicht[e], indem sie ihn von einer zyklischen und rhythmischen Vorstellung gelöst und an eine lineare Zeitordnung angepasst hat.«24 Bedingt durch diverse Einflüsse, wie die Abkehr von einer vereinheitlichenden Rhythmisierung unter den Eindrücken der Uniformierung von Gruppenbewegungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs, aber auch »durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien und die Globalisierung der Kapitalströme«25, weist sich die postfordistische Stadt durch dezentrale, unregelmäßige Rhythmen aus. So lässt sich die Postmoderne durch einen Aufbruch bestehender Muster und die Flexibilisierung von Strukturen beschreiben. Die dadurch entstehende rhythmische Verflechtungsdichte potenziert sich durch die technischen Möglichkeiten der Virtualisierung und Raumüberwindung mittels telekommunikativer Technologien, im Zuge derer Brüche und Kontraste zu vorherrschenden Prinzipien werden. »Blinkende Lichter, Bahnverbindungen auf animierten Anzeigetafeln, Menschen und Maschinen, die sich koordiniert oder unkoordiniert, in dieselbe oder in unterschiedliche Richtungen bewegen, machen das visuelle Wahrnehmen zu einem Erleben schnell wechselnder Qualitäten. Unerwartete, schnelle oder abrupte Bewegungen heischen nach Aufmerksamkeit – ein gleichmäßiger Fluss hingegen kann für die Wahrnehmung leichter in den Hintergrund treten. Beim Ton ist die Dauer und der Verlauf eines Geräusches das Äquivalent zur Bewegung: plötzliches Anschwellen oder das schlagartige Abbrechen eines Geräusches rufen eher ein Echo bei den Wahrnehmenden hervor als ein gleichmäßiges Geräusch, das in einem Rauschen aufgeht oder eine bestimmte Tonlage und Lautstärke beibehält.«26

23 Klein 2005c, 76. 24 Klein 2004a, 7. Zur Entwicklung der Geschichte der Uhr vgl. auch Sennett 1998, 45. 25 Klein 2005c, 76. 26 Frers 2007, 44f.

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Auf medialer Ebene zeigt sich dies im schnellen Wechsel von Bildern durch Schnitttechniken, Zapping oder auch die Vielschichtigkeit und Gleichzeitigkeit des Internets:27 »Die aktuelle Relevanz der Auseinandersetzung mit rhythmischen Qualitäten und Strukturen hängt zweifellos zusammen mit der technischen Manipulierbarkeit der Sinneswahrnehmung im Zeitalter der Medien und virtuellen Realitäten. Wenn im Zeitalter totaler und ›unmittelbarer‹ Information das Medium zur eigentlichen Botschaft geworden ist, erweist sich die räumliche und zeitliche Organisation der Wahrnehmung als entscheidender Faktor: Der Rhythmus eines Mediums macht seine Wirksamkeit aus, häufig gerade in dem Maße, wie er sich der Apperzeption entzieht.«28

Zudem werden mit Beginn der Postmoderne die großen Leitbilder der Moderne wie Fortschritt und Entwicklung grundlegend in Frage gestellt und die uneingeschränkte Steigerbarkeit von Bewegung und Geschwindigkeit angezweifelt.29 Stattdessen wird der Fokus vermehrt auf den Prozess der Hervorbringung von Bewegung und Rhythmus gelenkt, die somit als situative Gefüge, nicht als lineare Strukturen entworfen werden: »Rhythmische Einzelbewegungen bestimmen sich […] nicht funktional vom Erreichen eines Ziels her […], sondern sie erhalten ihre Bestimmtheit aus der Art und Weise des Bewegungsablaufs. Was zählt, ist nicht das Woraufhin des Ziels und das Was des Ergebnisses, sondern das Wie der Bewegtheit.«30 Im Zuge dadurch initiierter Dehierarchisierungsprozesse, die die Rhythmik in Alltag und Kunst markieren, wird die »Wahrnehmung stärker auf die Materialität des Wahrgenommenen als auf seine Zeichenhaftigkeit fokussiert. […] Es ist der Rhythmus, der es in seiner Selbstreferentialität geradezu emphatisch hervortreten lässt.«31 Bezogen auf das Theater – worauf gleich im Einzelnen zurückgekommen wird – hat der Einsatz von »Rhythmus als Organisationsprinzip« laut Fischer-Lichte den Effekt, dass »dem Zuschauer die eigene Wahrnehmung zum Ereignis«32 wird. Mit Anbruch der Postmoderne differenziert sich folglich die Rhythmik in Alltag und Kunst aus und gewinnt an Komplexität, da beispielsweise stringente Taktungen aufgebrochen und Widersprüchlichkeiten gezielt erzeugt und aufrecht erhalten werden. Wichtig ist aber zu bemerken, dass dies nicht kausal mit dem Schaffen von Freiräumen, die jenseits pragmatischer Notwendigkeiten fungieren, verknüpft ist. So ist den Bestrebungen der Moderne und der Postmoderne – bei aller Abgren27 Vgl. Fischer-Lichte 1997, 205. 28 Primavesi/Mahrenholz 2005, 9. 29 Vgl. Klein 2004a, 14. 30 Waldenfels 1999, 64 [Hervorhebung im Original]. 31 Fischer-Lichte 2005, 245f. 32 Fischer-Lichte 2005, 246f.

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zung – auf technologischer Ebene eine Orientierung an dem Paradigma der Steigerung gemeinsam, die mit den Zielen der Verdichtung, Beschleunigung, Mobilisierung33 und des Fortschritts einhergeht. Gerade die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich – nach der Kulminationszeit der Industrialisierung – mit dem rauschhaften Aufkommen und Expandieren technischer und virtueller Möglichkeiten als weitere Verdichtungszeit der Beschleunigung beschreiben. »Zu den umfassenden Industrialisierungs- und Technisierungsprozessen zählen auch eine Vielzahl von technischen Errungenschaften, die eine neue Beweglichkeit in Raum und Zeit ermöglichen und die Lebensgewohnheiten massiv verändern sollten: Technische Beförderungsmedien wie Eisenbahnen, Straßenbahnen, Automobile und Flugzeuge und technische Kommunikationsmedien wie Fernschreiber, Radio, Telefon und später Fernseher und Mobiltelefone schaffen neue Raum – und Zeitverhältnisse, sie verändern Wahrnehmung und Erfahrung. Mit den neuen technologisch provozierten Raum-Zeit-Relationen vollzieht sich zwangsläufig auch eine Transformation des Bewegungskonzeptes. Bewegung wird dynamisiert und beschleunigt.«34

Die stete Weiterentwicklung menschlicher wie technologischer Möglichkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse gestaltet sich jedoch in der Postmoderne nicht mehr so linear und evolutionär wie in der Moderne, sondern diese erklärt die Bewegung im Sinne entgrenzter, heterogenisierter Mobilität selbst zum Ziel. Diese Tendenzen zu einer »Bewegung zur Bewegung, Bewegung zur Mehrbewegung, Bewegung zur gesteigerten Bewegungsfähigkeit«35, die bereits im Kontext der Ausführungen zu Baumans flüssiger Moderne zur Sprache kam, bezeichnet Peter Sloterdijk als »Heteromobilität«36, die als Folge einer »globale[n] Mobilmachung«37 zustande kommt. Die daraus entstehenden Relationen, Konstellationen und Bewegungsmuster lassen sich – so eine der zentralen Thesen der vorliegenden Studie – in kondensierter Form in Passagenräumen des Alltags als Verdichtungsräume von Mobilität und Beschleu33 Bei den Möglichkeiten und der Reichweite von Mobilität dürfen materielle Ressourcen und herrschende Machtkonstellationen nicht aus dem Blick verloren werden: »Es geht hier weniger um das Reisen selbst, als um die Möglichkeit des Reisens, darum, sich den Zugang sowohl zum Globalen als auch zum Lokalen offen zu halten und unter verschiedenen Orten wählen zu können.« (Vonderau 2003, 15.) 34 Klein 2004a, 11f. Vgl. hierzu auch Castells 1994 und Rosa 2005. 35 Sloterdijk 1989, 36. Das Grundprinzip ständig wachsender Mobilität verstanden als Mobilmachung erwächst aus einer militärisch geprägten Denkweise, wie Buschauer ausführt: Buschauer 2010, 265ff. 36 Sloterdijk 1989, 24. 37 Sloterdijk 1989, 47.

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nigung beobachten. Die postmodernen Spezifika lassen sich zusammenfassend somit im Sinne eines multiplen Rhythmusverständnisses performativer Prägung beschreiben, das einen spielerischen, diskontinuierlichen Umgang ermöglicht, jedoch dabei weiterhin überformt ist durch lineare Leitbilder wie Beschleunigung und Fortschritt. Die theatrale Rahmung, die beL Schwarztaxi vorgenommen wird, indem rhythmische Alltagsstrukturen aufgegriffen, überzeichnet und variantenreich moduliert werden, rückt den Rhythmus als solchen in den Fokus der Wahrnehmung und weist ihn zugleich als variable Größe aus. Auf der Suche nach einer tragfähigen Begriffsgrundlage für die Analyse der hier erzeugten Engführung von Stadt-, Inszenierungs-, Bewegungs- und Körperrhythmen in einem mobilen Aushandlungsprozess, eröffnet sich ein Feld äußerst disparater Definitionsansätze:38 Etymologisch lässt sich der Begriff Rhythmus auf den griechischen Wortstamm ›reĩn‹ für Fließen in regelmäßigem Duktus zurückführen, dessen übertragene Bedeutungen auf die Bewegung von Meereswellen referiert.39 Die für das Beispiel Schwarztaxi relevante Engführung von Rhythmisierung und Bewegung, die der Fokus auf Mobilität erfordert, ist somit bereits in der historischen Semantik angelegt. Die Fixierung auf Regelmäßigkeit, wie sie beispielsweise auf das gleichmäßige Rotieren eines Motors zuträfe, schränkt das Bedeutungsspektrum jedoch stark ein, wodurch zahlreiche rhythmisierte Phänomene aus dem Blick geraten. So lassen sich weder städtische noch theatrale Rhythmusgefüge mit diesem Ansatz umfassend beschreiben, da beide nicht durch regelmäßiges Fließen, sondern ein kontrastreiches Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Fließgeschwindigkeiten sowie einen kontinuierlichen Prozess situativer Hervorbringung geprägt sind. Bei Schwarztaxi, bei dem durch eine Verflechtung städtischer und theatraler Rhythmen zwei dieser komplexen Systeme zusammengeführt werden, zeigt sich der Bedarf an einer begrifflichen Ausweitung besonders deutlich. Einen Versuch, den Begriff aus seiner ontologischen Zuschreibung einer als ›natürlich‹ behaupteten Fließbewegung zu lösen, unternimmt Curt Sachs, der Rhythmus als »organized fluency«40 beschreibt. Der bei Schwarztaxi grundlegende Vorgang des Lenkens, gezielten Inszenierens und Komponierens rhythmischer 38 Einen Überblick zur (Theorie-)Geschichte des Rhythmusbegriffs bieten Primavesi/ Mahrenholz 2005, 10-16. 39 »Seit dem Althochdeutschen in verschiedenen Stufen entlehnt aus l. rhythmus, dieses aus gr. rythmós, eigentlich ›das Fließen‹, zu gr. reĩn ›fließen, strömen‹. Wohl so bezeichnet nach der Bewegung von Meereswellen.« (Kluge, Friedrich: »Rhythmus.« In: ders: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/Boston 2012 (http://www. degruyter.com/view/Kluge/kluge.9264, Stand: 20.7.2015). 40 Sachs 1953, 13. Die hier vorgenommene Erweiterung des Rhythmusbegriffs fußt auf Brüstle u.a. 2005, 9-32.

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Verdichtungsmomente, lässt sich mit diesem Ansatz zeigen. Jenseits der Feststellung, dass eine solche Lenkung stattfindet, bedarf es für die folgende Untersuchung jedoch eines weiterführenden Begriffs, der den Fokus auf die Frage lenkt, wie und mithilfe welcher Strategien der Vorgang performativer und prozessualer Hervorbringung rhythmischer Strukturen verläuft. Die Suche nach solch einem Terminus führt zur Definition Hanno Helblings, der Rhythmus als ein dynamisches Prinzip bezeichnet, das »unterwegs ist und bleibt: immer mit Herstellung und Darstellung bestimmter Verhältnisse beschäftigt und immer in der Lage, diese Verhältnisse neu zu entwerfen«41. Bietet Helblings Entwurf somit eine begriffliche Grundlage, bei der die Aspekte der Bewegung und der Prozessualität Berücksichtigung finden, und die sich somit für die Verknüpfung mit Mobilität und Flexibilität anbieten, so lässt sich diese mit Klein erneut um eine für Schwarztaxi entscheidende Komponente erweitern – den Zusammenhang von (Stadt-)Rhythmus, Körper und Wahrnehmung: »Die Wahrnehmung von Stadt ist […] immer auch das Ergebnis eines körperlichen Vorgangs, eines Bewegungsvollzugs. [...] Demnach entsteht der Rhythmus des Städtischen über das Ineinanderwirken der Rhythmen von Körper und Raum. Körperbewegung auf der einen Seite und die Dynamik des Raumes auf der anderen Seite beruhen wiederum auf historischen Zeitordnungen und Zeitkonzepten, Bewegungsordnungen und Bewegungskonzepten, die erst in der Bewegungspraxis erfahrbar, das heißt performativ wirksam werden.«42

Diese verschiedenen Versuche, Rhythmus in zeitgemäßer Form begrifflich zu fassen, stehen implizit oder explizit in enger Verbindung mit theaterwissenschaftlichen Termini wie Hervorbringung, Prozessualität, Transitorik, Selbstreferentialität, Körperlichkeit, Wahrnehmung und Materialität. Für die Analyse des Rhythmusgefüges theatraler Vorgänge und besonders jener Projekte, die wie Schwarztaxi unmittelbar mit städtischen Rhythmen in ein Wechselspiel eintreten, soll Rhythmus daran anschließend und vor dem Hintergrund des skizzierten Definitionspanoramas hier als performative Kategorie43 entworfen werden, bei welcher die für die Thematik der Mobilität relevanten, gerade genannten theaterwissenschaftlichen Begriffe, eingedacht sind. Die damit vorgenommene terminologische Ausweitung, die einer steten Kontextualisierung und Historisierung bedarf, ermöglicht die für die Analyse des Fallbeispiels zentrale Verschränkung städtischer und inszenatorisch hervorgebrachter Rhythmen. Zudem rückt damit die Rhythmisierung durch den Einzelnen in den Fokus: Dieser sieht als sich in Bewegung befindliches Subjekt, das seinen eigenen Rhythmus hat und mitbringt, durch das Autofenster einen vorbeiziehenden Stadtraum, der seinerseits 41 Helbling 1999, 18. 42 Klein 2005c, 68. 43 Vgl. Brüstle u.a. 2005, 16.

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ebenfalls in seiner Überlagerung aus Bewegungen und Handlungen eine hohe rhythmische Dichte und Heterogenität aufweist. Mit der steigenden Relevanz des Rhythmischen innerhalb städtischer Lebenswelten und der Komplexitätssteigerung, die durch die fortschreitende Virtualisierung sowie die Allgegenwart telekommunikativer Techniken und Praktiken erzeugt wird, gewinnt die rhythmische Perspektive auch für das Theater zunehmend an Bedeutung. Folgt man der Einschätzung durch Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz, so weist die ästhetische Praxis zwei Strategien auf, um auf die gesteigerte Rhythmisierung des Alltags zu reagieren: »Die von den technischen Medien ermöglichte Allgegenwart akustischer und visueller Rhythmisierung hat [...] zu neuen künstlerischen Strategien geführt, zum Verzicht auf eine wahrnehmbare Rhythmik oder auch zu deren bewusster, mitunter ironischer Affirmation.«44 Mit dem Beispiel Schwarztaxi ist ein performativer Entwurf gewählt, der sich eindeutig der zweiten Strategie zuordnen lässt und eine Kennzeichnung und Hervorhebung rhythmischer Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen unternimmt. Diese sollen im Folgenden auf der Basis des oben eingegrenzten performativen, prozessualen Rhythmusverständnisses aufgezeigt werden. Rhythmische Suchbewegungen Bei der Produktion Schwarztaxi lässt sich zunächst von einer theatralen Rahmung städtischer Rhythmusstrukturen sprechen. Im Alltag sind Vorgänge der Bewegungslenkung und Verkehrsführung – beispielsweise durch Einbahnstraßen, Kreisverkehre oder Umgehungsstraßen – ebenso habitualisiert und in Routinen überführt wie die gezielte Steuerung der Geschwindigkeit mittels Ampelschaltungen, Straßenverengungen oder Tempolimits. Durch die theatrale Rahmung werden diese häufig unhinterfragten Abläufe und Normierungen ausgestellt und den Theaterpassagieren gewissermaßen verfremdend zur Anschauung und ins Bewusstsein gebracht. Jenseits dieser bloßen Rahmung und Ausstellung alltäglicher rhythmischer Prinzipien wird während der nächtlichen Taxifahrt Rhythmus zum eigenständigen, spielerischen, performativen Element: Dies zeigt sich beispielhaft in dem Wechselspiel aus Bewegungs- und musikalisch-sprachlicher Rhythmik sowie deren teils affirmativer, teils kontrastierender Verschränkung. So werden auf einigen Wegstrecken schnelle Bewegungen durch rasende musikalische Tempi affirmiert und verstärkt sowie langsame Bewegungen mit getragenen musikalischen Einspielungen untermalt. In anderen Sequenzen wiederum spielt die Inszenierung mit der Spannung zwischen schneller Bewegung und langsamer Musik und umgekehrt. Auf diese Weise wird bei Schwarztaxi mit theatralen Mitteln darauf verwiesen, dass die im 44 Primavesi/Mahrenholz 2005, 10.

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Alltag eingeübten Abläufe und Rhythmisierungsstrukturen Ergebnis einer Setzung sind, die durch abweichendes Verhalten neu ausgehandelt werden können und müssen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Abgleich mit Leitbildern wie der Entgrenzung der Mobilität sowie mit bekannten Mustern und Erwartungshaltungen, die maßgeblich das Theater- und Stadterlebnis sowie die Rhythmusrezeption beeinflussen: »So beinhaltet das Erkennen eines Rhythmus notwendig Antizipation; und eine ›Funktion‹ des Rhythmus liegt darin, diese Erwartungsspannung aufrechtzuerhalten oder zu maximieren. Eben dies geschieht mit dem Wechselspiel von Befriedigung und Enttäuschung des Antizipierten. Ist ein Rhythmus zu mechanisch, kollabiert die Spannung – ist er unantizipierbar, geschieht das gleiche. Insofern beinhalten Rhythmen in der Kunst immer den Kampf um eine Balance zwischen der Bestätigung und dem Stören von Mustern […].«45

Diesem von Mahrenholz beschriebenen Prinzip folgend, kann Schwarztaxi als Aushandlungsprozess zwischen Störmomenten und einem – teils ironisch überzeichnenden – Einfügen in die fragmentierte Wirklichkeit sowie deren rhythmische Gefüge und Erwartungshorizonte bezeichnet werden. Beide Strategien führen zu einer Hervorhebung des Rhythmischen und lenken die Aufmerksamkeit gezielt auf die Gewohnheiten und Wahrnehmungskonventionen der Theaterteilnehmer: »Die Dekonstruktion und Dezentralisierung der Theater-Sinne und die Überführung von Erzählweisen auf ein komplexes Mit- und Nebeneinander von Eindrücken, mit denen ein leeres Zentrum zu einem gegebenen Themenkomplex umstellt ist, können den unterschiedlichen Rhythmen der Zuschauererfahrung Rechnung tragen. Nicht nur, weil die Zuschauer jeweils eigene Erfahrungspräferenzen mitbringen, sondern auch, weil die je eigene Wahrnehmung schon in sich Zeitverschiebungen und divergierende Rhythmen braucht.«46

Trifft diese Schlussfolgerung zwar auf viele Theaterproduktionen im städtischen Raum zu, bei welchen für den Einzelnen gesteigerte Handlungs- und Entscheidungsfreiheit entsteht, da er beispielsweise im Rahmen von Walking Performances Rhythmus und Geschwindigkeit seiner Fortbewegung weitgehend selbst bestimmt, so scheint der Schwerpunkt bei Schwarztaxi anders gelagert zu sein. Abgehoben wird bei dieser Form performativen Rhythmusumgangs nicht vorrangig auf das Schaffen eines Freiraums für die Wahrnehmung des Zuschauers, sondern eher auf die Kennzeichnung von Abhängigkeits- und Lenkungsprinzipien. Die damit einhergehenden städtischen Bewegungspraktiken, die im Zuge von Alltagsroutinen etabliert, inkorporiert und von Leitbildern der Mobilität und Beschleunigung durch45 Mahrenholz 2005, 158. 46 Goebbels 2007, 126.

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zogen sind, werden somit auf theatralem Wege kenntlich gemacht und durch Rahmung, Überzeichnung sowie Überschreitung hervorgehoben und zugleich irritiert. Jenseits eines Theaters des repräsentierenden Als-Ob wird diese Auslieferung, beispielsweise gegenüber der Macht des Fahrers und des Geschwindigkeitsrausches, körperlich-räumlich vollzogen. Besonders rücken dabei die Momente von Störung oder möglicher Störung – wie das Spiel mit Gefahrenbewusstsein oder auch das Etablieren und anschließende Unterbrechen narrativer Bögen – in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ein solcher performativer Zugang birgt nach Primavesi und Mahrenholz die Möglichkeit zur »Entfaltung des kritischen Potenzials, das in den verschiedenen Formen der Rhythmisierung liegen kann, zugleich aber [geht es] um einen Diskurs, der diese Kritik weiterführt, nicht reduziert, sondern öffnet. Eine ›Politik‹ des Rhythmus wäre gerade im Rückbezug auf die von künstlerischer Praxis in Gang gesetzten Prozesse vor allem eine Politik der Wahrnehmung. Rhythmus kann als Abweichung in der Wiederholung, als Störung von Erwartungen die Wahrnehmung schärfen. Damit und nicht etwa durch gleichförmige Repetition eröffnet er ein Potential ästhetischer Erfahrung.«47

Auch Bernhard Waldenfels sieht in der Erzeugung rhythmischer Unregelmäßigkeiten Potenzial zur Umwandlung in produktive Momente: »Wenn uns etwas vor der lähmenden Monotonie oder dem erzwungenen Gleichschritt bewahrt, so sind es arhythmische Störungen, Abweichungen, Stolpersteine, Einbrüche des Ungeregelten, infolge derer die Gangart sich ändert.«48 Durch die auf diese Weise unweigerlich initiierte Überprüfung der Gangart – oder im Fall von Schwarztaxi der Fortbewegungsart – wird ein steter, transitorischer und prozessualer Aushandlungsprozess herausgefordert. Dieser birgt die Herausforderung, den Rhythmus des Einzelnen, der Stadt sowie der Inszenierung als komplexes Zusammenspiel der Handlungen der Akteure, der Bewegung des Autos sowie der Musik und den Klängen aus dem Autoradio zueinander in Relation zu setzen. Schwarztaxi und ähnliche Entwürfe performativer Passagenraumnutzung können als Ansätze aufgefasst werden, diese – teilweise unterschwelligen – Linearitäten, Steuerungsprinzipien und Steigerungslogiken zu unterlaufen, zu hinterfragen beziehungsweise rahmend kenntlich zu machen. Mittels der Untersuchung von Theater in Passagenräumen lässt sich zeigen, dass die skizzierte Verschiebung von der Moderne zur Postmoderne nicht bedeutet, dass Rhythmus als Bezugsgröße an Bedeutung verliert, sondern dass dieser im Gegenteil zu einer stets auszulotenden Variablen avanciert. Auf dieser Grundlage lässt sich die Idee eines flexiblen Ordnungssystems entwerfen, bei welchem Rhythmik und Tempo weder willkürlich er47 Primavesi/Mahrenholz 2005, 15. 48 Waldenfels 1999, 58.

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scheinen noch einer stringenten Notwendigkeit oder ontologischen Setzung folgen, sondern spielerisch erprobt werden können. Damit erweist sich der oben entwickelte performative, situative Rhythmusbegriff als tragfähige Grundlage zur Zusammenführung performativ-relationaler Stadtrhythmusbegriffe in einem kontrastreichen Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher organisierter Fließgeschwindigkeiten mit rhythmusgeprägten Theaterprojekten in städtischen Passagenräumen. Zu verstehen ist die dabei angestrebte Verschränkung als eine Polyrhythmik und Rahmenüberlagerung theatraler und städtischer Rhythmen, die Möglichkeiten aufzeigt, um dabei entstehende Verunsicherungsmomente und Reibungsflächen produktiv nutzbar zu machen. Anstatt zu einer Auflösung jeglicher Kontexte und Bezüge zu führen, schafft ein in diesem Sinne verstandener Rhythmus, der in der heutigen Zeit durch widerstreitende Kräfte der Steigerung und Heterogenisierung bestimmt ist, zugleich Limitierungen wie auch »Spiel- und Freiräume, die es ermöglichen, dass in einer dynamischen Ordnung immer wieder Neues emergiert, welches den Wahrnehmenden in einen Zustand der Instabilität versetzt.«49 Sound-Tracks mobiler Verortung – Schwarztaxi auf städtischen und theatralen Klang-Fährten Neben der ausgeführten Dimension der Rhythmisierung bilden auch der Klang und das Hören zentrale Bausteine für die Erkundung des Spannungsfeldes um Mobilität und Verortung. Im Folgenden werden diese in den Blick genommen, um aus der Warte des Akustischen heraus mobile Bezüge und Verortungen zu eruieren. Der Schwerpunkt liegt dabei in erster Linie auf den unterschiedlichen Relationsverhältnissen von Innen und Außen in Bewegung. »Hören ist leibliche Anwesenheit im Raum.« 50 In dieser kurzen Formel vereint Gernot Böhme die Begriffe Raum, Klang(-rezeption) und körperliche Verortung in einer Denkfigur. Für die hier vorgenommene Untersuchung erscheint es jedoch zentral, diesen Begriffsdreiklang durch die Komponente der Bewegung zu erweitern. Holger Schulze spricht über den Zusammenhang von Klang, Hören und Bewegung folgendermaßen:

49 Fischer-Lichte 2005, 246. Dies weist besondere Relevanz bei jenen Projekten des 21. Jahrhunderts auf, die sich – wie im Beispiel Schwarztaxi – selbst als mobile Passagenräume in städtischen Passagenräumen bewegen, wodurch sich die Rhythmen untrennbar miteinander vermischen. Jedoch ist mit Blick auf die Theatergeschichte seit den 1960er Jahren, und mit gesteigerter Vehemenz seit den 1990er Jahren, der Rhythmus allgemein zu einer eigenständigen, zentralen Größe geworden, sei es im Stadtraum oder in geschlossenen Kunsträumen (vgl. Fischer-Lichte 2005, 235ff). 50 Böhme 2009, 24.

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»Ein Klang entsteht aus der Bewegung, ein physischer Anlass. Bewegt sich etwas, so entfaltet sich dortheraus eine weitere Bewegung durch Widerhall. Klang wird weitergetragen, von Materie zu Materie weitergegeben. Nun können Menschen nicht ›schneller‹ hören. Es ist anatomisch wie auch physisch begründet, dass die Aufnahme und Wiedergabe von Schalläußerungen durch unseren Körper in einer Zeit geschieht, die von uns weder beschleunigt noch verlangsamt werden kann. Wir müssen, dies wiederum ein Moment der notwendigen perzeptiven Hingabe, dem Zeitraum einer Klangausbreitung folgen. Diese Klangausbreitung ist wiederum räumlich mitbestimmt.«51

Damit bietet in Bezug auf das Thema Mobilität der Klang, beziehungsweise die Klangaufnahme, einen spannungsreichen Gegenbegriff zum Rhythmus, da sich dieser der Beschleunigung widerständig entgegenstellt. Daran anschließend geht es im Folgenden nicht um die Geschwindigkeit oder die Bewegung des Hörens selbst, sondern um das Hören und Klangerfahren in Bewegung und die Modifikation der Bewegungswahrnehmung durch Klang. Dafür bedarf es eines Begriffs, der die klanglichen mit den bewegungsräumlichen Aspekten verbindet. Zu diesem Zweck soll der Terminus des Sound-Tracks erprobt werden. Bezeichnet dieser im Sprachgebrauch die musikalische Untermalung eines Films oder einer Theateraufführung, soll dieser hier in einer umgedeuteten wörtlichen Übertragung zur Anwendung gebracht werden: Übersetzt man die Wortbestandteile ›Sound‹ mit ›Klang‹ und ›Track‹ mit ›Fährte‹, so lässt sich mit Klang-Fährte eine Bezeichnung finden, die Klang, Bewegung und Raum in hier vorgeschlagener Weise zusammenführt.52 Am Beispiel einiger exemplarischer Klang-Fährten, die sich bei der Inszenierung Schwarztaxi aufspüren lassen, werden diese Prinzipien klanglicher Raumartikulation exemplarisch zur Anschauung gebracht. Im Sinne Kleins, die Künstler als »ästhetische Bricoleure des urbanen Raumes«53 bezeichnet, sind auch die im Folgenden beschriebenen Klang-Fährten als Bricolagen zu verstehen, als zusammengesetzte, provisorische und veränderbare akustische Wege durch die Stadt, deren einzelne Elemente Teile einer Materialsammlung darstellen. Dies trifft durch die mobile Anordnung in besonderem Maße zu. Denn die dabei zustande kommende Heterogenisierung der Wege, Fährten und Möglichkeiten erzeugt eine Ablösung des linearen Denkmusters – das der Konnex mit dem Begriff der Beschleunigung mit sich bringt – durch eine temporäre, mobile Bricolage.

51 Schulze 2008, 162. 52 In ähnliche Richtung denkt Robin Minard, wenn er von einer ›Artikulierung des Raumes‹ spricht, einer »Verräumlichung des Klanges [...] verbunden mit der Bewegung von Klängen durch den Raum [...].« (Minard 1993, 51.) 53 Klein 2005a, 23.

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Als eine solche Klang-Fährte lassen sich die Geräusche der zur Fahrtroute gehörenden Räume selbst benennen, die jeweils sehr unterschiedliche Klangkulissen bilden – hupende Autos an innerstädtischen Straßenkreuzungen, das gleichmäßige Rauschen der Autobahn, die Stille einer verlassenen Siedlung, oder auch der Ruf eines Käuzchens im Wald. Diese werden nach dem Prinzip des Kontrastes kombiniert, wie beispielhaft an einer Sequenz zu zeigen ist, in welcher zunächst der Flughafenvorplatz Leipzig-Halle54 angefahren wird und im Anschluss die bereits erwähnte benachbarte Ortschaft Kursdorf, in der aufgrund einer geplanten Flughafenerweiterung lediglich noch ein einziges Haus bewohnt ist. Außer einem Bewegungsmelder, der bei dem Vorbeifahren des Autos anspringt, ist somit, anders als in belebten städtischen Gegenden, niemand da, der diese Bewegung vermelden beziehungsweise bemerken könnte. Durch den Kontrast zum vorherigen Klangteppich aus Flugzeug-, Auto- und Menschengeräuschen, der bei der Station des Flughafens in das Taxiinnere gedrungen ist, wird die Stille, in die das Dorf gehüllt ist, verstärkt und hervorgehoben. Zu den beschriebenen Außenklängen gesellen sich die Klänge im Taxiinneren, wodurch die Bricolage der Klang-Fährten an Komplexität gewinnt: Bruchstückartig mischen sich Dialoge zwischen den sich im Auto befindlichen Akteuren mit Beiträgen aus dem Autoradio, Klängen und Musik. Diese sind in Tracks unterteilt und können, abgestimmt auf das Geschehen, vom Fahrer durch einen Knopf am Lenkrad gesteuert werden. Daran lässt sich analytisch eine weitere Klang-Fährte anschließen, da über dieses mobile Steuerungselement das Spiel mit Sehen und Hören ebenso wie mit Bewegung und Klang reguliert wird. Exemplarisch lässt sich dies anhand der leitmotivischen Anlehnung an den Orpheus-Mythos55 zeigen, dessen Erzählfragmente sich unter die einer vergangenen Liebesgeschichte zwischen den beiden Figuren mischen: Als mythologische Figur wird Orpheus als Sänger beschrieben, dessen Stimme die Kraft hat, selbst Tiere, Berge und Steine um sich zu scharen. Als er seine Geliebte Eurydike an die Unterwelt verliert, erhält er die Möglichkeit, sie zu befreien und mit sich zu nehmen, indem er vor ihr den Weg aus der Unterwelt heraus beschreitet, ohne sich jedoch nach ihr umdrehen zu dürfen, um 54 Weitere Theaterereignisse am Passagenraum Flughafen sind beispielsweise: Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie (Christoph Marthaler 2010, Flughafen Tempelhof Berlin), Ausflughafensicht (Cora Hegewald und Benjamin Foerster-Baldenius, Raumlabor Berlin 2008, Flughafen Leipzig-Halle) und Top Dogs (Urs Widmer/Lokstoff 2005-2007, Flughafen Stuttgart). 55 Im Kontext der Musik- und Klangforschung nimmt der Orpheus-Stoff einen zentralen Stellenwert ein, da sich unter anderem die Geschichtsschreibungen zu den Ursprüngen der Oper um Monteverdis L’Orfeo ranken (vgl. Mundt-Espín 2003). In dem hier gesetzten Rahmen soll dieser Aspekt jedoch ausgespart bleiben und die Anlehnung an den mythischen Stoff auf rein narrativer und inszenatorischer Ebene vorgenommen werden.

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sich ihrer Anwesenheit zu versichern. Dies gelingt ihm nicht, denn als er nichts hört, blickt er sich nach ihr um und Eurydike kehrt daraufhin in den Hades zurück. Bei Schwarztaxi findet dieser Mythos auf thematischer wie auch dramaturgischer Ebene Anklang: Das Aufgreifen der Suche nach der verschollenen Geliebten erfolgt bereits in einer sehr frühen Sequenz, in der der Akteur – zu diesem Zeitpunkt allein mit den Theaterteilnehmern im Auto – suchend und lauernd durch ein Wohnviertel fährt, bis er im Vorbeifahren eine Frau erblickt und abrupt seine Fahrt verlangsamt. In diesem Moment erklingt im Auto mit drohender, flüsternder Stimme: »Schau nicht zurück!« Durch diese akustische Aufforderung provoziert, muss der Theaterpassagier entscheiden, ob er sich dennoch nach der Frau am Straßenrand umdreht – was bei Kenntnis des mythologischen Stoffes nichts Gutes verheißt – oder der Stimme folgt. Die Motivik kulminiert in einer späteren Sequenz, als der Akteur das Autoradio während eines der rasantesten und unübersichtlichsten Fahrtabschnitte anschaltet und die Verkehrsnachrichten des Radiosenders namens Radio Orpheus melden, es sei auf einer Umgehungsstraße von Leipzig ein schwarzes Auto mit einem anderen Wagen kollidiert, wobei alle Insassen zu Tode kamen. Neben dem Spiel mit körperlich empfundener Bedrohung, worauf im späteren Verlauf zurückzukommen sein wird, verstärken die vereinzelten mythologischen An-Klänge die Heterogenität des akustischen Gefüges bei Schwarztaxi. Trotz der beschriebenen fragmentarischen Anlage des Klangkonzepts und der narrativen Struktur wird eine gewisse Konstanz im Klangraum etabliert, ein klanglich erzeugter Atmosphärenraum, der zwar in sich von komplexer Struktur ist, während des gesamten Ereignisses aber nicht abreißt und somit die Hinwendung der Konzentration auf das Akustische und das Geschehen im Innenraum forciert. Katharina Steffens schreibt in ihren kulturanthropologischen Überlegungen zum Taxi: »Zwar erhöht sich nach Einbruch der Dunkelheit die allgemeine Anonymität, aber auch das Gefühl der Nähe. Da ein guter Teil der alltäglichen Welt […], ein guter Teil des öffentlichen Raumes dann nicht mehr vorhanden oder nicht mehr sichtbar ist, erhöht sich die Intensität der Beziehungen vor allem in einer so engen, in sich geschlossenen ›Kapsel‹ […] wie der Taxe.«56

Unter diesem Aspekt lässt sich die Wahrnehmungsform bei Schwarztaxi streckenweise mit dem Vorgang des Kopfhörer-Tragens vergleichen. Geht man mit einem Kopfhörer durch die Stadt, so befindet man sich, wie Kolesch es fasst, in einer Art »akustische[r] Blase«57: »Kopfhörend befindet man sich in einem eigentümlichen, sowohl räumlich wie zeitlich als auch physisch wie psychisch schwer verortbaren 56 Steffen 1990, 200. 57 Kolesch 2009, 15. Vgl. zudem Bull 2004, 275-293, Hosokawa 1987, Thomsen/Krewani/ Winkler, Hartmut 1990, 52ff.

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Zwischen, in einer fragmentierten Welt, weder nur bei sich noch nur im akustischen Feld der reproduzierten Konserve noch nur in der Welt, in der man sich konkret körperlich bewegt.«58 Diese Tendenz zur Abkapselung wird durch die hohe Fahrtgeschwindigkeit gestützt, da dadurch visuelle Details verschwimmen und sich nicht mehr einzeln ausmachen lassen – die »Geschwindigkeit macht es schwer, die Aufmerksamkeit auf die vorbeifliegende Szenerie zu richten.«59 Während die Außenwahrnehmung mit steigender Geschwindigkeit folglich an Beiläufigkeit gewinnt, verlagert sich der Fokus verstärkt nach Innen. Die (akustische) Kapsel bei Schwarztaxi umfasst jedoch nicht eine Einzelperson, wie es bei einem Kopfhörer der Fall ist, sondern alle Insassen des Autos. Die dabei entstehende temporäre Nähe, die räumlich angelegt und akustisch verstärkt wird, lässt sich mit der Überlegung verknüpfen, dass Hören im Gegensatz zum Sehen als ein Vorgang des Umhüllens funktionieren kann und nicht der Abständigkeit visueller Rezeption bedarf. Damit kann sich der Hörende inmitten, der Sehende wiederum immer nur gegenüber dem Wahrgenommenen positionieren.60 Der Prozess der Einhüllung kann somit nicht nur zu Distanzaufhebung, sondern zugleich auch zu einer Separierung und Distanznahme zwischen akustischem Außen- und Innenraum führen. Diese ›sinnliche‹ Schwerpunktverlagerung, die mit der Ablösung eines eindeutigen Gegenübers durch ein relationales Gefüge in Zeiten der Mobilität zusammengedacht werden kann, sieht Fischer-Lichte als Charakteristikum des Theaters seit den 90ern an: »Neben das traditionell vorherrschende Sehen, das in der Regel gerichtet geschieht, treten mindestens gleichberechtigt das Hören – und zwar weniger als ein Hören und Verstehen von Sprache, sondern vielmehr als ein Inmitten-von-Lauten-und-Klängen-Sein, das unmittelbar über das Ohr auf den übrigen Körper als Resonanzraum einwirkt […].«61

In diesem Sinne treten, in einer Pendelbewegung der Abgrenzung und Durchdringung, der Stadt- und der Taxi-Innenraum bei Schwarztaxi in einen Aushandlungsprozess ein und bilden mit dem Theaterteilnehmer als Resonanzkörper einen Knotenpunkt heterogener (Klang-)Fährten. Weiterführen ließe sich der Gedanke des Innen und Außen durch die Gegenüberstellung eines Innen – im Sinne des Wahrnehmungsraums der Teilnehmer – und des ihn unmittelbar umgebenden Taxiraums, der in dieser Rahmung zu einem Außen würde. Da Ohren – anders als Augen – keine Schließfunktion besitzen, gehört das Hören zu jenen Sinnesvorgängen, die sich nicht gezielt abschirmen lassen, 58 Kolesch 2009, 15. 59 Sennett 1995, 24. 60 Vgl. Kolesch 2009, 19. 61 Fischer-Lichte 1999, 10.

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wodurch eine gänzliche Ausgrenzung der klanglichen Außenwelt nicht möglich ist. Die somit im Hören vordisponierte Durchlässigkeit gegenüber äußeren Einflüssen wird bei einer wie im Falle von Schwarztaxi erzeugten Konzentration auf akustische und rhythmische Impulse potenziert. Im theatralen Spiel werden die Teilnehmer hier somit nicht nur der Kontrolle über die eigene Fortbewegung enthoben, sondern auch gezielt von der Außenwelt klanglich durchdrungen. Verstärkt wird der sich daraus ableitende Effekt akustischen Kontrollverlusts dadurch, dass durch die oben beschriebene Sound-Bricolage eine über das Hören vorgenommene Orientierung beziehungsweise Verortung erschwert wird. Dies liegt vorrangig daran, dass das Gehörte nicht stringent mit seiner Quelle verbunden ist. Zu diesem Zusammenhang schreibt Böhme: »Im Hören, das Ton, Stimme und Geräusch nicht auf die Gegenstände, von denen sie herrühren mögen, überspringt, spürt der Hörende Stimme, Ton, Geräusch als Modifikation des Raumes seiner eigenen Anwesenheit. Wer so hört, ist gefährlich offen, er lässt sich hinaus in die Weite, und kann deshalb von akustischen Ereignissen getroffen werden. […] Hören ist ein Außer-sich-Sein, es kann gerade deshalb das beglückende Erlebnis sein, zu spüren, dass man überhaupt in der Welt ist.«62

Dabei erfolgen mittels des Hörvorgangs eine Mobilisierung der eigenen akustischen Verortung und eine Bezugnahme zur Umwelt. Nimmt man eine andere Betrachtungsperspektive ein, kann im gleichen Moment Hören jedoch auch als ein innerer Vorgang beschrieben werden, der einen in sich gekehrten, intimen Moment hervorruft und eine – wenn auch nicht akustische aber mentale – Abschottung von der Außenwelt erzeugt. Dieses Changieren wird in dem gezeigten Fallbeispiel nicht zu einer Seite hin aufgelöst, sondern ähnlich eines Schwebe- beziehungsweise Passagenzustands aufrechterhalten. Mobile Erinnerungsprozesse als Versuche einer inneren Verortung Das bereits ausgeführte Changieren zwischen inneren und äußeren Mobilisierungsvorgängen setzt sich auch im Umgang der Inszenierung mit ErInnerungsprozessen fort. Der äußere Weg durch die Stadt führt über zahlreiche akustische Spuren einer Erinnerungs- beziehungsweise Verinnerlichungsfährte: Eindrücke und Überreste einer vergangenen Liebesgeschichte sowie Versatzstücke und Motive aus kollektiven Gedächtnisvorräten – wie dem beschriebenen Orpheus Mythos – treffen auf den Gehörgang der Theaterteilnehmers. Bei Schwarztaxi handelt es sich um eine assoziative Reise in die Vergangenheit zweier Figuren, die der Zuschauer nicht kennt und somit versuchen muss, die 62 Böhme 2001, 47.

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einzelnen Erinnerungsfragmente, die durch Dissonanzen und Brüche gekennzeichnet sind, zu einem Bild zusammen zu fügen. Dieser Strang wird verknüpft mit einer mythologischen Vergangenheit, dem Orpheus-Mythos, die sich der individuellen Erinnerung gänzlich entzieht. Die Konflikte zwischen den Figuren werden nun wie bei einer Spurensuche räumlich aus- beziehungsweise abgefahren, um zu einer Form der Klärung oder des Abschlusses zu gelangen. Wie in einem Palimpsest überlagern sich im Zuge der Fahrt diverse Erinnerungsschichten. Für die Protagonisten handelt es sich zunächst um eine inszenierte Erinnerung, die durch den Plot vorgeschrieben ist. Dennoch kommen auch Erinnerungsschichten hinzu, die die Akteure durch ihre allabendliche Route durch die Stadt während unterschiedlichen Aufführungsfahrten mit den befahrenen Räumen verbinden. Dabei gibt es letztlich keine Hierarchisierung und alles, »was im Bildausschnitt der Scheibe hängen bleibt, kann bedeutsam sein und Erzählung werden.«63 Mit theatralen Mitteln wird dabei deutlich ausgestellt, dass Erinnerungsprozesse immer individuelle Akte sind, in denen sich Fiktionales und Erlebtes überblendet. Während der Fahrt findet ein Auseinanderstreben von räumlicher und zeitlicher Richtungsnahme statt. Während die Bewegung durch den Raum vorantreibt, mal schnell mal langsam, jedoch stets nach vorne, reist man in der Zeit zurück, indem man sich auf den Spuren einer Vergangenheit bewegt, die man nicht kennt und die auch bis zum Ende nicht gänzlich entschlüsselbar ist. Am Schluss endet die Fahrt dort, wo sie begonnen hat. Man könnte daher von einer Erinnerungsschleife sprechen, die letztlich nicht zu einer Auflösung führt, aber einen versöhnlichen Moment und den Ansatz einer Verarbeitung birgt. Dadurch, dass große Teile narrativer und atmosphärischer Elemente über Erzählfragmente aus dem Radio, assoziationsträchtige Musikeinspielungen sowie die Gespräche der Protagonisten vermittelt werden, wird dem Ohr hier die Rolle des zentralen Verinnerlichungs- und Verortungsorgans zugewiesen. Die Theaterpassagiere sind folglich damit betraut, in mobiler Aushandlung individuelle und situative Grenzverläufe zwischen Außen und Innen auszuloten sowie Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes mit Assoziationen zu füllen und zu ihrer eigenen Erinnerungsroute, einer Form passageren Erinnerungsraums, zusammenzusetzen. Der Vorgang der Erinnerung eines (Theater-)Ereignisses ist immer ein individueller, der aber von außen erheblich mitgesteuert wird und letztlich weder teilbar noch mitteilbar ist. So lässt sich auch die eigene Erinnerung an diese nächtliche Taxifahrt als Analyse klanglich-rhythmischer Verdichtung und alltags-theatraler Rahmenüberlagerungen nur in Form eines Nachzeichnens von Spuren unternehmen, wobei sich jedes Verbalisierungsbemühen mit den Grenzen der Sprache hinsichtlich des Erlebens und der polyphonen, polyrhythmischen Ereignishaftigkeit 63 Nioduschewski, Anja: »Schwarztaxi/Schauspiel Leipzig«, http://www.urbanite.net/de/ leipzig/events/schwarztaxi-5, Stand: 8.10.2014.

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konfrontiert sieht. Im Bewusstsein dieser Beschreibungskluft, die auch und in besonderem Maße für somatische Aspekte gilt, erfolgt nun dennoch der Versuch, eine sprachliche Annäherung an die körperlichen Aspekte der theatralen Passage vorzunehmen. Der Körper der Theaterteilnehmer zwischen Projektil und Widerstandsmoment gegen Mobilisierung und Beschleunigung »Vielleicht liegt die Lösung im Körper, jenem, im Schatten der modernen Beschleunigungstechnologie schwerfällig, fragil und obsolet erscheinenden Grundmaterial menschlicher Existenz. Die Wiederentdeckung der Nähe, die Rückeroberung des anthropologisch-geographischen Erfahrungsraumes und die Überwindung der geschwindigkeitsinduzierten Desorientierung könnte ihren Anfang in der Besinnung auf den Körper […] nehmen.«64

Wie bereits anhand des physischen Vorgangs des Hörens deutlich wurde, erfolgt die Besinnung auf den Körper bei Schwarztaxi nicht als ideeller Akt, sondern wird performativ vollzogen: Die Körper werden mobilisiert, von annäherndem Stillstand bis hin zu rauschhafter Beschleunigung durch den Raum bewegt und rühren sich dabei doch selbst nicht aktiv von der Stelle, wodurch sie sich in einem Zustand immobiler Mobilität befinden. Verwiesen wird damit auf einen die heutige Lebenswelt bestimmenden Kontrast zwischen der Geschwindigkeit, die ein Körper aus eigenem Antrieb heraus hervorbringen kann – der aktuelle Weltrekord im 100-Meter-Lauf durch Usain Bolt liegt bei 9,58 Sekunden – und der technologiebasierten Bewegung des Körpers im Raum. Bei Schwarztaxi werden die Teilnehmerkörper bei bis zu 200 km/h durch den städtischen Passagenraum bewegt, großen Geschwindigkeitsschwankungen und diversen Bewegungsvarianten ausgesetzt, während die Bewegung gewissermaßen ihren Körper ›passiert‹. Anstatt jedoch von dem Körper als bloßem Durchgangsraum auszugehen, leitet Virilio aus dieser Form »rasenden Stillstands«65 eine Vorstellung somatischer Erfahrung ab, bei welcher er den Körper als Projektil technisierter Bewegung und Mobilität sieht. So geht seiner Ansicht nach mit hohen Geschwindigkeiten eine Abnahme klarer Orientierungspunkte und der Verlust des Kontaktes mit dem »Boden der Erfahrung«66 einher, wodurch der Geschwindigkeitsrausch für den Körper zu einer zerstörerischen Kraft wird. Dieser Ansatz lässt sich mit den Ausführungen Richard Sennetts zusammenführen, dessen vorrangiges Ziel ebenfalls weniger die Entwicklung eines Körperkonzepts, als die Beschreibung und Analyse des gesellschaftlichen Stellenwerts des Somatischen ist. Dabei hebt er darauf ab, 64 Fischer 2011, 33. 65 Virilio 2002. 66 Virilio 1978, 24.

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dass der Körper in Zeiten technisierter Mobilität zu einem passiven wird, durch welchen sich gewissermaßen Bewegung hindurchbewegt, ohne dass er sich dafür selbst bewegen muss. Die damit formulierte Vorstellung lässt sich am Beispiel des Aufzugs exemplarisch verdeutlichen: »Für uns sind Aufzüge heute so selbstverständlich, daß wir nicht ohne weiteres die Veränderungen wahrnehmen, die sie in unserem Körper bewirkt haben; die gymnastische Anstrengung des Steigens ist weithin ersetzt worden durch das Stillstehen bei der Aufwärtsbewegung. Zudem gestattete der Aufzug die Entstehung von Gebäuden, die auf völlig neue Weise geschlossene Räume waren; in wenigen Sekunden kann man sich über die Straße, und alles, was dazugehört, erheben. In modernen Gebäuden, die ihre Aufzüge mit unterirdischen Parkgaragen verbinden, kann ein passiv bewegter Körper jeden physischen Kontakt mit der Außenwelt verlieren.67

Durch die Wahl eines Autos als Theaterraum spielt die Produktion mit diesem passiv bewegten Körper, der sich im Falle der Theaterfahrt die gesamte Aufführungsdauer über auf der Rückbank des Autos befindet und bewegt wird. Aufgrund der auditiven Mittel, die im letzten Abschnitt ausgeführt wurden, und der Rahmung des Außenblicks durch die Fensterscheibe, durch welche der städtische Passagenraum streckenweise filmische Züge annimmt, wird mit der engen Verschränktheit bewegungstechnischer und medialer Beschleunigung und den damit verbundenen Wahrnehmungsmodi gespielt – ein Zusammenhang auf den auch Sennett verweist: »So hat die neue Geographie praktisch eine Entsprechung in den Massenmedien. Der Fahrende erfährt die Welt wie ein Fernsehzuschauer gleichsam unter Narkose; der Körper bewegt sich passiv, desensibilisiert im Raum, auf Ziele zu, die in einer zersplitterten und diskontinuierlichen städtischen Geographie liegen. Sowohl der Straßeningenieur als auch der Fernsehprogrammdirektor erzeugen, was man ›Widerstandsfreiheit‹ nennen könnte.«68

Diese scheinbare Widerstandsfreiheit hängt maßgeblich damit zusammen, dass das schnelle Vorankommen – wie auch die Mobilität der Eindrücke und Bilder durch Medien – heute mit einem Mindestmaß an Eigenaufwand verbunden ist: »Die Handlungen, die nötig sind, um ein Auto zu fahren, ergänzen den Panzer der Geschwindigkeit: die leichte Berührung des Gaspedals und der Bremse, das schnelle Wandern der 67 Sennett 1995, 428. 68 Sennett 1995, 25. »Dieser Wunsch, den Körper von Widerstand zu befreien, ist verbunden mit der Angst vor Berührung – einer Angst, die deutlich in der modernen Stadtplanung zum Vorschein kommt.« (Sennett 1995, 25; vgl. zu diesem Zusammenhang zudem Kapitel 12.)

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Augen zum und vom Rückspiegel sind winzige Gesten, wenn man sie mit den anstrengenden körperlichen Bewegungen vergleicht, die zum Lenken eines Pferdewagens nötig sind. Durch die Geographie moderner Gesellschaften zu fahren, erfordert nur sehr geringe körperliche Anstrengung – und damit Anteilnahme; da die Straßen immer gerader und genormter werden, muß der Fahrer die Menschen und Gebäude auf der Straße immer weniger berücksichtigen, um sich mittels winziger Bewegungen in einer immer weniger komplexen Umgebung fortzubewegen.«69

Die beschriebene Tendenz mündet in einem technologisch bedingten, sich ab dem 19. Jahrhundert unaufhörlich steigernden Komfort, der mit zunehmender Passivität des Fortbewegungsvorgangs einhergeht. Ziel ist es, im Innenraum das hohe Tempo möglichst wenig bemerkbar werden zu lassen, wodurch die rauschartige Fortbewegung an somatischer Bedeutung für die Passagiere verliert.70 Um dieser Passivierung entgegenzutreten und eine körperliche Wiederaneignung (städtischer) Räume zu erzielen, bedarf es laut Mersch einer »buchstäblichen Offensive der Körper. Diese setzt auf eine Politik der Präsenz.«71 Theater verfügt in seiner Grundkonstitution kopräsenter Anwesenheit über den Spielraum, körperliche Präsenz ostentativ zu rahmen und somit die mediale Abständigkeit und die Stillstellung des beschleunigten Körpers zu konterkarieren.72 Ein solcher Gedanke, der die Vorstellung einer Verortung in mobilen Zusammenhängen impliziert, findet sich in theatralen Entwürfen wie der Eichbaumoper wieder, auf welche im weiteren Verlauf des Kapitels ausführlich eingegangen wird. 73 Das Beispiel Schwarztaxi wählt hingegen einen anderen Zugang. Es zeigt sich, dass die bisher aufgeführten Konzepte des Körpers als Passagenraum oder auch als passiver Widerstand im Bewegungsvorgang zu kurz greifen, um diesen zu kontextualisieren. Denn bei beiden Ansätzen wird der Körper als eine Art geschlossene Einheit verstanden, die mit der Außenwelt in Kontakt kommt oder dieser widerständig entgegentritt.74 Vergleichbar mit dem dieser Untersuchung zugrunde gelegten Raumverständnis soll jedoch auch der Körper nicht als gegeben, sondern geformt und sozial hervorgebracht gedacht werden, der in ein relationales Interdependenzverhältnis mit der umgebenden Welt eingebunden ist und somit nicht isoliert betrachtet werden kann. In Abgrenzung zu einem statischen Körperverständnis, »das dem sich in Raum und Zeit bewegenden

69 Sennett 1995, 24f. 70 Zum Zusammenhang von Komfort und Passivität vgl. Sennett 1995, 414. 71 Mersch 2005, 57. 72 Zur Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Formen von Kopräsenz vgl. Kapitel 2.2. 73 Vgl. zur Eichbaumoper Kapitel 6. 74 Vgl. Foucault 2007 [1975].

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und interagierenden Körper keine Beachtung schenkt«75, stellt Klein in diesem Sinne einen Ansatz vor, der Bewegung unter dem Blickwinkel der Performativität und der Praxis des Handelns in den Blick nimmt: 76 »Demnach entsteht der Rhythmus des Städtischen über das Ineinanderwirken der Rhythmen von Körper und Raum. Körperbewegung auf der einen Seite und die Dynamik des Raumes auf der anderen Seite beruhen wiederum auf historischen Zeitordnungen und Zeitkonzepten, Bewegungsordnungen und Bewegungskonzepten, die erst in der Bewegungspraxis erfahrbar, das heißt performativ wirksam werden.«77

Schwarztaxi erzeugt eine performative Bewegungspraxis, die anstelle einer Gegenbewegung – die in einer Blockade oder einem Stillstand bestünde und den Vorgang der Mobilität durchbräche – die Gleichzeitigkeit von völliger Unbeweglichkeit und Hypermobilität erlebbar werden lässt. Der Körper verharrt wie in anderen Alltagsbewegungen in einer Stillstellung; dieser Zustand wird aber nicht einfach in alltäglicher Rahmung wiederholt oder in abstrakter Weise thematisch, sondern durch starkes Überzeichnen der Bewegungsgeschwindigkeiten sowie der rhythmischen Kontraste in Form körperlicher Erfahrung evident. Der Umgang mit dem Körper baut hier somit weniger auf den Moment nach außen zur Schau gestellter Präsenz auf, sondern wirft den Einzelnen durch unmittelbares Erleben und Erfahren auf die eigene Körperlichkeit, deren Grenzen und Widerstände, die körperliche Wirkung von Geschwindigkeit und die alltäglichen Passivisierungsmechanismen zurück. Anders als bei der geschilderten Tendenz zunehmender Widerstandsfreiheit wird durch diese theatrale Überzeichnung und die damit einhergehende körperliche Mobilitätserfahrung verdeutlicht, dass es sich bei den alltäglichen Vorgängen nur um vermeintlich widerstandslose Prozesse handelt. Durch das Ausreizen der Geschwindigkeit und die kontrastreiche Rhythmisierung wird somit keine ›Komfortzone‹ geschaffen, sondern die somatischen Widerstände gegen den Zustand höchster Ausgeliefertheit aktiviert und eine gedankliche und somatische Unbequemheit erzeugt. Darin zeigt sich die starke Normierung mobilisierter Bewegungsabläufe im Alltag, durch welche eine nach oben und unten begrenzte, habitualisierte ›Normalzone‹ erzeugt wird:

75 Klein 2004b, 132. Als Ausnahmen benennt sie die Anthropologie (z.B. Hehlen und Plessner) sowie die Phänomenologie (z.B. Schmitz und Merleau-Ponty). 76 Vgl. Klein 2004b, 133. Zur sozialen und körperlichen Aneignung von Räumen vgl. Bourdieu 1991, 25ff. Zum Stellenwert des Körpers in performativen Kontexten aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive vgl. Stenzel 2009. 77 Klein 2005c, 68.

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»Die normale Autofahrt, etwa zur Arbeit oder zum Einkauf, mit größerem Radius zu kommerziellen Kontakten und Transaktionen, schwankt in ihrem Tempo zwischen Stillstand im Stau und Spitzengeschwindigkeiten, etwa bei Überholmanövern. Wie alle Normalfelder ist sie grob dreigegliedert in eine mittlere Normalzone und zwei Normalitätsgrenzen oben und unten: positiver thrill des freien Fahrens mit Hochgeschwindigkeit, etwas auf der Überholspur, negative Frustration des Staus.«78

Diese sogenannte Normalzone dient als Abgleich während eines Passagenvorgangs, wobei leicht aus dem Blick gerät, dass es sich hierbei um eine empfundene und gewissermaßen künstlich erzeugte Komfortzone handelt: Mittels technologischer Entwicklungen wird häufig darauf abgezielt, hohe Geschwindigkeiten nicht als solche erscheinen zu lassen. Dieser Vergleichsmoment mit gewohnten Bewegungsformen greift während der theatralen Taxifahrt nicht, da die Teilnehmer gewissermaßen fremdbestimmt das habitualisierte Spektrum alltäglicher Geschwindigkeit verlassen und sich das Schwarztaxi zudem jenseits der bekannten Ränder der ›Normalzone‹ bewegt. Denn die Passagiere befinden sich während der Theaterfahrt weder in einem gleichmäßig dahingleitenden Auto, bei welchem möglichst jede Irritation vermieden wird und die Fahrenden wie bei einer alltäglichen (Taxi-)Fahrt in Sicherheit gewogen werden, noch in einem abgesicherten Theaterraum, wie dies beispielsweise in den Rängen eines Stadt- oder Staatstheaters der Fall wäre. Vielmehr sind sie – ganz im Sinne des Passagiers bei Virilio – auf der Rückbank des Taxis den rhythmischen Spielarten und der vom Fahrer gewählten Geschwindigkeit ausgeliefert. Durch das Ausreizen der Extreme wird das Bewusstsein gezielt auf den Fortbewegungsvorgang gelenkt, auf den Prozess der Passage. Durch diese theatrale Interpretation des »rasenden Stillstands«79 wird über das Mittel der Überzeichnung erfahrbar, dass sowohl durch hohe Geschwindigkeiten, die rauschhafte Züge annehmen können, als auch durch monotone, gleichmäßige Alltagspassagen das ›Zwischen‹ der Bewegung häufig aus dem Blick gerät, durch Zweckrationalität kein Raum für Reflexion vorgesehen ist und dadurch die eigene Kritikfähigkeit herabgesetzt werden kann: »Wir gehen von einem Bewegungszustand zum nächsten über, ohne uns darum zu kümmern, was sie bedeuten; wir werden mitgenommen an ein Ziel, einen Ort, werden an den Endpunkt unserer Strecke befördert, aber das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleunigung entgehen uns, obwohl sie schwersten Einfluß auf das Bild der durchquerten Landschaft

78 Link 2005, 116 [Hervorhebung im Original]. 79 Vgl. Virilio 2002.

124 | P ASSAGEN ZWISCHEN M OBILITÄT & V ERORTUNG haben, denn zwischen zwanzig und zweihundert Stundenkilometern ist die Deutlichkeit des vorbei-huschenden Bildes radikal verschieden.«80

Die Schwarztaxi-Fahrt kann als eine Gleichzeitigkeit von Beschleunigung und Zielbeziehungsweise Orientierungslosigkeit bezeichnet werden, worin ein gesellschaftskritischer Moment gegenüber der zum Selbstzweck gewordenen Steigerungslogik gesehen werden kann. Ebenso lässt sich das Spiel mit Raum-Zeit-Bezügen und den Brüchen in der Kohärenz als kritischer Kommentar gegenüber einer gesellschaftlich verankerten linearen Denkweise lesen, bei der trotz einer allgemeinen Fragmentierung der Bezüge Brüche nicht vorgesehen sind. Eine weitere Referenz auf postmoderne Lebensformen und Strukturen liegt in dem Vorgang des die gesamte Fahrt überspannenden indifferenten Suchens, das sich in den unterschiedlichen KlanFährten, den narrativen Bruchstücken und dem ziellosen Fahren niederschlägt. Dadurch wird ein letztliches Ankommen oder Innehalten verhindert, obgleich bis zuletzt nicht deutlich wird, wonach gesucht wird. Bei Schwarztaxi wird das ›Zwischen‹ der Bewegung somit nicht nur thematisiert, sondern unmittelbar spürbar. Zugleich ist diese Erfahrungsdimension mit der bewussten Inkaufnahme einer realen, körperlichen Gefahr verbunden. Denn die rasante Fahrtgeschwindigkeit und die zeitweise unsachgemäße Bewegung im Straßenverkehr stellen ein auch seitens des fahrenden Akteurs letztlich nicht dosierbares Risiko dar. Der Theaterrahmen, der sich hier untrennbar mit den Kontingenzen städtischer Rahmung überlagert, dient somit nicht (mehr) als konsequenzvermindernder Spielraum und zeigt zugleich die Gefahren alltäglicher Passagen auf, die besonders dadurch erhöht werden, dass schnelle Geschwindigkeiten nicht zwangsläufig als solche wahrgenommen werden. Obgleich somit die städtische Rahmung den Grad der Gefährdung bestimmt, beeinflusst die Tatsache, dass man sich in einer Theatersituation befindet, die Einordnung der eigenen Lage. Gibt es auch keinerlei rationale Grundlage dafür, so können der Theaterrahmen und die daran geknüpfte Konvention der Konsequenzverminderung gegebenenfalls dennoch – auf Ebene der Wahrnehmung – im Sinne eines gefahren-relativierenden Korrektivs wirksam werden.81 Bei der Frage nach Verortung und Mobilität entsteht bei dem Vorgang des Gefahren-Werdens – hier bei gesteigertem Gefahrenpotenzial – eine paradoxale Situation, in welcher der Körper in einem Raum fest verortet ist, dieser Raum jedoch selbst ein mobiler Passagenraum ist, sodass eine ständige Positionsveränderung stattfindet, auch wenn der Körper selbst sich nicht von der Stelle bewegt. Zudem findet eine Bewegung innerhalb des Körpers statt, die sich als Spiel mit den ›Körperrhythmen‹ der Theaterteilnehmer bezeichnen lässt: Herzschlag und Puls werden 80 Virilio 1978, 19. 81 Zum Begriff der Konsequenzverminderung vgl. Kotte 2005, 45.

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bei den rasanten Fahrten nach oben getrieben – was durch die pulsierende, sich beschleunigende Musik während dieser Sequenzen verstärkt wird. Doch nicht nur der Puls und die Atemfrequenz des eigenen Körpers sind in diesen Momenten spürbar: Durch die räumliche Nähe zu den anderen Passagieren und die Abgeschlossenheit des Taxiinnenraums wird jede Regung der Mitfahrer direkt übermittelt, was zu Wechselwirkungen unter den Insassen des Autos führt. »Der enge, kaum erleuchtete Raum einer Taxe ist gleichsam der materielle Rahmen, an dem sich nach dem subjektiven Empfinden der öffentliche Raum, die Landschaft, vorbeibewegt, in rasch vorbeiziehenden Bildern. Bei dieser Konstellation verändert sich die Perspektive den anderen Anwesenden, dem Handlungspartner, wie auch sich selbst gegenüber. Die Grenze zwischen außen und innen verschärft sich, die, die drinnen sind, rücken sich näher; sie teilen die während des Transportes verstreichende Zeit und die Optik. Man tut gleichsam einen Schritt zurück und betrachtet die Außenwelt mit einer gewissen Distanziertheit, man sieht die Realität als einen sich abzeichnenden, erkennbaren Ablauf, als etwas Herzustellendes, in dem Sinne nicht Selbstverständliches, sondern Bewegtes, sich Veränderndes […]. «82

Das hier angewendete theatrale Verfahren ließe sich als Versuch deuten, eine Form des Gemeinschaftserlebnisses zu ermöglichen, das jenseits eines Communitas-Gedankens, wie dieser bei Turner zum Tragen kommt 83, die somatische Dimension in den Mittelpunkt rückt: »Dem entspräche eine Praxis, die ein körperliches Bewegen des Zuschauers ausprobiert, ohne doch damit auf eine zeremonielle und spirituelle Vereinigung von Zuschauern und Akteuren hinzuarbeiten. Im Gegenteil – gerade in der Durchbrechung der gewohnten Distanz spielt sich jene Enttäuschung ab, die vielleicht das eigentliche Risiko (und auch die Chance) vieler aktueller Projekte an den Rändern des Theaters ausmacht.«84

Und ist es nicht zuletzt »der Körper, über den sich eine Einübung in die SelbstBewegung und Bewegtheit des modernen Subjekts vollzieht«85, so kann auch über den Weg somatischer Erfahrung eine wirksame kritische Befragung der habitualisierten Stillstellung des Körpers in Höchstgeschwindigkeit erfolgen. Die Bewegungspraxis, die bei Schwarztaxi performative Wirksamkeit entfaltet, changiert somit zwischen Passivierung und Aktivierung, die sich nicht durch eigenständige Fortbewegung ausdrückt, aber dennoch körperliche Reaktionen erzeugt. Die Eindimensionalität mobilisierter, beschleunigter Entgrenzung wird in ei82 Steffen 1990, 222. 83 Vgl. Turner 1989 [1969], darin besonders Kapitel 3 und 4. 84 Primavesi 2008, 90. 85 Klein 2004a, 8.

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ne Ambivalenz überführt, indem diese übersteigert und zugleich durch Widerstände körperlicher Materialität und Leiblichkeit konterkariert wird. In der Auffassung Kleins wird über »innere und äußere Haltung […] der Körper allmählich in jene Ordnung eingepasst, die der Beweglichkeit des modernen Subjekts einen Rahmen gibt. Tanz, Bewegung, Sport und Spiel sind hierfür wichtige Ordnungsräume.«86 Diese Funktion übernimmt Theater hier indem es zunächst einen Raum der Unordnung schafft, um bestehende Ordnungen zu irritieren und Raum für neue zu schaffen. Durch die am Beispiel Schwarztaxi zur Anschauung gebrachte Gleichzeitigkeit mannigfaltiger Fährten und Spuren entsteht eine Enthierarchisierung der Zeichenebenen. Die Wahrnehmung wird »de-synchronisiert, sie wird sensibilisiert für die jeweilige Einzelleistung des betreffenden Elements. […] Wenn sich für den Zuschauer hierarchische Beziehungen […] ergeben sollten, so ist er es, der diese Beziehungen herstellt.«87 Der Theaterteilnehmer, der sich bei Schwarztaxi in einem Geflecht akustischer, rhythmischer, körperlicher und visueller Einflüsse auf den Körper und die Wahrnehmung wiederfindet,88 entwirft und verwirft vor dem Hintergrund seiner eigenen rhythmischen Disposition während der nächtlichen Theaterfahrt zahlreiche individuelle Klang-, Gedanken- und Bedeutungs-Fährten, macht aber zur gleichen Zeit stets die Erfahrung körperlichen Ausgeliefertseins als rasender Resonanzkörper städtischer und theatraler Klänge, Rhythmen und Geschwindigkeiten.

86 Klein 2004a, 8. 87 Fischer-Lichte 2005, 238. 88 Zur Analogie von Körper und Stadt als urbanem ›Organismus‹, dessen Straßen als Venen und der Bewegungsrhythmus als Puls oder Herzschlag bezeichnet wird, vgl. Sennett 1995, 330.

5 ÜberGang – Parkour als passagere Entgrenzung durch städtische Querlektüre

Jenseits vorgespurter Routen, die explizit als Passagenräume konzipiert sind, bahnen sich die Anhänger der Parkour-Bewegung ihre Wege durch die Stadt. Mauern, Absperrungen, Zäune und andere Hindernisse bilden keine unwegsamen Begrenzungslinien, sondern provozieren vielmehr dazu, diese für den durchschnittlichen städtischen Passanten scheinbar undurchdringbaren Barrieren zu überwinden. Meint der Begriff des Parcours, an den die Bezeichnung angelehnt ist, im sonstigen Sprachgebrauch einen zuvor abgesteckten Hindernislauf, den es zu absolvieren und dessen Hürden es zu bezwingen gilt, wird der Weg bei Parkour erst durch die Bewegung und den Prozess der Überwindung hervorgebracht. Das Bahnen des Weges ist damit ein performativer Akt, der durch einen Handlungsvollzug die Aufgabe zugleich generiert und diese zu lösen versucht. Die Bewegung Parkour wurde in den 1980er Jahren in Frankreich von David Belle in einer Weiterentwicklung der Méthode naturelle1 begründet: »Der Einklang mit sich selbst und mit dem Raum, den es zu überwinden gilt, ist wichtigstes Element des Parkour.«2 Der Moment der Überwindung und der Grenzverhandlung bezieht sich sowohl auf den Mensch-Raum- wie auch den Körper-Geist-Bezug:

1

Bei der Méthode Naturelle handelt es sich um eine von Georges Hébert zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte militärische Trainingsmethode, die auf den physischen Einklang von Mensch und Natur abzielt und unter dem Titel parcours du combattant Teil der Soldatenausbildung in Frankreich wurde. David Belle, dessen Vater als Soldat diese Technik erlernte, wurde von diesem in der Méthode Naturelle ausgebildet und übertrug sie auf die Bewegung im Stadtraum, womit er die Parkour-Bewegung ins Leben rief (vgl. Langbehn 2011, 4f sowie zur Praktik des Parkour im Allgemeinen Atkinson/Young 2008, Le Breton 2000, 1-11 und Wheaton 2004).

2

Bauer 2010, 80.

128 | P ASSAGEN ZWISCHEN M OBILITÄT & V ERORTUNG »Im Mittelpunkt von Parkour steht der eigene Körper, die Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen (körperlichen und auch mentalen) Grenzen. Um diese ausloten und erproben zu können, werden reale Hindernisse überwunden. Die Traceure entwickeln eigene Bewegungsstile, sie kreieren bestimmte Techniken, Sprünge und Bewegungsformen, die bei der Überwindung spezifischer Objekte angewandt werden. Es findet eine ausgeprägte Differenzierung, Spezifizierung und auch Individualisierung von Bewegungsabläufen statt.«3

Mit dem Ziel, in fließender Bewegung jegliches Hindernis in einem »ästhetisch perfekten Sprung« 4 überwinden zu können, vereinigt sich in den 1990er Jahren unter dem Namen Yamakasi eine kleine Gruppe um Belle, aus welcher in den Folgejahren ausgehend von Frankreich eine weltweite, heterogene Szene erwächst, deren Kommunikationsplattform vornehmlich das Internet darstellt.5 Die Komponente ästhetischer Ausrichtung sportlicher Bewegungspraxis, die sich zunehmend zu einer künstlerisch-performativen Bewegungsform entwickelt,6 rückt Parkour in den Fokus der hier vorliegenden Untersuchung.7 Der Bogen wird mit diesem Beispiel gezielt an die ›Ränder‹ des Performativen gespannt, um zu verdeutlichen, dass sich die im Verlauf der Untersuchung vorgestellten Fallbeispiele aus dem Bereich Theater und Performance in einem Kontinuum aus Passagenraumaneignungen unterschiedlichster Zielrichtung und diverser Inszenierungs- und Ostentationsgrade bewegen. 3

Bauer 2010, 137.

4

Bauer 2010, 137.

5

Exemplarisch lassen sich folgende Plattformen nennen: http://www.americanparkour.com (Stand: 21.7.2015), http://dirkparkour.blogspot.de/ (Stand: 21.7.2015), Schofield, Hugh: »The art of Le Parkour.« In: BBC News Online (2002), http://news.bbc.co.uk/2/hi/ entertainment/1939867.stm (Stand: 21.7.2015).

6

Vgl. Langbehn 2011, 5.

7

Die Grundlagen bietet dabei das von Belle entwickelte Konzept, nicht die zahlreichen Weiterentwicklungen, die sich in Form akrobatischer Ausgestaltung, dem Ausrichten von Wettbewerben und der Nutzung zu kommerziellen Zwecken rasch von der Ursprungsidee entfernen (vgl. Bauer 2010, 81). Verwandte Formen, die sich aus dem Parkour ableiten, sind unter anderem Freerunning (gegründet von Sébastien Foucan, einem der Gründungsmitglieder von Yamakasi) und urban free flow (http://www.urbanfreeflow.com/, Stand: 8.10.2014). Neben Internetplattformen und Foren, die eher von Anhängern der Community genutzt werden, führen diverse Filme zur medialen Verbreitung und Bekanntmachung von Parkour. Zu nennen wären Yamakasi – Les samouraïs des Temps Modernes (Luc Besson 2002), Les fils du vent (Julian Seri 2004.), Banlieu 13 (Luc Besson 2004), James Bond 007 – Casino Royal (2006) und Parkour (Marc Rensing 2010). Zu Werbezwecken wurde Parkour zum Beispiel genutzt von Nike, Volkswagen und Canon. Auch in dem Musikvideo Jump von Madonna findet sich eine Parkour-Sequenz.

Ü BER G ANG – P ARKOUR | 129

Neben der hier fokussierten Bewegungsform gewinnen seit den 1990er Jahren auch andere urbane Sportpraktiken performativer Ausprägung zunehmend an Bedeutung, sei es in Form von Skateboarden, Breakdancen, der urbanen Form des Bergsteigens an Bauwerken, genannt Buildering, Crossgolf bzw. Urbangolf, bei welchem städtische Freiflächen bespielt werden oder der GPS-Schnitzeljagd Geocaching. Bei all diesen Praktiken werden funktionale Passagenräume als vielfältige Bewegungsräume markiert und genutzt.8 Mit Alkemeyer lassen sich diese kulturellen Äußerungen als inszenierte, eigenständige Formen der Stadterschließung mittels Bewegung beschreiben, die sich in dezentraler Weise außerhalb etablierter Institutionen Raum schaffen: »Deren Akteure verlassen die Sonderräume und Institutionen des organisierten Sports und entdecken die Stadt als Raum für ihre sportlichen Aktivitäten neu. Sie machen die vom Sport vollzogene Abtrennung der sportlichen Bewegung vom sinnlichen Gewebe alltagsräumlicher Lebenszusammenhänge wieder rückgängig, codieren die Landkarte der Stadt für ihre Zwecke um und benutzen die Stadt als große Bühne für ihre virtuosen Bewegungskünste.«9

Mittels dieser Form des Einbettens in städtische Räume findet bei Parkour neben der Abkehr von Institutionen auch ein Unterlaufen der Zielsetzungen professionalisierter Sportpraxis statt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass es kein übergeordnetes Regelwerk gibt, sondern dieses durch die Teilnehmer stets neu ausgehandelt wird. »Während es im institutionalisierten Wettkampfsport darauf ankommt, möglichst störungsfreie und in diesem Sinne reine Verhältnisse für das Sporttreiben herzustellen, gründet die Anziehungskraft dieser informellen Bewegungskulturen im Gegenteil gerade in der Vermischung. Alle Zutaten, auf die der moderne Sport im Zuge seiner Institutionalisierung und Professionalisierung verzichtet – das Flair der Stadt mit ihren Geräuschen und Gerüchen, verweilenden Passanten usw. – gehören untrennbar zur Atmosphäre des Spielens. Das Sporttreiben ist hier u.a. ein Medium, um die vielfältigen Qualitäten und Stimmungen der Orte, an denen man sich bewegt, in sich aufzunehmen, seine eigenen Kräfte damit zu erweitern und diese umgekehrt auch an die Orte abzugeben, sie mit Leben zu füllen und zu subjektivieren.«10

Die angesprochene Subjektivierung stellt ein weiteres Charakteristikum von Parkour dar, und zeigt sich besonders in der Loslösung von städtischer Bewegungsleitung und kanalisierter Passage sowie dem Entzug aus den städtischen Menschen8

Vgl. Klein 2005c, 76f sowie zur weiteren Beschäftigung mit urbanen Sportpraktiken

9

Alkemeyer 2004, 61.

Bockrath 2011, Gebauer 2002 sowie ders. u.a. 2006. 10 Alkemeyer 2004, 61f.

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strömen. Das Schaffen neuer Wege über bewusst gesetzte und konsensual angenommene Barrieren hinweg gehört ebenso dazu wie die ungewöhnliche Begehung etablierter Wege, wie die gegenläufige Nutzung einer Rolltreppe. De Certeau beschreibt Gehen im Allgemeinen als einen Vorgang performativer Aktualisierung: »Wenn es also zunächst richtig ist, dass die räumliche Ordnung eine Reihe von Möglichkeiten (z.B. durch einen Platz, auf dem man sich bewegen kann) oder von Verboten (z.B. eine Mauer, die einen am Weitergehen hindert) enthält, dann aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. Dadurch verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung. Aber er verändert sie auch und erfindet neue Möglichkeiten, da er durch Abkürzungen, Umwege und Improvisationen auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen kann.«11

Durch die bei Parkour durchgeführte Form des Gehens beziehungsweise Laufens findet eine Zuspitzung dieses Aktualisierungsvorgangs statt, wobei neben den Praktiken der Stadtaneignung mittels körperlicher Überwindung strukturelle Grenzziehungen aller Art fundamental in Frage gestellt werden. Dabei wird das Ziel verfolgt »to adapt one’s body to quickly pass any urban obstacle and hone one’s evasion, avoidance, and flight capabilities within a city.«12 Dass es sich hierbei nicht nur um das Aktualisieren, sondern auch das Schaffen neuer Wege und Passagenräume handelt, aus welchem sich ein Individualisierungs- und zugleich Demokratisierungsanspruch ablesen lässt, zeigt bereits die programmatische Namensgebung des Parkour-Läufers, der traceur, zu Deutsch Spurenleger genannt wird. Die Spur, die dabei entsteht, ist jedoch eine äußerst ephemere, da die Herausforderung der traceure gerade darin besteht, die Hindernisse nicht zu verändern oder zu verschieben. Es handelt sich somit um Passagenräume, die ausschließlich mittels Bewegung und nur für die Dauer dieses einen, individuellen Passagenvorgangs bestehen und in keiner Weise baulich manifest sind. Diese Beobachtung unterstreicht den performativen Charakter von Parkour. Trifft dies auf den unmittelbaren Stadtbezug zu, lässt sich unter medialen Aspekten eine Erweiterung der Idee des Spurenlegens und -suchens vornehmen. Denn häufig werden die traceure bei ihren Läufen gefilmt, oder filmen sich selbst, und hinterlegen die dabei entstehenden Videos in Form medialer Spuren im Internet. Bei der Wahl der Routen geht es nicht, wie sich ebenfalls vor dem Hintergrund des formulierten Individualisierungsstrebens vermuten ließe, um eine freie, momentgesteuerte Bewegungsführung. Vielmehr erlegen sich die traceure klare Passagenziele auf: Auf einem Stadtplan werden Start- und Zielpunkt festgelegt, zwischen denen die kürzeste Route, gewissermaßen die Luftlinie durch die Stadt 11 De Certeau 1988, 190. 12 Atkinson/Young 2008, 59.

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anvisiert wird.13 Lediglich die Körperbewegungen reagieren auf den Stadtraum, der Stadtraum bleibt auf der sichtbaren Ebene jedoch von den Körpern gewissermaßen unbeeindruckt, denn die Hindernisse bleiben unverändert, nichts wird – wie bereits erwähnt – aus dem Weg gerückt oder den eigenen Vorhaben in anderer Weise angepasst. Im Sinne de Certeaus ließe sich sagen, dass der Ort unverändert bleibt, der Raum jedoch durch die körperliche Aneignung modifiziert wird.14 Mit Mitteln der Physis werden gesellschaftliche Motive wie die der Effizienzsteigerung und Ökonomisierung durch den Anspruch auf reibungslose Mobilität und Entgrenzung thematisch. Sennett beschreibt bereits 1977 eine allgemeine Anspruchshaltung auf das Recht, sich in Städten frei und ungehindert bewegen zu können, was den zu durchquerenden Raum zu einem Hindernis degradiert, das es zu überwinden gilt: »Das Privatauto ist das natürliche Instrument zur Ausübung dieses Rechts; für den öffentlichen Raum und vor allem für die Straßen der Städte wirkt sich das so aus, daß der Raum bedeutungslos oder gar störend wird, sofern er der freien Bewegung nicht untergeordnet ist. Die moderne Fortbewegungstechnik ersetzt den Aufenthalt auf der Straße durch den Wunsch, die Hemmnisse der Geographie zu tilgen.«15

Dadurch »verliert der zu einer Funktion der Fortbewegung gewordene öffentliche Raum seine unabhängige Erfahrungsqualität«16 und fungiert nicht länger als Begegnungs- oder Kommunikationsraum. Parkour stellt diese Leitbilder in ambivalenter Weise auf den Prüfstand: zum einen findet eine affirmative Überzeichnung statt, die die Entgrenzung und den Moment des sogenannten flows17 durch ungehinderte Bewegung ausreizt und damit mittels körperlicher Praxis demonstriert, dass vordergründig entgrenzte Mobilität in Alltagszusammenhängen dennoch immer zahlreichen Vorschriften und Restriktionen unterliegt, die erst mittels einer Bewegung wie 13 Vgl. Bauer 2010, 16. Ein ähnliches Ziel verfolgt die Theatergruppe Lone Twin mit der Produktion Totem aus dem Jahr 1998, bei welcher die Kleinstadt Colchester in Luftlinie durchquert werden sollte, dies jedoch nicht mittels körperlicher Überwindung der Hindernisse, sondern durch Verhandlung mit den Bewohnern und Eigentümern: »Bei der Umsetzung des Projekts im architektonischen Raum der Stadt stoßen Lone Twin allerdings auf zahlreiche Widerstände […]. Es gelingt Whelan und Winters schließlich dennoch, nach Absprache mit den Anwohnern, die ihnen die Erlaubnis zur Durchquerung ihrer Häuser und Geschäfte erteilen, die Innenstadt in einer geraden Linie zu durchwandern.« (Fischer 2011, 137.) 14 Vgl. de Certeau 1988, 218. 15 Sennett 2008 [1977], 41. 16 Sennett 2008 [1977], 41. 17 Zum Begriff des flow vgl. Csikszentmihalyi 1990 sowie Turner 1982b, 20-60.

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der des Parkour letztlich überwunden werden können. Zum anderen werden die Leitbilder in ihrer uneingeschränkt positiven Besetzung der Entgrenzung in Frage gestellt, da zur Ausübung von Parkour bewusst Phasen der zeitweiligen Orientierungslosigkeit gehören, indem Gegenden erkundet werden, die nicht den vertrauten Routen entsprechen. Der Vorgang der Entgrenzung dieser Art ist nicht spontan erzeugbar, sondern geht mit einem Prozess aktiver Auseinandersetzung mit Grenzen einher. Die Landkarte, die in ihrer scheinbar hürden- und schwellenlosen Zweidimensionalität zum Ausgangspunkt der Bewegungsführung und der Routenplanung wird, materialisiert sich durch den Bewegungsvollzug in Gestalt baulicher Dreidimensionalität. Durch den nach außen vermittelten Eindruck der Mühelosigkeit bei der Überwindung von Hindernissen, wird diese Dreidimensionalität jedoch wiederum eingeebnet und verliert augenscheinlich an Widerständigkeit, was den Vorgang dem Nachfahren einer Entfernung mit dem Finger auf der Karte gewissermaßen wieder annähert. Bevor jedoch eine Stadt in Luftlinie durchschritten werden kann, bedarf es eines eingehenden Körpertrainings und eines wiederholten Abprallens an physischen und räumlichen Grenzen, die erst mittels des Erwerbens körperpraktischer Fertigkeiten zu überwindbaren Schwellen werden können:18 »Als Technologien des Selbst sind die Bewegungspraxen des neuen Sports Verfahren, mittels derer die Akteure Irritationen ihrer habituellen Selbst- und Weltbezüge erzeugen, weil sie sich selbst neue (Körper-)Formen und Stile zu geben suchen. Indem sie ungewohnte Umgebungen und Situationen aufsuchen, in denen sich der mitgebrachte Habitus nicht zu Hause fühlt, weil er diese normalerweise nicht bewohnt ›wie eine vertraute Wohnstätte‹ (Bourdieu), sollen Erfahrungen produziert werden, die sie temporär daran hindern, mit sich selbst identisch zu bleiben: Die Situation wird bewusst so arrangiert, dass Distanz und Fremdheit erfahren werden […]. In diesen Schwellenzuständen der Irritation des Gewohnten scheinen Möglichkeiten eines anderen Handelns und einer neuen Formgebung des Selbst auf.«19

Dieses Verständnis eines produktiven Schwellenerlebnisses lässt sich ausweiten auf die Idee, dass performative Formen im Stadtraum – seien es Sportereignisse dieser Art oder ein Theaterereignis – Widerstände bieten können, die in einem ersten Schritt verfremdend und befremdend wirken, indem sie Routinen durchbrechen und somit zu einem Gefühl des Verlustes an Sicherheit oder klarem Bezugssystem, sprich zu einer liminalen Phase, führen.20 So erfordert Parkour eine Re-Orientierung im Raum und das Neuerwerben habitualisierter Bewegungsabläufe. Dieser Prozess inklusive anschließender Wiedereingliederung birgt jedoch Potential zu ei18 Zur Auseinandersetzung mit Grenzen und Schwellen vgl. Kapitel 2.2. 19 Alkemeyer 2004, 68f. 20 Vgl. hierzu Kapitel 1 und 2.2.

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nem bewussten Lokalisierungsvorgang der traceure im Raum. Dies kann zudem zu einer sinnlichen, körperlichen Erfahrung eigener Handlungsfähigkeit und einer performativen Selbstvergewisserung führen: »Wenn es nun zutrifft, dass es in vielen postkonventionellen Bewegungspraxen um das Problem des Bewahrens bzw. Erlangens neuer Orientierung in turbulenten Räumen geht, dann liegt es nahe, sie als Praxen performativer Selbstbeglaubigung und Selbstermächtigung angesichts der Bedrohungen subjektiver Handlungsfähigkeit in rasch sich differenzierenden und ›verflüssigenden‹ gesellschaftlichen Ordnungen zu deuten. Das spielerische Antizipieren der Verflüssigung Halt gebender empirischer Fixpunkte und die Versuche, riskante Situationen zu meistern, erlauben es den Akteuren, sich unmittelbar sinnlich ihrer Handlungsfähigkeit zu vergewissern. Unter der Voraussetzung des Gelingens erfahren sie am eigenen Leib die Bestätigung, handlungsfähig auch unter unsicheren Bedingungen zu sein.«21

Das Erfahren am und des eigenen Leibes bildet eine Querverbindung zu den im Rahmen dieser Studie vorgestellten Theaterprojekten, welche ebenfalls in den meisten Fällen die körperliche und sinnliche Erfahrung des Theaterteilnehmers in den Mittelpunkt rücken – sei es mittels Bewegung bei hoher Geschwindigkeit durch den Raum wie bei Schwarztaxi oder des Erzeugens neuer, geschichteter Wahrnehmungsräume wie bei Call Cutta, worauf im Kontext von Nah- und Fernräumen näher eingegangen wird. In diesen Ansätzen materialisiert sich die Vorstellung, dass kulturelle Praktiken wie Theater oder Sport in Passagenräumen zu einer Rückbesinnung auf den Körper – im Sinne eines Gegengewichts zur Entmaterialisierung und Virtualisierung von Räumen – beitragen können. Neben den Aushandlungen des eigenen Selbst und dem Stellenwert der eigenen Physis findet bei Parkour und verwandten Praktiken auch eine Auseinandersetzung mit Momenten der Gemeinschaftsbildung statt. Zielen diese wie ausgeführt zwar auf eine individualisierte Form der Orientierung in städtischen Gefügen, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass damit Isolation oder Vereinzelung einherginge. Alkemeyer schreibt: »Zwar treffen sich hier hochgradig individualisierte Personen, aber sie bleiben nicht für sich […].«22 Die dabei zustande kommenden Zusammenschlüsse lassen sich als »posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung«23 bezeichnen, die weniger auf die Idee einer dauerhaften, stabilen Gemeinschaft, sondern eher auf eine distribuierte, prozessuale, ephemere und momenthafte Gemeinschaft im Vorgang gemeinsamer Bewegung im Stadtraum abzielt. 24 Dies 21 Alkemeyer 2004, 72. 22 Alkemeyer 2004, 62. 23 Alkemeyer 2004, 62. 24 Zu Formen theatraler Gemeinschaft vgl. Kapitel 6 und 11. Zum Begriff der Distribution im performativen Kontext vgl. Balme 2010, 41-54 sowie ders. 2014, 174-202.

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bedeutet zugleich, dass realphysische Vergemeinschaftungsmomente im Falle von Parkour nicht durch Boykott medialer Möglichkeiten erfolgen, wie es der zentrale Stellenwert des Internets zu Kommunikations- und Distributionszwecken zeigt. »Durch globale Kommunikationskanäle wie das Internet werden Trendphänomene in immer kürzerer Zeit global transportiert und gerade entdeckt, lösen sich viele dieser zu Szenen verdichteten Erscheinungen schon wieder auf oder werden in anderen Kontexten abermals aktuell.«25 Solche Formen der Bewegung kennzeichnet eine Gleichzeitigkeit von der Zugehörigkeit zu globalen Netzwerken und einer Eingebundenheit und Aneignung lokaler Räume.26 Via weltweit vernetzter Kommunikation im Internet werden dabei mögliche Strategien verhandelt, lokalen wie auch individuellen Grenzverläufen zu begegnen und eine dosierte und gezielte Einbindung des Medialen in die Lebenswelt bei gleichzeitiger Aufwertung körperlicher Erfahrung zu erzielen. Es lassen sich zusammenfassend bei der sportlich-performativen Praxis des Parkour auf verschiedenen Ebenen Momente der Grenzverhandlung beobachten: Neben konkret-räumlichen Grenzüberwindungen, bei welchen Grenzen zu Schwellen umgedeutet und städtische Undurchlässigkeiten – wie die der Privatisierung – außer Kraft gesetzt werden sowie dem Spiel mit den Grenzen körperlicher Kapazitäten und physikalischer Machbarkeiten und Widerstände, werden auch gesellschaftliche Leitbilder, wie die Ökonomisierung alltäglicher Mobilität, das Ziel reibungsloser Raumüberwindung ohne Zeitverlust oder die Kommerzialisierung von Passagenräumen in ihrer Begrenztheit und Begrenzungsfunktion hinterfragt. Damit lassen sich Parkour-Läufer für die kulturwissenschaftliche Analyse als »Seismografen ihrer Zeit«27 bezeichnen, die eine städtische GegenBewegung entwerfen und damit Gesellschaftsprozesse spiegeln, Kanalisierungseinflüssen aus dem Weg gehen und eine Heterogenisierung von Bewegungsoptionen vollziehen. Durch die Emanzipation von eingefahrenen, mit Spurrillen versehenen Routen mittels des Legens eigener, ephemerer Spuren im Erproben noch nicht betretener Wege, wird ein transitorischer, performativer Mobilitätsspielraum erzeugt; dieser inkludiert jedoch nur jene, die sich körperlich dazu befähigen (können), diese in Anspruch zu nehmen. Jeder muss in dieser ich-bezogenen Form der Stadtaneignung seine eigenen, individuellen Bewegungsräume herstellen und körperlich einlösen, da ein stellvertretendes Bahnen von Wegen für andere nicht möglich ist. Dabei entstehen gewissermaßen städtische Bewegungsspezialisten, die Fertigkeiten ausbilden, welche für den alltäglichen Gebrauch nicht dienlich erscheinen und eher für ein Leben in freier Natur benötigt würden. Damit entziehen sich die traceure gängigen Effizienzlogiken, wählen dabei aber einen Weg äußerster Bewegungseffizi25 Bauer 2010, 15. 26 Vgl. Bauer 2010, 151. 27 Bauer 2010, 15.

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enz. Somit schlagen sie sich durch den ›Großstadtdschungel‹ und verschaffen sich durch eine Art Übererfüllung der Norm eine Freiheit gegenüber derselben, die anderen städtischen Passanten im Wortsinne verbaut bleibt. Mit dem Exkurs zu dieser urbanen Bewegungspraktik, die auch etymologisch als Ex-Kurs (im Sinne von ex = aus oder heraus und cursus = Lauf) umschrieben werden kann, wird das Spannungsfeld zwischen Be- und Entgrenzung der Mobilität sowie der Umgang mit körperlichen und räumlichen Widerständigkeiten um eine weitere Facette ergänzt. Dieser bildet zugleich einen Über-Gang von der somatischen, rhythmisierten Mobilitätserfahrung bei Schwarztaxi, bei welcher ebenfalls mit Grenzüberwindung gespielt wird, jedoch anstelle der Eigenständigkeit des Theaterteilnehmers der Moment der Auslieferung tritt, und dem nachfolgenden Beispiel Eichbaumoper, bei der es sich ebenfalls um eine Raumaneignung durch Individuen handelt, die jedoch nicht die Entgrenzung zum Ziel hat, sondern sich auf einen umgrenzten Raum und dessen Transformationspotenziale fokussiert.

6 Initiativen temporärer Verortung im Durchgang – Die Eichbaumoper von Raumlabor Berlin

Feierabendverkehr beherrscht die Straßen zwischen Essen und Mülheim an der Ruhr und auch die Pendler, die sich für die Fahrt mit der U-Bahnlinie 18 entschieden haben, stehen dicht gedrängt. Auf ihrem Weg nach Hause telefonieren die meisten der Mitfahrenden mit dem Handy oder hören per Kopfhörer Musik. Plötzlich beginnt eine junge Frau eine zeitgenössische Opernarie zu singen. Nach und nach stimmen weitere der zuvor nicht von den übrigen Passagieren zu unterscheidenden Umstehenden in den Gesang ein und inmitten des alltäglichen, routinierten Durchgangsverkehrs entspinnt sich der erste Akt einer Oper, der Eichbaumoper1,

1

Die Eichbaumoper (Konzept: Jan Liesegang, Matthias Rick (Raumlabor Berlin), Regie: Cordula Däuper, Dramaturgie: Sabine Reich, Anna Melcher, Matthias Frense) besteht aus drei separaten Kurzopern, die von unterschiedlichen Komponisten stammen: Entgleisung! Eine Kammeroper (Komposition/Text: Ari Benjamin Meyers/Bernadette La Hengst, Musikalische Leitung: Askan Geisler), Simon der Erwählte (Komposition/Text: Isidora Zebeljan/Boris Cicovacki, Musikalische Leitung: Bernhard Stengel) und Fünfzehn Minuten Gedränge (Komposition/Text: Felix Leuschner/Reto Finger, Musikalische Leitung: Clemens Jüngling). Als weitere Opernprojekte in Passagenräumen lassen sich exemplarisch folgende Produktionen nennen: Paulinenbrücke. Musiktheater für 6 Darsteller und Orchester (Daniel Ott, 2009, Staatsoper Stuttgart), [email protected] (Andreas Baesler, Kristian Frédic und Carlo Cerciello, Gluckfestspiele 2010, Nürnberger Unterwelt), Die Zauberflöte in der U-Bahn (Christoph Hagel, 2008, U-Bahn Station Bundestag Berlin.) und La Traviata im Hauptbahnhof (Adrian Marthaler, 2010, Hauptbahnhof Zürich, vgl. Kapitel 12).

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konzipiert von Raumlabor Berlin, in der Regie von Cordula Däuper.2 Nach einigen Minuten fährt die U-Bahn in der Station ›Eichbaum‹ ein – die namensgebend für das Projekt, das im Juni 2009 Premiere feierte, ist. Am Gleis steht ein Flügel, etwas weiter hinten ein ganzes Orchester. Die aussteigenden Passagiere befinden sich nun inmitten des zweiten Aktes der Oper und werden vom Gleis aus in den oberen Bereich der Haltestelle geführt, wo schließlich der dritte Akt zur Aufführung kommt. Im Anschluss nehmen die Theaterbesucher auf einer Tribüne Platz, von welcher aus sie eine Übersicht über die gesamte Station, die regelmäßig einfahrenden U-Bahnen und die vorübergehenden Passanten haben, die sich mit dem Operngeschehen mischen. Das Libretto besteht aus Lebens- und Alltagsgeschichten die sich um die UBahnstation spinnen, die musikalische Verarbeitung ist durchwirkt von Alltagsgeräuschen, die in die Musik integriert sind und durch das ›live‹ zu hörende Rattern und Quietschen der U-Bahn, die während der Aufführung ihren regulären Fahrbetrieb weiterführt, ergänzt werden. In Auseinandersetzung mit der U-Bahnhaltestelle Eichbaum, die im folgenden Abschnitt näher betrachtet werden soll, thematisiert die Opernproduktion die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten heutiger Verortung in mobilen Zusammenhängen. Anders als bei Schwarztaxi, bei welchem die ›erfahrene‹ Erprobung von Geschwindigkeit und Mobilität und deren Grenzen im Mittelpunkt stehen und auch anders als bei Parkour, bei welchem es um eine situative Raumerschließung und Grenzüberschreitung geht, liegt bei diesem Beispiel der Fokus auf der Raumanordnung, dem zweijährigen Produktionsprozess sowie der Einbindung in die Umgebung. Da die für den gesteckten Rahmen relevanten Aspekte sich mehr in der Konzeptanordnung und den Vorarbeiten niederschlagen als in der Aufführung selbst, werden inhaltliche, musikalische und ästhetische Aspekte hier nicht weiter ausgeführt. Passagenraum Eichbaum Die spezielle Setzung, die dem Projekt zugrunde liegt, ist die Auswahl eines Ortes, der in seiner bisherigen Nutzung dem Verortungsgedanken in mehrfacher Hinsicht konträr entgegenstand, wie sich bereits in der architektonischen Anlage andeutet: »Eichbaum ist ein Synonym (oder ein Symptom) für eine Vision, die Ende der 60er Jahre im Ruhrgebiet konkret wurde, nämlich Modernität und Mobilität zu vereinen.«3 An der stark frequentierten Bahnlinie U18 gelegen, die in hoher Taktung zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen verkehrt, stellt sie für viele Berufspendler einen der zahlreichen Zwischenstopps auf ihrer täglichen Strecke dar. Des Wei2

Dieses Beispiel ist mit Fokus auf Fragen der Subjektkonstitution Gegenstand des Aufsatzes »Subjektverortung – Subjektpassage. Der Bahnhof als theatraler Raum« (vgl. Wehrle 2012).

3

http://www.eichbaumoper.de/wordpress/?p=202 (Stand: 15.5.2013).

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teren ist die Haltestelle durch ein Autobahnkreuz überbaut, durch welches eine der meistbefahrenen Autobahnen Deutschlands, die A 40, führt. Die links und rechtsseitig der U-Bahn gelegenen Mülheimer Wohngebiete des Stadtteils Heißen werden durch die Bahntrasse voneinander getrennt. Möchte man von der einen auf die andere Seite gelangen, bietet die Unterführung der U-Bahnstation die einzige Passagenmöglichkeit im weiteren Umkreis, wodurch der Ort auch für Fußgänger ein Nadelöhr des Durchgangs darstellt: »Eichbaum befindet sich dicht an der Stadtgrenze Mülheims, im Stadtteil Heißen. Nördlich und südlich des Eichbaums liegen die bereits im 20. Jahrhundert erbauten Wohnsiedlungen, die bis heute ihren Charakter und ihre Namen bewahren konnten: Die Zechenkolonie der Blumendellerstraße und die Krupp-Siedlung Heimaterde sowie die Siedlung in der Mausegattstraße. Eichbaum ist aus allen Himmelsrichtungen die Kreuzung, um einen Weg hinaus zu finden: in das auf einem ehemaligen Zechengelände errichtete RheinRuhrZentrum, in die Innenstädte Mülheims oder Essens, in das Ruhrgebiet – oder um Heimzukehren. Die Bewohner begegnen sich kurz auf dem Bahnsteig und gehen wieder in ihre Himmelsrichtung - der Ort erfüllt seinen Zweck, doch indem er West und Ost verbindet, trennt er Nord von Süd.«4

Wie am Beispiel der architektonischen Konstruktion der U-Bahnhaltestelle exemplarisch sichtbar wird, entfalten bauliche Arrangements eine Wirksamkeit, die sich auf das menschliche Handeln und (Inter-)Agieren auswirkt, wie auch Lars Frers betont: »Das Design und die Anordnung der Dinge steht [sic!] in intimer Beziehung zu ihrer Handhabbarkeit und Veränderbarkeit. Je fester die Dinge verankert sind und je größer ihre Masse und ihr Volumen, desto stärker wirken sie auf eine Weise ordnend, die nur unter großem Energieaufwand überwunden oder aus dem Weg geräumt werden kann. Die Tür weist bereits eine verhältnismäßig große Stabilität auf, aber sie ist nur der schwächste Teil der Wand, die sie umgibt. Wände, Türen, Geländer, Tafeln, Fahrzeuge, Stände und Buden, Wasserflächen, Pflanzkästen und vieles andere mehr steht an seinem Platz und weicht nicht aus. So werden Gänge, Pfade oder Kanäle geschaffen, durch die die Menschen hindurch müssen.«5

Es geht hierbei nicht um Schwellenbereiche oder graduelle, habituelle Übergänge, sondern um materielle, bauliche Hindernisse. Die Rhythmisierung und Bewegung an Passagenräumen hängt zudem unmittelbar mit den funktionalen Betriebsabläufen zusammen; so wird »mit dem Blick auf die Anzeige der Zugverbindungen das Tempo häufig verlangsamt und die Anzeige genauer betrachtet – manchmal wird der Schritt nach Erkennen der Dringlichkeit der Lage auch rapide beschleunigt und 4

http://www.eichbaumoper.de/wordpress/?p=202 (Stand: 15.5.2013).

5

Frers 2007, 119.

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der gesamte Leib auf die Erreichung eines plötzlich stark an Bedeutung gewinnenden Ziels ausgerichtet.«6 All diese Komponenten »kanalisieren menschliches Handeln«7, wie dies am Beispiel der verengenden Fußgängerpassage im Eichbaum deutlich wird. Auch Richtung, Geschwindigkeit und Modus der Durchgangsbewegung werden durch diese Formen der Lenkung beeinflusst: »Eingänge, Tunnel, Brücken – sie alle bilden mehr oder weniger weite Nadelöhre für die Menschen, die sich durch sie durch bewegen müssen […]. Innerhalb dieser Kanäle werden die Menschen dichter zusammengeführt, es wird schwieriger oder unmöglich die gleichen Distanzen zu wahren, wie vor oder hinter dem Nadelöhr.«8

Bei der Alltagsnutzung des Eichbaums zeigt dies darin Wirkung, dass aufgrund fehlender Ausweichmöglichkeiten Distanzlosigkeit hervorgerufen, zugleich – beziehungsweise gerade aus diesem Grund – jedoch direkte zwischenmenschliche Nähe verhindert wird.9 Die Passagen, hier im Sinne von Durchgängen, erfolgen funktional und rasch, ohne dass sich ein Anlass zum Verweilen böte – im Gegenteil: Der Wunsch nach einem möglichst schnellen Durchqueren des Raumes wird dadurch potenziert, dass sich der Eichbaum durch die architektonische Struktur und die schlechte Einsehbarkeit der Wege zunehmend zu einem Ort geballter Kriminalität entwickelt. Überfälle und Vergewaltigungen führen dazu, dass die Assoziationen mit der Haltestelle und ihrer Umgebung zunehmend negativ geprägt sind und teilweise sogar mit dem Label des Angstraums belegt werden. Diese Tendenz lässt sich mit Frers strukturell auf vergleichbare Räume übertragen: »Die Knotenpunkte, in denen sich Kanäle überlappen, sind problematische Orte, da der Bewegungsfluss dort ins Stocken geraten kann. […] Die Knotenpunkte ähneln den Nadelöhren in der Erzeugung physischer Nähe, aber sie unterscheiden sich dadurch, dass sie weniger klar gerichtet sind. Um es in einer physikalischen Sprache auszudrücken: wenn sich mehrere (Menschen)Ströme kreuzen, kommt es zu Verwirbelungen und Strudeln und das gesamte System wird chaotischer, als wenn ein Strom ruhig sein Bett entlang fließt und nur an den Rändern durch Reibung Wirbel erzeugt. Die Kanalisierung, die Ausrichtung und Bewegung der Menschen entlang bestimmter, räumlich-materiell vorgegebener Pfade, bringt […] einerseits Ordnung in die untersuchten Orte, andererseits kann sie an bestimmten kritischen Stellen – in Nadelöhren und an Knotenpunkten – aber auch systematisch Unordnung erzeugen.«10 6

Frers 2007, 74.

7

Frers 2007, 121.

8

Frers 2007, 122.

9

Zu dem Spiel mit den Konventionen zwischenmenschlicher Distanz in Passagenräumen vgl. Kapitel 12.

10 Frers 2007, 123f.

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In einem solch ambivalenten Mobilitätsraum entfaltet sich nun die Idee eines Opernprojekts, die das Ziel verfolgt, durch eine längerfristige Arbeit vor Ort diesen mit neuen Bedeutungen und Nutzungsmöglichkeiten anzureichern, der systematischen Unordnung des Passagenraums mit ordnenden Impulsen zu begegnen und zugleich Momente neuer Unordnung durch die Modifikation alltäglicher Routinen zu erzeugen. Passagenräume wie Bahnhöfe sind durchwirkt von »einem feinen und situationsspezifischen Spiel von Kräften. Die Anordnung von Dingen und Menschen im Raum schafft Relationen, schafft Nähe und Distanz.«11 In dieses Kräftespiel steigen die Initiatoren der Eichbaumoper aktiv ein und versuchen Momente zwischenmenschlicher Nähe in Räumen funktionaler Distanz und die Möglichkeit erwünschter Distanznahme – im Sinne eines Schutzraums – in Situationen raumbedingter Distanzlosigkeit zu ermöglichen. Dieses und ähnlich ausgerichtete Projekte lassen sich beschreiben als »Versuch der Relokalisierung des Subjekts, ein Widerstand gegen das Verschwinden des Raums im Rausch der Geschwindigkeit. In der Kultivierung der Nahsinne, dem Wahrnehmen der auditiven, taktilen und olfaktorischen Reize des topographischen Umfelds könnte die Schlüsselqualifikation zur Wiederentdeckung des gelebten Raums der unmittelbaren Erfahrung liegen.«12

Denn messen wir – wie Sennett es formuliert – heute in vielen Fällen, wie bereits im Kontext des Parkour-Laufens erwähnt wurde, »[…] städtischen Raum daran, wie leicht wir ihn durchqueren und verlassen können«13, womit neben der bereits ausgeführten Beschleunigung auch eine Funktionalisierung und Kommerzialisierung von Übergängen einhergeht, versucht Raumlabor Berlin mit dem Opernprojekt einen Kontrapunkt zu setzen und gerade in dem Passagenraum U-Bahnstation eine Einladung zum Verweilen und zur Relokalisierung an einem Passagenraum auszusprechen. Im Gegensatz zu einer funktionalisierten und gesteuerten Form der Retardierung, wie diese beispielsweise durch Werbeflächen zu Stande kommt, soll dabei auch Raum entstehen für die Wahrnehmungsvorgänge des Einzelnen, der die lokalen Spezifika des scheinbar auswechselbaren Raumes zur Kenntnis nimmt. Denn bei Passagenräumen steht die Häufigkeit der Frequentierung meist nicht im Verhältnis mit dem ›Bekanntheitsgrad‹ des Ortes, da die Konzentration nicht auf die Gegenwart und das momentane Raumerlebnis gerichtet ist, sondern auf die nahe Zukunft, das anvisierte Ziel, welches man mit Hilfe des Passagenraumes erreichen möchte – sei es bei Bahnhöfen das Reiseziel, bei Shopping Malls der Laden oder 11 Frers 2007, 111. 12 Fischer 2011, 34. 13 Sennett 1995, 24.

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bei Hausfluren die Wohnung. Durch die theatrale Retardierung entsteht Raum zur Betrachtung des umgebenden Raums, wo zuvor nur darauf zu achten war, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen ohne dabei mit anderen Passanten zu kollidieren. Zudem werden Rezeptoren für die Wahrnehmung der eigenen Handlungen und Bewegungen wie auch für die der anderen Menschen frei. Mithilfe welcher Strategien diese Form des Innehaltens in einem Mobilitätsraum bei der Eichbaumoper umzusetzen versucht wird, wird im Folgenden genauer ausgeführt. Passage und Unterbrechung Bahnhöfe sind als Verkehrsknotenpunkte Verdichtungsräume von Mobilität, Aufbruch, Ankunft und Warten. Sie dienen Menschen als Ausgangspunkte, Zwischenhalte und Zielpunkte zurückzulegender Strecken. Dabei sind sie geprägt durch eine Gleichzeitigkeit vieler disparater Publikumsströme, die eine dauerhafte, vielschichtige Grundbewegung mit sich bringen. Denn obwohl Zeit und Pünktlichkeit an Bahnhöfen im Mittelpunkt stehen und die Bahnhofsuhr als Inbegriff städtischer Verständigung auf eine gemeinsame Zeitrechnung bezeichnet werden kann, ist der Rhythmus des Bahnhofsgeschehens und der dortigen Passanten sehr polyvalent, da es meist weder ein gemeinsames Ziel noch einen einheitlichen zeitlichen Rahmen gibt.14 Substantiell für die Projektidee ist es, dass die diversen Bewegungen, die den Raum kreuzen, während des Opernereignisses nicht unterbunden oder umgeleitet werden. Der Eichbaum wird während der Aufführung nicht abgesperrt und bleibt somit für Passanten jederzeit zugänglich. Verstärkt wird dies dadurch, dass es nicht nur räumlich sondern auch zeitlich keine eindeutige Abgrenzung gibt, da sich die Oper – wie bereits beschrieben – inmitten einer alltäglichen U-Bahnfahrt entspinnt. Anfang und Ende der Aufführung sind auf diese Weise mit dem Alltagsablauf verzahnt und gehen fließend ineinander über. Dadurch, dass der tägliche U-Bahnbetrieb in gewohnter Weise weiterläuft, mischen sich auch auf akustischer Ebene die Klänge des Orchesters und der Sänger mit dem Rattern der Bahnen und den Geräuschen zufälliger Passanten. Auch auf Ebene des Personals setzt sich das Prinzip der Durchmischung alltäglicher und inszenierter Elemente fort, sodass Akteure, Statisten, Mitarbeiter, Theaterteilnehmer, Passanten und Schaulustige zeitweise schwer zu unterscheiden sind. Auf der Ebene der konkreten Bewegung entsteht somit eine Durchlässigkeit auf räumlicher, zeitlicher, akustischer und personeller Ebene, die dem Einzelnen überlässt, ob er seiner gewohnten Routine folgt, oder ›aussteigt‹ und sich dem Theaterereignis öffnet. Unabhängig von der Entscheidung kommt man jedoch nicht umhin, zumindest für einen kurzen Moment in das Ge14 Zu Bahnhöfen im Zusammenhang mit dem Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit vgl. Kapitel 12.

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schehen involviert zu sein. Diese Beobachtung der Heterogenisierung von Handlungsmöglichkeiten und einer Diversifizierung von Raumpraktiken entwickelt eine besondere Dynamik vor der Folie des Leitbildes reibungsloser Mobilität und Durchlässigkeit, auf welche Architektur und Infrastruktur von Passagenräumen wie dem Eichbaum ausgerichtet sind: Angestrebt wird dort, wie bei der Beschreibung des Raumes angemerkt, ein gleichmäßiger und linearer Bewegungsstrom, dessen Passanten sich nicht in die Quere kommen sollen, um möglichst schnell ihr angestrebtes Ziel zu erreichen. Denn – so äußert Schroer überspitzt: »Der andere Bürger taucht für alle, die sich täglich in der Stadt begegnen, in der Tat als Widerstand in einem Strom der Bewegung auf, der ein schnelleres Vorankommen, ein rascheres Erreichen des Ziels verhindert. Insofern ist der Bürger als Passant zunächst nichts weiter als eine ärgerliche Tatsache.«15 Verselbständigt sich diese Logik, die sich auf gesellschaftlicher Ebene nicht nur in einer erhöhten Bewegungsgeschwindigkeit, sondern ebenfalls in einer immer höheren Frequenz im Hervorbringen neuer (technischer) Erfindungen ausdrückt, gerinnt – wie bereits im Kontext einleitender Ausführungen zu Mobilität beschrieben – Beschleunigung zum Selbstzweck. Das Ziel wird zweitrangig hinter dem Streben nach unaufhörlicher Steigerung. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von dem in der Moderne fußenden und heute zur vollen Entfaltung gelangten Grundsatz, den er bezeichnet als »reines Sein-zur-Bewegung«16. Und auch Franke resümiert: »Das Kennzeichen unserer Zeit ist ihre Dynamik. Sie zeigt sich u.a. darin, dass die Erfahrungen und das erworbene Wissen immer kürzeren Halbwertzeiten unterliegen, wodurch der Eindruck entsteht, wer sich nicht bewegt, bleibt zurück und wer zurück bleibt, ist verloren. So und ähnlich lauten die Parolen einer Gesellschaft, in der die Entdeckung der Langsamkeit auch als Entdeckung präsentiert werden kann, ohne jedoch letztlich Wirkung zu zeigen. Veränderung ist angesagt, wobei oft nicht nur das Ziel ungewiss und die Wege umstritten sind, sondern letztlich auch unklar bleibt, was im Prozess der Veränderung die Veränderung ist.«17

Damit wird deutlich, dass es sich bei dem Phänomen der Beschleunigung und der Mobilität um eine systemische Entwicklung heutiger Zeit handelt, nicht vorrangig um eine individuelle Herausforderung an das Zeitmanagement des Einzelnen, die eher als Konsequenz zu beschreiben wäre.18

15 Schroer 2006, 246. 16 Sloterdijk 1989, 37. 17 Franke 2004, 109. 18 Vgl. dazu das Interview mit Rosa, Hartmut: »Die kommenden Tage: Risiken und Chancen in der Wissensgesellschaft« im Rahmen der HORIZONTE Expertengespräche im

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Mit der ›Entdeckung der Langsamkeit‹ 19 ist der Versuch einer Gegenbewegung angedeutet, die komplementär zu stromlinienförmiger Beschleunigung und Verdichtung den Terminus der Entschleunigung prägt und bei welcher der Versuch unternommen wird, in Form von Zusammenschlüssen den gesellschaftlichen Dynamiken entgegenzuwirken. Widerhall findet dieser Ansatz in unterschiedlichsten Lebensbereichen wie dem Ausbau alternativer Mobilitätssysteme jenseits motorisierter Verkehrsmittel, der Slow-Food-Bewegung, dem Errichten von Hotels ohne jeglichen Mobilfunkkontakt sowie der gesteigerten Verbreitung von Entspannungspraktiken wie Yoga und Meditation.20 Auch innerhalb der ästhetischen Reflexion der Postmoderne bildet die Erprobung der Langsamkeit eine markante Spielart, wie Robert Wilsons Theater der Langsamkeit 21 oder das Slow Cinema22 stellvertretend zeigen. Theaterformen, die sich mit dem Gehen als »Szenographie der Langsamkeit«23 befassen, lassen sich als Auseinandersetzung mit dem Leitbild der Beschleunigung verstehen und grenzen sich damit von gegenwärtigen Formen institutionalisierter und interessensgeleiteter Temporeduktion in alltäglichen Passagenräumen ab: So werden – wie später weiter ausgeführt wird – beispielsweise Shopping Malls gezielt als Räume der Muße inszeniert, obgleich ein gleichmäßig fließender Menschenstrom und eine hohe Fluktuation an erster Stelle der Ziele der Raumbetreiber stehen. Diese Abweichung zwischen beschleunigten und durchstrukturierten Abläufen und der Vermittlung eines entschleunigten Eindrucks ist auch an vielen zeitgenössischen Bahnhofskonzeptionen abzulesen. Während das Weiterkommen und Umsteigen reibungsfrei organisiert werden soll, werden den Wartenden separate Areale zum Schlendern, Einkaufen, Essen, aber ebenso zum Ausruhen und ungestörten Arbeiten bereitgestellt. Dies gilt auch, neben der DB-Lounge24, in besonderem Maße für Wartebereiche in Flughäfen als Zwischenzonen der Mobilität. Möglichst viele Menschen sollen in möglichst kurzer Zeit befördert werden, die Beschleunigung wird aber nach Möglichkeit ›hinter den Kulissen‹ umgesetzt, der Passagier befindet webTV des Stifterverbandes, Juni 2011 (http://www.stifterverband.info/publikationen_ und_podcasts/webtv/rosa/, Stand: 21.7.2015). 19 Der Begriff referiert auf den Romantitel Die Entdeckung der Langsamkeit, vgl. Nadolny 1983. 20 Wie fest verankert Beschleunigungslogiken in der Gesellschaft sind, zeigt sich jedoch an den Ausprägungen einiger dieser vermeintlichen Gegenbewegungen, die selbst wiederum an den Kriterien der Effizienz und Schnelligkeit orientieren sind, wie dies exemplarisch an Massagesesseln in Einkaufspassagen oder auch Power Yoga deutlich wird. 21 Vgl. Lehmann 1999, 331. 22 Vgl. Jaffe 2014. 23 Fischer 2011, 36. 24 Zur Lounge an Bahnhöfen vgl. Kapitel 12.

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sich in Wartezonen, die teilweise beinahe wie zeitlose Schwellenbereiche wirken können. Es ließe sich somit von einer Form kanalisierter und inszenierter Entschleunigung oder Pause sprechen. Diese ermöglicht einen Moment des Verharrens und temporären Innehaltens, bei welchem jedoch, anders als bei dem Zustand der Stagnation oder des Stillstands, zugleich die Fortsetzung des Ablaufs eingedacht ist. Diese scheinbaren Leerräume werden in heutigen Passagenräumen ebenfalls stark durchstrukturiert und ausgefüllt, was auch als Hinweis auf eine Angst vor Leere, ein Auf-Sich-Selbst-Zurückgeworfen-Sein, oder das Unbehagen vor dem entstehenden Raum für zwischenmenschliche Kommunikation gedeutet werden kann. Fiele dieses Auffüllen der Zwischenräume weg, würde gewissermaßen das Selbst der Menschen ohne stützendes Korsett, wie es die zielgerichtete, zweckgebundene Passage zu bieten scheint, hervortreten.25 Die Eichbaumoper bemüht sich um einen theatralen Entwurf, der weder eine zweckgebundene Verlangsamung, noch eine rein funktionale Passage oder das genannte Vermeiden eines Moments des Zwischen befördert. Stattdessen erfolgt ein programmatisches Spiel um Verharren und Passieren, Muße und Funktionalität, wodurch sich eine Ambiguität von Durchlässigkeit, Transparenz, Hybridität und Grenzziehung entfaltet.26 Eine Veränderung des Passagenraums und der dortigen (Bewegungs-)Praktiken kann in diesem Ansatz zugleich »Veranlassung zu verschiedenen Neuausrichtungen sein, die sich in der leiblichen Positionierung der Akteure zeigen.«27 Die Eichbaumoper fügt in diesem Sinne dem eingeschliffenen Betriebsablauf einen Anlass zur Neuausrichtung hinzu, die sich auch auf die Formen der Begegnung und Beteiligung auswirkt. Involvierung und Demokratisierung Auch vor Beginn des Projekts war der Eichbaum Treffpunkt für Jugendgruppen, die sich dort versammelten und einen Rückzugsraum im städtischen ›Abseits‹ fanden, der somit nicht für alle mit der Assoziation des Angstraums, sondern in den Augen vieler Jugendlicher auch mit jener des Freiraums verbunden war.28 Die Nutzung als Versammlungsraum ist folglich keine gänzlich neue Idee und die Neuausrichtung bezieht sich eher auf die Form der Begegnung, bei welcher die bis dato herrschende hohe Kriminalitätsrate herabgesetzt und die U-Bahnstation für alle Benutzer- und Interessensgruppen zu einem begehbaren und begegnungsreichen Raum werden soll:

25 Zur Thematik zwischenmenschlicher Distanzverhältnisse in Passagenräumen vgl. Kapitel 12. 26 Zum Thema Schwellen und Grenzen vgl. Kapitel 2.2. 27 Frers 2007, 74. 28 Vgl. Haury 2010, 4.

146 | P ASSAGEN ZWISCHEN M OBILITÄT & V ERORTUNG »Die geringe Auslastung dieses Transitraums und das daraus resultierende Abhängen, Trinken und Taggen der Jugendlichen verursacht bei Einzelnutzern ein Gefühl von Auslieferung und Angst. Wäre es also wünschenswert zukünftig einen Differenzraum zu schaffen, der beide Akteure berücksichtigt und den Ort für viele Nutzer attraktiver macht?«29

Mit diesem Ansatz zur Neuausrichtung ist der Anspruch verbunden, die Veränderungen und Impulse nicht ›von oben‹ zu implementieren, sondern eine Demokratisierung des Kunstereignisses und -prozesses anzustreben.30 Diese Zielsetzung schlägt sich von Beginn an in Konzeption und Durchführung nieder: Bereits zwei Jahre vor der Premiere stellt sich das Team mit Vertretern von Raumlabor Berlin, in Zusammenarbeit mit dem Ringlokschuppen Mülheim, dem Musiktheater im Revier und dem Schauspiel Essen den täglichen Passanten in den Weg. In einer sogenannten Opernbauhütte, bestehend aus einem Containerbau, der Raum bietet, um darin zu arbeiten, zu planen, zu entwerfen und zu bauen, und der in der Vorbereitung seitens des Planungsteams durchgehend besetzt war, manifestiert das Projekt seine physische Präsenz vor Ort. Zugleich fungiert die Bauhütte als Gesprächsraum und Aussichtsplattform, von der aus man die Haltestelle und die dort ablaufenden Geschehnisse überblicken kann. Des Abends bietet der Eichbaum in dieser Phase zudem die Möglichkeit zu feiern, grillen und Fußball zu schauen, wodurch Grundsteine für dessen Nutzung als Aufenthaltsraum gelegt wurden. Somit wird nicht nur die Annahme etabliert, dass durch das Beleben des Raumes auch dessen Bedrohlichkeit sinkt, auch wurde sichtbar und anschlussfähig vorgelebt, dass der Eichbaum nicht nur als Durchgangsraum sondern auch im Sinne eines Verortungsangebots dienen kann. Die frühen Reaktionen zeigen sich ambivalent: Erstes Interesse und Neugier gegenüber dem Projekt werden ebenso geweckt, wie Irritationen bezüglich der ungewohnten Nutzung des Ortes oder auch Ablehnung mit dem Vorwurf der Ghettoisierung. All diese Reaktionen bieten in ihrer Weise Anknüpfungspunkte für erste Gespräche mit Passanten und Anwohnern. An diese ersten Kommunikationen schließt sich die gezielte Bitte an die Anwohner an, konkret an der Entstehung einer Oper für ihre U-Bahnstation teilzuhaben, sie nach den eigenen Vorstellungen zu prägen und Texte und Geschichten aus ihrem eigenen Leben und von ihren Erfahrungen mit dem Ort Eichbaum beizutragen: »Drei Komponisten und drei Autoren haben drei völlig verschiedene Opern geschrieben die eines verbindet: sie sind an der Haltestelle Eichbaum und in Zusammenarbeit mit den Nachbarn dort entstan-

29 Krauth 2010, 16. 30 Es lassen sich an dieser Stelle Querverbindungen zu dem Konzept der Bürgerbühne vornehmen, das nach dem Dresdner Vorbild seit 2009 zunehmend Verbreitung findet (vgl. Kurzenberger/Tscholl 2014).

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den. Sie haben sich inspirieren lassen vom Lärm und den Geräuschen der Autobahn, sind geschrieben im Takt der U-Bahn.«31 Begleitet wird der Prozess durch weitere Formen der Beteiligung, die teilweise auch im Vorbeigehen und anonym erfolgen können. Während der Vorbereitungszeit, dem sogenannten ›Eichbaumcountdown‹32, können die Jugendlichen der Umgebung in Workshops Konzepte für den Passagenraum entwickeln. Eines der Elemente stellt dabei eine Ideentafel auf einer alten, leeren Plakatwand dar, welche die Möglichkeit bietet, dort seine Wünsche und Ideen für den Ort sichtbar werden zu lassen.33 Das entstehende Schriftbild dient somit als Stimmungsbarometer bezüglich des konkreten Projekts sowie als Sprachrohr des Einzelnen für den Entwurf produktiver Urbanitätskonzepte. Über das in diesem Sinne genutzte Potenzial künstlerischer Projekte im Stadtraum schreibt auch Klein: »Wie Urbanistik und Architektur Bilderwelten des städtischen Raumes produzieren, ist auch die Kunst eine Produzentin kultureller Deutungs- und Erzählformen dessen, was wir ›Stadt‹ nennen. Ihre Lesart ist die einer ästhetischen Praxis: Über eine Art ästhetischer Kartierung lanciert auch sie ein Repertoire an Vorstellungen, Bildern, Wahrnehmungen und Erfahrungen des Urbanen.«34

Die geschilderten Begleitaktivitäten während der Planungsphase und die Folgeprojekte nach Abschluss der Opernproduktion zielen darauf ab, die Vereinheitlichung von Durchgangsräumen, die im Sinne Augés Nicht-Ort-Konzepts35 auf ungetrübter Funktionalität basiert, zu durchbrechen.36 Die Wiedererkennbarkeit des spezifischen Raums soll zum einen daraus erwachsen, dass die Nutzer diesen durch Bewegungsmodi und Handlungsweisen, die sich reiner Pragmatik entziehen, mitformen.

31 http://www.eichbaumoper.de/wordpress/?p=821 (Stand: 15.5.2013). 32 Vgl. http://raumlabor.net/eichbaum-countdown/ (Stand: 5.6.2014). 33 In der Folgezeit wurden einige der Ideen konkretisiert, beispielsweise eine Hall of Fame, an denen Sprayer ihre Ideen verwirklichen können (vgl. Krauth 2010, 17). 34 Klein 2005a, 15f. 35 Vgl. Augé 2010. Zum Begriff des Nicht-Orts vgl. Kapitel 1, 6 und 8. 36 Zum Zusammenhang von Funktionalisierung und Vereinheitlichung schreibt Sennett: »Das Aussehen des städtischen Raums, das von diesen Bewegungsmächten versklavt wird, ist notwendigerweise nichtssagend: der Fahrer kann nur bei einem Minimum an Ablenkungen sicher fahren; gutes Fahren erfordert genormte Straßenschilder, Leitplanken und Straßen ohne eigenes Straßenleben – abgesehen von den anderen Fahrern. In dem Maße wie der städtische Raum zur bloßen Funktion der Bewegung wird, ist er auch weniger stimulierend; der Fahrer will den Raum durchqueren, nicht durch ihn angeregt werden.« (Sennett 1995, 24.)

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Zum anderen sollen die grauen Wände der Haltestation zu Ausdrucks- und Einschreibefläche von Ideen eines (utopischen) urbanen Raums werden. Die Möglichkeiten zu direkter Teilhabe beschränken sich jedoch nicht auf die Vorbereitungs- und Konzeptionsphase – die Anwohner und Passanten werden ebenfalls in den Proben- und Aufführungsprozess einbezogen. So besteht der Chor wie auch die gesamte Statisterie größtenteils aus Bewohnern der Umgebung. Dadurch kommt während der Aufführung, wie anfangs bereits angedeutet, eine Durchmischung bis hin zur Ununterscheidbarkeit von Passanten und Akteuren zustande, da die alltäglichen Raumnutzer – teilweise beabsichtigt, teilweise unbeabsichtigt – Teil des Bühnengeschehens werden. Das programmatische Vorhaben demokratisierter Durchlässigkeit betrifft zudem nicht ausschließlich die Ebene der Bewegung oder Besetzung, sondern setzt sich auch in der Konzeption der Eichbaumoper bezüglich der Grenzen des Zielpublikums und des Kunstbegriffs fort. Gehört die Oper in ihrer Rezeptionstradition mehr noch als das Sprechtheater der Sphäre der Hochkultur an, so werden die dichotomischen Grenzziehungen zwischen Hoch- und Populärkultur in dieser Produktion programmatisch ausgestellt und unterlaufen: Dies lässt sich anhand der räumlichen Positionierung in einem Alltagsraum abseits hochkultureller Knotenpunkte ebenso nachzeichnen wie mittels der Verwendung biographischer Erzählungen der Anwohner als Grundlage des Plots, anstelle entrückter Charaktere. Hinzu kommt die Wahl Neuer Musik und deren Kombination mit diversen unterschiedlich kulturell kodierten Einflüssen, die sich in der durchmischten Zusammensetzung des Ensembles aus Sängern des Opern- wie des Populärbereichs fortsetzt. Einen ähnlichen Ansatz wählt die Produktion Die Zauberflöte in der U-Bahn, die im Mai und Juni 2008 im U-Bahnhof Bundestag in Berlin kurz vor dessen Einweihung stattfand und bei welcher Jan Plewka, Sänger und Songwriter der Gruppe Selig begleitet durch die Berliner Philharmoniker die Partie des Papageno übernahm.37 Anders als bei der Eichbaumoper handelte es sich hierbei jedoch um einen Raum, der zum Zeitpunkt der Aufführung noch nicht als Passagenraum in Betrieb genommen wurde und daher zwar die Strukturen, aber noch nicht die Handlungsund Bewegungsabläufe eines Alltagsraums in das Ereignis einbringt. Neben diesem Aspekt, der sich auf eine Durchmischung auf der Produktionsseite bezieht, setzt sich das Verwischen der Grenzen in der Publikumsstruktur und den mit dem Ereignis verbundenen gesellschaftlichen Codes fort: Um Teil des Opernpublikums zu sein, bedarf es keiner bestimmten gesellschaftlichen Positionierung oder eines Verhaltens- beziehungsweise Kleidungskodex. Auch ist es für die Anwohner nicht notwendig, sich aus dem eigenen Stadtteil in die Innenstadt zu be37 Die Zauberflöte in der U-Bahn unter Regie von Christoph Hagel fand 2008 in der U-Bahn Station Bundestag Berlin vor deren offizieller Eröffnung statt. Für weitere Informationen zur Produktion vgl. http://www.die-zauberfloete-in-der-u-bahn.de/ (Stand: 8.10.2014).

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wegen, wobei Passagenräume durchlaufen werden müssten, die gegebenenfalls nicht zur eigenen Lebenswelt gehören. Des Weiteren nivelliert die Eichbaumoper mögliche Schwellen oder Grenzen, die ein Opernhaus – oder die Vorstellung davon – in seiner prunkvollen Rahmung und Abbildung gesellschaftlicher Hierarchien durch Logen und Ränge impliziert. Inmitten des eigenen Alltagsraums und damit außerhalb geschlossener Kunsträume öffnet sich die Kunstform Oper auf diese Weise einem breiten Publikum, holt die Menschen auf ihrem Alltagsweg ab, worin sich der Wunsch nach künstlerischer Demokratisierung ablesen lässt. In diesem Sinne äußern Anwohner, dass sie sich erstmals eingeladen gefühlt haben, eine Oper zu besuchen, so beispielsweise Adelheid Höning: »Das ist jetzt eine Oper für den kleinen Mann, der so mit dem Kittel, den er grad anhat reingeht, statt in Gala.«38 Es gilt jedoch einschränkend anzumerken, dass die Durchlässigkeit, die auf die Konzeptionsphase zutrifft, während des Aufführungsverlaufs selbst teilweise eingeschränkt ist. Zwar bleibt die Station offen für Durchgangsbewegungen, sodass weiterhin Passanten den Eichbaum und somit zugleich die ›Bühne‹ durchqueren können, jedoch werden durch die Geschlossenheit des U-Bahnzuges und des Tribünenaufbaus im zweiten Teil, bei dem das Publikum frontal zum Bühnengeschehen angeordnet ist und zu welchem man um den vollen Überblick zu erhalten eine Eintrittskarte benötigt, Abgrenzungs- und Ausschlussmechanismen erzeugt. Konzepte passagerer Nachbarschaft Trotz dieser Einschränkung weist das Konzept seiner Grundanlage nach Querverbindungen zur in der Ritualforschung beschriebenen Gleichheit unter den Teilnehmenden beziehungsweise ›Passierenden‹ von Übergangsritualen auf. So beschreibt Turner eine Aufhebung sozialer Unterschiede, Hierarchien und Machtverhältnisse in der liminalen Phase, wodurch eine Begegnung von Mensch zu Mensch, nicht von Funktionsträger zu Funktionsträger ermöglicht wird. Leitet sich bei Turner aus dieser Phase die Entstehung einer Communitas ab, bei welcher für die Zeit des Ereignisses soziale Unterschiede abgebaut werden und eine temporäre Gleichberechtigung herrscht, gilt es zu fragen, welches Konzept von Gemeinschaft und Dehierarchisierung bei der Eichbaumoper zugrunde liegt.39 Als Ausgangspunkt dient die Beobachtung, dass hier der Versuch unternommen wurde, die tägliche Nutzung eines Raumes und dessen Umgebung auch mit einem identifikatorischen Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühl zu verknüpfen und damit eine Bindung an den Ort jenseits seines bloßen pragmatischen Gebrauchs zu initiieren. Durch die 38 Deutschen Welle, DW-TV: Kultur.21/Ein U-Bahnhof wird zum Opernhaus. 8.7.2009. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=UPG5y-nAfgM, Stand: 8.10.2014. 39 Zum Thema Gemeinschaft vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.2 sowie Turner 1998, 251264 und Warstat 2005b und 2009.

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gemeinsame Arbeit an einem Projekt sollte so ein Kommunikationsraum geschaffen werden, der auf die Veränderbarkeit von Räumen durch Bündelung disparater Kräfte verweist. Ohne die Mobilität zu durchbrechen wird damit ein Verortungsgedanke gestärkt, der eng mit dem Raum verbunden ist, sich jedoch erst durch Mitwirkung und Bereitschaft zu Dynamisierung einlöst.40 Das Projekt ließe sich somit beschreiben als Anregung zur Einverleibung des Raumes und zur Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt als gestaltbarem Möglichkeitsraum. Einen solchen Gemeinschafts- und Verortungsgedanken, der das Prinzip der Bewegung, nicht des Stillstands in sich trägt, benennt Gebauer im Kontext der Gemeinschaftsbildung im Sport als »Gemeinschaftsmotorik«41, ein Begriff, der sich auf die theatrale Gemeinschaft in Passagenräumen anwenden lässt. Auch FischerLichte spricht von »Gemeinschaft als geteilte Erfahrung« die es den Beteiligten ermöglicht, diese »in ihrer Dynamik leiblich zu spüren und zu erleben. Zugleich wird damit Gemeinschaft als ein Phänomen ausgewiesen, das seiner spezifischen Verfasstheit nach immer nur vorübergehend zu existieren vermag, dass andauernde und stabile Gemeinschaften kaum denkbar sind.«42 Mobilität und Verortung, Transitorik und Verstetigung schließen sich, wie daran deutlich wird, nicht gegenseitig aus, sondern können in ein zeitgenössisches Konzept mobiler, flexibler Verortung und temporärer Materialisierung überführt werden: »Lokale Verbundenheit, territoriale Identität ist nicht gleichbedeutend mit Immobilität; das Territorium der Identifikation muß nicht eine statische, in sich abgeschlossene, homogene Welt sein, aber mindestens auf der subjektiven Ebene müssen sich Übereinstimmungen in einer das Subjekt umschließenden, zusammenhängenden Lebenswelt herstellen lassen, damit die eigene Mobilität nicht als schicksalshafter Mobilitätszwang und die Umwelt nicht als fremdgesteuertes, künstliches Konstrukt erlebt wird. An einem Ort beheimatet zu sein, das heißt, sich innerhalb erkennbarer Grenzen ›verankert und doch frei‹ zu fühlen.«43

Dazu gehört zudem das Loslösen von festen geographischen Grenzziehungen, die Nähe ausschließlich als geographische Nähe begreifen.44 Denn innerhalb disparater und flexibler städtischer Raumverhältnisse im Kontext der Globalisierung bietet Nachbarschaft keinen direkten Anlass zu Gemeinschaftsbildung und sozialer Nähe mehr.45 Stecken sich Stadtteilprojekte wie die Eichbaumoper das Ziel, mittels Thea40 Vgl. zur gegenseitigen Durchdringung lokaler Ereignisse und globaler Entwicklungen Kapitel III. 41 Gebauer 1999, 936-952. 42 Fischer-Lichte 2005, 246. 43 Steffen 1990, 68. 44 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel III zur Passage zwischen Nahraum und Fernraum. 45 Vgl. Schroer 2006, 240.

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ter eine solche Verknüpfung wieder zu etablieren, besteht jedoch zugleich die Gefahr, aus räumlicher Nachbarschaft einheitliche Bedürfnislagen abzuleiten. Denn der dabei vorausgesetzte Wunsch nach gemeinsamer, identifikatorischer Bindung an den Ort, kann sich ebenso als Illusion oder als eine von außen auferlegte Utopie entpuppen.46 Kommt man vor diesem Hintergrund nochmal auf den Ort Eichbaum zurück, so gilt es präzisierend zu ergänzen, dass die Entwicklung der Mobilisierung auch eine maßgebliche Veränderung der Wege und Fortbewegungsformen mit sich gebracht hat. Bezogen auf die Station, ihre Umgebung und Einbettung in das Ruhrgebiet, bedeutet dies, dass auch die Zwangsläufigkeit einer Begegnung mit dem Eichbaum herabgesetzt ist: »Die angrenzende Siedlung Heimaterde ist eine ehemalige Arbeitersiedlung der Firma Krupp, Anfang des letzten Jahrhunderts nach dem Ideal der Gartenstadt gestaltet, heute Teil der Route der Industriekultur und damit zumindest offiziell von kultureller Bedeutung. Der Großteil der erwachsenen Bewohner nutzt weder die Stadtbahn noch die Haltestelle Eichbaum. Die einstige Zuordnung der Siedlung zu ihrer Zeche ist weg, die klaren Zuweisungen von Wohnen hier und Arbeiten dort verschwimmen. Es besteht kein Ortsbezug. Jedes Individuum ist individuell mobil, in der Region verbunden über ein Netz an Straßen, die nicht als öffentlicher Raum, sondern nach der Geschwindigkeit, die sie bedienen konzipiert sind. Die ›Stadt à la carte‹ lässt jeden ihrer Bewohner individuell seine Standorte in der Region Ruhr verknüpfen. Die Straßen schaffen dabei neue Beziehungen zwischen Teilen der Stadt und trennen zugleich alte Zusammenhänge.«47

Daran zeigt sich, dass die lineare Idee einer Gemeinschaft der gesamten Umgebung, die in der U-Bahnstation ihren Verknüpfungspunkt findet und als homogene Nachbarschaft agiert, nicht trägt. Andreas Krauth plädiert in der eigens für den Eichbaum publizierten Zeitschrift Die Eichbaumer dafür, »den Eichbaum gar nicht zum Aufenthaltsraums für ALLE umwandeln [zu] wollen, sondern sich auf die Schaffung eines attraktiveren Raums für DIE gegenwärtige Benutzergruppe [zu] spezialisieren.«48 In diesem Sinne kann dieser als Verdichtungsknoten eines selbstgewählten Netzwerkes gesehen werden, welches den Passagenraum als durchlässigen Mög46 Vgl. Amann 2008, 24f. Es handelt sich dabei um ein stetes Aushandeln zwischen Intervention und Integration, zwischen einem Projekt, das die Anwohner selbst initiieren beziehungsweise weiterführen und den Impulsen von außen. Dass jedoch mit dem Projekt auch selbstläuferhafte Identifikationsprozesse ausgelöst wurden, zeigt sich symbolisch an dem Abmontieren der beiden Buchstaben O und P im Schriftzug Eichbaumoper, sodass über der Haltestelle das Wort Eichbaumer zu lesen ist (vgl. Haury 2010, 4). 47 Krauth 2010, 16. 48 Krauth 2010, 17.

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lichkeitsraum zur Entwicklung von Bindungen auffasst und eine verstärkte Hybridität gegenüber ›Neuankömmlingen‹ aufweist. Von Verortung zu Verräumlichung Den bisherigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass flexible Raumbezüge und mobile Gemeinschaftsformen nicht zwangsläufig zu einem Zustand von Ortlosigkeit führen müssen. Auch Asta Vonderau ist der Auffassung, dass es zu vermeiden gilt, »heutige Identitäten als gänzlich ortlos und fragmentiert zu brandmarken, da so die möglichen neuen Formen ihrer Lokalisierung übersehen und die grundsätzlich dynamische Natur des Verhältnisses von Raum und Identität heruntergespielt würde.«49 Im Anschluss daran und vor dem Hintergrund des relationalen Raumverständnisses, das der Studie zugrunde liegt, erscheint es zutreffender, statt von einer Verortung von einer Verräumlichung zu sprechen. Mit dieser terminologischen Unterscheidung – in erneutem Rückgriff auf die Definition de Certeaus, »ein Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht«50 – soll der Aspekt aktiven Handlungsvollzugs und gezielten Neu-Entwurfs in den Vordergrund gerückt werden. Ohne dabei der vorherigen U-Bahnstation ihren Status als Raum abzusprechen – denn auch diese war in Gestalt eines Passagenraums ein Ort, an dem man etwas macht – werden durch die Vorsilbe Ver- im Begriff der Verräumlichung der intentionale Vorgang des Raum-Schaffens und Raum-Erneuerns auf Ebene der Architektur, der Handlungen wie auch der Bedeutung und die gezielte (gemeinschaftliche) Aktivitätssteigerung, die sich in dem Eichbaumopern-Projekt zeigen, betont. Verbunden ist mit dieser Idee der Verräumlichung auch die Loslösung von der Kategorisierung des Eichbaums als peripherer Raum oder Nicht-Ort51, der in einem zentrumsbezogenen Urbanitätsmodell eine nachrangige Position einnimmt. Denn auch heute noch bestimmt die Abwertung der Peripherie gegenüber dem Zentrum, die sich an dem Bild europäischer Städte mittelalterlicher Prägung orientiert, die Denkweise vieler Stadtbesucher und -nutzer: »Jeder touristische Besuch einer Stadt beginnt folgerichtig mit der Suche nach der Stadtmitte, denn dort sind die Sehenswürdigkeiten versammelt, die man sich ansehen möchte; dort meint man das zu finden, was die Stadt ausmacht und was ihr ihren unverwechselbaren Charakter verleiht.«52 Heute spricht man – so Schroer – aufgrund der Ausweitung dieser sogenannten Ränder »von einer Peripherisierung, die dabei ist, die Unterscheidung von 49 Vonderau 2003, 10. 50 De Certeau 1988, 218. 51 Vgl. Augé 2010. 52 Schroer 2006, 242. Diese Denkweise, die stark unseren Umgang mit Städten prägt, ist sehr westeuropäisch geprägt, Los Angeles ist hingegen, wie viele US-amerikanische Städte, rechtwinklig und netzförmig angelegt (vgl. Schroer 2006, 242).

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Zentrum und Peripherie zu zerstören, weil die Peripherie wie ein Krebsgeschwür bis ins Zentrum hineinwuchert und es dadurch zerstört.«53 Anstelle einer solch hierarchischen Ordnung ist für ihn jedoch entscheidend, »dass Zentrum und Peripherie nicht mehr so deutlich voneinander abzugrenzen sind, wie dies einmal der Fall war. Die Unterschiede verwischen sich zunehmend und bringen eine polyzentrische Stadt mit verschiedenen Typen von Rändern hervor.«54 Der Stadtsoziologe Peter Noller beschreibt ebenfalls eine Transformation des Städtischen, nimmt dabei aber von einer klaren Grenzziehung unterschiedlicher städtischer Bereiche Abstand und entwirft stattdessen die Idee eines Fließraums: »Neben den alten Stadtzentren, die mehr und mehr zu touristischen Konsum- und Erlebniszonen ausgebaut werden [konzentrieren sich hier] unterschiedliche städtische Bezugspunkte als Ansammlungen zentraler Einrichtungen in dicht besiedeltem Gebiet […]: Büro- und Gewerbeparks, […] Wohnstätten, Einkaufszentren, Freizeitparks […] etc. So entsteht ein städtischer Fließraum ohne wirkliches Zentrum und ohne Kern, der zugleich als fragmentierter und von unterschiedlichen lokalen und regionalen Kulturen geprägter Lebensraum zu begreifen ist.«55

Diese Idee, die den Stadtraum in Gänze als eine Form des Passagenraums ausweist, schreibt den vormals als Ränder beschriebenen Räumen – wie dies auf den Eichbaum zutrifft – das Potenzial zu, zu passageren Zentren der Stadt zu werden und entscheidende innovative Impulse für die Stadt des 21. Jahrhunderts beizusteuern.56 Auch Schroer spricht davon, dass es neben jenen Architekten, Städteplanern und Stadtsoziologen, die an der Idee der ›alten europäischen Stadt‹ festhalten, auf der anderen Seite eine »Versöhnung mit der Peripherie [gibt], die nunmehr zum Ort der Veränderung, Umwälzung und Innovation erklärt und manchmal auch verklärt wird.«57 Mit dem Begriffsentwurf der Verräumlichung im hier umrissenen Sinne soll der Versuch unternommen werden, sich von der festen Verknüpfung mit territoria-

53 Schroer 2006, 242. Zur Thematik der Zersiedelung von Städten vgl. Häußermann 1998b, 76 und Schroer 2006, 243. 54 Schroer 2006, 244. 55 Noller 2001, 22f. 56 Ein performatives Projekt, das nicht nur eine ganze Stadt, sondern eine ganze Region zur passageren Spielstätte erklärt, ist Akira Takayamas Evakuieren. Erster Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region, das im September und Oktober 2014 im öffentlichen Nahverkehrsnetz des Rhein-Main-Verkehrsverbundes stattfindet (www.evakuieren. de, Stand: 21.7.2015). 57 Schroer 2006, 243. Zur Multizentrierung des Blicks bezogen auf theatrale Kontexte vgl. Schechner 1982, 109, Fischer 2011, 44.

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len Zusammenhängen zu lösen. Ohne »räumlich gekammert«58 zu sein, können auf diesem Wege städtische Räume losgelöst von ihrer geographischen Lage auf ihre räumlichen Konstellationen hin untersucht werden. Damit wird es möglich, die Prinzipien des Verbleibens und der Mobilisierung nicht mehr oppositionell zu verstehen, sondern sich in komplementärer Weise ergänzend und gegenseitig bedingend zu denken: »Aus Ruhepunkten, und mögen sie noch so zahlreich sein, wird man niemals etwas Bewegliches machen; wenn man dagegen vom Beweglichen ausgeht, kann man in Gedanken soviel Ruhepunkte daraus ableiten, wie man will. Mit anderen Worten, man begreift, dass feste Begriffe durch unser Denken aus der Beweglichkeit abstrahiert werden können, aber es gibt kein Mittel, um mit der Festigkeit der Begriffe die Beweglichkeit des Beweglichen wiederzugewinnen.«59

Werden somit Veränderung und Bewegung in allen Vorgängen angenommen, anstatt diese als Bedrohung für scheinbar stabile Zustände zu werten, entsteht Raum für ein passageres Gesellschaftsbild, bei welchem Bewegung nicht die Abweichung, sondern die Norm darstellt: »Ehemals Beständiges zerbricht, weil das Kaleidoskop der kulturellen Praktiken in Bewegung ist. Tatsächlich ist es die ganze Zeit über in Bewegung gewesen, und die als beständig gedachten Gebilde der Nation, der Gemeinschaft, der Ethnie und der Klasse waren seit je nichts als grobe Raster, die man solchen Erfahrungen und Praktiken übergestülpt hat, die für die gängige Reflexivität und Organisation zu komplex und zu subtil waren.«60

Damit erfolgt eine Hinwendung zu einer verzeitlichten, momenthaften Räumlichkeit, die in engem Zusammenspiel mit personellen Zusammenschlüssen und gedanklichen Zugehörigkeiten hervorgebracht wird. Am Beispiel eines theatralen Ereignisses wie diesem lässt sich somit verdeutlichen, dass das Konzept der Verräumlichung – anders als es der starrere Terminus der Verortung impliziert – nicht den Anspruch erhebt, einen Status Quo herzustellen, sondern temporäre Relationsgefüge beschreibt, die immer wieder neu ausgehandelt werden müssen und können.61 58 Werlen 1997a, 126. 59 Bergson 2000 [1946], 213. 60 Nederveen Pieterse 1998, 120 61 Das hier ausgeführte Beispiel steht exemplarisch für eine Ausprägung zeitgenössischen Theaters, bei welchem Formen lokalen Produzierens vor internationaler Folie erprobt werden und zugleich globale Entwicklungen und Leitbilder gespiegelt werden, wie dies beispielsweise auch bei Matthias Lilienthals X Firmen der Fall ist, das im Rahmen von Theater der Welt in Mannheim 2014 entstand.

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Über diesen Aspekt lässt sich ein Seitenverweis zur weitreichenden Thematik der Erinnerungsorte62 vornehmen, auch wenn diese auf den ersten Blick dem Konzept des flüchtigen und aktualitätsbezogenen Passagenraums diametral entgegen zu stehen scheint. François und Schulze fassen die zentralen Kriterien des von dem französischen Historiker Pierre Nora63 geprägten und bis heute viel vielverwendeten, -zitierten und kritisierten Begriffs der Lieu de mémoire – zu Deutsch Erinnerungsorte – zusammen als »Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität, der durch einen Überschuß an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden ist und sich in dem Maße verändert, in dem sich die Weise seiner Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.«64

Wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, weist das hier gewählte Theaterbeispiel im Raumumgang keine Opposition, sondern vielmehr eine sichtbare konzeptionelle Nähe zu den hier genannten Kriterien auf, da sich auch dort Lebensgeschichten, Gesellschaftsentwicklungen und Zeitverläufe kristallisieren, die je nach Raumumgang in lebendiges Gedächtnis überführt werden können. Diese Perspektive, die Nora von einem faktenbasierten Geschichtsverständnis abgrenzt, »untersucht nicht mehr die Determinanten, sondern deren Auswirkungen; nicht mehr die Aktionen, die in Erinnerung bleiben oder deren sogar gedacht wird, sondern die Spuren dieser Aktionen und die Spielregeln dieser Formen des Gedenkens; nicht mehr die Ereignisse an sich, sondern deren Konstruktion in der Zeit, das Verschwinden und Wiederaufleben ihrer Bedeutungen; nicht die Vergangenheit, so wie sie eigentlich gewesen ist, sondern ihre ständige Wiederverwendung, ihr Gebrauch und Mißbrauch sowie ihr Bedeutungsgehalt für die aufeinanderfolgenden Gegenwarten [...]. Kurz: Es geht weder um Wiederauferstehung noch um Rekonstruktion, nicht einmal um Darstellung, sondern um Wiedererinnerung, wobei Erinnerung nicht einen einfachen Rückruf der Vergangenheit, sondern deren Einfügung in die Gegenwart meint.«65 62 Zur Thematik von Erinnerungsorten und (kulturellem) Gedächtnis, die in Kapitel 9 aufgegriffen, jedoch im Kontext dieser Untersuchung nur gestreift werden kann, vgl. Assmann 1999, Kreuder 2002, Marx 2003 und Nora 2005. 63 Noras Forschungen sind der späten Phase der nouvelle histoire Bewegung zuzurechnen. Sein Hauptwerk stellt die Veröffentlichung über die Erinnerungsorte Frankreichs (Nora 2005) dar, deren theoretische Grundlagen er zudem in einem Kurzband zusammenfasste, der auf Deutsch unter dem Titel Zwischen Geschichte und Gedächtnis erschienen ist (vgl. Nora 1990). 64 François/Schulze 2001, 17f. 65 Nora 2005a, 16. Zu Gedächtnis und Erinnerung bei Nora vgl. Nora 1990, 13.

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Die hier formulierte Idee einer durch Vergangenes angereicherten Gegenwart findet sich in dem performativen Vorschlag der Eichbaumoper wieder. Auch hier werden Geschichte(n) des Raumes belebt und darauf aufbauend und davon durchwirkt Entwürfe für Gegenwart und Zukunft initiiert. Denn – so betont auch Nora – nicht »das, was die Vergangenheit uns aufzwingt, zählt, sondern das, was wir in sie hineinlegen. [...] Die Geschichte schlägt vor, doch die Gegenwart entscheidet [...].«66 Am Beispiel Eichbaumoper kann durch die langfristige Anlage bei gleichzeitig fluider Beteiligung gezeigt werden, dass die dem Projekt inhärente Prozesshaftigkeit nicht dem Wunsch nach Kontinuitäten widersprechen muss, sondern gerade durch die Bereitschaft zum steten Wandel eine Dauerhaftigkeit der Veränderung befördert wird. Im Kontext der Überlegungen zu Orten und Räumen zeigt sich jedoch, dass Noras Erinnerungsort in seiner Terminologie und den von ihm gewählten Beispielen eine gewisse Statik aufweist. Eine gedankliche Einbindung des Prozessualen als Gegenstand und Denkbewegung erfolgt somit vorwiegend bei der Adaption und Weiterführung des Konzepts im Sinne eines relationalen Raumansatzes. Denkt man den Begriff Noras in dieser Weise weiter, können Passagenräume in ihrer alltagstheatralen Nutzung – wie am Beispiel Eichbaum gezeigt – zu Formen durchlässiger Erinnerungsräume werden. Sind folglich Prozessualität und Transitorik wie zugleich aber auch Dauerhaftigkeit tragende Prinzipien des Eichbaumopern-Projekts, gilt es dieses von Formen kurzfristig gedachter Aktionen wie Events abzugrenzen. Denn letztere zeichnen sich, wie Bittner konstatiert, aus durch »ihre temporäre Existenz, sie bieten nur zeitweilige Identifikations- und Zugehörigkeitsangebote an. Umso wichtiger werden Ereignisse, in denen sich ihre Mitglieder ihrer kollektiven Zugehörigkeit versichern können.«67 Eine solche Form längerfristigen Zusammenschlusses strebt das U-Bahn-Projekt an, was sich unter anderem daran zeigt, dass mit Dernière der Oper nicht das Gesamtprojekt beendet war, sondern sich Folgeaktivitäten anschlossen: Dazu gehört der von Jugendlichen maßgeblich mitorganisierte Boxkampf – die Eichbaumboxer – ebenso wie der Hip-Hop-Wettstreit Eichbaumbattle und die Idee einer Überführung in ein Langzeitprojekt in Form eines Eichbaumparks: »Wir suchen nach einer Vision, die all diese kreativen Kräfte bündeln kann. Diese Vision heißt Eichbaumpark! Ein Park, der mehr sein muss als eine gepflegte Grünfläche. Ein vielfältiger Stadtraum, der Spielräume bietet zum Verhandeln, zum Kommunizieren, zum Räume machen und um sich auszutoben und zu verwirklichen; zugleich ein Ort der Ruhe und des

66 Nora 2005b, 553. 67 Bittner 2005, 122. Vgl. zur Stadtentwicklung im Ruhrgebiet und den Tendenzen der Eventisierung ehemaliger Industriestandorte Krauth 2010, 16.

I NITIATIVEN TEMPORÄRER V ERORTUNG

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Genusses! Aber auch ein Stadtraum, der die beiden von der Autobahn getrennten Seiten neu verbindet!«68

Dieses Konzept, bei dem von Opernaufführungen, Boxkämpfen, Hip Hop Battles, Sprayen, Bauen wie auch Parkour – hier jedoch anders als oben beschrieben in Form eines angeleiteten Gruppenereignisses, nicht als rein individueller Vorgang – eine weite Bandbreite an Aktivitäten und urbanen Ausdrucksformen befördert wird, spiegelt die Tendenz eines städtischen Theatralitätskontinuums wieder, wie dies im Einführungskapitel mit Blick auf die Verschränkung unterschiedlicher performativer Äußerungsformen und Praktiken beschrieben wurde. Damit liefert es ein Beispiel für die Ausdifferenzierung von Darstellungs- und Interaktionsformen, durch welche Verfügungsräume geschaffen und in Anspruch genommen werden können. Damit entsteht die Möglichkeit, einen eigenen Raum zu etablieren, der nicht notgedrungen über Besitz bestimmt sein muss, sondern auch, wie sich zeigen ließ, über Handlung gekennzeichnet sein kann. Auf diese Weise können sich Prozesse der Verräumlichung vollziehen, die zugleich eine Offenheit für Begegnungen mit dem Fremden, Unbekannten und sich mobil wie flexibel Wandelnden mitbringen. Die beschriebenen Ansätze weisen Grundprinzipien des städtischen Miteinanders auf, woraus sich ein Bestreben nach einer ›Verstädterung‹ des Eichbaums im Sinne des Erprobens eines positiven Urbanitätsentwurfs ableiten ließe. Dieser setzt nicht nur auf zwischenmenschlicher, sondern auch auf struktureller Ebene an. Denn – so Schroer – wer heute »die tolerante Begegnung zwischen Fremden ermöglichen und beleben will, der muss nicht Begegnungsräume bauen, in denen dies wieder ermöglicht wird, sondern der muss die sozioökonomischen Bedingungen schaffen, damit die Konfrontation mit dem Fremden nicht nur von Intellektuellen als Bereicherung und Gewinn erlebt werden kann. Dazu gehört aber gerade die Verfügungsgewalt über ein Stück ›eigenen Raum‹, der nicht fraglos und jederzeit von anderen okkupiert werden kann.«69

Komplementär zu dieser Idee, kann bei dem Projekt jedoch auch – überspitzt gesagt – das Bestreben zu einer ›Verdörflichung‹ urbaner Räume gesehen werden, da inmitten eines städtischen Umfeldes ähnlich eines Dorfplatzes Raum für Begegnung, Wiedererkennen und das Innehalten an einem Ort geschaffen wird, der für gewöhnlich lediglich zur raschen Passage dient.70 Damit verbunden ist der Wunsch nach einem Gruppengefüge, in dem »das ›Sich-Erkennen‹ über die Ad-hoc-Gemeinschaf-

68 Rick 2010, 5. 69 Schroer 2006, 248. 70 Zur Denkfigur des imaginären Dorfes in urbanen Kontexten vgl. Nell/Weiland 2014.

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ten hinausreicht auf das Bedürfnis nach Identifikation mit kollektiven Zielsetzungen und langfristigen gruppenspezifischen Selbstdefinitionen.«71 Die Eichbaumoper fungiert in diesem Sinne als Initialzündung einer mobilen Verräumlichung, die sich darum bemüht, den Ort Eichbaum zu einem Raum zu machen, in welchem sowohl die Vorzüge urbaner wie auch kleinstädtischer beziehungsweise dörflicher Zusammenhänge fruchtbar gemacht werden. Damit entstehen kurzzeitige Verfestigungsmomente, die vor dem Horizont flüssiger Veränderbarkeit ohne beliebige Entgrenzung gedacht sind, um einer Über-Flüssigkeit des Raumes und der sozialen Interaktionen entgegenzuwirken. Jenseits der Transformationen, die unmittelbar vor Ort sichtbar sind, zielen die Eichbaumoper und ähnliche Projekte vor allem auf eine gedankliche Transformation ab, die in Form einer Fortschreibung im Verhalten, den Handlungen und dem Gedächtnis der Teilnehmer und Passanten wie auch dem ›passageren Erinnerungsraum‹ Eichbaum fortbesteht, der sich dadurch stets aufs Neue aktualisiert und eine Übertragbarkeit auf andere Räume denkbar macht.

71 Steffen 1990, 67f.

III Passagen zwischen Nahraum & Fernraum

7 Hinführende Denkfiguren: Globalisierung im Spiegel alltäglicher Praktiken in städtischen Passagenräumen

Die Möglichkeiten und Praktiken materieller und virtueller Überwindung großer Distanzen legen es nahe, das heutige Verhältnis von Nähe und Ferne neu zu rahmen und von geographischen Entfernungen abzulösen. Was jedoch tritt an die Stelle eines räumlich manifestierten und messbaren Distanzverständnisses? Um sich dieser Frage zu nähern und um zu eruieren, in welcher Weise sich Passagenräume und -praktiken verändern, wird zunächst ein genauerer Blick auf mögliche Definitionsversuche von Globalem und Lokalem geworfen, um Zuschreibungsmuster und deren Verschiebungen transparent zu machen. Bereits der Versuch, einen Beginn der Globalisierungsentwicklung festzulegen, erweist sich in der Forschungsliteratur als strittig. Einer der Momente, der häufig als Ausgangspunkt einer globalen Sichtweise benannt wird, ist die Reise des ersten Menschen auf den Mond und deren mediale Übertragung. Ralf Dahrendorf beschreibt dies wie folgt: »Wenn einmal die Geschichte des Begriffs der Globalisierung geschrieben wird, könnte man sie mit dem 20. Juli 1969 beginnen lassen. An diesem Tag setzte der erste Mensch seine plumpen, in seinem Raumanzug wohlverpackten Füße auf den Mond. Neil Armstrong sah, was wir Zurückgebliebenen eher noch klarer auf unseren Fernsehschirmen betrachten konnten: die Erde, also unsere Welt, als Ganze, als Globus mit vertrauten Strukturen, aber aus unvertrauter Perspektive. Der andere Himmelskörper, von dem dieser Anblick sich ergab, machte die Einheit unseres so vielfältigen, ja in nahezu jeder Hinsicht uneinheitlichen Planeten sichtbar.«1

Dieses Beispiel einer zeitlichen Verortung zeigt paradigmatisch, dass es sich bei solchen Versuchen stets um historische Setzungen handelt, die bereits mit bestimm-

1

Dahrendorf 1998, 41.

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ten Implikationen und Interessensschwerpunkten verbunden sind. Verschiedene Lesarten konzentrieren sich mal schwerpunktmäßig auf ökonomische, mal auf gesellschaftlich-soziologische oder auch auf medial-kommunikative Bereiche. Die Suche nach einem präzisen Beginn der Globalisierungsentwicklungen birgt, so Jan Nederveen Pieterse, die Gefahr, »[...] daß die Globalisierungstheorie […] zu einem Annex der Modernisierungstheorie wird. Während die Modernisierungstheorie in der Soziologie und der Entwicklungstheorie überwunden schien, gelingt ihr unter dem Namen Globalisierung ein heimliches Comeback – die Wiederkehr der fünfziger und sechziger Jahre unter dem großzügig geschnittenen Deckmantel der Globalität.«2

Vereinheitlichende Theorien wie jene, auf die hier referiert wird, vernachlässigen häufig auch, dass nicht alle Lebensbereiche der Globalisierungsentwicklung nachkommen. Gemeint sind große Bereiche der öffentlichen Verwaltung, wie Recht, Bildung, Steuerwesen, aber auch soziale Dienstleistungsträger wie Krankenhäuser und Kindergärten, oder regional verankerte Wirtschaftszweige. Des Weiteren gibt es zahlreiche Länder, Regionen oder Personenkreise, die an globalen Zirkulationsströmen nicht oder nur in äußerst passiver Weise teilhaben, beziehungsweise teilhaben können.3 Daher sollen historische oder definitorische Festlegungen oder Pauschalisierungen vermieden werden. Für das vorliegende Projekt werden stattdessen kontextspezifische Aspekte und Strömungslinien schlaglichtartig beleuchtet und skizziert:4 Der anfangs zitierte Ansatz Dahrendorfs fokussiert bei seiner Annäherung an das Thema der Globalisierung jenen Moment, in welchem durch den Blick von außen auf die Erde ein Perspektivwechsel ermöglicht wird. Das Bild der Welt durchläuft auf diese Weise eine Passage und lässt eine Ambivalenz zwischen Ganzheitlichkeit und fragmentarischer Uneinheitlichkeit entstehen. Anthony Giddens wählt einen anderen Zugang und interessiert sich vornehmlich für globale Beziehungsgefüge. So ist Globalisierung in seinem Verständnis maßgeblich geprägt durch eine »Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge ge-

2

Nederveen Pieterse 1998, 90.

3

Vgl. Dahrendorf 1998, 45.

4

Zur begrifflichen Differenzierung trifft Beck eine Unterscheidung zwischen dem Globalismus, womit er eine eng mit den Interessen des Marktes verknüpfte Auffassung oder Ideologie meint, der Globalität im Sinne eines Zustandes einer bestehenden Weltgesellschaft und letztlich der Globalisierung, die er als sozio-kulturellen Prozess begreift, der soziale und kulturelle Komponenten einschließt (vgl. Beck 1997, 26ff).

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prägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.«5 Einen weiteren Ansatzpunkt bietet der Blick auf mediale Verschiebungsprozesse, die bereits bei Dahrendorf mit der Übertragung der Mondlandung anklangen. Einer der Vertreter, der sich ausgiebig mit dieser Lesart des Globalen befasst, ist der Medienforscher Marshall McLuhan. Bereits in den 1960er Jahren, lange vor Beginn des Internetzeitalters, spricht er von einem zunehmenden durch elektronische Medien ausgelösten Verschwinden von Distanzen, wodurch das Entstehen eines ›Global-Village‹ befördert wird: »Elektronisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf. Die elektrische Geschwindigkeit, mit der alle sozialen und politischen Funktionen in einer plötzlichen Implosion koordiniert werden, hat die Verantwortung des Menschen in erhöhtem Maße bewußt werden lassen.«6 Eine der Perspektiven, die in den meisten Überlegungen zu Globalisierungstendenzen mitschwingt, ist zudem jene weltweiter ökonomischer Verbindungen in engem Zusammenhang mit der Dominanz global agierender Konzerne und dem komplexen System delegierter Produktionsprozesse, etwa von Nahrung und Kleidung. Genannte Prozesse führen laut Dahrendorf dazu, »daß wirtschaftliche Entwicklung in den neunziger Jahren nicht mehr eine Sache der wenigen ist. Sie ist tatsächlich global geworden. […] Genauer als ›Globalisierung‹ ist jedenfalls die Rede von der Internationalisierung des Wirtschaftens.«7 Neben diesen spezifischen Perspektiven der Weltgesellschaft8, wie Ulrich Beck einen für dieses Thema einschlägigen Sammelband nennt, etablieren sich zeitgleich Ansätze, die den Begriff der Globalisierung historisch und geographisch deutlich weiter zu fassen versuchen, wie dies Jan Nederveen Pieterse anstrebt: »Die von Verwestlichung bzw. Modernität ausgehenden Interpretationen kennen lediglich kurzfristige globale Dynamiken. Wenn man den Begriff der Globalisierung jedoch weiter faßt, verweist er auf die Herausbildung eines weltweiten historischen Zusammenhanges und beinhaltet die Entwicklung eines globalen Gedächtnisses, das auf gemeinsamen globalen Er-

5

Giddens 1995, 85. Abzugrenzen gilt es dabei den Begriff der Globalisierung, der in diesem Verständnis Zusammenhänge, Querverbindungen und Wechselwirkungen mitdenkt, von dem der Internationalisierung oder der bloßen Entfernung: »Nicht selten wird das Wort ›global‹ leichtfertig verwendet für Dinge, die nur weit weg, irgendwo in der Ferne geschehen.« (Dahrendorf 1998, 44.)

6

McLuhan 1995 [1964], 17. Vgl. dazu auch ders. 1962 sowie Albrow 1998, 411-434.

7

Dahrendorf 1998, 44.

8

Dem gleichnamigen von Ulrich Beck herausgegebenen Sammelband entstammen zahlreiche der in diesem Kapitel verwendeten Beiträge (vgl. Beck 1998).

164 | P ASSAGEN ZWISCHEN N AHRAUM & F ERNRAUM fahrungen beruht. Dazu gehören neben interzivilisatorischen Begegnungen durch Fernhandel und Migration auch Sklaverei, Eroberung, Krieg, Imperialismus und Kolonialismus.«9

Der Schwerpunkt liegt hier auf globalen Erfahrungen der Krise, des Krieges und der Wirtschaftsbeziehungen, die lange in die Menschheitsgeschichte zurückreichen. Nederveen Pieterse weist damit vor allem darauf hin, dass sich die von Giddens beschriebene »Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen« historisch sehr unterschiedlich verankern lässt. So kann man diese auch »[…] als einen langwierigen Prozeß verstehen, der mit den ersten Völkerwanderungen und Fernhandelsverbindungen beginnt und sich nach und nach aufgrund bestimmter Umstände beschleunigt […]. Man kann die eigentliche Intensivierung auch auf die späteren Stadien jenes Prozesses und die immer raschere Herausbildung weltweiter sozialer Beziehungen beschränken oder sie als eine spezifisch globale Dynamik auffassen, die von verschiedenen Umständen wie der Entwicklung eines Weltmarktes, dem westlichen Imperialismus oder der Moderne abhängt.«10

Anhand dieser Ausführungen lässt sich die anfangs angeführte Annahme stützen, dass Globalisierung, deren Definitionen, ›Gründungsmythen‹ und zeitliche Verankerungen nicht ontologisch gegeben sind, sondern jeweils von dem Kontext, dem Schwerpunkt und der Intention des Beschreibenden abhängen. Daher plädiert Nederveen Pieterse für die Verwendung des Globalisierungsbegriffs im Plural, was weder hier noch in seinen Schriften aus Gründen sprachlicher Verschlankung konsequente Verschriftlichung findet, jedoch im Folgenden stets mitgedacht werden soll: »Um sich Globalisierungen im Plural vorzustellen, könnte man auch sagen, daß es ebenso viele Arten von Globalisierung gibt wie Handlungsträger, Dynamiken und Impulse, die sie vorantreiben.«11 Bei den damit beschriebenen Vorgängen handelt es sich somit, wie auch Dahrendorf schließt, nicht »um Naturgewalten, die plötzlich auf die erstaunte Welt losgelassen werden«12, sondern um Verdichtungsmomente globaler Bezüge, die maßgeblich von menschlichen Handlungen und Einschätzungen bestimmt sind. Diese weisen ab den späten 1990er Jahren besondere Virulenz auf, einem Zeitpunkt zu dem auch eine verstärkte wissenschaftliche Diskursivierung und eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Thematik zu vermerken ist.

9

Nederveen Pieterse 1998, 99.

10 Nederveen Pieterse 1998, 92. 11 Nederveen Pieterse 1998, 88. 12 Dahrendorf 1998, 42.

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Global-lokale Dichotomien und deren Auflösungsbestrebungen Das Denken und Schreiben über Nah- und Fernräume erfolgt häufig über die Verwendung dichotomischer Begriffspaare in Übertragung bekannter Denkfiguren: »Der […] für die Moderne konstituierte klassisch-asymmetrische Binarismus von ›Metropole versus Provinz‹ wird heute in der Form ›Globalität versus Lokalität‹ neu verhandelt, wobei sich die Konstellationen allerdings grundlegend geändert haben.«13 Diese binären Oppositionen sind oft mit Zuschreibungs-Clustern verbunden, die das Globale mit Entgrenzung, Flexibilität, Prosperität, Ferne, Anonymität und ähnlichem, das Lokale hingegen mit Gemeinschaft, Verwurzelung, Nähe oder auch Begrenzung assoziieren. Es zeigt sich, dass Ortsgebundenheit und menschliche Nähe dabei in vielen Fällen mit räumlicher Nähe übereingedacht werden und in der Folge der Nahraum gegenüber dem Fernraum privilegiert wird, wodurch nach Schroer die Komplexität der Querbezüge aus dem Blick gerät: »Diese in die Geschichte der Soziologie tief eingesenkte Überzeugung ist es, so meine These, die eine systematische Behandlung des Raums verhindert hat. Raum wird letztlich mit Ort gleichgesetzt, und die zunehmende Ablösung des Sozialen von örtlichen Gegebenheiten wird als Verfallsgeschichte erzählt. Zugleich wird immer wieder die Notwendigkeit überschaubarer Verhältnisse, sozialer Beziehungen und Gemeinschaften auf lokaler Basis und die Unverzichtbarkeit von Face-to-face-Kontakten eingeklagt.«14

Dadurch erstarkt gleichsam die Tendenz exkludierender Grenzziehung zur Sicherung der Selbst- und Gemeinschaftskonstitution, wie Korte anführt: »Menschen, und die kleinen und großen Gesellschaften, die sie miteinander bilden, definieren sich über Grenzen, durch Unterscheidungen zur jeweiligen Umwelt. Grenzen schaffen Identität, sie bestimmen darüber, wer zu etwas gehört und wer ausgegrenzt wird. Das gilt von der kleinen Einheit der Familie über Unternehmen bis hin zu Nationen. Grenzen definieren Wirkungszusammenhänge und Handlungsräume und ermöglichen Zuordnungen von Verantwortlichkeiten für Entscheidungen. Grenzen ermöglichen das Erkennen und Unterscheiden von Differenzen. Das zentrale Kennzeichen der Globalisierung ist, dass die bisherigen Grenzen verschwimmen.«15

13 Amann/Mein/Parr 2008, 7; vgl. zudem Robert/Konegen 2006. 14 Schroer 2006, 11. 15 Korte 2005, 45f. In dem Zitat werden Grenzen als aktive Handlungsträger dargestellt, nicht wie in dem in Kapitel 2.2 entwickelten Begriff des Grenzverlaufs als Konstrukt. Ergänzend sei in diesem Zusammenhang auch auf Nationalisierungstendenzen und somit

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Die in diesem Zitat anklingende Ambivalenz von Ent- und Begrenzung weist darauf hin, dass sich aus heutiger Forschungsperspektive eine klare Zweiteilung als nicht mehr tragfähig erweist und bipolare Einteilungen von Nahraum und Fernraum, von Lokalem und Globalem in Auflösung begriffen sind. Vor allem eine Synchronisierung von räumlichen Entfernungen und wahrgenommenen Distanzen greift nicht mehr, was – wie anfangs bereits erwähnt – besonders vor dem Hintergrund zunehmender Medialisierung und Virtualisierung augenfällig wird. Um dieser Verschiebung nachzukommen, entstehen zahlreiche Ansätze, die sich um eine Ausdifferenzierung in der Analyse und die Überwindung eben genannter Dichotomien bemühen. Die damit verbundenen Hypothesen und Prognosen gehen jedoch stark auseinander und lassen sich hier nur skizzenhaft anreißen: Eine erste Position besteht in der Annahme, dass eine dichotomische Zweiteilung hinfällig sei, da Globalisierung durch wachsende weltweite Vernetzung mit einer zunehmenden Homogenisierung einhergehe. Positiv gewendet, bringt diese eine bessere Erreichbarkeit entfernter Ziele, eine erleichterte Orientierung, Wachstums- und Wohlstandssteigerung – zumindest in den OECD-Ländern – wie auch eine produktive Aufbruchsstimmung mit sich.16 Kritische Stimmen beklagen als Kehrseite eine durch Vereinheitlichung bedingte Reduktion von Diversität und Spezifität, die häufig mit dem Schlagwort der ›McDonaldisierung‹17 der Welt betitelt wird und als deren zentrale Triebfeder wirtschaftliche Interessen gelten: »Der größte Motor dieser immer enger zusammenrückenden Informationsgesellschaft ist zweifelsohne die Ökonomie. Und hier scheint es, spätestens seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Blockstaaten, zur neoliberalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung keine wirkliche Alternative mehr zu geben.«18

In den Denkhorizont der hier von Georg Mein benannten ökonomischen Alternativlosigkeit durch zunehmende Homogenisierung fallen auch andere gesellschaftliche Bereiche. Die Vermehrung unspezifischer Architektur und Raumgestaltung, die Augé in seinem Konzept des Nicht-Orts beschreibt,19 zählen ebenso dazu wie die Vereinheitlichung gesellschaftlicher Anforderungsprofile. Auch Räume und Handlungen, wie städtische Bewegungen, erfahren eine Homogenisierung zur besseren Handhabbarkeit und Ökonomisierbarkeit.

der Etablierung neuer Grenzen in Reaktion auf den globalen Grenzabbau verwiesen (vgl. Mein 2008, 39). 16 Vgl. Dahrendorf 1998, 46. 17 Beck 1998, 8. 18 Mein 2008, 37. 19 Vgl. Augé 2010.

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Diese Standardisierung und Normierung, die sich beispielhaft in den Formen universalisierter Shopping Malls zeigt, führt aber nicht zu einer Einheit auf allen Ebenen, sondern verhindert bei zu starker Ausprägung Handlungsalternativen und, konsequent zu Ende gedacht, auch Gemeinschaftsbildung und Kommunikation unter individuellen Subjekten.20 Hinzu kommen Ausschluss- und Exklusionstendenzen gegenüber denjenigen Menschen, die sich nicht in das normierte und normierende Gefüge integrieren (können): »Ausschluß bedeutet, daß Menschen keinen Zugang mehr haben zum Arbeitsmarkt, zu relevanten sozialen Prozessen (einschließlich der Supermärkte, der Fußballstadien und dergleichen), zur politischen Teilhabe.«21 Die Verneinung der Unterschiede innerhalb homogenisierter Zusammenschlüsse sieht Dahrendorf als zentrales Problemfeld zukünftiger globaler Debatten: »In der Tat erscheint Globalisierung unter anderem als ein großer Gleichmacher. Das ist jedoch ein leichtfertiger und gefährlicher Irrtum. Ihn zu korrigieren, ist möglicherweise der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zu Lösungen der hier angedeuteten Probleme.«22 Die Homogenisierungsthese bezieht sich folglich sowohl auf die Angebotspalette des Konsums, die überall zu jeder Zeit alles verfügbar macht, als auch auf Räume, Standpunkte, Handlungs- und Wahlmöglichkeiten. Neben diesen Prognosen und Beobachtungen finden sich zahlreiche Ansätze, die in scheinbar konträrer Weise argumentieren und in der Globalisierung anstelle einer Homogenisierungs- eine Heterogenisierungsentwicklung sehen. Auch diese These spricht für die Auflösung bipolarer Zuschreibungen, jedoch aus ganz anderen Beweggründen: einer den Nahraum wie auch den Fernraum umfassenden Fragmentierung und Vielräumlichkeit, die weder eine Zweiteilung noch die Rede von einer Ganzheit länger erlaubt. Die Verschiedenartigkeit globaler Dimensionen »verweist auf die inhärente Fluidität, Unbestimmtheit und Zukunftsoffenheit der Globalisierung. Unter dieser Voraussetzung ist die These, daß Globalisierung Standardisierungen hervorbringt, schon weit weniger einleuchtend. Es erscheint eher unwahrscheinlich, daß alle diese Prozesse in ein und dieselbe Richtung verlaufen, ganz gleich, ob sie auf struktureller oder kultureller Ebene stattfinden.«23

Wie bereits der Prozess der Homogenisierung ist auch jener der Heterogenisierung von ambivalenten Einschätzungen flankiert: Kritiker sprechen von einem zunehmenden Zergliedern und Zerfasern von Zusammenhängen, bei welchen alles NichtZentrierte und Nicht-Lokalisierte, im Sinne Richard Sennetts, als defizitär aufgefasst wird: 20 Vgl. ausführlicher Kapitel 11. 21 Dahrendorf 1998, 47. 22 Dahrendorf 1998, 53. 23 Nederveen Pieterse 1998, 89.

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»Es ist eine moderne Angewohnheit, soziale Instabilität und persönliche Unzulänglichkeit rein negativ aufzufassen. Die Entwicklung des modernen Individuums hat, allgemein gesprochen, das Ziel verfolgt, das Individuum selbstgenügsam, ›ganz‹ zu machen. Die Psychologie bedient sich einer Sprache, in deren Rahmen die Menschen ihr Zentrum finden, Integration und Ganzheit des Selbst erreichen sollen. Auch moderne soziale Bewegungen sprechen diese Sprache, als sollten Gemeinden wie Individuen werden, kohärent und ganz.«24 Wurde im Zuge der Homogenisierung von einem Auflösungsprozess gesprochen, der Selbstwerdung und Gemeinschaftsbildung erschwere, ist auch mit der scheinbar gegenläufigen Globalisierungsdiagnose der Heterogenisierung eine ähnliche Befürchtung verbunden, was Exklusionstendenzen und die Privilegierung des Nahraums befördert: »Der Moderne ist die Befreiung aus dem Nahraum und die Eroberung der Ferne gleichsam eingeschrieben. Sie führt aber zugleich dazu, dass die Ferne immer mehr in Nähe verwandelt wird und die ›eigentlich‹, ›ursprüngliche‹ Nähe als bedroht erscheint. Die Klage über den Verlust der Gemeinschaft, des Lokalen und der Tradition findet hier ihren Ausgangspunkt. Auf die Eroberung der Ferne, die unweigerlich zur Konfrontation mit alternativen Lebensvorstellungen, Sitten und Gebräuchen führt, folgt die Vorstellung, dass das Eigene gegenüber dem Fremden verteidigt werden müsse.«25

Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer »Wendung hin zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten wollen nicht Kanada, sondern Quebec, nicht Großbritannien, sondern Schottland, nicht Italien, sondern Padanien. […] Der neue Regionalismus ist zudem nur ein Symptom der Gegenbewegung gegen die Globalisierung. Es gibt auch einen neuen Lokalismus, eine neue Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen Formen […].«26

Amann bietet hierfür als Erklärungsansatz, dass Erfahrungen und Wissen durch die Globalisierung in vielen Fällen vermittelt erworben und angewendet werden, sodass es eines Zwischenschrittes bedarf, sich diese wieder anzueignen: »An die Stelle eines selbstverständlich tradierten oder auf Erfahrung basierenden Wissens über die ›Umgebung‹ tritt ein ausdifferenziertes organisiertes Expertenwissen, das dann im

24 Sennett 1995, 458. 25 Schroer 2006, 10. 26 Dahrendorf 1998, 50.

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Alltag und in den Medien interdiskursiv durch Kollektivsymboliken re-integriert werden muss, um überhaupt wirksam zu werden.«27

Anders als die benannten kritischen oder skeptischen Positionen, sprechen positive Stimmen von einer produktiven Diversifizierung globaler Vielräumlichkeit, die sich in Prozessen steigender Individualisierung, Toleranzzunahme, Demokratisierung, Vielfalt und einer Annäherung der Lebensbedingungen innerhalb der westlichen Industrienationen ausdrücke.28 Ulrich Beck sieht in diesem Sinne eine heterogene, multiple Weltgesellschaft entstehen, bei der sich Makro- in Mikrostrukturen spiegeln beziehungsweise sich das Große im Kleinen abbildet: »Was die Menschen scheidet – religiöse, kulturelle und politische Unterschiede –, ist an einem Ort, in einer Stadt, immer öfter sogar in einer Familie, in einer Biographie präsent. Diese Allgegenwart der Weltunterschiede und Weltprobleme ist das genaue Gegenteil des Konvergenz-Mythos, nach dem alle Kulturen einander gleich werden, die Zukunft der Weltgesellschaft also in der Erfahrung eines universellen Déjà vu liegt. Die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen können vielmehr, wie Nietzsche vorhersieht, überall verglichen und ›nebeneinander durchlebt werden‹. Welt-Gesellschaft ist dann die Kurzformel für MultipleWelten-Gesellschaft, meint also genau umgekehrt: Vielfalt ohne Einheit.«29

Auch das Argument der Alternativlosigkeit lässt sich bei Wechsel des Blickwinkels umkehren. Sieht beispielsweise Mein – wie eben angeführt – in der Globalisierung ein Gleichmachen der Strukturen und Entwürfe, das Alternativen vermindert oder gänzlich verhindert, spricht Nederveen Pieterse von der Globalisierung als einer Entwicklung, in der »keine Organisationsweise eine Prioritäts- oder Monopolstellung besitzt. Das ist einer der herausragenden Unterschiede zwischen der gegenwärtigen Phase der Globalisierung und der vorangegangenen Ära der Jahre 1840 bis 1960, der Hochzeit des Nationalismus, in der der Nationalstaat im großen und ganzen die einzige mögliche Organisationsform war.«30 Diesen Vorgang wertet er jedoch nicht als Demokratisierungsentwicklung, sondern spricht von einer »Tendenz der Zunahme globaler Dichte und gegenseitiger Abhängigkeit.«31 So darf beispielsweise bei der Rede von einer globalisierungsbedingten Egalisierungstendenz nicht die Monopolstellung wirtschaftlich starker Länder und Verbände vernachlässigt werden. 27 Amann 2008, 23. 28 Vgl. Mein 2008, 37/38 sowie Dahrendorf 1998, 46. 29 Beck 1998, 7; vgl. zudem ders. 1997. 30 Nederveen Pieterse 1998, 98. 31 Nederveen Pieterse 1998, 99.

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Mit Blick auf die verschiedenen Argumentationsstränge wird die Relationalität derartiger Wertungsvorgänge deutlich. Anstelle eine der beiden Seiten für die folgende Argumentation zu priorisieren, soll hier der Versuch erfolgen, das »territoriale Kulturverständnis«32, das sowohl die Homogenisierungs- wie auch die Heterogenisierungsthese grundiert, zu überwinden. Auf diesem Wege scheint es möglich, wie auch Beck betont, einen umfassenderen Blick auf Globalisierungsentwicklungen zu erlangen, in welchem Prozesse der Vereinheitlichung und Vervielfältigung berücksichtigt werden: »Wer aufdeckt, daß und wie geographische Räume und soziale Räume nicht mehr zusammenfallen; ja mehr noch: daß geographische Räume zunehmend an Bedeutung verlieren, entzieht dem territorialen Verständnis von Staat und Gesellschaft den Boden.«33 Zur begrifflichen Differenzierung trifft Beck eine Unterscheidung zwischen dem Globalismus, womit er eine eng mit den Interessen des Marktes verknüpfte Auffassung oder Ideologie meint, der Globalität im Sinne eines Zustandes einer bestehenden Weltgesellschaft und letztlich der Globalisierung, die er als soziokulturellen Prozess begreift, der soziale und kulturelle Komponenten einschließt. 34 Vor dem Hintergrund der Fokussierung auf passagere, prozessuale Hervorbringung, die die vorliegende Studie vornimmt, findet – in diesem Begriffsspektrum gesprochen – eine Konzentration auf Globalisierung statt. Dabei soll der Raum als zentrale Kategorie gedacht werden, ohne territoriale Einteilungen und Entfernungen zum Maßstab zu machen, oder eine hierarchisierende Gewichtung von Nah- und Fernräumen vorzunehmen. Glokale Interdependenzen Der Weg zu einem in diesem Sinne gedachten Globalisierungsbegriff führt über die Feststellung, dass die hier zunächst als Einzelpositionen ausgeführten Thesen der Homogenisierung und Heterogenisierung sowie der Globalisierung und Lokalisierung keine unvereinbaren Gegensätze bilden. Betrachtet man beispielsweise vorwiegend jene Strömungen, die durch Zergliederung und Heterogenisierung markiert sind, ließe sich mit der Globalisierung vom »Ende der großen Erzählungen«35 sprechen. Berücksichtigt man jedoch hingegen nur den Homogenisierungsgedanken, so scheint es, als sei ein neues Zeitalter der einen großen Erzählung namens Globalisierung angebrochen, bei der die Welt als Ganzes visualisiert wird, so dass

32 Nederveen Pieterse 1998, 117. 33 Beck 1998, 9. 34 Vgl. Beck 1997, 26ff. 35 Vgl. Lyotard 1979.

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kein ›Außen‹ mehr denkbar ist.36 Beide Diagnosen isoliert betrachtet greifen folglich zu kurz, da die reine »Auseinandersetzung um globale Homogenisierung oder Heterogenisierung überholt ist. Nicht entweder Homogenisierung oder Heterogenisierung steht zur Debatte, sondern die Art und Weise, in der diese beiden Entwicklungen über weite Strecken des späten 20. Jahrhunderts zu charakteristischen Eigenschaften des modernen Lebens geworden sind.«37

Ebenso wie diese Dichotomie gilt es auch jene des Globalen und Lokalen zu hinterfragen, da es sich auch bei diesen Begriffen nicht um Gegensätze, sondern komplementäre Strömungen handelt. Eine mögliche terminologische Anschlussstelle bietet die Wortschöpfung Glokalisierung. Handelt es sich dabei ursprünglich um ein vorwiegend ökonomisch geprägtes Modewort der 1980er und 1990er Jahre, soll der Begriff hier im Sinne Roland Robertsons für ein Interdependenzverhältnis von Nahräumen und Fernräumen stehen.38 Passagenräume in alltäglicher und theatraler Praxis können vor diesem Hintergrund als geographische Nahräume in ihrer globalen Durchdringung betrachtet werden und als paradigmatische Räume heutiger Städte innerhalb globaler Ströme fungieren. Mit ihnen lassen sich zeitgenössische Ausprägungen zeit-räumlicher Relationen, Distanzen und Erreichbarkeiten analysieren. In den gewählten Fallbeispielen werden unterschiedliche theatrale Strategien angewendet, um in glokalen Passagenräumen scheinbar Bekanntes fremd erscheinen zu lassen oder in seiner Fremdheit zu rahmen und zugleich vermeintlich Fremdes in seinen Ähnlichkeiten und Anschlussstellen kenntlich zu machen und näher zu bringen. Neben den zu Beginn des Kapitels ausgeführten Überlegungen zu weltweiten Strömen und Bezugssystemen, die sich in Passagenräumen kreuzen, werden zeitgenössische Durchgangsbewegungen auch maßgeblich durch mediale und virtuelle Vernetzung geprägt, was die Komplexität der Interdependenzen weiter steigert. Denn erst »die Informationsrevolution machte«, wie Dahrendorf schreibt, »die gesamte bewohnte Welt zum realen (oder doch zum virtuellen?) Raum.«39 Darüber hinaus bringen Medien und deren Einsatz – so Meyrowitz – ein »Bewußtsein des ›generalisierten Anderswo‹ hervor, indem sie uns mit – vom jeweiligen Ort aus ge-

36 Vgl. Pailer 2008. 37 Robertson 1998, 196. 38 Vgl. Robertson 1998, 197ff sowie weiterführend ders. 1992, Beck 1997, 88ff, Giddens 1991, 21ff und Nederveen Pieterse 1998, 87-124. 39 Dahrendorf 1998, 41. Vgl. zu den Veränderungen medialisierter Kommunikation Hahn 2009 und Tholen 2002.

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sehen – externen Perspektiven versorgen. Dieses generalisierte Anderswo dient als Spiegel, in dem wir den eigenen Ort wahrnehmen und beurteilen.«40 Ist das Bild des Spiegelns von Fernem in Nahem noch stärker einem Medienverständnis des Sender-Empfänger-Prinzips verbunden, erfordert die Anwendung auf heutige (Tele-)Kommunikationstechnologien wie das Smartphone hingegen ein Bewusstsein für Prozesse des Interagierens und der wechselseitigen Einflussnahme. So ist in Zeiten weltweiter Vernetzung »der Ort kein abgegrenztes Kommunikationssystem mehr« und elektronische Medien »machen die Existenz anderer Orte und anderer Menschen bewußter und erinnern uns permanent daran, daß die Menschen anderswo viele ähnliche, oft simultane Erfahrungen machen.«41 Mit Blick auf virtuelle und mediale Räume kann somit das Prinzip der Simultanität, im Sinne einer Gleichzeitigkeit räumlich disparater Abläufe, als eines der zentralen Charakteristika des digitalen Zeitalters bezeichnet werden. Dies gilt jedoch nicht nur für geographisch entlegene Vorgänge, sondern auch für jene simultanen Prozesse, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort ablaufen. So ist es beispielsweise gängige Praxis, per Smartphone unter Anwesenden Informationen, Nachrichten und Videoclips auszutauschen, während zeitgleich andere gemeinsame Tätigkeiten vollführt werden. Beschreibt man Simultanität als Charakteristikum der Gegenwart, stellt sich in verstärktem Maße die Frage nach dem Stellenwert des Körpers, kann dieser sich – im Sinne leiblicher Anwesenheit – doch in jedem Augenblick nur an einem Ort befinden: »Individuen bleiben an ihre physische Existenz gebunden; der Körper wird zur Schnittstelle zwischen virtuellem und Realraum: Er hängt gleichsam mit einem Teil im Netz, während der andere auf einem Stuhl sitzt. Er bewegt sich imaginär durch die Orte des Netzes und wird an seine Existenz außerhalb des Netzes erinnert, weil plötzlich jemand zur Tür hereinkommt, sein Ohr juckt oder der Rücken schmerzt.«42

Im Sinne dieser Verschränkung bezeichnet Ulf Otto, der sich dezidiert mit dem Zusammenhang von Internet und Theater befasst, das Bewegen und In-ErscheinungTreten in virtuellen Räumen als »Internetauftritte«.43 Der Begriff impliziert eine körperlich-räumliche Handlung und schlägt den Bogen zu performativen Formen, wobei zugleich die momentgebundene Fragilität virtueller Körperlichkeit mitgedacht wird: 40 Meyrowitz 1998, 178. Damit referiert er auf Meads Begriff des »generalisierten Anderen« (Mead 1934). 41 Meyrowitz 1998, 186; vgl. auch Schroer 2006, 252. 42 Schroer 2006, 270. 43 Das Konzept der Internetauftritte entwickelt Otto in seiner gleichnamigen Publikation, vgl. Otto 2013.

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»Als singulärer Vollzug eines Bündels von tradierten und inkorporierten Praktiken und Techniken bleibt ein Auftritt […] potenziell prekär und instabil und ist aufs Engste mit jenen Technologien, Diskursen und Institutionen verstrickt, die ihn nicht nur vorbereiten und nachvollziehen, sondern überhaupt erst als substantivierte Vergegenständlichung eines distinkten Geschehens und Erlebens zum Träger von Bedeutungen werden lassen.«44

Sind Erfahrungen und Wahrnehmungsvorgänge – auch wenn diese aus einer Onlinevideokonferenz mit Geschäftspartnern aus aller Welt resultieren – immer an konkrete Räume und körperliche Lokalisierung gebunden, ergeben sich bei Internetauftritten in diesem Sinne Erfahrungs- und Kommunikationsdimensionen, die in transitorischer Weise wirken und physische Komponenten in sich tragen. So ist es – wie Schroer schreibt – »im Internet tatsächlich möglich, sich durch dreidimensionale Räume zu bewegen und dabei auch Sinneseindrücke zu simulieren, die an reale Erlebnisse weit mehr als nur erinnern. Man betritt Orte, überschreitet Schwellen, verweilt hier und dort, verliert sich bei der Betrachtung von Anziehendem, flüchtet vor Abschreckendem, gerät in Sackgassen, tritt den Rückzug an, kehrt zurück an den Ausgangspunkt, um festzustellen, wie viele Besucher während der eigenen Abwesenheit das eigene Heim, die Homepage, besucht haben. Und so bietet der Netzraum tatsächlich vieles dessen an, was sich in den realen Städten immer weiter zu verflüchtigen scheint: Eine Mischung der verschiedensten Lebensstile, eine Begegnung mit dem Unbekannten, die Kontaktaufnahme zu Fremden, die Konfrontation mit Dingen, die man bisher noch nicht gesehen hatte, und die Möglichkeit der permanenten Neuerfindung des eigenen Selbst.«45

Körperlich an einem konkreten Ort verhaftet, ist es folglich gängige Praxis, sich gedanklich wie kommunikativ von diesem zu lösen. Die dabei unternommenen virtuellen Passagen sind weit »mehr als nur imaginär. Keineswegs nur träumt sich eine Person an einen anderen Ort. Vielmehr ist sie in gewisser Weise wirklich woanders, während sie doch zugleich auch hier ist, schon fast im Sinne einer Bilokalität.«46 Eröffnet der Begriff der Bilokalität erneut eine Dichotomie, weshalb dieser hier durch die Bezeichnung der Multilokalität ersetzt werden soll, so erweist sich die damit verbundene Idee dennoch als anschlussfähig für den Rahmen der vorliegenden Untersuchung. So sollen gedankliche und virtuelle Passagen nicht als rein fiktiv abgestempelt, sondern als wirklichkeitskonstituierende Bestandteile zeitgenössischer Lebenswelt verstanden werden. Folglich treten im 21. Jahrhundert nicht nur globale und lokale, sondern auch virtuelle und städtische Räume in ein Interde44 Otto 2013, 11. 45 Schroer 2006, 257. 46 Schroer 2006, 263.

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pendenzverhältnis ein, wodurch auch die eindeutige Gleichsetzung von Materialität und Realität in Abgrenzung zu Immaterialität, Virtualität und Fiktion aufgeweicht wird. Wird somit in dieser Hinsicht für eine Entdifferenzierung plädiert, so sollen an anderer Stelle Differenzen aufgezeigt werden, die als solche häufig aus dem Blick geraten oder intentional geglättet werden. Dazu gehören körperliche und wahrnehmungsspezifische Widerständige und Schwellen, Limitierungen der Interaktionsmodi und Kommunikationsebenen bei distanzierter Raumanordnung ebenso wie – teilweise subtil agierende – Macht- und Exklusionsmechanismen, Parzellierungen und Überwachungsapparate.47 Geht man bei der Analyse gegenwärtiger Lebenswelten von dem beschriebenen Überlagerungsgrad aus, stellt sich im Anschluss an die damit verbundene Relativierung geographischer Entfernungen die Frage, woran sich Distanzen heute messen lassen. Hierfür bietet sich die Kategorie der Erreichbarkeit an: Denn wie in vergangenen Zeiten, in denen die Fortbewegungsmöglichkeiten noch nicht den derzeitigen technischen Stand erreicht hatten und zudem vorwiegend Formen unmittelbarer, kopräsenter Kommunikation zur Verfügung standen, erscheint einem auch heute noch jenes nah, was oder wer einfach, schnell und mühelos zu erreichen ist. Das Spezifikum medialisierter Welt ist es vielmehr, dass dabei eine Entkopplung von räumlich-geographischen und wahrgenommen-erlebten Distanzen möglich ist: »Die physische Nähe zu anderen ist nicht mehr gleichbedeutend mit der Einbindung in Kommunikationssysteme der gegenseitigen Abhängigkeit. Umgekehrt bedeutet physische Ferne von anderen nicht automatisch kommunikative Ferne.«48 In Zeiten »rasenden Stillstands«49 verlagert sich dieses Moment zunehmend von einem Anspruch auf physische Präsenz zu der Erwartungshaltung medialer Ansprechbarkeit. Ubiquitäre Verfügbarkeit und Erreichbarkeit werden somit zu entscheidenden Indikatoren zwischenmenschlicher Nähe und gesellschaftlicher Präsenz im 21. Jahrhundert, deren Ambivalenzen Dieter Mersch wie folgt beschreibt: »Ubiquität ohne Raum- und Zeiteinschränkung sind [sic!] […] verbreitete Illusionen gerade mobiler Kommunikations- und Lebensformen, wie sich vor allem anhand der Handy-Kultur […] ablesen lässt – die scheinbare Nähe und Bezogenheit bei – im Wortsinne – gleichzeitiger ›Aus-Räumung‹ und ›Ent-Fernung‹ des Anderen. Das Begehren nach universeller Erreichbarkeit und die Überbrückung von Distanzen einerseits sowie der Ausschluss von Gegenwart und die Ortlosigkeit andererseits bedingen sich gegenseitig.«50

47 Vgl. Schroer 2006, 252. 48 Meyrowitz 1998, 189. 49 Vgl. Virilio 2002. 50 Mersch 2011, 53.

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In Abgrenzung zu einer Idee unbegrenzter Verfügbarkeit sollen im Folgenden – wie bereits angedeutet – Möglichkeiten produktiver Grenzen und Reibungsflächen aufgespürt werden, um innerhalb hybrider Weltzusammenhänge »lokale Besonderheiten global zu verorten und in diesem Rahmen konfliktvoll zu erneuern.«51 Passagenräume in Alltag und performativer Praxis bieten sich dafür aufgrund ihrer Verflechtungsdichte besonders an: »Hybridbildungen, die aus der wechselseitigen Durchdringung verschiedener Logiken entstanden sind, manifestieren sich an hybriden Orten und Räumen.«52 Somit können sie zu einem Kristallisationspunkt in diesem Sinne verstandener Durchlässigkeit und Durchmischung werden und bieten sich zugleich an, um gerade dort – unter anderem Mittels künstlerischer Interventionen – Grenzen aufzuzeigen und Möglichkeiten produktiver Differenzierung zu erproben. Darüber lässt sich zeigen, dass die Erweiterung des Blicks von lokalen Zusammenhängen auf die gesamte Welt, die durch die Globalisierung ermöglicht wird, nur vordergründig eine lineare Entgrenzung bewirkt. Vielmehr soll im Folgenden bei den Leitbildern und Praktiken der Durchlässigkeit von »Zeichen eines Zeitalters der Grenzüberschreitungen – nicht jedoch eines Zeitalters, in dem die Grenzen verschwinden«53 ausgegangen werden. Daran lässt sich eine der zentralen Annahmen folgender Überlegungen anschließen: Anstatt Grenzen als starre Bezugsgrößen zu sehen oder aber von den Möglichkeiten und Praktiken globaler Grenz- und Raumüberwindung auf eine generelle Entgrenzung zu schließen, soll davon ausgegangen werden, dass Grenzen in glokalen Zusammenhängen zu zentralen gesellschaftlichen Variablen werden.54 Dies spiegelt den Versuch wider, einer ungefilterten Transparenz entgegenzuwirken, denn diese – so formuliert es ByungChul Han – »ent-fernt alles ins gleichförmig Abstandlose, das weder nahe noch fern ist.«55 Ohne eine scherenschnittartige Globalisierungskritik im Sinne einer Nahraumpräferierung vorzunehmen oder die Wiedereinführung geographischer Parzellierung anzustreben, können durch Theaterprojekte, die mit Ent- und Begrenzungen spielen, wie in den gewählten Beispielen der Fall, Passagenräume zu einer (temporären) Austragungsstätte »agonistischer Positionen«56 werden.57 So eröffnen »Globalisierung, Reflexivität und Enttraditionalisierung [...] ›Dialogräume‹, die ausgefüllt 51 Beck 1997, 87. 52 Nederveen Pieterse 1998, 97. Vgl. zu dem Begriff der Hybridität im postkolonialen Diskurs weiterführend Bhabha 2012 und 1994. 53 Nederveen Pieterse 1998, 118. 54 Vgl. Amann/Mein/Parr 2008, 8. 55 Han 2012, 26 [Hervorhebung im Original]. 56 Mein 2008, 43. 57 Zu Theater und Globalisierung vgl. Hopkins/Solga 2013; Lehmann 2014; Rebellato 2009 und Sieg 2008, 307-324.

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werden müssen«58, da allein die Möglichkeit globaler Verbindungen noch nicht zu einer Verständigung führt. Spricht Giddens hier von einem Dialograum im wörtlichen Sinne, durch welchen es gelingen kann, aber zugleich auch notwendig wird, sich auf sprachlicher Ebene zu verständigen, soll der Begriff in diesem Zusammenhang weiter gefasst werden und als Verhandlungs- und Aushandlungsraum von Interaktionen im Allgemeinen verstanden werden. Elementar ist dabei das Einbedenken des Einzelnen und seiner situativen, individuellen Wahrnehmung, Einschätzung und Beschreibung von Nahem und Fernem, Globalem und Lokalem und den dazwischenliegenden Verbindungen und Verknüpfungen. Im Sinne relationaler, prozessualer Variablen innerhalb glokaler Beziehungsgefüge wird somit ein »Wechsel der Beobachtungsrichtung vom Zustand auf die Bewegung, von der Abgrenzung auf die Verflechtung begünstigt«59, der dem Konzept des Passageren inhärent ist. Die Fallbeispiele lassen sich als Versuche verstehen, mit performativen Mitteln Globalisierungsströme in Passagenräumen aufzugreifen und diese in künstlerischer Rahmung zur Disposition zu stellen. Ob und mittels welcher Strategien sie somit als Spiegel, Gegenbewegung oder Reflexionsraum wirksam werden können und welche spielerischen Formen von Distanz und Nähe das Theater der Gegenwart einschlägt, sollen die folgenden Analysen exemplarisch zeigen.

58 Giddens 1997, 182; vgl. hierzu auch Clifford Geertz Konzept des »local knowledge«, das er im Bemühen definiert, »to come to terms with the diversity of ways human beings construct their lives in the act of leading them.« (Geertz 1983, 16; vgl. zudem Schareika/ Bierschenk 2004.) 59 Amann/Mein/Parr 2008, 8. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Stadtraum und Wahrnehmung: Schwibbe 2002. Eine historische Perspektive auf verschiedene Positionen globalen Bewusstseins findet sich bei Robertson 1998, 207ff.

8 Auf der Ladefläche durch ferne Nah- und nahe Fernräume – Cargo Sofia von Rimini Protokoll

Am frühen Abend des 31. Mai 2006 nehmen in Basel etwa fünfzig Zuschauer auf der Ladefläche eines Lastwagens Platz. Diese wurde zuvor mit Sitzreihen längs zur Fahrtrichtung ausgestattet und die Seitenplane durch eine Art Schaufensterscheibe ersetzt, durch welche sich den Zuschauern der Blick nach draußen öffnet. Die Begrüßung erfolgt durch zwei Fernfahrer, die sich kurz vorstellen und den Anwesenden verkünden, dass nun eine dreitägige Fahrt von Sofia nach Basel über verschiedene europäische Ländergrenzen hinweg anstünde. Daraufhin besteigen die beiden die Fahrerkabine, die mit der Ladefläche, das heißt dem Zuschauerraum, via Leinwandübertragung verbunden ist, und machen sich mit dem menschlichen Transportgut auf den Weg. Es beginnt ein zweistündiges Wechselspiel von Blicken nach draußen auf Basler Außenbezirke, Umgehungsstraßen und Speditionshöfe sowie auf Videoeinspielungen der Straßen Bulgariens, auf Leinwand projiziert, die vor dem Außenfenster herabgelassen werden kann. Interviews rund um das Logistikund Speditionsgewerbe sowie durch Livebilder aus der Fahrerkabine ergänzen diese Ausblicke, die beiden Fernfahrer berichten von ihrem Beruf und erzählen Geschichten aus ihrem Leben, ihrer Heimat und von ihren Familien. Dazu legt ein DJ, der sich neben den Teilnehmern an Bord des Lastwagens befindet, live gemischte Balkanbeats auf. Bei der hier beschriebenen Theaterfahrt handelt es sich um die Produktion Cargo Sofia1 von Rimini Protokoll, die im Mai 2006 in Basel zur Uraufführung kam

1

Regie führte bei dieser Inszenierung Stefan Kaegi, Co-Regie Jörg Karrenbauer. Die Projektidee für Cargo Sofia entstand vor dem Hintergrund des Skandals um die Reutlinger Speditionsfirma Willi Betz, die 1994 die bulgarische Firma Somat aufkaufte und bulgarische Fernfahrer unterbezahlt und illegal beschäftigte (vgl. Deck/Kaegi 2008, 63 und Sorrento 2014).

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und in den Folgejahren durch verschiedene europäische und später auch asiatische Städte tourte. Grenzverläufe zwischen Nah- und Fernräumen werden dabei mittels mobiler Grenzverhandlung eruiert, deren Überlagerungen materieller und imaginativer Passagenräume im Folgenden in den Blick gerückt werden. Besteht bei diesem Beispiel eine starke thematische Nähe zu dem vorangegangenen Kapitel über Mobilität und Verortung, wird nun ein anderer Betrachtungswinkel eingenommen: Dieser richtet sich auf die Frage, inwieweit mit theatralen Mitteln Schwellenzustände zwischen Nah- und Fernräumen erzeugt und wie unmittelbare Raumerfahrung und Imaginationsräume zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Passagen in und von (Nicht-)Orten »Die Räume, durch die man sich während Cargo Sofia bewegt, sind transitorische Räume – Straßen und Autobahnen, Tankstellen, Parkplätze und alle möglichen Umschlagsorte von Waren. Stadterfahrung ist hier eine flüchtige […].«2 Neben der von Miriam Dreysse benannten Flüchtigkeit sind die gewählten Räume zudem durch hohe Universalität gekennzeichnet, was nach Augé ihre Zuordnung zu einer spezifischen Stadt erschwert: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.«3 Die hier benannte fehlende Relationalität lässt sich mit Matzke auch als ein Raum umschreiben, in dem ein Heimisch-Werden nicht möglich ist, »man passiert sie nur für einen bestimmten Zeitraum. Im fahrenden Laster mit dem Zuschauercontainer wird die Auflösung des Raumes in einer globalisierten Welt augenfällig. Raum, Zuschauer und Theater werden selbst mobil.«4 Rimini Protokollführt – beziehungsweise fährt– die Theaterteilnehmer durch Gegenden, die sie bislang größtenteils nicht aus direkter Anschauung kennen und daher für sie nicht mit Geschichte(n) und Erfahrungen gefüllt sind. Dadurch wird augenfällig, dass Teile der eigenen Stadt, des scheinbar Lokalen und Vertrauten, aus dem Radius alltäglicher Passagenbewegung der Theaterteilnehmer ausgeschlossen sind. Dadurch erscheinen diese ihnen zunächst als identitätslos, geschichtslos, austauschbar und somit, nach der Definition Augés, als Nicht-Orte. Ob

2

Dreysse 2007, 94. In jeder neuen Stadt, in der sich die Produktion in der Folge der Basler Premiere einfand, wurden die jeweiligen Transiträume der Stadt aufgespürt und die Route neu entworfen. Die Wahl fiel dabei stets auf Passagenräume, die von gesteigerter Instabilität und Prozessualität gekennzeichnet sind, und sich somit zur performativen Evaluierung von Transiträumen eignen.

3

Augé 2010, 83.

4

Matzke 2007, 115.

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man sich gerade auf einem Container-Verladehof in den Außenbezirken der eigenen Stadt oder – wie von den Fernfahrern deklariert – in Bulgarien befindet, ist aus dieser Perspektive schwer zu unterscheiden, was eine Verunsicherung eigener Lokalisierung bewirken kann. Da die eigene Anschauung und Ortskenntnis fehlen, sind die Betrachter, bei dem Versuch die Spezifika zu erkennen, auf Benennungen angewiesen. Diese Überführung von Orten in sprachliche oder schriftliche Form, wie dies bei Schrifttafeln am Rand von Autobahnen üblich ist, die Sehenswürdigkeiten nahe der Straße annoncieren, geht für Augé mit einen Abstraktionsprozess einher. Anstelle eines Raumerlebens tritt dabei ein Raumlesen: »Man fährt nicht mehr durch Städte hindurch, doch die bemerkenswerten Punkte werden auf Schildern angezeigt, die gleichsam einen Kommentar bilden. Der Reisende wird gewissermaßen davon dispensiert, anzuhalten oder gar zu schauen.«5 Dieser Abstraktionsschritt wird im Zuge der Theaterfahrt dazu genutzt, um die unbekannten Orte mit fiktiven Bezeichnungen, beispielsweise bulgarischer Transiträume, zu belegen und somit die Behauptung zu etablieren, es handele sich um eine Reise durch den Fernraum, obgleich man sich geographisch durch den Nahraum bewegt. Durch das Wissen um diese Kluft werden die Passagiere auf solcherlei Abstraktionsvorgänge im Alltag hingewiesen und zugleich – im Sinne Brechts – mittels Verfremdung des vermeintlich Bekannten auf die eigene Unkenntnis der konkreten Räume und die Fremdheit der eigenen Nahräume aufmerksam gemacht.6 In einem nächsten Schritt macht dieser theatrale Winkelzug deutlich, wie subjektiv räumliche Zuordnungsmuster sind. Denn nur für den außenstehenden, vereinheitlichenden Blick greift die Etikettierung als Nicht-Ort. Die Fernfahrer hingegen, für die es sich um ihre Arbeitsräume handelt, greift diese Benennung nur eingeschränkt, da für sie die Räume mit Alltagsgeschichte(n) aufgeladen sind: »Alle neuen Orte er›fahren‹ wir erst einmal aus der Sicht eines Lkw-Fahrers, weil wir an Orte wollen, an denen Lastwagenfahrer zuhause sind, Fußgänger sich aber nicht auskennen.«7 Anders als bei den soeben erwähnten Autobahnschildern, am Beispiel derer Augé ein abstraktes Passieren einer Sehenswürdigkeit ohne direkte Anschauung beschreibt, werden die Passagiere bei Cargo Sofia des eigenen Betrachtens nicht enthoben. Die unbekannten und als universal erscheinenden Räume werden angesteu5

Augé 2010, 98. Auch laut de Certeau können Benennungen Bedeutungen beeinflussen, sie geben »den Anstoß zu Bewegungen, so wie Eingebungen und Signale, die den Verlauf des Weges ändern oder umlenken, indem sie ihm Bedeutungen (oder Richtungen) geben, die bis dahin nicht sichtbar waren. Diese Namen schaffen Nicht-Orte an Orten; sie verwandeln sie in Passagen.« (De Certeau 1988, 199.)

6

Vgl. Brecht 1989, 655.

7

Deck/Kaegi 2008, 65.

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ert, unmittelbar vor Augen geführt und durch die Aufführung als sehenswürdig deklariert. Darüber hinaus bieten die ›Alltagsexperten‹8 den Teilnehmern während der zweistündigen Fahrt durch Berichte und Geschichten Einblicke in die Welt des Fernverkehrs und die eigene Alltagswelt, die ihnen somit zugänglich gemacht wird. Den Teilnehmern wird im gleichen Zuge ins Bewusstsein gerufen, dass die Transiträume zwar nicht auf ihren täglichen, vertrauten Routen liegen, diese aber über die Waren, die hier transportiert und verladen werden, täglich mit den während der Theaterproduktion durchquerten Räumen in Verbindung stehen und sich auf deren reibungslose Abläufe verlassen. Besonders plastisch wird dies durch die Position der Theaterteilnehmer auf der Ladefläche, die so selbst zur Ware und zu einem Teil des Warenkreislaufs werden. Die auf diese Weise initiierte Form der Annäherung verbleibt auf der Schwelle zwischen Fremdem und Bekanntem und erzeugt eine Gleichzeitigkeit von NichtOrten und Orten: »Rimini Protokoll bringen Fremdes näher und halten es zugleich auf Distanz.«9 Das zeigt sich exemplarisch daran, dass die Fernfahrerwelt zwar wie eben beschrieben direkt in Augenschein genommen wird, jedoch – durch die trennende Glasscheibe symbolisiert – nicht direkt mit der eigenen Lebenswelt in Berührung kommt, was die Abständigkeit betont. Auch die Fernfahrer selbst sind, »sieht man einmal von der Begrüßung ab, räumlich von den Zuschauenden getrennt […]. Wir erfahren nur lückenhaft etwas über ihr Privatleben […]. Gleichzeitig wird mit der Intimität der Situation gespielt: Man sitzt dicht gedrängt in einem Raum, der, so wird durch die Erzählungen der Fahrer deutlich, fast wie ein Privatraum für sie ist – in den noch intimeren Raum der Fahrerkabine hat man aber wiederum nur vermittelt und fragmentarisch Einblick.«10

Auf theatralem Wege wird somit deutlich gemacht, dass eine klare Polarität von Orten und Nicht-Orten nicht zeitgemäß ist und die Relationslosigkeit, mit der Passagenräume in Augés Sinne etikettiert sind, ebenfalls einer Transitorik und soziokulturellen wie auch subjektiven Passagen unterliegen. Daraus lässt sich ableiten, dass jeder Einzelne je nach Nutzung von (Stadt-)Räumen und je nach den eigenen Alltagswegen und Prioritäten innerhalb räumlicher Gefüge jeweils eigene Nicht8

Großen Wert legen die Regisseure von Rimini Protokoll auf die Bezeichnung der Alltagsexperten in Abgrenzung zu dem Begriff der Laiendarsteller, da der Theaterteilnehmer diesen in ihrer alltäglichen Umgebung, auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet begegnet. Im Falle Cargo Sofia kreuzen somit Vertreter des Speditionswesens, Lageristen und Fernfahrer den Weg des Theaterbesuchers. Der Regisseur Stefan Kaegi äußert sich dazu folgendermaßen: »Ich wollte wissen, was Menschen, die so viel und weit in Europa unterwegs sind, über Europa zu erzählen haben.« (Deck/Kaegi 2008, 63.)

9

Dreysse/Malzacher 2007, 10.

10 Dreysse 2007, 92f.

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Orte sowie Zentren und Peripherien innerhalb eines rhizomatischen, multizentralen und fragmentarischen Gefüges hervorbringt. Im Sinne der Ausführungen zu Beginn des Kapitels können die dabei zustande kommenden Interdependenzen als glokal durchwirkt bezeichnet werden. Sobald Räume innerhalb der eigenen Geo-Biographie mit Relationen versehen und mit Geschichte(n) aufgeladen werden, entwickeln sich diese zu individuellen Zentren beziehungsweise Augé’schen Orten und neue Ränder und Nicht-Orte bilden sich heraus. Dieser passagere Vorgang, der während der Theaterfahrt der Wahrnehmung des Teilnehmers abverlangt, sich stets auf neue Ortsbegebenheiten einzustellen, birgt somit die Möglichkeit und Notwendigkeit, diese in einem dynamischkonstruktiven Prozess individuell zu verräumlichen. Damit werden räumliche Zuschreibungsvorgänge mobilisiert. Die daraus resultierende Einsicht, dass Raum unter diesen Vorzeichen nur als ein pluraler denkbar ist, beschreibt Matzke als »Prinzip des Nebeneinander«11. Diesen Ansatz weiterführend ließe sich das Gefüge bei Cargo Sofia nicht nur als ein Nebeneinander, sondern vielmehr als ein Aufeinanderschichten und Durchwirken verschiedener Räume und Realitäten beschreiben. Die verschiedenen Schichten und Geschichten, die sich in und mit den Räumen ereignen, bestehen gleichzeitig und können je nach Blickwinkel vermischt oder auch voneinander separiert wahrgenommen werden. Begegnungen mit dem eigenen Blick De Certeau beschreibt am Beispiel des Gehens die Ambivalenz prozessualer Vorgänge im Sinne einer unabschließbaren Suche nach dem Eigenen: »Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.«12 Erst durch das Eintreten in eine Bewegung kann in diesem Verständnis ein Suchprozess nach dem Eigenen beginnen und bietet sich die Möglichkeit, einen Raum – in diesem Fall eine Stadt – in ihrer Vielfältigkeit zu erfahren und damit mögliche Verräumlichungsoptionen aufzuspüren. Im gleichen Moment wird jedoch gerade durch diesen prozessualen Akt der Fortbewegung durch den Raum eine tatsächliche Ankunft verhindert.13 Ziel der theatralen Fahrt scheint in diesem Sinne ebenfalls nicht das letztliche Ankommen an einem eigenen Ort oder auch die Auflösung von Fremdheiten und

11 Matzke 2007, 115. Zu der Idee einer Raumordnung des Nebeneinander vgl. Foucault 1990, 34, Löw 2001, 11 sowie Buschauer 2010, 198f. 12 De Certeau 1988, 197. 13 Vgl. Primavesi 2008, 100.

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Befremden zu sein. Vielmehr erfolgt hier ein Zusammenführen, Kontrastieren und Kollidieren verschiedener Realitätsperspektiven und die Kennzeichnung eines passageren Suchprozesses. Die Idee der punktuellen Lokalisierbarkeit des Eigenen wird dabei von einem individualisierten pluralen Raumgefüge abgelöst. Dieses besteht weniger aus konkreten Orten, als vielmehr aus einer Mischung von Raumelementen und diese verknüpfenden Assoziationen vor einem global-lokalen Denkhorizont. Die daraus resultierende Verweigerung zentralisierter Bezugspunkte verweist darauf, dass räumliche Strukturen ebenso wie die Einteilung in Fremdes und Eigenes immer maßgeblich an Zuschreibungsprozesse gekoppelt sind, die stets von den Betrachtern und Raumnutzern abhängen und nicht essentialisierbar sind. Statt dass die Inszenierung die Suche nach dem Eigenen befriedigt, wird die Betrachtungsrichtung umgekehrt und die Theaterteilnehmer werden mit dem eigenen, suchenden Blick, dem alltäglichen Sehen und Übersehen konfrontiert: »Der in der Geschichte des bürgerlichen Theaters auf den Innenraum fixierte Blick des Zuschauers begegnet plötzlich sich selbst.«14 Diese Konfrontation findet auf unterschiedlichen Ebenen statt: Bereits durch die räumliche Anordnung wird der Theaterteilnehmer, der die gerahmte Stadt betrachtet, seinerseits als Schauender ausgestellt und für die Passanten sichtbar – wie in einem Schaukasten – durch die Straßen gefahren: »Auf der einen Seite sitzt das Publikum im Lkw und schaut hinaus. Auf der anderen Seite sammeln sich die Mitarbeiter der jeweiligen Speditionen und schauen interessiert in den Lkw. So fährt dieses seltsame Vehikel mit der großen Glasfront voller Menschen durch die Gegend und erfüllt die Umgebung mit neuer Bedeutung.«15

Auf diese Weise verschiebt sich die Grenze zwischen Schauenden und Schauobjekten wodurch ein doppelter ›Zoo-Effekt‹ entsteht. Der Theaterteilnehmer, der mit der Erwartungshaltung den Lastwagen betritt, Zuschauender zu sein, wird nun als lebendige Ware in einem gläsernen Käfig mitsamt seines voyeuristischen Blickes16 auf die täglich unhinterfragt genutzte Konsumwelt und den Logistikalltag ausgestellt. Neben der real-physischen Ebene setzt sich das Prinzip des Sichtbarmachens des eigenen Blicks auf einer metaphorisch-gedanklichen Ebene fort, was sich beispielhaft anhand einer Sequenz verdeutlichen lässt, in welcher der Lastwagen an einer Verkehrsinsel vorbeifährt, auf der eine Frau steht und bulgarische Volksweisen singt. Ihre Stimme wird ins Wageninnere übertragen, sodass, obwohl sich die Sängerin inmitten des lärmenden Straßenverkehrs befindet, ein konzentrierter Klang14 Primavesi 2008, 105. 15 Deck/Sieburg 2008, 65. 16 Zur Auseinandersetzung mit dem voyeuristischen Blick vgl. auch Kapitel 13.

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raum innerhalb des Lastwagens entsteht. Auf musikalisch-atmosphärischem Wege werden in dieser deutlich als inszeniert gerahmten Sequenz Klischeevorstellungen angeregt, etwa die Verknüpfung Bulgariens mit Tradition und Volkstümlichkeit. Im gleichen Moment setzt jedoch eine Verfremdung ein, da sich die singende Frau durch die körperliche Verortung im Stadtraum und die akustische Präsenz im Zuschauerraum merklich von der konkreten Umgebung löst. Kontrastiert wird dieser Höreindruck durch die anfangs erwähnten Balkanbeats, welche unter anderem durch Vertreter wie Wladimir Kaminer popularisiert wurden und ein anderes, aber ebenso fiktives Assoziationsspektrum akustischer Klischees und Imaginationen wachrufen. Gespielt wird dabei mit imaginären Räumen sowie mit dem hohen Fiktionsgrad von westlich geprägten Zuschreibungen und Osteuropa-Projektionen. Der Regisseur Stefan Kaegi beschrieb die Arbeitsweise von Rimini Protokoll einmal folgendermaßen: »Wir benutzen Theater als ›Guckloch‹ von Menschen zu Menschen.«17 Wie sich zeigen ließ, wird durch die Wahl des Guckloches nur ein bestimmter Ausschnitt ermöglicht, der das Außengeschehen rahmt und auf diese Weise Fährten für die Bedeutungskonstitution legt, verstanden als »eine Verdeutlichung, eine Vergrößerung, aber auch Fiktionalisierung.«18 Der Begriff des Gucklochs impliziert jedoch eine Reduzierung auf visuelle Aspekte, was im Falle dieser Inszenierung zu kurz greift. Denn vielmehr entsteht bei Cargo Sofia ein visueller, akustischer, somatischer und imaginärer Raum, den das Theater innerhalb der sogenannten Wirklichkeit ansiedelt, um deren vielschichtigen Grenzverläufe aufzuspüren und gegebenenfalls zu überwinden. Bezogen auf den eigenen Blick ist zudem von besonderer Relevanz, dass hier nicht wie bei einem Guckloch, wie es beispielsweise ein Türspion ist, heimlich ein Geschehen beobachtet werden kann, sondern dieses in beide Richtungen funktioniert, sodass, wie beschrieben, nicht nur die gerahmte Außenwelt, sondern auch der eigene Schauvorgang sichtbar wird. Dabei werden die in der Inszenierung angelegten Spannungsfelder von Schauen und Angeschaut-Werden, Lenkung und Mitbestimmung deutlich: Körperliche Immobilität und starke Vorstrukturierung der Wahrnehmung durch Rahmensetzungen treffen auf eine nicht kohärente Erzählweise, die durch die Aneinanderreihung von Einzeleindrücken und fragmentarischen Begebenheiten dem Rezipienten die Aufgabe der Sinnproduktion und der Verknüpfung mit seiner eigenen Lebenswelt sowie seinen Assoziationsspektren überträgt. Zugleich beinhaltet sie eine bewusste Inkaufnahme und Beförderung zufälliger Begegnungen und individueller Rahmungsprozesse. Ein Symbol für dieses Wechselspiel ist das abwechselnde Öffnen und Schließen des ›Fensters zur Außenwelt‹, was sich als gezieltes Erproben von Spielräumen und deren Begrenzungen bezeichnen ließe. Verstärkt wird dies durch das Spiel um den Theaterrahmen selbst: Herkömmliche Elemente – wie die Guck17 Deck/Kaegi 2008, 63. 18 Deck/Sieburg 2008, 71.

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kastenanordnung oder auch eine Applausordnung zum Ende der Aufführung – werden zitathaft entlehnt, dabei aber zugleich aus ihrem Rahmen gelöst und in einen neuen Kontext gestellt. Diese mehrschichtigen Strategien finden nicht verdeckt statt, sondern werden – wie auch Roselt es ausdrückt – ostentativ zur Schau gestellt: »Der Unterschied zwischen dem Sich-Zeigen im Alltag und dem In-Erscheinung treten im Theater besteht darin, dass die Inszeniertheit des Auftritts bei Rimini Protokoll nicht kaschiert und die spezifische Wahrnehmungssituation sogar ausgestellt wird.«19 Damit wird deutlich, dass – anders als häufig proklamiert – mit dem Verlassen des etablierten Theaterrahmens und der Positionierung im Stadtraum nicht automatisch ein Zuwachs an Freiheiten seitens des Rezipienten und eine räumliche Entgrenzung einhergehen. Dieses Argument lässt sich untermauern, wenn man einen Schritt weiter geht und hinter das ostentativ ausgestellte Spiel aus Lenkung und Mitbestimmung schaut: Denn gerade diese stark markierte Ausgestelltheit und das daraus resultierende vermeintliche Wissen um die Spielregeln der performativen Setzung bieten Raum für neue Spektren subtiler Manipulationsmechanismen. Dadurch kann der Effekt entstehen, dass auch jene Theaterteilnehmer, die sich dem Prinzip der Mehrfachrahmung bei Rimini Protokoll bewusst zu sein glauben, durch Hinzufügen einer weiteren Modulation20 letztendlich während der Aufführung doch der unbewussten Lenkung unterliegen. In dieser Strategie liegt ein politisches Moment, da es sich dabei um dem Alltag entlehnte Machtstrukturen handelt, die hier theatral erfahrbar werden. So bietet die anschließende Reflexion das Potenzial, subtile Abhängigkeitsverhältnisse in außertheatralen Situationen – wie die eigene Position in alltäglichen Warenkreisläufen – transparent zu machen. Auf der Schwelle zwischen Nahraum und Fernraum Wurde bislang vor allem auf von Fernräumen durchwirkte Nahräume und den distanzierten Blick auf vermeintlich Nahes sowie den eigenen Blick auf Fremdes und Bekanntes eingegangen, wird nun abschließend der Fokus gezielt auf den Moment des Changierens zwischen Nahraum und Fernraum und die theatral erzeugten oder gerahmten Schwellensituationen in Passagenvorgängen gerichtet.21 Im Zuge alltäglicher Passagenbewegungen im Kontext des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts wird – wie Virilio diese beschreibt – der Moment des Zwischen weitgehend durch eine Zielfokussierung abgelöst, bei welcher wir, wie er es

19 Roselt 2007, 60. 20 Zu Goffmans Begriff der Rahmenmodulation vgl. Kapitel 2.2. 21 Zur Thematik der Schwelle und den begrifflichen Annäherungen, wie sie beispielsweise Victor Turner vornimmt, vgl. Kapitel 2.2.

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formuliert, »von einem Bewegungszustand zum nächsten über[gehen], ohne uns darum zu kümmern, was sie bedeuten […]«, wodurch das »Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleunigung«22 sowie die Zwischenphasen der Bewegung selbst aus dem Blick geraten. Rimini Protokoll nimmt dieses Motiv auf, führt es jedoch nicht weiter, sondern kehrt es gewissermaßen um: So ließe sich Cargo Sofia, im Kontrast zu den von Virilio beschriebenen zielgerichteten Passagen ohne Übergänge, als ein unaufhörlicher Zwischen- oder Schwellenzustand ohne klar definierbares Ziel beschreiben, ein Schweben zwischen Aufbruch und Ankunft, Hier und Dort, das durch diverse theatrale Strategien aktiviert wird. Eine erste Strategie besteht in der räumlichen Anordnung der Theaterteilnehmer, die zur Aufgabe der vertrauten Perspektive veranlasst. Die von Rimini Protokoll gewählte Form der Fortbewegung ist – wie auch bei Schwarztaxi – die des Fahrens; die Teilnehmer befinden sich hierbei jedoch nicht auf für Passagiere vorgesehenen Rückbanksitzen eines Automobils, sondern nehmen auf der bestuhlten Ladefläche eines Lastwagens Platz. Dieser stellt einen mobilen Passagenraum dar, der sich durch Räume bewegt, die selbst Passagen im Sinne von Veränderungen durchlaufen, an denen wiederum Passagenvorgänge abgewickelt werden. Denn es handelt sich dabei um explizite Transiträume, hier verstanden als dem Handel und dem Warentransfer zugeordnete Passagenräume. Durch die Positionierung des Publikums an einem Ort, der sonst als Stauraum für Transportgut dient, wird der Zuschauer selbst zur ferngesteuerten Transitware und ist somit dem Geschehen gewissermaßen ausgeliefert. In dieser Position werden die Teilnehmer nun, durch eine Glasscheibe von der Umgebung getrennt, in einem mobilen Passagenraum durch den Stadtraum bewegt, der sich für sie somit in Sicht-, jedoch nicht in Reichweite befindet. Ohne dass sich die Teilnehmer selbsttätig bewegen, zieht die Stadt an ihnen vorbei, ändert sich ständig ihre Position. Die Sitzposition des Schauenden ähnelt hingegen einem lokal verankerten Theatersitz, der die Blickrichtung fest- beziehungsweise nahelegt und keine eigenständigen Bewegungen oder Platzwechsel vorsieht. Vor der Zuschauertribüne befindet sich das ›Bühnenportal‹, die Seitenfläche des Lastwagens, die – ähnlich einem mobilen Guckkasten – die vorbeiziehende Umgebung zur Anschauung bringt.23 Im Gegensatz zu dem verdunkelten, lokalisierbaren Auditorium eines Theatergebäudes ist es hier nicht ein bewegtes Geschehen, das mittels eines fest installierten Guckkastens in Szene gesetzt wird, sondern es ist der Rahmen selbst, der sich durch die Stadt bewegt und dabei verschiedene Szenen und Bilder ausschnitthaft einfängt. Durch diese Blickanordnung aus dem Wageninneren werden die betrachteten Orte und Geschehnisse theatral gerahmt und somit die Aufmerksamkeit fokussiert. Jan Deck und Angelika Sieburg schreiben, dass es »in fast jeder Stadt 22 Virilio 1978, 19. 23 Vgl. Deck/Kaegi 2008, 63ff. Zum Begriff des Rahmens vgl. Kapitel 2.2.

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Orte gibt, die in sich schon derart theatralisiert oder von der ökonomischen Wirklichkeit transformiert sind, dass es sich lohnt, sie einfach nur einzurahmen, anzusehen und zu fragen, was hier eigentlich die Repräsentationsverhältnisse sind.«24 Anders als bei einem reinen Rahmungs- oder Ausstellungsvorgang werden bei dieser Form der Ostentation, die unter anderem durch die exponierte Form der Fortbewegung unterstrichen wird, jedoch wirklichkeitskonstituierende Veränderungen und theatrale Überlagerungen vorgenommen. Auf diese Weise verändert auch das sogenannte ›Draußen‹ »seinen Realitätsstatus durch die modifizierte Wahrnehmungsdisposition grundlegend«25. Damit ist bereits eine zweite Variante performativer Schwellenerzeugung angesprochen, die ebenfalls auf Spielarten von Blicken und Anblicken aufbaut: Diese erfolgt über einen Wechsel von Blicken aus dem Fenster auf durchfahrene Stadtlandschaften und der Projektion fernliegender Passagenräume auf die gelegentlich vor dem Fenster herabgelassene Leinwand. Transiträume der vermeintlich eigenen Stadt, die einem – wie bereits im Zusammenhang mit der Überlegung zu NichtOrten ausgeführt – jedoch deshalb nicht zwangsläufig bekannter vorkommen, wechseln sich ab mit solchen, die auf der Strecke zwischen Bulgarien und Basel gefilmt wurden. Der Theaterteilnehmer hat somit wenige Anhaltspunkte bezüglich seiner Verortung – beziehungsweise Verräumlichung26 – und seines Vorankommens, wodurch ihm nur die Konzentration auf den Moment des Übergangs in einem unsteten Changieren zwischen Fern- und Nahraum bleibt. Auch die gezielte Irritation habitualisierter Abläufe und Gewissheiten bezüglich der Raum- und Zeitwahrnehmung des Theaterrezipienten befördert das Verbleiben auf der Schwelle: Bereits die erste Sequenz bietet durch die verbale Umkehrung von Start- und Zielpunkt einen solchen Verunsicherungsmoment. Gerade erst in Basel in den Lastwagen eingestiegen, behaupten die Fernfahrer, man befände sich auf einem Parkplatz in Sofia und das Fahrtziel Basel läge in dreitägiger Reiseentfernung. Zudem besteht eine eklatante Differenz zwischen der real zurückgelegten Strecke innerhalb der eigenen Stadt, die innerhalb von etwa zwei Stunden zurückgelegt wird, und dem von der Inszenierung behaupteten Weg über mehrere Ländergrenzen hinweg, der sich laut Setzung der Inszenierung über eine Reisedauer von einigen Tagen erstreckt. Virilio schreibt zu dem Vorgang der Raumüberwindung, ohne sich dafür körperlich auf den Weg machen zu müssen, wie dies aufgrund medialisierter, globaler Bezüge heute möglich und üblich ist: »Von jetzt an, kommt alles an, ohne daß man abzureisen braucht.«27 Diese Denkfigur greift die 24 Deck/Sieburg 2008, 65. 25 Dreysse 2007, 94. 26 Zu der terminologischen Unterscheidung zwischen Verortung und Verräumlichung vgl. Kapitel 6. 27 Virilio 1990, 270.

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Produktion Cargo Sofia auf und spielt auf performative Weise mit dem Motiv des Ankommens ohne (Ab-)Reise. Bei der Bewegung durch ein und dieselbe Stadt erfolgt die Behauptung einer Reise durch ganz Europa, die Imagination eines Fernraums innerhalb des Nahraums. Damit wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf den konkreten Passagenvorgang gelenkt, da durch die Diskrepanz zwischen der theatralen Behauptung und dem Bewusstsein um die eigene Verortung das Interesse an dem Verlauf des anstehenden Transfers geschürt wird. Denn nicht das Vorankommen ist hier entscheidend, sondern das Spiel mit Vorstellungen und Gewohnheiten der Raumüberwindung, die hier irritiert und befragt werden. Somit wird eine zielgerichtete Passage durchkreuzt, wie diese in funktionalen Alltagszusammenhängen üblich ist und bei der mit Hilfe von Erfahrungswerten oder technischen Hilfsmitteln Strecken und Zeitaufwand recht präzise kalkuliert werden können. Begeben sich die Besucher auch freiwillig in diese Situation, entsteht durch das Bewegt-Werden im städtischen Raum ein Schwellenzustand verbunden mit einem Kontrollverlust über den Vorgang der Passage und einem Moment zeit- und raumloser Verunsicherung. Übernimmt Cargo Sofia somit die räumliche Grundanordnung eines Passagiers im Sinne Virilios, der ohne eigenes Zutun und ohne sich selbständig zu bewegen durch den Raum bewegt wird, lässt sich die Produktion unter diesem Blickwinkel zugleich als eine Art Gegenentwurf zu der Passagenhaltung des ›rasenden Stillstands‹28 verstehen. Denn hier werden gerade keine weiten Strecken zurückgelegt mit dem Ziel, den Mitfahrern zugleich Gefühl zu vermitteln, sich kaum von der Stelle bewegt und dennoch ganz Europa durchquert zu haben. Das ›rasende‹ Element ist somit nicht der stillgestellte Körper durch den Raum, sondern die Wahrnehmungsvorgänge der Teilnehmer, die durch die behauptete, imaginierte Reise in Bewegung versetzt werden. Im Kontext der Überlegungen zu globalen und lokalen Zusammenhängen lässt sich der hier erzeugte Übergangszustand als ein theatrales Changieren beschreiben, das sich weder in Richtung des Nahraums, noch des Fernraums auflösen lässt, und somit in komprimierter Form sinnbildlich für zeitgenössische Formen ›glokaler‹ Durchdringung verstanden werden kann. So werden althergebrachte Denkmuster bezüglich räumlicher Grenzen perforiert und die situativen, individuellen Formen der Grenzbildung und Rahmensetzung zum spielerischen Element. Die Transitfahrt durch Europa innerhalb der eigenen Stadt lässt die Einteilung in klar voneinander abgegrenzte Länder sowie die damit verbundenen Zuschreibungen nicht als unumstößliche Größen und abgeschlossene Gebilde erscheinen. Stattdessen tritt an die Stelle ein sich stets im Wandel befindliches, unabgeschlossenes, performatives, historisch und kulturell bedingtes Konstrukt. Dieses kann als Projektionsfläche verschiedenster Europabilder sowie Globalisierungsideen fungieren, die, je nach Nut28 Vgl. Virilio 2002 sowie zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Themenbereich der Mobilität Kapitel II.

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zung, Blickwinkel und Schwerpunktsetzung, verschiedenste Gestalten und Wesenszüge annehmen können. Der damit formulierte Zugang schließt an die Beschreibung von Grenzen im Sinne von Konstrukten an, wie sie Bauer und Rahn vornehmen: »Das Vorfinden von Grenzen aller Art ist stets nur ein Wiederfinden von etwas, was in den Köpfen entstand: Projektionen. Außerhalb der mentalen Fakultäten – Vernunft, Einbildungskraft und Gedächtnis – existiert für sich keine Grenze.«29 Im Weiteren führen sie aus: »Die Unsichtbarkeit der Grenze erfordert ihre ästhetische Verfeinerung oder vielmehr Vergröberung. Um wirksam werden zu können, muß die Linie besetzt werden: im Raum durch Zeichenensembles, Rituale, Bilder und Bauten, im Kopf durch verschiedene Einbildungen und Verhaltenslehren. Die Besetzung der Grenze als notwendiger Reflex auf den tendenziell imaginativen Unterdruck der Linie rüstet das vernünftige, reine Grenzkonstrukt (wieder) zur Zone auf, zu einer realen bildgefüllten Erlebniszone oder zu einer Imaginationszone der Grenze.«30

Für den Betrachter – sei es der Theaterteilnehmer oder der städtische Passant – eröffnet sich durch die Form ›ästhetischer Vergröberung‹, wie sie Rimini Protokoll hier vornimmt, ein Raum, der einerseits geprägt ist durch ein Kräftemessen gesellschaftlicher Determiniertheit von Grenzen, andererseits durch die Freiheit im Umgang mit Grenzverläufen im Sinne von Schwellen, die mittels eines Prozesses der Auseinandersetzung und gegebenenfalls der Transformation überwunden, neu erdacht und produktiv gemacht werden können.31 Deck sieht in dieser Form theatraler Inszenierung, die weder objektive Sinnstiftung behauptet, noch sich als »Mitmachtheater« entwirft, eine Chance zur Öffnung und Neupositionierung des eigenen Blicks und somit auch der Neuverortung des Subjekts in gesellschaftlichen Gefügen: »Ein Theater, das jenseits objektiver Sinnzusammenhänge, politischer Aufklärung oder ewiger Werte den Prozess der Wahrnehmung und die Grenzen der Mitgestaltung von Zuschauern zum Thema macht, erreicht einen eigenen Grad von Freiheit: Es verweist auf das Fragmentarische von Subjektivität und die Grenzen gesellschaftlicher Mitbestimmung, setzt aber diese Grenzen immer wieder aufs Spiel.«32

Theater kann auf diese Weise seinen eigenen Raum neu eruieren, die Merkmale und Bedingungen theatralen Spiels überdenken und seine Position innerhalb gesell29 Bauer/Rahn 1997, 7. 30 Bauer/Rahn 1997, 8. 31 Zum Thema Schwellen vgl. Kapitel 2.2. 32 Deck 2008, 17f.

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schaftlicher und kultureller Wandlungsprozesse stärken – als Instrument des Aufzeigens und Sichtbarmachens, zur Schärfung des Blicks auf blinde Flecken alltäglicher, lokal verankerter Bewegungspraxis im Zusammenspiel mit globalen Entwicklungen und Bezügen, als Reflexionsmoment sowie als Angebot zur Relektüre verbreiteter und stets erneuerter Logiken wie die der unaufhörlichen Beschleunigung, dem Verfall von Relationen und der bipolaren Opposition von Fernem und Nahem.

9 Ferngesteuerte Ferngespräche an der Schnittstelle von Nähe und Distanz – Call Cutta von Rimini Protokoll

Beim Eintreffen an der Theaterkasse des Hebbel Theaters in Berlin erhält der Besucher der Rimini Protokoll-Inszenierung Call Cutta. Mobile Phone Theatre1 anstelle einer Eintrittskarte ein Handy und die Anweisung sich damit auf den Weg zu begeben. Kurze Zeit später klingelt das Telefon und eine Stimme ist zu hören, die sich dem Theaterteilnehmer als indischer Callcenter-Mitarbeiter in Kalkutta vorstellt. Während des fünfzigminütigen Telefonats, das sich im Folgenden entspinnt, führt der indische Telefonist den Berliner Zuschauer wie ferngesteuert durch die eigene Stadt. Grundlage hierfür ist ein zuvor von Rimini Protokoll detailliert ausgearbeitetes Skript, das auf Englisch und Deutsch existiert und anhand dessen der Mitarbeiter den Teilnehmer navigieren kann, ohne dabei selbst über Ortskenntnis zu verfügen. Der Weg führt vorbei an Stätten indisch-deutscher Geschichte, kapitalistischen Knotenpunkten wie Banken, durch Parkhäuser und Parks, durch belebte und einsame Passagenräume. Die Gespräche wechseln, auf Grundlage des Skripts, zwischen funktionalen Wegbeschreibungen, historischen Informationen, einem Austausch über die jeweiligen Lebenswelten, kapitalismuskritischen Fragen und Äußerungen sowie persönlichen Gesprächen über Alltagsabläufe, Liebe, Hoffnungen und Ängste.

1

Die Premiere von Call Cutta fand am 26. Februar 2005 in Kalkutta, die deutsche Erstaufführung am 2. April 2005 in Berlin unter der Regie von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel statt. Die folgende Analyse bezieht sich auf die Aufführungsreihe in Berlin-Kreuzberg. Neben dem hier als Fallbeispiel dienenden Projekt hat Rimini Protokoll eine Parallelinszenierung unter dem Titel Call Cutta in a Box – ein interkontinentales Theaterstück entworfen. Anstatt sich durch den Stadtraum zu bewegen, sitzt der Theaterteilnehmer dabei in einem Büro und telefoniert von dort aus mit dem indischen Telefonisten.

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Die hier skizzierte Grundanordnung eines glokalen Telefonats zwischen abstrakten und konkreten Raumbezügen, zwischen Fremdheit und Vertrautheit, zwischen Befremden und Vertrauen sowie zwischen Austauschbarkeit und Einzigartigkeit birgt vielschichtige Grenzverhandlungen von Nah- und Fernräumen auf konkret-räumlicher, wahrgenommener, imaginierter wie auch kommunikativer Ebene, deren Überlagerungen und Interdependenzen im Folgenden aufgespürt werden sollen. Der Theaterrahmen als Distanzierungsmoment Vor dem Einstieg in die Analyse lohnt ein kurzer Blick auf den Theaterrahmen, der trotz Verlassens des Theatergebäudes deutlich gekennzeichnet wird: Anfang und Ende der Inszenierung sind eindeutig markiert und die Binnenstruktur orientiert sich an einem fünfaktigen Aufbau, der verbal durch den Callcenter-Mitarbeiter kenntlich gemacht wird. Einer der ersten Sätze lautet beispielsweise: »Wenn ich LOS sage, musst Du durch die beiden Glastüren. Das ist der Vorhang. Im ERSTEN Akt geht es um Strategien. LOS!«2 Nach diesem Modell ist jeder der fünf Akte mit einem Thema überschrieben, das bereits das Spiel mit Nähe und Distanz auf zwischenmenschlicher Ebene erahnen lässt: So ist der zweite Akt mit »Der Feind meines Feindes«, der dritte mit »Persönliche Haltungen«, Akt vier mit »Untergrund« und der letzte mit »Akt fünf handelt von dir und mir – und von den anderen. Zuerst kommen die anderen...«3 betitelt. Die Ansagen der Aktübergänge lassen den zwischenzeitlich immer wieder nahezu zum Verschwinden gebrachten Theaterrahmen wieder ins Bewusstsein der Teilnehmer rücken, was einen Moment der Distanznahme von der direkten Umgebung und dem Telefonpartner erzeugen kann: »Der Zaun ist etwas zerstört. Siehst Du die Öffnung? Eine Abkürzung zum dritten Akt!«4 Die Frage nach theatralen Rahmungen erschöpft sich jedoch nicht auf sprachlicher Ebene. Vielmehr treten diese in ein Wechselspiel mit diversen Alltagsrahmen ein, deren Analyse bei den geographischen Relationen ihren Ausgangspunkt nimmt.

2

Zitiert aus dem Skript zur Aufführung am Hebbel Theater Berlin, 14. Bei den weiteren Zitationen dieser Quelle, im Folgenden mit ›Skript RIMINI‹ abgekürzt, handelt es sich um das Schriftstück, das dem Callcenter Mitarbeiter während der Berliner Aufführungsserie zur Lenkung des Teilnehmers durch den Stadtraum vorlag. Dieses besteht aus einer detaillierten englisch-deutschen Beschreibung der Route, die zudem mit Fotografien und Pfeilen zur Illustration versehen ist, wie auch mit dem zu sprechenden Text und den Zeitangaben für die einzelnen Stationen und Wegabschnitte.

3

Skript RIMINI, 102.

4

Skript RIMINI, 42.

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Geographische Nähe-Distanz-Relationen und der Versuch einer Lokalisierung Die Inszenierung Call Cutta bespielt zwei verschiedene, geographisch deutlich voneinander separierte Räume: die Straßen Berlins und ein Callcenter in Kalkutta. Über 7000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen diesen Orten und somit auch zwischen den beiden Gesprächspartnern. In Vorbereitung auf die Produktion nahm das Regieteam eine ausgiebige Vermessung und Kartierung des Berliner Stadtraums im Umkreis des Hebbel-Theaters vor. Auf dieser Grundlage wurde sowohl eine Route für den Theaterteilnehmer entwickelt als auch ein detailliertes Skript für den Callcenter-Mitarbeiter, mittels dessen ihm eine Navigation durch den fremden Stadtraum möglich ist. Im Moment der Aufführung jedoch, in welchem sich der Teilnehmer telefonierend auf dieser Route bewegt, begegnen ihm keine eingewiesenen Akteure. Auch sonst findet er den Stadtraum weitgehend unpräpariert vor, mit Ausnahme einiger versteckter Fotografien, die an Mülleimerdeckeln und ähnlichen Orten angebracht wurden. Der Theater-Gänger bewegt sich folglich durch einen städtischen Passagenraum wie viele andere Passanten mit ihm, wird ab und zu in abgelegene Höfe und über versteckte Schleichwege geführt, befindet sich jedoch grundsätzlich auf allgemein zugänglichen Durchgangswegen, die Teil des städtischen Raumes, der städtischen Rahmung sind. Zur gleichen Zeit – besser gesagt im gleichen Moment, da die Gesprächspartner sich in unterschiedlichen Zeitzonen befinden – sitzt der Callcenter-Mitarbeiter an seinem täglichen Arbeitsplatz in Kalkutta und führt einen Auftrag für einen Kunden aus, der in diesem Fall Rimini Protokoll heißt. In der bei Call Cutta vorgenommenen theatralen Anordnung bleiben diese beiden Räume jedoch nicht getrennt voneinander bestehen, sondern überlagern sich in dem akustischen ›Zwischenraum‹ des Telefongesprächs: »Wo liegt der Ort des Telefonats: in Berlin, in Kalkutta oder irgendwo dazwischen? Beide Beteiligten sind miteinander verbunden, teilen einen gemeinsamen akustischen Raum, der ein variabler ist: Gerade seine Ortlosigkeit macht die Qualität des Handys aus.«5 Damit verbunden ist die Auflösung leiblicher Kopräsenz der Handlungspartner während des Aufführungsereignisses, was jedoch – so die These, die es hier zu untermauern gilt – nicht wie Fischer-Lichte es formuliert zu einem Aufheben interdependenter Wechselwirkung führt. An die Stelle einer körperlichen tritt hier eine akustische und assoziative Feedbackschleife in Kombination mit konkreter Raumerfahrung, wodurch die in Kapitel 2.2 vorge-

5

Matzke 2007, 112. Zur Produktion Call Cutta im Kontext der Globalisierung vgl. Lehmann 2014, 307ff.

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nommene Begriffserweiterung des Feedbacknetzes zum Tragen kommt.6 Denn gerade die Aushandlung dessen, wo sich der andere gerade befindet wie auch die vernetzte Struktur theatraler Spielarten mit Nah- und Fernräumen, werden hier zu einer komplexen performativen Spannung ausgebaut. Ging es im Zusammenhang mit der Eichbaumoper um die Unterscheidung von Verortung und Verräumlichung7, ist für den hier verhandelten Zusammenhang der Begriff der Ortung von besonderem Interesse: »Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muss immer die Zeit wissen […], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße.«8

In diesem Zitat von George Perec aus dem Jahr 1974 ist die räumliche Variabilität, die die Verbreitung des Mobiltelefons mit sich brachte, noch nicht bedacht. Dennoch klingt hier bereits an, dass es sich dabei um eine trügerische Gewissheit handelt, wie Schroer explizit macht: »Die einstmalige Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge machte den Raum zu einer Art Kontingenzbewältiger. Die derzeitige Unruhe rührt genau daher, dass räumliche Bezüge nun selbst flexibel, kontingent und fragil geworden sind und damit nicht mehr länger als Antidot gegen den Rausch der Geschwindigkeit taugen, der die gegenwärtige Gesellschaft erfasst hat.«9

Auf diese Weise steigt das Bedürfnis nach Ortung, dem mittels technologischer Möglichkeiten wie GPS, Internet, Mobiltelefonen und insbesondere dem Smartphone, welches all diese Funktionen vereint, nachgekommen wird. Auch Überwachungskameras stellen eine stete Ortung sicher, indem sie Passagenvorgänge nahezu lückenlos erfassen und dokumentieren. Zugleich sinkt damit der Bedarf an eindeutig ›verorteten‹ Vereinbarungen und Verabredung, da man jederzeit per Mobiltelefon die Lage des anderen situativ ausmachen kann. In Wechselwirkung damit gewinnt das Bedürfnis nach (Ver-)Ortung des anderen – wie an der häufigen Eingangsfrage ›Wo bist Du gerade?‹ oder auch dem zunehmend verbreiteten Verfahren der Handyortung abzulesen ist – im Kontext mo6

Zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Feedbackschleife vgl. Fischer-Lichte 2004, 59 sowie die zum Zwecke vorliegender Untersuchung vorgenommene terminologische Erweiterung des Feedbacknetzes in Kapitel 2.2.

7

Zu dieser Differenzierung vgl. Kapitel 6.

8

Perec 1990 [1974], 103.

9

Schroer 2006, 13.

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derner Kommunikationsformen an Bedeutung. 10 Telefoniert man wie in dem Inszenierungsbeispiel mit dem Mobiltelefon und bewegt sich einer der Gesprächspartner dabei durch den Raum, so ist die gegenseitige Positionsbestimmung nicht klar zu definieren und ändert sich zudem ständig. Einer der damit verbundenen Effekte ist die Mobilisierung von Privatsphären: Ruft man beispielsweise einen Freund oder eine Freundin an, um persönliche Angelegenheiten zu besprechen, dieser bewegt sich jedoch während des Telefonats vom Wohn- in den Stadtraum, so erhält das Gespräch durch die Veränderung der lokalen Verortung des ›Gegenübers‹ eine andere Rahmung.11 Des Weiteren wird eine Entfremdung von konkreten Raumbezügen bei einer gleichzeitigen Behauptung zunehmender zeitlicher und räumlicher Nähe befördert: »Nicht nur die räumliche Simultanität ist ein Charakteristikum des Handys, auch die Simultanität verschiedener Zeitwahrnehmungen. Wobei, wie im Theater, Zeit und Bewegung eng miteinander verbunden sind. Oft sind die Bewegungen des Telefonierenden zum Beispiel beim Gehen oder Fahren im Widerspruch zum Gespräch, das einen Ort behauptet und eine Zeit.«12

In Rückbindung an die Inszenierung Call Cutta lässt sich festhalten, dass der Mitarbeiter auf einer funktionalen Ebene darauf angewiesen ist, den Teilnehmer zu orten, um seinem Skript folgen zu können. Daher beginnt das Gespräch auch mit der Frage: »Bist du drinnen oder draußen?«13 und jede erreichte Station muss durch den Teilnehmer mit einer Losung bestätigt werden, die beispielsweise lautet: »ich kaufe« oder auch »ich bin dabei«14. Umgekehrt versucht auch der Teilnehmer, seinen Gesprächspartner zu lokalisieren, dies jedoch weniger aus pragmatischen Gründen, sondern eher um dem Gespräch und dem Gang durch die Stadt einen Rahmen geben zu können. Für den Angerufenen, in diesem Fall den Theaterteilnehmer, macht es vordergründig keinen greifbaren Unterschied in der Kommunikation, ob sich der Gesprächspartner tatsächlich in Indien befindet oder in einem der umliegenden Gebäude. Für die Rahmung des Gesprächs ergibt sich dadurch jedoch eine beträchtliche Rekontextualisierung: Es handelt sich um eine Telestadtführung, deren Führender – im Gegensatz zum Geführten – über keine direkte Ortskenntnis verfügt und zudem im Moment des Führens Tausende von Kilometern entfernt ist. Damit wird auf die zunehmende Selbstverständlichkeit referiert, einen Bezug zu Räumen aufbauen 10 Vgl. Buschauer 2010, 25 und 286-304. 11 Vgl. ausführlicher Kapitel IV. 12 Matzke 2007, 112. 13 Skript RIMINI, 4. 14 Skript RIMINI, 6.

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zu wollen und zu können, die man selbst nicht aus direkter Anschauung kennt. Mit der Globalisierung von (Geschäfts-)Beziehungen erwächst gleichsam der Anspruch, sich gewissermaßen ›blind‹ in Räumen auszukennen und zurechtzufinden, die man noch nie mit eigenen Augen gesehen, noch nie selbst körperlich betreten hat. Dies kristallisiert sich in einer detailreichen, sich stets verfeinernden Kartierung der Welt durch Google Earth und Google Street View, die einen virtuellen Gang durch hochaufgelöste Straßenzüge ermöglichen. Auch die optische und strukturelle Vereinheitlichung von Passagenräumen – wie sie Augé in seinen Ausführungen zu NichtOrten beschreibt15 – lässt sich unter anderem vor dem Hintergrund dieses Anspruches erklären, da so auch im Falle einer real-körperlichen Begehung eine Orientierung ohne direkte Ortskenntnis möglich ist. Darüber hinaus verweist die Inszenierung auf alltägliche Abläufe und Gepflogenheiten globalisierter Wirtschaftsverhältnisse, bei welchen Service- und Beratungsdienste zunehmend mittels Outsourcing an beispielsweise indische Callcenter delegiert werden, ohne dass dies dem Verbraucher auffällt beziehungsweise auffallen soll. Dies wird durch gezielte Strategien wie das An- oder Abtrainieren eines bestimmten Akzents oder die Behauptung einer Positionsangabe erwirkt, die von der tatsächlichen abweicht. Auf diese Weise hält, wie Balme es beschreibt, das Repräsentationstheater Einzug in der Weltwirtschaft: »Perfect role-playing and identification with character, long since derelict in postdramatic theatre itself, have been resuscitated and re-evaluated in the global economy.«16 Im Falle Call Cutta werden indische Callcenter-Mitarbeiter, die außerhalb dieses Projekts für deutsche Großkonzerne arbeiten, durch ein deutsches Theaterprojekt mit einem Auftrag betraut, der gegen Bezahlung abgeleistet wird. Auch hier liegt, wie bei vielen anderen Callcenter-Telefonaten auch, ein Skript zugrunde, dem der Mitarbeiter nachzukommen hat. Jedoch handelt es sich in diesem Fall nicht um ein Verkaufsgespräch oder eine Kundenberatung, sondern um einen Theaterspaziergang, ein »modernes Lehrstück zu den Folgen der Globalisierung«17. Die Strategien schwanken zwischen der Anwendung üblicher Callcenter-Praktiken, die eine Verwirrung seitens des Gesprächspartners bezüglich Identität und Lokalisierung des Mitarbeiters bewusst evozieren und der Durchbrechung genannter Taktiken, indem diese offen zur Sprache kommen und transparent gemacht werden. Im Vergleich zu den behaupteten Identitäten der Callcenter-Mitarbeiter im täglichen Geschäftsablauf oder auch den Formaten 15 Vgl. Augé 2010. 16 Balme 2014, 187. Zur Praktik antrainierter Akzente in Callcentern vgl. Ehlers, Fiona: »Die Sprache der Nacht. Global Village: In den Callcentern von Pune müssen die Inder wie Amerikaner klingen.« In: Der Spiegel (31/2007), 98. 17 Zitiert aus einem Video-Beitrag der 3sat Foyer-Sendung: Globales »Mobile-PhoneTheater« in Berlin-Kreuzberg. »FOYER« berichtet über »Call Cutta« von RiminiProtokoll (Erstausstrahlung: 4. Juni 2005).

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des Reality-TV machen Rimini Protokoll in ihrem Skript daher auch kein Geheimnis daraus, »dass diese Authentizität der Menschen auf der Bühne nur eine Rolle ist«18 und nutzen Ver- und Enthüllung als Spielmotiv. Neben diesen Verfahren wird der Berliner Theatergänger in Erzählungen des Mitarbeiters über Lohn- und Arbeitsbedingungen mit expliziter Globalisierungskritik und den Folgen des von ihm selbst täglich genutzten Wirtschaftsgefüges konfrontiert. Das führt wiederum dazu, dass dieser seine eigene tägliche Rolle überprüfen muss, da er sich in den Berichten und auch durch die Inanspruchnahme der Callcenter-Dienste im Moment des Gesprächs auf der Seite der ›Ausbeutenden‹ wiederfindet. Mit dieser Diagnose würde jedoch eine Verkürzung des in dem Theaterprojekt Call Cutta erzeugten Dominanzgefüges vorgenommen, das sich deutlich differenzierter darstellt. Dies verdeutlicht ein genauerer Blick auf die Bewegung und Orientierung im Raum und die Vorgänge des Führens und Geführt-Werdens. Führen und Geführt-Werden – Prinzipien der Lenkung und Bewegungsleitung zwischen Nah- und Fernraum Wendet man sich der konkreten Lage des durch die Stadt gehenden Theaterteilnehmers zu, so lässt sich festhalten, dass sich dieser in einer Situation befindet, in welcher zunächst nicht die Gesetze und Einflüsse eines Kunstraums gelten, sondern die des städtischen Raums. Dazu gehören Begegnungen und Auseinandersetzungen mit anderen Passanten, Geräusche, Gerüche wie auch die Regeln und Gefahren des Straßenverkehrs. Dass mit den Anweisungen, die der Gehende per Telefon erhält, weder eine Entlassung aus der Eigenverantwortung noch eine Konsequenzverminderung19 durch den theatralen Rahmen einhergeht, wird explizit durch den anfänglichen Hinweis des Telefonisten betont: »Auch wenn ich Dich führe: Du bleibst selbst für Deine Sicherheit im Straßenverkehr verantwortlich.«20 Anhand dieses Beispiels deutet sich bereits das Changieren zwischen Selbstund Fernsteuerung an, das sich durch die gesamte Inszenierung zieht: Der Theaterpassant durchläuft während des Theaterereignisses einen physischen, aktiven Akt des Gehens, durch welchen er sich den Stadtraum performativ erschließt beziehungsweise diesen – im Sinne des relationalen, prozessualen Raumansatzes – gehend hervorbringt.21 In seinen Ausführungen zu »Gehen in der Stadt«22 unterschei-

18 Malzacher 2007, 43. 19 Vgl. zum Begriff der Konsequenzverminderung Kotte 2005, 31-44. 20 Skript RIMINI, 6. 21 Für eine ausführliche Beschäftigung mit dem hier zugrunde liegenden Raumverständnis vgl. Kapitel 2.1. 22 Vgl. de Certeau 1988, 179-208.

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det de Certeau zwei Perspektiven auf urbane Gefüge: Die erste stellt jene der Fußgänger dar – wie es der Theatergänger einer ist. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre »Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewußten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein von vielen anderen Körpern gezeichnetes Element ist – entziehen sich der Lesbarkeit.«23

De Certeau geht folglich bei der Bewegung innerhalb der Stadt von einem intuitiven Akt, eher denn von einer intentionalen Lenkung aus. Der Gehende schreibt seine Wege, ist jedoch zu sehr in das Geschehen eingebunden, um Gesamtzusammenhänge lesen zu können. Die Schritte stellen qualitative Einzelhandlungen dar, die dadurch, dass sie selbst raumschaffend sind, nicht im klassischen Sinne lokalisiert werden können: »Die Geschichte beginnt zu ebener Erde, mit den Schritten. Sie bilden die Zahl, aber eine Zahl, die nicht zu einer Reihe wird. Man kann sie nicht zählen, weil jede ihrer Einheiten etwas Qualitatives ist: ein Stil der taktilen Wahrnehmung und der kinesischen Aneignung. Ihr Gewimmel bildet eine unzählbare Menge von Singularitäten. Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen.«24

Diese Beschreibung trifft insofern auf die Gehenden bei Call Cutta zu, dass es in der konkreten Situation »jeder einzelne Zuschauer [war], der mit seiner Bewegung durch den Raum und seiner durch die Stimme beeinflussten, zumindest gefärbten Wahrnehmung die Räume der Stadt als eine merkwürdige Überblendung von realen mit fiktiven Räumen, Personen und Handlungen neu hervorbrachte.«25 Abgesehen von dieser Erfahrungsdimension verfehlt das von de Certeau beschriebene Bild den Gehenden in der Produktion von Rimini Protokoll insofern, dass dieser zwar die Wege zurücklegt, ohne genau das Ziel zu kennen oder den Kontext erfassen zu können, es sich aber nicht um einen intuitiven Akt handelt, da er die Wege nicht 23 De Certeau 1988, 182. Zum Zusammenhang von Call Cutta und de Certeau vgl. auch Matzke 2007, 104-117. 24 De Certeau 1988, 188. 25 Fischer-Lichte 2006b, 39. Diese Anmerkung bezieht sich auf das Projekt System Kirchner (Hygiene Heute 2000), lässt sich jedoch ebenso auf Call Cutta anwenden. Zum Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung und der Steuerung der Wahrnehmung bei Call Cutta vgl. Ruesch 2007, 198ff.

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selbst wählt. Stattdessen werden ihm diese von dem indischen Callcenter-Mitarbeiter vorgegeben. De Certeau kontrastiert das Gehen in der Stadt mit einer zweiten Betrachtungsform, einem der Stadt enthobenen Blick aus der Vogelperspektive, der einen Überblick, jedoch seinerseits keine direkte, physische Raumerfahrung ermöglicht. Blickt man von oben auf eine Stadt herab – beispielsweise vom Dach eines Wolkenkratzers aus – so stellen sich die Geschehnisse auf den Straßen als schematische Einheiten dar, die miteinander verschmelzen und nicht mehr unbedingt voneinander zu unterscheiden sind. Hinzu kommt, dass Bewegungen in vielen Fällen nicht mehr als solche auszumachen sind, woraus eine Perspektive erwächst, die der Betrachtung eines Bildes oder dem Lesen eines Textes ähnlich ist: »Für einen Moment ist die Bewegung durch den Anblick erstarrt. Die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich. Sie verwandelt sich in ein Textgewebe«26. Bleibt man bei dem Sinnbild der Stadt als Text, so scheint es bei Einnehmen dieser Perspektive auch möglich, sie als Lesender in unterschiedliche Ebenen und Sinneinheiten zu unterteilen, vergleichbar mit einer syntaktischen Struktur. Die damit verbundene Position des außenstehenden Betrachters und Lesers bringt zugleich eine Distanzierung mit sich, die ihn in die Rolle des Voyeurs bringt. Somit bedeutet die Stadtansicht von einem Hochhausdach aus – hier am Beispiel New York – »dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfaßt. Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt.«27

Um diese Art des Blicks zu erzeugen, bedarf es in der Lesart de Certeaus einer gewissen Entfremdung vom alltäglichen Tun.28 Diese Position des abständigen Schauenden ließe sich mit dem Telefonisten bei Call Cutta in Verbindung bringen.29 Befindet er sich zwar nicht im wörtlichen Sinne oberhalb der Stadt und betrachtet auch nicht im visuellen Sinne das Geschehen, so ist die entstehende Perspektivierung dennoch in vielen Punkten vergleichbar: Der Telefon-Mitarbeiter sitzt an einem dem leiblich erfahrbaren Raum des Gehenden enthobenen Ort und verfügt zudem nicht über konkrete Stadtkenntnis. Er nimmt somit einen Blick von außen ein, der die »Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität 26 De Certeau 1988, 179. 27 De Certeau 1988, 180. 28 Vgl. de Certeau 1988, 181. 29 Vgl. de Certeau 1988, 93.

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zu einem transparenten Text gerinnen läßt.«30 Das dabei entstehende Stadtbild bleibt somit abstrakt, ein »›theoretisches‹ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt.«31 Die sich damit eröffnende Perspektive ermöglicht dem Mitarbeiter, den Gehenden unbeeindruckt von dem »mächtigen Zugriff der Stadt«32 zu navigieren, ihn wie eine Art Marionette zu lenken. Durch die spezifische Anordnung, die Rimini Protokoll in dieser Produktion wählt, wird die (metaphorische) Idee der außenstehenden, lenkenden Instanz somit wörtlich genommen und in einer Situation direkter Fernsteuerung konkretisiert. Von außen betrachtet ist der telefonierende Theaterpassant in den meisten Situationen kaum von den ihn umgebenden Menschen zu unterscheiden. Dennoch weicht seine Form der Stadterschließung elementar von derjenigen der anderen ab: Anstatt sich von dem Strom der Stadt, den eigenen Gewohnheiten und den »unbewußten Dichtungen«33 leiten zu lassen, übernimmt eine externe Instanz, ein telefonischer Wegweiser, die Navigation. Bleibt man in derselben Bildsprache, tritt somit an die Stelle des ›sehenden Lesenden‹, als welcher der außenstehende Betrachter bei de Certeau beschrieben wird, hier der ›blinde Schreibende‹. Es bleibt ihm somit durch fehlende praktische Anbindung und Möglichkeit zu haptischer Wahrnehmung und direkter Interaktion nur die strikte Orientierung an dem vorgegebenen Skript, da eine gravierende Abweichung zu Desorientierung und gegebenenfalls einem vorzeitigen Ende der Aufführung führen würde. Auch der Wahrnehmungsvorgang und die Fokussierung des Gehenden in den einzelnen Situationen kann der Lenkende nicht bis in letzter Konsequenz bestimmen: »In Call Cutta markiert genau dieses Gehen eine Leerstelle in der Inszenierung. Zwar wird der Angerufene geführt, sein Blick auf bestimmte Orte gelenkt, was er aber im Einzelnen sieht, kann nicht kontrolliert werden. Damit ist jeder Weg durch die Stadt einzigartig.«34 Es ließe sich somit sagen, dass im Moment der Abweichung von dem vorgesehenen, von außen gelenkten und geplanten Weg, sich die letztliche Unplanbarkeit städtischer Passagen zeigt und in diesen Situationen der Theaterpassant so doch noch ein Stück weit zum Certeauschen Gehenden wird. Diese ambivalente Anordnung zeigt sich auch in der Position des außenstehenden Betrachters und scheinbaren ›Fädenziehers‹: Denn auch der CallcenterMitarbeiter ist nur auf den ersten Blick die leitende Instanz. Schaut man ›hinter die Kulissen‹ wird rasch deutlich, dass dieser seinerseits von den Regisseuren mittels Auftrag und Skript gelenkt wird, wodurch indirekt wiederum erlebte Stadtkenntnis 30 De Certeau 1988, 181. 31 De Certeau 1988, 179. 32 De Certeau 1988, 180. 33 De Certeau 1988, 182. 34 Matzke 2007, 113.

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in den Vorgang einfließt. Diese ist jedoch konserviert und entstammt nicht dem Moment des Theaterereignisses und auch die verwendeten Versatzstücke sind gesammelte Fragmente, die nicht der Phantasie, sondern der Beobachtung des Regieteams entspringen. Durch diese Strategie verschachtelter Lenkung und Manipulation wird die auf inhaltlicher Ebene bereits explizit unternommene Kritik an globalisierten Machtstrukturen weiter untermauert. Diese ist auch den Ausführungen de Certeaus eingeschrieben, in welchen er sich gegen die Lenkung der Geschehnisse aus einer den konkreten Vorgängen entzogenen, körperlich abständigen Position heraus richtet, wie die Beschreibung als »›theoretisches‹ (das heißt visuelles) Trugbild«35 zeigt. Auch für Virilio geht mit dem Vorgang des Überblickens häufig der des Übersehens konkreter Veränderungen und Handlungen einher, wie in seinen globalisierungskritischen Ausführungen zur Geschwindigkeitssteigerung deutlich wird: »[J]e weiter das Flugzeug sich vom Erdboden entfernt, umso langsamer zieht die überflogene Landschaft vorbei; die Welt wird statisch. Die mit sehr hoher Geschwindigkeit aufsteigende Maschine erreicht einen Punkt, an dem aus der Entfernung alles stillzustehen scheint.«36 Bindet man diesen Ansatz an die Inszenierung zurück, so rahmt diese die Abständigkeiten in vermeintlich entgrenzten globalisierten Zusammenhängen und zeigt die Statik, die die Formen technologisch basierter Kommunikation sowie Vorgänge der Raum- und Zeitüberwindung bei aller Flexibilitätsbehauptung häufig aufweisen. Die performative Praxis der Walking Performance, für welche Call Cutta hier beispielhaft steht, verweist auf das Potenzial, sich mittels seines Körpers einen Raum konkret-physisch zu eigen zu machen: »An die Stelle eines zweckgerichteten Gehens, das bloß dazu dient, mal wieder etwas Besonderes zu sehen, an einem bestimmten Ort ein Spektakel mitzuerleben, tritt ein Gehen, das selbst jederzeit zum Ereignis werden kann. Ob alleine oder in Gruppen: Gehen setzt den Körper in Beziehung zum städtischen Raum und zur Landschaft, indem er sich selbst spürbar verausgabt. Durch Erschöpfung entsteht mitunter eine Leere, die neue Wahrnehmungen möglich macht, indem sie die gewohnten Kontroll- und Selektionsleistungen außer Kraft setzt. Auch damit hat es zu tun, dass walking performances allerlei Grenzen verunsichern und unterlaufen, Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Erfahrungsräumen ebenso wie zwischen künstlerisch geplantem Ereignis und alltäglichem Verhalten. Gehen als Bewegungsart, die sich selbst vorführt und als solche bereits performativen Charakter hat, zählt mittlerweile zum Repertoire postdramatischer Theaterformen.«37

35 De Certeau 1988, 181. 36 Virilio 1978, 22. 37 Primavesi 2008, 103. Vgl. auch Balme 2014, 188 sowie Fischer 2011, 21.

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Die hier erwähnten Kontrollmechanismen werden jedoch bei Call Cutta irritiert, indem ein verschachteltes Spiel um Lenkung und Kontrolle etabliert wird. 38 Damit bildet das Theater einen Kontrapunkt zu der medial erzeugten Abstraktion von körperlichen Vorgängen, wie auch Fischer-Lichte in Bezugnahme auf Elias beschreibt: »Norbert Elias hat den Prozeß der Zivilisation unter anderem als einen fortschreitenden Abstraktionsprozeß beschrieben, in dem der Abstand des Menschen zu seinem eigenen Körper und zum Körper anderer Menschen immer größer wird. Mit der Erfindung und Ausbreitung der neuen Medien in unserem Jahrhundert [20. Jahrhundert, d.Verf.] hat dieser Prozeß in gewisser Weise einen Höhepunkt erreicht: Die Körper verflüchtigen sich zu medialen Abbildungen, die sie trotz scheinbarer Nähe in ferne Distanz entrücken und jeglicher Berührung auf immer entziehen. Indem das Theater […] in dieser Situation auf den menschlichen Körper als die Bedingung seiner Möglichkeit reflektiert, reflektiert es daher zugleich auf das Stadium, in das der Zivilisationsprozeß gegenwärtig eingetreten ist.«39

Bei Rimini Protokoll findet im Falle von Call Cutta jedoch keine eindeutige Form der Gegenbewegung statt, vielmehr wird ein Spannungsbogen zwischen körperlicher Raumerfahrung und virtuell-akustischer Abständigkeit und Abwesenheit erzeugt. Aus den bisherigen Ausführungen zur Irritation eigener und fremder Verortung, der Mobilisierung von Raumbezügen und den Macht- und Lenkungsprinzipien globalisierter Räume, wird deutlich ersichtlich, dass Rimini Protokoll nicht auf der Ebene technologischer Distanzüberwindung oder der Thematisierung von Warenund Informationstransfer auf geschäftlich-wirtschaftlicher Basis verbleibt. Stattdessen wird ein knapp einstündiges Gespräch zwischen zwei Menschen initiiert, bei dem es – und sei es auf Basis eines Skriptes – zentral erscheint, das Changieren zwischen Distanz und Nähe nicht nur auf geographischer und positionaler, sondern auch auf kommunikativer, wahrnehmungsspezifischer und emotionaler Ebene zu berücksichtigen. Nah- und Fernräume im Wechselspiel von Hör- und Sehweiten Die zentrale Rolle, die die Stimme und das Auditive im Spiel mit Vertrauen und Distanzierung einnimmt, beschreibt Regisseur Stefan Kaegi in einem Interview: »This voice changes the audience. In the beginning they will feel somehow like being called by serviceline, because it is a serviceline in the end, it’s just a very strange one, and as time

38 Zum Zusammenhang von Telekommunikation und Kontrolle vgl. Buschauer 2010, 298ff. 39 Fischer-Lichte 1997, 219.

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goes by, they start to trust this person on the other side of the phone, the voice becomes very human, and then again later, they learn that this human voice is also lying on the phone and is also flirting with you on the phone.«40

Gesehenes und Gehörtes werden in der Inszenierung – sich teils kontrastierend, teils verstärkend – als Spielelemente eingesetzt, wie an einigen beispielhaften Szenen gezeigt werden soll:41 Ein erster Blick fällt dabei nochmals auf die Grundanordnung, auf den Vorgang des Telefonierens bei gleichzeitigem Gang durch die Stadt. Die Kommunikation per Mobiltelefon ist in alltäglichen Passagenräumen heute zur omnipräsenten Realität geworden, sodass die damit verknüpften Vorgänge visueller und akustischer Inklusion und Exklusion häufig aus dem Blickfeld bewusster Wahrnehmung geraten, ohne dass sich die damit zusammenhängenden Ambivalenzen aufgelöst hätten: Außenstehende sehen, dass gerade ein Kommunikationsvorgang stattfindet, hören den Redeanteil des einen Gesprächspartners, der Gesamtkontext bleibt ihnen jedoch verschlossen. Die Linie visueller Exklusion verläuft somit zwischen den Gesprächspartnern, die der akustischen zwischen dem Telefonierenden und den außenstehenden Passanten – zumindest hinsichtlich des Gesamtzusammenhangs des Gesprächs. Bei Call Cutta wird der Teilnehmer vereinzelt in den Stadtraum geleitet und nicht in ein Zuschauerkollektiv integriert. Dadurch findet zunächst eine optische Eingliederung in den umgebenden Passagenraum statt und der theatrale Passant verhält sich für den städtischen Passanten weitgehend unauffällig. Er folgt den Regeln und Konventionen des städtischen Rahmens und geht telefonierend durch die Straßen wie viele andere auch. Der Theaterpassant hingegen nimmt sich selbst als Hervorgehobener wahr, da er den bekannten und vertrauten Stadtraum sowie seine eigenen Handlungen als theatral und auditiv gerahmt erlebt. Damit sind die Bewegungen des Gehenden nicht – wie die der meisten seiner Mitpassanten – nach einem selbstgesteckten Ziel oder der städtischen Bewegungsleitung gerichtet, die meist maßgeblich durch visuelle Signale organisiert ist, sondern nach den akustischen, telefonischen Anweisungen. Dieser Kontext ist von außen betrachtet allerdings, wie bereits erwähnt, nicht ersichtlich, was dazu führt, dass der Außenstehende ausschließlich die ausgeführten Aktionen sieht. Weder die theatrale noch die auditive Rahmung sind für ihn einseh- oder einhörbar.

40 Zitiert aus einem Interview mit Stefan Kaegi im Rahmen der Dokumentation: Call Cutta. A documentary film by Arjun Dutt, 2005; in den folgenden Anmerkungen abgekürzt als ›Dokumentation Call Cutta 2005‹. 41 Zum Verhältnis von visuellem und akustischem Raum bei Call Cutta vgl. Ruesch 2007, 206ff.

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Mit fortschreitendem Telefonat verschmelzen die Rahmungen zunehmend und es entsteht eine Art ›Binnenstadt‹ in Form einer akustischen Kapsel 42, die der Teilnehmer und der Telefonist gemeinsam hervorbringen und miteinander teilen. Wie bei dem von Hosokawa beschriebenen Walkmaneffekt kann dies zur Folge haben, dass der Gehende von der direkten Umgebung akustisch abgeschottet wird: »Dieser Hörer scheint die akustische Verbindung mit der Außenwelt, in der er in Wirklichkeit lebt, unterbrochen zu haben«43. Der akustische Raum wird zusätzlich dadurch konturiert, dass zwischenzeitlich eine das Gespräch untermalende Geräuschkulisse eingeblendet wird. »Das konspirative Element eines solchen Projektes überlagert die Wirklichkeit mit einer zweiten Audiospur.«44 Diese arbeitet mit einer stark visualisierenden Klanglichkeit, indem im Laufe des Gesprächs – dem Skript folgend – Geräusche eingeblendet werden, die zum einen den Eindruck von Innen- und Außenräumen irritieren, wie das Hupen von Autos, das von einem Autoscooter stammt, und die zum anderen mit Indienassoziationen und -klischees spielen wie das Knurren eines bengalischen Tigers. Der Prozess akustischer und theatraler Abkapselung kann – so eine mögliche These – zu einer Grenzverlagerung hinsichtlich des eigenen Verhaltens im Stadtraum führen. Es ist auch vorstellbar, dass auf diese Weise die Hemmschwelle sinkt, sich von den Handlungen der Umstehenden abzuheben, wie die Situationen zeigen, in welchen die Teilnehmer nach Aufforderung laut singen oder die vereinbarten Losungsparolen rufen. So lässt sich beobachten, dass mit zunehmendem Fortschreiten der Aufführung die Bereitschaft steigt, sich durch Aktivitäten, die den Regeln und Konventionen städtischer Rahmung nicht entsprechen, deutlich sichtbar von den übrigen Passanten abzugrenzen, was eine Umkehrung der Schausituation mit sich bringt. Verdeutlichen lässt sich dies exemplarisch an einer Sequenz, in welcher der Teilnehmende in einem Innenhof stehend per Telefon den Vorschlag vernimmt, laut eine Rede zu halten: »Geh etwas links zur Mitte des Hofes zu den beiden Bänken... Das wäre doch ein perfekter Ort um Reden zu schwingen. Kannst Du das Publikum hinter den Fenstern fühlen? Möchtest Du die Schlagkraft Deiner Stimme ausprobieren?«45 Der Teilnehmer wird daraufhin aufgefordert, mit lauter Stimme das vereinbarte Passwort zu rufen. In einem zweiten Schritt erfolgt die Anweisung: »In der Mitte des Sandkastens findest Du ein kleines Podest. Im Zirkus würden Tiger darauf steigen – wie die bengalischen Tiger auf der Fahne der ›Legion Freies Indien‹. 42 Zur Idee akustischer Abkapselung, die bereits am Beispiel Schwarztaxi ausgeführt wurde, vgl. Bull 2004, 275-293, Hosokawa 1987, Kolesch 2009, 15, Thomsen/Krewani/Winkler 1990, 52-61. 43 Hosokawa 1987, 12; vgl. zudem die Ausführungen zur akustischen Kapsel im Rahmen der Analyse von Schwarztaxi in Kapitel 4. 44 Deck/Sieburg 2008, 71. 45 Skript RIMINI, 50.

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Stell Dich doch mal da drauf.«46 Wie sich hier zeigen lässt verlaufen die Grenzverläufe von Schau- und Spielraum fließend und müssen in jeder Situation neu definiert werden. Die Momente des Exponierens und Distanzierens von den Außenstehenden können zu einer Stärkung der akustischen Kapsel sowie einer Steigerung der Bindung und Nähe zu dem Gesprächspartner am Telefon führen, da dieser der einzige ›Mitwisser‹ ist. Die Kluft zu den Außenstehenden wird darüber hinaus auch auf Ebene des Skriptes durch Aufwertung der akustischen Präsenz unterstrichen: »Do you think, the voice can actually have a stronger impact than the physical presence?«47 Aus Perspektive des Gehenden rückt der Callcenter-Mitarbeiter somit akustisch nah an den ihm geographisch fernliegenden Raum heran. Als Stellvertreter für physische Präsenz wird das Sehen und Gehen an den Teilnehmer delegiert: »Ich glaube, ich kann Dich bitten, für mich zu sehen. Wir trainieren Deine Augen.«48 Der eine von beiden verfügt somit über körperliche Präsenz im Stadtraum und kann diesen sehen und erleben, wird aber über die Ohren gelenkt, der andere sieht nur das vorliegende Skript – die ›kodierte Stadt‹ – lenkt aber den Teilnehmer in einer akustischen Kapsel mittels seiner Stimme. Referiert man in diesem Zusammenhang auf Hosokawa, so wird neben den möglichen Anknüpfungspunkten ein wesentlicher Unterschied sichtbar: Ist für diesen der Walkman »die Autonomie, oder vielmehr die Autonomie-des-laufenden-Ich«49, so zeigt sich, dass Rimini Protokoll genau diese Autonomie und Selbstbestimmtheit durch das Prinzip des auditiven Führens in Frage stellt. Jedoch nicht nur dieser Aspekt weist darauf hin, dass das Sinnbild der akustischen Kapsel für die Inszenierung Call Cutta nicht weitreichend genug ist. Dies zeigt auch eine Differenzierung zwischen dem Hören mit Kopfhörern, bei dem beide Ohren von der Umgebung abgeschirmt sind, und dem über ein Mobiltelefon, bei welchem ein Ohr zur Außenwelt geöffnet bleibt. So erweist sich die akustische Kapsel als durchlässig und die Gespräche wie auch die oben beschriebene Geräuschkulisse mischen sich mit den akustischen Einflüssen der Berliner Umgebung. Als weitere Besonderheit lässt sich hervorheben, dass der Gesprächspartner sich, anders als bei anderen Gesprächen, ganz dezidiert auf die visuelle Umgebung bezieht und den Gehenden auf einzelne Elemente des Stadtraums hinweist, was die akustische Kapsel ebenfalls perforiert. Weder der akustische noch der visuelle Raum können somit als geschlossen bezeichnet werden, beide erweisen sich als hybrid und teils auch als widersprüchlich zueinander. Aus den damit entstehenden Inkongruenzen der Ebene des Hörens und der des Sehens erwächst nach Goebbels ein 46 Skript RIMINI, 52. 47 Dokumentation Call Cutta 2005. 48 Skript RIMINI, 23. 49 Hosokawa 1987, 9 [Hervorhebung im Original].

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emanzipatorisches Potenzial des Rezipienten, der sich dadurch vor die Aufgabe gestellt sieht, selbstverantwortlich eine Rekontextualisierung vorzunehmen und mit den entstehenden Momenten distanzierender Verunsicherung produktiv umzugehen: »Ein Theater, das wesentlich über das Hören definiert ist und dieses Hören vom Sehen zu trennen vermag, lässt wichtige Freiräume für die je individuelle Wahrnehmung aller […]. In diesem beunruhigenden Freiraum […], in diesem merkwürdig schillernden ›Außersichsein‹ liegt eine Chance. In dieser ›Abwesenheit‹ liegt die Chance für die Wahrnehmung von etwas, das wir noch nicht kennen, da die narzistische Bestätigung durch ein Spiegelbild an der Rampe verweigert wird. […] Gerade die Abwesenheit einer traditionellen Vorstellung von Präsenz und Intensität, ein leeres Zentrum auf der Bühne, verunsichert uns Zuschauer und macht uns zugleich in dieser Verunsicherung zum Souverän unserer Erfahrung.«50

In seinen weiteren Ausführungen fragt Goebbels darauf aufbauend nach Wegen des zeitgenössischen Theaters unter den Bedingungen heutiger Lebenswirklichkeit: »Worin besteht die Alternative zum ständigen Angeglotzt-, Angesprochen-, Angegangen-, Angeschrieen-Werden, das unseren medialen Alltag strukturiert? Wie sieht eine lustvolle Alternative aus, die Neugierde und Entdeckungspotenzial der Zuschauer ernst nimmt, sie nicht unterfordert, sondern ihnen einen Raum dafür öffnet? […] Erste Voraussetzung dieses Raumes wäre, das Zentrum zu umstellen, es aber nicht zu besetzen […].«51

Dadurch, dass es sich bei dem leeren Zentrum der Bühne, das es zu besetzen gilt, bei Call Cutta um die Bühne des städtischen Raums respektive die akustische und imaginative Bühne des Telefonats handelt, sinkt die Abgrenzungsmöglichkeit seitens der Regie und der Vorgang der Bedeutungsproduktion wird zu einem verstärkt individualisierenden Akt. Dabei nimmt das Akustische einen besonderen Stellenwert ein, denn die heutige »Loslösung des simulierten akustischen Ereignisses vom ihn erzeugenden materiellen Objekt läßt es zum eigenständigen, meta-realen Objekt werden – es ist Baustein einer neuen Wirklichkeitsebene geworden, die statt einer statutenhaften Bindung an die materielle Welt variable Verbindungen zu ihr aufweist.«52

50 Goebbels 2007, 122f. 51 Goebbels 2007, 124. 52 Föllmer 1999, 209. Zur Veränderung der Wahrnehmung von Kommunikations- und Stadtraum durch mobile, medialisierte Kommunikation vgl. Mersch 2011, 54ff sowie Schönhammer 1988, 62. Mit dieser Thematik befasst sich zudem die Analyse von Schwarztaxi in Kapitel 4.

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Diese Variabilität und die damit einhergehende Relationalität kommt im Beispiel Call Cutta besonders am Ende des Telefonspaziergangs zum Tragen: Erzeugt wird hier ein Umschwung im Wechselspiel von Sehen und Hören, in dem die zuvor etablierten Rahmungen des Visuellen und Akustischen, aber auch des Nähe- und Distanzverhältnisses erneut überschritten beziehungsweise hinterfragt werden. So wird der Theaterteilnehmer mit folgender Aufforderung in eine Einkaufspassage geleitet: »Siehst Du den Kleiderladen? Wenn Du zu mir willst, dann bieg vor HAund-EM links ab.«53 Dort angekommen lautet die Anweisung weiter: »Rechts kommt ein VOBIS SUPER STORE. Und im hinteren Schaufenster siehst Du einen Flachbildschirm. Was siehst Du darauf? Das bin ich! Ich winke dir jetzt. Siehst Du mich? 20000 Kilometer weit weg. Du hast es geschafft! Du bist nur noch einen Knopfdruck weit von mir entfernt. - Nimm jetzt Dein Mobiltelefon. […] Jetzt dreh die Kamera, damit Du ein Bild von Dir machen kannst.«54

Durch die Hinzunahme der visuellen Ebene am Ende des Gesprächs wird ein Moment der ›Begegnung‹ inszeniert. Durch diese optische Enthüllung werden die auditive Intimität und zugleich der Raum für Imagination und Projektion aufgehoben, was gegebenenfalls einen Distanzierungseffekt mit sich bringen kann. Andererseits rückt der Gesprächspartner näher an den Teilnehmer heran, da man diesem nun in die Augen sehen kann – wenn auch noch immer medial vermittelt und verschiedenen Zeiten zugehörig.55 Aus dem Altgriechischen leitet sich der Begriff Telephon von tēle für ›fern‹ und phōnē für ›Laut, Ton oder Stimme‹ ab. An diesem Beispiel zeigt sich jedoch, dass gerade über das Hören eine gezielte Distanzüberwindung fingiert werden kann. Demgegenüber wird bei Call Cutta der Moment der TeleVision als ein Vorgang des Fern-Sehens inszeniert, dessen Abständigkeit nicht zuletzt dadurch betont wird, dass sich das medial vermittelte Bild des ›Gegenübers‹ hinter einer Schaufensterscheibe befindet. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – Grenzverhandlungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit Das in der Abschlusssequenz besonders hervorgehobene Motiv der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zieht sich durch die gesamte Inszenierung: Dies lässt sich vor dem Hintergrund der Verständigung in Echtzeit und der mühelosen Überwindung

53 Skript RIMINI, 105. 54 Skript RIMINI 107ff. Die Entfernung zwischen Berlin und Kalkutta beträgt Luftlinie, anders als hier genannt, etwas mehr als 7000 km. 55 Vgl. Deck/Sieburg 2008, 70.

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mehrerer Zeitzonen mittels moderner Kommunikationstechnologien und globalisierter Kommunikationspraktiken lesen. Auch bei großen Distanzen wird heute häufig der Eindruck der räumlichen aber auch der zeitlichen Grenzenlosigkeit erweckt. Gerade in Callcentern werden zu Geschäftszwecken der Unterschied zwischen Tag und Nacht sowie kulturelle und kontextuelle Differenzen möglichst zum Verschwinden gebracht, da der Gesprächspartner in vielen Fällen diese nach Möglichkeit nicht bemerken soll. Es findet diesbezüglich also eine maximale Entgrenzungsbestrebung statt. Call Cutta greift diese Tendenz in einigen Sequenzen affirmativ auf und bemüht sich um Grenzabbau und scheinbare Nähe räumlicher und lebensweltlicher Bezüge: »We do live in parallel worlds, but it doesn’t seem very far away. Somehow it seems, as if I would be just there with you.«56 Als weiteres Beispiel lässt sich die Aussage des Telefonisten anführen, der die Entgrenzungen und Übergänge mit den unsichtbaren Relationen eines Wurzelwerks vergleicht: »While you are crossing these trees, can you imagine that the root of the trees is in the underground? They are linked. Every trees are linked undergroundy [sic!] [...]. They are linked through the roots. And this phone call links the two of us, you and me, in the underground as well. Under the oceans, via satellites […] Nobody sees it.«57 Jedoch lassen sich auch einige gezielt gesetzte Sollbruchstellen aufspüren, die die Illusion der nahtlosen Überbrückbarkeit und reibungsfreien zeitlichen Entgrenzung in Frage stellen. So weist beispielsweise der Satz »[I]t took a few seconds to meet«58 auf die technische Zeitverzögerung hin, die ein interkontinentales Telefonat noch immer mit sich bringen kann. Handelt es sich hierbei vordergründig nur um das Schaffen des Bewusstseins darüber, dass durch die mediale Vermittlung des Schalls eine tatsächliche Echtzeitkommunikation nicht möglich ist, so kann dieser Irritationsmoment auch eine Reflexion zum Gelingen oder Scheitern von Kommunikation in globalen Gefügen in einem allgemeineren Sinne initiieren.59 Wurde nun die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Bezug auf Kommunikationstechnologien und deren (scheinbare) Raum-Zeit-Überwindung betrachtet,60 bietet der Umgang mit Vergangenem und Erinnerung eine weitere Facette dieser Überlegung. Im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung wird der Aspekt der Begehung von geschichtlich aufgeladenen Räumen im Sinne eines performativen »aktuellen Vollzugs in Form der Erinnerung«61 herausgegriffen. In den Akt der damit verbundenen Raumerschließung durch den Theaterteilnehmer fließen zahlrei56 Dokumentation Call Cutta 2005. 57 Dokumentation Call Cutta 2005. 58 Dokumentation Call Cutta 2005. 59 Zum Begriff des Scheiterns vgl. Sennett 1998, 159-185. 60 Zu dieser Thematik vgl. auch Matzke 2007, 115. 61 Kreuder 2005, 117.

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che Nutzungsweisen, Zuschreibungen und Assoziationen, die mit dem Raum verbunden sind, das eigene situative Raum- und Zeiterleben, die Setzungen seitens des Regieteams bezüglich der gewählten Route sowie die Erzählungen des Mitarbeiters ein. Diese sich überlagernden Schichten werden im Verlauf des Theaterspaziergangs und des dabei geführten Gesprächs freigelegt, neu kombiniert, rekonstruiert und neu konstituiert. Zeugnisse und Erinnerungen von zeitlich nahen und entlegenen Momenten werden in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zusammengeführt, wie an beispielhaften Ausschnitten deutlich gemacht werden soll. Die Route umfasst einige Orte, die von der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeugen. Indien stand unter britischer Kolonialherrschaft und befand sich somit offiziell gegenüber Deutschland auf feindlicher Seite. Jedoch lässt sich dieses Verhältnis nicht so bipolar beschreiben, da der Unabhängigkeitskämpfer Subhas Chandra Bose nach Deutschland geflohen war und dort mit der von ihm gegründeten ›Indischen Armee‹ auf Seiten der Wehrmacht kämpfte.62 Im Moment der Begehung ehemaliger Kriegsschauplätze mischt der Telefonist historische Informationen mit biographischen Erzählungen des vermeintlich eigenen Großvaters, da es sich um die Geschichte eines Krieges handelt, der – so die theatrale Setzung – unter Beteiligung der Vorfahren der beiden Gesprächspartner ausgetragen wurde. Auf diese Weise changiert die Erzählebene zwischen einem makroperspektivisch-distanzierten und einem mikroperspektivisch-involvierten Blick: »Das Foto ist genau hier entstanden, wo Du stehst, 1942, im Krieg: Der Mann rechts ist mein Großvater, Samir Singh.«63 Diese Situation referiert auf einen Moment, in welchem der Theaterteilnehmer ein Foto vorfindet, das zuvor unter einer Bank versteckt wurde. Ebenfalls auf der Grundlage einer solchen Fotografie fragt der Mitarbeiter den Teilnehmer: »Den linken kennst Du? (Gandhi) Wir nennen ihn Papuji, Vater der Nation. Aber wer ist der rechts? Erkennst Du ihn? Das ist der, der mit meinem Großvater Kaffee getrunken hat. Wir nennen ihn den Tiger. Und seit er in Deutschland war, nennen wir ihn auch Netaji – das heißt so viel wie Führer. Auf dem Bild sehen sie aus wie Partner, nicht? Aber ein paar Jahre später war alles anders.«64

Stets wird bei den Gesprächen auf den heutigen Umgang mit Vergangenheit und Erinnerung referiert, beispielsweise indem die Reaktion auf die Positionierung von Bildmaterial im Stadtraum getestet wird. So lässt der Mitarbeiter den Teilnehmer eine Fotografie suchen, die jedoch nicht, nicht mehr oder vermutlich noch nie dagewesen ist: 62 Zu Subha Chandra Boses Berlinaufenthalt und seiner Allianz mit Adolf Hitler in den 1940er Jahren vgl. Deck/Sieburg 2008, 69. 63 Skript RIMINI, 20. 64 Skript RIMINI, 25.

210 | P ASSAGEN ZWISCHEN N AHRAUM & F ERNRAUM »Das Bild geht immer verloren, weil die Anwohner hier es nicht mögen. Auf dem Bild sieht man Netaji beim Händeschütteln mit Hitler ganz in der Nähe von hier. […] Netaji war zu braun für Hitler und Netaji war kein Rassist. Das Treffen war ein Reinfall. Hitler hat nicht an Indiens Befreiung von den Engländern geglaubt. Aber die Engländer waren sein Feind und so gab er Netaji ein U-Boot, mit dem er nach Japan reiste. Dort hatte er mehr Glück. […] Tja, das Bild ist leider futsch.«65

Gerald Siegmund vergleicht den dabei sichtbar werdenden Umgang mit Gedächtnisfragmenten mit dem der Mnemotechnik: »Das Verfahren, das Rimini Protokoll bei ihrer Stadtführung anwenden, ist vergleichbar mit dem der antiken Gedächtniskunst. Sie deponieren Bilder an Orten, die abgeschritten werden, um im zeitlichen Verlauf aus den Erinnerungen, die in den Bildern gespeichert sind, einen verlorenen, vergessenen Zusammenhang wieder herzustellen.«66 Daraus wird ersichtlich, dass der Einzelne für das Erstellen von Zusammenhängen zuständig ist, die den vorgefundenen Versatzstücken, Dokumenten und Monumenten vergangener Zeiten nicht genuin zu eigen sind. Erst durch ihre Begehung, Nutzung als Erinnerungsstück oder Zeitzeugnis, das Wahrnehmen eines provokativen Gehalts oder das Schaffen biographischer Bezüge entsteht ein lebendiger Umgang und ein Prozess erinnernder Aneignung. Am Beispiel Call Cutta zeigt sich dies in Sequenzen wie jener auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs67 in Berlin: Der Raum, die eigene körperliche Präsenz, die geschichtlichen und scheinbar autobiographischen Berichte per Telefon und die eigenen Assoziationen mischen sich zu einem vielschichtigen Gefüge: »Du stehst bei Gleis vier. Siehst Du die Bahnsteige links? Hier kam Netaji 1941 in Berlin an. Er war über Nacht aus Kalkutta geflohen. In Deutschland hat er Unterstützung gegen die eng-

65 Skript RIMINI, 59. 66 Siegmund 2007, 190f. 67 Bei dem Anhalter Bahnhof Berlin handelt es sich um einen historisch vielschichtigen Raum: Dieser diente in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als zentraler Fernbahnhof und Knotenpunkt internationaler Verbindungen wie auch als Repräsentationsraum, in welchem unter anderem Kaiser Wilhelm II. große Staatsempfänge veranstaltete. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs erfolgten vom Anhalter Bahnhof aus Judendeportationen in das Konzentrationslager Theresienstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte der Bahnhof zu Westberlin, der Zugverkehr wurde zunächst auf Regionalbetrieb um- und schließlich 1952 gänzlich eingestellt. Nach und nach verfielen die im Zweiten Weltkrieg stark durch Bombardement geschädigten Bahnhofsmauern zunehmend, woraufhin eine langjährige Debatte über einen möglichen Abriss entbrannte. Dieser wurde jedoch verhindert (vgl. zur Geschichte des Anhalter Bahnhofs: Maier 1984 sowie Rheinsberg 1980).

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lische Besatzung gesucht. Hier hat er seine Legion ›Freies Indien‹ gegründet. Mein Opa war einer seiner 5000 Soldaten in Deutschland.«68

Die hier gewählte Form des Umgangs mit historisch aufgeladenen Passagenräumen lässt sich mit Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte, der lieux de mémoire, in der im Kontext der Eichbaumoper vorgenommenen Erweiterung als Erinnerungsraum zusammendenken. Den Brückenschlag bildet die Idee, dass sich im Verschwinden befindliches Gedächtnis in Räumen kristallisiert und mittels individueller Aneignung wiederbelebt werden kann.69 Auch die Räume Call Cuttas lassen sich durch ihre Form abwesend-anwesender Vergangenheitsvergegenwärtigung als vielschichtige Gedächtnisräume bezeichnen, in denen sich aktuelle Ereignisse mit Erinnerungsfragmenten und der im Raum kristallisierten Geschichtlichkeit überlagern. »Auf diesem Feld findest Du immer noch Fragmente der Philharmonie, die mein Opa verteidigt hat. Siehst Du die Steine? Erinnerung kann wie Dekoration aussehen, oder?«70 Die Dekorations- oder Kulissenhaftigkeit, die den Räumen bei flüchtiger Beachtung – beispielsweise im Zuge alltäglicher Passagenbewegung – im Gegensatz zu Formen individueller Aneignung zukommt, lässt sich mit der Unterscheidung Noras zwischen Geschichte und Gedächtnis parallelisieren: »Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung, die Geschichte hingegen eine Repräsentation der Vergangenheit. Weil das Gedächtnis affektiv und magisch ist, behält es nur die Einzelheiten, welche es bestärken: es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten oder Projektionen fähig.«71

Bei Call Cutta werden Fragmente, die sich dem Bereich des aktiven Gedächtnisses entziehen und in Dokumenten und Monumenten kristallisiert sind, mittels performativer Einbindung in einen prozessualen Aneignungs- und Vergegenwärtigungsvorgang überführt. Einige der in der Route enthaltenen Räume – wie der Anhalterbahnhof – eignen sich durch ihre Geschichtsträchtigkeit bei heute eingeschränkter Einbindung ins alltägliche Leben besonders gut, um als Erinnerungsorte zu fungieren. Es handelt sich dabei um

68 Skript RIMINI, 35. 69 Die Notwendigkeit zur Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis wie auch die Entstehung von lieux de mémoire begründet Nora mit dem Verlust der Gedächtnisgemeinschaften, der milieux de mémoire (Nora 1990, 11), der mit der einsetzenden Industrialisierung und dem Zerfall bäuerlicher Lebenswelten seinen Anfang nimmt. 70 Skript RIMINI, 66. 71 Nora 1990, 13.

212 | P ASSAGEN ZWISCHEN N AHRAUM & F ERNRAUM »gerettete Orte eines Gedächtnisses, die wir nicht mehr bevölkern, halboffizielle und institutionelle, halbaffektive und sentimentale Orte; Orte der Eintracht, in denen doch kein Gemeinsinn mehr lebt, Orte die weder politische Überzeugung noch leidenschaftliche Teilnahme mehr ausdrücken und in denen gleichwohl noch etwas von symbolischem Leben pocht.«72

Mit der Bezugnahme Aleida Assmanns auf die Ausführungen Pierre Noras lässt sich der Bogen zurück zur Thematik zeitlicher Nähe und Ferne spannen: »Das Gedächtnis kennt nicht den behäbigen und unbestechlichen Maßstab chronologischer Zeitrechnung: Es kann das Allernächste in unbestimmte Ferne und das Ferne in bedrängende Nähe rücken. Während über das Geschichtsbewußtsein einer Nation die chronologisch geordneten Geschichtsbücher Aufschluß geben, findet das Gedächtnis einer Nation seinen Niederschlag in der Gedächtnislandschaft seiner Erinnerungsorte. Die eigentümliche Verbindung von Nähe und Ferne macht diese zu auratischen Orten, an denen man einen unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht. Die Magie, die den Erinnerungsorten zugeschrieben wird, erklärt sich aus ihrem Status als Kontaktzone.«73

Daraus wird deutlich ersichtlich, dass der Vorgang der Erinnerung ein individueller und prozessualer ist und sich nicht relativ zu chronologischen Zeitrechnungen verhält. Die Kontaktzonen, die die Route und das Telefongespräch bei Call Cutta bieten, fungieren in dieser Lesart als Zonen der Aushandlung performativer ZeitRaum-Aneignung. Durch die in der Inszenierung gewählte räumlich-kommunikative Anordnung, die sich zwischen dem Theaterteilnehmer, den passierten Räumen, dem in Indien befindlichen Gesprächspartner sowie zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem aufspannt, ließe sich von einer Form globaler Erinnerungsraumaneignung sprechen. Denn die Inszenierung spielt mit dem Moment körperlicher Absenz des sich (scheinbar) Erinnernden, dessen Erinnerungen durch den Teilnehmer inkorporiert und verräumlicht werden: »I give you my memories and you lend me your body.«74 Dabei ist es aber wichtig zu beachten, dass es Rimini Protokoll nicht um eine möglichst vollständige Identifizierung mit dem Gesagten, sondern einen reflexionssteigernden Umgang mit der Geschichte geht, wobei »die Form des Zitierens und Kommentierens auch beibehalten [wird], wenn es um die eigene Person geht. Die Darsteller bei Rimini Protokoll stehen damit nicht vor der Aufgabe, im Spiel

72 Nora 1990, 18. 73 Assmann 1999, 337. 74 Dokumentation Call Cutta 2005.

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eine Distanz von Schauspieler und Rolle kenntlich zu machen, sondern spielend eine Distanz zur eigenen Rolle und Geschichte aufzubauen.«75

Auf diese Weise eröffnet sich für den Theaterteilnehmer die Möglichkeit, essentialisierende und naturalisierende Haltungen und Bewertungskataloge unhinterfragter Alltagskontexte ins Bewusstsein zu rücken und zu überprüfen.76 Dieser Prozess individueller Aneignung wird, so Siegmund, durch das Auseinanderklaffen der unterschiedlichen Räume verstärkt: »In Call Cutta treten der akustische und der städtische Raum auseinander, um Raum zu schaffen für Transformationsprozesse zwischen Bild, Sprache und dem realen Ort, die das individuelle Gedächtnis des Teilnehmers in Gang setzen. Damit ist auch gesagt, dass durch den performativen Akt der Erinnerung im Hier und Jetzt die Dinge, die ich wahrnehme, verändert hervorgebracht werden. Sie erheben sich über das Faktische und erzählen eine Geschichte.«77

Der damit angesprochene narrative Aspekt von Erinnerung, der auf die generelle Relativität von (Theater-)Historiographie78 hinweist, wird bei Call Cutta nochmals dadurch unterstrichen, dass die geschilderten biographischen Ereignisse nicht zwangsläufig autobiographische Erzählungen des Telefonisten, sondern Elemente des Skripts sind, das die Regisseure von Rimini Protokoll erstellt und in einem Callcenter zur Durchführung in Auftrag gegeben haben. Diese wiederum entnehmen die Texte, Geschichten und Lebensläufe stets realen Begebenheiten im Sinne von Alltagsfragmenten. Auf diese Weise entsteht eine mehrgliedrige Verkettung von Erinnerungsdelegationen: Die Erinnerungen und Erlebnisse realer Personen werden durch die Regisseure von Rimini Protokoll dem Alltag entnommen und in ein Skript überführt. Dieses Skript mit den gerahmten Erinnerungen wird an die Mitarbeiter des Callcenters weitergereicht, die diese – ohne notwendigerweise einen direkten Bezug dazu zu haben – auftragsgemäß als ihre eigenen verkaufen. Der Theaterteilnehmer wiederum wird vor die Situation gestellt, sich gegenüber dieser behaupteten Identität zu positionieren. Zudem wird er aufgefordert, sich körperlich in den ›Erinnerungsträger‹ hineinzuversetzen und sich auf dessen Erinnerungsspu75 Roselt 2007, 61. 76 Vgl. Dreysse 2007, 87f. 77 Siegmund 2007, 194. 78 (Theater-)Historiographie meint hier im Sinne Friedemann Kreuders »das ordnende und interpretierende Forschen und Schreiben über Theaterereignisse und -strukturen der Vergangenheit. Der Begriff reflektiert zugleich den Sachverhalt, dass diese oder ihre Historie jenseits dieser Schreibung nicht existieren – wie es beispielsweise die traditionelle Bezeichnung ›Theatergeschichte‹ mit ihrem produkthaft-abgeschlossenen Charakter durchaus noch suggeriert.« (Kreuder 2005, 344.)

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ren zu begeben. Dies lässt sich an einer Sequenz veranschaulichen, in welcher der Teilnehmer seitens des Mitarbeiters aufgefordert wird, die Pose einer Skulptur des bereits erwähnten indischen Unabhängigkeitskämpfers Netaji nachzuahmen und wie diese mit ausgestrecktem Arm in eine vorgegebene Richtung zu weisen. Durch die Nachstellung der Skulptur seitens des Theaterteilnehmers auf Aufforderung des Callcenter-Mitarbeiters hin wird ein Moment der Nähe und der – zumindest körperlichen – Identifikation hervorgerufen. Zugleich weisen die Skulptur und der Teilnehmer, wie er im Anschluss erfährt, in Richtung Kalkutta. Mit dieser Geste, die eine fiktive Verbindungslinie zwischen den Gesprächspartnern zeichnet, wird zugleich ins Bewusstsein gerufen, dass die durch das Telefongespräch erzeugte Nähe eine äußerst fiktive ist und weder eine Überbrückung der Zeit und des Raumes noch letztlich ein Verständnis des Kontextes des jeweils anderen möglich ist. Durch die genannten Verkettungen wird im Zuge des Telefonspaziergangs Call Cutta die Mehr(ge)schichtigkeit von Erinnerungs- und Passagenräumen sichtbar gemacht und zugleich ein Moment gesteigerter Gegenwärtigkeit erzeugt: »Immer nur kurz können die Momentaufnahmen von Rimini Protokoll das Bild festhalten; es verschwindet mit den Inszenierungen. Sie fokussieren die Gegenwart, sammeln nichts für die Zukunft.«79 Die Körper und die Wahrnehmung der Theaterteilnehmer fungieren dabei als Mittler, als »Chronotopoi zwischen gestern und heute, hier und dort, Erinnerung und Gegenwart.«80 Annäherung und Fremdheit zwischen professioneller Callcenter-Verbindung und zwischenmenschlicher Verbindlichkeit Als letzte Perspektive auf das Verhältnis von Nähe und Ferne rückt nun abschließend die Frage nach einer emotionalen Bindung zwischen den Gesprächspartnern in den Blick. Dabei fällt auf, dass dem zugrundeliegenden Skript diesbezüglich eine gewisse Steigerungslogik eingeschrieben ist: Zu Beginn gibt der Telefonist seinem Gesprächspartner lediglich funktionale Hinweise bezüglich der Navigation durch den Stadtraum. Auf diese Weise können eine langsame Akklimatisierung sowie ein Prozess der Eingewöhnung in die ungewohnte Theater- und Gesprächssituation stattfinden. Nach kurzer Zeit jedoch mischen sich in die pragmatischen Anweisungen persönliche Nachfragen sowie (scheinbare) Auskünfte zur eigenen Person. Dass diese Preisgabe an Informationen gezielt zur Erzeugung von Nähe eingesetzt wird, zeigt unter anderem das Spiel um die Bekanntgabe des wahren Namens. Nach einigen Gesprächsminuten teilt der Mitarbeiter dem Teilnehmer mit, dass er sich zunächst mit einem erfundenen englischen Namen vorgestellt habe. Diese – wiederum

79 Malzacher 2007, 43. 80 Siegmund 2007, 201.

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im Skript vorgeschriebene – Enthüllung kann als erste vertrauensbildende Maßnahme verstanden werden: »Bis jetzt hast Du alles sehr gut gemacht! Deshalb kann ich Dir jetzt auch meinen richtigen Namen sagen: XXX.«81 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wird der Theaterteilnehmer somit mit der Relativität von Wirklichkeit konfrontiert, da es keinen gesicherten Bezugsrahmen gibt, anhand dessen sich abgleichen ließe, ob der Kommunikationspartner nach dem Moment der Enthüllung nun tatsächlich seinen eigenen oder erneut einen erfundenen Namen preisgibt. Jeder Teilnehmer geht mit dieser Verunsicherung unterschiedlich um. Manche versuchen die Inszenierung zu entlarven und durch Rückfragen ›hinter die Kulissen‹ zu schauen. Andere schlagen mit denselben Waffen zurück und weisen auch die eigenen Aussagen als angreifbar und potentiell fiktiv aus. So äußert beispielsweise eine Teilnehmerin während des Gesprächs, dass es denkbar wäre, dass sie nur angebe, eine Doktorin zu sein, dies aber ebenso erfunden wie wahr sein könne, ohne dass dies im Moment des Telefonats nachweisbar wäre. 82 Im Verlauf des Gesprächs folgen weitere Etappen der Enthüllung der (behaupteten) Identität des Mitarbeiters. Auf diese Weise wird dem Teilnehmer suggeriert, er lerne nicht nur den Gesprächspartner näher kennen, sondern erhalte auch die Möglichkeit, hinter die Kulissen und Konstruktionsprinzipien der Situation zu schauen, in der er sich gerade befindet. So berichtet zum Beispiel der Mitarbeiter von der Schwierigkeit bei der täglichen Arbeit im Callcenter, »immer in sehr kurzer Zeit mit dem Kunden eine fast intime Situation herzustellen, eine Art Körpersprache am Telefon zu sprechen, damit der Kunde sich wohl fühlt. Damit man das machen kann muss man es auch so meinen, sonst klingt es falsch.«83 Mit diesem Mittel wird der Eindruck eines Sonderstatus erweckt, da mit der Möglichkeit gespielt wird, es gäbe zwar ein Skript, dem der Gesprächspartner folgt, aufgrund der besonderen Gesprächsbasis ließe der Mitarbeiter dieses jedoch beiseite und lasse einen selbst ausnahmsweise hinter die Fassade des Skriptes und damit zugleich der Strategien des Callcenters und der Inszenierung schauen. Durch diese Form des ›Vertrauensvorschusses‹ steigt die Bereitschaft des Teilnehmers, ebenfalls persönliche Fragen zu beantworten, wie etwa: »Have you ever lied on the phone?«84 Die Frage nach der Lüge referiert auf die generelle Thematik der Glaubwürdigkeit und die Möglichkeit der Konstruktion einer Identität – besonders im Kontext medialer Kommunikation – die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen muss. Besonders deutlich wird dieser Konstruktionscharakter unter Einbezug des Theaterrahmens, in welchem der Anspruch auf Wahrhaftigkeit ohnehin ein fragwürdiger ist. Dieser Moment bietet somit Potenzial zur Erzeugung von Nähe durch eine Steigerung der 81 Skript RIMINI, 17; vgl. dazu auch Balme 2014, 187 sowie Ruesch 2007, 179ff. 82 Dokumentation Call Cutta 2005. 83 Skript RIMINI, 45. 84 Dokumentation Call Cutta 2005.

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Glaubwürdigkeit des Gesprächspartners, zugleich aber auch zu einer grundlegenden Skepsis in Bezug auf den Wahrheitsgehalt im Allgemeinen, wie auch Goebbels beschreibt: »Immer oszillieren die Gespräche im Spannungsfeld von privater Nähe, Intimität und öffentlichem Blick und Reflexion.«85 Als einen der Momente größter Nähe lässt sich die Sequenz beschreiben, in der der Callcenter-Mitarbeiter fragt: »Did you ever fall in love on the phone?«86. Neben dem hohen Intimitätsgrad der Frage selbst, wird damit gegebenenfalls auch die Möglichkeit impliziert, dass sich die beiden Gesprächspartner per Telefon ineinander verlieben könnten. Diese Sequenz weist auch auf Ebene des Skripts eine Besonderheit auf: Sind bis zu diesem Zeitpunkt die Dialoge beziehungsweise Fragen detailliert vorgeschrieben und damit in jedem Gespräch nahezu gleich, bietet sich hier eine frei besetzbare Leerstelle. Die Anweisung lautet lediglich, in einem zeitlich vorgegebenen Rahmen ein Gespräch über Liebe am Telefon zu führen: »[S]ome time for talking about ›love at the phone‹«87. Das Gespräch erhält dadurch unter dem Aspekt der Nähe eine andere Qualität, da zwar auch hier eine zeitliche Rahmung, jedoch im Gegensatz zu den bislang beschriebenen Situationen keine inhaltlichen Vorschriften vorliegen. Ohne, dass dies dem Teilnehmer gegenüber explizit kenntlich gemacht würde, wird dadurch für wenige Augenblicke eine erhöhte Ausgewogenheit sowie ein Möglichkeitsraum gesteigerter Unvorhersehbarkeit geschaffen. Ähnlich verhält es sich gegen Ende des Gesprächs, als der Telefonist ein indisches Lied singt und im Anschluss fragt: »Do you know what it means?« Daraufhin antwortet einer der Teilnehmer: »I don’t know what it means, but it sounds as if the sky would cry and the tears would come down as rain.«88 Aus Sequenzen dieser Art entstehen, wie das Beispiel zeigt, in einigen Telefonaten persönliche Annäherungen, die über den Theaterrahmen hinauszureichen scheinen. »Würdest Du mir Deine Telefon-Nummer geben?«89 fragt der Mitarbeiter textgetreu jeden einzelnen Teilnehmer. Dieser wiederum wird somit vor die Frage gestellt, auf welcher Ebene der Kommunikation er sich gerade befindet und welche Rahmung anzulegen ist. Daraus entspringen immer wieder Versuche seitens einzelner Theaterteilnehmer, den Inszenierungsrahmen zu überschreiten und den Wunsch nach einem ›realen‹ Kennenlernen zu äußern: »›When I am in Kalkutta, we are going to bicycle together.‹ ›Ok, look forward to this.‹«90 Unmittelbar neben diesen Momenten gesteigerter Nähe stehen solche der Distanzierung. So wird der Teilnehmer beispielsweise in eine Tiefgarage geleitet, wo 85 Goebbels 2007, 119. 86 Dokumentation Call Cutta 2005. 87 Skript RIMINI, 44. 88 Dokumentation Call Cutta 2005. 89 Skript RIMINI, 94. 90 Dokumentation Call Cutta 2005.

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der Telefonist abrupt das Gespräch mit der Ansage unterbricht: »Der vierte Akt spielt im Untergrund. [...] Ähm, ich muss kurz mit meinem Supervisor reden, nur eine Minute. Du musst zwei Stockwerke runter zum gelben Level. Dort ruf ich Dich im Treppenhaus zurück. Okay? Also los. Mach die Tür auf und geh zum gelben Level! Tschüss.«91 In diesem kurzen Moment der Gesprächsunterbrechung treten die Rahmung eines professionalisierten und standardisierten Callcenter-Gesprächs und der die gesamte Situation umschließende Theaterrahmen wieder in den Vordergrund, wodurch der Eindruck persönlicher Nähe relativiert wird. Hinzu kommt, dass der Mitarbeiter den Teilnehmer ausgerechnet in einer Situation ›allein‹ lässt, in welcher ›Nähe‹ gerade besonders wichtig wäre, worin eine weitere dramaturgische Spielart mit Nähe und Distanz zu erkennen ist. Der Einschnitt entsteht jedoch nicht nur durch den Gesprächsabbruch, sondern auch und vor allem dadurch, dass in einigen der Aufführungen bei Rückruf sich plötzlich ein anderer Telefonist am anderen Ende der Leitung befindet. Auf Rückfrage, wo der vorherige Gesprächspartner geblieben und was vorgefallen sei, erhält der Teilnehmer zur Antwort: »You want to know the reality? […] Whatever they told you up to now, just forget it, ok?«92 Durch das Wachrufen der Erinnerung daran, dass es sich um ein Callcenter-Gespräch handelt, bei welchem Gesprächsstrategien der Erzeugung künstlicher Nähe zum täglichen Geschäft gehören, weist die Inszenierung in diesen Momenten deutlich auf die Grenzverläufe von Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Verbindlichkeit hin und macht sichtbar, dass »die Wahrheit immer eine Erzählung ist.«93 Je gelungener die vorherigen Strategien der Näheerzeugung, desto größer die anschließende Fallhöhe bei Entlarvung dieser Strategien. Auf diese Weise werden mittels der Erzeugung von Widerständen und Reibungsflächen Möglichkeiten des Weiterdenkens, Hinterfragens und Aneignens durch den Theaterteilnehmer geschaffen: »Die Brüche, die bei solchen oft harten Gegenüberstellungen entstehen, schaffen Assoziationsräume für weitere Ebenen im Kopf des Zuschauers.«94 Der Vorgang des Gehens verstärkt laut Primavesi die eintretenden Effekte, steigert die Einbildungskraft und eröffnet Vorstellungsräume: »Ein Theater auf Straßen oder Hinterhöfen, in leeren Parkdecks oder Einkaufszentren, das nicht nur die real existierende städtische Umgebung als Kulisse benutzt, sondern vor allem die Fantasie des Gehenden aktiviert, die Inszenierung im Kopf in Gang gesetzt hat.«95 Hierzu ist jedoch einschränkend anzumerken, dass bei dem Spiel um Nähe und Distanz, Realität und Fiktion nicht von einem unbedarften Theaterteilnehmer aus91 Skript RIMINI, 90. 92 Dokumentation Call Cutta 2005. 93 Dreysse/Malzacher 2007, 9. 94 Malzacher 2007, 40. 95 Primavesi 2008, 103f.

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gegangen werden darf. Denn dadurch, dass sich die Teilnehmer bewusst in eine theatrale Situation begeben, ist die grundsätzliche Setzung einer fiktiven Rahmung bekannt und je nach Seherfahrung des Einzelnen wird gegebenenfalls von vornherein ein Moment gesteigerter Distanzierung gegenüber den theatralen Mechanismen aktiviert. Eine Bewertung der Situation, die zu dem Schluss käme, dass den Teilnehmern durch das theatrale Ereignis von Produktionsseite aus die Freiheit zur Reflexion verliehen wird, würde daher eine Verzerrung der Kausalitäten herbeiführen. In Abgrenzung zu den Theaterformen der 60er und 70er Jahre, bei welchen auf eine Aktivierung des Zuschauers und seine Überführung in einen Akteur abgezielt wurde, sind die hier beschriebenen performativen Entwürfe des frühen 21. Jahrhunderts eher als Angebotslandschaften zu verstehen, in welchen disparate Situationen geschaffen werden, die der Einzelne in unterschiedlicher Weise mit der eigenen Alltagswelt in Bezug setzen kann. In diesem Sinne entsteht innerhalb des geschilderten Gefüges der Lenkungsmechanismen ein Freiraum des Teilnehmers bezüglich des Grades seiner eigenen spielerischen Distanz zum Ereignis. Dieser bildet sich jedoch nicht durch das Ereignis selbst automatisch, sondern kann in unterschiedlichem Maße durch den Teilnehmer selbst aktiviert beziehungsweise hervorgebracht werden, je nachdem in welche Relation er sich zu dem Gesehenen, Gehörten und Erlebten setzt. Die Inszenierung Call Cutta ist geprägt von einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz als ein verzahntes Spiel mit räumlichen, kommunikativen, wahrnehmungsspezifischen und emotionalen Annäherungs- und Distanzierungsvorgängen, die sich zwischen Globalisierungsentwicklungen und persönlichen Lebensläufen aufspannen, worin eine spezifische Ausprägung distribuierter Ästhetik im Sinne Balmes vorliegt.96 Damit rückt die Frage nach Grenzverläufen und Schwellen unter glokaler Perspektive in den Blick und der theatrale Zugriff unterstreicht die theoretische Annahme, dass in heutigen Bezugssystemen Nah- und Fernräume ebenso wie Be- und Entgrenzungstendenzen nicht konträr, sondern komplementär zueinander gedacht werden müssen.97 Damit rückt die im hinführenden Globalisierungskapitel betonte Prozessualität, Transitorik und Performativität von Grenzen und Entfernungen in den Mittelpunkt: »Die Deterritorialisierungstheoretiker und Globalisierungsenthusiasten bleiben bei der Nachricht stehen, dass die Grenzen fallen. Sie blenden aus, wo immer eine Grenze fällt, an anderer Stelle eine errichtet wird. Auch Grenzen scheinen einem Entropiegesetz zu unterliegen. Grenzen verschwinden nicht, sondern ändern nur ihren Ort, um an einem anderen wieder aufzu96 Vgl. Balme 2014, 189 sowie zum Begriff distribuierter Ästhetik Kapitel 2.2. Zu den Bezügen zwischen Call Cutta und der Intimsphäre im Sinne Habermas, womit ein Vorverweis auf das spätere Öffentlichkeitskapitel (IV) vorgenommen werden kann. 97 Vgl. Schroer 2006, 207.

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tauchen, verwandeln sich von deutlich sichtbaren in weniger klare, unsichtbare Grenzen. Übersehen wird in dieser Perspektive die Neukonfiguration von Räumen, die sich den alten Koordinaten entziehen. Grenzen und damit auch der Umfang von Räumen sind nicht mehr festgelegt, sondern Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen und Prozesse.«98

Performative Praktiken – wie exemplarisch anhand der Produktion Call Cutta gezeigt wurde – haben die Möglichkeit sowohl scheinbar entgrenzte Räume in ihren Unüberbrückbarkeiten und Widerständigkeiten zu rahmen und sichtbar zu machen, als auch abstrakte, scheinbar unüberbrückbare Abständigkeiten durch einen kommunikativen und zwischenmenschlichen Brückenschlag als erfahrbar auszuweisen. Durch theatrale Hervorhebung alltäglicher Vorgänge, die wie im gezeigten Beispiel die »Pluralität des theatralen Raumes«99 in ihrer Vielgestaltigkeit ausschöpft, werden zudem die Möglichkeiten und Grenzen (interkontinentaler) Kommunikation sicht-, hör- und erlebbar gemacht. Dies zeigt exemplarisch der Raumumgang Rimini Protokolls, der »sowohl lokal verortet als auch virtuell über einen konkreten Ort hinausweisend [ist]. Die Inszenierungen arbeiten sowohl mit dem Hier als auch mit dem Dort. Sie machen die Gleichzeitigkeit und Diversität verschiedener Raumkonzepte erfahrbar.«100 Dadurch entstehen Zwischenräume, die sich zwischen Berlin und Kalkutta, zwischen dem Theaterteilnehmer und dem Callcenter-Mitarbeiter, zwischen Vertrauen und Skepsis, zwischen gelenkter Kontrolle und eigenständigem Handeln sowie zwischen Hören, Sprechen, Sehen und Gehen aufspannen und als Verhandlungszonen von Nähe und Distanz sowie als Spielraum produktiver performativer Grenzaushandlung fungieren.

98

Schroer 2006, 222f.

99

Matzke 2007, 105.

100 Matzke 2007, 215.

IV Passagen zwischen Öffentlichkeit & Privatheit

10 Hinführende Denkfiguren: Passagere Öffentlichkeit und Privatheit im Kontinuum performativer Hervorbringung Privates Leben ist keine Naturtatsache; es ist geschichtliche Wirklichkeit, die von den einzelnen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise konstruiert wird. Es gibt nicht ›das‹ private Leben mit ein für allemal festgelegten Schranken nach außen; was es gibt, ist die – selber veränderliche – Zuschreibung menschlichen Handelns zur privaten oder zur öffentlichen Sphäre. Privates Leben zieht seinen Sinn aus der Differenz zum öffentlichen Leben, und seine Geschichte ist vor allem die seiner Definition […]. ANTOINE PROST

Wirft man einen Blick auf die zeitgenössischen Ausprägungen dieser Definitionsgeschichte, so zeigt sich ein ambivalentes Bild: Rücken in Korrespondenz mit den Verschiebungen hinsichtlich Globalisierung, Medialisierung und Mobilisierung, die in den vorherigen Kapiteln ausgeführt wurden, ab den 1990er Jahren auch verstärkt Fragen nach Möglichkeiten und Formen heutiger Öffentlichkeit und Privatheit in den Fokus gesellschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Interesses,1 lässt sich zeitgleich die Beobachtung anstellen, dass in vielen Analysen dieses Gegensatzpaar nicht nur neu definiert, sondern als solches für die Beschreibung heutiger Lebenswelten als unzeitgemäß eingestuft und in Konsequenz häufig gänzlich ad acta gelegt wird.

1

Vgl. Lazardzig/Tkaczyk/Warstat 2012, 40. Für eine internationale Perspektive der Thematik vgl. Carr 1992. Eine Bibliographie zu der Geschichte privaten Lebens seit dem ersten Weltkrieg findet sich bei Prost/Vincent 1993 [1987], 605ff.

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Mit der Verabschiedung der Begriffe geht dabei auch in einigen Ansätzen die Auffassung einher, dass es sich nicht nur um eine veraltete Terminologie handle, sondern es im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert die Phänomene Öffentlichkeit und Privatheit selbst nicht mehr gebe beziehungsweise diese im Verschwinden begriffen seien. Bei der Denkfigur des Verfalls handelt es sich um einen Diskurs, der das Nachdenken über urbane Räume seit Jahrhunderten begleitet.2 Ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts manifestiert sich dieser besonders mit Blick auf die Frage nach Öffentlichkeit und Privatheit, wie diverse Schlagwörter und Abhandlungen zeigen, die aus unterschiedlicher Warte heraus die Rhetorik des Niedergangs und der Überwindung in sich tragen. Die um 1968 geprägte Parole »das Private ist politisch«3, kann dafür ebenso als Beispiel angeführt werden wie die berühmte Publikation Richard Sennetts, in der er in den 1970er Jahren vom Verfall und Ende des öffentlichen Lebens4 schreibt. Nach der Jahrtausendwende lassen sich hier exemplarisch die Debatten um die Gefahren öffentlicher Zusammenkunft in Folge der Geschehnisse des 11. Septembers 2001 oder der zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstehende Begriff der Post Privacy5 anführen, der im Kontext medialisierter Alltagswelt zu situieren ist. Je nach Perspektive wird eine Auflösung der einen Sphäre zugunsten der anderen beschrieben. So vertritt beispielsweise Sennett die Meinung, städtische Öffentlichkeit verschwinde in Folge einer fortschreitenden Ausbreitung des Privaten, das sich im Spannungsfeld der erstarkenden Kräfte des Kapitalismus, des Warenfetischismus und des Säkularismus entfalte. Dabei spricht er nicht von einem punktuellen Umschwung, sondern vertritt die Auffassung, dass die im späten 20. Jahrhundert virulent werdenden Entwicklungen und die »augenfälligen Anzeichen für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Privatleben und ein öffentliches Leben, das leer ist, das Ende eines Prozesses markieren. Sie sind das Ergebnis eines Wandels, der mit dem Niedergang des Ancien Régime und mit der Herausbildung einer neu-

2

Für einen historischen Einblick in den Diskurs städtischer Verfallsgeschichten vgl. Siebel 2007, 84ff und Hahn/Koppetsch 2011, 8.

3

Eine umfassende Analyse historischer und zeitgenössischer Ausprägungen und Funktionen von Öffentlichkeit setzt in Deutschland erst in den 1960er Jahren ein, einer Zeit, in der im Zuge der 68er-Bewegung die Suche nach möglichen Gegenöffentlichkeiten jenseits bürgerlicher Strukturen verstärkt Sichtbarkeit erlangt (vgl. hierzu Strum 2000, 106ff, Negt/Kluge 1972 und Prost/Vincent 1993 [1987], 131ff).

4

Sennett 2008 [1977].

5

Vgl. zum Begriff der Post Privacy, der die Veränderungen bezüglich des Privaten benannt, die gleichnamige Veröffentlichung von Heller 2011 sowie den Katalog, der anlässlich der Ausstellung unter dem Titel Privat in der Frankfurter Kunsthalle Schirn erschienen ist (vgl. Weinhart/Hollein 2012).

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en, kapitalistischen, säkularen, städtischen Kultur einsetzte.«6 Als Hauptgrund für den Niedergang der Öffentlichkeit benennt Sennett die zunehmende Hinwendung zum eigenen Selbst und die Verlagerung vormals öffentlicher Bedürfnisse auf den Bereich des Privaten oder auch Intimen im 19. Jahrhundert, den er als ein Verbergen hinter dem Schutzwall und Rückzugsraum der Familie beschreibt:7 »Mit ›Intimität‹ verbindet man Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zu offenem Ausdruck von Gefühlen. Aber gerade weil wir dahin gekommen sind, diese psychologischen Wohltaten in all unseren Erfahrungsbereichen zu erwarten, und weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens, der sehr wohl von Bedeutung ist, diese psychologischen Gratifikationen nicht zu bieten vermag, kommt es uns so vor, als lasse uns die Außenwelt, die ›objektive‹ Welt, im Stich; sie wirkt dann schal und leer.«8

Im Zuge dieser Verschiebung ins Psychomorphe, die mit dem Aufkommen der Psychoanalyse zusammenfällt9 und eine Idealisierung der bürgerlichen Familie und deren Priorisierung gegenüber der öffentlichen Sphäre auf moralischer Ebene hervorbringt, werden nach Sennett Bedürfnisse wie Stabilität und Sicherheit auf den privaten Bereich übertragen. Es findet folglich eine Gleichsetzung von Unpersönlichem und Leere statt, woraus die Tendenz erwächst, »alles Unpersönliche aus den gesellschaftlichen Beziehungen zu verbannen.«10 Da Sennett in dieser Form des Grenzabbaus einen zunehmenden Niedergang städtischer Öffentlichkeit sieht, plädiert er für eine produktive Form der Abgrenzung beider Sphären, um diese zu schützen. Die von Sennett im historischen Tiefenraum entwickelte Zeichnung eines Öffentlichkeitsverfalls bedarf aus heutiger Sicht einer stringenten Historisierung. Dennoch zeigt sich, dass die von ihm formulierten Thesen auch in aktuellen Debatten noch wirksam sind, findet sich doch beispielsweise aus ökonomischer Warte heraus noch immer das Argument der Verdrängung des Öffentlichen durch das Pri6

Sennett 2008 [1977], 43. Siebel weist auf eine begriffliche Unschärfe Sennetts hin, die ihn zu der Diagnose eines Öffentlichkeitsverfalls führt, da er die von Habermas differenzierten Begriffe repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit nicht sauber trenne (vgl. Siebel 2007, 84).

7

Vgl. Sennett 2008 [1977], 51.

8

Sennett 2008 [1977], 24f.

9

So überrascht es auch nicht, dass diese Zeit, über welche Bahrdt schreibt, die »Privatwelt ist zur verbarrikadierten Fluchtburg geworden« (Bahrdt 1998, 141), mit dem Aufkommen der Psychoanalyse zusammenfällt: »Mit der Entdeckung des Unbewussten im 19. Jahrhundert wird der Mensch sich selbst zum Unbekannten.« (Bachmann 2012a, 101.) Zum Zusammenhang zwischen Privatheit, Innerlichkeit und dem ›Un-Heimlichen‹ vgl. Bachmann 2012a, 98-111 und ders. 2012b, 297-312.

10 Sennett 2008 [1977], 456.

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vate. Die Kritik, die sich bis ins 21. Jahrhundert fortsetzt, richtet sich vornehmlich gegen die Homogenisierung als »atomisierte Masse«11 sowie die »Phase des Kapitalismus […], in der das Publikum als passives Objekt der Manipulation durch die beständig neue Bedürfnisse weckende Werbung figuriert wird.«12 Im Fokus steht heute unter anderem die zunehmende Privatisierung städtischer Räume, die sich beispielhaft an Bahnhöfen und Shopping Malls zeigt.13 Jürgen Habermas spricht in seiner zu diesem Thema bis heute ebenso zentralen wie umstrittenen Referenzschrift14 von einem grundlegenden Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) und fokussiert dabei den Stellenwert kultureller Prozesse in politischen Zusammenhängen, Grenzverhandlungen zwischen Öffentlichem und Privatem, Interdependenzen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Rolle der Medien. Habermas beschreibt die Wandlungsprozesse ebenfalls tendenziell als Abbauprozesse, die er – wie auch Sennett – in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Dominanz wirtschaftlichen Kalküls sieht: »Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption.«15

Damit und durch die wachsende Bedeutung der Medien Film, Radio und Fernsehen geht laut Habermas ein Prozess einher, der aus Handlungsträgern affirmative Konsumenten macht, eine Durchdringung von Politik und Medien durch Kommerzialisierung erzeugt und den Verlust kritischer Distanznahme verursacht. All diese Entwicklungen wirken seiner Auffassung nach dem Entstehen beziehungsweise Aufrechterhalten von Öffentlichkeit entgegen, da sich öffentlicher Austausch nach und nach zu einem Tauschhandel transformiere.16

11 Boyte 1992, 355. 12 Strum 2000, 93. 13 Hinsichtlich der Zunahme privatwirtschaftlich geführter Räumen des Erlebens und Konsumierens sowie vermehrter Kontroll- und Überwachungsstrategien in städtischen Räumen seit den 1990er Jahren vgl. Bareis 2007, 160, Kayden 2000 sowie Legnaro/Birenheide 2005. 14 Eine kritische Auseinandersetzung mit Habermas Schrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit bietet der Sammelband mit dem Titel Habermas and the Public Sphere (vgl. Calhoun 1992, Balme 2014 sowie Wagner 2013, 39f). 15 Habermas 1990a [1962], 194. 16 Vgl. Habermas 1990a [1962], darin insbesondere Kapitel 5 und 6.

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Die Diskussion über die Interdependenzen zwischen Öffentlichkeit und medialen Einflüssen weist besonders im 21. Jahrhundert gesteigerte Virulenz auf und die Diagnosen des Öffentlichkeits- oder Privatheitsverfalls in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen setzen sich weiter fort. Neben der Rede um die zunehmende Privatisierung von Räumen wird auch das Telefonieren mit Mobiltelefonen, die Nutzung von Smartphones oder auch das Hören von Musik mittels Kopfhörern im Stadtraum häufig als Privatisierungsprozess des Öffentlichen oder auch als öffentlich sichtbare Form privaten Rückzugs beschrieben. Zugleich ist aber auch von einer Veröffentlichung des Privaten die Rede, die durch die mediale Hybridisierung des Wohnraums und der Persönlichkeitsgrenzen vollzogen wird. Ein Schlagwort, das die Verbreitung sozialer Netzwerke und die auf das Kauf- und Suchverhalten der Nutzer und Konsumenten abgestimmten Internetplattformen zu umspannen versucht, ist das des ›gläsernen Menschen‹.17 Diesen beschreibt ByungChul Han als einen der Effekte einer weitreichenden Entwicklung zu einer Transparenzgesellschaft, innerhalb derer stete Sichtbarkeit und Durchlässigkeit zum Leitmotiv wird: »Die allgegenwärtige Forderung nach Transparenz, die sich zu deren Fetischisierung und Totalisierung verschärft, geht auf einen Paradigmenwechsel zurück, der sich nicht auf den Bereich der Politik und Wirtschaft begrenzen lässt.«18 Jede der hier skizzenhaft angeführten Diagnosen führt zu dem Schluss, dass eine der beiden Sphären durch die andere verdrängt wird. Die an diesen Beispielen zu erkennende diskursive Aufladung der Termini19 lässt sich mit Hohendahl damit begründen, dass es sich um ein Begriffsfeld handelt, »das seit dem 18. Jahrhundert häufig in kontroversen Diskussionen gebraucht wird. Doch auch im 19. Jahrhundert ist der Begriff der Öffentlichkeit zum guten Teil noch ein Kampfbegriff, mit dem sich besondere politische und sozio-kulturelle Forderungen verbinden. […] Aus diesem Grunde besteht im modernen Gebrauch des Begriffs (seit dem 18. Jahrhundert) fast durchgehend eine Spannung zwischen seiner deskriptiven und seiner normativen Verwendung, die auch in den gegenwärtigen Theorien erhalten geblieben ist.«20

Unter diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die gerade ausgeführten Schilderungen einer Verfallsgeschichte des Öffentlichen beziehungsweise des Privaten nicht 17 Vgl. Lehnert 1999 und Lück 2013. 18 Han 2012, 5. 19 Zur Begriffsgeschichte der Öffentlichkeit unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sprachräume vgl. Hölscher 1979, Hohendahl 2000, 8ff, Hulfeld 2005, 225, Jäger 1997 und Sennett 2008 [1977], 45. Zur Geschichte des Privaten vgl. Jurczyk/Oechsle 2008 sowie Ariès/Duby/Veyne 1989-93 (5 Bände). Eine ausführliche Bibliographie zum Themenkomplex des Öffentlichen und Privaten findet sich bei Hohendahl 2000, 124-179. 20 Hohendahl 2000, 2f.

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ohne historisierende Einordnung vorzunehmen sind, und es zeigt sich, dass es sich dabei nicht nur – wie oben bereits angemerkt – um eine leitmotivische Thematik des Städtischen handelt, sondern sich heutige Diagnosen häufig auf ein Bild des Städtischen stützen, das so nicht (mehr) besteht: So wird offensichtlich, dass die Idee des Verfalls größtenteils auf ein in der Grundanlage normatives, dichotomisches sowie geographisch-territorial zugewiesenes Begriffsverständnis referiert, eine terminologische Aufladung, deren Wurzeln im 18. Jahrhundert und somit bereits mehr als zweihundert Jahre zurückliegen. Mit dem sich in dieser Zeit herausbildenden und im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter etablierenden Begriff der Öffentlichkeit ist maßgeblich das Erproben bürgerlich-liberaler Werte und Vorstellungen verknüpft, die ihre Wirksamkeit Hand in Hand mit einem Wandel des urbanen Raums und dessen Nutzungsweisen entfalten: Städtische Begegnungsorte nehmen zu, öffentliche Parks entstehen, Straßen werden auf Fußgänger abgestimmt, Kaffeehäuser erlangen an Bedeutung, Theater öffnen sich einem größeren, gesellschaftlich ausdifferenzierteren Publikum, ein konkurrenzorientierter Markt entsteht und eine Rationalisierung des Bank- und Kreditwesens ist ebenso zu verzeichnen wie die Anonymisierung von Läden und Geschäften. Damit einher geht die Suche nach neuen, ordnungsstiftenden Formen der Sprache, der Mode und des Verhaltens.21 Zugleich findet eine zunehmende Trennung räumlicher Sphären des Öffentlichen und Privaten statt, womit eine direkte Kopplung der Begriffe an räumlich-geographische Einteilungen ihren Anfang nimmt: »Die öffentliche Sphäre marktförmig organisierter Ökonomie und demokratisch verfasster Politik und als ihr Gegenüber die private Sphäre familialer Intimität und selbständiger Warenproduktion sind die Geburtsmerkmale des Idealtypus der bürgerlichen Gesellschaft wie der europäischen Stadt. Diese soziale Polarität zweier gesellschaftlicher Sphären hat in der physischen Polarität öffentlicher und privater Räume Gestalt gewonnen.«22 21 Zum 19. Jahrhundert als Zeitraum städtischer Öffentlichkeit und sozialer Selbstvergewisserung in urbanen Kontexten jenseits des von Sennett benannten Beginns einer Verfallsgeschichte vgl. Hohendahl 2000, 8-37, Hulfeld 2005, 226, Marx 2008 (darin besonders 39-50) sowie Veblen 2001 [1899]. 22 Siebel 2007, 79f. Siebel benennt fünf Dimensionen zur qualitativen Differenzierung der Polarität öffentlicher und privater Räume. In funktionaler Perspektive umfasst der öffentliche Raum die Funktionen des Marktes und der Politik, der private Raum hingegen die der Produktion und Reproduktion. In juristischer Hinsicht erfolgt die Aufteilung im Sinne eines öffentlichen Rechts und eines Hausrecht. Die soziale Dimension beschreibt den öffentlichen Raum als Bühne der Selbstinszenierung und für die Begegnung Fremder, zu deren Regulierung eingeübte Regeln dienen. Auf symbolischer Ebene zeigen Merkmale aus Architektur und Städtebau den Grad an Offenheit und Geschlossenheit, Exklusion

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Es zeigt sich also mit Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert eine starke normative Aufladung der Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit, die vor allem im Kontext des aufkommenden und sich etablierenden Bürgertums zu sehen ist: »Der öffentliche Raum der europäischen Stadt ist historisch assoziiert mit den Emanzipationsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft: durchgesetzte Demokratie, offene Märkte, Individualisierung und gesellschaftliche Integration ohne Vernichtung der Differenz.«23 Diese Referenz wird dadurch unterstützt, dass die bürgerliche Gesellschaft das Stadtbild maßgeblich für die Folgezeit prägte, wodurch sich die Trennung der Sphären baulich fortgeschrieben hat: »Jede besondere gesellschaftliche Formation materialisiert sich in einer besonderen Stadtgestalt. In der europäischen Stadt hat die bürgerliche Gesellschaft Gestalt gewonnen. Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist die dialektische Beziehung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Sphäre. Diese prägt daher auch die räumliche Struktur der europäischen Stadt.«24

In diesem Sinne leitet sich aus den architektonischen und ideologischen Spuren aus der Zeit bürgerlicher Öffentlichkeit die Vorstellung eines ›klassischen‹ Öffentlichkeitsbegriff ab, der im heutigen Sprachgebrauch häufig als unhinterfragte Vergleichsfolie und Ausgangspunkt zur Beschreibung einer Verfallsgeschichte verwendet wird. Dabei geraten sowohl die damit einhergehende historische Verklärung als auch die grundlegend abweichende sozio-kulturelle Grundsituation des 20. und 21. Jahrhunderts aus dem Blick. Abgesehen davon, dass in Zeiten von (Welt-) Kriegen und Diktaturen beide Kategorien einer radikalen Limitierung unterliegen, geht Adorno nicht nur von zeitweiligen Einschränkungen aus, sondern stellt generell das Bestehen einer funktionierenden Öffentlichkeit wie sie Habermas vorschwebt in Frage und beschreibt das damit verbundene Öffentlichkeitsideal als Konstruktion: »Habermas hat diese Entwicklung als Zerfall der Öffentlichkeit zusammengefaßt. Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit überhaupt nie verwirklicht. Zu Anfang wäre sie, als nicht vorhandene, erst zu schaffen gewesen, dann hat sie in zunehmendem Maß die Mündigkeit verhindert, die sie meint.«25 und Inklusion an und auf normativer Ebene ist mit dem öffentlichen Raum die Hoffnung auf Chancengleichheit und Demokratisierung verbunden, während mit dem privaten Raum Ideen wie Autonomie, Eigentum, und Entfaltung familiären Glücks verknüpft sind. Siebel sieht bei Wegfall einer dieser Dimensionen eine Infragestellung der Polarität (vgl. Siebel 2007, 80f). 23 Siebel 2007, 88. 24 Siebel 2007, 79. 25 Adorno 1970, 534.

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Auch Siebel sieht in der Idee unbeschränkter Zugänglichkeit eher ein tradiertes Ideal, denn eine realisierte Wirklichkeiten: »Öffentlicher Raum als jederzeit für jedermann zugänglicher Raum hat niemals in irgendeiner Stadt existiert. Gewandelt hat sich, wer aus welchen Räumen der Stadt auf welche Art und Weise ferngehalten wurde, nicht aber die Tatsache des Ausschlusses.«26 Jenseits dieser Einschränkung ist mit der Übernahme eines Öffentlichkeitsbegriffs, der auf eine spezifische historische Konstellation referiert, eine terminologische Kanalisierung verbunden, mit der ein sprachlicher und gedanklicher Distinktionsvorgang verbunden ist, welcher sowohl vorherige Formen städtischer Öffentlichkeit verdrängt, als auch die Möglichkeiten zeitgenössischer Aktualisierung und Adaption stark einschränkt.27 Vor dem Hintergrund dieses sich bis in die heutige Zeit fortsetzenden Referenzrahmens erklärt sich die obige Anmerkung, dass mit der Hybridisierung räumlicher Zuordnungen und der Prozessualisierung von Grenzverläufen die Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit als Beschreibungs- und Analysekategorien in vielen aktuellen Ansätzen verworfen und neue Begriffe vorgeschlagen werden – wie hier bei Hermann Korte: »Das Begriffspaar, das heute den öffentlichen Raum weitgehend beschreibt, heißt [...] ›Exklusion-Inklusion‹ oder ›Aussperrung-Abschottung‹. Privatheit und Öffentlichkeit taugen zur angemessenen Beschreibung nicht länger.«28 Obgleich die von Korte verwendeten Termini auch dem der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Begriffsverständnis maßgeblich eingedacht sind, scheint es für die folgenden Überlegungen dennoch zielführender zu sein, die Kategorien Öffentlichkeit und Privatheit weiter zu verwenden, anstatt diese durch zwei neue, ebenfalls dichotomisch angelegte Begriffe abzulösen und ihnen damit ihren Analysegehalt gänzlich abzusprechen. Stattdessen soll im Folgenden eine Loslösung von der tradierten Kopplung an territoriale Zuordnungen vorgenommen, die Begriffe komplementär zueinander gedacht und mit neuer, geographisch flexiblerer Bedeutung belegt werden:

26 Siebel 2007, 85. 27 Dies betrifft die von Habermas benannte Unterscheidung zwischen der »repräsentativen Öffentlichkeit« des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und der »bürgerlichen Öffentlichkeit« seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Habermas 1990a [1962], 13, Hulfeld 2005, 225ff und Lazardzig/Tkaczyk/Warstat 2012, 40f). Damit einhergeht, dass die Wandlungen des Öffentlichkeitsbegriffs im Verlauf des 19. Jahrhunderts in dieser terminologischen Beschränkung nicht berücksichtigt werden können (vgl. Berman 2000, 75). Auch die im 20. Jahrhundert maßgebliche Frage, inwiefern vor dem Hintergrund erlebter »akklamatorische[r] Öffentlichkeit einer Diktatur« (Berman 2000, 87.) Öffentlichkeit im Sinne eines positiv besetzten Begriffs überhaupt noch denkbar ist, lässt sich mit dieser begrifflichen Verengung nicht beantworten (vgl. Strum 2000, 99-105 und Berman 2000, 90f). 28 Korte 2005, 45.

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»Was für die Gegenwart typisch erscheint, ist m.E. nicht die Auflösung des Begriffspaars öffentlich/privat im Sinne eines vollständigen Sieges des Privaten über das Öffentliche oder umgekehrt. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, dass die strenge Polarisierung von hier öffentlich und dort privat an Bedeutung verliert, weil die Unterscheidung von öffentlich und privat durch den öffentlichen bzw. privaten Raum hindurchgeht bzw. sich dort wiederholt, Privates und Öffentliches sich gegenseitig penetrieren und dabei Ableger hinterlassen.«29

Damit darf aber nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich Öffentlichkeit und Privatheit nicht länger räumlich manifestieren würden, im Gegenteil: Diese sollen als räumliche Äußerungen verstanden werden, die jedoch nicht mehr im Sinne einer Einteilung in Areale abzugrenzen sind, sondern sich performativ, situativ und mobil entfalten. Denn – so formulieren es auch Hahn und Koppetsch – die »Rede von Prozessen des Geheimhaltens und des Veröffentlichens deutet darauf, dass es kein ›Geheimnis‹ bzw. keine ›öffentlich bekannte Tatsache‹ an sich gibt, sondern die Behandlung eines Sachverhalts als ›öffentlicher‹ oder ›privater‹ auf einer bestimmten Inszenierungstechnik und Kommunikationsstruktur beruht.«30 Neben der linearen Verknüpfung mit festen Räumen kann somit zugleich auch die Denkweise ontologischer Begriffssetzung wie auch die Vorstellung dichotomischer Gegensätze einer Revision unterzogen werden. Anstelle zweier sich ausschließender Zustandsbeschreibungen entwirft die vorliegende Studie ein zeitlich-räumliches Modell der Differenzierung, in dem »von einer Vielzahl von Öffentlichkeiten ausgegangen werden [kann], die sich unter je eigenen Bedingungen realisieren.«31 Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand – nämlich Theaters in Passagenräumen des Alltags – wird die Komplexität dieses Öffentlichkeitengefüges weiter gesteigert: Theater ist als Kulturpraxis zu beschreiben, die sich in ihrer etymologischen Grundanlage – abstammend von griechisch θεά/ theá die Schau – als öffentlich entwirft, indem ein Vorgang ostentativ vor einem Publikum zur Anschauung gebracht wird. Die theaterwissenschaftliche Forschung blendet aufgrund ihrer oftmals einseitigen Fokussierung ästhetischer Prozesse die Komponente theatraler Öffentlichkeit häufig aus – ein Phänomen, das Balme unter anderem damit erklärt, dass sich »aufgrund ihrer zerstreuten und distribuierten Beschaffenheit […] ihr als wahrnehmendem Subjekt wenig Möglichkeiten einer ästhetischen Ladung zu bieten [schei-

29 Schroer 2006, 234. Vgl. zudem Hahn/Koppetsch 2011, 9f. 30 Hahn/Koppetsch 2011, 9f. 31 Lazardzig/Tkaczyk/Warstat 2012, 46. Zu dem Ansatz Öffentlichkeit und Privatheit als komplementäre Begriffe zu denken, die sich ergänzen anstatt sich auszuschließen, vgl. auch Hahn und Koppetsch 2011, 9.

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nen].«32 Um sich der Frage nach zeitgenössischen Ausprägungen theatraler Öffentlichkeit zu nähern, ist deshalb eine Flexibilisierung des Begriffs in Loslösung von konkreten Orten vorzunehmen: »The spatiality of the theatrical public sphere must be calibrated less in terms of concrete spaces than through constantly changing sets of discursive, social and institutional factors.«33 Bereits in seiner früheren Untersuchung unter dem Titel »Distribuierte Ästhetik« fokussiert Balme das Korrespondenzgefüge von Theaterpublikum und Öffentlichkeit im Zeitalter der Medialisierung:34 »Während der Zuschauer als Individuum auftritt, stellt das Publikum ein kollektives ästhetisches Subjekt dar, das dem ästhetischen Geschehen auf der Bühne (oder wo immer es sich abspielt) Bedeutung entnimmt oder hinzufügt. Eine weitaus schwierigere und kaum erforschte Größe ist die der Öffentlichkeit. Während Zuschauer und Publikum Individuen bzw. Kollektive darstellen, die sich innerhalb eines räumlich begrenzten Bereichs aufhalten und/oder der Aufführung aktiv beiwohnen, also Teilnehmer im der theatralen Kommunikation sind, bezieht sich der Begriff der Öffentlichkeit auf ein nur potenzielles Publikum, wenn überhaupt. […] Öffentlichkeit in diesem Sinne meint ein noch zu realisierendes Publikum, kein bereits bestehendes.«35

Die Konzentration auf Fragen der Schaukonstellationen und die Betonung des elementaren Stellenwerts des Publikums für theatrale Vorgänge teilt in besonderem Maße auch Schramm, wenn er schreibt, »[...] ohne Bezug auf einen denkbaren Zuschauer, ein Publikum, eine Spur von Öffentlichkeit kann man sich von Theater keinen relevanten Begriff machen.«36 Wie weitreichend sich diese Vorstellungen jedoch einlösen, und welchen Grad an Abschirmung und Möglichkeit eines Rückzugsraums respektive Foren der Ostentation für Agierende und Schauende etabliert werden, schwankt im Laufe der Theatergeschichte wie auch abhängig von dem so32 Balme 2010, 44. Den Begriff distribuierter Ästhetik verwendet Balme in Anlehnung an den von Anna Munster und Geert Lovink verfassten Aufsatz »Theses on Distributed Aethetics. Or, what a Network is Not« (vgl. Munster/Lovink 2005). 33 Balme 2014, 22f. Abgesehen von diesem Ansatz, der eine theoretische Annäherung mit einem historischen Querschnitt durch unterschiedliche Epochen kombiniert, konzentrieren sich die meisten Publikationen, die sich bislang dezidiert mit dem Zusammenhang von Theater und Öffentlichkeit befasst haben, auf die Frage nach kontextuell gebundenen Schauanordnungen, beleuchten spezifische historische Konstellationen oder fokussieren sich auf den Aspekt des Publikums (vgl. hierzu Marx 2008, Schramm 1990, Hulfeld 2005 und Wagner 2013). 34 Vgl. Balme 2010 und 2014. 35 Balme 2010, 43. 36 Schramm 1990, 205.

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zio-kulturellen Kontext maßgeblich,37 weshalb diese immer unter Berücksichtigung der spezifischen Beziehungsgeflechte analysiert werden müssen: Ist in der Antike beispielsweise die theatrale Öffentlichkeit im Sinne einer Versammlung zu denken, bei welcher politische und kulturelle Vorgänge untrennbar verwoben sind, so tritt in anderen Epochen wie dem 19. Jahrhundert eher das Moment ostentativer Selbstdarstellung und -vergewisserung in den Mittelpunkt, wobei das Prinzip des Sehens und Gesehen-Werdens eine der entscheidenden Öffentlichkeitsfunktionen darstellt. Ebenso dient in absolutistischen oder diktatorischen Regimen die theatrale Öffentlichkeit häufig einer Stärkung der Machtposition, der hierarchischen Verhältnisse und der Legitimierung der Herrschenden. Öffentlichkeit im Theater kann folglich sowohl mit Motiven der Machtzuspitzung wie auch der Demokratisierung oder Vergemeinschaftung belegt werden und damit öffnend, aber auch normativ kanalisierend wirksam werden. Daraus ergeben sich häufig auch paradoxale Entwicklungen, wie sich beispielhaft daran zeigt, dass die »Genese und publizistische Konjunktur des aufgeklärten Öffentlichkeitsbegriffs mit der Einschränkung des unmittelbaren Öffentlichseins sozialer Vorgänge«38 einhergeht, indem Schau- und Repräsentationsräume für eine ›öffentliche‹ Zusammenkunft geschaffen wurden, die jedoch mit einem Kanon an Zugangsregeln und Verhaltenscodes versehen waren.39 Aus diesen historischen Schlaglichtern lässt sich ableiten, dass, wie Stefan Hulfeld betont, »Öffentlichkeiten beziehungsweise Publika nicht als für die Allgemeinheit repräsentativ gelten, obwohl dies der für ein politisches Schlagwort charakteristische Kollektivsingular sugge37 Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich etwa einige Positionen, die dem Theater als Forum des Öffentlichen eine nahezu singuläre Bedeutung zuweisen. Für Robert E. Prutz ist Theater beispielsweise, wie seinen Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters von 1847 zu entnehmen, »der reinste und großartigste Spiegel des öffentlichen Lebens, […] gleichsam das empfindlichste Thermometer der nationalen Bildung, der genaueste und feinste Maßstab, der sich dem öffentlichen Leben von Seiten der Literatur anlegen läßt. Kein anderer Zweig derselben […] ist genau mit der Öffentlichkeit verbunden, als das Theater; sogar es bildet selbst einen Theil dieser Öffentlichkeit: ja es fehlt nicht viel, und es hat Zeiten und Völker gegeben, bei denen die Öffentlichkeit des Theaters die einzige war, die überhaupt noch existierte – und auch sie war von Gensd’armen überwacht.« (Prutz 1847, 10. Vgl. zudem Wagner 2013, 197-222 sowie Hulfeld 2005, 226f.) 38 Hulfeld 2005, 228. 39 Vgl. Hulfeld 2005, 227f sowie weiterführend Marx 2008 und Wagner 2013. Balme betont neben ihren Dimensionen als Raum und theoretisches Konzept der Öffentlichkeit im aktuellen Diskurs besonders den zentralen Stellenwert der Beziehungsgeflechte. Dieser Perspektive misst er besonders bei dem Übertrag auf die Theaterwissenschaft eine wichtige Bedeutung bei (vgl. Balme 2010, 45ff).

234 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT riert und damit dazu einlädt, eine soziologisch spezifische Öffentlichkeit als die Öffentlichkeit argumentativ zu instrumentalisieren. Diese potenzielle Kluft zwischen theoretisch fundierten, strategischen Öffentlichkeitsbegriffen in ihren kontextabhängigen Bedeutungen und dem dialektischen Geflecht historisch konkreter Öffentlichkeiten, die von ganz unterschiedlichen theatralen Praktiken […] generiert werden, erweist sich denn als Kardinalproblem der Forschung.«40

Modellversuch eines Kontinuums passagerer Öffentlichkeiten Die vorliegende Untersuchung nähert sich dem damit formulierten Desiderat, indem als Referenzgrundlage für den hier gesteckten Rahmen ein Modell [Abb.1] entwickelt wurde, das einen möglichen Ansatzpunkt für die von Hulfeld benannte Problematik bietet. Damit wird auch der Beobachtung Rechnung getragen, dass die spezifischen Wechselwirkungen zwischen performativen und sozio-kulturellen Verschiebungen in städtischen Alltagsräumen des 21. Jahrhunderts bislang noch weitreichend unerforscht sind. Mithilfe dieses Modells sollen die situationsgebundenen, spezifischen und ephemeren Verschränkungen, die in Zusammenführung urbaner Öffentlichkeitsgefüge und performativer Entwürfe in Passagenräumen der Gegenwart entstehen, beschreibbar beziehungsweise abbildbar gemacht werden. Zur graphischen Veranschaulichung dient das folgende Diagramm, in dem sich Einzelereignisse und Handlungen als Koordinaten oder auch Entwicklungslinien visualisieren lassen: Abb.1

Quelle: eigene Darstellung (Wehrle 2015) 40 Hulfeld 2005, 225f.

H INFÜHRENDE D ENKFIGUREN : P ASSAGERE Ö FFENTLICHKEIT

UND

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Ein dichotomisches Entweder-Oder von Öffentlichkeit und Privatheit soll mithilfe dieses Modells durch ein Kontinuum performativer Hervorbringung abgelöst werden: Jedes Einzelereignis oszilliert zwischen zwei Spannungsfeldern, von welchen das erste aus den Abstufungen zwischen Durchlässigkeit und Abgeschlossenheit besteht. Diese Dimension bezieht sich vor allem auf die im weitesten Sinne bewegungs-räumlichen Aspekte und ermöglicht ein Ausloten des Grades an Passierbarkeit beziehungsweise widerständiger Abschottung. Je durchlässiger sich ein Raum zeigt, desto höher ist in dieser Dimension gedacht sein Grad an Öffentlichkeit, je abgeschlossener hingegen, sein Grad an Privatheit. Die damit beschriebenen Räume werden, wie in Kapitel 2.1 ausgeführt, in engem Zusammenspiel baulicher, bewegungspraktischer sowie körperlicher Komponenten und Vorgänge gedacht. Die zweite Achse, die vornehmlich auf der Handlungs- und Wahrnehmungsebene angesiedelt ist, bildet die Spannungsdimension zwischen Verbergen und Ostentation.41 Die Pole der Achsen bilden somit Verbergen im Sinne kommunikativer und wahrnehmungsspezifischer Zurückgezogenheit, Verdecken und Geheimnis – in dieser zweiten Dimension als äußerste Form der Privatheit verstanden – sowie der in diesem Modell als öffentlich definierte Vorgang der Ostentation, einem demonstrativen Zeigen und Offenlegen eigener Äußerungsakte.42 »Privat hieße in diesem Sinne, sich temporär unsichtbar machen zu können, sich vor den Blicken und Ohren der Anderen zumindest vorübergehend schützen zu können, während öffentlich bedeutet, potenziell für jedermann sicht- und hörbar zu sein.«43 Beide Dimensionen treten in ein Wechselverhältnis ein und erzeugen eine je nach Situation zu ermittelnde spezifische Kräfteverteilung, die auf Menschen, Ereignisse und Räume einwirkt, von diesen hervorgebracht wird und auf diese Weise – so meine These – ihren jeweiligen Öffentlichkeits- beziehungsweise Privatheitsgrad bestimmt.44 Je weiter ein Ereignis oder eine Handlung von dem Nullpunkt entfernt eingeordnet wird, desto höher ist nach der hier vorgenommenen Definition der 41 Der Begriff kommt aus dem Lateinischen von ostentatio = Zurschaustellung und wird im Folgenden im Sinne eines gezielten, auf Anschauung bedachten Zeigens verwendet (vgl. Münz 1998, 68ff). 42 Vgl. zu der Idee der Hervorbringung von Privatem und Öffentlichem als soziale Praktik der Grenzziehung und des Zeigens und Verbergens auch Wohlrab-Sahr 2011, 38. 43 Schroer 2006, 234. 44 Die Arbeit setzt sich somit zum Ziel, situative, passagere Öffentlichkeits-PrivatheitsKonstellationen und deren räumliche Manifestationen zu eruieren, die durch alltägliche und performative Praktiken erzeugt werden. Weitere Dimensionen des Öffentlichen und Privaten, wie die Dimensionen politischer wie auch staatlich-rechtlicher Öffentlichkeit, die Perspektive der Medienöffentlichkeit im Sinne der Presse wie auch Formen literarischer und philosophischer Öffentlichkeitskonzepte, finden daher keine weitergehende Berücksichtigung.

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Grad an Öffentlichkeit, bei Nullpunkt-Nähe der Grad an Privatheit. Bei dieser Darstellungs- und Denkweise – für welche ein solches Schema nur eine Verbildlichung, jedoch keine umfassende Beschreibung bieten kann – ist es möglich, dass eine der beiden Dimensionen einen starken Ausschlag ins Öffentliche, die andere hingegen ins Private aufweist, wodurch sich Ambivalenzen, die in vielen herkömmlichen Öffentlichkeitsmodellen eine Einordnung verunmöglichen, beschreibbar und transparent machen lassen. Exemplarisch erläutern lässt sich dies am Beispiel einer Person, die sich zu Hause, in einem räumlich abgeschlossenen, nicht für Andere zugänglichen Raum befindet, sich jedoch über soziale Netzwerke oder andere mediale Kanäle ostentativ zeigt und öffnet.45 In diesem Fall wäre der Öffentlichkeitsgrad auf der x-Achse sehr hoch, jener auf der y-Achse wiederum sehr gering [Abb.2: A]. Befindet man sich hingegen in einem räumlich durchlässigen Passagenraum wie einer Fußgängerzone, hört aber über Kopfhörer so laute Musik, dass daraus ein (zumindest akustischer) Rückzug resultiert, ließe sich die Koordinate auf der x-Achse nahe des Nullpunkts, auf der y-Achse hingegen in größerer Entfernung zum Nullpunkt positionieren [Abb. 2: B]: Abb.2

Quelle: eigene Darstellung (Wehrle 2015)

45 Vgl. Otto 2013.

H INFÜHRENDE D ENKFIGUREN : P ASSAGERE Ö FFENTLICHKEIT

UND

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Innerhalb des Modells ist es zudem möglich, zwischen unterschiedlichen Betrachtungs- und Wahrnehmungsperspektiven sowie medialen Vermittlungsgraden zu differenzieren: Zur gleichen Zeit können am gleichen Ort verschiedenste Grade an Öffentlichkeit erzeugt beziehungsweise wahrgenommen werden: Telefoniert jemand mit einem Mobiltelefon in der U-Bahn, so kann es vorkommen, dass sich dieser seiner eigenen Wahrnehmung nach in einem Rückzugsraum bewegt und einen akustischen Raum um sich herum erzeugt, den er selbst als abgeschlossen empfindet. [Abb.3: a] Für den Telefonierenden kann es sich somit um eine als privat wahrgenommene Situation handeln. Den anderen Passagieren, welchen zur selben Zeit die Durchlässigkeit des Passagenraums U-Bahn präsenter im Bewusstsein ist, kann es so erscheinen, als stelle der Telefonierende sein Privatgespräch ostentativ zur Schau. [Abb.3: b] Handelt es sich bei dem Telefongespräch wiederum um eine via Handy gesteuerte Walking Performance, wie dies bei Call Cutta der Fall ist, erhöht sich die Komplexität erneut. Bei diesem Beispiel könnte man folglich davon sprechen, dass der Theaterteilnehmer im Laufe des Gesprächs sein eigenes Telefonieren in unterschiedlichsten Graden öffentlichen Zeigens und konspirativen Verbergens wahrnimmt. [Abb.3: c] Das von außen sichtbare Verhalten variiert ebenfalls im Laufe der Aufführung von einem Einfügen in das alltägliche Stadtgeschehen und Momenten hervorgehobener Zurschaustellung. [Abb.3: d] Daraus resultiert jedoch nicht, dass die Momente der Ostentation, die der Teilnehmer selbst als solche wahrnimmt, mit denen der Außenstehenden übereinstimmen. Die Wege, die im Kontext der Teilnahme an Call Cutta eingeschlagen werden, sind größtenteils durchlässige, allgemein zugängliche Passagenräume. Der Grad an Durchlässigkeit und Abgeschlossenheit variiert daher in diesem Beispiel eher abhängig von der wahrgenommenen Distanz der räumlichen Entfernung zum Gesprächspartner im 7000 Kilometer entfernten Kalkutta. [Abb.3: e] Ein Telefonat in Passagenräumen kann somit je nach Perspektive und kontextueller Rahmung als abgeschlossen-verborgener, ostentativ-durchlässiger oder auch ostentativ-verborgener Vorgang wahrgenommen werden. All diese Einschätzungen können zur gleichen Zeit Bestand haben und schließen sich gegenseitig nicht aus.47

46 Vgl. ausführlich Kapitel 9. 47 Zur Idee gradueller Hervorbringung von Öffentlichem und Privatem vgl. auch Bareis 2007, 167.

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Abb.3:

Quelle: eigene Darstellung (Wehrle 2015)

Der vorliegenden Untersuchung von Momenten des Öffentlichen und Privaten in alltäglicher und theatraler Hervorbringung wird das hier entwickelte Modell als Definitionsreferenz und Denkraum zugrunde gelegt, ohne dabei die Einzelereignisse schematisch in dieses Diagramm einordnen zu wollen. Mit Bezug auf zeitgenössische Formen von Theater und besonders seinen hier fokussierten Ausprägungen in städtischen Passagenräumen – angesichts obenstehender Differenzierung häufig verkürzt als Theater im öffentlichen Raum bezeichnet – stellt sich, wie sich am Beispiel Call Cutta bereits andeutete, die Frage der Einordnung in das öffentlichprivate Gesellschaftsgefüge in gesteigertem Maße. Darauf aufbauend werden die folgenden exemplarischen Theaterentwürfe vor dem Hintergrund folgender Leitfragen beleuchtet: Inwieweit kann mittels Theater in Passagenräumen der performative Charakter alltäglicher Privatheits- und Öffentlichkeitskonstruktionen kenntlich gemacht werden? Mit welchen räumlichen Manifestationen sind die zeitgenössischen Formen des Öffentlichen und Privaten verbunden und welche Räume sucht und schafft das Theater? Welchem Raum wird durch wen und mit welchen Mitteln welche Funktion zugewiesen? Wo und wie lassen sich Räume jenseits reiner Zweckmäßigkeit etablieren? Welche Rolle spielen Virtualisierung und Medialisierung für theatrale und alltägliche Öffentlichkeitsentwürfe? Über welche Möglichkeiten verfügt das Theater, um auf Potenziale individueller Grenzziehung hinzuweisen und tradierte Grenzverläufe und Zuschreibungsmuster zu unterlaufen? Und wie lassen sich auf Basis eines performativen, relationalen und prozessualen Raumverständnisses und eines als Kontinuum gedachten Spannungsfeldes die Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit für heutige sozio-kulturelle Prozesse fruchtbar machen?

11 Überwachen und Kaufen: Grenzverläufe der Passagenfreiheit – LIGNAs Shopping Centre. The First International of Shopping Malls

»Herzlich Willkommen im [Namen der Shopping Malls] Sie hören Die Erste Internationale der Shopping Malls. Wir freuen uns, dass Sie der Ersten Internationale der Shopping Malls beitreten wollen. Malls in Berlin und Buenos Aires sind bereits Mitglieder – und es werden ständig mehr! Gleich beginnt das Stück. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment. Wir möchten Ihnen zuvor einige Hinweise geben. Sie befinden sich in einem privaten Raum, der von Wachleuten und Videokameras überwacht wird, um unvorhergesehene Ereignisse zu unterbinden. Deshalb ist wichtig, dass die Erste Internationale der Shopping Malls unentdeckt bleibt. Tragen Sie das Radio nicht zu auffällig. Kopfhörer hat heutzutage jeder, Radios dagegen sind eher unüblich geworden. Die Erste Internationale der Shopping Malls agiert unterhalb des Überwachungsradars der Kontrolle – und entfaltet in dem Raum, der ausschließlich dem Konsum gewidmet ist, eine eigensinnige Logik. 1

Verhalten Sie sich wie alle anderen Passanten.«

Mit dieser akustischen Aufforderung betreten fünfzig Theaterteilnehmer, die zuvor mit Kopfhörern, einem Radioempfänger sowie Zettel und Stift ausgestattet werden,

1

Skript LIGNA, 1. Es handelt sich hierbei um die verschriftlichte Form der Audiospur, die die Theaterpassanten in Zürich während der Aufführung Shopping Center hören und die der Verf. beim Schreiben vorlag. Da während der Aufführung eine vorproduzierte Audiodatei verwendet wird, stimmt der Skripttext mit dem in der Aufführung gehörten Text überein.

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zeitversetzt, einzeln oder in kleineren Gruppen ein Einkaufszentrum2 in Zürich, die Bühne von Shopping Center – The First International of Shopping Malls. Dem von LIGNA3 entworfenen Konzept folgend, verteilen sich die Theaterpassanten im gesamten Einkaufszentrum, der Migros City Zürich, mischen sich unter die übrigen Passanten und empfangen über Kopfhörer einen von LIGNA bereitgestellten Radiosender. Über diesen Kanal erhalten sie verschiedene Aufgaben, die ihre Eignung zur Aufnahme in die sogenannte ›Erste Internationale der Shopping Malls‹ feststellen sollen. Entlang des dramaturgischen Gerüsts dieser Aufgabenstellungen – die unter anderem darin bestehen, unsichtbar zu werden oder sich die Wahrnehmung anderer Passagennutzer anzueignen – entfaltet sich ein Spiel, das sowohl die Widerstände in diesem scheinbar durchlässigen, homogenen Raum als auch die Spielräume des Performativen aufsucht. Die Produktion ist Teil eines mehrjährigen städteübergreifenden Theaterprojekts mit dem Titel Ciudades Paralelas/Parallele Städte. Bei der von Stefan Kaegi und Lola Arias kuratierten Zusammenarbeit unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler entstehen zwischen 2010 und 2011 in Zürich, Berlin, Buenos Aires und Warschau »Interventionen für öffentliche Räume […], Beobachtungsstationen für Situationen.«4 Jeder Künstler beziehungsweise jedes Kollektiv wird dabei mit der Bespielung eines Raumes betraut, wodurch eine Collage zeitgenössischer performativer Zugriffe auf städtische Räume zur Aufführung kommt. Auf performativem 2

Die Bezeichnungen Shopping Mall, Shopping Center und Einkaufszentrum werden im Rahmen dieser Untersuchung synonym verwendet. Diese werden im Folgenden definiert im Sinne einer mindestens 10.000 m² umfassenden »group of retail or other commercial establishments, that is planned, developed, owned and managed as a single property« (Falk 1998, 15). Deutliche Abgrenzungsmerkmale bestehen jedoch gegenüber der historischen Form des Warenhauses wie auch gegenüber Passagen oder Fußgängerzonen. Geschichtlich gesehen löste das Warenhaus Mitte des 19. Jahrhunderts die Passagen ab, bevor es wiederum von Shopping Malls abgelöst wurde (vgl. zu Geschichte und Funktionen von Passagen, Warenhäusern und Shopping Malls: Adam 2012, Crawford 1992, 3-30, Frei 1997, Geist 1979, Gyr 2000, Hocquél 1996, Lenz 2011, Rooch 2001, Scharoun und Whitaker 2013. Zum Shopping Center in internationaler Perspektive vgl. Hahn 2007, 1534).

3

Das seit 1997 bestehende Hamburger Medien- und Performancekollektiv LIGNA setzt sich zusammen aus Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen (vgl. Feigelfeld/König 2011).

4

http://www.ciudadesparalelas.com/menu_aleman.html (Stand: 20.11.13). Neben den genannten vier Städten, in welchen das Projekt debütierte, kam die Produktion in der Folge auch in anderen Städten, wie Kopenhagen, Singapur und Delhi zur Aufführung. Die Fallbeispielanalyse bezieht sich auf die Station Shopping Centre in Zürich, die vom 23.-25. Juni und am 2. Juli 2011 stattfand.

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Wege werden dabei städtische Parallelen beziehungsweise parallele urbane Stätten aufgespürt, wobei neben Shopping Centern weitere alltägliche (Passagen-)Räume wie Bahnhöfe, Hotelketten, Bibliotheken und Fabriken in Szene gesetzt werden. Bei der Teilnahme an einer dieser Theaterrouten, die jeweils aus zwei bis drei Räumen bestehen, bewegen sich die Teilnehmer durch die parallelen Passagenräume der jeweiligen Stadt, bei deren alltäglicher Durchquerung es häufig nahezu unerheblich zu sein scheint, in welcher der vier Städte man sich gerade befindet und ob man an dem jeweiligen Ort bereits zuvor gewesen ist oder nicht. Befinden sich diese Passagenräume– und in besonderem Maße die Raumform der Shopping Mall – im Fokus vieler Diskussionen um städtische Öffentlichkeiten, Regeln und Voraussetzungen der Durchlässigkeit, Tendenzen der Homogenisierung und Machtstrukturen der Kontrolle, kann der Theatergang zu einem Ausloten dieser Spannungsfelder werden, so die Ausgangsthese folgender Ausführungen, deren Überprüfung exemplarisch am Beispiel von LIGNAs Performanceerfolgt. In enger Rückkopplung alltäglicher und theatraler Raumlogiken werden unterschiedliche Perspektiven auf das vielschichtige Öffentlichkeits-Privatheits-Gefüge entwickelt, das in der Überlagerung des Shoppingcenter-Alltags und der performativen Intervention hervorgebracht wird. Besonderes Augenmerk liegt auf dem theatralen Erproben von Steuerungsmechanismen und den Übergängen von Schauvorgängen, Beobachtung und Überwachung sowie den Grenzverläufen der Bewegungs- und Passagenfreiheit. Die situativen Konstellationen bezogen auf die Kriterien von Durchlässigkeit und Abschirmung sowie Ostentation und Verbergen werden im Folgenden entlang folgender Fragen ausgelotet: Welche räumlichen Strategien wählt das Theater, um Grenzverläufe des Öffentlichen und Privaten zu eruieren? Welche Ambivalenzen zwischen Homogenisierung und Diversität bringt das Theater in einer Shopping Mall zum Vorschein? Inwiefern gibt der spielerische Umgang mit Shopping Malls den Blick frei auf alltägliche Limitierungen und Zweckmäßigkeiten? Welche Spielräume jenseits pragmatischer Konsum- und Regulierungsmechanismen lassen sich auf theatrale Weise aufspüren? Architektonische Durchlässigkeit und Abschirmung Als erste Ablesefläche der auf theoretischer Ebene bereits benannten Ambivalenzen des Öffentlichen und Privaten bietet sich die architektonische Anordnung an: Bereits von außen bieten Shopping Malls oft ein doppeldeutiges Bild, das zugleich den Eindruck von Durchlässigkeit und Abschirmung vermittelt: Die außenarchitektonische Gestaltung heutiger Shopping Malls ist meist geprägt durch hermetische Abgeschlossenheit gegenüber der umliegenden Umgebung, »eine Container-Architektur

242 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT

mit geschlossener äußerer Hülle.«5 Zwar wird die damit erzeugte bauliche Geschlossenheit in vielen Entwürfen durch Elemente wie Glasfassaden kaschiert, worauf im Folgenden zurückzukommen sein wird, doch wird deutlich eine Trennung zwischen Stadt- und Einkaufsraum erzeugt. Befindet man sich innerhalb der Mall, wird die Außenumgebung der Stadt damit weitestgehend ausgeblendet, wodurch ein Passagenraum in Gestalt eines Mikrokosmos entsteht, durch den die Passanten und Konsumenten nicht ›hindurchgeleitet‹, sondern möglichst lange in ihm ›umhergeleitet‹ werden. »Der transitorische Charakter der Passage, der Raum des Vorübergehens und Hindurchschlenderns, um die Stadt zu durchstreifen und zu erobern, haftet der Shopping Mall […] nicht an. Er hat im Gegenteil einen inhibitorischen Charakter durch seine Form der Sackgasse in einem geschlossenen Baukörper, in den hineingesogen, durch den zirkuliert und aus dem erst wieder entlassen wird, wenn Geldbeutel und Energie erschöpft sind.«6

Diese architektonische Abkapselung befördert in vielen Fällen den Eindruck einer Binnenstadt, die Mall bildet »das Zentrum selbst, nicht die Vernetzung anderer Mittelpunkte der Stadt – wie Plätze, Kirchen und Theater.«7 Das Bild der Sackgasse ist jedoch nicht ganz zutreffend, da damit der Aspekt der Binnenraumzirkulation mit einer zu linearen Metapher belegt wird. Shopping Center sind darum bemüht, immer mehr Funktionen des städtischen Lebens zu integrieren, seien dies Unterhaltungseinrichtungen, Ärztezentren, Behörden oder Gastronomien. Auf diese Weise entwerfen sich die Stätten des Konsums zusätzlich als soziale Knotenpunkte.8 Lässt sich mit letztgenannten Kriterien ein Bogen zu den Passagen des 19. Jahrhunderts schlagen, stellt der Aspekt der Binnenzirkulation ein deutliches Abgrenzungsmerkmal dar: Wie der Name bereits anzeigt, wurden diese als Durchgänge zwischen städtischen Knotenpunkten konzipiert. So schufen Passagen »Verbindungen zwischen mindestens zwei, oftmals zwischen drei oder vier Straßen, öffneten sich nach mehreren Seiten, boten Wege zur Abkürzung, Erschließung oder leichteren Erreichbarkeit städtischer Orte, sie stellten den Kontakt zwischen Straßen und Plätzen her und bildeten den fußläufigen Zugang zu bedeutenden Gebäuden: Theatern, Opernhäusern, Kathedralen oder Regierungspalästen. Die Verbindungsfunktion der Passagen war eines ihrer wesentlichen Merkmale – deshalb hießen sie Passagen, weil sie städtische Durchgangsräume bildeten.«9 5

Dörhöfer 2007, 62.

6

Dörhöfer 2007, 71.

7

Dörhöfer 2007, 69.

8

Vgl. Wehrheim 2007a, 9.

9

Dörhöfer 2007, 56.

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Scheint dieser Unterschied zunächst gegen die Klassifizierung einer Shopping Mall als Passagenraum zu sprechen, lässt sich hingegen argumentieren, dass es sich um einen Raum handelt, bei welchem eine gezielte Binnenraumpassage erzeugt wird. Passanten sollen – im Sinne einer Mikrostadt – innerhalb der Mall den Eindruck erhalten, sich in einem Passagenraum zu befinden, und die äußere Schwelle zum umliegenden Stadtraum möglichst spät wieder überschreiten. Während dieser Zeit wird die zirkulierende Bewegung nur durch das Zirkulieren von Waren unterbrochen – sei es durch Einkauf oder andere Formen des Konsums wie Essen oder einen Kinobesuch.10 Es lassen sich folglich zwei Strategien beobachten, die beide dazu führen, die Konsumenten möglichst lange im Inneren der Shopping Mall zu halten: Abschottung nach außen, die vergessen macht, dass es einen Stadtraum außerhalb des Einkaufszentrums gibt zum einen sowie der Eindruck gläserner Durchlässigkeit zum anderen, der vermeintlich den Kontakt zur ›Außenwelt‹ wahrt, sodass man sich getrost und augenscheinlich ohne etwas zu verpassen weiter in der Mall aufhalten kann. Trotz – oder eben gerade wegen – dieser Abkapselungs- und Autonomiebestrebungen gegenüber der umliegenden Stadt orientieren sich heutige Malls in Aufbau und Optik häufig an europäischen Stadtzentren und bemühen sich darum, deren Flair künstlich zu kreieren: »Imitationen italienischer Piazze zeugen davon. Dementsprechend versuchen Betreiber öffentlichen Raum und Stadt kontrolliert zu inszenieren und Kultur und Politik als Event zu integrieren. Selbst Autohupen und dampfende Kanaldeckel werden in avancierten Malls imitiert, wo es weder Autos gibt noch Kanäle.«11 In diesem Sinne wird auch der durch die ›Kapselstruktur‹ erzeugte Kontrast und die zu überschreitende Schwelle12 von Außen- zu Innenraum mittels gläserner Fassaden und großen sich von selbst öffnenden Eingangstüren als hybrid und durchlässig gestaltet: »Drehtüren zum mitgehenden Dagegenstemmen, während man auf seine Fersen achten muß, oder durch Lichtschranken-Dynamik sich selbsttätig öffnende Türen, denen wir uns mit beschwörend vorgestreckter Hand nähern, lassen uns scheinbar ins Leere tappen. Das Herausoder Hereingehen nehmen sie uns dennoch nicht ab, sie mindern nur den körperlichen Widerstand oder lenken ihn in eine Kreisbahn, aus der wir rechtzeitig heraustreten müssen.«13

Auf diese Weise wird der Moment des Übergangs für die potenziell zahlungskräftige Kundschaft nach Kräften zum Verschwinden gebracht: »Malls müssen keinesfalls so ›abgeschlossen‹ sein, wie dies oft unterstellt wird […], [da] deren Eigentü10 Vgl. Baldauf 2003, 21-43, Miller 1999 und Steinecke 2000. 11 Wehrheim 2007a, 9. 12 Zum Begriff der Schwelle vgl. auch Kapitel 2.2. 13 Selle 1993, 43.

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mer ein durchaus eigenes Interesse daran haben, die Schwellen zum Eintritt in ihre Welt gering zu halten. Schließlich wollen sie Publikum herein ziehen und nicht abhalten.«14 Der empfundene Grenzabbau von außen nach innen wird durch eine standardisierte Grundanordnung verstärkt, die bei dem Besuch unterschiedlicher Malls in verschiedenen Städten und Ländern der Welt trotz Ortsunkenntnis ein vertrautes Raumgefühl evoziert. Dadurch ist die gesamte Aufmerksamkeit für den Vorgang des Konsumierens frei, da die Phase der Orientierung – ähnlich wie bei einem bereits bekannten Raum – weitestgehend entfällt: »Einen Raum, den wir kennen, identifizieren wir im Betreten und in der Vorstellung; wir müssen ihn nicht unbedingt noch einmal erkunden und neu aneignen. Einen unbekannten Raum hingegen müssen wir erst durch Begehen, Besehen, Betasten, Beriechen schrittweise durch Vergleich mit der Erfahrung anderer Räume zu eigen machen.«15

Der gezielt erzeugte Eindruck von Universalität und fingierter Vertrautheit lässt sich mit der Rahmenanordnung Parallele Städte zusammendenken, in deren Rahmen, wie oben erwähnt, die Aufführung LIGNAs zu erleben war. Der als Erfinder der Shopping Mall geltende Architekt Victor Gruen 16 nahm bei der Errichtung der ersten Malls in den 1940er Jahren, deren Bauform noch heute als Vorbild dient, diese Standardisierungen programmatisch vor, in welchen er »die Erlösung aus der städtischen Krise der heruntergekommenen US-amerikanischen Städte nach dem II. Weltkrieg [sieht]. Städtische Unordnung, verstopfte Straßen, verwahrloste Bausubstanz wollte er durch einen chirurgischen Eingriff retten, indem die ordentliche und heile Welt der Shopping Mall in die Innenstadt implantiert werden sollte.«17

14 Berding/Perenthaler/Selle 2007, 114. 15 Selle 1993, 58. 16 Vgl. Hardwick 2004. 17 Dörhöfer 2007, 62. Ist bei den ersten Malls eine Positionierung in städtischen Peripherien und in guter Autobahnanbindung zu vermerken, entstehen seit den 1970er Jahren vermehrt innerstädtische Shopping Center. Seit den 1990er Jahren hat sich die Anzahl dieser Form der Einkaufszentren in Deutschland in etwa vervierfacht (vgl. Dörhöfer 2007, 61 und Wehrheim 2007a, 8). Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine lineare Aufwärtsbewegung, vielmehr sind auf Ebene der Nutzung bereits auch Tendenzen des Rückgangs beziehungsweise der Suche nach neuen Formen zu vermerken, wie die Internetseite http://deadmalls.com zeigt. »Modifizierte Formen der Distribution von Waren, etwa in Form von ›shopping villages‹, deuten sich an.« (Wehrheim 2007a, 11f.)

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Der daraufhin entstehende Raumtypus besteht aus innenliegenden Straßen mit gleichmäßiger Ladenreihung, mit Ausmaßen von maximal 6 Metern Breite und 200 Metern Länge, an deren Enden sogenannte ›Magnet Stores‹ liegen. Auf diese Weise soll eine Ausnutzung der gesamten Fläche gewährleistet werden, ohne dass sich der Passantenstrom zu sehr verteilt. 18 Die Form intendierter Bewegung ließe sich folglich mit einer Art Ventil beschreiben, welches Bewegungen vorrangig in eine Richtung vorsieht. Auch ein Aufenthalt auf der Schwelle ist nicht vorgesehen und »Schwingtüren in öffentlichen Gebäuden zeigen durch ständiges Hin- und Herpendeln während der Besuchszeiten an, daß Türen Schleusen sind, keine Aufenthaltsorte.«19 Die Passanten werden durch diese Schleusen eingesaugt und sollen daraufhin in der Shopping Mall sich selbst sowie das eigene Zeitgefühl verlieren. Auch der Eindruck freier Binnenraumpassage ist Ergebnis gezielt inszenierter Illusion: Die auf außenarchitektonischer Ebene angelegte Gleichzeitigkeit von Abschirmung und durchlässiger Transparenz setzt sich in der Innenraumgestaltung fort. Dies lässt sich besonders plastisch an dem Einsatz zahlreicher Spiegel und Glasscheiben zeigen: Innerhalb der Geschichte der Konsumarchitektur weisen sie in der Funktion als Schaufensterscheibe eine bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition auf und kommen mit den Passagen und Warenhäusern im 19. Jahrhundert zu voller Blüte.20 So waren die Großstadtpassagen mit einem Glasdach überspannt, das »stets leicht und licht blieb, um den Charakter der Straße, der fließenden Durchgangsbewegung zu wahren.«21 Das Schaufenster wiederum steht für die Gleichzeitigkeit von optischer Durchlässigkeit und nutzungspragmatischer Undurchlässigkeit, es gewährt »Distanz und ein unverbindliches Betrachten der Waren.«22 Diese distanzierte Distanzlosigkeit bewirkt eine Trennung zwischen hoher Durchlässigkeit auf optischer und Abschirmung auf nutzungstechnischer Ebene. »Sichtbarkeit und körperliche Erreichbarkeit«, so auch Frers, können auf diese Weise getrennt werden, »Waren können so gezeigt werden – sie bleiben aber außerhalb der Reichweite, bis sie durch den Akt des Kaufens erreichbar gemacht werden.«23 Je nach Lichtverhältnissen kann Glas hingegen auch optische Undurchlässigkeit erzeugen, sodass dieses zum scheinbar undurchdringbaren Spiegel der Außenumgebung wird.24 Mit diesen changierenden Eigenschaften von Glas und Spie18 Vgl. Dörhöfer 2007, 62. 19 Selle 1993, 44. 20 Vgl. Friedberg 1994 und Lindemann 2011, 189-215. 21 Dörhöfer 2007, 57. 22 Dörhöfer 2007, 57. 23 Frers 2007, 46. 24 Vgl. Frers 2007, 46. Je nach Beleuchtungsverhältnissen sieht der Passant in den Fenstern der Stadt sich selbst und die umliegende Stadt oder die im Schaufenster beleuchteten Waren (vgl. Friedberg 1994). Ein Theaterprojekt, das mit dem Verhältnis von Außen und In-

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geln wird in Shopping Malls gezielt inszenatorisch gespielt, um Effekte optischer Täuschung zum Zweck der Raumerweiterung oder Verengung zu nutzen. Dabei handelt es sich um eine Strategie, die bereits die Passagen des 19. Jahrhunderts für sich zu nutzen wussten, wie Benjamin in seinem Passagenwerk beschreibt: »Den äußerlichsten nur ganz peripheren Aspekt der Zweideutigkeit der Passagen gibt ihr Reichtum an Spiegeln, der die Räume märchenhaft ausweitet und die Orientierung erschwert.«25 Neben dem von Benjamin hervorgehobenen Effekt der Zerstreuung können diese auch dem gegenteiligen Zwecke dienen und dafür eingesetzt werden, um Bewegungen und Blicke durch den Raum zu lenken und zu kanalisieren. Strategien der Lenkung, Fokussierung und Dezentrierung Architektonische Rahmungen und baulich-infrastrukturell gestützte Nutzung und Bewegungsleitung sind untrennbar miteinander verbunden und lassen sich nicht unabhängig voneinander denken. Auf diese enge Verzahnung von Architektur, Bewegung und Wahrnehmung weist auch Matthias Warstat in seinen Ausführungen zum Warenhaus hin und veranschaulicht sie mithilfe von Theatermetaphern am Beispiel der ersten Kaufhäuser Mitte der 1890er Jahre: Diese »vermittelten der bis dahin an Marktstände und kleine Kaufläden gewöhnten Kundschaft nicht zuletzt neue Raumerlebnisse. Ähnlich wie für das Avantgardetheater könnte man mit Bezug auf die Kaufhäuser von einer Art Abschaffung der Rampe sprechen: Mit der Bühnenrampe vergleichbar ist die Theke des alten Kaufladens, die die Beziehung von Käufer und Verkäufer räumlich strukturiert hatte. Im modernen Warenhaus gab es aber nicht mehr nur eine, sondern unzählig viele Theken.«26

Das hier beschriebene Aufbrechen eines linearen, fest definierten Gegenübers in eine multizentrische Anordnung führt zugleich dazu, dass Wege und Blickachsen ausdifferenziert und dezentriert werden, wie auch Benjamin am Beispiel der Spiegel zeigt: »Der Blick des Konsumenten irrt ziellos durch das Panoptikum der Waren, unfähig, in den auf ihn einstürmenden Reizen einen festen Halt zu finden.«27 Neben Unübersichtlichkeit und gezielter Überforderung wird durch die benannte Verschiebung der Raumordnung großstädtischer Konsumkultur gezielt der nen bei Schaufenstern spielt, ist die Produktion Himmel über Stuttgart der Performancegruppe Lokstoff! aus dem Jahr 2010. Dabei sitzen die Theaterbesucher selbst im Schaufenster, während die Passanten zu Zuschauern der Zuschauer werden. Zur Thematik des gerahmten Blicks und des Spiels um Innen und Außen vgl. auch Kapitel 4, 8 und 13. 25 Benjamin 1982b, 1050. 26 Warstat 2005b, 64. Vgl. zudem Fiebach 1995, 15-57 und Marx 2008, 286ff. 27 Warstat 2005b, 65.

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Eindruck hoher Durchlässigkeit sowie selbstbestimmter Bewegungs- und Passagenfreiheit befördert: Den Raumnutzern, Passanten und Konsumenten wird – wie bereits angesprochen – mit räumlichen Mitteln der Eindruck individueller Entscheidungsfreiheit, Dehierarchisierung und eines Demokratisierungszuwachses vermittelt.28 Die hier am Beispiel von Konsumarchitektur beschriebene Tendenz lässt sich kulturhistorisch in ein weitreichenderes Bestreben um 1900 einordnen, als die raumkulturellen Paradigmen der Neuzeit »auf verschiedenen kulturellen Feldern diskursiv in Frage gestellt und experimentell überwunden [wurden]. In Architektur und Kunst, Städtebau und Theater, Politik und Konsumkultur wurden neuartige Räume entworfen und gestaltet, die die alte Trennung von Akteuren und Wahrnehmenden in einem ungeteilten Raum und einer einheitlichen Erlebnisgemeinschaft aufheben sollten.«29

Die Zielsetzung einheitlicher Erlebnisgemeinschaft und multizentrischen Bewegungsraumes prägt auch und in gesteigertem Maße heutige Konzepte von Shopping Malls. Wichtig ist dabei jedoch, zwischen den Betrachtungsrahmen zu differenzieren: Wie der Blick auf die architektonischen Inszenierungsstrategien bereits zeigte, lässt sich auch auf Bewegungsebene nachzeichnen, dass die Rahmung der ›Benutzeroberfläche‹ als eine durchlässige entworfen wird, die geprägt ist von einer Vielfalt an Möglichkeiten und einem Schwellenabbau, der den Eindruck einer freien, öffentlich zugänglichen Mikrostadt etabliert. Geschaffen wird ein Raum der Zerstreuung, in doppeltem Sinne als dezentrale Bewegung und umherschweifende Wahrnehmung, sowie zugleich des Vergnügens. LIGNA greift diesen Modus auf und regt zu einem Spiel mit dezentralen Wahrnehmungsmodi zwischen beiläufigem Sehen und bewusstem Beachten auf: »Verteilen Sie Ihren Blick. Stop! Fokussieren Sie Ihren Blick. Gehen Sie weiter! Stop! Weiter! Der schockartige Wechsel zwischen dem fast gelangweilten sich Verlieren im unübersichtlichen Warenangebot und der – Stop!«30 Dahinter befindet sich jedoch eine weitere Rahmung, die zahlreiche Strategien der Lenkung und Abschirmung bereithält und deutlich macht, dass mit diesem Moment der Dezentrierung nicht automatisch eine Individualisierung oder ein Wegfall kanalisierender Kräfte einhergeht. Die Betrachtung dieser zweiten Rahmung gibt somit den Blick frei auf die zahlreichen Einflüsse, Reglementierungen und

28 Vgl. Dörhöfer 2007, 68. 29 Warstat 2005b, 63; vgl. zudem Kapitel 2.2. 30 Skript LIGNA, 6.

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Kontrollmechanismen, die größtenteils auf unterschwellige Weise auf den Passanten einwirken, diesen durch den Raum steuern und die Bewegungsströme ordnen.31 Der vordergründige Eindruck widerstandsloser Navigation und müheloser Orientierung baut auf konkreten Strategien der Bewegungsinszenierung auf: Beschilderungen und Pfeile mit der Aufschrift ›Privat‹, ›kein Zugang‹ oder ›Notausgang‹ werden durch Lichtkonzepte unterstützt. Hinzu kommt die Anordnung der Rolltreppen, welche durch versetzte Laufrichtung möglichst weite Wege durch die Kaufflächen provozieren und eine Zirkulationsbewegung befördern.32 Des Weiteren nehmen die Positionierung der Waren33 sowie der Werbeflächen Einfluss auf die Blickrichtung und die Aufmerksamkeitsfokussierung. Die Anordnung von Durchgangs- und Aufenthaltsbereichen steuert Rhythmus und Geschwindigkeit der Bewegung in verschiedenen Arealen. Hinzu treten Lenkungsmechanismen, die auf unterschiedliche Sinne abzielen und zum Verweilen, Kaufen oder Betreten eines Ladens locken: »Musik, das Rieseln und Plätschern von Wasser oder Zwitschern von Vogelstimmen verknüpfen das Gesehene mit Assoziationen. Düfte erhöhen das Begehren. So wird das Fernweh beim Passieren eines Reisebüros durch das Zirpen von Zikaden, den Geruch von Pinien und das Rauschen von Meereswellen überwältigt.«34 Auf diese Weise entsteht ein vielgestaltiger, aber dennoch systematisch organisierter Bewegungsfluss, in dem der Einzelne mittels unterschiedlich subtiler Methoden durch den Raum geführt wird und dabei dennoch den Eindruck dezentrierter, selbstbestimmter Steuerung im Sinne einer Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit erhält. Gestützt durch diese architektonischen wie habituellen Rahmungen und flankiert durch Regularien wie Hausordnungen tradieren sich dadurch Bewegungskonventionen, die selbst wiederum kanalisierend wirken. Jeder Raum ist geprägt durch Normierungen und Machtstrukturen, auf die man bei dem Übergang von einem in einen anderen Raum reagieren muss – sei es in Abgrenzung oder Anpassung an die Norm: »Egal ob an herrschende Ordnungsregeln angepasst oder nicht: in jedem Fall orientieren sich die Akteure zu der Konstellation, in die sie hinein wechseln werden. Es findet also bereits vor dem eigentlichen Orts- und Konstellations31 Zur reglementierenden Funktion von Räumen und der habitualisierenden Wirkmächtigkeit schreibt Selle: »Alles was wir in einem Raum tun, wird als Bewegungsfigur durch dessen Begrenzheit und Form mitgestaltet. […] Die Orientierung geschieht daher in mimetischen Akten des Nachvollzugs der Bewegungsvorschläge, die ein Raum macht. Die Hauptlinien des Handlungsvollzugs in vertrauten Räumen sind uns körperlich eingeschrieben, sie können gleichsam ohne Bewußtsein automatisch nachvollzogen werden.« (Selle 1993, 60.) 32 Vgl. Dörhöfer 2007, 62f sowie Sievers 2007, 230ff. 33 Vgl. Helten 2007, 247 wie auch Underhill 2004. 34 Dörhöfer 2007, 70.

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wechsel eine Einstellungsänderung statt.«35 Dieser Moment trifft auf das Verhalten in Malls in gesteigertem Maße zu, da hier der Vorgang gegenseitiger Normverstärkung inszenatorisch eingeplant wird: »Man kann konstatieren, dass nicht nur Angebote und Ausstattung, sondern auch das Verhalten der Kundschaft standardisiert werden sollen. Die Wege werden gelenkt, das Entertainment wird vorgesetzt, mittels der Räumlichkeit und ihrer Gestaltung erhalten die Konsumentinnen Signale zu Bewegung und Handeln, sie werden manipuliert. Der Blick ist eindeutiger gerichtet: auf das Konsumangebot, nicht auf die Gesellschaft der Wandelnden.«36

Diese Gerichtetheit bezieht sich beispielsweise auf das Vereinheitlichen der Schrittgeschwindigkeit und der Fortbewegungsrichtungen, die in einem gleichmäßigen Strömen ohne abrupte Unterbrechungen, Retardierungen oder Beschleunigungen bestehen. Dadurch, dass dafür gesorgt wird, dass der Bewegungsstrom nicht abreißt, aktualisiert sich dieser selbst stetig neu, wird andauernd durch die Passanten weiter tradiert, kulturell eingeübt und gehend weitergeführt. 37 Die stete Bewegungszirkulation sowie die Warenkreisläufe führen zu eingeschliffenen Routineabläufen, die kontrollierbar bleiben – solange sie nicht durchbrochen werden. Um die Raumnutzer davon zu überzeugen, diese Kreisläufe mitzutragen, werden sie mit einem gewissen Maß an Freiheiten ausgestattet, das jedoch nur soweit reicht, dass sich die Bewegungsabläufe aus de Certeaus Vogelperspektive38, hier repräsentiert durch von den Raumbetreibern installierte Überwachungskameras, noch als Muster erkennen lassen. Werden heutige Malls in den begleitenden Marketingkampagnen häufig als Räume der Muße inszeniert, bieten diese somit dem Flanieren im Sinne des 19. Jahrhunderts wenig Raum. Denn diese Bewegungsfigur war mit einer Form der Raumerschließung verbunden, die jenseits reiner Zweckmäßigkeit den eigenen Gesellschaftsstatus und die zur Verfügung stehende Zeit en passant zur Schau stellt und sich auf diese Weise durch Passagen und den durch diese verbundenen Stadtraum bewegt. Passagen dienten dabei als Räume gesellschaftlicher Selbstvergewis35 Frers 2007, 72. 36 Dörhöfer 2007, 71. 37 Darin liegt ein deutliches Abgrenzungsmerkmal zu den Passagen des 19. Jahrhunderts, wie auch Dörhöfer anführt: »Der Passagenraum diente dem distanzierten Betrachten der Auslagen, dem Hindurchwandeln und sich selbst Zeigen. Die Einrichtungen der Shopping Mall befördern hingegen die stete Zirkulation des Massenpublikums, die Bewegung durch die Mall hindurch und in die Geschäfte hinein. Die Mall ist nicht für Kontemplation und Besinnlichkeit eingerichtet, sie ist erfüllt von Rastlosigkeit, einen [sic!] nicht versiegenden Geräuschpegel, durch Eiligkeit, Gedränge und Ereignis.« (Dörhöfer 2007, 69.) 38 Vgl. de Certeau 1988, 179.

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serung und exklusiver Vergemeinschaftung, wobei Muße und Zeitvertreib ostentativ durch das Spazieren-Führen von Schildkröten zur Schau gestellt wurden:39 »Das Ambiente der Passagen korrespondierte mit dem Spektakel der eigenen Präsentation oder der Lust am Schlendern und Schauen. Man wollte sehen und gesehen werden, die Standeszugehörigkeit zur Schau tragen, flanieren und verweilen, man wollte sich unterhalten und amüsieren, kurz – die Passagen wurden zu gesellschaftlichen Treffpunkten, auch wenn Kauf und Verkauf ihre eigentliche Funktion bildeten.«40

Das Schlendern und Verweilen ist auch Ziel der zeitgenössischen Mall-Konzepte, wobei jedoch – in Wechselwirkung mit der oben beschriebenen Architektur eines Mikrokosmos – eher ein geschlossener Bewegungsstrudel denn eine durchlässige Passagenbewegung entsteht: »Statt des zielbewussten Hindurchgehens mit dem Einkaufszettel in der Hand begann die Kundschaft zu mäandrieren. Die Einkaufszeit erhöhte sich von zwanzig Minuten auf vier Stunden.«41 Konstitutiv für den Raumtypus der Shopping Mall ebenso wie des Hotels – worauf in Kapitel 13 eingegangen wird – ist, wie auch Lehnert es formuliert, »dass sie Durchgangsorte sind, sich aber den Anschein eines Ortes zum Verweilen zu geben bemühen.«42 Diese Form subtil initiierter Bewegungszirkulation in stetem Takt und hektischer Betriebsamkeit dient dem Zweck der Warenzirkulation, wobei gesellschaftliche Zwecke, die noch das Selbst- und Gesellschaftsbild des Flaneurs prägten, in den Hintergrund rücken. Es zeigt sich somit, dass die auf architektonischer Ebene angelegte Doppelwandigkeit von Durchlässigkeit und Abschirmung beziehungsweise von scheinbarer und tatsächlicher Hybridität auch auf Bewegungsebene fortgeführt wird: Folgt die Bewegungsleitung seitens der Raumbetreiber vornehmlich Regeln funktionaler Zweckmäßigkeit, soll den Raumnutzern auf Wahrnehmungsebene der Eindruck von Zerstreuung und einem Sich-In-Der-Menge-Verlieren vermittelt werden. Es handelt sich in Shopping Malls aber stets um eine konsumorientierte, inszenierte und durchchoreographierte Form der Zerstreuung und durchlässiger Freiheit. Ist eine stadtplanerische Inszenierung von Bewegung auch außerhalb von Malls immer vorhanden, so weist diese hier eine andere Qualität auf: Dadurch dass Planung, Durchführung und Kontrolle in einer Hand liegen – wovon später ausführlicher zu sprechen sein wird – findet keine ›Gewaltenteilung‹ statt, wodurch die Steuerungskraft potenziert ist. Wählt jemand ein konträres Verhaltens- und Bewegungsmuster, so wird dies schnell als Moment der Störung oder des Widerstands 39 Vgl. Benjamin 1991, 556. 40 Dörhöfer 2007, 58. 41 Dörhöfer 2007, 63; vgl. des Weiteren Lehnert 2011, 9. 42 Lehnert 2011, 154.

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aufgefasst. Dies bezieht sich auch auf die Abweichung von einem in diesem Passagentypus tradierten beziehungsweise erlaubten Verhaltens- und Gestenkanons, beispielsweise sich auf den Boden zu setzen, sich in größeren Gruppen zusammenzuschließen oder die Hand aufzuhalten, um Geld zu erbitten. LIGNA setzt an dieser Stelle mit der performativen Intervention Shopping Center ein: Die These, der im Folgenden nachgegangen wird, ist, dass hier rahmend die ambivalente Zweideutigkeit von Durchlässigkeit und Widerständigkeit von Shopping Malls herausgestellt und durch das Erzeugen von Störung und Unterbrechung in performative Mehrdeutigkeit überführt wird. In enger Anbindung an die Alltagspraktiken der Räume werden nun die theatralen Strategien untersucht, die auf das Erschaffen von Handlungsspielräumen und das Aufspüren subtiler Machtdemonstrationen an Shoppingcentern, Bahnhöfen und ähnlichen Passagenräumen abzielen. Unter dem Fokus der Durchlässigkeit und Abschirmung werden in diesem Sinne im Folgenden drei Perspektiven auf das Aufführungsereignis und die Spezifika des gewählten Passagenraums entwickelt: Die erste Perspektive fokussiert die Übergänge zwischen Vereinheitlichung und Diversität, die zweite befasst sich mit Formen temporärer Vergemeinschaftung, während sich die dritte auf Praktiken der Überwachung und Kontrolle konzentriert. Auf der Schwelle zwischen Diversität und Vereinheitlichung Sennett benennt als eines der zentralen Merkmale, die seiner Auffassung nach einen öffentlichen Platz ausweisen, »daß er Personen miteinander mischt und eine Vielfalt an Aktivitäten anzieht.«43 Liegt hier – wie oben ausgeführt – zwar ein anderer Öffentlichkeitsbegriff zugrunde, so kann der damit vorgenommene Brückenschlag zwischen Vielfalt und Öffentlichkeit auch für die Betrachtung von Shopping Malls fruchtbar gemacht werden. Denn mit dem Grad an Durchlässigkeit erhöht sich auch die Möglichkeit der Diversität. Besonders in der Weiterentwicklung der bereits erwähnten Gruen’schen Mall, unter anderem durch seinen Schüler Jon Jerde, liegt der Schwerpunkt auf einem komplexen, vielfältigen Nutzungsspektrum, wodurch sich diese bis heute zunehmend zu »Urban Entertainment Centern« mit einem umfassenden Essens-, Entspannungs- und Unterhaltungsangebot entwickelt haben.44 Shopping Malls weisen somit eine Aktivitäts- und Angebotsvielfalt im Sinne einer Eventdichte auf, die es ermöglicht, überdacht und überwacht einzukaufen, zu essen und diversen Freizeitaktivitäten nachzugehen, ohne sich dabei aber auf die Kontingenzen des Städtischen einlassen zu müssen: »Ein von Wind, Regen, Kälte oder Hitze ungestörter Konsum das ganze Jahr hindurch wurde möglich. Diese zeitliche Entgrenzung ergänzten li43 Sennett 2008 [1977], 38. Zu den Differenzierungen des Städtischen vgl. Löw 2002. 44 Rowe 1992, 81ff; vgl. zudem Dörhöfer 2007, 63f und Steiner 2003, 28ff.

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berale Ladenöffnungs- und flexibilisierte Arbeitszeiten, so dass auch des Abends oder gar nachts sowie an Sonn- und Feiertagen eingekauft beziehungsweise verkauft werden konnte.«45 Bereits die frühen Passagen dienten der Komfortsteigerung bei einem Einkauf ohne die ›städtischen Unannehmlichkeiten‹ und boten Schutz vor Witterung und Straßenverkehr.46 In Abgrenzung zum 19. Jahrhundert orientieren sich jedoch nicht nur Einkaufszentren an Stadtstrukturen, auch eine gegenläufige Bewegung ist zu beobachten, was Siebel in zynischem Tonfall zur Sprache bringt: »Sauberkeit, das Fehlen störender Personen und ein angenehmes Klima sind durchaus mehrheitsfähige Annehmlichkeiten, also werden auch die Innenstädte gesäubert, von unerwünschten Personen und Verhaltensweisen freigehalten, verkehrsberuhigt und videoüberwacht, und dass sie noch nicht überdacht sind, ist u.a. den Kosten und technischen Schwierigkeiten zu danken.«47

Mit der damit angesprochenen Kanalisierung geht in urbanen Räumen und speziell in Shopping Malls eine Form zentral gelenkter Vielfalt einher, zu deren Einhaltung den Mietern der Läden durch die Raumbetreiber »per Vertrag alles vorgeschrieben [wurde], von der Einrichtung bis zum Verkaufspreis. Die grundsätzliche Homogenität wurde durch eine scheinbare Unterschiedlichkeit maskiert. Um Langeweile und Ermüdung zwischen den Ladenzeilen zu vermeiden, wurden nicht nur Pflanzenschmuck, Wasserspiele und Skulpturen eingefügt, sondern Inszenierungen vorgenommen. ›Straßen‹ und Atrien […] erhielten thematische Schwerpunkte, teils um kleinstädtische Vertrautheit zu erwecken, teils um Ferienerinnerungen wachzurufen.«48

An der modellhaften Anlage zeigt sich, dass in Shopping Malls Vielfalt und Heterogenität aus Inszenierungen entspringen, die diese Kategorien gezielt für Konsumzwecke einsetzen. Es handelt sich somit nicht um die zu Beginn des Abschnitts zitierte Sennett’sche Idee von Vielfalt, sondern eine scheinbare Diversität bei gleichzeitiger Homogenisierung, ein gezieltes Zerstreuen innerhalb klar gesteckter Grenzen. Dadurch findet eher eine Bestätigung bestehender Muster und Differenzen als deren Aufhebung statt.49 Geht man noch einen Schritt weiter, so lässt sich sagen, dass durch diese Form planbarer Heterogenität tatsächliche Diversität verhindert wird:

45 Dörhöfer 2007, 62. 46 Vgl. Dörhöfer 2007, 56. 47 Siebel 2007, 89. 48 Dörhöfer 2007, 63. 49 Vgl. Legnaro/Birenheide 2007, 268.

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»Fremdheit verschwindet oder wird zumindest bedeutungslos, denn die Eindeutigkeit der Mall führt zu einheitlichen Definitionen derselben sozialen Situationen durch die Anwesenden. Der durch Materialität und Soziales wechselseitig konstruierte Raum Mall nimmt den Individuen die Leistung, mit Fremdheit umzugehen, ab. Er reduziert Konfliktpotential und schafft Verlässlichkeit und somit Sicherheit. Eine Sicherheit, die als Erwartungssicherheit bezeichnet werden kann, und die mehr als Schutz vor Kriminalität bedeutet.«50

Unter die Kritik der Vielfaltskontrolle und Homogenisierung fallen auch besitzgeleitete Machtansprüche innerhalb städtischer Räume, durch die der Grad an Durchlässigkeit gesteuert wird. Die damit angesprochene Thematik ist besonders im Kontext des Privatisierungsdiskurses städtischer Räume virulent. Dieser entfachte in Deutschland beispielhaft mit der Privatisierung der Deutschen Bahn, in Folge derer sich Bahnhöfe – so Friedrich Tietjen – zu »Shoppingmalls mit Gleisanschluss«51 entwickeln. Neben den ›klassischen Funktionen‹ wie Ankommen und Abreisen werden Bahnhöfe zunehmend zu Konsum- und Erlebniszentren und die ständig wechselnde Laufkundschaft wird dazu angehalten, die Wartezeiten mit Konsumieren zu verbringen. Auch in der Schweiz greift diese Verschiebung, woran sich im Rückschluss ablesen lässt, dass kein direkter Zusammenhang zwischen der Privatisierung des Unternehmens und der Kommerzialisierung des Bahnhofsraums besteht.52 Exemplarisch lässt sich dies am Hauptbahnhof Zürich zeigen, der sich ausdrücklich als Einkaufs- und Erlebnisbahnhof entwirft. So wird man im Begrüßungstext auf der Homepage in der »ShopVille-RailCity Zürich«53 willkommen geheißen. Noch vor den Informationen zu Fahrkartenkauf und Schalteröffnungszeiten wird auf der Startseite auf über 130 Geschäfte und 35 Restaurants hingewiesen, die den Reisenden einladen, hier zu »[f]lanieren, shoppen und genießen«54. Laut Zielsetzung des Marketings soll der Bahnhof nicht nur für Reisende, sondern auch für Bewohner der Stadt und des Umlands zum zentralen Einkaufsknotenpunkt werden: »ShopVille-RailCity Zürich liegt mitten im geschäftigen Zentrum der größten Schweizer Stadt. Das Einzugsgebiet umfasst den bedeutendsten und größten Wirtschaftsraum unseres Landes mit weit über einer Million Einwohnern. Reisende, Pendler, Passanten, Fernwehgeplagte und Kauflustige sorgen praktisch rund um die Uhr für eine unvergleichliche Atmo50 Wehrheim 2007b, 291; vgl. zudem Dörhöfer 2007, 71. Das Radioballett bringt hier einen Moment der Kontingenz und des Befremdens auf, worauf im weiteren Verlauf des Kapitels zurückzukommen sein wird. 51 Tietjen, Friedrich: »No Excuses!« In: republicart 10 (2004), http://www.republicart.net/ disc/aap/tietjen01_de.htm, Stand: 8.10.2014. 52 Vgl. Frahm/Hueners/Michaelsen 2009, 35ff. 53 http://www.sonntagsverkaeufe.ch/shopville-railcity-zuerich/ (Stand: 21.7.2015). 54 http://www.sonntagsverkaeufe.ch/shopville-railcity-zuerich/ (Stand: 21.7.2015).

254 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT sphäre im ganzen Bahnhof. Zahlreiche Geschäfte, Kioske, Imbissstände und Restaurants mit Boulevardbestuhlung verlocken zum Verweilen. Und der dichte Fahrplan der Bahn 2000 lässt den zahlreichen Reisenden genügend Spielraum zum Flanieren.«55

Darüber hinaus finden auch regelmäßig Veranstaltungen und Events statt, sodass, wie es in einer Werbebroschüre des Bahnhofs heißt, die »Bahnhofshalle – eine der größten überdeckten, öffentlich zugänglichen Flächen Europas – […] heute ganz dem Publikum zur Verfügung [steht].«56 In der Kritik stehen im Kontext derlei großflächig angelegter Einkaufskomplexe, seien diese innerhalb von Bahnhöfen oder andernorts angesiedelt, eine Vereinheitlichung durch Verdrängung des Einzelhandels sowie eine limitierte Zugänglichkeit.57 Neben der Vereinheitlichung des Angebots und der damit verbundenen Monopolisierung entfällt so auch der Aushandlungsprozess innerstädtischer Zonen, die dort »zwischen Eigentümern, Geschäftsinhabern, Pächtern, Bürgerinitiativen und Anwohnern«58 zu führen sind, da Shopping Malls im Regelfall einem einzigen Betreiber untergeordnet sind. Siebel beschreibt diesbezüglich eine seiner Auffassung nach unauflösbare Ambivalenz des Städtischen, die sich daraus ableitet, dass ein privatisierter, überwachter Raum ebenso zu Exklusion führen kann, wie ein Raum ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen, da dort Kriminalität und Angst zu ausgrenzenden Faktoren werden können: »Sicherheit für Leib, Leben und Eigentum ist eine Bedingung sine qua non für öffentlichen Raum. Deshalb setzt Öffentlichkeit eines Raums funktionierende Kontrollen voraus, ohne diese ist er gar nicht denkbar. Zugleich aber drohen alle Formen der Kontrolle die Anonymität, die Verhaltensoffenheit und die Zugänglichkeit des städtischen Raums einzuschränken.

55 http://www.sbb.ch/content/dam/sbb/de/pdf/bahnhof-services/am-bahnhof-2/unserebahnhoefe/railcity-zuerich/promomappe_zuerich_A4_071211_de.pdf (Stand: 8.10.2014). 56 Werbebroschüre für Aussteller: http://www.sbb.ch/content/dam/sbb/de/pdf/sbb-konzern/ sbb-als-geschaeftspartner/als-werbeplattform/promotionen/promomappe_zuerich_de.pdf (Stand: 21.7.2015). 57 Was bei dieser Kritik häufig außer Acht gelassen wird, ist, dass die Idee von Räumen, die zuvor gänzlich öffentlich waren und nun privatisiert werden, einem verklärenden, territorialen Öffentlichkeitsbild entstammen, welches keine Entsprechung in der städtischen Realität findet. Auch ist international betrachtet ein solcher Raumtypus, der sich in privatem Besitz befindet, jedoch öffentlich passierbar ist, keine Neuerung: sogenannte privately owned public spaces bestimmen seit Jahrzehnten die Stadtrealität in den USA und Japan mit (vgl. Berding/Perenthaler/Selle 2007, 95ff). 58 Siebel 2007, 90.

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Öffentlicher Raum ist durch eine unaufhebbare Ambivalenz von Sicherheit und Verunsicherung, Anonymität und sozialer Kontrolle, Vertrautem und Fremdem gekennzeichnet.«59

Augé verweist in diesem Zusammenhang auf die paradoxale Gleichzeitigkeit von Anonymität und Identifizierung in Passagenräumen wie Shopping Malls, von ihm als Nicht-Orte bezeichnet: »Der Passagier gewinnt seine Anonymität […] erst, nachdem er seine Identität bewiesen und den Vertrag gewissermaßen gegengezeichnet hat. […] In gewisser Weise wird der Benutzer von Nicht-Orten ständig dazu aufgefordert, seine Unschuld nachzuweisen. […] Bei den Kriterien der Unschuld handelt es sich natürlich um die konventionellen und offiziellen Kriterien der individuellen Identität […] Aber die Unschuld ist noch etwas anderes: Der Raum des Nicht-Ortes befreit den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen. Er ist nur noch, was er als Passagier, Kunde oder Autofahrer tut und lebt. […] Der Passagier der Nicht-Orte findet seine Identität nur an der Grenzkontrolle, der Zahlstelle oder der Kasse des Supermarktes. Als Wartender gehorcht er denselben Codes wie die anderen, nimmt dieselben Botschaften auf, reagiert auf dieselben Aufforderungen. Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.«60

Die Vielschichtigkeit hier beschriebener Prozesse zeigt die Notwendigkeit einer kulturanalytischen Perspektive, um sichtbare wie auch subtile Lenkungsmechanismen und Machtstrukturen in den Blick zu rücken. LIGNAs Produktion kann als exemplarischer Versuch verstanden werden, auf performativ-spielerische Weise Momente der Differenzierung und Zerstreuung im Sinne einer Diversifizierung innerhalb homogener Umgebungen zu schaffen. Einen ersten Hinweis bietet die Bewegung durch den Raum: LIGNA regt die Theaterpassanten per Radioübertragung dazu an, sich aus den Bewegungszirkulationen und den Steuerungsmechanismen (kurzzeitig) zu lösen und unterschiedliche Modi der Bewegung – zwischen Anpassung und Kontrastierung – zu erproben. Somit zielen auch die anfangs erwähnten Aufgaben teilweise auf das Austesten räumlicher Durchlässigkeit sowie konträrer Bewegungen und Tempi ab. Veranschaulichen lässt sich dies an folgender akustischer Anweisung, bei welcher LIGNA den Fußboden der Mall zum Sprecher macht, der die Teilnehmer zu abweichendem Bewegungsverhalten auffordert:61

59 Siebel 2007, 84. 60 Augé 2010, 103f. 61 Bruno Latour spricht im Kontext seiner Akteur-Netzwerk-Theorie von Dingen nicht im Sinne von Objekten, sondern von Akteuren und somit aktiven Partizipanten einer Situation (vgl. Latour 1996).

256 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT »Malls schreiben ihren Besuchern vor, ein einheitliches Tempo zu gehen. Und ich, der Fußboden, soll die Standardisierung der Gehgeschwindigkeit verantworten. Jeder, der ein Einkaufszentrum betritt, hat sich bereits daran gewöhnt, seine Gehgeschwindigkeit nicht selbst zu bestimmen. Freiwillig unterwirft er sich diesem Regime des Tempos. Dabei bietet sich die Glätte meiner Oberfläche für ganz unterschiedliche Arten des Gehens an. Die Erste Internationale der Shopping Malls bittet Euch: Passt Eure Schritte dem Rhythmus an. (Beat) Der Rhythmus entspricht jetzt der durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit in den Shopping Malls, die sich in der Ersten Internationale organisiert haben. […] Wir werden den Rhythmus jetzt beschleunigen. Bitte passt Eure Schritte dem Takt an. […] Spürt Ihr, wie die Anziehungskraft der Geschäfte nachlässt? Schnell wirkt sich eine Erhöhung der Gehgeschwindigkeit auch auf andere Passanten aus, die allgemeine Unruhe steigt.«62

Der daraus resultierende Fortbewegungsmodus der Teilnehmer variiert von schlendernder Gemächlichkeit bis zu hektischem Eilen, wodurch Normgrenzen zur Sichtbarkeit gebracht werden: »Der Strom der Passanten darf nicht zu langsam werden. Sonst könnte er zum Erliegen kommen. Verlangsamt Euren Schritt. Das eigentliche Ziel gerät aus dem Blick, ferne Gestade sind zum Greifen nah. Lockende Stimmen rufen. Werdet noch langsamer. Wo hört das Flanieren auf, wo beginnt das unerwünschte Verweilen?«63 Damit wird auf den oben benannten Aspekt referiert, dass sich der Grad der Zerstreuung stets an den Maßgaben der Hausordnung orientiert und es somit im Alltagsgebrauch bei der durch die Raumbetreiber angelegten Vielfalt bleibt: »Alle Macht scheint dem souveränen Konsumenten übergeben, der nur zu wählen braucht. Doch sowohl in den Kontraktualisierungen wie den impliziten Zugangsregelungen und in der Aufforderung, tatsächlich zu wählen und zu kaufen und in der Herstellung eines Settings aus Traum und Sehnsucht, wie es sich in der Formel vom ›Erlebnis‹ ubiquitär wiederholt, inkorporiert sich Macht nur eben auf eine verflüssigte Weise. Wenn denn Verflüssigung der richtige Ausdruck ist – Macht ist hier wie Äther, unsichtbar und osmotisch alles durchdringend, alles um- und einhüllend, ein Medium des Aufenthalts.«64

62 Skript LIGNA, 13. 63 Skript LIGNA, 14. Primavesi referiert auf weitere Formen widerständiger Bewegung durch Temporeduktion: »Ein Jahrhundert nach dem Flanieren kamen die ›SloMo-Demos‹ auf, die allein durch ein Gehen in slow motion das Getriebe des urbanen Lebens störten. Wer sich in Zeitlupe durch die Stadt bewegt, hält zumindest den Verkehr auf, stört die Normalgeschwindigkeit, das Prinzip der durchschnittlichen Effektivität.« (Primavesi 2007, 92.) 64 Legnaro/Birenheide 2007, 268; vgl. auch Lehnert 2011, 154f.

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Die Inszenierung entlarvt durch das Kennzeichnen dieser Grenzverläufe die Behauptung unbegrenzter Durchlässigkeit als Konstrukt. Die Zugangsgrenzen, die zwecks Imagination von Bewegungsfreiheit kaschiert werden, kommen bei einem Handeln wider die Raumlogik unmittelbar zum Tragen, womit sich zeigen lässt, dass die Durchlässigkeit nur für diejenigen gilt, die sich an die Regularien des Raumes halten. Laut Schroer breiten sich »immer mehr private Räume in der Stadt aus, die ihre eigenen Zugangs- und Verhaltensregeln aufstellen und sich das Recht einräumen, einigen Bevölkerungsgruppen – wie etwa Armen, Alkohol- und Drogenabhängigen, Obdachlosen usw. – den Zugang zu verwehren. Mit den Shopping Malls beispielsweise entstehen öffentliche Räume, die eine Alternative zum herkömmlichen öffentlichen Raum bieten sollen, weil sie Ruhe und Ordnung garantieren und damit ein ungestörtes Konsumieren ermöglichen, was in den unkontrollierten öffentlichen Räumen, die immer mehr zu ›gefährlichen Räumen‹ werden, nicht mehr ohne weiteres garantiert werden kann.«65

Verstöße gegen die Hausordnung wie Aufenthalt an unerwünschten Stellen, beispielsweise durch Sitzen auf den Treppen, werden somit gegebenenfalls mit Hausverbot geahndet. Neben eindeutigen Verboten und Restriktionen dieser Art spricht Siebel von gezielt eingesetzten und unterstützenden Strategien normalisierender Kontrolle, die aus Präferenzantizipation und Ermutigung zu bestimmtem Verhalten bestehen, durch welche ein Sicherheitsgefühl erzeugt und ungeplante Irritationsmomente vermieden werden sollen.66 In diesem Prozess der Antizipation wird jedoch der Mittelwert eines als allgemeingültig angenommenen Wunsches und somit eine Normierung vorgenommen. Dabei werden Widerstände geglättet und die individuelle Bedürfnislage einer universalisierten Vereinheitlichung untergeordnet. Zudem verfolgt diese scheinbare Form der Wunscherfüllung vorrangig die Interessen der Raumbetreiber, wie auch James J. Farrell zum Ausdruck bringt: »They need to know our dreams in order to make their dreams come true.«67 Legnaro und Birenheide beschreiben Shopping Malls in Opposition zu dem Heterotopie-Begriff Foucaults68 als Homotopien, denn die

65 Schroer 2006, 233. 66 Vgl. Siebel 2007, 90ff. 67 Farrell 2003. 68 Foucault entwirft seinen Heterotopiebegriff als »Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« (Foucault 1990, 39.)

258 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT »Freiheit, die sich in ihnen artikuliert – und es artikuliert sich hier Freiheit – ist keine Freiheit, die jenseits der Verhältnisse stünde, vielmehr ist es eine Freiheit, die diesen Verhältnissen erst zu ihrer Begrifflichkeit und ihrer dominanten Erscheinung verhilft, eine den Verhältnissen entnommene, keineswegs aber über sie hinausweisende Freiheit. […] Wie in vielen anderen Bezügen auch – etwa in ihrer inszenierten Darstellung von Urbanität – kommt die Shopping Mall […] als eine Simulation daher. Das Heterotopische ist hier in einer Form des Homotopischen aufgehoben: es geht keinesfalls um eine alternative Ordnung der Verhältnisse, sondern um die möglichst gefällige und verführerische Präsentation dessen was ist, nicht um den Entwurf gesellschaftlicher Veränderung, sondern um die Bestätigung der herrschenden Wirklichkeit.«69

LIGNA setzt an diesem Punkt ein und zielt darauf ab, die »sozialen Regeln des Raumes und seine gewöhnliche Wahrnehmung«70 zu destabilisieren und zugleich Räume für Diversifizierung zu öffnen. Die performative Form, die LIGNA zu diesem Zweck wählt, nennen sie Radioballett71. Dabei handelt es sich um »choreographische Happenings im privatisierten öffentlichen Raum, die sich bewusst in eine Grauzone des Legalen begeben, um neue kollektive Handlungsformen und die Wiederaneignung des öffentlichen Raums zu erproben. Über Radio koordiniert, treten die in Akteure verwandelten Zuschauer in Interaktion, formieren sich zu einem in der Sphäre des Alltags subversiv agierenden Schwarm, der sich in der Zweckentfremdung und Unterwanderung des jeweiligen Raumes übt.«72

Auf diese Weise werden konträre und dezentrale Handlungen ermöglicht, die sich im Zuge der Aufführung jedoch nicht als Einzelhandlungen vollziehen, sondern in Form organisiert-koordinierter Handlungen an unterschiedlichen Orten zeitgleich zur Sichtbarkeit gelangen. Die konsumorientierte, von den Mall-Betreibern initiierte Zerstreuung wird hier in eine theatrale Form ›kollektiver Zerstreuung‹ überführt.73 Diese ermöglicht es – so LIGNA-Mitglied Ole Frahm – »assoziiert, aber zerstreut zu handeln. Wir reagieren darauf, dass an diesem Ort jede Versammlung verboten ist. Andernfalls bräuchte man sehr entschlossene Leute, die dort als Mas69 Legnaro/Birenheide 2007, 264. 70 Wihstutz 2012, 251. 71 Das erste Radioballett fand im Hamburger Hauptbahnhof am 5. Mai 2002 statt. Seitdem stellt diese Form einen der zentralen Bestandteile von LIGNAs Arbeitsweise dar (vgl. http://ligna.blogspot.de/2009/12/radioballett.html, 19.11.2013 sowie Eikels 2013). 72 Wihstutz 2012, 247. 73 Zu dem damit verwandten Konzept distribuierter Ästhetik vgl. Balme 2010, 41ff sowie ders. 2014, 174-202.

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se eindringen. Aber das Radioballett funktioniert als Zerstreuung: Weil es nicht unter diesen Topos Versammlung fällt, unterläuft es die gängigen Formen politischer Auseinandersetzung.«74

Kommt man zurück auf die Beschreibung der Mall als Homotopie, so könnten die hier beschriebenen und im weiteren Verlauf genauer ausgeführten theatralen Ansätze der LIGNA-Performance und die Weiterführung der damit gesetzten performativen Impulse in der Vorstellungswelt der Teilnehmenden wiederum als Heterotopien bezeichnet werden. Denn diese bieten innerhalb der selbstbestätigenden Homotopie der Shopping Mall eine Erweiterung vorangelegter beziehungsweise vorgegebener Denk- und Handlungsrahmen, wobei deren Uneindeutigkeiten bis zum Schluss bewusst aufrechterhalten bleiben. So hören die Theaterpassanten über Kopfhörer in Anlehnung an Benjamins Passagenwerk, in welchem er als »Traumhäuser des Kollektivs: Passagen, Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfigurenkabinette, Kasinos, Bahnhöfe«75 aufzählt, die Aufforderung: »Wandelt durch das Traumhaus als sei nichts gewesen. Eure Zeit ist die des Traums. Es gibt nichts, was Euch hetzt. Niemand wartet auf Euch – und Ihr? Ihr müßt nichts mehr erwarten – Ihr könnt Euch im Müßiggang üben. Manche Wünsche erfüllen sich erst, wenn niemand mehr auf sie wartet. Die Erste Internationale der Shopping Malls propagiert deshalb die Langeweile, dieses graue, warme Tuch, das innen mit dem glühendsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns wenn wir träumen. Gähnt. Haltet euch die Hand vor den Mund. Doch wer vermöchte, mit einem Griff das Futter der Zeit nach außen zu kehren? Gähnt noch einmal. Wie läßt sich die Langeweile üben? Bleibt stehen. Schließt die Augen. Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten. Dass wir es zu wissen glauben, ist nichts als der Ausdruck unserer Zerfahrenheit. – Öffnet die Augen. Träumt weiter. Tanzt!«76

Neben dieser Ebene des Narrativs, die sich auch dem Bereich der Utopie zuordnen ließe, weist der hier beschriebene theatrale Raumzugang besonders durch seine räumlich-körperliche Umsetzung gegenläufiger Raumnutzung und das Eröffnen gedanklicher und handlungspraktischer Alternativen heterotopische Züge auf. Denn die performative Form des Radioballetts entwirft und erprobt für die Zeit des Aufführungsgeschehens im Sinne Foucaults »tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.«77 Wie durch die Formen der Interaktion bereits angedeutet wurde, 74 Vrenegor 2003. 75 Benjamin 1982a, 511. 76 Skript LIGNA, 16f. 77 Foucault 1990, 39.

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erfolgt die Repräsentation, Diskussion und Umwälzung alltagspraktischer und kultureller Praktiken und Logiken bei LIGNA unter anderem über das performative Befragen von Gemeinschaftsformen, worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll. Formen des passageren Gemeinsamen in Verhandlungsräumen der Durchlässigkeit Bertolt Brecht entwirft im Zuge seiner Radiotheorie die konkrete Utopie der Umwandlung des Radios von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat, der nicht nur sendet, sondern kollektive und dabei selbstbestimmte Formen des Austauschs ermöglicht. Damit verbunden ist der Wunsch, »den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen.«78 Aus diesem Gedanken speist sich die Idee des Radioballetts bei LIGNA. Die Radiohörenden sollen in diesem Sinne Teil eines Beziehungsgeflechts und die daraus entstehende Form von Gemeinschaft »direkt für die teilnehmenden Hörer erfahrbar [werden]. Die künstliche Trennung […] wird also in eine Umkehrung gebracht. Das Besondere dieser Projekte ist der Gedanke, dass das Hören aktiv erfolgt und in diesen Projekten verräumlicht wird.«79 Anders als bei Gemeinschaftsutopien der Theateravantgarden, welche häufig auf einen Zusammenschluss vereinzelter Individuen zu einer stabilen Gruppe abzielten, sucht dieses Projekt nach einer neuen performativen Form, die eine Assoziierung Einzelner ermöglicht und zugleich die zwischen ihnen herrschende Distanz und Zerstreuung aufrecht erhält.80 »Mit der Choreographie der kollektiven Zerstreuung gibt die Performance im Einkaufszentrum gewissermaßen dem singulär plural sein eine ästhetische Form«81. Mit dieser Denkfigur Jean-Luc Nancys, die Wihstutz hier aufgreift, wird ein Gemeinschaftsbegriff entworfen, der darauf basiert, dass man, obgleich man mit anderen lebt und interagiert, sich dennoch immer in Abständigkeit zu diesen befindet, in einer geteilten »Alterität des Seins«82. Als Konsequenz daraus entwirft Nancy eine Idee von Gemeinschaft, die »weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion [ist], sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raumes der Erfahrung des Draußen, des Außer-SichSein.«83 Wihstutz schlägt eine Brücke zwischen dem Radioballett LIGNAs und dem 78 Brecht 1967a, 129; vgl. zudem Bachmann 2013, 19-36, Vormweg 1983, 13-26, Wihstutz 2012, 247 sowie LIGNA 2005, 336ff. 79 Westphal 2011; vgl. zudem Primavesi 2011, 9 und Eikels 2007, 101-124. 80 Vgl. hierzu Kap. 2.2 sowie 6. 81 Wihstutz 2012, 259. 82 Nancy 2004, 34. 83 Nancy 1988, 45.

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Gemeinschaftsentwurf Nancys, der nicht auf die Suche nach einer abstrakten Form ›ursprünglicher‹ Gemeinschaft abzielt, die es wiederzufinden gilt, sondern sich durch eine »Anerkennung des Gemeinsamen ohne Gemeinschaft«84 ausweist. In Anwendung dieser Idee wird – in Bezug auf die Frage nach Durchlässigkeit und Abschirmung – eine performative Form durchlässiger, hybrider Gemeinschaft erprobt, die sich durch ihre schwer eingrenzbare Formierung und Versammlungsstrategie den Mechanismen exklusiver Abschirmung entzieht, beziehungsweise mit diesen spielt. Theater vermag auf diese Weise raumregulierende Maßnahmen zu unterwandern und zugleich in der Verbindung aus Spiel und konkreter, leiblichräumlicher Erfahrung neue Formen des passageren Gemeinsamen vorzuschlagen. Im Beispiel Shopping Center wird dieser Zusammenschluss symbolisch über das Eintreten in den ›Geheimbund‹ der »Ersten Internationalen der Shopping Malls« manifestiert, dessen ›Aufnahmeprozedere‹ einem Initiationsritus ähnelt, der durch einen performativen Sprechakt bekräftigt wird:85 »Ihrer Aufnahme in die Erste Internationale der Shopping Malls steht nichts im Wege. Doch eine persönliche Frage möchte ich Ihnen stellen. Die Waren sind mir gerade schon ein klein wenig zuvorgekommen. Aber darf ich Ihnen im Namen aller Dinge das Du anbieten? Ja? Ich höre Sie schlecht. Sie müssen lauter sprechen. Bitte antworten Sie mir deutlich mit Ja. Das war noch sehr verzagt. Bitte sagen Sie ein drittes Mal: Ja! Vielen Dank! Das freut uns! Willkommen in der Ersten Internationale der Shopping Malls. Es gibt keine Verpflichtungen, nur das Vergnügen der Zerstreuung.«86

Die Kommunikation unter den Teilnehmenden dieses temporären, zerstreuten Kollektivs erfolgt mittels eines ostentativen Geheimnisses87, dessen Schnittstelle das gemeinsame Radiohören ist. Es findet folglich – wieder im Spannungsgefüge des Öffentlichkeitsschemas gedacht – eine Rückzugsbewegung statt, die aber demonstrativ zur Schau gestellt wird. Die auf diese Weise bezogenen Informationen und Aufforderungen ermöglichen eine wortlose Verständigung und einen gemeinsamen Zeichencode – etwa ein Gähnen als Erkennungsmerkmal – der für Außenstehende nicht entschlüsselbar und dessen Impulsgeber nicht direkt auszumachen ist: »Wie ist den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen? Der erste Schritt ist, sich einander zu erkennen geben. Aber nicht zu auffällig. Der Raum wird immer noch von Kräften kontrolliert, die die alte Ordnung der Dinge aufrechterhalten wollen! Gebt Euch ein geheimes Zeichen. Gähnt, wenn Ihr einem anderen Internati84 Wihstutz 2012, 262. Vgl. auch Bauman 2008, 131ff. 85 Vgl. Wihstutz 2012, 250. 86 Skript LIGNA, 9. 87 Vgl. Kapitel 9 und 11 sowie Hosokawa 1987 und Kolesch 2009.

262 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT onalisten begegnet. Verratet Euch nicht. Gähnt zurück, wenn Euch jemand mit einem Gähnen begegnet. Beschränkt das Zeichen nicht auf die menschlichen Mitverschwörer. Gähnt auch den anderen Mitgliedern der Ersten Internationale der Shopping Malls zu! Der Decke! Dem Boden. Dem Schaufenster. Dem Licht.«88

So beginnen Menschen auf allen Stockwerken koordinierte Handlungen zu vollziehen und sich zu temporären Versammlungen zusammenzuschließen oder sich über gleichzeitige Handlungen an unterschiedlichen Stellen des Raumes zu assoziieren: »Die Distanz zwischen den Menschen in der Passage ist unmerklich geregelt. Sie schlendern allein oder in kleinen Gruppen dahin. Dabei ist die Passage ein idealer Ort für den Zusammenschluss von Menschen. […] Nähert euch einander an. Warum nimmt niemand die Einladung des Raumes an und versammelt sich hier? Ist der Raum zu leicht zu kontrollieren? Geht gemeinsam weiter. Es gibt das große Bedürfnis, gemeinsam in besonderer Atmosphäre Waren zu schauen. Oder auch nur den Raum zu durchqueren. Voraussetzung dafür ist die Einhaltung einer gewissen Distanz. Die Erste Internationale der Shopping Malls fordert Euch auf: Überschreitet diese Distanz! […] Seht ihr weitere Internationalisten? Dann geht mit ihnen für ein paar Schritte zusammen. Kontrolle beginnt damit, die Menschen zu vereinzeln. Kommt euch noch näher! Bildet für kurze Zeit eine Bande. Bleibt nicht allein. Bleibt in Bewegung. Bleibt unberechenbar. […] Wann verwandelt sich die Zerstreuung in eine Versammlung? Zerstreut euch wieder, bevor Ihr greifbar werdet. Wann wird eure kollektive Bewegung zu einer Manifestation? Nähert euch einander – bildet noch einmal eine temporäre Zusammenkunft. Bewegt Euch wie ein Schwarm durch die Gänge der Mall. Nähert euch dem unsichtbaren Zentrum zwischen euch.«89

Die temporären Zusammenschlüsse, die die Verwandlung von einem Passagenraum für und von Einzelpersonen90 zu einem zeitweiligen Versammlungsraum bewirken, lösen sich jedoch ebenso unübersichtlich wieder auf, wie sie entstanden sind. Dieser schwarmartige Zusammenschluss ohne von außen erkennbare Quelle weist starke

88 Skript LIGNA, 9. Wie sich in diesem Ausschnitt zeigt, werden bei LIGNA nicht nur Menschen, sondern auch Raumelemente und Gegenstände zu ›Gesprächspartnern‹ und ›Verbündeten‹. Diese werden personalisiert und zu Radiosprechern gemacht. Sei es das Dach oder der Boden, die Glasscheibe oder die Warenauslage – sie bekommen eine Stimme verliehen und ›reflektieren‹ ihre Position in dem Gefüge der Mall. 89 Skript LIGNA, 11f. 90 Vgl. zur Thematik der Vereinzelung und Einsamkeit in Passagenräumen wie Shopping Malls Lehnert 2011, 151-172.

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Parallelen zu der Kulturpraxis des Flashmob91 auf, nach der Definition Katrin Bauers zu umschreiben als »scheinbar spontan entstehende Menschenversammlungen in der Öffentlichkeit. Über Internet-Foren, Weblogs, Newsgroups, per E-Mail oder Handy werden die Teilnehmer, die sich in der Regel persönlich nicht kennen, über Ort und Zeit des stattfindenden Flashmobs informiert. Per Schneeballsystem kann so innerhalb kürzester Zeit eine große Anzahl von Leuten erreicht werden. Vor Ort oder auch bereits vorab im Forum bekommen sie dann möglichst unauffällig in Schriftform weitere Instruktionen über den genauen Ablauf. […] Der Flashmob bildet sich scheinbar zufällig und blitzartig (= flash) und endet genauso schnell und unvermittelt. Vor, während und auch nach der Aktion soll keine Kommunikation, weder zwischen den Teilnehmern noch mit Passanten stattfinden.«92

In der Grundanlage ähnlich weichen Form und Wirkungsstrategien bei LIGNA jedoch maßgeblich von denen des Flashmobs ab: Im Vergleich zu dem blitzartigen Auftreten des Flashs ist bei Shopping Center eine dramaturgische Steigerung angelegt, die sich in einem schleichenden Prozess von einem auf Unsichtbarkeit angelegten Agieren bis hin zu einem ostentativ sichtbaren In-Erscheinung-Treten entwickelt. Wihstutz spricht in diesem Zusammenhang von einer Entwicklung von einem unsichtbaren zu einem sichtbaren Theater.93 Diese vollzieht sich dreistufig von einem impliziten, unauffälligen, geheimen Integrieren in die Abläufe, bei dem über Zeichen aus dem alltäglichen Gestenrepertoire kommuniziert wird, über das ZurSchau-Stellen eines Geheimnisses bis hin zum Vollzug offen zur Schau gestellter performativer Akte, die sich deutlich von den Handlungen der Umstehenden abheben.94 91 Die für Flashmobs gewählten Räume sind häufig Passagenräume wie Einkaufszentren, was sich beispielhaft an dem ersten unter dieser Bezeichnung bekannt gewordenen Flashmob love rug aus dem Jahr 2003 zeigen lässt, der in dem New Yorker Kaufhaus Macy’s stattfand (vgl. Bauer 2010, 83). Auch hierbei handelt es sich um Versuche, zeitgemäße Formen subversiver Versammlungen zu initiieren und dies an Orten, die beispielsweise aufgrund wirtschaftlicher Interessen undurchlässig sind. Jedoch unterscheiden sich Flashmobs von Radioballetten nicht zuletzt maßgeblich hinsichtlich der Wirkabsicht, da die Beteiligten »sich selbst nicht als Künstler und […] auch ihre Aktionen in keinem künstlerischen Kontext« (Bauer 2010, 83) sehen. 92 Bauer 2010, 82. 93 Vgl. zum Unsichtbaren Theater sowie zu den weiteren Strömungen, auf die LIGNA implizit und explizit verweist – wie die Situationistische Internationale, auf die bereits der Titel der Produktion Bezug nimmt – Kapitel 2.2 (vgl. zudem Debord 1995a und b sowie Wihstutz 2012, 255ff). 94

Vgl. Wihstutz 2012, 253f.

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Dieser Aufbau, der im Folgenden nachgezeichnet werden soll, weist nach obiger Definition eine graduelle Entwicklung von einem privat-zurückgezogenen bis hin zu einem ostentativ-öffentlichen Verhalten der Theaterteilnehmenden auf und ist in steter Rückkopplung mit alltäglichen Inszenierungsstrategien zu sehen: »Was immer Sie tun, sie sind Teil einer Inszenierung, die hier tagein tagaus gegeben wird. Wenn Sie jetzt das linke Bein vor das rechte stellen, so dass die Beine über Kreuz sind, wiederholen Sie eine Bewegung, die hier immer wieder ausgeführt wird. In der Passage steht stets dasselbe Theaterstück auf dem Spielplan – nur mit jeweils anderen Akteuren. Nehmen Sie nun das rechte Bein vor das linke. Kratzen Sie sich mit der rechten Hand am Ohr (einem Einwand zuvorkommend). Das ist kein Geheimzeichen, sondern eine ganz alltägliche Bewegung. Die Kapitaldramaturgie hat sich in den Passagen ihr Kammertheater geschaffen, in dem alle die Hauptrolle spielen. Streichen Sie sich mit derselben Hand durch die Haare. Jede Geste wirkt, als sei sie lange vorher einstudiert. Alles ist auf Sichtbarkeit angelegt, die Räume, die Waren, die Menschen.«95

Die omnipräsente Sichtbarkeit, auf die die Theaterpassanten durch diese Einspielung bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Aufführung explizit aufmerksam gemacht werden, bietet die Ausgangsbasis für ein mehrschichtiges Spiel um Beobachten und Beobachtet-Werden, (Un-)Sichtbarkeit und das Ausloten der den Raum durchziehenden Kontrollmechanismen und Kräfteverhältnisse. Strategien der Kontrolle und Subversion zwischen Ostentation und Verbergen Die flächendeckend installierte Kameraüberwachung stellt einen zentralen Bestandteil des Beobachtungsapparats in Shopping Centern und ähnlichen städtischen Räumen dar. Diese Form der Raumnormierung steht paradigmatisch für die Doppelbödigkeit von Malls hinsichtlich ihrer Durchlässigkeit: Ermöglichen diese den durchlässigen Zugang in einen (nach Besitz) privatisierten Bereich ohne sichtbare Eingangskontrolle, so wird dennoch bereits bei Eintritt in das Gebäude per Kamera das Einhalten von Zugangs- und Verhaltensregeln kontrolliert und »die Menschen müssen bestimmte Kriterien erfüllen, damit sie legitimerweise die betrachteten Orte betreten dürfen.«96 Pablo de Marinis verortet in den 1990er Jahren einen deutlichen 95 Skript LIGNA, 3. 96 Frers 2007, 105. Frers führt dies exemplarisch am Beispiel der Hausordnung der Deutschen Bahn aus, nach welcher u.a. folgende Handlungen nicht gestattet sind: Fahrrad-, Inliner-, Skateboardfahren, Ballspielen, Sitzen auf Treppen, Zugängen und dem Boden, Betteln, Vögelfüttern, lautes Abspielen von Musik, Durchsuchen von Abfallbehältern; nur nach Absprache ist das Verteilen von Flugblättern, das Verkaufen von Waren, Auf-

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Wandel der »Machtintervention im urbanen Raum«97, wodurch Kontrolle und Überwachung eine neue politische und alltagspraktische Dynamik erlangen, wie auch Siebel anmerkt: »Sicherheits- und Ordnungsgesetze wurden novelliert, um den Zugang und die Nutzung öffentlicher Räume über den Einsatz von Videoüberwachung, verdachtsunabhängige Personenkontrollen, Platzverweise und Aufenthaltsgebote genauer reglementieren zu können.«98 Im Jahr 2005 formuliert Wolfgang Sofsky eine Zukunftsvision hinsichtlich der Weiterentwicklung der in Passagenräumen wie Shopping Malls angelegten Tendenzen: »Jedes Subjekt besitzt eine biometrische Sicherheitskarte, die ein Foto des Eigentümers, Fingerabdrücke, Iris-Erkennung, Gesundheitsdaten und Identitätsnummer enthält. Funktürme, Drohnen und Satelliten können über Radar diese intelligente Karte dazu veranlassen, ein Signal an den Sender zurückzusenden. […] So kann jederzeit festgestellt werden, wo sich ein Individuum gerade befindet. Niemand kann mehr ohne diese Karte einen Flughafen, einen Bahnhof, eine U-Bahn oder ein Einkaufszentrum betreten. […] Der Kampf um Sicherheit schlägt um in soziale Verfolgung.«99

Sind auch (noch) nicht all diese Gedanken in alltäglichen Abläufen angekommen, so haben die hier formulierten Ideen dennoch bereits ein paar Jahre später durch lautlose und unsichtbare Formen der Überwachung, Ausweise mit digitalen Fingerabdrücken, biometrische Passbilder, Smartphones mit Gesichtserkennungsfunktion und die Möglichkeit der Handyortung große Teile ihres futuristischen Potenzials eingebüßt. Deutlich wird hier der maßgebliche Einfluss zunehmender Medialisierung, mittels derer »Überwachung und Kontrolle technisiert, automatisiert, vernetzt und effektiviert«100 werden. Anstelle groß angelegter, demonstrativer Grenzziehung wird so die Ausübung subtiler Widerständigkeit ermöglicht, bei der mit »unauffäl-

tritte, Veranstaltungen und Demonstrationen, Aufnahmen und Befragungen gestattet (vgl. Frers 2007, 105f). Ähnliche Exklusionsmechanismen beziehungsweise Regularien gelten auch für Shopping Malls. Ein Blick auf den Beginn der Geschichte der Warenhauskultur zeigt, dass es zu dieser Zeit nur gestattet war, diese zu betreten, wenn man etwas kaufte. Auf diese Weise gab es eine sichtbare Grenze, die durch Abschirmung den Grad an Öffentlichkeit – hier im Sinne von Durchlässigkeit – zielgerichtet steuerte. Im späten 19. Jahrhundert wurde diese Vorschrift abgeschafft, was durch Schilder mit der Aufschrift »Kein Kaufzwang« kenntlich gemacht wurde (vgl. Faulstich 2004, 154). 97

Dabei handelt es sich um den Untertitel zu Marinis 2000.

98

Siebel 2007, 82f.

99

Sofsky 2005, 159.

100 Helten 2007, 250.

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ligen aber wirksamen Inszenierungen von Macht«101 gearbeitet wird: »Während die klassischen Orte der Macht diese in Zitadellenhaftigkeit vorführen und Kontrolle und ritualisiert-routinisierte Identitätsfeststellung inszenieren, um die Grenzen zu setzen, sind in Malls die Grenzen nicht (oder kaum) sichtbar, vielmehr regiert der freie Übergang.«102 Laut Torsten Michaelsen, Mitglied des Performancekollektivs LIGNA, ist das Mäandern durch das Shopping Center maßgeblich durch die Frage getragen, ob eine unbemerkte, nicht durch Kameras erfasste Passage beziehungsweise Handlung überhaupt möglich ist. Der Theaterpassant bei Shopping Center soll sich in einer Doppelbewegung des eigenen Beobachtet-Werdens durch Kameras und andere Passanten in Shopping Malls bewusst werden, zugleich aber selbst eine beobachtende Instanz sein – ein Beobachter des Beobachtens. Dabei wird die Suche nach Nischen abseits überwachter Gebiete, nach Nischen des Verbergens, zum performativen Spielantrieb:103 » [E]s gibt im Bahnhof relativ wenig Verbotsschilder, die Verbote wirken viel subtiler. Deshalb bezeichnen wir das Radioballett auch als Übungen. In Hamburg haben wir sie ›Übungen im unnötigen Aufenthalt‹ genannt und in Leipzig ›Übungen im nichtbestimmungsmäßigen Verweilen‹ – dies sind Begriffe aus der jeweiligen Hausordnung. Es war unsere Hoffnung, dass die Teilnehmenden des Radioballetts merken, dass es andere Gesten gibt, als die, die sie alltäglich im Bahnhof wahrnehmen oder selbst ausführen.«104

Die Teilnehmer sollen nun versuchen, selbst so weit wie möglich unter dem Radar der Überwachungskameras zu bleiben, sich somit subtiler Kontroll- und Machtmechanismen temporär zu entziehen und Möglichkeiten privaten Verbergens in Überwachungsräumen zu erproben: »Alles sieht Sie an, alle sehen Sie an. Gibt es wirklich keinen Winkel, in dem Sie unsichtbar werden können? Suchen Sie einen Ort, an dem Sie niemand entdecken kann! Keine Kamera! Kein Wachmann! Kein Ladenbesitzer! Werden Sie unauffindbar. Vielleicht gibt es kein perfektes Versteck, aber sicher findet sich eines, an dem Sie sich den meisten Blicken entziehen können.«105

Dies gilt besonders für die erste Phase der Unsichtbarkeit. Wichtig ist zu differenzieren, dass hier Unsichtbarkeit nicht gleichbedeutend mit Anpassung zu verstehen 101 Helten 2007, 246. 102 Legnaro/Birenheide 2007, 268. 103 Vgl. zu Interventionen gegenüber alltäglichen Kontrollmechanismen Arzt 2009. 104 Vrenegor 2003. 105 Skript LIGNA, 4f.

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ist, sondern diese vielmehr als subversives Element des Verbergens genutzt wird: Noch bevor die Theaterteilnehmer das Einkaufszentrum betreten, tritt LIGNA mit dem Inszenierungsentwurf gegen die hier beschriebenen Kontrollpraktiken an, da ihre Radioballette häufig nicht offiziell angemeldet werden, der Radiosender als sogenannter ›Piratensender‹ ausgestrahlt und das Versammlungsverbot in privatisierten Räumen unterwandert wird.106 Die erste Phase der Aufführung besteht aus zurückgezogenen, verhaltenen Beobachtungsvorgängen, die jedoch – wie erwähnt – nicht auf völlige Assimilierung an die umgebenden Abläufe und Normierungen abzielen. Vielmehr wird zunächst ein inneres, auf der Wahrnehmungs- und Gedankenebene angesiedeltes, nonkonformes Verhalten avisiert, das durch die Beobachtung alltäglicher Muster, Abläufe und Inszenierungsstrukturen eingeleitet wird. Dabei rücken die eigenen Bewegungs- und Verhaltensmuster ebenso in den Fokus wie die der Mitpassanten: »Beobachten Sie nun in mir [der Glasscheibe] die Passanten, die hinter ihnen lang gehen. Ich möchte Sie bitten, einen von ihnen zu verfolgen. Passen Sie einen guten Moment ab – und folgen Sie der Person im gebührenden Abstand. Wo mag er wohl herkommen? Welches ist seine Nationalität? Seine soziale Herkunft? Sein Charakter? Manche meinen, Sie könnten dies an der Kleidung, am Körperbau oder Mienenspiel ablesen. Aber ist das wichtig? Ich meine, es wäre interessanter die Bewegungen zu studieren. Wie setzt der Mensch seine Füße auf? – Wie schnell durchquert er die Passage? Hat er ein bestimmtes Ziel oder schlendert er nur herum? Ein Stolpern, ein Stottern verraten das Denken eines Menschen.«107

Die räumliche Anordnung schafft dabei keine abständigen Betrachterpositionen, sondern lässt die Radiopassanten Teil des Stromes werden. Auf der Ebene der Wahrnehmung wird jedoch ein Distanzierungs- und Verfremdungseffekt veranlasst, wodurch ein körperlich involvierter und gedanklich abständiger Beobachter erwächst.108 Die körperliche Involviertheit lässt sich daran verdeutlichen, dass bei der hier vorgenommenen zwischenmenschlichen Beobachtung – in Kontrast zu der technisierten Form der Überwachung – der Schwerpunkt auf einer spielerischen, mimetischen Übernahme fremder Gestik und Bewegungsweisen liegt: »Werden Sie ihr lebendes Spiegelbild. Wiederholen Sie eine typische Geste der Person mehrmals. Üben Sie ihre Gesten ein. Werden Sie ganz die andere Person.«109 Diese Aufforderung lässt sich auch als ein Verweis zur Thematik von Öffentlichkeit und Anonymität lesen. Das Einüben eines bestimmten Habitus ist eine zentrale Funktion städtischer – und in einem bürgerlichen Begriffsverständnis öffentli106 Vgl. Wihstutz 2012, 251. 107 Skript LIGNA, 3f. 108 Vgl. hierzu das vierte Kapitel über das Gefängnis in Foucault 2007 [1975]. 109 Skript LIGNA, 4.

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cher – Räume. Durch die Nachahmung einzelner Mitpassanten und die damit körperlich sichtbar gemachte Form der Identifizierung wird die Anonymität, die das Bewegen in der Menge zu bieten scheint, durchbrochen. Auf diese Weise werden die Handlungen der anderen gewissermaßen durch die eigene Wiederholung gerahmt und somit sichtbar, man selbst passt sich aber zugleich deren Habitus an und büßt damit Teile eigener Identität und Bewegungsgewohnheiten ein. Auf theatralem Wege wird hier körperlich ausagiert, was in Passagenräumen gängige Praxis ist: »Die Omnipräsenz von Überwachungsapparaturen und ihre allein juristisch einschränkbare Verfügbarkeit durchbrechen die Anonymität der Nutzer des öffentlichen Raums.«110 War die Gleichzeitigkeit von Sichtbarkeit und Anonymität Teil des Entwurfes bürgerlicher Öffentlichkeit als Spielraum eigener Identitätsentwürfe,111 so ist dieser Zusammenhang durch heutige Praktiken wie Gesichtserkennung nicht mehr gewahrt. Im Spiel um Zeigen und Verbergen ist es per theatraler Rahmung möglich, sowohl die Zusammenhänge von Sichtbarkeit und Anonymität aufzuzeigen als auch kurzzeitige Methoden der Anonymisierung zu entwerfen. Neben der Beobachtung anderer Passanten wird der Blick auch gezielt auf Mechanismen und Logiken des Raumes selbst gelenkt: So erfolgen beispielsweise einige der gesprochenen Repliken aus der Perspektive der Dinge und architektonischen Bestandteile, wie dem Chor der Waren: »Die Zuschauer wurden von den sprechenden Dingen dazu aufgefordert, sich als teilnehmende Beobachter auf den unterschiedlichen Etagen zu verteilen und das Treiben des Einkaufszentrums in Augenschein zu nehmen.«112 Dadurch entsteht eine scheinbare dialogische Auseinandersetzung zwischen Menschen und Objekten, wobei die Theaterteilnehmer den passiven Gesprächspart innehaben und beobachtend dem Warenchor lauschen: »Wenn Du arbeitest, erzeugst du einen Mehrwert. Zur Belohnung, dass Du vergißt, wie Du so den Reichtum der Welt mitproduzierst, kannst Du Dir Dinge wie mich kaufen. Aber ich bin kein Ding! Ich bin ein gesellschaftliches Verhältnis – wie Du.«113 In direkter Ansprache wird somit auf die Position des Einzelnen innerhalb der Warenkreisläufe und auf kommerzielle Logiken des Glücksversprechens verwiesen: »Kommen Sie näher. Betreten Sie ein Geschäft. Überschreiten Sie die Schwelle! Zögern Sie nicht! Geben Sie nach: Ihrem ersten Impuls. Greifen Sie zu: Nach einer Ware. Welche wollen Sie nehmen? ›Ich bin die Schönste!‹ ›Nein, ich bin die Schönste, kauf mich!‹ ›Ich bin billiger, hol mich zu dir nach Hause.‹ ›Wenn du mich nimmst, wirst du ewig glücklich sein.‹ Ent-

110 Siebel 2007, 83. 111 Vgl. Marx 2008. 112 Wihstutz 2012, 249. 113 Skript LIGNA, 8.

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scheiden Sie sich. Greifen Sie zu! Nehmen Sie eine Ware. ›In mir wirst Du Dein wahres Ich finden.‹«114

Nicht nur Güter, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse werden hierbei potenziell unter den Verdacht gestellt, Teil des Warenkreislaufs zu sein. Aus dieser Perspektive wird beispielsweise auch »Sicherheit […] zu einer von privaten Sicherheitsfirmen produzierten Ware«115, ebenso wie Glück, Freiheit, ein bestimmter Lebensstil und Ideen.116 Die Performer in LIGNAs Arrangement befinden sich in einer ambivalenten Situation, da sie zum einen diesem Warenkreislauf angehören – nicht zuletzt bekräftigt durch den Kauf einer Theaterkarte als Berechtigung zur Teilnahme – zum anderen aber durch die theatrale Rahmung eine abständig beobachtende, reflektierende Haltung einnehmen. In Rückbindung an die Frage nach Durchlässigkeit werden auf theatralem Wege kurzzeitig geschlossene Warenkreisläufe perforiert und durchlässig gemacht, ohne dabei den Betrachtenden die Möglichkeit zu bieten, sich gänzlich über diese Mechanismen zu erheben. Nachdem die Phase der Beobachtung und Nachahmung abgeschlossen ist, werden die Teilnehmenden nach und nach dazu aufgefordert, sich auch auf Handlungsebene konträr zu dem Beobachteten und den im Alltag vollzogenen Mustern wie auch den Vorgaben der Hausordnung zu verhalten. Damit ist die zweite Phase erreicht, die sich als Schwelle zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Verbergen und Ostentation bezeichnen lässt. Die Grenzen alltäglicher Abläufe und Regeln sollen dabei möglichst nur so weit überschritten werden, dass ein Raumverweis vermieden wird. Neben den oben bereits beschriebenen Kontaktaufnahmen über geheime Zeichen und gemeinsam vollführte Gesten, umfasst diese zweite Phase somit auch subversiv gerahmte Handlungsanweisungen. Am markantesten ist hierbei die heimliche Weitergabe sogenannter Kassiber an einen der anderen Theaterteilnehmer. Dabei handelt es sich etymologisch um einen heimlich verfassten, »aus dem Gefängnis geschmuggelte[n] Brief«117. Die Theaterpassanten werden nun 114 Skript LIGNA, 7. 115 Siebel 2007, 83. Der hierbei zum Ausdruck gebrachte kapitalismuskritische Ansatz findet neben dem Verweis auf die Situationisten ebenfalls Niederschlag in dem Titel des Projekts, genauer im Untertitel: The First International of Shopping Malls, der einen Querverweis zur Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), auch Erste Internationale genannt, vornimmt (vgl. Cordillot 2010 und Dlubek 1964). 116 Zur Idee der Imaginationen im Kontext von Warenzirkulationen sowie zur Zirkulation sozialer Energien vgl. Appadurai 1986, Greenblatt 1988, Marx 2008, 33ff. 117 Laut Kluge ist ein Kassiber ein »›aus dem Gefängnis geschmuggelter Brief‹ […]. Im Rotwelschen bezeugt seit dem 19. Jh.; etwas früher das Grundwort kaseremen ›schreiben‹, das heute nicht mehr üblich ist. Die hebräische Wurzel ist zwar klar, doch ist die genaue Grundform strittig« (Kluge, Friedrich: »Kassiber.« In: ders: Etymologisches

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wie Gefangene der Shopping Mall dazu aufgefordert, sich diese Botschaften gegenseitig zuzustecken, auf denen sie zuvor geheime Wünsche und Utopien für den umgebenden Raum festgehalten haben. Die motivische Anlehnung an den Raumtypus Gefängnis bildet im Kontext von Durchlässigkeit und Kontrolle eine spannungsreiche Referenz. Dieser Isolationsraum gilt als Inbegriff hermetischer Abgeschlossenheit, dessen Durchlässigkeit auf Ebene der Bewegung minimal, auf Ebene der Beobachtung und Kontrolle – in einseitiger Überwachung von außen nach innen – maximal gegeben ist.118 Ist das Gefängnis als ein Raum absoluter Zurückgezogenheit – ohne jedoch Rückzugsräume zu gewähren – prinzipiell als Gegenentwurf zu Passagenräumen zu bezeichnen, ergeben sich bei Shopping Malls dennoch spannende Parallelen: Denn auch dies ist ein Raum zentral gesteuerter Kontrolle, was ihm Züge einer »totalisierenden Institution«119 verleiht. Daraus leitet sich die Überlegung ab, wie hier das Verhältnis von aufoktroyierter Machtausübung und Freiwilligkeit gelagert ist. So wirft auch LIGNA in den Radiotexten von Shopping Center die Frage auf, wer in diesem durchlässig und zugleich undurchlässigen Raum von wem gefangen gehalten wird. Versetzt die subversive Form der Kommunikation in Räumen der Überw achung mittels Kassiber die Teilnehmenden in die Lage von Gefangenen, so wird diese Anordnung in einer zweiten Sequenz umgekehrt und die Waren werden zu Häftlingen erklärt: »Die Einkaufspassage führt die Architektur der Gefängnisse fort. Die Waren liegen in den gut überwachten Zellen, die Abend für Abend abgesperrt werden. Nur mit Geld können sie aus dieser Haft freigekauft werden, um danach im jeweiligen Haushalt zu dienen.«120 Damit kommt den Theaterpassanten nunmehr die Rolle von Gefängniswärtern oder auch -besuchern zu, wodurch die Perspektive und das Machtgefälle sich umkehren: Die Teilnehmer befinden sich nun selbst in der Position, die ›Häftlinge‹ zu beobachten, zu bewachen und gegebenenfalls ›auszulösen‹. Referiert die erste Situation, in der sie selbst Gefangene des Raumes sind, auf oben ausgeführte Kontrollmechanismen, entsteht durch die Rollenzuschreibung Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/Boston 2012 (http://www.degruyter.com/ view/Kluge/kluge.9264, Stand: 20.7.2015). 118 Vgl. Han 2012, 75f. 119 Legnaro/Birenheide 2007, 266. Frank Helten schlägt eine Brücke zwischen Shopping Malls und der Benthamschen Idee sozialer Kontrolle und bezeichnet aufbauend darauf die Mall als »eine Art Totale Institution mit einer eigenen, aber höchst wirkungsvollen Sprache« (Helten 2007, 247.) In etwas abgeschwächter Form greifen Legnaro und Birenheide diesen Ansatz auf, sprechen jedoch von einer »totalisierenden Institution« (Legnaro/Birenheide 2007, 266.) da die Anwesenheit zu kurz und zu freiwillig sei, um diese mit der in einem Gefängnis zu vergleichen (vgl. hierzu auch Foucault 2007 [1975], 295-329 sowie zum Vergleich von Passagen und Gefängnissen Geist 1979). 120 Skript LIGNA, 2.

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der Gefängniswärter mit den Waren als Gefangene eine andere Lesart: Verwiesen wird hier auf den Moment der Freiwilligkeit und die selbstgewählten, befürworteten oder doch zumindest einkaufend in Kauf genommenen Rahmenbedingungen überwachter Räume. Denn die Überwachungssituation bewirkt eine Berechenbarkeit, die – stellt man sich auf die Seite der Gefängniswärter und spielt die Spielregeln des Raumes mit – eine Form »kommoder Freiheit […], die sich weit über die Waren hinaus auf alle feilgebotenen Erlebnisstrukturen erstreckt«121, bereithält. Auch Paco Underhill spricht in diesem Sinne von einem selbstgewählten Begeben in die Fänge eines kontrollierten, aber abgesicherten ›Shoppingtempels‹: »In truth, it’s easy to stroll these tranquil pathways and forget that crime exists anywhere, let alone that shopping districts are sometimes magnets for pickpockets, shoplifters, and muggers. That’s the lulling effect of the mall – you are surrounded only by fellow shoppers, all drawn together in a communion of consumption.«122 Denkt man diesen Ansatz weiter, so führt die Maximierung der Sichtbarkeit durch Kameras zu einem gesteigerten Grad an Öffentlichkeit, nicht zu deren Einschränkung: »Die für die These von der Zerstörung der Öffentlichkeit herangezogene Videoüberwachung öffentlicher Räume (etwa von Bahnhöfen) zerstört deshalb nicht Öffentlichkeit, sondern übertreibt und verdoppelt sie gewissermaßen.«123 In dieser Lesart kann die ungebremste Öffentlichkeit im Sinne uneingeschränkter Sichtbarkeit auch als Schutzraum empfunden werden, der Sicherheit gegen Privatsphäre tauscht und damit zu einer spezifischen Form der »extension of home«124 werden kann. In ähnlicher Weise äußert sich auch Schroer, indem er eine zeitgenössische Weiterführung des von Sennett beschriebenen Rückzugs ins Privat(isiert)e unter anderen Vorzeichen beschreibt: »Durch den Rückzug aus den unkontrollierten Räumen wird eine Privatisierung weiter vorangetrieben, weil sich die Bürger entweder immer mehr in die überwachten Sicherheitsräume oder aber in ›die eigenen vier Wände‹ (Selle) zurückziehen, in denen sie vor der überraschenden Konfrontation mit dem Fremden und Unbekannten sicher zu sein scheinen.«125

Der inszenatorisch zur Schau gestellte Alltagsausschnitt, bei welchem »Spontaneitäten vorbedacht und gelenkt werden und die alltägliche Wirklichkeit sich in einer artifiziell überhöhten Form wiederfindet«126, entwirft die Mall als beinahe utopischer Ort einer künstlich erzeugten Öffentlichkeit. Somit entfaltet sie »die ihr eige121 Legnaro/Birenheide 2007, 261. 122 Underhill 2005, 34. 123 Schroer 2006, 234. 124 Gilette 1985, 454. 125 Schroer 2006, 233. Vgl auch Selle 1993. 126 Legnaro/Birenheide 2007, 270; vgl. zudem Dörhöfer 2007, 71.

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ne Ordnung als einen Traum aus Glas, Wasserspielen, edlem Gestein und Palmen, eine reine und harmonische Urbanität suggerierend und sie als ge- und bereinigte, als endgültig pazifizierte Urbanität vorführend.«127 Um trotz allen Gemacht-Seins den Eindruck der Realitätsferne zu minimieren und Monotonie zu vermeiden, werden gezielt überschaubare Momente organisierter Unordnung herbeigeführt, was die Diagnose umfassender Kontrolle weiter stützt: »[O]rientalische Basare werden an sorgfältig eingezäunten Orten veranstaltet, italienische Dörfer nachgebaut, Bänkelsänger und Spaßmacher treten auf, vor allem: die ganze Mall wird in regelmäßigen Abständen umgebaut und neu dekoriert.«128 Neben den bereits genannten Strategien der Destabilisierung erprobter Mechanismen und Routinen beinhaltet der performative Entwurf Shopping Center auch die Anregung, hinter diese zweckmäßig inszenierte Traumrahmung zu blicken und sich eigene utopische Räume zu erschließen. Dies findet im Aufführungsverlauf im letzten Abschnitt seinen Niederschlag, bei dem der Einzelne aufgerufen wird, ostentativ sichtbar und – zumindest gedanklich – gestalterisch tätig zu werden. Dieser Schritt in die Sichtbarkeit und das langsame Verlassen der ›Deckung‹ des Geheimbundes erfolgt über das chorische, sich steigernde Sprechen eines Satzes, der so immer hörbarer in der Passage erklingt: »Fangt an zu sprechen: […] Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Geht umher, verteilt den Satz in der Passage. Wiederholt ihn so häufig wie möglich. Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Nicht zu laut. Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Haltet bitte ein.«129

All diese Perspektiven und Assoziationen, die von Gefängnis und Repression, über den Eindruck unbegrenzter Möglichkeiten und utopischer Freiheiten, bis hin zu einem Raum abgesicherter Planbarkeit reichen, bestehen zur gleichen Zeit und schließen sich gegenseitig nicht aus. Es muss jedoch differenziert werden zwischen einem öffentlichen Gebärden im Sinne eines sich ostentativ Zur-Schau-Stellens und einem Veröffentlicht-Werden durch äußere Steuerungsinstanzen, die gegebenenfalls nicht unmittelbar im Bewusstsein sind. LIGNAs Performance siedelt sich in einem Raum an, in dem – wie sich zeigen ließ – viele Strömungen unbewussten beziehungsweise bewusst inszenatorisch-verschleierten Beobachtet-Werdens herrschen: »Doch zoniert – und damit totalisiert – werden die Räume der Sichtbarkeit, sowohl in Hinsicht auf das unbedingt Sichtbare (die Waren) wie auch in Hinsicht

127 Legnaro/Birenheide 2007, 265. 128 Siebel 2007, 93. 129 Skript LIGNA, 9f.

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auf das möglichst Nicht-Sichtbare (der Prozess der inszenierenden Herstellung ebenso wie das ›falsche‹ Publikum).«130 LIGNA bringt mittels theatraler Rahmung das Auseinanderklaffen von einem gezielt entworfenen und nach außen repräsentierten Image und den dahinterliegenden Wirkmechanismen zur Anschauung. Der hier gewählte Weg lässt sich als Versuch lesen, diese Wirksamkeit weniger über eine politische Manifestation oder eine revolutionäre Umwälzung zu erzielen, als vielmehr über die Stärkung des spielerischen Moments. LIGNA ist bei der Produktion Shopping Center im Sinne Brechts darum bemüht, »bei aller Thematisierung einer utopischen Vereinigung, das Vergnügen am Spiel nicht zu kurz kommen zu lassen. Die Teilnehmer werden in diesem Sinne dazu aufgefordert, in ›kollektiver Zerstreuung‹ mit den Aufforderungen zu spielen und diese performativ umzusetzen.«131 Damit löst sich das Projekt laut Wihstutz aus dem alleinigen Konnex mit politischer oder gesellschaftlicher Manifestation und betont den spielerischen Anteil: »Nicht die Gründung eines revolutionären Kollektivs für den Klassenkampf, auch nicht dessen repräsentative Darstellung wie bei Löschs Chor der Arbeitslosen, sondern ein subversives Spiel mit Regeln und Konventionen des privatisierten öffentlichen Raums sind Anliegen von LIGNAs Radioballett. Die ausgewählten Orte […] werden zu liminalen Sphären des Austestens neuer politischer Protestformen und kollektiver Raumaneignungen eines über Radio koordinierenden ›sozialen Schwarms‹.«132

Die spielerische Zugangsweise setzt auf imaginativer Ebene an, indem die Theaterteilnehmer dazu angeregt werden, im Rahmen eines Gedankenexperiments den umgebenden Raum neu zu denken und zu nutzen, um sich kurzzeitig der reinen Fokussierung auf Effizienz und Konsum zu entziehen. Es bleibt jedoch nicht bei der gedanklichen Ebene, vielmehr erfolgt eine Verquickung körperlicher und gedanklicher Raumerschließung und -erweiterung. Auf diese Weise soll sich – wie bereits zu Beginn der Aufführung durch das Radio zu hören ist – »die Passage […] für die Versprechen öffnen, die sie uns als prunkvoller Ort gibt.«133 Der Einzelne wird dazu aufgerufen, seine eigenen, persönlichen Utopien für städtische Räume zu entwerfen und Möglichkeitsräume zu erschaffen, die sich der Umwandlung in Warenwerte entziehen. Konkret lässt sich an einer Sequenz zeigen, in welcher alle Teilnehmenden eine Münze auf den Boden fallen lassen, die symbolisch für einen Wunsch steht: »Bedenkt, dass es nicht üblich ist, etwas wegzugeben, ohne dafür etwas wie130 Legnaro/Birenheide 2007, 266. 131 Wihstutz 2012, 250. 132 Wihstutz 2012, 251. Bei dem Begriff des sozialen Schwarms bezieht sich Wihstutz auf Kelly 1994 sowie Brandstetter/Brandl-Risi/Eikels 2007. 133 Skript LIGNA, 2.

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derzubekommen.«134 Dieser Münzenwurf ließe sich lesen im Sinne einer »Geldverschwendung als symbolischer Akt, der sich dem Konsum und der Logik des Handelns widersetzt, ein Motiv des Widerstands […], das den utopischen Wunsch nach einer konsum- und geldfreien Gesellschaft thematisierte.«135 Somit wird, durch das Einlösen einer Münze gegen einen Wunsch, auch dieser Vorgang letztlich gewissermaßen zu einem Glied in der Kette des Tauschhandels und damit auf eine materiell-materialistische Ebene versetzt. Der maßgebliche Unterschied des hier vollzogenen Tausches eines materiellen in einen immateriellen Wert besteht jedoch darin, dass es sich um einen klar gekennzeichneten spielerischen Akt handelt, durch den die Shopping Mall im Sinne eines »Gefängnis[ses] nicht realisierter Wünsche mit dem Versprechen einer anderen, spielerischen Zeit«136 eine theatrale Rahmung erfährt. Eine dezidierte Betonung und Ausstellung des Theatral-Spielerischen erfolgt mit dem Exponieren der theatralen Rahmung am Ende der Aufführung. Hier werden die Theaterpassanten dazu aufgefordert zu applaudieren, womit zugleich der höchste Grad an Sichtbar- und auch Hörbarkeit innerhalb der Aufführung erreicht ist. Der Applaus, der »den kommenden Dingen« und der »zukünftigen Zeit«137 gilt, stellt als Schlussrahmung eine explizite Anleihe an Theaterkonventionen dar, die auch bei jenen Passanten, die zuvor keine theatrale Hervorhebung wahrgenommen hatten, als Marker für eine vergangene Aufführung fungiert: »In fast allen Winkeln und auf allen Etagen des Shoppingcenters war der Applaus zu hören. Unerwartet erfüllte er den Raum, die Gänge, die Läden und Rolltreppen. Passanten schauten sich um, blieben stehen und setzten ihren Gang fort, während sie beim Laufen zu den Akteuren aufblickten. Für einen kurzen Moment wurden sie zu Zuschauern dieses applaudierenden Publikums, zu Zeugen einer sich hier und jetzt konstituierenden Aufführung.«138

Nachdem die Stufen ostentativen Sichtbar-Werdens nun nachgezeichnet wurden, zeigt der genauere Blick auf die Lenkungsstrategien der Inszenierung selbst, dass der performative Entwurf, der vordergründig zu einer Emanzipation und Individualisierung führt, seinerseits neue Manipulationsmuster hervorbringt und lenkend auf die Theaterpassanten einwirkt. Durch die choreographierte Bewegung in Verhandlungszonen des Öffentlichen, die das Spannungsfeld von Durchlässigkeit und Widerständen aufgreift und in körperliche Bewegung im Raum umsetzt, werden zwar Lenkungsprinzipien von Räumen kontrastiert, dabei aber ebenfalls Lenkung vorgenommen. Es findet somit keine lineare Emanzipierung der Teilnehmenden gegen134 Skript LIGNA, 15. 135 Wihstutz 2012, 254. 136 Skript LIGNA, 16. 137 Skript LIGNA, 16. 138 Wihstutz 2012, 254.

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über Lenkungsmechanismen des Alltags statt, diese werden vielmehr Teil eines zweischrittigen Rahmungsvorgangs: Indem LIGNA mittels Radiosendern den Teilnehmenden den Ausbruch aus der lenkenden und manipulierenden Alltagsrahmung nahelegt, werden sie selbst zur (fern-)steuernden Instanz, die Bewegungen und Wahrnehmungen lenkt und choreographiert. Ähnlich wie dies auch am Beispiel Call Cutta gezeigt werden konnte, wird hier ebenfalls deutlich, dass lediglich durch performative Rahmung noch kein selbstbestimmter Raumumgang gewährleistet ist – teilweise sogar im Gegenteil: Da der Vorgang des Sich-Widersetzens in Form einer durch Kopfhörer angeordneten Choreographie stattfindet, wird die Befreiung aus dem einen Lenkungskontext direkt in einen anderen – nun theatral erzeugten – überführt. Es schaltet sich eine akustische Instanz zwischen Raum und Passant, die die Lenkungs- und Manipulationsprinzipien des Raumes aufzudecken vorgibt und verspricht, Raum zu schaffen für Subversion und Bewegungsfreiheit. Gerade durch dieses Mittel finden sich jedoch die Teilnehmer in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis wieder, in dem Machtmechanismen transparent gemacht, zugleich aber auch neue hervorgebracht werden. Dies wird durch das Mittel akustischer Vereinnahmung per Kopfhörer verstärkt, wodurch die Teilnehmer in einem Vorgang »akustischer Großaufnahme«139 auf die Radiobeiträge LIGNAs fokussiert und eingeschworen werden. So erfahren die ›Mitglieder der Ersten Internationalen der Shopping Malls‹ die Spielregeln der Subversion auch immer erst in der Situation, in der sie diese auch durchführen sollen. Damit weisen die Teilnehmer Züge eines marionettenartig gesteuerten Schwarmes auf, was dadurch unterstützt wird, dass die Teilnehmer aufgefordert werden, sich gegenseitig durch den Raum zu dirigieren: »Wo Wege angelegt wurden, gibt es immer auch Abwege. Welche anderen Bewegungsströme lassen sich erzeugen? Zeigt Euch gegenseitig neue Wege, wenn Ihr Euch begegnet. Zeigt nach oben, wenn Euer Gegenüber eine Ebene höher gehen soll. Zeigt nach unten, um den anderen eine Ebene hinunter zu schicken. […] Folgt unter allen Umständen den Fingerzeigen, die ihr bekommt! Wenn ihr Euer Gegenüber zum Halten bringen wollt, zwinkert der Person einfach zu. Kurz aber bestimmt. Wurdet ihr vor ein Schaufenster geschickt, bleibt dort für einen Moment stehen. Schaut Euch die Waren an. Geht dann weiter durch den Raum und wartet auf das nächste Zeichen, das ihr bekommt. […] Entdeckt die versteckten Fingerzeige der Architektur! Interpretiert sie und gebt sie weiter! Lasst Euch leiten von den Hinweisen, die ihr bekommt.«140

139 Vgl. zum Begriff der akustischen Großaufnahme die Ausführungen von Pinto 2012, 46ff. 140 Skript LIGNA, 10f.

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Die genannten mit der paradoxalen Gleichzeitigkeit von Lenkungskritik und eigener Lenkung verbundenen Einwände gegen die Produktion werden von den Projektinitiatoren bereits im Vorhinein programmatisch umgewertet. So wird das Radioballett als eine »von Reflektionen unterbrochene Choreographie« beschrieben, die als Vorschlag konzipiert sei, um die »Gesten und Alltagspraktiken an einen Ort zurückzubringen, aus dem sie durch die Privatisierung und der damit einhergehenden Kontrolle verdrängt wurden.«141 Der Unterschied zwischen Vorschlag und Anordnung besteht für LIGNA maßgeblich darin, dass die Initiatoren »die Ausführung der Gesten nicht kontrollieren«142. Auch Friedrich Tietjen versucht, die Beobachtung, dass LIGNA ebenfalls eine manipulative Struktur erschafft, durch das Argument zu entkräften, dass es sich bei der Produktion lediglich um einen Rahmungsprozess handelt, nicht um die Behauptung, neue Freiheiten zu schaffen: »Um einen der gelegentlichen Einwände gegen das Radioballett vorwegzunehmen, den nämlich der Manipulation: Den Zuhörenden wurde genau jene Freiheit eingeräumt, die die gegenwärtige Gesellschaft ihren Mitgliedern in solchen Fällen zugesteht: nämlich nicht mitzumachen, etwas anderes zu machen, zuzuschauen, wegzugehen oder abzuschalten, mit einem Wort: einer der Anrufungen nicht zu folgen, derer es in Hauptbahnhöfen mittlerweile so viele gibt: Fahrplandurchsagen, Sonderangebote, die überall angeschlagenen Verhaltensmaßregeln und die stumme Drohung der Sicherheitsdienste. Diesen Ansprachen setzte das Radioballett nichts entgegen – es machte sie statt dessen sichtbar und wertete sie aus, indem es die teilweise minimalen Unterschiede auslotete, die erlaubte von unerlaubten Gesten trennen: Sich die Hand zu geben ist ein zugelassenes Ritual, doch wer die Hand ausstreckt, um zu betteln, wird vertrieben.«143

An diesen Erklärungsmodellen von Produktionsseite aus zeigt sich exemplarisch, dass viele der heutigen Theaterarbeiten durch kulturanalytische Implikationen aufgeladen sind und die Theaterpraktiker selbst ihre Arbeiten mit einem theoretischen Überbau versehen. Dies stellt die Theaterwissenschaft wiederum vor eine neue Aufgabe, die darin besteht, kritische Distanz gegenüber den auf diese Weise intendierten und vorgeschlagenen Analyseansätzen zu bewahren und nicht selbst durch diese Form der Lenkung vereinnahmt zu werden.

141 http://ligna.blogspot.de/2009/12/radioballett.html, Stand 19.11.2013. 142 Vrenegor 2003. 143 Tietjen, Friedrich: »No Excuses!« In: republicart 10 (2004), http://www.republicart. net/disc/aap/tietjen01_de.htm, Stand: 21.7.2015.

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Theatrale Aushandlungsräume des Unzweckmäßigen LIGNA bietet mit Shopping Centre einen performativen Entwurf, bei dem ein Blick auf funktionale Räume jenseits der Zweckmäßigkeit angeregt werden soll. Dabei werden Handlungs(spiel)räume erprobt und die Diskrepanzen zwischen der tatsächlich vorhandenen Passagenfreiheit und dem seitens der Raumbetreiber erzeugten Image kenntlich gemacht: »Solche Rundgänge durch Stadtlandschaften machen nicht zuletzt eine Überlagerung von historischen Schichten und konträren Nutzungsweisen sichtbar, die in der offiziellen Selbstdarstellung und Vermarktung öffentlicher Räume gar nicht vorkommt.«144 Die Aufführung schafft weder einen maßgeblichen Zugewinn an Bewegungsfreiheit, noch eine Emanzipation von Mechanismen der Kontrolle oder Überwachung. Das Potenzial dieser theatralen Form liegt vielmehr in einer Bewusstseinsschärfung gegenüber der Vielschichtigkeit alltäglicher Macht- und Lenkungsgefüge, die durch performative Mehrfachrahmung exponiert werden, wodurch Spielräume jenseits pragmatischer Zusammenhänge und Notwendigkeiten entstehen. Zudem wird die zeitgenössische Figur des gläsernen Menschen in physischer Kopräsenz theatral gerahmt und die Zusammenhänge von Sichtbarkeit, Identifizierbarkeit und Passierbarkeit evaluiert. Auf diese Weise werden auch gesellschaftliche Logiken ausgestellt, die das Konsumverhalten zu einem Marker der Persönlichkeitsstruktur machen – ganz im Sinne von: Du bist, was Du kaufst. Durch den hier gewählten theatralen Ansatz wird jedoch keine Abkehr von technischen, medialen Formen vorgenommen, vielmehr ermöglicht deren Einsatz erst diese spezifische Form der Gegenbewegung. Rückblickend auf das oben entwickelte Schema zu den Spannungsfeldern zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zeigt sich an den hier skizzierten Ambivalenzen erneut, dass eine dichotomische Unterscheidung in Öffentlichkeit und Privatheit nicht greift: Keine der angesprochenen Rahmungen wird durch die andere als ungültig erklärt. Vielmehr lässt sich durch die Mehrbödigkeiten der Passierbarkeit, die sich sowohl auf architektonischer wie auch raumbildender Ebene der Bewegungs- und Blickregie abbildet, sowie das vielschichtige Spiel um Verbergen und Zeigen der zentrale Stellenwert der jeweiligen Betrachtungsperspektive und der situativen Kontextualisierung untermauern. Fragt man nach der Wirkungskraft dieser und vergleichbarer Entwürfe, die auf die theatrale Strategie der Rahmenmodulation setzen, so erscheint es notwendig, deren Popularitätsgrad mit in Betracht zu ziehen: Wie sich an dem oben bereits erwähnten Phänomen Flashmob zeigen lässt, leben solche Ausdrucksformen – wie dies auch bei dem Projekt Shopping Center der Fall ist – weitestgehend davon, dass es Eingeweihte und Außenstehende gibt, damit die intendierte Realitätsschichtung zustande kommen kann. Bewirkten die ersten Flashmobs ein plötzliches Eintreten 144 Primavesi 2008, 104.

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einer anderen Rahmung inmitten alltäglicher Abläufe in Form eines nicht einzuordnenden Ereignisses, so ist heute den meisten diese Kulturpraxis geläufig, was die Wirkung deutlich modifiziert und den Irritationsgrad der Umstehenden herabsetzt. Damit hat eine Verschiebung der Funktion hin zu einer Eventisierung eingesetzt, was zudem dadurch gestützt wird, dass sich Konzerne und Medieninstitutionen diese Form öffentlichen Ausdrucks zu eigen gemacht haben. Waren Flashmobs zu Beginn politische Kundgaben zur Manifestation von Forderungen nach Öffentlichkeit, gegen die Dominanz des Konsums und die Ökonomisierung und Funktionalisierung des städtischen Raums, so werden diese heute oft selbst zu privatisierten (Werbe-) Zwecken genutzt.145 Auf diese Weise werden Sehgewohnheiten gegenüber Inszenierungen in Alltagsräumen geschult, was wiederum die Rezeptionshaltung gegenüber ungeplanten Ereignissen wie auch theatralen Inszenierungen beeinflusst. Hieran lässt sich die Transitorik subversiver Ausdrucksformen zeigen, was die theatrale Praxis – besonders in Bewegungsräumen – dazu zwingt, sich ständig um Erneuerungen und Suchbewegungen zu bemühen, um sozial wirksam zu werden oder zu bleiben und stets neu die Spannungsfelder des Öffentlichen und Privaten zu eruieren und performativ zu befragen. Auf theatralem Wege wird hier eine Heterogenisierung denkbarer Möglichkeiten vorgenommen, wodurch sich Theater inmitten alltäglicher Räume über den Schritt der Imagination als Brücke anbietet, um Alternativen kenntlich zu machen: »Schließen Sie bitte die Augen. Welch anderes Theater könnte hier aufgeführt werden?«146 Die dabei erdachten utopischen Ideen, die sich auch auf alternative Nutzungsweisen der funktionalisierten Umgebung beziehen, werden von den Teilnehmern daraufhin zu Papier gebracht: »Sie haben einen Zettel bei sich. Holen Sie ihn hervor. Nehmen Sie den Stift zur Hand. Lugen Sie aus Ihrem Versteck hervor! Blicken Sie in die Zukunft! Welcher andere Gebrauch dieser Hallen wäre denkbar? Eine Parklandschaft? Ein Museum der Wünsche? Ein Aquarium? No-

145 Mit der politisch motivierten Variante, dem Smartmob, sind gezielte gesellschaftskritische Anliegen verbunden. So wurden diese beispielsweise bei dem Sturz des philippinischen Präsidenten Joseph Estrada eingesetzt, als dieser unter Korruptionsverdacht stand (vgl. Bauer 2010, 85f). Nachdem eine weltweite Verbreitung des Phänomens Flashmob erfolgte, verebbte es kurzzeitig, bevor es um 2006 mit der Konjunktur sozialer Netzwerke ein Revival erlebte. Firmen wie T-mobile machten sich rasch das Format zu Werbezwecken zu eigen. Die Kommerzialisierung des vormals kapitalismuskritischen Formats zeigt sich auch exemplarisch anhand der Fernsehshow Flash! Der größte Moment deines Lebens auf Pro7 (2012). 146 Skript LIGNA, 3.

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tieren Sie in ein, zwei Worten Ihre Zukunftsvision für diese Architektur. Was wünschen Sie sich? Wozu könnte dieser Ort dienen, wenn er vom Warentausch befreit wäre?«147

Das Potenzial dieser und ähnlicher theatraler Entwürfe zeigt sich bei LIGNA exemplarisch in der Gleichzeitigkeit von Spiel – als einer Praxis, die sich ganz bewusst aus pragmatischen Zweckmäßigkeiten und dem Anspruch auf Wirksamkeit löst – und einem performativen Handeln, bei dem durch konträre Raumnutzung, das Eröffnen von Reflexionsräumen, die Irritation alltäglicher Routinen und das praktische Befragen etablierter Exklusionsmechanismen eine Wirklichkeitsveränderung vollzogen wird: »Noch scheint die Zeit nicht gekommen, die Passage aus dem Privatbesitz zu entlassen und die Träume dieses Traumhauses für alle Zeit zu befreien. Noch lässt sich der Fluss der Zeit nicht unterbrechen – und alle Arbeitszeit abschaffen. Aber der Traum hat schon begonnen.«148 Es lässt sich hieran verdeutlichen, dass es nicht sinnvoll ist, Alltagsprozesse und Theaterereignisse strikt voneinander zu trennen oder als Gegensatzpaare zu entwerfen. Vielmehr durchdringen sich beide: »Die von den Handlungen der Teilnehmer herbeigeführte Transformation des öffentlichen Raumes wird von ihnen als Spiel erfahren, das der Spiegelwelt und dem Spektakel der Waren eine alternative Aufführung entgegensetzt, die ein liminales Zwischen von individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten öffnet.«149 Ist Theater somit immer eingebunden in sozio-kulturelle Rahmungen, so verfügt es über die Möglichkeit, Alternativen aufzuzeigen und körperlich-räumlich zu erproben. Auf theatralem Weg wird somit die eingangs auf theoretischer Ebene ausgeführte Annahme verdeutlicht, dass letztlich trotz aller Standardisierung und Lenkung der Raum immer erst durch die in ihm vollzogenen (Bewegungs-)Praktiken hervorgebracht wird: »Zwar kommen von den Investoren und Betreibern die Vorgaben, und Architekten entwerfen die Gebäudekomplexe, doch das Erscheinungsbild hängt wie bei den Passagen auch vom Publikum ab.«150 Dieses Erscheinungsbild, beziehungsweise die zur Erscheinung gebrachte Bewegungsroutine, wird durch das mittels Radio gesteuerte Theaterpublikum temporär stark modifiziert und in theatrale Emergenz überführt. »Doing freedom, hierin ganz analog zum doing gender, bezeichnet den Mechanismus, Freiheit in einer Prozedur des Darstellens zunächst symbolisch zu agieren, sie dabei mithilfe vorläufiger Als-Ob-Annahmen herzustellen und derart das Als-Ob in eine Tatsächlichkeit zu verwandeln; was im Symbolraum beginnt, schafft schließlich soziale Tatsachen, die freilich 147 Skript LIGNA, 5. 148 Skript LIGNA, 15. 149 Wihstutz 2012, 259. 150 Dörhöfer 2007, 65.

280 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT nicht voraussetzungslos sind, sondern eingebunden in die Machtdifferentiale der umgebenden Welt.«151

Im Sinne eines hier von Legnaro und Birenheide angesprochenen Symbolraums, können Theaterprojekte in Räumen der Kontrolle und unterschwelligen Lenkung auf spielerische Weise wirklichkeitskonstituierende Kräfte freisetzen und auf die Dimension gesellschaftlicher Mitbestimmung und eigener Handlungsspielräume wie auch deren Begrenzungen verweisen. Ist somit in Shopping Malls in alltäglicher Praxis das Handeln, verstanden als ein Handel mit Waren, der bestimmende Motor, kann Theater diese – zumindest temporär – in einen Raum des Handelns im Sinne abweichender, befragender, heterotopischer (Aus-)Handlungen überführen.

151 Legnaro/Birenheide 2007, 270 [Hervorhebung im Original].

12 Theatrale Momentaufnahmen ostentativer Beobachtung – Mariano Pensottis Sometimes I think I can see you

Zwei gegenüberliegende Bahngleise im Feierabendverkehr. Über den am Bahnsteig Wartenden sind Leinwände angebracht, auf welchen ähnlich einem Übertitel Szenenbeschreibungen, innere Monologe und Figurencharakterisierungen zu lesen sind. Darunter sitzt jeweils eine Person, die auf dem Laptop, der auf ihren Knien liegt, etwas schreibt und beim Betreten des Bahnsteigs auf den ersten Blick nicht unmittelbar von den anderen Anwesenden zu unterscheiden ist. Die Textzeilen, die dabei entstehen, werden simultan auf je eine der genannten Leinwände übertragen. Die Schreibenden sind zeitgenössische Autoren – Jörg Albrecht, Gesine Danckwart, Anne Habermehl und Tilman Rammstedt – die die Wartenden und Durchreisenden auf dem gegenüberliegenden Gleis beobachten und beschreiben. Dabei vermischen sich konkrete Situationsschilderungen mit Assoziationen, Vermutungen und fiktionalen Anteilen zu einem für alle Umstehenden sichtbaren Text. Diese Form der Live-Prosa erinnert an die eines Blogs, Tickers oder Tweets, hebt sich bei genauerem Hinsehen in seinen Funktionen jedoch deutlich von diesen ab, wie ich im späteren Verlauf zeigen werde. Andere Passanten, teils tägliche Passagenraumnutzer, teils gezielte Theatergänger, können folglich diese Charakterisierungen und Beschreibungen lesen und zugleich die entsprechenden Personen selbst beobachten, wobei sich keiner sicher sein kann, nicht als nächstes ebenfalls zum Ziel ausgestellter Beobachtung zu werden. Es handelt sich hierbei um das Projekt Sometimes I think I can see you von Mariano Pensotti, das im September 2010 zur Premiere kam und seither an diversen Bahnhöfen und U-Bahnhaltestellen, wie in Zürich, Berlin, Buenos Aires und Warschau, zu erleben war.1 Im Kontext der Überlegungen zu Privatheit und Öffentlich-

1

Sometimes I think I can see you, eine Produktion des Theaters Hebbel am Ufer Berlin aus dem Jahr 2010, entstand wie auch Shopping Center im Rahmen des Projekts Ciudades

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keit dient diese Performance exemplarisch zur Analyse alltäglicher und theatraler Grenzverläufe, die in einem Wechselspiel aus Zeigen und Verbergen über Verhalten und Kommunikation hervorgebracht und durchbrochen werden. Am Beispiel des Bahnhofsraums, in dem sich diese Vorgänge verdichten, werden besonders die gesellschaftlichen Strategien der paradoxalen Form ostentativen Rückzugs in Passagenräumen in den Blick genommen. Durch die Verschränkung mit der Analyse theatraler Strategien bei Pensotti soll im Anschluss gezeigt werden, wie alltägliche Muster mit performativen Mitteln aufgegriffen, irritiert und konterkariert werden. Der Bahnhof als Raum des Zeigens und Verbergens »An kaum einem anderen Ort, so die einhellige Meinung, amalgamiert und manifestiert sich gesellschaftliches Leben so vielfältig und facettenreich wie in und an (Großstadt)Bahnhöfen.«2 Die hier von Claudia Wucherpfennig betonte Eignung des Bahnhofs als sozio-kulturelle Ablesefläche soll im folgenden Abschnitt zum Ausgangspunkt genommen werden, um eine weitere Facette des Spannungsfeldes zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in Passagenräumen zu entfalten. Bahnhöfe waren schon immer Räume des Reisens und zugleich des Verharrens, der Verabschiedungs- und Begrüßungsszenen, der Eile und der Langeweile, der Beobachtung und des Vorbeieilens. Diese Funktionen haben auch heutige Bahnhöfe noch inne, jedoch sind diese durch weitere überlagert: Anstelle des Bistros oder der Bahnhofswirtschaft finden sich an heutigen Großstadtbahnhöfen häufig ganze Gastronomiezeilen und eine Vielzahl an Supermärkten. Der Kiosk oder Zeitungsstand wurde abgelöst durch Einkaufsmeilen, die einem Shoppingcenter Paralelas (Berlin/Zürich/Warschau/Buenos Aires). Darüber hinaus war die Produktion u.a. in Palermo, Brüssel, Rotterdam und Vancouver zu sehen. Die Anordnungen weichen in jeder Stadt leicht voneinander ab, wodurch unterschiedliche, raumspezifische Beobachtungssituationen erzeugt werden: Am Züricher Bahnhof Hardbrücke befinden sich die Leinwände über dem Bahnhofseingang, in Warschau und Buenos Aires sind diese an gegenüberliegenden Bahnsteigen des Hauptbahnhofs installiert, während in Berlin die Gleise des U-Bahnhofes Hallesches Tor gewählt wurden. 2

Wucherpfennig 2006, 119. Dass davon auch eine politische beziehungsweise soziodynamische Kraft ausgehen kann, zeigen beispielhaft die Proteste um das Projekt Stuttgart 21, bei welcher der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs zur Bühne für Grundsatzdebatten zu städtischer Machtverteilung und Demokratiedebatten wurde. Umfasst der Begriff Bahnhof verschiedene Raumformen, gilt es zu unterscheiden zwischen Großstadtbahnhöfen, die ohnehin innerhalb des Stadtbildes (in optischer Hinsicht wie im Sinne des Bildes, das von einer Stadt herrscht) eine zentrale Stellung einnehmen und Kleinstadtbahnhöfen sowie U-Bahnhöfen, deren Funktion sich weitgehend auf die Inanspruchnahme von Transportdiensten beschränkt.

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gleichen. Auch die im Kontext der Mobilitätsüberlegungen beschriebenen medialen Praktiken mobiler Kommunikation und tragbarer Unterhaltungs- und Informationsmedien prägen das Bild zeitgenössischen Bahnhofsgeschehens. Der Bahnhof ist somit – im Sinne Wucherpfennigs – auch in dem hier verhandelten Zusammenhang ein Passagenraum, in dem sich gesellschaftliches Leben in spezifischer Weise amalgamiert, da er durch die spezifische Gleichzeitigkeit von Mobilität und Verweilen sowie Schauen und Kaufen geprägt ist. Der Bahnhof zeigt sich somit als ein Raum, an welchem Prozesse der Ostentation und des Verbergens zwar keine Alleinstellungsmerkmale darstellen, dort jedoch eine besonders hohe Dichte aufweisen, wodurch er sich zu Analysezwecken anbietet. Diese Ambivalenz des Verbergens und Zeigens schlägt sich bereits in der konzeptionellen Ausrichtung von Bahnhofsräumen nieder: Ein Beispiel für die gezielte Förderung ostentativer (Selbst-) Präsentation liefert der Bahnhof Zürich, der bereits als Knotenpunkt des Konsumierens im Zusammenhang mit Shopping Malls erwähnt wurde.3 Explizit wird hier mit dem hohen Grad an Öffentlichkeit geworben, an dieser Stelle verstanden als ein Raum durchlässiger Bewegung, starker Fluktuation und hoher Aufmerksamkeitskonzentration: »Gehen Sie an die Öffentlichkeit. […] Alle Flächen – vom fußballfeldgroßen, imposanten Raum in der Haupthalle bis zu den hochfrequentierten Plätzen sind öffentlich zugänglich und garantieren viel Aufsehen.«4 Und auf der Homepage des Bahnhofs ist zu Werbezwecken für kommerzielle Nutzer zu lesen: »Es gibt in der Schweiz keinen besser frequentierten Standort als den Hauptbahnhof Zürich. Nicht weniger als 300 000 potentielle Kunden beleben Tag für Tag die ShopVille-RailCity Zürich – auch an den Wochenenden. Nutzen auch Sie diese einmalige Plattform für Ihre Promotionen oder Events. Ob eine Stand- oder eine Verteilaktion, ein Grossevent [sic!] mit La-

3

Der Züricher Hauptbahnhof wird hier gewählt, da er in den Werbeschriften explizit als öffentlicher Raum des Konsums und der Begegnung entworfen und beworben wird und sich damit als paradigmatisches Beispiel anbietet. Unter dem Aspekt der Bewegungsleitung liegt hier eine Besonderheit vor, da die Züge genau getaktet zu jeder vollen und halben Stunde ankommen, sodass die Reisenden stoßwellenartig die Bahnhofshalle des Kopfbahnhofs fluten, ein-, aus- und umsteigen, bevor sich die Betriebsamkeit merklich beruhigt (vgl. NZZ-Folio 2010). Pensottis Sometimes I think I can see you findet zwar, neben den bereits genannten anderen Städten, auch in Zürich statt, jedoch nicht am Hauptbahnhof, sondern am Bahnhof Hardbrücke. Anders verhält es sich mit dem Opernereignis La Traviata am Hauptbahnhof Zürich, bei welchem der Hauptbahnhof zur Spielstätte wird, worauf im Folgenden zurückgekommen wird.

4

Werbebroschüre für Aussteller: SBB, CFF, FS: Promotionen und Events in ShopVilleRailCity Zürich. November 2011, 2. http://www.sbb.ch/content/dam/sbb/de/pdf/bahnhofservices/am-bahnhof/rc_eventinfos_zuerich.pdf, Stand: 21.7.2015.

284 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT sershow oder gar eine Bühne mit einem ausgesuchten Kulturprogramm, in der ShopVilleRailCity Zürich finden Sie und Ihr Produkt immer ein Publikum.«5

Wie bei den Theaterprojekten in Passagenräumen setzt folglich auch das Bahnhofsmarketing auf den Effekt, dass das Ereignis durch seine spezifische Positionierung ein Publikum findet, ohne dass sich dieses gezielt auf den Weg zu dem Ereignis machen muss. Komplementär zu der Betonung des hohen Öffentlichkeitsgrades, der Bühne, um sich zu zeigen, und der damit verbundenen Kauf- und Verkaufsimplikation, lässt sich auch ein Wunsch nach Räumen des Verbergens und Rückzugs innerhalb von Passagenräumen wie Bahnhöfen ablesen, der in Deutschland seit 1997 seine institutionelle und baulich-architektonische Entsprechung in Form der DB-Lounge findet.6 Diese stellt einen temporären Rückzugsraum dar, der über territoriale Exklusionsmechanismen funktioniert: Ein abgeschirmter Bereich des Passagenraums Bahnhof wird mit bestimmten Zugangsregeln belegt und ist damit einer bestimmten Personengruppe, in diesem Fall den Kunden der Ersten Klasse sowie Vielfahrern, vorbehalten. Die Bahn stellt dabei einige Ausstattungselemente bereit, die an eine Wohnraumsituation angelehnt sind: Getränke, Zeitungen, Laptops und Fernseher stehen zur Verfügung, »[k]leine Sitzgruppen mit bequemen Sesseln oder Sofas lassen viel Beinfreiheit und sorgen für eine angenehm ruhige Atmosphäre.«7 Der Grad an räumlicher Durchlässigkeit ist daher in diesen Lounges im Vergleich zu dem umliegenden Bahnhofsgebäude sehr gering, was jedoch nicht bedeutet, dass man sich dort alleine und ungestört aufhalten kann. Betrachtet man die Lounge unter den Vorzeichen des Verbergens und ZurSchau-Stellens – der anderen Variable im für die vorliegende Studie entwickelten Öffentlichkeitsschema8 – zeigt sich ebenfalls ein Oszillieren zwischen beiden Polen: Je nach Absicht kann die Lounge dem temporären Entziehen vor den Blicken anderer dienen und somit einen Moment der Zurückgezogenheit erzeugen; ebenso kann ihre Nutzung auch der ostentativen Demonstration der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung dienen. Denn man kann sich, wie Frers es beschreibt, in diesem passageren Rückzugsraum auch »zusammen mit anderen 5

http://www.sbb.ch/bahnhof-services/am-bahnhof/bahnhof/shopville-zuerich-hb/events.

6

Die erste DB Lounge wurde am Hauptbahnhof Frankfurt am Main am 23. Juli 1997 er-

marketingurl_%2524%2524%2524zurich-events.html , Stand: 8.10.2014. öffnet (»Erste DB Lounge in Frankfurt am Main.« In: Eisenbahntechnische Rundschau. Jahrgang 46 (1997), Heft 9, 591). Zum Raumtypus der Lounge vgl. auch Hasse 2012, 178ff. 7

DB Bahn: »DB Lounge: Die 1. Klasse im Bahnhof«, http://www.bahn.de/p/view/service/ 1klasse/lounge.shtml, Stand: 21.7.2015.

8

Vgl. Kapitel 10.

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Bahnkunden desselben Status in bordeaux-rot gepolsterten Designermöbeln niederlassen, die ausliegenden Zeitungen lesen, eine informelle Geschäftsbesprechung durchführen.«9 Die entstehenden »Dehnungsfuge[n] der Zeit«, wie Jürgen Hasse diese Zwischenzeiten des Reisens nennt, lassen sich somit je nach Bedarf »kontemplativ ver-dämmern, konzentriert ver-arbeiten oder in der gemeinsamen Situation eines Meetings für die Einfädelung unternehmenspolitischer Strategien nutzen.«10 Die punktuellen Ausführungen zeigen, dass es sich bei Bahnhöfen um Räume handelt, die sich sowohl als Bühne anbieten, um sich zur Schau zu stellen und temporär neu zu entwerfen, als auch Nischen des Rückzugs schaffen, die aber ihrerseits ebenfalls durch passagere Fluktuation gekennzeichnet sind, wie sich anhand der Lounge verdeutlichen lässt. Neben institutionalisierten Ostentations- und Rückzugsräumen innerhalb durchlässiger, städtischer Passagenräume werden Momente des Rückzugs und Verbergens – so die These dieser Überlegung – in Passagenräumen maßgeblich über Handlungen und Wahrnehmung situativ und temporär etabliert. Hierzu gehören medial gestützte Vorgänge, wie ein Handytelefonat, die Kommunikation per Smartphone, oder das Musikhören mittels Kopfhörer. Im Folgenden sollen besonders habituelle und mediale Rückzugsformen im Mittelpunkt stehen, die durch den gesellschaftlich eingeübten Modus zwischenmenschlichen Umgangs in Passagenräumen des Alltags zustande kommen. Denn nicht nur auf Ebene der Bewegung ist von einer hohen Fluktuation auszugehen, vielmehr überträgt sich diese auf den Modus des temporären Miteinanders, das somit ebenfalls zur Ablesefläche der Spannungsgefüge zwischen Ostentation und Verbergen, In-Kontakt-Treten und Isolieren sowie Durchlässigkeit und Abschirmung werden kann. Grenzverläufe zwischenmenschlicher Distanz in passagerer Aushandlung Fragt man nach den Grenzverläufen zwischenmenschlicher Distanz und dem Übertritt persönlicher Schutzräume innerhalb städtischer Räume, so zeigt sich schnell, dass es sich hierbei nicht um überzeitliche, ontologische Größen handelt, sondern um historisch gewachsene Konventionen. Ohne eine Kontinuität zwischen Moderne und Postmoderne zu behaupten, dient ein Blick ins 19. und frühe 20. Jahrhundert der Historisierung heutiger Tendenzen, die nicht kontextlos zu denken sind und trotz maßgeblicher lebensweltlicher Veränderungen deutliche Spuren der letzten Jahrhunderte in sich tragen: Simmel befasst sich 1903 mit den Prinzipien zwischenmenschlicher Distanzverhältnisse in Stadträumen und benennt in seinem Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« die Kriterien Reserviertheit und Blasiertheit 9

Frers 2007, 187.

10 Hasse 2012, 179. Vgl. auch Lau 2000.

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als Grundpfeiler öffentlichen Umgangs seiner Gesellschaft.11 Beide führt er auf einen Schutzreflex zurück, den die Menschen als Reaktion auf ihre durch Industrialisierung, Urbanisierung und Arbeitsteilung geprägte Lebenswelt hervorbringen:12 Reserviertheit als »geistige Haltung der Großstädter zu einander«13 beschreibt Simmel als Schutz vor der überreizenden »Steigerung des Nervenlebens« in urbanisierten Zusammenhängen, »die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«14 und sich in einem gleichgültigen Ausdruck gegenüber den Mitmenschen manifestiert. Überreizung ist auch die Ausgangsbasis städtischer Blasiertheit, die für ihn eine Folge der Intellektualisierung im Sinne eines Hinwendens zum Verstand darstellt, die ihrerseits der eigenen Entwurzelung entgegenzuwirken versucht: »Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.«15

Damit ist eine Rationalisierung und Funktionalisierung von Zwischenmenschlichkeit durch das Adaptieren wirtschaftlicher Logiken verbunden. Die Etablierung der Arbeitsteilung führt zu der »Notwendigkeit, die Leistung zu spezialisieren, um eine noch nicht ausgeschöpfte Erwerbsquelle, eine nicht leicht ersetzbare Funktion zu finden […].« Diese »drängt auf Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse des Publikums, die ersichtlich zu wachsenden personalen Verschiedenheiten innerhalb dieses Publikums führen müssen.«16 Die daraus erwachsende Denkweise überträgt sich auf den zwischenmenschlichen Kontakt und zeigt den Effekt, dass die Begegnungen unter Fremden ebenfalls pointiert und flüchtig ablaufen. 11 Siebel merkt einschränkend an, dass diese Form städtischen Verhaltens nicht voraussetzungslos funktioniert: »Simmels gelernter Großstädter setzt ökonomische und psychische Unabhängigkeit voraus. Wer auf die Hilfe anderer angewiesen ist, kann sich schlecht blasiert und gleichgültig ihnen gegenüber verhalten. [...] Die urbane Indifferenz als universeller Typus der Bewältigung der Verunsicherungen im öffentlichen Raum der Stadt ist nur unter der utopischen Annahme gleicher Teilhabe aller an den sozialen, politischen und ökonomischen Systemen der Gesellschaft denkbar.« (Siebel 2007, 85f.) 12 Zu genannten Tendenzen und urbanen Entwicklungen im 19. Jahrhundert mit Fokus auf Fragen bürgerlicher Selbstinszenierung vgl. weiterführend Marx 2008. 13 Simmel 1903, 195. 14 Simmel 1903, 188. 15 Simmel 1903, 193f. 16 Simmel 1903, 201f.

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Dadurch entwickelt sich ein verstärktes Bewusstsein des Einzelnen für ein Publikum seiner alltäglichen Äußerungsakte, womit eine gezielte Steuerung des eigenen Ausdrucks einhergeht. Zudem bringt der Prozess der Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert eine Dissoziation im Zwischenmenschlichen mit sich, wie Simmel es beschreibt: »Das 18. Jahrhundert fand das Individuum in vergewaltigenden, sinnlos gewordenen Bindungen politischer und agrarischer, zünftiger und religiöser Art vor – Beengungen, die dem Menschen gleichsam eine unnatürliche Form und längst ungerechte Ungleichheiten aufzwangen. In dieser Lage entstand der Ruf nach Freiheit und Gleichheit – der Glaube an die volle Bewegungsfreiheit des Individuums in allen sozialen und geistigen Verhältnissen, die sogleich in allen den gemeinsamen edlen Kern würde hervortreten lassen, wie die Natur ihn in jeden gelegt und Gesellschaft und Geschichte ihn nur verbildet hätten. Neben diesem Ideal des Liberalismus wuchs im 19. Jahrhundert, durch Goethe und die Romantik einerseits, die wirtschaftliche Arbeitsteilung andererseits, das weitere auf: die von den historischen Bindungen befreiten Individuen wollen sich nun auch voneinander unterscheiden.«17

Neben den negativen Effekten, die die genannte Entwicklung mit sich bringt, bewirken diese städtischen Tendenzen nach Simmel auch einen Freiheitszuwachs, der die Bewegungs- und Wahlfreiheit des Einzelnen gegenüber dörflichen oder kleinstädtischen Umgebungen deutlich steigert und die soziale Kontrolle herabsetzt. Daran entfaltet sich eine ausgeprägte städtische Ambivalenz, die die Vor- und Nachteile von Anonymität zum Tragen bringt: »Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele.«18

Nach Richard Sennett, der sich rund siebzig Jahre nach Simmel ähnlichen Fragen widmet, lässt sich diese Entwicklung ebenfalls maßgeblich auf Veränderungen im viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts zurückführen. Dabei handelt es sich – wie bereits im einführenden Kapitel ausgeführt – um eine Zeit, in der seiner Beschreibung nach ein Rückzug ins Private seinen Anfang nimmt: »Der Wille, die öffentliche Ordnung zu kontrollieren und zu formen, geriet nach und nach in Verfall, 17 Simmel 1903, 204f. 18 Simmel 1903, 199.

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und die Menschen suchten sich zunehmend vor ihr zu schützen.«19 Dieser Einschätzung ist die damals etablierende Auffassung eingeschrieben, dass jegliche Form des Gebärdens Aufschluss über den Charakter eines Menschen geben könne, was in der Folge weniger zu einem bloßen räumlichen Rückzug in den Wohnraum, sondern, und vor allem, zu einem inneren Rückzug aus dem Gefühl zum Selbstschutz vor öffentlichem Zugriff führte. So beschreibt Sennett komplementär zu genannter Distanznahme im städtischen Leben eine zunehmende Hinwendung zum eigenen Selbst und der eigenen Psyche, die eine »intime Sichtweise der Gesellschaft«20 hervorbringt, was in seiner Auffassung auf Kosten des städtisch-öffentlichen Miteinanders geht und eine Entpolitisierung zur Folge hat: »Der Intimitätskult wird in dem Maße gefördert, wie die öffentliche Sphäre aufgegeben wird und leer zurückbleibt.«21 Dies erklärt Sennett sich mit dem trügerischen Übertrag eines Intimitätsanspruchs auf den Bereich des Öffentlichen: »Mit ›Intimität‹ verbindet man Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zu offenem Ausdruck von Gefühlen. Aber gerade weil wir dahin gekommen sind, diese psychologischen Wohltaten in all unseren Erfahrungsbereichen zu erwarten, und weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens, der sehr wohl von Bedeutung ist, diese psychologischen Gratifikationen nicht zu bieten vermag, kommt es uns so vor, als lasse uns die Außenwelt, die ›objektive‹ Welt, im Stich; sie wirkt dann schal und leer.«22

Dieses Verhalten lässt durchblicken, dass der eigene Ausdruck nicht mehr als ein gänzlich dem bewussten Willen unterlegener angesehen wurde, womit eine gesteigerte Durchschaubarkeit und Transparenz gegenüber Blicken von außen wahrgenommen wurde.23 Die daraus resultierenden abständigen Verhaltensweisen in Passagenräumen dienen dazu, dass »Fremde auf überfüllten Straßen einander beruhigen und gleichzeitig in Ruhe lassen: Man senkt die Augen, um dem Fremden zu signalisieren, daß man nichts Böses vorhat; man vollführt das Fußgängerballett des Einander-aus-dem-Weg-Gehens, damit jeder eine Bahn hat,

19 Sennett 2008 [1977], 51 sowie zu seiner These des langsamen Verfalls zudem 43ff. 20 Sennett 2008 [1977], 24. 21 Sennett 2008 [1977], 37. 22 Sennett 2008 [1977], 24f. 23 Damit einher geht die Vorstellung (die im Darwinismus weiterentwickelt wurde), dass der öffentliche Ausdruck nicht mehr allein vom Willen abhängt (vgl. Sennett 2008 [1977], 60).

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auf der er frei ausschreiten kann; wenn man einen Fremden ansprechen muß, beginnt man mit einer Entschuldigung usw.«24

Der hier beschriebene Wandel manifestiert sich zudem in der Auffassung – so Sennett weiter –, dass man mit Fremden nicht spreche, wodurch das »öffentliche Leben zu einer Sache des Beobachtens, der passiven Teilnahme, zu einer Art von Voyeurismus [wurde].«25 Darin sieht Sennett eine der zentralen Wurzeln der heutigen Gleichzeitigkeit von Transparenz und Abschottung: »Das Paradoxon von Sichtbarkeit und Isolation, das uns am öffentlichen Leben von heute immer wieder auffällt, hat seinen Ursprung im Recht auf Schweigen, das im letzten Jahrhundert Gestalt annahm.«26 Eine zentrale Unterscheidung trifft der Soziologe im Anschluss daran zwischen einer Form entfremdeter, jeglichen Kontakt verhindernder Distanz als Folge des Intimitätskults, und einer produktiven Form der Distanz als Gegenbegriff zu Distanzlosigkeit: »Um sich gesellig zu fühlen, bedürfen die Menschen einer gewissen Distanz zu anderen. Wird der intime Kontakt gesteigert, so geht die Geselligkeit zurück.«27 Im 20. Jahrhundert zeigt sich eine Zuspitzung dieser Tendenz, die aus einer verbreiteten Verleugnung der Notwendigkeit von Grenzen im Allgemeinen resultiert, wie sie beispielsweise in der Entgrenzung der Mobilität und der Kommunikationstechnologie sichtbar wird.28 Sennett sieht in diesem undifferenzierten Grenzabbau jedoch eine Quelle gesteigerter Passivität und fehlender Auseinandersetzung, ein Zustand, der seiner Ansicht nach nur dadurch zu überwinden ist, wenn es den »Menschen gelingt, dem, was sie äußern, Grenzen zu ziehen. Wir leugnen, daß unsere Bewegungsmöglichkeiten in der Stadt irgendwie beschränkt sein dürften, erfinden die entsprechenden Verkehrsmittel und sind am Ende überrascht, daß daraus ein katastrophales Absterben des Stadtorganismus resultiert.«29 Auch für die Analyse heutiger alltagspraktischer und sozio-kultureller Zusammenhänge ist die Suche nach produktiven Formen der Grenzziehung entscheidend. Inwiefern ein performativer Entwurf, wie der von Mariano Pensotti, im Zuge alltäglicher Passagen diese Frage virulent werden lässt und wie diese in Wechselwirkung mit Formen der Vereinzelung und Vergemeinschaftung tritt, gilt es im Folgenden zu eruieren. Dabei soll der Versuch unternommen werden, die genannten Ansätze des frühen 20. Jahrhunderts, die sich vornehmlich auf Phänomene der Moderne beziehen, für das 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen, ohne über die maßgeblichen Abweichungen 24 Sennett 2008 [1977], 519. 25 Sennett 2008 [1977], 64. 26 Sennett 2008 [1977], 64. 27 Sennett 2008 [1977], 42. 28 Vgl. Kapitel II. 29 Sennett 2008 [1977], 458.

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und Brüche, durch welche die Postmoderne gekennzeichnet ist, hinwegzutäuschen. Auch auf theoretischer Ebene ist somit ein behutsamer Schwellengang zwischen Abgrenzungen und Kontinuitäten vorzunehmen. Die Hülle als Schutzmantel und Isolationsmoment In einem solchen Brückenschlag versucht sich Lars Frers und greift aus Sicht des frühen 21. Jahrhunderts das Konzept ostentativen öffentlichen Rückzugs sowie die Frage nach Grenzen im städtischen Raum auf. Darauf aufbauend entwickelt er aus phänomenologischer Warte heraus die Idee der Hülle, die sich als Grundlage für die vorliegende Fallbeispielanalyse zu Sometimes I think I can see you als dienlich erweist.30 Mit diesem Begriff bezeichnet Frers sowohl die den Menschen umhüllenden Einflüsse, als auch die Schutzhülle, die der Mensch selbst errichtet, um sich in Räumen wie Bahnhöfen vor direkten Einflussnahmen von außen abzugrenzen.31 Das Einhüllen ist nach Frers ein Prozess des Ordnens und Differenzierens, der bei Betreten eines Raumes als »sozial-räumlich-materielle Konstellation«32 abläuft. Dieser Vorgang ist prozesshaft und wird situativ hergestellt, was das Konzept in die Nähe performativer Entwürfe rückt und zugleich das Passagere als Idee in sich trägt: »Die Prozesshaftigkeit der Einhüllung erstreckt sich […] über die Begegnung mit einem einzelnen Ort hinaus – der Prozess der Einhüllung umfasst die Passage durch verschiedene Orte und damit auch die Passage durch verschiedene Hüllen.«33 Dabei bestimmt der Grad des Einhüllens und somit gewissermaßen des immateriellen Verbergens im Sinne Frers auch die »Reichweite des Wahrnehmens und damit auch die Reichweite des Handelns.«34 Passanten beispielsweise, die telefonierend einen Passagenraum wie einen Bahnhof betreten, »haben ihrer Umgebung bereits vor dem Betreten des Empfangsgebäudes wenig Aufmerksamkeit gezollt, und so bleibt es auch. Die Hülle bleibt solange erhalten, wie sie ihr Gespräch führen. Vielleicht gehen sie im Empfangsgebäude langsamer, weil sie Schwierigkeiten haben, sich durch ihre dichte Hülle hindurch im Verkehr der Menschen zu orientieren, oder sie sen-

30 Frers referiert in seinen Ausführungen auf Simmel 1903, 185-206 sowie Goffman 1963. 31 »Die Hülle wird also weder von der Umgebung noch von den Menschen allein produziert. Beide bringen sie zusammen hervor und sie ist zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Dazwischen sein bedeutet hier aber nicht von beiden, von Menschen und Umgebung, getrennt zu sein. Es bedeutet vielmehr, in beides hineinzuragen, zu beidem zu gehören.« (Frers 2007, 55.) 32 Frers 2007, 54. 33 Frers 2007, 66. 34 Frers 2007, 82.

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ken die Lautstärke ihrer Stimme, weil sie in der abendlichen Leere der Empfangshalle sonst nur den Hall ihrer eigenen Stimme hören.«35

Je nach Aufmerksamkeitsausrichtung können nach Frers alte Hüllen in neue Umgebungen mitgenommen werden, wie bei dem genannten Beispiel des Telefonierenden, der einen Bahnhof betritt. Der Übergang von einer Hülle zur anderen kann, je nach Situation, in einem langsamen Prozess oder einem abrupten Wechsel vor sich gehen, wobei die Durchlässigkeit der Hülle bei schnellem Übergang von einer zur anderen steigt.36 Für diesen Vorgang verwendet der Autor den Begriff der Passage: »Das alltägliche sich von Ort zu Ort Bewegen kann auch als Passage durch verschiedene Hüllen begriffen werden. Sie legen sich übereinander, lösen sich innerhalb von wenigen Augenblicken auf, erodieren allmählich oder verfestigen sich über längere Zeit.«37 Bezogen auf die direkte Interaktion in Passagenräumen erweist sich die Hülle als ein Mittel, trotz gesteigerten Personenaufkommens und ständiger Begegnung einen Rückzugsraum zu etablieren, ein Ansatz, der den von Simmel und Sennett geschilderten Strategien im Umgang mit äußeren Reizen ähnlich ist: »Das unterschiedliche Tempo von Menschen im Bahnhof produziert Situationen, in denen es zu körperlichen Kontakten oder Kollisionen mit Anderen kommen kann. Die Art und Weise, wie solche Kontakte gemieden werden […] zeigt deutlich, dass solche Kontakte meist nicht erwünscht sind.«38 Die Hülle besteht somit aus einem weitgehenden Vermeiden direkten Körper- oder Augenkontakts und dem Reduzieren der Kommunikation auf unpersönliche und unverbindliche Inhalte. Dies lässt sich mit der Beobachtung verbinden, dass Passanten des städtischen Raums zunehmend in privater Isolation unterwegs sind, indem sie mit Kopfhörern – sei es Musik hörend oder telefonierend – oder mit der Nutzung von Smartphones ihre Umgebung in gewissem Grade abschirmen und sich ihren eigenen kommunikativen Rückzugsraum im Sinne einer medialen Hülle kreieren, wodurch ein hoher Grad an Verbergen bei gleichzeitiger Durchlässigkeit räumlicher Umgebung zustande kommt. Da sich Hüllen folglich dynamisch gestalten, lässt sich mit ihrer Hilfe der Grad an Kontakt dosieren: »Hektik und Geschwindigkeit müssen nicht unbedingt gemieden werden, ich kann sie auch zum Gegenstand meines Wahrnehmungshandelns machen, meine Hülle so gestalten, dass ich durch die dynamische Anordnung der Menschen hindurchstreife oder -dränge, meine Wege

35 Frers 2007, 78. 36 Vgl. Frers 2007, 77f. 37 Frers 2007, 80. 38 Frers 2007, 138.

292 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT optimiere, genervt ausweiche, beschleunige und, wann immer es geht, mit schnellen Schritten an anderen vorbei mein Ziel ansteuere.«39

Kommt man auf das Fallbeispiel Sometimes I think I can see you zurück, zeigt sich, dass hier explizit damit gespielt wird, inwieweit der Grad an Öffentlichkeit mit der eigenen Aufmerksamkeit sowie der Aufmerksamkeitslenkung anderer Anwesenden zusammenhängt. Denn der Moment des Exponierens, der hier theatral erzeugt wird, erfolgt maßgeblich dadurch, dass auf Sachverhalte, Handlungen oder Mitpassanten, die ohnehin und ohne theatrale Rahmung beobachtbar wären, explizit hingewiesen wird. Somit wird die bislang geteilte Aufmerksamkeit der Umstehenden gezielt auf eine Person oder eine Handlung fokussiert, wie sich an folgender Momentaufnahme zeigen lässt: »Eine frau mit weißem mantel. und rucksack. steht ganz still. ist ein bisschen skeptisch. also nicht generell. nur jetzt.«40 In weiten Teilen findet bei diesem Projekt folglich vor allem ein Rahmungsvorgang alltäglicher Abläufe statt, mehr als dass etwas gezielt inszeniert würde, um es einem Publikum vorzuführen. Denn auch sonst ist man unablässig den Blicken und Gedanken der anderen ausgesetzt. Ist der hohe Grad an Sichtbarkeit in Passagenräumen den meisten Raumnutzern zwar bewusst und sind sich diese prinzipiell darüber im Klaren, unter Beobachtung zu stehen, erfährt man im Regelfall wenig über die dabei entstehenden Eindrücke und Gedanken. Ebenso selten kommuniziert man selbst die eigenen Wertungen, Zuschreibungen und Charakterisierungen der anderen Passanten und Reisenden nach außen. Bei Pensotti hingegen werden diese Eindrücke und Einschätzungen für einen selbst und die anderen Anwesenden zur Lesbarkeit und damit Sichtbarkeit gebracht: »Ein Mann in roter Jacke. Und mit Hut. Muss seinen Koffer abstellen. Er ist Musiker. Aber in letzter Zeit fehlt ihm der Drive. Er wird es solo versuchen. Aber keinen Erfolg haben.«41 Durch solcherlei Projektionen, im doppelten Sinne, wird wiederum eine Wechselwirkung hinsichtlich des eigenen Verhaltens erzeugt, wie an dieser Sequenz zu sehen ist: »Sie haben sich länger nicht gesehen. Acht Stunden schon nicht. Die Frau mit dem langen Schal und den gefütterten Stiefeln hat schlechte Laune. Jetzt wird sie besser. Sie lacht. Wie schön.«42 Ein übliches Verhaltensmuster bei alltäglicher Passagenraumnutzung ist es, je nach eigenem, situativen Bedarf an Kontaktaufnahme und Interaktion, den Blick nach innen zu richten, die Hülle gewissermaßen undurchlässiger oder wie eine se39 Frers 2007, 139. 40 Dieses Beispiel geht aus der Videodokumentation der Züricher Aufführung hervor: Vgl. hierfür https://www.youtube.com/watch?v=nWmU52nlgts (Stand: 8.10.2014). 41 https://www.youtube.com/watch?v=nWmU52nlgts (Stand: 8.10.2014). 42 Es handelt sich hierbei um eine Momentaufnahme aus der Berliner Ausgabe, dokumentiert unter: https://www.youtube.com/watch?v=TbSSZc8Vdt4#t=25 (Stand: 8.10.2014).

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mipermeable Membran einseitig durchlässig zu machen. Dies ist eine Strategie, um sich mittels seiner Wahrnehmung von den äußeren Vorgängen in unmittelbarer Umgebung abzuschirmen, ein Effekt, der durch Kopfhörer- oder SmartphoneNutzung unterstützt und verstärkt werden kann. Ist die eigene Person, jede Bewegung und jeder Blick jedoch durch die Projektionen im hier beschriebenen Beispiel im ostentativen Fokus aller Umstehenden, die ständig das Gelesene mit dem eigenen Eindruck abgleichen, ist ein solcher Rückzug und ein Verbergen vor der Aufmerksamkeit anderer erschwert. Damit zeigt sich – wie auch Simmel, Sennett und Frers es aus unterschiedlicher Warte heraus betonen – dass sich private Schutzräume in Passagenräumen nicht in unerheblichem Maße darüber manifestieren, dass die meisten Blicke der anderen an einem vorbeistreifen, passager und flüchtig wie die Bewegung, wodurch es möglich ist, sich zwar gesehen, aber nicht merklich be(ob)achtet zu fühlen.43 Steffen schreibt hierzu: Als »[…] moderne Stadtmenschen haben wir schon früh gelernt, der physischen Nähe anonymer Fremder zu begegnen, indem wir uns auf uns zurückziehen und sie, solange sie sich ebenfalls an diese Regelung halten, ignorieren. Dementsprechend können Fahrgäste und Fahrer während der Transitphase sowohl von der instrumentellen Ebene abstrahieren wie auch von der situationsspezifischen Intimität. Indem sie sich in ihren eigenen Innenraum, ihre Privatsphäre oder einen anderen Bereich als den aktuell sozial vorgegebenen zurückziehen, bestätigen sie sich vielmehr gegenseitig in ihrer Nicht-Existenz, so als wäre die andere Partei gar nicht präsent, eine ›Unperson‹.«44

Wurde dieser Aspekt der Isolation bei gleichzeitiger körperlicher Präsenz und Sichtbarkeit ebenso wie die wählbare Dosis des Kontakts mit Fremden auch bei den ausgeführten Ansätzen durchgehend als Charakteristikum des urbanen Raums – und besonders des Passagenraums – benannt, spricht auch Schroer davon, dass »die Unausweichlichkeit des Kontakts […] gerade nicht typisch für die Stadt, sondern für das Dorf«45 sei. Die theatrale Anordnung, die Pensotti bei Sometimes I think I can see you schafft, erzeugt hingegen inmitten einer solchen urbanen Umgebung Momente der Unausweichlichkeit. Denn der Unterschied im hier betrachteten performativen Zusammenhang ist, dass die Beobachtungen und Assoziationen nicht der alltäglichen Konvention entsprechend im Geheimen beziehungsweise diskret vollzogen, sondern offen zur Schau gestellt und zur allgemeinen Sichtbarkeit gebracht werden. Durch diese erhöhte Präsenz des Außenblicks sinkt die Möglichkeit diesen 43 Zur Unterscheidung von Sehen und Beobachten hinsichtlich des voyeuristischen Schauens vgl. Kapitel 13. 44 Steffen 1990, 202. Der Begriff der ›Unperson‹ lässt sich mit dem des ›Unorts‹ zusammendenken (vgl. hierzu Däumer/Gerok-Reiter/Kreuder 2010). 45 Schroer 2006, 245.

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selbst nicht wahrzunehmen, die Spiegelung der eigenen Handlungen in der Wahrnehmung der anderen aus dem eigenen Aufmerksamkeitsspektrum fernzuhalten. Die Flüchtigkeit passagerer Begegnung und fluider Aufmerksamkeitskonzentration wird bei Pensotti irritiert, indem Momentaufnahmen schriftlich festgehalten und für jeden lesbar gemacht werden. Sie erfahren eine Materialisierung im Raum, werden veröffentlicht und veräußerlicht, was zu einer veränderten Wahrnehmungsund Kommunikationssituation und Reaktionen wie Scham, Hohn, Mitgefühl, Entblößung oder Distanznahme führen kann. Dadurch findet in Rückbezug auf die Idee der Hülle bei Frers hier eine Form der Ent-Hüllung und zugleich der Festlegung statt, und tradierte Modi passagerer Selbst- und Fremdentwürfe werden in Frage gestellt. Es zeigt sich damit, dass Unausweichlichkeiten nicht nur räumlich-physischer Natur sein können, denn keiner der Anwesenden ist gezwungen, sich an dem ›Ort des Ausstellens‹ aufzuhalten. Im Gegenteil ist es gerade durch den Passagenraum besonders einfach, räumlich zu entrinnen. Die Unausweichlichkeit bezieht sich somit eher auf den Handlungsbereich, bei welchem für einen kurzen Moment die habitualisierten Schutzräume der Distanz in Räumen der Durchlässigkeit überschritten werden, erprobte Praktiken des Rückzugs und Verbergens nicht greifen und der Einzelne unvermittelt ›veröffentlicht‹ wird. Damit bestätigt sich, dass auch Blicke und Aussagen als Handlungen einzustufen sind und performative Kraft entfalten können. Mediale Einbindung Neben den Überlegungen zu Hüllen und Schutzräumen lässt sich Mariano Pensottis Sometimes I think I can see you auch als Querverweis zu virtuellen Passagenräumen und Formen zeitgenössischer medialer Selbstinszenierung und Kommunikation lesen, denn nicht »nur Straßen und Plätze, mehr und wirksamer noch funktionieren die Medien – Fernsehen, Illustrierte, Internet – längst als Bühne für die Schaustellung des Privaten und Intimen.«46 Um sich dieser Referenz zu nähern und die raumzeitliche Einbettung sowie die mediale Kommunikationsstruktur des Theaterereignisses zu eruieren, ist zunächst ein Blick auf den Grad an Sichtbarkeit des theatralen Rahmens beziehungsweise dessen medialer Einbindung aufschlussreich: Durch das unauffällige Einfügen der am Bahnsteig befindlichen Autoren in die umliegenden Abläufe sowie durch den unscheinbaren Aufbau, der ausschließlich aus Leinwänden besteht – welche an Bahnsteigen durch Anzeigetafeln, Werbescreens und sonstige Leuchtanzeigen kein grundsätzlich ungewohntes Bild bieten – vermischt sich das Projekt Sometimes I think I can see you mit dem alltäglichen Bahnhofsgeschehen. Damit heben sich Grundkonzept und Raumanordnung dieses Entwurfs maß46 Weiß 2008, 174.

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geblich von anderen Theaterprojekten an Bahnhöfen ab, die mit viel technischem Aufwand und großer Medienöffentlichkeit verbunden sind. Verdeutlichen lässt sich dies an dem Opernevent La Traviata im Hauptbahnhof, das in dieser Hinsicht ein Gegenbeispiel zu dem hier gewählten Projekt bietet. Die Oper, die zu den meistgespielten der Welt gehört, kam am September 2008 unter der Regie von Adrian Marthaler inmitten des alltäglichen Betriebs des Hauptbahnhofs Zürich – der bereits als Beispiel im Kontext des Bahnhofs als Bühne Erwähnung fand – in Form einer großen Live-Produktion des Schweizer Fernsehens (SF1) und Arte zur Aufführung. Die Zusammenführung dieses Opernstoffes mit einem Alltagsraum befragt die traditionelle Trennlinie zwischen Hoch- und Populärkultur, die Ausrichtung an einem Bahnhof bei gleichzeitiger Übertragung in die Wohnzimmer die Grenzen der Zugänglichkeit. Jedoch findet, anders als in Pensottis Arbeit, keine direkte Interaktion mit den Geschehnissen vor Ort statt, geschweige denn, dass die Aufführung mit einem Anspruch auf langfristige Einschreibung verbunden wäre, wie dies bei der Eichbaumoper47 der Fall ist. Wird zwar der gesamte Bahnhofsraum in all seinen Funktionsbereichen wie den Gleisen, den Bistros, dem Ticketschalter und dem Bahnhofsvorplatz genutzt, erfüllt dieser bei La Traviata vornehmlich Kulissenfunktion und unterstützt den Eventcharakter. Neben den Geschehnissen vor Ort – wie die großen Abschiedsszenen am Bahnsteig oder betriebsame Zusammenkünfte des Opernchores vor dem Bahnhofsbistro – wird die Oper in Form eines Fernseh-Live-Ereignisses in die Wohnzimmer transportiert. Der Bahnhof wird dabei als Raum tradierter Öffentlichkeitskonstitution genutzt, um in Räume tradierter Privatheit die Live-Übertragung eines Opernereignisses auszustrahlen. Durch das im Vorhinein groß angekündigte und weitreichend beworbene Event, das zudem eine lange Vorbereitungszeit vor Ort hatte, sind viele der Anwesenden gezielt für die Aufführung angereist. Neben jenen, die einen kurzen Ausschnitt zwischen zwei Zügen erhaschen, gibt es somit viele Passanten, die planmäßig auf die Aufführung treffen. So fügt sich das theatrale Ereignis nicht – wie bei Pensotti – in das Alltagsgeschehen des Bahnhofsraums ein, sondern weist einen hohen Grad an demonstrativer Hervorgehobenheit auf. Da die Aufführung vorrangig auf die Anforderungen einer Fernsehinszenierung ausgerichtet ist, können vor Ort durch den Einzelnen stets nur Ausschnitte des Geschehens wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass an unterschiedlichen Stationen des Bahnhofs gleichzeitig gespielt wird und die Menschentrauben immer einen Teil der Szenerie verdecken, den die Kameras hingegen in Gänze und aus nächster Nähe einfangen können. Daran zeigt sich, dass sich die visuellen wie auch akustischen Logenplätze, wie bereits in der Werbekampagne zu lesen und hören ist, vor dem heimischen

47 Vgl. Kapitel 6.

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Fernseher befinden.48 Somit bleibt den Reisenden und Passanten das Gesamtgeschehen eher verschlossen, wiewohl sie vor Ort inkludiert sind; die Zuschauer am Fernseher erhalten den Überblick, befinden sich hingegen nicht im Bewegungsgefüge. Einige der Anwesenden wählen daraufhin eine doppelte Perspektive und verfolgen die Aufführung zugleich kopräsent vor Ort und in der Live-Übertragung auf dem Smartphone. Darin zeigt sich paradigmatisch die zeitgenössische Tendenz zur Simultaneität disparater Abläufe. Werden bei Pensotti ausschließlich die Passanten vor Ort adressiert, rückt auch mit Sometimes I think I can see you das Moment der Gleichzeitigkeit von Ereignissen und deren medialer Weiterverwertung in verstärktem Maße in den Mittelpunkt, dies jedoch in gänzlicher anderer Ausrichtung. Pensotti wählt hierbei einen Ansatz, bei welchem er verschiedene virtuelle Praktiken des Veröffentlichens, Teilens und Mitteilens aktueller Situationen, Vermutungen und Eindrücke zitiert und modifiziert zur Anwendung bringt, ohne die eingeübten Handlungsmuster dabei zu bedienen. Ein Beispiel für eine solche Referenz bietet das Teilen persönlicher Ereignisse mit einer anonymen Masse und das Teilhaben durch mediale Vervielfältigung und simultane Übertragung, das mithilfe sozialer Netzwerke, Blogs und Twitter ermöglicht wird und durch die Verbreitung von Smartphones im Passagenraum Einzug hielt. Durch diese Verschiebung der Medienpraxis werden in einem gezielten Vorgang des Exponierens Fremde durch mediale Ostentation Teil der persönlichen Lebens- und Wahrnehmungswelt: »Diese Blöße, der von den Förmlichkeiten von Rollen und Konventionen entblößte Ausdruck der Individualität, rückt den Betrachter in eine intime Nähe zum Subjekt. War diese Nähe früher ausschließlich wenigen Vertrauten vorbehalten, so wird sie nun augenscheinlich auch und gerade zu Fremden gesucht.«49 Ein ähnlicher Vorgang ist auch bei der Praktik des Twitterns zu beobachten, die darauf baut, Situationen im Moment des Erlebens medial durchlässig zu machen und somit eine Konstellation zu erzeugen, bei welcher in gegenseitigem Einvernehmen Alltags-Voyeurismus und -Exhibitionismus in Echtzeit zusammentreffen. Dabei wird häufig eine Form des ›Stream of Conciousness‹50 behauptet, der 48 »Die dreistündige Oper stiess nicht nur am Ort des Geschehens selber auf grosses Interesse, sondern generierte auch eindrückliche Zuschauerzahlen: Durchschnittlich 577.000 Personen sahen sich die Live-Übertragung zu Hause am Bildschirm an. Dies entspricht einem Marktanteil von 34,4 Prozent.« (http://www.sendungen.sf.tv/aida-am-rhein/ Nachrichten/Archiv/2011/03/03/Archiv/La-Traviata-Uebersicht, Stand: 13.11.2012.) 49 Weiß 2008, 174. 50 Ein ›Stream of Conciousness‹ benennt ein literarisches Verfahren, das maßgeblich von Leo Tolstoi, James Joyce oder Virginia Woolf geprägt wurde. Damit wird eine Schreibtechnik beschrieben, bei welcher scheinbar ungefiltert persönliche Gedanken und Gefühle in Textform gefasst werden, ohne eine formale Überhöhung oder Selektion vorzunehmen (vgl. Humphrey 1954).

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aber von einem gelenkten Inszenierungsvorgang überformt ist und stets mit der Außenwirkung abgeglichen wird. Diese medialen Alltagspraktiken medialer Verständigung und Veröffentlichung werden bei Pensotti insofern aufgegriffen, als gewissermaßen die Vorgänge der vielen kleinen, individuell genutzten Bildschirme auf Großleinwand übertragen werden.51 Neben dieser formalen Anlehnung erfolgt der Übertrag auch bezüglich der dramaturgischen Form: Liegt der Oper La Traviata im Hauptbahnhof eine durchgehende Handlung sowie eine musikalisch-szenische Dramaturgie zugrunde, die sich über drei Stunden erstreckt, ist Pensottis Anordnung in Sometimes I think I can see you momentbasiert und fragmentarisch, wie Tweets, Posts oder Chats. So baut die Performance auf das Prinzip der Flüchtigkeit auf und lebt davon, dass Reisende ein- und aussteigen, sich kurze Zeit den Texten widmen, sich beobachtet fühlen, selbst beobachten und anschließend ihren Weg wieder aufnehmen. Diese Prozesshaftigkeit setzt sich im Vorgang der Textproduktion fort, der durch die kurzen Situationsschilderungen der Autoren eine große Nähe zu den genannten zeitgenössischen Kommunikationsmitteln aufweist. Im Gegensatz jedoch zu den medialen Praktiken, die zwar beispielsweise in U-Bahnstationen in Anwesenheit anderer ausgeführt werden, ohne dass dabei aber die virtuellen Ansprechpartner und Beobachter vor Ort wären, erzeugt die performative Anordnung bei Pensotti einen Moment der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption an ein und demselben Ort. Damit entfällt die virtuelle Distanz, sodass ein direkter Abgleich zwischen Erzählung und eigenem Eindruck, zwischen Behauptung und körperlicher Präsenz vorgenommen werden kann. Neben den genannten Plattformen kann darin auch eine kopräsente Ausprägung des Live-Tickers gesehen werden, der üblicherweise dazu dient, Großereignisse zu übertragen, um diejenigen, die nicht vor Ort sein können, unmittelbar-mittelbar teilhaben zu lassen. Bei der Form des Tickers, wie ihn die Autoren auf dem Bahnsteig erzeugen, sind die Rezipienten hingegen selbst anwesend und überdies gar Protagonisten des berichteten (Alltags-)Ereignisses. Damit wird die gängige Praxis kommentiert, scheinbar banale Alltagsgeschehnisse durch Weitergabe und Bericht mit Ereignischarakter zu belegen. Zugleich wird auf diese Weise erfahrbar, dass Vorgänge ostentativen Exponierens, die in medialen Kontexten häufig unhinterfragt vorgenommen werden, bei Übertragung in einen Raum geteilter Anwesenheit den Wunsch nach Verbergen hervorrufen können. Hinzu kommt, dass das Gesehene und Erlebte zwar an Kommunikationskonstellationen wie die sozialer Netzwerke erinnert, dabei jedoch die gewohnten Formen der Teilhabe und des Ausweichens nicht zur Verfügung ste51 Bei Theater in Passagenräumen des Alltags zeigt sich auch eine Verschiebung bezüglich der Dokumentation und Verbreitung von Theaterereignissen, da durch die räumliche Durchlässigkeit zahlreiche Aufnahmen per Smartphone entstehen, die anschließend im Internet verfügbar gemacht werden.

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hen, womit sich der Bogen zu oben angesprochener Unausweichlichkeit schlagen lässt. Denn anders als im Internet gibt es hier weder die Option, wie in einem Chat direkt zu antworten, noch wie in einem Forum unter einem ›Nickname‹ zu erscheinen, sodass die Äußerungen nicht direkt mit der eigenen Person in Bezug gesetzt werden können. Ebenso wenig besteht hier die Möglichkeit, sein Gefallen und Missfallen wie in sozialen Netzwerken auszudrücken, ohne dabei unmittelbar sichtbar in Erscheinung zu treten, oder aber die Situation durch das Betätigen einer Taste zu beenden. Um innerhalb der theatralen Situation zu reagieren, muss die mediale Ebene verlassen werden und eine direkte Interaktion, ein Live-Kommentar, zustande kommen, womit eine andere Tragweite an eigener Aktivität sowie an Konsequenz verbunden ist. Unabhängig davon, für welche Reaktion sich der Einzelne entscheidet, schafft das Theaterereignis somit einen passageren Moment, in welchem der durch Handlung hervorgebrachte Rückzugsraum und die habituellen Verhüllungsmethoden innerhalb eines Passagenraums temporär durchbrochen werden. Die Fiktionalität temporärer Selbst- und Fremdentwürfe in Passagenräumen Das Wechselspiel aus Verbergen und Ostentation setzt sich in der Frage nach passagenraumspezifischen Möglichkeiten des Selbstentwurfes fort: Denn die flüchtigen Begegnungen – sei es an Bahnhöfen oder in virtuellen Passagenräumen – bringen nicht nur die Möglichkeit der Anonymität und des Rückzugs mit sich, sondern bieten auch dezidiert Raum für gezielte Selbstinszenierung. Je nach Zielsetzung kann man sich inmitten des Passagenraums zurückziehen, oder sich gezielt präsentieren, sich vor den Augen anderer neu entwerfen und beispielsweise mittels Verhalten oder Kleidung unterschiedliche Versionen seiner selbst nach außen präsentieren – einen Vorgang, den auch Siebel als städtisches Charakteristikum benennt: »Gerade das, was die konservative Kritik an der Großstadt kritisiert, ihre Anonymität, ist die Voraussetzung für die Hoffnungen, die sich mit der Stadt verbinden: dass einen dort niemand kennt, weshalb man hoffen kann, mit dem Umzug in eine fremde Stadt oder auch nur mit dem Wechsel in einen anderen Stadtteil sein Leben neu beginnen zu können, eben weil man dort auf niemanden trifft, der einen auf die alte Identität verpflichten könnte. In jedem neuen Kontakt kann man versuchen, sich selbst neu zu definieren. Und man kann selber darüber entscheiden, welchen Ausschnitt der eigenen Persönlichkeit man mitteilen will und was man lieber vor dem anderen verborgen hält.«52

52 Siebel 2007, 78; vgl. hierzu weiterführend Goffman 1969 sowie in Bezug auf das 19. Jahrhundert vgl. Marx 2008 und Veblen 2001 [1899].

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Mit ähnlichen Fragen befasst sich auch Prost und beschreibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem – im Gegensatz zur dörflichen Umgebung weitgehend anonymisierten – Betreten des Stadtraums und einem Moment gelenkter Ostentation: »Wer aus dem Haus geht, exponiert sich also. Die Konvention bestimmt insbesondere die Art und Weise, wie man sich den anderen präsentiert. Den transitorischen Raum erfüllt eine gewisse ›Theatralik‹, er erheischt die Selbstdarstellung.«53 Damit wird die Auffassung weiter gestützt, dass städtische Passagenräume durch eine spezifische Gleichzeitigkeit von Sehen und Gesehen-Werden sowie gezieltem Nicht-Beachten und Nicht-Beachtet-Werden geprägt sind. In Pensottis Inszenierung lässt sich gegenüber diesen habitualisierten Verhaltens- und Darstellungsmodi eine Verschiebung beobachten, da hier Zur-SchauStellung durch Zur-Schau-Gestellt-Werden mittels öffentlich sichtbarer Beschreibung einzelner Passanten abgelöst wird. Diese nutzen somit nicht intentional die ›Bahnhofsbühne‹ für einen Auftritt, sondern werden fremdbestimmt exponiert. Damit verbunden ist die Einsicht begrenzter Kontrolle bezüglich des Eindrucks, den man selbst hinterlässt, und der eingeschränkten Möglichkeit in Passagenräumen, diese Eindrücke zu dementieren. Das gilt nicht nur, weil die Begegnung zu flüchtig ist, sondern auch aufgrund des fehlenden Abgleichs von Intentionen und Eindrücken, da keine konzentrierten Versammlungsmomente entstehen. Bei Pensotti kann jedoch die gebotene ›Bühne‹ auch genutzt werden, indem man versucht, sich so zu positionieren beziehungsweise so zu agieren, dass man Gegenstand der Beschreibungen auf der Leinwand wird, um so den ›Verlauf der Geschichte‹ mitzubestimmen. Damit werden Passagenräume und passagere Eindrücke zwar als nicht letztlich kontrollierbar, aber als mitgestaltbar ausgewiesen und der Vorgang der Selbstdarstellung im Sinne Goffmans zum momenthaften, relationalen und temporären Aushandlungsprozess.54 Letztlich bleibt jedoch stets eine Diskrepanz zwischen eigenem Verhalten, Selbstbild und äußeren Wertungsmustern, Assoziationen und (Vor-)Urteilen, eine Ebene, die durch die Autoren als Sprachrohr möglicher Situationseinschätzungen zur Sichtbarkeit gelangt: »Like surveillance cameras recording anonymous individuals’ every movement in the station, each writer transforms the spontaneous progress through a public space into narratives conveying what is going on – or might be going on – inside people’s heads in parallel with the bustling life of the station.«55 Die durch das Überschreiten höflich-konventioneller Distanz offerierten, scheinbaren Einblicke in das eigene Innere und das der Mitpassanten kann auf den ersten Blick gedeutet werden als ein Versuch, »die Anonymität und Indifferenz des Großstadtlebens zugunsten der Vorstellung einer Gemeinschaft der Fremden aufzu53 Prost 1993, 114. 54 Vgl. Goffman 1963 und 1977. 55 http://marianopensotti.com/avecescreoeng.html, Stand 14.8.2014.

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lösen, die die höfliche Gleichgültigkeit (Goffman) des Städters, die von Distanz und Toleranz geprägt ist, in eine Haltung der Zuwendung und des Mitgefühls [zu überführen].«56 Auf den zweiten Blick wird jedoch zugleich auf die Fiktionalität von Zuschreibungsmustern hingewiesen, da die projizierten Texte auf den Bildschirmen ebenso wie die Gedanken der Betrachter in Unkenntnis des Gegenübers lediglich Projektionen und Erfindungen eigener Vorstellungswelten sein können: »A film in words or a public blog relating what happens or could happen in the minds of passers-by and spectators parallel to the activities at the station. The audience and random passersby become part of the stories and thus turn into persons who are invented at this precise moment.«57 Das alltägliche Erfinden des anderen, die Konstruktion umliegender Identitäten und die Vervollständigung einzelner Eindrucksfragmente zu einem assoziativen Ganzen werden hier thematisch, indem unverhohlen fiktive Identitätskonstruktionen durch Autoren vorgenommen werden, wodurch die Konstruktionsprinzipien tradierter Zuschreibungsmuster transparent gemacht werden. Diese erfolgen in Form eines ständigen Klassifizierungsverfahrens, das Barthes als Anwendung eines »Bildrepertoires«58 beschreibt. Der Fiktionsanteil dieses Repertoires ist in Passagenräumen besonders hoch, da hier die eigene Einschätzung auf eine sehr rasch erworbene und wenig fundierte Informationsmenge zurückgreift. Verbildlichen lässt sich dies anhand einer Situation, in welcher ein Mann am Bahnsteig auf die nächste Bahn wartet, während auf der gegenüberliegenden Leinwand zu lesen ist: »der mann sitzt auf dem streukasten und ist auf dem weg zu seinem chef. er ist architekt. er will seinen Chef erpressen. er hat fotos von ihm gemacht.«59 Über die reale Interaktion zwischen Passanten und Reisenden hinaus kommt somit der Bahnhof in seiner Funktion als Projektionsfläche persönlicher und gesellschaftlicher Vorstellungen zum Tragen. Darüber hinaus kann eine performati56 Schroer 2006, 245 [Hervorhebung im Original]. 57 http://www.heimspiel2011.de/en/sometimes_i_think_i_can_see_you.html, Stand: 21.7. 2015. 58 Sennett schlägt einen Bogen von Barthes über Lynch bis Goffman, die sich jeweils mit dem Begriff befassen (vgl. Sennett 1995, 450ff): Barthes spricht von einem »Bildrepertoire« (vgl. Barthes 1984), das bei der Begegnung Fremder in Einsatz kommt und der Klassifikation dient. Kevin Lynch überträgt diese Idee auf städtische Bewegung, beispielsweise mit dem Auto, unter deren Voraussetzung eine noch schnellere Klassifizierung des Gesehenen erfolgen muss (vgl. Lynch 1965). Daran schließt sich die Beobachtung Goffmans an, dass diese erste Klassifizierung in vielen Situationen handlungsleitend ist und daraus häufig die Vermeidung direkten Kontakts resultiert, um somit eine Irritation der Bezugsrahmen und Wertungsmuster zu vermeiden (vgl. Goffman 1971). 59 Vgl. hierzu die Videodokumentation zur Produktion unter https://www.youtube.com/watch? v=cviLt1uEOT0 (Stand: 8.10.2014).

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ve Intervention dieser Art zu einem kurzen Moment des Träumens jenseits zweckmäßiger Passage oder individueller Distanznahme gegenüber der Umgebung anregen und somit Imaginationsräume eröffnen, die sich – wie Wucherpfennig es beschreibt – besonders in Räumen wie Bahnhöfen kristallisieren: »Ebenso wie die Eisenbahn und der Bahnhof wie Inszenierungen erscheinen mögen, die von Menschheitsträumen erzählen, so sind auch in die Bahnhofsgeschichte(n) – rückblickende wie vorausschauende Menschheitsträume eingeschrieben.«60 Sind Träume und Vorstellungswelten eigentlich ein Inbegriff von etwas privat Zurückgezogenem und Verborgenem, kommen hier Spuren überindividueller Vorstellungsmuster, Bilder und Passagenträume zum Vorschein. Dennoch bleibt letztlich immer eine Kluft gegenüber den umstehenden Passanten, da auch bei öffentlicher Projektion von Projektionen, gedankliche Passagen niemals gänzlich (mit-)teilbare Vorgänge sind. Erfolgte im vorangegangenen Fallbeispiel Shopping Center ein Spiel mit Überwachungsmaßnahmen in Passagenräumen und den graduellen Abstufungen subversiven Verhaltens in Räumen konsumorientierter Zweckmäßigkeit, rücken mit Sometimes I think I can see you vornehmlich Überlegungen zu zwischenmenschlicher Beobachtung, Kontrolle und Distanz in den Fokus. Dabei zeigt sich, dass der Grad des Öffentlichen und Privaten jenseits institutioneller Setzungen und Limitierungen maßgeblich über Verhaltensmuster und tradierte Persönlichkeitsgrenzen bestimmt wird. Durch performative Überschreitung des eingeübten Diskretionskodex findet hier ein Vorgang der Enthüllung und Entblößung statt, der die etablierten Rückzugsräume der Reserviertheit und die Möglichkeiten medialen Ausweichens kurzzeitig in Momente theatraler Unausweichlichkeit überführt, obgleich es sich räumlich weiterhin um eine durchlässige Umgebung handelt. Im nächsten und letzten Beispiel wiederum verschieben sich die Koordinaten des Öffentlichen und Privaten erneut: Mit Wohnräumen in performativer Praxis rückt ein Raumtypus in den Fokus, der auf den ersten Blick als Inbegriff räumlicher Abgeschlossenheit und als prädestinierter Raum des Verbergens erscheint. Werden wie im folgenden Beispiel Wohnungen hingegen zu performativen Passagenräumen, gilt es die Frage nach deren Privatheitsgrad neu zu stellen.

60 Wucherpfennig 2006, 75.

13 Performative Erprobung wohnräumlicher Durchlässigkeit – Matthias Lilienthals X Wohnungen

Es klingelt. Die Tür wird geöffnet und zwei Besucher betreten ein Mehrfamilienhaus im Mannheimer Stadtbezirk Neckarwest. Eine moldawische Frau erzählt von ihren Erlebnissen in Deutschland, ihre Kinder führen Kunststücke vor. Nach zehn Minuten verlassen die beiden Besucher die Wohnung bereits wieder und kommen nach einem kurzen Weg, der auf einem zu Beginn ausgehändigten Zettel beschrieben steht, bei der nächsten Wohnung an, wo auf einem Dachboden einige Filmsequenzen zu sehen sind. Auf ihrem weiteren Weg werden die Teilnehmer zu Gästen eines kleinen Wohnzimmer-Radiostudios, in welchem sie der Mannheimer DJ Hans Nieswandt mit der Frage: »Was ist das Richtige?« empfängt. Ihre Antworten gehen live auf Sendung. In einem weiteren Appartement, das gespickt ist mit Setzkästen und Porzellanfigürchen, die von dem Leben eines Sammlers zeugen, berichtet eine ältere Dame von ihrem Alltag mit ihrem Mann und ihren Haustieren. Während ihre Stimme über jeden der zahlreichen Kopfhörer, die von der Decke hängen, erklingt, sitzt sie selbst mit ihrem Mann am Tisch. Ein kurzer Gang durchs Viertel, erneuter Szenenwechsel: die nächste Tür wird geöffnet von einer Frau in barockem Kostüm, zu Schlagzeugklängen werden feministische Aufrufe verlesen und mit Schnaps auf die Frauenbewegung angestoßen. Anschließend werden die Besucher gebeten, per Los einen Zettel zu ziehen, auf dem ein Satz zu lesen ist, den sie kurz darauf mit einem Mikrofon verstärkt vom Balkon in die Stadt hineinrufen, bevor sie sich wieder auf den Weg machen. Ein paar Straßen weiter sitzen mehrere ältere Damen in einem Wohnzimmer und lesen, gemeinsam mit ihren kurzzeitigen Gästen, in verteilten Rollen eine Szene aus Tschechows Drei Schwestern. Die Passage zur nächsten und letzten Station führt in einen Wohnraum, der mit zahlreichen Antiquitäten und einer umfangreichen Plattensammlung ausgestattet ist. Inmitten des Zimmers steht ein Mann im Kostüm eines Astronauten und bedient in Zeitlupentempo ein DJ-Pult.

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Das hier skizzierte Kaleidoskop verschiedenster Besuchssituationen bildet eine der Routen der Mannheimer Ausführung des von Matthias Lilienthal entwickelten Projekts X-Wohnungen aus dem Jahr 2011. Dieses wurde im Rahmen von Theater der Welt 2002 in Duisburg uraufgeführten und seither in vielen unterschiedlichen Städten weltweit erprobt.1 In jeder neuen Stadt, in der X Wohnungen Einzug hält, werden die Routen neu entworfen, mit jeweils anderen Stadtteilen, Wohnungen, Konzepten, Künstlern und Teilnehmern. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Projektausgaben jedoch der Ablauf: Die Theaterpassanten folgen einer zuvor ausgehändigten Route und betreten unterschiedliche Wohnräume, in welchen sie eine stets neue und unerwartete Situation vorfinden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um hermetisch abgeschlossene und den Besuchern präsentierte Aufführungen, sondern um Performances, Installationen und Konzerte, die maßgeblich auf Interaktion bauen. Dies bezieht sich sowohl auf die Künstlerinnen und Künstler, die die Projekte häufig in Koproduktion mit den Bewohnerinnen und Bewohnern erarbeiten, wie auch auf das Verhältnis zu den Theaterteilnehmenden, durch deren Anwesenheit und Mitwirkung die Aufführungen erst zustande kommen können.2 Jede Aufführung, das heißt jeder Aufenthalt in einer Wohnung, dauert etwa zehn Minuten. Anschließend machen sich die Besucher wieder auf den Weg – im Passagenraum zur nächsten Station. Dadurch, dass der Wohnraum, der zunächst als Gegenpol zu städtischen Passagenräumen erscheinen mag, hier theatral zu einem solchen umgedeutet wird, werden die Teilnehmer – so die These – in einen Modus versetzt, in welchem eine erhöhte Sensibilität für Übergänge und Schwellen erzeugt 1

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Mannheimer Ausgabe X Wohnungen. 3 Touren durch private Räume in der Neckarstadt-West, der Schwetzingerstadt/Oststadt und auf der Schönau im Rahmen der Schillertage vom 4.-7. Juni 2011. Für die Analyse werden neben Teilprojekten der beschriebenen Route in Neckarstadt-West auch einige Elemente der Tour durch die Schwetzingerstadt/Oststadt gewählt. (Konzept: Matthias Lilienthal, Dramaturgie Anne Schulz, Nadine Vollmer, Produktionsleitung Anja Lindner) Vgl. weiterführend Schultze 2003 und Behrendt 2002, 136ff.

2

Lilienthal verweist als Inspirationsquelle auf das Projekt Chambre d’Amis des bildenden Künstlers Jan Hoet aus dem Jahr 1986 (Lilienthal 2003, 9; vgl. zudem Hoet 1991, 238245.) Als weitere Beispiele für performative Ereignisse in Wohnräumen lassen sich exemplarisch nennen: Chase, Sarah/Brennan, Bill: Privatwohnungen (Theater der Welt 2002), Wrights & Sites: Mis-Guides (http://www.mis-guide.com, Stand: 21.7.2015), Lunatiks Productions: living ROOMS: das Zuhausetheater (Versteigerung von Aufführungen über Ebay, http://www.lunatiks.de/livingROOMS.htm, Stand: 21.7.2015), La Bohème im Hochhaus (Anja Horst, Bern 2010). Einen anderen Ansatz verfolgen Angie Hiesl und Roland Kaiser in Familie und Zuhause – Ein Besuchs-Projekt in mehreren Teilen (2003). Hier werden Wohnräume in Passagenräume transportiert und öffentlich sichtbar (http://www.angiehiesl.de/cms/?page=cat&catid=23, Stand: 21.7.2015).

P ERFORMATIVE E RPROBUNG WOHNRÄUMLICHER DURCHLÄSSIGKEIT – X-W OHNUNGEN

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wird. Auf diese Weise wird auch der Übergang zwischen den einzelnen Wohnräumen unter verschärfte Beobachtung gestellt und somit der Straßenraum mit seinen alltäglichen Vorgängen durch den Blick der Theaterpassanten theatral gerahmt. Diese Rezeptionshaltung wird dadurch befördert, dass die unterschiedlichen Stationen kontrastreich gegeneinandergesetzt sind und somit bei jeder Wohnung ein erneuter Rahmungsprozess zur Einordnung der Situation vonnöten ist. Die Reihung temporärer Nahraummomente in Kombination mit der Bewegung des Durchgangs verhindert somit eine durch-gängige Rezeptionshaltung. Gert Selle schreibt: »Gewohnheit kommt vom Wohnen, Wohnen vom Gewohnten.«3 Durch die episodische Anlage muss das Gewohnte überdacht und die eigene Rolle beziehungsweise Position ständig neu bestimmt werden. Diese passagere, fragmentarische Annäherung wird dadurch bestärkt, dass die Theater-Gänger sich in Zweiergruppen durch die Wohnungen bewegen, womit auch konsensuale Abstimmungen mit einer Publikumsmenge entfallen.4 Erzeugt wird somit eine heterogene Ansammlung verschiedener Zugriffe auf Wohnräume, die den Einzelnen mit unterschiedlichen Schau- und Handlungssituationen konfrontiert: Die damit verbundenen Rollenbilder des Theaterteilnehmers reichen von der eines (flüchtigen) Gastes, über den Voyeur, das Betrachtungsobjekt selbst, bis hin zu dem eines (kurzzeitigen) Bewohners. Jede dieser Rollen bringt kulturell konnotierte Zutritts- und Verhaltensmuster mit sich, die theatral aufgegriffen, ausgestellt und durchkreuzt werden. Michael Bachmann schreibt: »Ein Innenraum, der vor Publikum in Szene gesetzt wird, ist nicht mehr privat.«5 Entlang genannter Zugangsweisen sollen im Folgenden einige Linien theatralen Umgangs mit den Grenzen, Herstellungsmechanismen und der Hybridisierung privater Rückzugsräume in passageren Kontexten beleuchtet und auf ihre Strategien gradueller Privatheitskonstruktion bei theatraler Ostentation befragt werden. Nachdem bei LIGNA mit Zugangskontrollen und Schwellen der Durchlässigkeit und Sichtbarkeit und bei Pensotti mit den Sichtachsen auf die Privatperson und den unsichtbaren Schwellen und Grenzverläufen im Passagenraum gespielt wurde, geht es in diesem Fallbeispiel um Blicke und Wege durch geliehene und verliehene Wohnumgebungen und die performative Suche nach Räumen des Verbergens und deren Öffnungen im Kontext des Wohnens. Das Theaterprojekt nähert sich dem Thema über die Erkundung unterschiedlicher sozialer Lebenswelten, die Ausgestaltungen und Entwürfe von Lebensumgebungen, das Spiel mit Grenzen von Bewegungsräumen und Einblicken wie auch über eine inhaltliche Thematisierung von Nähe und Intimität. Für den hier gesteckten Rahmen soll das Projekt jedoch weniger mit Fokus auf seine narrativen Momente oder Strategien der Realitätsverhand3

Selle 1993, 70.

4

Vgl. Schultze 2003, 16.

5

Bachmann 2012a, 104.

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lung in sozialen Gefügen betrachtet werden.6 Vielmehr bilden folgende Fragen die vorrangigen Leitlinien der Analyse: Wie und zu welchem Zweck werden Wohnräume – die in ihrer Grundanlage der Idee des Passagenraums diametral entgegenstehen – zu (theatralen) Passagenräumen? Welche Wechselbeziehungen bestehen zwischen Verbergen und Zurschaustellung? Wie manifestieren sich die losgelöst von territorialen Einteilungen gedachten Praktiken des Privaten auf räumlicher Ebene? Welche Rolle spielen Medialisierung und Virtualisierung? Welche Auswirkungen haben diese Verschiebungen auf tradierte Grenzverläufe sowie habitualisierte Zuschreibungsmuster des Eigenen und des allgemein Zugänglichen? Wie erfolgt das Wechselspiel aus Entgrenzung und Begrenzung? Wie wird mit der Verfremdung von scheinbar Bekanntem und der Tür an Tür herrschenden Fremdheit umgegangen? Hat die oben entwickelte These, dass sich heutige Ausprägungen von Privatheit und Öffentlichkeit in gesteigertem Maße performativ herstellen auch im Kontext des Wohnens bestand? Passagen der Schwelle: Der (flüchtige) Gast Bevor die Theaterteilnehmer die Wohnung eines Mannheimer Mehrfamilienhauses betreten, werden sie vor die Wahl gestellt, ob sie nun lieber die sogenannte ›Mitleidstour‹ oder die ›Erfolgsstory‹ erleben möchten, die jeweils durch einen anderen Wohnungsschlüssel symbolisiert werden. Nach getroffener Wahl werden die Theaterbesucher hereingebeten und treffen auf eine Frau mit drei kleinen Kindern, die sie durch ihre Wohnung und ihr Leben führen. Wie bei einem Jugendroman in Form eines Spielbuches, bei dem man selbst verschiedene Verläufe der Geschichte wählen und entsprechend an unterschiedlichen Stellen des Buches weiterlesen kann, verläuft auch die folgende Besuchssituation: Wählt man die Erfolgsstory, führen einem die Kinder Kunststücke vor, die alleinerziehende Mutter erzählt von ihren Erfolgserlebnissen nach ihrer Ankunft in Deutschland, präsentiert ihre fließenden Deutschkenntnisse. Die Mitleidstour nimmt dieselben Familienerlebnisse zur Grundlage, hebt jedoch gänzlich andere Aspekte hervor: Die Kinder malen Bilder für die Besucher und bitten um Geld, die Mutter schildert ihre Probleme nach der Ankunft in dem neuen Land, bei welcher sie schwanger war und ohne Anstellung und Sprachkenntnisse zwei kleine Kinder zu versorgen hatte. Die Besucher werden beim beschriebenen Wohnungs-Projekt der Gruppe Turbo Pascal wie eingeladene Gäste empfangen und somit als die Tür geöffnet bereits erwartet. Nun werden sie durch den Flur in den Wohnbereich geleitet, in Schlafund Kinderzimmer sowie in die Küche gebeten und der gesamten Familie vorge6

Zu zeitgenössischen dokumentarischen Theaterformen und der theaterwissenschaftlichen Reflexion von Grenzverläufen des Realen vgl. Bachmann 2012c sowie Nikitin/Schlewitt/ Brenk 2014.

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stellt. Zeitweise ruft diese Situation auch die Assoziation eines Besuchs durch einen Amtsvertreter hervor, der im Zuge eines Kontrollgangs durch die Wohnung geführt wird. Bei der Suche nach den Grauzonen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und den Handlungen, durch die diese hervorgebracht werden, sind besonders der Moment des Übergangs von Stadt- zu Wohnraum und die Bereiche des Zeigens und Verbergens von Relevanz.7 Um die Beschaffenheit der in dieser Überlagerung entstehenden oszillierenden Situation zu eruieren, ist zunächst ein kurzer Blick auf die Zuschreibungsmuster des Wohnraums vonnöten: Auch heute, vor dem Prospekt fragmentierter, scheinbar grenzen- und ortsungebundener Alltagsrealitäten, dient die eigene Wohnung noch immer oder vielleicht sogar in besonderem Maße als Rückzugsraum und Gegengewicht zum postmodernen Lebensstil, wie auch Korte anmerkt: »Es verwundert in diesem Zusammenhang zunächst nicht, dass die Wohnung – hier bin ich Mensch, hier kann ich sein – wieder eine größere Bedeutung bekommt. Wenn die auf Konsum reduzierte städtische Öffentlichkeit nicht länger ein Ort der Entfaltung und Gestaltung ist, dann muss die kleinste Einheit, die Wohnung, wieder wichtiger werden.«8

In seiner Wohnung kann der Stadtbewohner, so Korte, die »Fragmente seines Lebens an einem eigenen Ort selbst zusammenfügen und von dort aus vielleicht einen Weg in die nächste Moderne finden.«9 Das Zuhause wird gleichgesetzt mit einer lokal fest umgrenzten Wohnräumlichkeit, die in vielen Ansätzen als Inbegriff des Privaten gilt, bei welcher erst »die Reise nach Hause […] den vollständigen Übergang von der Arbeits- in die private Lebenssphäre, von den globalen in die lokalen Räume, vom Hotel in die eigene Wohnung«10 ermöglicht. Dieser Wunsch fußt laut Sennett auf einer diffusen Sehnsucht des »flexiblen Menschen« nach Verwurzelung in einer mobilisierten und flexibilisierten Welt.11 Damit referiert er auf eine Zuschreibungstradition, die – komplementär zu dem oben beschriebenen Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit – ebenfalls dem 18. und 19. Jahrhundert entspringt; einer Zeit, in der sich der abgegrenzte Wohnraum als Rückzugsraum der bürgerlichen Familie etabliert beziehungsweise stabilisiert. Dieser fungiert als Schutzraum gegenüber dem Staat und als Gegengewicht zu dem städtischen Raum, der wiederum als ein Raum des Sich-Zeigens und ostentativen Zur-Schau-Stellens gilt. Auch die Möglichkeit eines Rückzugsraums für den Einzelnen entsteht innerhalb bürgerlicher Verhältnisse, eine Entwicklung, die sich in 7

Zum Zusammenhang von Privatem und Schwellen vgl. Wohlrab-Sahr 2011, 33-52.

8

Korte 2005, 46.

9

Korte 2005, 46f.

10 Vonderau 2003, 40. 11 Vgl. Sennett 1998, 189ff.

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breiteren Gesellschaftsschichten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Trennung von Arbeits- und Lebenswelt, mit welcher ein Bewusstsein für private Rückzugsräume erwächst.12 Gert Selle spricht davon, dass heutige Wohnformen vormoderne Muster tradieren, ohne dass diese entsprechend zeitgenössisch gerahmt und bewusst vor dem Hintergrund heutiger Lebenswelten reflektiert würden: »Wohnen ist konservativ. Wir halten uns an das Gewohnte und leben darin Muster einer weit zurückreichenden Kulturgeschichte ohne ein Bewußtsein fort, was wir wirklich und symbolisch tun. […] Unsere Wohnformen sind in das gesellschaftliche Gedächtnis des Behaustseins eingelagert, mit der kulturellen Erfahrung sozialer Rituale früherer Zeiten verwoben, und selbst die intimen Bilder persönlicher Wohnbiographien reichen noch weiter zurück als in das individuelle Unbewußte. […] Unsere vier Wände umschreiben einen Raum des Wohnens, der trotz aller Verwandlungen jener Unterschlupf geblieben ist, den die Urhütte dargestellt hat.«13

Diese unhinterfragten Selbstverständlichkeiten manifestieren sich sowohl architektonisch wie auch in den damit korrespondierenden Alltagspraktiken: »Der orthogonale Raum ist uns so selbstverständlich, daß wir selten nach Alternativen fragen. Die Wand ist ein im Wortsinne tragendes Element dieser Selbstverständlichkeit, zugleich ein symbolisches.«14 Rechtlich gesehen ist nach Artikel 13.1 des Grundgesetzes »Die Wohnung ist unverletzlich«15 auch heute noch das Verhältnis zwischen äußerem – verstanden als staatlichem – Einfluss und dem Wohnraum als Schutzraum klar geregelt und durch eine eindeutig lokalisierbare Linie abgetrennt. Die Haustür übernimmt dabei die Funktion als »entschiedenste Grenze – juristisch, psychologisch, historisch: das behütete Tor zum Hort der privaten Intimität, die als unverletzlich, aber bedroht gilt.«16 Auf den ersten Blick erzeugt die Tür somit eine klare Trennung zwischen Innen und Außen. Diese wird seitens der Bewohner kontrolliert und juristisch ge12 Zu der Trennung von Arbeitsstätte und Wohnraum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der zunehmenden Spezialisierungstendenz, Bürokratisierung und Verselbständigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eine Abkehr von der Verquickung von Arbeitsverhältnis und privatem Verhältnis zur Folge hat, vgl. Prost 1993, 2361, 73f und 126f. Diese Trennung verliert gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder an Bedeutung und ändert sich maßgeblich mit Entwicklungen wie der zunehmenden Digitalisierung oder der Entstehung von Homeoffices (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014, 12f). 13 Selle 1993, 7. 14 Selle 1993, 30f. 15 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG, vom 23. Mai 1949, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 11. Juli 2012). 16 Selle 1993, 39.

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schützt, sie bietet die Möglichkeit der Passage, jedoch in kanalisierter Form, da hier nur gezielt denjenigen geöffnet wird, die im Innenraum erwünscht sind. 17 Die Eingangstür dient somit im Sinne einer Pforte als Steuerungselement und bestimmt den räumlichen Durchlässigkeitsgrad der Wohnumgebung, so schreibt Selle: »Tür und Fenster durchbrechen die Wände des Hauses als Öffnungen zum Schließen oder Schließungen zum Öffnen.«18 In ähnlicher Weise äußert Simmel bereits 1909: »Dadurch, daß die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen den Raum des Menschen und alles, was außerhalb dessen ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. Gerade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Abgeschlossenseins gegen alles Jenseits dieses Raumes, als die bloße, ungegliederte Wand. Diese ist stumm, aber die Tür spricht.«19

Diese Praxis dosierter Durchlässigkeit steht in engem Zusammenhang mit der oben bereits beschriebenen historischen Entwicklungslinie privaten Rückzugs, die Selle nachzeichnet. Im 19. Jahrhundert etabliert sich – so fasst er zusammen – die »Trennung von Arbeit und Familienleben im Zuge der Industrialisierung und schafft den markanten Hüllenentwurf der Biedermeier-Intimität, der immer noch Reste einer sozialen Öffentlichkeit des Wohnens gegenüberstehen. Das späte 19. Jahrhundert vollendet den Entwurf durch die vollzogene Erfahrung dessen, was als Hülle, Etui (Benjamin) oder Muschel (Bachelard) die Abtrennung des intimen Innenraums vom gesellschaftlichen Außenraum besorgt. Den absoluten Höhepunkt bürgerlicher Ich-Abschließung vor der Welt bildet das typische Jugendstil-Interieur in seiner einsaugenden Höhlenhaftigkeit. Aber nicht diese ästhetische Sonderentwicklung, die soziokulturell abgrenzbar verläuft, liefert das massenhaft beeindruckende und nachvollzogene Bild einer Verdichtung des Wohnens um den Kern des bürgerlichen Ich, sondern die ganz normale, mit allen Zwängen, Konventionen, Ängsten und geheimen Freuden (nicht nur Möbeln) vollgestopfte Wohnung des Späthistorismus […].«20

Es lässt sich folglich beobachten, dass ein historischer Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Stellenwert der Tür und einer steigenden Tendenz zu privatem Rückzug und Verbergen besteht, eine Querverbindung, die sich retrospektiv als Muster erkennen lässt, ohne – wie bereits oben gekennzeichnet – daraus eine historische Linearität ableiten zu wollen:

17 Zur kulturgeschichtlichen Einordnung von Türen, Türschwellen und Fenstern vgl. Selbmann 2010, Selle 1993, 33-55 sowie Wohlrab-Sahr 2011, 43ff. 18 Selle 1993, 33. 19 Simmel 2001, 57. 20 Selle 1993, 74.

310 | P ASSAGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT & P RIVATHEIT »In der Geschichte des Wohnens ist der Bedeutungszuwachs der Tür mit der Entwicklung einer Privatsphäre und – damit verbunden – mit der Tendenz des Ausdifferenzierens räumlicher Funktionstrennungen verbunden. Von der Öffnung in der Hüttenwand oder Lehmziegelmauer über die Absperrvorrichtung der ›halben Tür‹, deren obere Hälfte als Fenster dienen mochte, bis zu schloß- oder riegelbewehrten festen Türen und Toren vollzieht sich die Geschichte des Abschließens von der Außenwelt […].«21

Auch in einigen der Rezensionen zu X Wohnungen wird, wie sich hier exemplarisch zeigt, besonders auf diesen Moment abgehoben, bei welchem die Haustür ähnlich einer Linie überschritten wird: »Hinter den ansonsten verschlossenen Türen erwarten die Besucher kleine Dramen, Installationen, leutselige Besucher oder einfach das blanke Nichts.«22 Trifft diese Beschreibung einer Tür als Markierungslinie in Funktion einer Grenze zwischen außen und innen auf rein architektonisch-räumlicher wie auch juristischer Ebene zu, so gilt es aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, wie das oben entwickelte Schema deutlich macht, diese Idee hermetischer Abgrenzung durch bauliche Elemente für zeitgenössische Zusammenhänge genauer auszudifferenzieren.23 In diesem Sinne soll die Tür weniger als Linie, denn als (Schwellen-)Raum beschrieben werden, indem nicht nach Grenzlinien sondern nach Aushandlungszonen des Übergangs in einem relationalen Raumverständnis gesucht wird: »Die Tür in der Wand oder Mauer ist selbst ein Raum. Er besteht aus einer schmalen Zone, einem Durchgang, in dem, gemessen an anderen Räumen des Innen oder Außen, merkwürdig viel geschieht und auch eine qualitativ hohe Aktivitätsdichte herrscht.«24 Bei X Wohnungen wird eben diese von Selle beschriebene Aktivitätsverdichtung an der Haustür hervorgehoben und potenziert, indem im Zehn-Minuten-Takt Besucher die Wohnung betreten und wieder verlassen. Das Projekt wurde, wie schon erwähnt, neben der hier ausführlicher beschriebenen Ausgabe in Mannheim in vielen verschiedenen Ländern der Welt ausgerichtet. Dabei zeigt sich besonders deutlich, wie kontextabhängig die Ausprägungen und Funktionen dieser Schwellen zwischen Stadt- und Wohnraum sind. Ist beispielsweise in Sao Paolo nahezu jedes Haus durch einen Pförtner sowie Kameras be- und überwacht und ähnelt der Eintritt dem Betreten eines Hochsicherheitstraktes, erwiesen sich die Wohnräume War21 Selle 1993, 35. Diese Übergänge gewinnen mit der Trennung der Sphären und dem Entziehen intimer Verrichtungen und Handlungen gegenüber den Blicken anderer an Bedeutung. Symbolisch dafür steht die Etablierung des WCs (vgl. Selle 1993, 36f). 22 Brendel, Gerd: »Theaterreise ins Private. Das Projekt ›X-Apartments‹ in Beirut.« In: Deutschlandfunk (5/2013), http://www.deutschlandfunk.de/theaterreise-ins-private.691. de.html?dram:article_id=247235, Stand: 8.10.2014. 23 Vgl. Vonderau 2003, 42. 24 Selle 1993, 34.

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schaus als äußerst durchlässig. Während in Sao Paolo der Wohnraum vieler Familien ausschließlich dem engsten Familien- und Freundeskreis vorbehalten ist, schildern einige der (besonders älteren) Teilnehmer des Warschauer Projekts, dass Wohnräume mit freier Begegnung assoziiert seien, was – nach deren eigener Aussage – unter anderem an der kommunistischen Vergangenheit liege. 25 Daran zeigt sich, dass der Grad an Öffentlichkeit maßgeblich an den Grad an Durchlässigkeit gebunden ist, in diesem Fall symbolisiert durch Türen als materielle Zeichen eines Übergangs in einen Raum, der je nach Kontext mit einem unterschiedlichen Grad an Intimität gekennzeichnet ist. Jenseits dieser organisatorischen Schwellen, die es zur Verwirklichung des Projektes zu überwinden gilt, werden auch die einzelnen Teilnehmer von X Wohnungen – sei es in Mannheim, Sao Paolo oder Warschau – vor die Aufgabe gestellt, wiederholt diesen Vorgang des Schwellenübertritts zu vollziehen. Bei jeder neuen Wohnung muss gewissermaßen abgesehen von der Tür auch ein ›unsichtbarer Vorhang‹ geöffnet werden, damit die nächste Szene beginnen kann. Theatral gerahmt und hervorgehoben wird dabei der alltägliche Akt der Überwindung, der bei Eintritt in einen Wohnbereich erforderlich ist: »Das Betreten der Schwelle ist ein scheinbar alltäglich-normaler, unauffälliger, im Grunde aber kulturell und sozial aufgeladener, psychodynamischer Akt, in dem alle Überwindungen mitschwingen, die einmal geleistet werden mußten, ehe entweder ein unbekanntes Innen betreten oder etwas Fremdes von außen eingelassen werden konnte. Noch bei geöffneter Wohnungstür gibt es heute einen unsichtbaren Vorhang, die psycho-kulturell verinnerlichte Scheu vor ungehemmtem Eintreten oder unvorsichtigem Einlaß.«26

Der Gaststatus der Teilnehmer und zugleich deren zentrale Funktion im Aufführungsablauf wird zudem durch die Wege zwischen den einzelnen Stationen unterstrichen: Denn nur wenn sich die Teilnehmer auf den Weg zur nächsten Wohnung machen, findet die Aufführung eine Fortsetzung. Eine Besonderheit an den Passagen zwischen den Stationen ist, dass sie durch schriftlich ausformulierte Wegbeschreibungen angeleitet werden, die nicht durch eine Karte unterstützt sind. Dies hat zur Folge, dass man dem vorgeschlagenen Weg folgt und keine Abkürzungen oder bekannten Wege vorzieht. Auf diese Weise werden auch diejenigen zu fremden Gästen der Gegend, die in dieser regulär wohnen und für die es sich dabei um geläufige Stadtteile handelt. Übergänge spielen jedoch nicht nur bei dem Übertritt von Stadt- in Wohnräume eine Rolle, sondern auch hinsichtlich der Binnengliederung von Häusern und 25 Diese Aussage basiert auf einem Interview der Verfasserin mit der Dramaturgin des Projekts Anne Schulz (Mai 2014). 26 Selle 1993, 34.

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Wohnungen. So schließt sich an den Schwellenraum der Tür in vielen Wohnungen unmittelbar der Flur als baulich und habituell etablierter Übergangsbereich an. Dies erklärt Wohlrab-Sahr damit, »dass bereits die Einladung in eine private Wohnung eine gewisse Informalität ins Spiel bringt, im Unterschied etwa zur Verabredung im Restaurant. Wie viel Formalität aber erwartet wird und wie viel Informalität zugelassen wird, ist für beide Seiten nicht sofort antizipierbar, sondern muss – zum Teil schon im Eingangsbereich der Wohnung – ausgelotet werden. Insofern stellt sich sowohl für den Gastgeber wie auch für den Gast das Handlungsproblem der Bestimmung der angemessenen Balance von Formalität und Informalität: Eine Schwellensituation par excellence.«27

Der Flur bildet in diesem Sinne eine Zone des Ausdifferenzierens unterschiedlicher Besucher, denen entweder die Passage in den Innenraum gewährt oder verwehrt wird, was wiederum den Grad an Zugänglichkeit situativ festlegt: »Wer nur Klient ist, wird nach wie vor in der Zwischenzone von Außen und Innen abgefertigt oder erst gar nicht über die Schwelle der Haus- oder Wohnungstür gelassen. Gäste hingegen werden durch ein imaginäres vestibulum voller ästhetischer Anspielungen und Vorverweise auf das Innere geleitet und dürfen in dieser Zone des Durchschreitens und der Aufnahme- und Höflichkeitsrituale eine Zeit der Vorbereitung auf das Betreten des eigentlichen Inneren verbringen.«28

Bei X Wohnungen fällt dieser Moment der Prüfung weg beziehungsweise ist durch den Inszenierungsrahmen modifiziert. Denn obgleich (oder gerade weil) faktisch gesehen die Theaterteilnehmer für den Eintritt in die Wohnung bezahlt haben und damit gewissermaßen den Bewohnern gänzlich unbekannte Kunden sind, werden sie wie Gäste behandelt und ohne vorherige Prüfung in den Innenbereich der Wohnräume weitergeleitet. Dennoch entfällt dadurch nicht der Moment des Übergangs: Denn sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob bei dem Theaterprojekt die Schwellen gänzlich aufgehoben würden und die Zugänge zu den Wohnungen offen passierbar seien, ist doch gerade hier ein stetes Aushandeln der Schwellen eigenen Verhaltens und fremder Grenzverläufe vonnöten, da man sich hochfrequentiert mit den Übergängen in unbekannte Umgebungen konfrontiert sieht.29 Bezogen auf die Spannungsverhältnisse zwischen ostentativem Zeigen und Verbergen, einer der Koordinaten im oben entwickelten Schema, erweist sich die Binnenstrukturierung und die Perspektive auf Übergangszonen innerhalb von Woh27 Wohlrab-Sahr 2011, 45. 28 Selle 1993, 37 [Hervorhebung im Original]. 29 Vgl. zum Thema Grenzen und Schwellen Kapitel 2.2.

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nungen als ausschlaggebend. Mit dem aufkommenden Bürgertum etabliert sich eine bis heute in der Überzahl der Wohnkonzepte angelegte Aufteilung einzelner Zimmerfunktionen sowie einer Empfangs- und Rückzugszone. Wohnbereiche wie Flur, Wohnzimmer und Schlafzimmer unterscheiden sich maßgeblich in ihrem Öffentlichkeitsgrad. So geht der Moment räumlicher Ausdifferenzierung bezüglich des Zeigens und Verbergens ebenfalls auf die Zeit der räumlichen Trennung privater und öffentlicher Sphären zurück. Nach dieser Aufteilung befand sich »[…] auf der einen Seite das, was die Familie von sich aus zu zeigen wünschte, was öffentlich gemacht werden konnte, was als ›präsentabel‹ galt; auf der anderen das, was man vor zudringlichen Blicken schützte.«30 Diese Zugänglichkeitsgrenzen werden bei X Wohnungen kurzzeitig außer Kraft gesetzt und neu definiert. Die von Selle beschriebene Aktivitätsverdichtung des Eingangsbereichs weitet sich somit auf die gesamte Wohnung aus. Überspitzt gesagt könnte dadurch die gesamte Wohnung in ihrer theatralen Nutzung als Türbeziehungsweise Flurbereich bezeichnet werden: Die Gäste schauen nur ›auf einen Sprung‹ herein und ziehen nach wenigen Minuten ohne sich dauerhafter zu installieren wieder weiter. Dennoch dehnt sich bei einigen der Teilprojekte, wie dem anfangs beschriebenen, ihr Passagenradius auf den gesamten Wohnraum aus. Umgekehrt könnte aus einem anderen Blickwinkel davon gesprochen werden, dass der Flur gänzlich entfällt und die Grenzen der Zugänglichkeit sich nicht mehr an binnenräumlichen Einteilungen festmachen lassen. Beide Analysen betonen jedoch, dass Grenzen und Schwellen neu verhandelt werden, ohne dabei außer Kraft gesetzt zu sein. So kann nicht von ungefilterten Einblicken und vollständiger Entgrenzung der Wohnräume die Rede sein, da inszenatorische Entscheidungen bezüglich des präsentierten Ausschnitts getroffen werden. Es lässt sich somit präzisieren, dass nicht die gesamte Wohnung zum symbolischen Flur wird, sondern die theatralen Rahmungen und Grenzziehungen zugänglicher und abgeschirmter Bereiche in Verhandlung mit alltäglich tradierten Raumaufteilungen treten und diese temporär umgestalten. Bei der zu Beginn des Abschnitts beschriebenen Theatersituation wird genau mit diesem Aspekt gespielt: Den Teilnehmern werden gezielte Einblicke in die Wohn- und Lebensumgebung sowie die Familiengeschichte gewährt, wobei eine explizite Auswahl dessen getroffen wird, was zu sehen und zu hören sein soll. Durch die zuvor gefällte Entscheidung der Teilnehmer für eine der beiden Versio30 Prost 1993, 18; vgl. auch Ariès 1975, 548. Wohlrab-Sahr macht auf die Abhängigkeit zwischen materiellen Möglichkeiten und dem ausdifferenzierten Vorgang des Zeigens aufmerksam: »Das Vorhandensein von Esszimmern und Gästetoiletten macht es möglich, Gästen nur begrenzten Einblick in die Privatsphäre von Gastgebern zu gewähren und damit auch innerhalb der Privatwohnung bestimmte Grenzen aufrechtzuerhalten.« (Wohlrab-Sahr 2011, 45.)

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nen, wird der Vorgang des gezielten Zeigens und Verbergens betont: Denn jeder Besucher erlebt nur eine der Erzählvarianten, die Kehrseite der Medaille bleibt im Dunkeln, man weiß jedoch um ihre Existenz. Orientiert an dem Privatheits-Öffentlichkeits-Kontinuum, welchem zufolge die Grenzen der Privatsphäre nicht mehr mit dem Übergang zum Wohnbereich gleichzusetzen sind, gilt es den Begriff der Türschwelle erweitert zu denken und aufzuspüren, wo diese heute verläuft. Räumlich durchlässige Bereiche können beispielsweise mit medialen oder kommunikativen Schranken und Schwellen versehen sein, ebenso wie sich scheinbar abgeschlossene Areale als medial und nutzungstechnisch äußerst hybrid herausstellen können. Theater bringt somit weder ein fest definiertes Innen als privater Raum und ein Außen als öffentlicher Raum miteinander in Kontakt, noch werden Übergänge nivelliert. Vielmehr werden mit performativen Mitteln diese eindeutigen Zuordnungen als Konstrukte und Grenzbereiche aufgezeigt, die als solche nicht unbedingt im Bewusstsein sind; zugleich werden die (Tür-) Schwellen im Alltag, die häufig als klare Trennlinien gedacht werden, als potenziell hybride gerahmt. Mit dieser Hybridität und den damit verbundenen gewollten und ungewollten Einblicken – auch im Kontext heutiger Medienlandschaft – befasst sich der folgende Abschnitt. Passagen des Blicks: Der Voyeur An der Haustür werden die beiden Besucher von einer mit Burka31 verhüllten Person in Empfang genommen. Schweigend geht sie den Teilnehmern voraus die Treppe hinauf in eine Wohnung, betritt ein Zimmer und schließt hinter sich die Tür. Die Teilnehmer, die vor der Zimmertür zurückgelassen werden, werden nun durch eine Assistentin dazu aufgefordert, sich vor das Schlüsselloch zu knien und durch dieses in das Zimmer hineinzuschauen. Kommt man dieser Aufforderung nach, sieht man im Inneren, wie die Burka geöffnet wird und die vermeintliche Frau sich nach und nach entkleidet. Zum Vorschein kommt zunächst eine Schuluniform, unter welcher sich ein junger Mann verbirgt, der auch diese auszieht und schließlich nackt vor einem Klavier sitzt. Mit geschlossenen Augen lauscht er einer Aufnahme des »Ständchens« aus Franz Schuberts Liederzyklus Schwanengesang. Den Be-

31 »Die Verhüllung des Kopfes oder weiterer Teile des Körpers, bis hin zur Burka, markiert – neben der religiösen Zugehörigkeit – zweifellos auch eine Schwelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Im Extremfall wird hier der gesamte weibliche Körper, bis hin zum Gesicht, der Sphäre der Privatheit zugeordnet.« (Wohlrab-Sahr 2011, 48; vgl. auch Traub 2010.) Vor dem Hintergrund des Privatheits-Öffentlichkeitskontinuums, das diesem Abschnitt als Denkfigur zugrunde liegt, wäre hier die Vorstellung von Sphären durch jene gradueller Abstufung ostentativen Zeigens oder Verbergens zu ersetzen.

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obachtern am Schlüsselloch wird ein Getränk gereicht, bevor sie wieder nach draußen geleitet werden.32 In Lilienthals Gesamtkonzept für X Wohnungen werden Wohnräume für Durchgangsbewegungen geöffnet und zu (theatralen) Passagenräumen für Bewegung, aber – wie sich mittels der soeben beschriebenen Sequenz, einem Entwurf von Nurkan Erpulat, zeigt – auch für Schau- und Wahrnehmungsvorgänge. X Wohnungen spielt mittels theatraler Strategien mit der Passierbarkeit von Räumen durch Blicke33 und verweist zugleich auf die alltäglichen Vorgänge medialer Durchdringung. Irene und Andreas Nierhaus beschreiben heutiges Wohnen generell als eine Praxis, die »eine Fülle von Bewertungen, Bedingungen und Artikulationen bereithält und […] auf Äußerung und Darstellung drängt. D.h., Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.«34 Unter dem Label des Voyeurismus sollen nun einige Schausituationen beleuchtet werden, die die Grenzen ostentativen Zeigens überschreiten und damit als übergriffiges Schauen bezeichnet werden können. Gemeint ist damit nicht ausschließlich der heimliche, sexualisierte Blick, mit dem der Begriff häufig assoziiert wird. Voyeurismus wird im Folgenden allgemeiner verstanden als ein Aneignen durch Blicke im Sinne visueller Teilhabe an einer als verborgen gerahmten Situation. Dabei sollen die Spannungsfelder erkundet werden, die sich durch das Wechselspiel mit jenen Vorgängen ergeben, die zwar den Eindruck voyeuristischen Schauens evozieren, dabei aber von gezielter Zur-Schau-Stellung geprägt sind. Im theatralen Kontext – und in besonderem Maße in dem hier exemplarisch ausgeführten Beispiel von Nurkan Erpulat – entstehen so Mehrfachrahmungen des heimlichen Blicks und der gezielten Inszenierung von Schauanordnungen. Wie bei einer Peepshow wird in diesem Sinne beispielsweise in der eingangs beschriebenen Schaukonstellation eine für den Blick vorgesehene Türöffnung geschaffen, bei deren Nutzung eine Situation heimlichen Schauens inszeniert wird. Die Rahmung des Gucklochs hebt dabei das Gesehene hervor.35 Ein etabliertes Element des gerahmten Durchblicks in Wohnräumen jenseits der Kennzeichnung als heimlicher Vorgang

32 Vgl. auch Jung, Christian: »Mannheimer Schillertage: Blick durchs Schlüsselloch.« In: schwäbische.de (6/2011), http://www.schwaebische.de/journal/kultur/theaterwelt_artikel,Mannheimer-Schillertage-Blick-durchs-Schluesselloch-_arid,5085255.html, Stand: 8.10.2014, Anonymus: »Theater in Privatwohnungen: Aus Zuschauern werden Voyeure«. In: Welt online (6/2011), http://www.welt.de/kultur/article13412663/Hinterm-Schluessel loch-sitzt-ein-Nackter-am-Klavier.html, Stand: 8.10.2014. 33 Zur Unterscheidung von Schauen und Blicken vgl. Czirak 2012, 19. 34 Nierhaus/Nierhaus 2014, 9. [Schreibweise entspricht dem Original.] 35 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Cargo Sofia in Kapitel 8.

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ist das Fenster. Auch hier legt die Rahmung den betrachteten Ausschnitt fest,36 was Selle zu einem Vergleich zwischen Fenstern und Bildern Anlass gibt: »Wir sehen durch das Fenster keine objektivierte Natur oder Kultur, kein sachlich gegebenes Außen, sondern was uns der Fensterblick aufgrund unserer geübten Form des Wahrnehmens sagt. Die Welt spricht durch das Fenster mit uns wie durch einen Filter, das Auge filtert und färbt das Angekommene noch einmal auf seine Weise um. Im Prinzip ist es gleich, ob wir Bilder an der Wand anschauen oder Bilder durch die Wandlöcher der Fenster wahrnehmen. Beide Bilder sind gerahmt und kulturell zur Entschlüsselung vorbereitet.«37

Dabei unterscheidet Selle zwischen einem Sehen in Außenräumen, das einen Rundumblick sowie die körperliche Annäherung und die Veränderung der Entfernung zum Betrachteten erlaubt und einem Blick von Innen durch ein Fenster nach Außen. Dieser bringt eine feste Rahmung und einen starren Abstand mit sich, was den Ausblick zu einem Bild gerinnen lässt, das nur betrachtet, aber nicht körperlich durchdrungen werden kann.38 Verstärkt wird dies durch das Element der Glasscheibe, die gleichzeitig für Sichtkontakt und distanzierte Trennung steht. Selle folgert daraus: »Wie Bilder eine kulturelle Trennung von den Gegenständen bedeuten, die sie bezeichnen, trennt das Fenster von der realen Welt und schafft ein Bild von der Realität.«39 Auch durch den Vorgang voyeuristischen Schauens im Falle des exemplarisch gewählten X Wohnungen Projekts könnte man davon sprechen, dass das Gesehene zu einer Art Bild reduziert wird, da keine direkte Kontaktaufnahme, sondern lediglich ein einseitiges, durch ein Guckloch gerahmtes Betrachten zustande kommt. Ereignisse und Ausschnitte der Wohnumgebung werden den Teilnehmern rahmend zur Schau gestellt und durch körperliche Abständigkeit bildhaft entrückt, sodass die Metapher des Bildes auf optischer Ebene zutreffen mag. Anders als bei dem Blick durch ein Fenster oder die Betrachtung eines Bildes ermöglicht beziehungsweise fordert der hier gerahmte Anblick aber zugleich körperliche Involviertheit in das Betrachtete und ein bewusstes Zutritt-Verschaffen des Blicks. Auf diese Weise entsteht eine changierende Gleichzeitigkeit von Teilhabe an der Situation und einer voyeuristisch-distanzierten Betrachtungshaltung, die bereits durch die Grundanordnung, eine fremde Wohnung zu betreten, befördert wird und durch das Knien vor einem Schlüsselloch potenziert wird. Denn durch den schmalen Durchblick, der sich zudem nicht auf Augenhöhe befindet, verstärkt sich die Gezieltheit des Einblicks auf der »Suche nach einer fremden, exotischen Wirklich36 Vgl. hierzu Goffman 1977 sowie Kapitel 2.2. 37 Selle 1993, 51. 38 Vgl. Selle 1993, 51ff. 39 Selle 1993, 53.

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keit […]«40 wie Lilienthal den voyeuristischen Blick umschreibt. Auch diese Kategorisierung wird jedoch ihrerseits wieder spielerisch unterbrochen, da die Teilnehmer zwar nicht zum Schauen gezwungen werden und es sich somit letztlich nach wie vor um einen freiwilligen Vorgang handelt, der Voyeurismus aber dennoch nicht auf eigenen Impuls, sondern auf Anweisung der Produktionsassistenz hin durchgeführt wird. Bei einem solchen Schauvorgang im Theater geht, so Günther Heeg, die »Entblößung der Darsteller an der Rampe« meist mit der »Peinlichkeit der überraschten Voyeure«41 einher. Damit wird die Frage nach Freiwilligkeit und Zur-Schau-Stellung aufgeworfen, die sich auch in der heutigen medialisierten Alltagswelt täglich stellt, worauf später nochmal zurückgegriffen werden soll. Ein Einrichtungselement, das als Inbegriff dieses Changierens bezeichnet werden kann, ist die Gardine. Diese kann sowohl blickabschirmend intendiert sein und wirken, oder aber auch gerade blickverstärkend, indem sie einen »Rahmen für den erlaubten Blick«42 bildet. Erpulat arbeitet bei der gewählten Inszenierung gewissermaßen mit Strategien, die dem Prinzip der Gardine verwandt sind: Auch hier findet ein Vorgang statt, dessen Blickdramaturgie durch die Gleichzeitigkeit scheinbar heimlichen Überschreitens einer Grenze und einer intentional niedrig angelegten Schwelle geprägt ist. Verbunden ist dies mit dem Initiieren einer kritischen Befragung voyeuristischer Rezeptionshaltungen, der sich auf andere Bereiche des Theaters und Alltags übertragen lässt: »Voyeurismus ist ein Aspekt der zum Großteil blickbestimmten Theaterrezeption und die Erfahrung von Fremdheit eine wichtige Begleiterscheinung des interkulturellen Theaters, die den jeweiligen Zuschauer vor eine Herausforderung stellt.«43 Ließe sich hier eine vertiefende Analyse der inhaltlichen Aspekte dieser (inter-)kulturellen Verhandlungen anschließen, liegt der Betrachtungsfokus bei vorliegender Untersuchung hingegen auf der spezifischen Rahmenanordnung. Diese ist hier so gelagert, dass verfestigte Vorstellungen und Antizipationsmuster bezüglich geschlechtlicher und kultureller Identitäten ebenso wie der patriarchale beziehungsweise kulturhegemoniale Blick ›enthüllt‹ werden. Schicht für Schicht wird der Betrachter wieder neu vor die Aufgabe gestellt, Gewissheiten zu überdenken und sich – in der geduckten Haltung des Schauenden – situativ mit seinen gedanklichen Haltungen hinsichtlich des Gesehenen zu konfrontieren und sich passager zu positionieren. Ebenso ist auch die Schauanordnung bezüglich ihrer Durchlässigkeit in Schichten aufgebaut: Die trennende Tür behauptet eine Möglichkeit des Verbergens, durch die Öffnung in der Tür hingegen erweist sich dieser Rückzugsraum als porös, die Teilnehmer werden gezielt dazu aufgefordert, durch das Guck40 Lilienthal 2003, 12. 41 Heeg 1999, 100. 42 Wohlrab-Sahr 2011, 41; vgl. auch Silbermann 1991, 126 sowie Selle 1993, 55. 43 Czerwonka 2011, 78.

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loch zu schauen, und sich somit visuellen Zutritt zu verschaffen. Dadurch wird mit der Überlegung gespielt, inwiefern der im Innenraum stattfindende Vorgang des Entkleidens genau für den Blick von Außen zur Anschauung gebracht wird und ob man somit die Grenzen eher überschreitet, wenn man diese ›Vorführung‹ nicht zur Kenntnis nimmt, oder wenn man den Vorgang aus dem ›Hinterhalt‹ betrachtet. Eine damit zusammenhängende Entscheidung, vor die der Theaterteilnehmer gestellt wird, ist zudem, wie eingehend er sich dem Anblicken hingibt. Denn anders als bei dem alltäglichen Schauvorgang, bei welchem man bei Einblick in eine als privat gekennzeichnete Umgebung »zwar im Vorbeigehen einen Blick in diese Fenster« wirft, wie Wohlrab-Sahr es formuliert, »aber nicht davor stehenbleiben [würde] wie vor einem Schaufenster«44, exponiert sich im theatralen Kontext das Gesehene als gezielt Gezeigtes, was in dieser spezifischen Verschränkung die Konventionen des Schauens und Wegschauens irritiert. Denn um die hier aufgeführten Binnenrahmungen spannt sich der theatrale Rahmen, der die Gesamtsituation als etwas Zur-Schau-Gestelltes markiert und in der Grundanordnung von einem voyeuristischen Interesse des theatralen Wohnungspassanten ausgeht. Stand bei Erpulats Inszenierung das Spiel mit Vorurteilen, Neugier und der Scheu vor Kontakt mit Fremdem im Mittelpunkt, soll ein weiteres Beispiel das Spektrum performativen Umgangs mit der Thematik des Voyeurismus erweitern: Die Wohnraumperformance Atmospheres von Zeitraumexit, ebenfalls ein Teilprojekt der Mannheimer Ausgabe, spielt wie viele der anderen Projekte auch mit Einblicken in die Lebensraumgestaltung und Wohnsituation eines Fremden. Dessen Art und Weise, einen Wohnraum einzurichten und auszurichten, kann zur Ablesefläche und Materialisierung von Selbstentwürfen, Lebenskonzepten und Privatheitsauffassungen werden. In diesem Fall handelt es sich um eine Wohnung, die museumsähnlich mit gesammelten Kuriositäten, Raritäten und Einzelstücken ausgestattet ist. Dadurch gleicht sie einer Schatzkammer des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Inmitten dieser Wohnung steht ein Mann in einem Astronautenanzug, der weder verbale Kontaktaufnahmen vornimmt, noch auf die Besucher reagiert, sich sehr langsam bewegt und in Zeitlupentempo ein DJ-Pult bedient, das sich in einem der Zimmer befindet. Was den Theaterteilnehmern nicht unmittelbar einsichtig wird, ist, dass dieser Mann, der der Bewohner der Wohnung und Sammler der Gegenstände ist, an einer Krankheit leidet, die dazu führt, dass seine Motorik zunehmend verlangsamt wird und er seine gesamte Umgebung wie durch Watte wahrnimmt. Bei dem Projekt wird somit die Krankheit in die Figur eines Astronauten übersetzt, ohne die Hintergründe transparent zu machen. Die Teilnehmer werden auf diese Weise unwissentlich zu Voyeuren eines Krankheitsbildes, welches im Moment der Aufführung jedoch in ein poetisches Bild überführt ist. Damit thematisiert die Produk-

44 Wohlrab-Sahr 2011, 42.

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tion den theatralen Umgang mit dem voyeuristischen Interesse an dem »NichtPerfekten«, wie Jens Roselt es nennt: »Wenn das Nicht-Perfekte seine Flanken zeigt, kann sich eine Art von Betroffenheit einstellen, die durch ironische Gesten der Überlegenheit schwer eingeholt werden kann. […] Die Arbeit am Nicht-Perfekten ist immer eine Gratwanderung für Darsteller und Zuschauer, welche Voyeurismus und Exhibitionismus nicht meidet. Zuschauer sind so im Theater der Pein ausgesetzt, die sie auf den Bühnen des Alltags peinlichst zu vermeiden haben.«45

Bei dem hier vorgestellten Beispiel aus X Wohnungen findet jedoch eine Mehrfachrahmung statt, da das sogenannte ›Nicht-Perfekte‹ nicht als theatrale Strategie eingesetzt wird, sondern sich nur implizit zeigt oder im Nachhinein in Erfahrung gebracht werden kann. Auf theatralem Wege wird dabei mit alltäglichen Normierungen gespielt, die durch Blicke und Assoziationen erfolgen und bei welchen jegliche Abweichung zu Irritationen und der reflexartigen Suche nach Erklärungsmustern führt. Innerhalb des theatralen Rahmens bietet sich hier für die Besucher an, das Verhalten und die Körperlichkeit des Astronauten im Sinne einer Rollenfigur aufzufassen. Erhält man jedoch im Nachhinein Informationen zu den Hintergründen, erfolgt gegebenenfalls ein Moment des Ertappt-Fühlens – ein markantes Merkmal des Voyeurismus. Diese Strategie des Changierens und der Uneindeutigkeit, »die derzeit bei einer Vielzahl von Theaterprojekten mit nicht professionellen Darstellern […] zu beobachten ist, meidet nicht nur das Ideal der Vollendung; vielmehr wird die Orientierung des Menschen und seiner Darstellung in Hinblick auf ein verbindliches Ideal selbst suspekt. Inkonsequenz, Widersprüchlichkeit, formale Heterogenität, Unfertigkeit und Offenheit werden geradezu gesucht.«46

Der damit erzeugte Verunsicherungsmoment hinsichtlich der Betrachterposition lässt sich auf den voyeuristischen Blick im allgemeineren Sinne übertragen. So ist dieser gekennzeichnet durch die Koexistenz von Distanz – verstanden als ein Zuschauen von Außen – und einer Distanzlosigkeit durch die ungefragte Grenzüberschreitung durch Blicke. Schultze schreibt hierzu: »Neu an X Wohnungen ist nicht das Interesse für ein soziales Milieu, sondern die Form der Präsentation, welche die Distanz zwischen Darsteller und Zuschauer auf ein Minimum reduziert.«47 Ergänzt werden muss diese Äußerung jedoch durch die gleichzeitige Steigerung von Dis-

45 Roselt 2006, 38. 46 Roselt 2007, 62. 47 Schultze 2003, 19.

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tanz, das Errichten neuer Abständigkeiten und das Überschreiten gesetzter Rahmen, wodurch ein Schwebezustand in der Rezeptionshaltung hervorgerufen wird. Eine der entscheidenden Fragen, die damit verbunden ist, bezieht sich auf die Auswirkungen des Blicks beziehungsweise des Anblickens auf die Situation, wofür noch einmal auf das Fenster zurückgekommen werden soll. Selle hebt dieses als eine Öffnung für den Blick von jenen Öffnungen des Wohnraums ab, die wie Türen der Bewegung gelten: »Durch das Fenster geht der Blick, nicht der Körper. Das Visuelle ist dem Virtuellen, der Imagination oder Phantasie des Vorstellens, der Projektion verwandt, weniger der Handlung.«48 Anders als Selle dies kategorisiert, sollen hier – sowohl bezogen auf das theatrale Schauen wie auch den voyeuristischen Blick – Schauvorgänge ebenfalls als Handlungen und damit als wirklichkeitsverändernde Vorgänge bezeichnet werden, die Teil der Feedbackschleife im Sinne Fischer-Lichtes sind.49 Diesen Ansatz bekräftigt auch Adam Czirak, der sich mit den zeitgenössischen Formen einer Partizipation der Blicke befasst: »Wenn jeder Blick nicht nur Bilder schafft, sondern gleichsam identifikatorische, d.h. identitätsbildende Beziehungen zwischen Individuen etabliert, so erscheint der Blicktausch als eine Form von Sozialpraxis, in der Aspekte des Eigen- und Fremdbezugs zur selben Zeit virulent werden.«50 Damit sind neben den zwischenmenschlichen Aspekten auch politische und machtstrukturelle Implikationen verbunden, worauf Christine Regus verweist: »Verhältnis zwischen Blickregimen, Theater, Macht, Voyeurismus, Exotismus, Rassismus und Unterdrückung. […] Wir haben es immer mit einem prekären Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu tun, weil der Blick auf einen Anderen transformierende Kraft hat.«51 Der Vorgang des Offenlegens bei X Wohnungen lässt sich als Referenz auf eine solche Form partizipatorischer Teilhabe lesen, worin sich ein spezifisches Merkmal gegenwärtiger Theaterpraktiken erkennen lässt. Behrendt sieht in diesen Tendenzen wie auch dem Streben nach Alltags- und Lebensbezug ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber früheren Theaterformen – einschließlich jenen der 1990er Jahre – und eine mögliche Neuinterpretation des Politischen im Theater des 21. Jahrhunderts: »Schließlich steht das Projekt X Wohnungen für jene wachsende Tendenz im Bereich von Theater/Kunst, die Matthias Lilienthal als ›hysterische Sehnsucht nach Realität‹ bezeichnet hat. Sie schlägt sich intellektuell in einer Neuverhandlung der großen sozialen und politischen Diskurse seit der Aufklärung nieder, die nicht nur auf globale Entwicklungen, sondern auch 48 Selle 1993, 45. 49 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 115 sowie zur Auseinandersetzung mit dem Konzept der Feedbackschleife Kapitel 2.2. 50 Czirak 2012, 13. 51 Regus 2009, 105.

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auf eine gewisse Müdigkeit angesichts der in den neunziger Jahren in den eigenen Reihen gehegten Selbstbezüglichkeit reagiert.«52

Die hier angesprochene Realitätssehnsucht lässt sich mit Blick auf die zeitgenössische Medienlandschaft verdeutlichen, die zur Kontextualisierung von X Wohnungen entscheidend ist. Zahlreiche Formen und Formate weisen eine große Affinität zu Grenzverhandlungen zwischen Realität und Fiktion sowie zwischen erlaubten und unerlaubten Einblicken auf. Sendungen des Reality TV wie Big Brother, Mitten im Leben oder Dschungel Camp präsentieren einen inszenierten Blick auf scheinbar ungestellte Wohnumgebungen.53 Computerspiele wie Second Life hingegen ermöglichen die Erschaffung einer parallelen, virtuellen Gegenwelt zum eigenen Alltag und mediale Formen wie Blogs, soziale Netzwerke, Twitter und Webcams bieten Foren um zu kommunizieren, Kontakt aufzunehmen, Erfahrungen und Lebensgewohnheiten zu teilen und persönliche Details für die Allgemeinheit sichtbar und somit für Blicke von außen durchlässig zu machen.54 Zugleich wird das Internet flächendeckend genutzt, um die (Kauf-)Gewohnheiten der Menschen über Cookies oder per Spyware auszuspähen oder voyeuristisch an Leben und Handlungen anderer teilzuhaben. Im Zuge dieser gegenwärtigen Form medialer Präsenz werden – teilweise gezielt, teilweise aus Unwissenheit oder Unbedachtheit – bislang weitgehend verborgene und abgeschlossene Lebens- und Persönlichkeitsbereiche offen gelegt und dies sowohl gegenüber ausgewählten Kontaktpersonen wie auch virtuellen Fremden, was eine maßgebliche Rückwirkung auf die eigenen Handlungen hat. Dabei darf auch der Aspekt der Kontrolle nicht außer Acht gelassen werden: »Die Ausbreitung eines individuellen Voyeurismus und die Ideologie der Partizipation und Interaktivität gipfeln im Phantasma einer Kontrolle, die über Bildschirme von zu Hause aus, aus dem privaten Raum über die gesamte globale Umgebung auszuüben wäre. Gleichzeitig ist dieser private Raum Objekt der Beobachtung und Kontrolle von außen, sodass sich mit der weitgehenden Privatisierung öffentlicher Räume zugleich eine Veröffentlichung des Privaten abspielt, beide Bereiche in einer Zwischensphäre der Medien aufgehen.«55

Die X Wohnungen betreten jedoch nicht – wie den Chatroom – virtuelle Besucher, die Teilnehmer sind körperlich vor Ort präsent. In theatraler Rahmung wird hier

52 Behrendt 2003, 64f. 53 Zum Zusammenhang von Wohnen und medialer Zurschaustellung vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014, 23f. 54 Vgl. Weiß 2008, 174. 55 Primavesi 2008, 89.

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etwas leiblich vollzogen, was in Zeiten medialer Durchdringung aller Sphären zur teilweise bewussten, teilweise unbewussten Lebenswirklichkeit gehört. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch eine Erweiterung des Präsenzbegriffs andenken: Denn in einem bürgerlichen Wohnraumverständnis unterscheidet die Wand »[…] radikal zwischen dem Außen und dem Innen, indem sie zwei Seiten hat – die der Aus- und die der Einschließung. Man kann sich immer nur auf einer dieser beiden Seiten befinden.«56 Bezieht man jedoch Blicke und mediale wie virtuelle Raumpassagen mit ein, so bieten bauliche Elemente wie Wand, Tür und Fenster nicht mehr in jeder Hinsicht ein Hindernis. Wände können heute virtuell und kommunikativ spielend überwunden werden und es ist möglich, gleichzeitig auf beiden Seiten zu sein – sei es nicht körperlich, so doch in visueller oder medialer Präsenz. Dies stellt ein weiteres Mal das antagonistische Verständnis eines bewegten, sich wandelnden Stadtraums, der einen stabilen, fest umrissenen Wohnraum »durchlöchert« sowie die kausale Verknüpfung eines Außen als Öffentlichkeit und eines Innen als Privatheit in Frage: »Das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür gibt es nur noch in Märchenbüchern. Materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telefondraht, statt Fenster das Fernsehen und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.«57

Das durchdrungene und hybride Haus ist aus Flussers Sicht gleichbedeutend mit einem ›ruinierten‹ Haus, worin erneut die oben angeführte Annahme durchklingt, dass die eine Sphäre durch die andere absorbiert beziehungsweise zerstört würde. Auch die Wortwahl Schroers weist in diese Richtung: »Doch ebenso wie die klassischen öffentlichen Räume zunehmend mit Privaträumen durchsetzt sind […], so erweist sich umgekehrt der private Raum auch längst nicht mehr als der kontrollierbare, nach außen vollständig abschließbare Raum, der von Heimsuchungen durch öffentliche Angelegenheiten verschont bleibt. Dazu hat vor allem die Entwicklung der Medien beigetragen.«58

Neben den im einführenden Kapitel vorgenommenen Auseinandersetzungen mit Verfallsdiagnosen dieser Art, gilt es besonders den Begriff der Heimsuchung hinsichtlich des hier verhandelten Zusammenhangs zu differenzieren, da es sich – gerade im Falle des Internets – um einen ambivalenten Vorgang des Heim-Suchens 56 Selle 1993, 31. 57 Flusser 1997, 162. 58 Schroer 2006, 233.

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und des Heim-Holens im Sinne einer Inklusion des Öffentlichen in den privaten Bereich handelt. Komplementär dazu können durch die mediale Raumungebundenheit heute auch Vorgänge des Kommunizierens und der Informationsbeschaffung, die vormals auf einen festen Standort angewiesen waren, im Stadtraum vollzogen werden. Dies stützt die oben entwickelte These performativer Privatheitskonzeption, hier im Sinne einer Mobilisierung und Verzeitlichung von Informationen, Kommunikationsvorgängen und Rückzugsräumen. Auf den ersten Blick scheint damit ein genereller Verlust an Bedeutung und Wirkkraft von Grenzen verbunden zu sein, wie Schroer anführt: »Die Kommunikation im Netz scheint tatsächlich völlig unabhängig von geographischen Grenzen zu erfolgen. Doch geographische Grenzen sind nicht die einzigen, die durch den Cyberspace zunehmend irrelevant werden. Auch die Grenzen des Geschlechts, des Alters und der eigenen Identität sollen hier mühelos zu überwinden sein. Offenbar haben wir es nicht nur mit einer Enträumlichung und Entterritorialisierung, sondern auch mit einer Entgrenzung der Gesellschaft zu tun. Der Cyberspace scheint uns einer grenzenlosen Gesellschaft ein gewaltiges Stück näher zu bringen.«59

Bei einer solchen Diagnose würden jedoch, so führt Schroer selbst weiter aus, die im und durch den virtuellen Raum neu hinzutretenden Grenzen übersehen. Dazu gehört unter anderem das Aufkommen der »Grenze zwischen virtuell und real – einer Grenze, die längst schon in Zweifel gezogen worden war, bevor sie innerhalb der Diskussion um das Internet wiederbelebt wurde«60 Hinzu kommen leibliche, soziale und kommunikative Grenzen, da die Notwendigkeit zu Gesprächen und Begegnungen in körperlicher Kopräsenz in vielen Situationen nicht mehr gegeben ist. Für das Theater als seiner Tradition nach leiblich kopräsente Kunstform, stellt sich nun die Frage, welche Zugriffs- und Interaktionspotentiale sich mit dem Wohnraum in seiner ambivalenten Zuschreibung und Nutzung als abgeschlossener und zugleich (medial) durchdrungener Raum anbieten. Bei X Wohnungen wird die Durchlässigkeit und damit Öffnung bisheriger Rückzugsräume durch die Nutzung als Passagenraum und die Gleichzeitigkeit aus Heim-Suchen und Heim-Holen fremder Theaterpassanten thematisch. Diesen wird zugleich das bei Bildern und dem Blick aus dem Fenster verwehrte körperliche Durchdringen von Wohnräumen ermöglicht. Es ließe sich somit sagen, dass hier zu Bildern geronnene Imaginationen fremder Lebenswelten durch körperliche Begehung und Begegnung aus ihrem Bildstatus und ihrer festgelegten assoziativen Rahmung genommen werden. Gemeint sind hierbei die Blickrahmungen durch Fenster der Imagination, bei welchen die Berührungsscheu mit unbekannten Wohnräumen als Fensterscheibe und die 59 Schroer 2006, 252 [Hervorhebung im Original]. 60 Schroer 2006, 252.

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Einordnung in vorurteilshafte Kategorien als Fensterrahmen bezeichnet werden können. Das Fenster, das ansonsten die trennende Kontaktfläche darstellt, wird bei X Wohnungen gewissermaßen durch eine Tür ersetzt. Durch das Betreten und die körperliche Anwesenheit in den fremden Wohnumgebungen soll jedoch nicht von einem freien und unverstellten Blick auf etwas als ›real‹ oder ›authentisch‹ Behauptetes ausgegangen werden. Vielmehr werden bisherige Imaginationen und Projektionen entkräftet und durch neue ersetzt. Denn jeder Wahrnehmungsvorgang unterliegt einem Zuschreibungsprozess, bei direkter Anschauung jedoch, wie diese bei X Wohnungen erforderlich ist, werden schematische Stereotypisierungen – zumindest temporär und situationsgebunden – in Frage gestellt. Im Unterschied zu einem Bühnenkonzept, bei welchem die gesamte Anordnung in einem gezielten Vorgang des Zeigens für den Blick der Zuschauer entworfen wurde, finden sich die Teilnehmer bei X Wohnungen in Wohnräumen ein, die teilweise modifiziert, teilweise unmodifiziert in dieser Ausstattung bewohnt werden. Das theatrale Spiel mit dem Einblick in diese Umgebungen erlaubt scheinbare Schlüsse über den Lebensstil und die Persönlichkeit der Bewohner, weist jedoch im selben Moment darauf hin, dass Wohnarrangements auch außerhalb theatraler Rahmung ein Inszenierungsvorgang vorausgeht. Dies bezieht sich nicht nur auf den Blick anderer oder den Blick auf andere, sondern auch auf den eigenen Blick auf sich selbst und das eigene Wohnen: »Erst wenn wir beginnen, uns beim Wohnen aufmerksam zuzuschauen, entdecken wir staunend oder amüsiert, wie wenig ›modern‹ wir seit Alters her geworden sind.«61 Gerade jedoch diese Möglichkeit, sich den Blicken der anderen, aber auch den eigenen im Sinne einer Selbstkritik zu entziehen und sich zudem von einem kritischen Schauvorgang zu entlasten, stellt einen zentralen Grundpfeiler privater Kommodität im Sinne von Gemütlichkeit, Komfort und Bequemlichkeit dar. Somit schwingt in dieser Lesart privater Bequemlichkeit stets die Doppeldeutigkeit der Trägheit mit. Eine solche Form gedanklichen Niederlassens wird bei dem beschriebenen Theaterprojekt nicht ermöglicht, wodurch ein Reflexionsprozess befördert werden kann. Mit der Öffnung von Wohnumgebungen für Blicke von außen bedient sich das Projekt X Wohnungen eines Prinzips, das auch von zahlreichen medialen Formaten, wie der bereits genannten Sendung Big Brother, genutzt wird, um gezielte Einblicke zu evozieren. Der Theater- und Medienteilnehmer wird somit zum Voyeur gegenüber anderen wie auch in einem Vorgang der Spiegelung gegenüber sich selbst. Das Spezifikum bei X Wohnungen besteht jedoch darin, dass man sich in Kleingruppen aus zwei Teilnehmern körperlich durch die Wohnräume bewegt, und damit selbst stark exponiert ist. Dadurch wird der Rückzug in die Nicht-Reflexion durchkreuzt und man selbst zum Betrachtungsobjekt und zum Betrachtenden zugleich. Anders als bei Reality-Formaten im Fernsehen erfolgt der theatrale Vorgang über 61 Selle 1993, 7.

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ein Sehen und Gesehen Werden, eine Notwendigkeit zu situativer, unmittelbarer Reaktion, die es nicht bei einem rein voyeuristisch-abständigen Schauvorgang belässt. Direkter Kontakt und Interaktion überführen abständiges Betrachten somit in einen Prozess der Auseinandersetzung mit dem unbekannten Betrachteten.62 »Voyeurismus ist nur die Eintrittskarte, denn sehr schnell wirft das Projekt den Zuschauer auf die Struktur der eigenen Vorurteile zurück.«63 In dieser Lesart kann voyeuristische, grenzüberschreitende Neugier auch eine positive Besetzung erhalten, indem so ein offener Modus des Schauens befördert wird, der unbekannte Gegenden in das Repertoire der Passagenräume für Bewegungen und Blicke mit aufzunehmen bereit ist, anstatt eine Ghettoisierung der Alltagswege zu tradieren: »Fast jeder von uns lebt in sehr effektiv organisierten Ghettos: Man versucht, vornehmlich mit Leuten zusammenzutreffen, die im eigenen Alter sind und die die eigenen Interessen teilen; man bewegt sich geographisch zwischen bestimmten Lebensfixpunkten und versucht alles auszuklammern, was anders ist, vor allem unbekannte Orte. Ein Projekt wie X Wohnungen, bei dem es darum geht, aus eben diesen Alltagsghettos auszubrechen, fordert die Auseinandersetzung mit ganz anderen Lebenswelten, stöbert sie auf und entlarvt im Zuge dessen fast sämtliche Vorstellungen als Vorurteile.«64

Das Spiel mit dem voyeuristischen Blick in positiver wie negativer Perspektive ist jedoch im Theaterkontext und speziell bei X Wohnungen stets im Zusammenhang einer inszenatorischen Setzung zu sehen, bei welcher die Teilnehmer gezielt in diese Betrachterhaltung gebracht werden. Es handelt sich somit in der Grundanordnung um die Behauptung eines unerlaubten (Ein-)Blicks, bei der die Betrachter gezielt und offensiv mit angeblich geheimen Anblicken konfrontiert werden und somit in die Position des Voyeurs gebracht werden. An dieser Stelle geht auch oben angeführte Parallelisierung von Bildern und Fenstern durch Selle nicht auf, da dabei der Aspekt ästhetischer Rahmung außer Acht gelassen wird, der jedoch bei Bildern ebenso wie bei Theateraufführungen maßgeblich zur Bedeutungskonstitution beiträgt. Es gilt hierbei zu differenzieren zwischen dem durch die Fenstereinfassung gerahmten Ausblick und dem ästhetisch gerahmten Anblick, den ein exponiertes Gemälde wie auch eine Inszenierung bietet. Bezogen auf X Wohnungen und verwandte Theaterformen bedeutet dies, dass nicht vernachlässigt werden darf, dass das Gesehene hier stets etwas Gezeigtes, etwas performativ zur Schau Gestelltes ist. Bezogen auf das Öffentlichkeits-Privatheits-Kontinuum lässt sich feststellen, dass hier Rückzugsräume ostentativ ausgestellt werden, dabei jedoch weiterhin als 62 Vgl. Zwinger 2011, 55f sowie Bach 2010. 63 Lilienthal 2003, 12. 64 Lilienthal 2003, 11.

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solche gerahmt bleiben, wodurch den Betrachtenden intentional der Eindruck vermittelt wird, an etwas öffentlich Teil zu haben, was dem Bereich des Privaten zugeordnet ist. Denn variieren auch die Blickrichtungen sowie die spezifischen Situationen, sodass zwischenzeitlich das Gefühl übergriffigen Schauens erzeugt wird, so sind die Theaterteilnehmer doch in allen Wohnungen erwartete Besucher und keine voyeuristischen Eindringlinge. Mit genau diesem Moment der Verunsicherung und der Gleichzeitigkeit von gezieltem Zeigen, einem Aufdrängen intimer Sachverhalte, einvernehmlichem Zusehen und übergriffigem Schauen sowie mit der Fremdheit der Situation, die daraus resultiert, dass man sich körperlich, nicht nur medial vermittelt, in einem fremden Rückzugsraum bewegt, wird bei X Wohnungen gespielt. »Kaum etwas stört unsere Wahrnehmungs- und Interpretationsgewohnheiten im Theater so sehr wie solche Momente, in denen die Rahmung und Abgrenzung einer szenischen Darstellung gegenüber einem Außerhalb, einer Wirklichkeit des alltäglichen Lebens unterlaufen oder aufgebrochen wird – wenn das Entstehen von Bildern jenseits einer Ästhetik der Abbildung zeitlich und räumlich entgrenzt und dadurch weitgehend dem Zuschauer und seiner Vorstellungs- bzw. Einbildungstätigkeit überantwortet wird, wenn das Zuschauen als solches bewusst gemacht wird, der Blick des Betrachters als eine zwischen Voyeurismus und Zeugenschaft schwankende Aktivität. Der Prozess des Sehens kann im Theater auch eine Verunsicherung des eigenen Standpunktes bewirken, beispielsweise indem das traditionelle Prinzip der Verkörperung verweigert wird.«65

Bei X Wohnungen werden (Alltags-)Ausschnitte zur Anschauung gebracht, die in ihrem Grad künstlerischer Geformtheit stark variieren und damit einen steten Aushandlungsprozess bezüglich des Verhältnisses zu einem ›Außerhalb‹ wie Primavesi es hier nennt erfordern. Dadurch wird eine Verunsicherung des Blicks gegenüber dem Angeblickten evoziert, da die alltäglichen Rahmungsmechanismen für Wohnräume nicht mehr greifen und eine Ästhetisierung der Gesamtsituation eintritt: Durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf alltägliche Abläufe werden diese somit, wie auch Lilienthal anführt, hervorgehoben und der Theaterteilnehmer »erlebt alles, was ihm begegnet, Inszeniertes und Beobachtetes aus einer ästhetisierenden Perspektive, so daß sich seine Eindrücke zu einem theatralem [sic!] Gesamtereignis verdichten […].«66 Besonders trifft dies dann zu, wenn wie hier durch räumliche Passagen auch der Standpunkt in körperlich-räumlicher Sicht verweigert wird und man sich stets neu gedanklich wie auch körperlich positionieren und ausrichten muss. Dadurch, dass die Theaterpassanten ständig zwischen Stadtraum und Wohnraum wechseln, bildet sich ein theatraler Raum heraus, bei welchem die Übergänge ebenso ent65 Primavesi 2012, 25. 66 Lilienthal 2003, 12.

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scheidend sind wie die Stationen selbst, der »städtische Raum geriet mit ins Blickfeld und stellte die Inszenierung unwillkürlich in einen bestimmten Kontext, öffnete Assoziationsfelder.«67 In der Wahrnehmung kann dabei – je nach Blickwinkel – etwas Verborgenes als ostentativ Ausgestelltes oder etwas gezielt inszenatorisch Initiiertes als zufällige Gegebenheit empfunden werden, was eine Spannung bezüglich des situativ hervorgebrachten Öffentlichkeitsgrades erzeugt. Nachdem diese Spannungsfelder, die bei X Wohnungen bei jeder Station aufs Neue aufs Spiel gesetzt werden, nun mit dem Gast und dem Voyeur bereits anhand zweier Rollenmuster des Theaterteilnehmers exemplarisch beleuchtet wurden, erfolgt nun abschließend eine dritte Perspektive, bei welcher den Besuchern die Rolle kurzzeitiger (Mit-)Bewohner zukommt und zugleich die Frage aufgeworfen wird, was heute (temporäres) Wohnen bedeutet. Geliehene Privatheit und Wohnen als passagerer Prozess: Temporäre (Mit-)Bewohner Bei der von dem Schweizer San Keller, der sich selbst als »Dienstleistungskünstler«68 bezeichnet, im Rahmen von X Wohnungen Mannheim entworfenen Installation werden die beiden Teilnehmenden, die zuvor die meiste Zeit in dieser Zweierkonstellation unterwegs waren, nun aufgeteilt und eine(r) von beiden wird in die Küche, der oder die andere in das Wohnzimmer geleitet. Dort treffen sie auf jeweils einen der beiden Theaterteilnehmer, die die Route unmittelbar vor beziehungsweise nach ihnen beschreiten. Der Auftrag lautet nun, sich mit diesen über die eigene Wohnung zu unterhalten und auszutauschen, während man in dem geliehenen Wohnraum beieinander sitzt. Ist dabei den Anwesenden zwar deutlich im Bewusstsein, dass es sich bei der aktuellen Umgebung nicht um die eigene Wohnung handelt, so wird das eigene Wohnen dennoch thematisiert und zudem eine Situation kreiert, die einem Wohngemeinschafts-Casting ähnelt – nur, dass nicht klar ist, wer sich hier bei wem vorstellt. Das Gefühl, in die Rolle eines temporären Bewohners zu schlüpfen, wird dadurch befördert, dass man nach anfänglicher Instruktion in der Wohnung alleine gelassen wird und bei den Gesprächen keiner der regulären Bewohner oder der Künstler anwesend ist. Dies erhöht die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Kurzzeitig kann dabei der Anschein unbeobachteten, ungestörten Aufenthalts aufkommen. Dem Eindruck temporären Wohnens, der dabei anzuklingen vermag, widerspricht jedoch, dass alle Möbel und Einrichtungsgegenstände die einer anderen Person sind und es zudem an Ortskenntnis fehlt, wodurch man nicht weiß, wo sich welche

67 Schultze 2003, 16. 68 http://www.playingthecity.de/kuenstler/san-keller/, Stand: 13.6.2014.

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Räume und Gegenstände befinden. Zudem ist auch hier die ›Wohnzeit‹ auf zehn Minuten limitiert. Diese Form temporär begrenzten Wohnens in einer zuvor eingerichteten Wohnumgebung weist starke Parallelen zu dem Wohnen in einem Hotel auf – einem Passagenraum, in dem ebenfalls in den letzten Jahren zahlreiche Theaterprojekte realisiert wurden.69 Sind Hotels bekanntermaßen keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, so ließen sich diese doch als Symbol und Inbegriff für die zeitgenössische Tendenz zeitlich begrenzten Wohnens und mobiler, temporärer Verräumlichung im Kontext der oben ausgeführten Entwicklungen der Flexibilisierung, Mobilisierung und Globalisierung bezeichnen.70 Hotelzimmer bieten standardisierte Ausprägungen von Rückzugsräumen, die in Form eines ›Einheitszuhauses‹ für einen kurzen Zeitraum als Refugien geliehener Privatheit fungieren. Dabei stellen sie gerade für Menschen mit mobilen Lebensläufen, wie Geschäftsleute, zentrale Anlaufstellen dar. Dies gilt weniger für die Hotels, die der Freizeitgestaltung dienen, sondern besonders für jene, die an Alltagswegen positioniert sind, und dadurch eine schnelle Erreichbarkeit und mühelose Zugänglichkeit für Menschen auf der Durchreise aufweisen. Diese dienen nicht als vom Alltag losgelöste Erholungsstätten, sondern als standortunabhängige Teilzeitbehausungen. Die Austauschbarkeit weltweiter Hotelketten – die Augé in den Ausführungen zu Nicht-Orten auf theoretischer und Theaterprojekte wie Parallele Städte auf theaterpraktischer Ebene thematisieren71 – schaffen ein Vorwissen der Beteiligten über den Raum, ohne selbst dort gewesen zu sein. Die Folge ist, dass einem diese Orte vertraut erscheinen, da man sie von überall her zu kennen glaubt. Man muss sich kaum mehr neu orientieren und hat direkt das Gefühl, schon einmal zuvor dort gewesen zu sein. Diese fremd-bekannten Orte helfen über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass man sich auf einer ständigen Reise befindet, als Anker des scheinbaren Ankommens an einen Ort, an dem man sich passager beheimatet fühlt und dessen Oberflächlichkeit man daher meist nicht aufzudecken bereit ist. Die Angleichung und Homogenisierung von Passagenräumen kann auch als Ausdruck einer Angst vor dem Fremden und einem Fremdheitsgefühl gewertet 69 Als weitere Beispiele von Theaterereignissen im Hotel lassen sich exemplarisch folgende nennen: Gob Squad: Roomservice. Help me make it through the night (2003), Bernhard Mikeska: Rashomon :: TRUTH LIES NEXT DOOR (2006), Dries Verhoeven: U bevindt zich hier (2007), Zimmermädchen von Lola Arias, ein Bestandteil des Projekts Ciudades Paralelas/Parallele Städte (2011). Matthias Lilienthal/Raumlabor Berlin: Hotel Shabby Shabby (2014). 70 Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Mobilitätsthematik vgl. Kapitel II, zu den Diskursen um Nah- und Fernräume Kapitel III. Zum Hotel als Durchgangsraum vgl. Lehnert 2011, 151-172. 71 Vgl. Augé 2010.

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werden, sodass durch das Erzeugen bekannter Anklänge verhindert wird, dass man sich seiner eigenen Fremdheit und gegebenenfalls Einsamkeit bewusst wird. Zugleich bleibt einem das Bemühen erspart, sich mit Fremdem und Unbekanntem auseinander zu setzen. Hotels stellen somit einen Zwischenhalt in passageren Abläufen dar, ohne dabei jedoch längerfristiger Verortung zu dienen: Sie sind vielmehr selbst Passagenräume, da in ein und demselben Zimmer nahezu täglich neue Reisende Einzug halten. Damit initiieren sie, so Lehnert, »nicht einen anderen Seinszustand, sondern feiern die Wiederholung.«72 Das Bewusstmachen von Schwellen und Übergängen, wie dies durch Theater geschehen kann, schärft den Blick für diese zugleich passageren wie auch zyklisch sich wiederholenden Vorgänge und verhilft dem Einzelnen bei der Lokalisierung innerhalb komplexer Gefüge, wie auch Lehnert ausführt: »Die konkret wahrnehmbare ebenso wie die ästhetisch in Szene gesetzte Schwelle vermag diesen Prozess des ständigen Wandels und der Vergänglichkeit ins Bewusstsein zu rufen gegenüber der Gewohnheit, die bestrebt ist, den Verlauf der Zeit und Schichtung der Räume und Orte zu einer harmonischen Einheit zu gestalten. Sinn der Schwelle wäre es, diese notwendig vordergründig bleibende Glättung immer wieder zu durchbrechen und dem Subjekt seine grundsätzliche Einsamkeit in der Welt zu verdeutlichen, und natürlich auch seine Vergänglichkeit.«73

Der theatrale Schwellengang und die Praxis temporären Wohnens, die hier in einer zehnminütigen Sequenz erprobt werden, findet jenseits des Projekts X Wohnungen in zugespitzter Form in dem Raumlabor Berlin-Projekt Hotel Shabby Shabby74 künstlerischen Niederschlag. Dabei wird weniger auf die Aspekte der Universalität abgehoben, als vielmehr auf die Transitorik und Prozesshaftigkeit des Wohnens selbst. Im Rahmen von Theater der Welt 2014 erhielten die Besucher die Möglichkeit, für eine Nacht in einem temporären Hotelzimmer an ungewöhnlichen Orten der Stadt zu übernachten: Auf einem Parkhausdach stand ein Doppelbett in einem flammenförmigen Bretterkonstrukt, das durch eine Plexiglasfront auf der vom Parkdeck abgewandten Seite den Blick über die Stadt und auf die untergehende Sonne freigab. Auf dem Bug eines Museumsschiffes konnten die Besucher aus dem Bett die passierenden Schiffe betrachten oder sich selbst in einem Korb in die Krone eines Baumes heraufziehen. Diese und die anderen der zwanzig temporären Ho72 Lehnert 2011, 167. 73 Lehnert 2011, 167. 74 Das Projekt fand vom 23. Mai _ 8. Juni 2014 im Rahmen von Theater der Welt Mannheim statt. Projektleitung Benjamin Foerster-Baldenius (Raumlabor Berlin); vgl. hierzu http://www.nationaltheater-mannheim.de/de/theater__der_welt/stueck_details.php?SID= 1865, Stand: 21.7.2015.

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telinstallationen boten den Kurzzeitbewohnern an Alltagspassagenräumen kurzfristige Verortungsangebote und spielten dabei gerade mit den Grenzverläufen von Sichtbarkeit und Verborgenheit, Verweilen und Passieren, wie auch der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Nutzungsintentionen an ein und demselben Ort. Die temporäre Begrenztheit des Wohnens, die ein Hotelzimmer stets in sich trägt, wird mit diesen Anordnungen verstärkt zur Anschauung gebracht, da in den meisten Fällen die Routinen des Alltags spätestens am Morgen wieder Einzug halten und man weiterziehen muss. Dies ist spätestens der Fall, wenn Autos um das Schlafzimmer parken, die Markthalle, in deren Mitte man schläft, bei Tagesanbruch mit Waren beliefert wird, oder das Museumsschiff seine Pforten wieder für alle Besucher öffnet. Dabei stellt sich die Frage, was ein Zuhause ausmacht und was es heute in städtischen Kontexten von anderen Räumen unterscheidet. In der performativen Lesart, die sowohl bei X Wohnungen als auch bei Hotel Shabby Shabby anklingt, kommt die Denkfigur performativen Wohnens zum Tragen, was sich dadurch zeigt, dass durch eine konträre Nutzungsweise beispielsweise ein Parkhausdach kurzzeitig in eine Wohngegend umgewandelt werden kann, wodurch die Grenzziehungen zwischen eigenem Zuhause und anderen Räumen ein gutes Stück als Behauptungen und Setzungen ausgewiesen werden. Wie die Analyse zeigt, bietet sich das Hotel als Sinnbild eines postmodernen Lebensstils an, bei welchem neben ›Coffee to go‹ auch ›Schlafen to go‹ zur Lebensrealität vieler Menschen gehört. Auch Bauman beschreibt heutige Aufenthaltsorte als »Campingplätze, keine Domizile; […] Man senkt – wenn überhaupt – nur flache Wurzeln in die Erde […].«75 Das Theater kann hier die Aufgabe übernehmen, auf spielerische Weise diese Verschiebung aufzugreifen und nach den Funktionen des Wohnraums in einer mobilisierten Gesellschaft zu fragen. Dieser Aspekt wird bei der beschriebenen temporären Wohnsituation in dem X Wohnungen Beispiel von San Keller aufgegriffen und auf eine Frequenz von 10 Minuten verkürzt. Indem man für begrenzte Zeit in einer fremden Küche sitzt als wäre es die eigene, wird Wohnen und der kurzzeitige Aufenthalt in unbekannten Wohnungen durch das rasche Durchlaufen der verschiedenen Stationen nicht als Zustand, sondern als passagerer Prozess gerahmt, der in seiner Zeitlichkeit und Ausprägung sowie seinem Grad an Durchlässigkeit und Dauerhaftigkeit variieren kann. Auch alltägliche Wohnräume sind durch Fluktuationsbewegung gekennzeichnet, wenn auch in abgeschwächterer Form als in Hotels oder in den X Wohnungen. Doch auch die eigene Wohnung kann durch die oben ausgeführten medialen Praktiken zu einem temporären Hotel für virtuelle Gäste werden. Neben dem Vorgang des Onlinesurfens etablieren sich seit den 2000ern zudem vermehrt Wohnformen wie Couchsurfen, bei welchen jenseits fester Institutionen, etwa Hotels, der eigene Wohnraum unter dem

75 Bauman 1999, 161.

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Motto »share your life«76 zum temporären Gästezimmer wird. Kann der Grad an Durchlässigkeit somit zu Hause zeitweise sehr hoch sein, ist es ebenso denkbar, sich im Gegenzug – wie in den vorherigen Beispielen ausgeführt – in städtischen wie globalen Räumen stets aufs Neue temporäre Formen eines ›Zuhauses‹ zu suchen. Vor dem Hintergrund eines performativen Privatheitsverständnisses kann auch dies als Beleg dafür gewertet werden, dass in Wohnräumen nicht per se Privatheit als Zustand gegeben ist, sondern diese durch Handlungen hervorgebracht wird und unterschiedlich hohe Grade an Verstetigung und Privatheitsdichte aufweist. Führt man die Argumentationslinie weiter, dass sich das Private über Handlungen manifestiert, wird die These validiert, dass dieser Vorgang nicht auf einen festen Ort zu beschränken ist, sondern sich eher als ein Modus des Privaten beschreiben lässt, der sich in einer Wohnumgebung ansiedeln kann, jedoch nicht muss. Ein Faktor der Etablierung eines privaten Moments oder einer privaten Umgebung ist die Eindämmung von Kontingenzen, was bei X Wohnungen jedoch durch einen hohen Grad an Unbekanntem und Unvertrautem größtenteils verwehrt bleibt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass Momente entstehen, in denen man sich – unabhängig davon, ob es sich um die ›eigene‹ Wohnung handelt – situativ heimisch fühlt: »Wer um die Ecke Brötchen holen geht, taucht in vertraute, winklige Nahräume ein, kann darin mit dem Fremden zusammenprallen oder darüber stolpern, oder sich ganz zu Hause fühlen, wie in einem Wohnzimmer, dem nur die Decke fehlt. Solche Viertel wirken wie Veräußerlichungen des Intimen Drinnen oder wie ein perforierter Raum, in dem das Private und das Öffentliche in Austausch treten.«77

Angeeignetes beziehungsweise Anzueignendes kann folglich auch unabhängig von räumlicher Verortung als Erweiterung des Wohnraums wahrgenommen werden. Auf diesen Aspekt hebt ein weiteres Teilprojekt bei X Wohnungen unter dem Titel Home Theatre, das von der finnischen Performance- und Installationskünstlerin Tellervo Kalleinen erdacht wurde, in besonderem Maße ab: In der Mitte eines großzügigen Wohnraums eines Lofts mit Galerie steht ein langer, gedeckter Holztisch. Dabei handelt es sich nach Aussage der Bewohner um das zentrale Möbelstück der Wohnung, da sich an diesem die wichtigsten Szenen der Familie abgespielt haben.78 Unter den Tellern, die auf dem Tisch stehen, sind kurze Alltagssituationen und Dialoge zu finden, die einem skizzenhaften Theaterskript ähneln und von den Teilnehmer nachgestellt werden sollen. Die Bewohner selbst, die die Pro76 Vgl. https://www.couchsurfing.org/, Stand: 21.7.2015. 77 Selle 1993, 190. 78 Vgl. http://www.tellervo.net/performances/home-theatre, Stand: 21.7.2015.

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tagonisten des hier in komprimierter Weise beschriebenen Alltags sind, sitzen auf der Galerie und betrachten die Szenerie ihres eigenen Alltags in Form einer re-präsentierten Theateraufführung. Die Form, die dabei gewählt wird, erinnert an die des Reenactments:79 Gelebte Erfahrungen werden von den fremden Besuchern nachgestellt und damit leihweise angeeignet. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es sich nicht um die Erlebnisse der Bewohner selbst, sondern nur um eine Neuinterpretation derselben handeln kann. Der Moment des Übertrags, und somit gewissermaßen der Erfahrungspassage, wird in Kalleinens Performance dadurch betont, dass die Teilnehmenden die Erlebnisse lediglich auf kleinen Zetteln beschrieben vorfinden, die damit in schriftliche Form überführt und auf wenige Wörter reduziert sind. Daraus kreieren sie – vor den Augen der vermeintlichen Originale, den Bewohnern des Hauses – mithilfe ihrer eigenen Imagination und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen neue Situationen auf den Spuren vergangener. Narrativ und Ort der beiden Ereignisse stimmen überein, die Verkörperung und Verräumlichung werden hingegen situativ hervorgebracht. Dabei wird die Relationalität von Situationen ebenso betont wie die Transitorik von (Theater-)Ereignissen und zugleich kann der theatrale Entwurf als Kritik an Repräsentationstheaterformen gelesen werden.80 Indem die Form eines theatralen Reenactments gewählt wird, dessen Grenzen aus genannten Gründen zugleich deutlich zum Vorschein kommen, wird auf die generelle Unmöglichkeit Situationen zu wiederholen verwiesen, denn diese sind passager und ephemer, sei es im Theater oder im Alltag. Denn Erfahrungen können ausschließlich selbst, nicht jedoch stellvertretend erlebt werden. Ebenso wenig ist es möglich, vergangene Ereignisse durch Wiedervergegenwärtigung zu wiederholen, sei es wie hier durch Dritte, oder durch die Person die diese zu einem früheren Zeitpunkt erlebt hat. Betrachtet man unter dem Aufhänger der Übertragbarkeit die räumlichen Kristallisationsformen des Wohnens, so zeigt sich, dass sich Wünsche und Vorstellungen, die damit verknüpft sind, stets an Orte binden, diese jedoch wiederum variabel sind. Nicht jedoch sind sie – wie Vonderau betont – dadurch beliebig: »Das Zuhause ist […] weder ein einziger noch ein einfacher Ort – nichts, was es nur einmal auf der Erde geben kann, aber auch nichts, was wahllos überall platziert und beliebig simuliert werden könnte. Nicht zuletzt ist es auch ein metaphorisches Modell, hinter dem sich

79 Vgl. Roselt/Otto 2012. 80 Zur Ablösung von Repräsentation zu Präsentation und der Konzentration auf Körperlichkeit in Abgrenzung zur Verkörperung einer Rolle im Kontext der Performancekunst vgl. Fischer-Lichte 2004, 37ff und 129-186.

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ganz private Welten verbergen, ein Modell, auf das individuelle Wünsche und Träume projiziert werden.«81

Die Auflösung fester Bindungen und Lokalisierungen und das Bedürfnis nach einer Definition des eigenen Zuhauses sind damit nicht im Widerspruch zu sehen, sondern als komplementäre Entwicklungen, sodass Raumgefüge des 21. Jahrhunderts je nach situativer Bedürfnislage »dem Mobilitätsdrang der Personen ebenso wie ihrem Bedürfnis nach Stabilität und Ortsgebundenheit standhalten müssen.«82 Momente des Privaten werden somit zunehmend ortsungebunden, aber dennoch raumbezogen, performativ und passager hervorgebracht. In einem erweiterten Raumverständnis gedacht, müssen diese Nischen nicht zwangsläufig materialisierte Formen annehmen, sondern können auch als gedankliche Prozesse vor sich gehen: »Die Orte des Feierabends werden wegen ihrer Flüchtigkeit nicht persönlich gestaltet, sondern nur als persönlich vorgestellt. Dabei sind es eher simulierte und nachgespielte Alltagsroutinen, denn aktive Versuche der Raumgestaltung, die das Gefühl geben, an einem Ort zu sein.«83 Dieser Aspekt eines imaginierten Zuhauses, der bei Hotels besonders deutlich zum Vorschein kommt, sich aber auch in dem Performanceprojekt um einen Wohnzimmertisch zeigt, lässt sich auch auf andere Wohnumgebungen rückübertragen. Denn die Ausgestaltung und das, was mit einem Zuhause verbunden ist, ist immer auch Ergebnis eines Imaginationsvorgangs und erhält seine Bedeutung dadurch, dass ihm bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. So kann der Wohnraum verstanden werden als Schutzraum, Intimitätsbereich, Entfaltungsfläche, als ein Raum, in dem man der Sichtbarkeit sowie der Wertung anderer entzogen ist oder auch als ein Raum äußerer Stagnation und innerer Bewegung. Diese Lesart des Wohnens als Erzählung des eigenen, imaginierten Alltags – nach Bachmann zu bezeichnen als unterschiedliche »Szenen aus einem geträumten Wohnen«84 – kann als zentrales Spielelement bei X Wohnungen bezeichnet werden, wie auch Matthias Lilienthal beschreibt: »Vor allem das Zuhause ist eine Erzählung darüber, wie man lebt, wie man fähig oder unfähig ist zu leben, es ist ein Ort der Biographie […].« 85 Dies zeigt sich exemplarisch am Beispiel des Teilprojekts Home Theatre, bei welchem der imaginierte Alltag eines anderen und dessen geliehene Lebensgeschichten in einem geliehenen Wohnraum unter den Augen der bisherigen Träger der Erfahrungen und zugleich der Bewohner des Raumes vorgeführt und dabei mit eigenen Imaginationen gefüllt und vervollständigt werden. 81 Vonderau 2003, 43 [Hervorhebung im Original]. 82 Vonderau 2003, 78. 83 Vonderau 2003, 36. Der Begriff des Ortes wird hier im Sinne Marc Augés verwendet. 84 Bachmann 2012b, 310 [Hervorhebung im Original]. 85 Lilienthal 2003, 9.

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In einer Rezension der ZEIT prognostiziert Rüdiger Schaper emphatisch: »Und wenn man in zwanzig oder dreißig Jahren einmal zurückblickt auf den Kunstbetrieb von heute, dann wird X Wohnungen wie ein Paradigma wirken. Kunst und Medien dringen in alle Bereiche des Lebens vor, bis ins Kleinste. Die eigenen vier Wände – Leinwände!«86 Damit betont er die durch Theater hervorgehobene Gestaltbarkeit der Lebensumgebung, bei der seitens der Inszenierung kein klarer, linearer Entwurf vorgegeben wird, sondern die Wände als gestaltbare Leinwände für Projektionen und Entwürfe gezeigt werden und von den einzelnen, passageren Bewohnern stets aufs Neue übermalt werden können. In diesem Sinne treten den Passanten die Wohnräume wie auch die damit verbundenen Biographien hier als Erzählungen entgegen, die in unterschiedlichem Maße fiktional und ästhetisch überformt sind und durch die Teilnehmer weitergesponnen und -erzählt werden.87 So wurde oft, wie Schultze beschreibt, »mit einer Poetisierung des Spielortes gearbeitet und dessen Präsenz als Grundlage einer Theatralität benutzt, die mit einer extrem dünnen Abstraktionsschicht auskommt. Im Vordergrund stand nicht die artistische Überhöhung und Verfremdung bestimmter narrativer Inhalte, sondern die unmittelbare Erfahrung einer theaterhaften Wirklichkeit […].«88

Die häufig im Kontext der Produktion in den Vordergrund gestellte Frage danach, wieviel in diese Alltagsumgebungen seitens der jeweiligen Regisseure eingegriffen und was des Gesehenen und Erlebten zuvor inszeniert wurde, rückt durch die Einsicht in den Hintergrund, dass jede Wohnung als Alltagsnarration, Inszenierung und räumliche Manifestation von Lebensstilen gesehen werden kann. Damit erweist sich das Innere als Ausdruck des Äußeren und umgekehrt, der heutige Wohnraum – wie die Ausführungen zeigen – als Verdichtungs- aber auch Projektions- und Imaginationsfläche des Privaten und das Private als Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Wie sich zeigen ließ, werden Wohnumgebungen und das Wohnen als Praxis im Kontext heutiger Lebenswelten zunehmend passager und situativ hergestellt, und – wie dies auch für städtische Passagenräume gilt – in deren Grenzverläufen vornehmlich über Praktiken der Abschirmung und Hybridisierung hervorgebracht. Anstatt das Zuhause als Kategorie und Bezugsgröße des Alltags in Frage zu stellen, ließe sich in Folge der Ausführungen von einer Praktik des Woh86 Schaper, Rüdiger: »Kunstaktion ›X Apartments‹. Die eigenen vier Leinwände.« In: Zeit Online, 22. Juni 2010, http://www.zeit.de/kultur/2010-06/kunstaktion-warschau/ komplettansicht, Stand: 5.3.14. 87 Zum Wohnen als »Zeigesystem des Sozialen« vgl. Nierhaus und Nierhaus 2014, 16ff, Bachelard 2007 [1957], Bachmann 2012a/b, Keim 2012, 143-162., Nierhaus/Heinz/Keim 2013, S. 117-130, Oy-Marra/Pisani 2014. 88 Schultze 2003, 19.

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nens in alltags-theatraler Verschränkung innerhalb eines performativen Kontinuums zwischen Privatem und Öffentlichem sprechen. Wohnkonzepte müssen somit innerhalb des Gefüges globalisierter, mobilisierten und medialisierter Lebenswelten stets aufs Neue aus- und eingerichtet werden. Im gleichen Zuge verschieben sich auch die alltäglichen Raumbezüge, indem sich das Festnetz zum Mobiltelefon, der Internetanschluss zum Smartphone, das Einkaufen in der Innenstadt zur OnlineBestellung und Begegnungen und Meetings zu ortsungebundenen, virtuellen Absprachen entwickeln. Die Variablen, die zur Dosierung des jeweiligen Grades an Privatem oder Öffentlichem beitragen, setzen sich aus (bewegungs-)räumlichen, visuellen, medialen und gedanklichen Komponenten zusammen. Auf diese Weise kann situativ das Sitzen auf dem heimischen Sofa einen höheren Öffentlichkeitsgrad aufweisen als ein Gang durch den Bahnhof.

V Zum Ausgang

14 Performative Passagen und Passagen des Performativen

Passagenräume des Alltags in ihrer sozio-kulturellen und performativen Durchdringung erweisen sich vor dem Hintergrund der konkreten Fallbeispielanalysen als paradigmatischer Raumtypus des frühen 21. Jahrhunderts. In mikrostrukturellen Momentaufnahmen und Stichproben performativer Praxis geben diese ausgiebig Auskunft über makrostrukturelle Tendenzen, gesellschaftliche Entwicklungslinien und urbane Strömungen. Ohne den Blick auf die gesamten globalen Querverbindungen ausweiten zu müssen, kristallisieren sich somit in Bahnhöfen, Shopping Malls oder Verkehrsmitteln die Veränderungen und Umbrüche heutiger Zeit. In diesem Sinne brechen sich in ihnen kaleidoskopisch Thematiken wie Globalisierung, Mobilität und Öffentlichkeit. Die Annäherung an diese Verdichtungsräume im Zuge der vorliegenden Untersuchung ist von einer doppelten Perspektivierung geprägt: Zum einen werden alltägliche Passagen mit theaterwissenschaftlichem Blick auf ihre Bewegungsvorgänge, Inszenierungs- und Lenkungsstrukturen sowie auf ihre Kommunikationsund Interaktionsmuster hin untersucht und auf ihre spezifischen performativen Hervorbringungsstrategien und Ostentationsgrade befragt. Zum anderen erfolgt eine Einbettung zeitgenössischer Theaterereignisse in das sie umgebende, bedingende und zugleich durch sie hervorgebrachte Interdependenzgefüge sozio-kultureller Vorgänge. Städtische Mobilitätsgefüge, Strategien offenkundiger und subtiler Bewegungslenkung, sich entgegenwirkende Kräfte des Passierens und Verweilens und die Rhythmisierungsstrukturen konkreter Bewegungsabläufe bestimmen die erste von drei thematischen Zugriffen auf das Material: Passagenräume zwischen Mobilität und Verortung. Den in diesem ersten Block unternommenen Analysen wurde die Idee unterschiedlicher Aggregatzustände des Mobilen zugrunde gelegt. Auf diese Weise lässt sich mit Hilfe vorliegender Studie zeigen, dass es sich dabei um einen stets im Wandel begriffenen Prozess handelt, der sich nicht dichotomisch abbilden lässt, sondern in seinen Übergängen gekennzeichnet werden muss. Zeitweilige Ver-

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festigung und Verstetigung im Sinne von Verräumlichungen und Konsolidierung einzelner Momente und Konstellationen gehen somit Hand in Hand mit Prozessen der Verflüssigung und Neuausrichtung. Zur Vervollständigung des AggregatDreiklangs bei Adaption auf das 21. Jahrhundert schlage ich die Hinzunahme der Gasform vor, die Bauman in seinem Begriffsrepertoire des Festen und Flüssigen nicht ausführt, beziehungsweise sie in einer Erwähnung unter dem Aspekt variabler Gestalt mit dem Flüssigen gleichsetzt.1 Im Kontext vorliegender Untersuchung wird jedoch deutlich, dass die Gasform in ihren Spezifika sinnbildlich beispielsweise für Vorgänge angewendet werden kann, die durch die Möglichkeiten der Medialisierung und Digitalisierung zeitgleich an unterschiedlichen Orten ablaufen und dabei dennoch miteinander in Verbindung stehen – wenngleich nicht in sichtbarer oder haptischer Form. Die drei exemplarisch ausgeführten Fallbeispiele zum ersten Themenblock bedienen sich gänzlich unterschiedlicher Strategien im Umgang mit Mobilitätsgraden und -formen. Das erste Beispiel Schwarztaxi spannt einen weiten Horizont rhythmischer Spielarten in mobilen Raumgefügen auf, der von dem Agieren und ReAgieren theatraler und städtischer Rhythmen bis hin zu einem variantenreichen Einsatz von Körper- und Bewegungsrhythmen reicht. Das Erzeugen und Hervorkehren von Störmomenten im scheinbar entgrenzten Mobilitätsablauf in postmodernem Rhythmusverständnis wird dabei zu einem produktiven Spielantrieb. Der Exkurs zu der urbanen (Sport-)Praktik Parkour hingegen, dessen Einbindung die weit gesteckten Grenzverläufe des Theaterbegriffs zeigen soll, welcher auch performative Bewegungen und Darstellungen ohne direkten künstlerischen Kontext einschließt, befasst sich mit den Grenzen und Grenzüberschreitungen alltäglicher Passagenmobilität. Augenscheinlich unüberwindbare Hindernisse, die sich der alltäglichen Mobilität entgegenstellen, werden von den traceuren überwunden, sodass durch das Vollziehen körperlicher Bewegung in Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum eine wirklichkeitskonstituierende Überwindung bestehender Grenzen und das Etablieren temporärer, individueller Passagenräume zu Stande kommt. Das dritte Beispiel dieses Themenkomplexes, die Eichbaumoper, sucht ebenfalls nach Momenten der Entgrenzung, die aber eher zwischenmenschlich, kommunikativ und assoziativ ausgerichtet sind. Zeitgleich lässt sich hier auch ein gezielter Vorgang des Begrenzens, im Sinne einer produktiven Einrahmung, beobachten, der um ein Erzeugen temporärer Gemeinschaften bemüht ist, um damit den Grundstein für eine neue Verräumlichung und Vermenschlichung eines zuvor negativ konnotierten Raumes zu legen. Die zweite Perspektivierung des Gegenstands widmet sich den Spannungsfeldern zwischen Nahräumen und Fernräumen. Globale Ströme und lokale Verankerungstendenzen, die sich in Passagenräumen niederschlagen, stehen dabei ebenso 1

Vgl. Bauman 2003, 7.

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im Fokus wie Fragen nach Denkräumen des Globalen bezogen auf den eigenen Alltag, den Umgang mit Grenzen sowie deren Abbau und Ablösung durch neue Grenzund Schwellenformen. Maßgebliche Veränderungen zeigen sich dabei auch im Bereich zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation im frühen 21. Jahrhundert. Dabei fällt besonders die Simultaneität des Disparaten auf, indem zur gleichen Zeit am gleichen Ort gänzlich unterschiedliche Beschreibungen und Analysen einer Situation entstehen können, ebenso wie an gänzlich unterschiedlichen Orten eine Synchronität von Handlungen und die zeitgleiche Verständigung darüber mit Abwesenden möglich ist. Die Analysen zeigen, dass dadurch nicht schlicht der Fernraum den Nahraum abgelöst hat oder umgekehrt und genauso wenig mit der Globalisierung Grenzen als solche obsolet geworden sind; vielmehr finden Prozesse in zunehmender Verschränkung statt und Grenzen verlaufen quer durch aneinandergereihte und in Gleichzeitigkeit neben- und übereinanderliegende Räume: »Wir leben in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander.«2 Theater und andere performative Formen können sowohl als Mittel zur Diversifizierung homogenisierter Ströme und Raumkonventionen dienen als auch zur Assoziation und Verknüpfung diversifizierter, fragmentierter Abläufe, beispielsweise durch das Erzeugen von Momenten temporärer, überlokaler Gemeinschaft. Das erste Fallbeispiel dieses zweiten Themenblocks Cargo Sofia kostet das Repertoire der Spielmöglichkeiten um Schwellen und Grenzen aus und erzeugt eine Situation, in der das Changieren zwischen Nahem und Fernem, Fremdem und Vertrautem, Orientierung und Desorientierung nicht aufgelöst, sondern gezielt aufrecht erhalten wird. Durch die steten Irritationen des Zeit- und Raumgefühls wird auf die Relationalität von Entfernungen verwiesen und der Imagination von Räumen, Grenzen und Distanzen ein zentraler Stellenwert zugewiesen. Zugleich wird dabei auf das eigene Schauen und die damit einhergehenden Zuschreibungsmuster in lokalen und globalen Zusammenhängen aufmerksam gemacht. Das zweite Fallbeispiel Call Cutta hingegen besteht aus einem ›glokalen‹ Telefonspaziergang, in welchem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Vielschichtigkeit von räumlicher, kommunikativer und zwischenmenschlicher Nähe und Distanz im Mittelpunkt stehen. Eine Reflexion der globalen Abhängigkeitsverhältnisse erfolgt hier durch eine mehrfach modulierte Rahmenstruktur aus Lenken und Gelenkt-Werden, die in Form eines ferngesteuerten Allein-Gangs erfahrbar wird. Der dritte Schwerpunkt fragt schließlich nach zeitgenössischen Formen des Öffentlichen und Privaten und deren bewegungs-räumlichen Aushandlungsformen. Bezogen auf Passagenräume des Alltags stehen dabei Überlegungen im Mittelpunkt, die das Ziel verfolgen, eine lineare Gleichsetzung konkreter Orte oder Sphären mit einem der beiden Begriffe, wie dies im Denkmodell bürgerlicher Öffent2

Foucault 1990, 34.

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lichkeit der Fall ist, zu überwinden. Um dies zu erzielen, wurde für den Rahmen der vorliegenden Untersuchung ein Schema entwickelt, das eine Einordnung von Einzelsituationen aus der Sicht unterschiedlicher Beteiligter in das Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit ermöglicht und zugleich Graustufen berücksichtigt. So lässt sich zeigen, dass nicht ein fest umgrenzter Ort einen bestimmten Grad an Öffentlichkeit oder Privatheit mit sich bringt, sondern dieser einem situations- und kontextgebundenen Aushandlungsprozess unterliegt, der von jedem der Beteiligten unterschiedlich eingestuft werden kann. Öffentlichkeit und Privatheit werden vor diesem Hintergrund für die vorliegende Arbeit als relationale, situative, performativ hervorgebrachte Kategorien entworfen, deren passagere Verdichtungsmomente räumlich flexibel zur Sichtbarkeit gelangen. So kann beispielsweise differenziert werden zwischen der Situationseinschätzung seitens alltäglicher Passanten, die unvorbereitet auf das Ereignis treffen, sich der performativen Rahmung bewusster Theaterteilnehmer, die jedoch das Gesamtkonzept nicht kennen und jener der Durchführenden des Projekts, die den Ablauf planen und initiieren, den kontingenten Ablauf des städtisch-theatralen Gefüges letztlich jedoch ebenfalls nicht lenken können. Shopping Center zeigt, als erstes Beispiel dieses letzten Blocks, die Wirkmacht unterschwelliger Steuerungsmechanismen privatisierter Räume und die Vielfachrahmung, mit Hilfe derer in Malls mit bestehenden und wahrgenommenen Grenzen und Öffentlichkeitskonventionen gespielt wird. Dabei handelt es sich um ein Zusammenwirken materieller und immaterieller Widerstände, die sich sowohl auf Bewegungsfreiheiten und Mechanismen der Überwachung als auch auf Wahrnehmungslenkung beziehen. Theater macht auf diese Strategien aufmerksam und entlarvt sie, nutzt diese aber in einem nächsten Schritt auch selbst zu Manipulationszwecken, wodurch sich der Vorgang des Inszenierens auch verstärkt als einer des Lenkens zeigt. Das zweite Beispiel Sometimes I think I can see you fokussiert vorwiegend die tradierten Konventionen und unsichtbaren Grenzen, die in großstädtischen Passagenräumen die Kommunikation und Interaktion maßgeblich mitprägen. In einem Spiel um freiwillige und unfreiwillige Ostentations- und Beobachtungsvorgänge werden diese unsichtbaren Schwellen durch Überschreitung kenntlich gemacht, wodurch Situationen empfundener Unausweichlichkeit trotz räumlicher Durchlässigkeit hervorgerufen werden. Als letztes Fallbeispiel der Studie wurde das Projekt X Wohnungen gewählt, bei welchem Wohnräume zu Passagenräumen der Theaterteilnehmer werden. Der Wohnraum, der in der Denkweise getrennter Sphären des Privaten und Öffentlichen den Gegenpart zu Passagenräumen bildete, wird zu einem performativen Durchgangsraum erklärt. Durch diese zunächst kontrastvoll anmutende Anordnung zeigen sich jedoch auch verstärkt die temporären Strukturen heutigen Wohnens durch mobile Lebenswelten und die alltägliche Durchdringung des Wohnraums mit äußeren, beispielsweise medialen, Einflüssen. So ließe sich überspitzt von einer Praxis passageren Wohnens und kurzfristiger Le-

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bensentwürfe im 21. Jahrhundert sprechen, die ihren Prototyp in weltweit standardisierten Hotelketten finden. Die Einzelanalysen der Fallbeispiele steuern dem Blick auf zeitgenössische Passagenräume ihre je eigene Perspektive bei, wodurch sich eine heterogene und diversifizierte Bündelung an Blickwinkeln auf den Fluchtpunkt Passagenraum ergibt. Bei deren Zusammenschau sowie der Engführung der genannten drei Einzelperspektiven kristallisieren sich daraus jedoch einige übergreifende Tendenzen heraus, die Passagenräume in alltäglicher und theatraler Praxis als wichtige Analyseräume sozio-kultureller Verdichtung ausweisen und die Relevanz des gewählten Zugriffs einer Verschränkung theatraler und gesellschaftlicher Perspektiven unterstreichen. Zu diesem Zweck soll im Folgenden die oben angesprochene Doppelperspektive aufgegriffen werden, die in der Anwendung theaterwissenschaftlicher Termini auf Passagenräume des Alltags zum einen und die sich dort entfaltenden Wechselwirkungen alltäglicher und performativer Ereignisse zum anderen besteht: Wie sich zeigen ließ, können theaterwissenschaftliche Begriffe und Analyseansätze zu einem neuen Blick auf alltäglich häufig unhinterfragte Abläufe anregen und auf diese Weise eine Überwindung tradierter und habituell eingeübter Zuschreibungsmuster befördern. Bei allen drei Themenkomplexen der Untersuchung zeigt sich, wie fruchtbar der Begriff des Performativen in der Anwendung auf Alltagsvorgänge in Passagenräumen ist, indem durch diesen die Komponente aktiven Handelns berücksichtigt wird und durch die Hinwendung zu einer Idee momentbasierter, ephemerer Hervorbringung in räumlich-materieller Kristallisierung eine Ablösung von tradierten Dichotomien und ontologischen Beschreibungsmustern gelingen kann. Zuvor als feste Bezugsgrößen gedachte Gesellschaftsstrukturen, wie Bewegung, Grenzen und Öffentlichkeit, lösen sich zunehmend aus ihrer statischen Verortbarkeit und werden situativ hervorgebracht. Findet damit keine Entgrenzung der Gesellschaft statt, so bringt dies doch die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels auf Grenzen und Räume mit sich, worin wiederum ein wirklichkeitsveränderndes Potenzial liegt. Ein sich daraus ableitender performativer Urbanitätsbegriff legt somit die Basis für eine Analyse, in der keine Zustände oder Räume des Öffentlichen, Privaten, Mobilen oder Globalen beschrieben werden, sondern einzelne Momente, in welchen sich Verdichtungen des Öffentlichen, des Mobilen und des Globalen einstellen und einen situativen räumlichen und zeitlichen Niederschlag finden. Diese Vorstellung eines Kontinuums, welches bei der Herleitung des hier verwendeten Öffentlichkeitsbegriffs in Form des beschriebenen Schemas abgebildet wurde und auf die anderen Themenbereiche transferierbar ist, bringt neben der genannten Ablösung von der Vorstellung ontologisch gegebener Strukturen durch handlungsgeleitete Inszenierungsvorgänge den Vorteil mit sich, dass auf diese Weise die Simultaneität disparater Situationswahrnehmungen abgebildet werden kann. In dieser Denkweise rücken verstärkt Graustufen in den Fokus, da die zuvor als Gegensatzpaare verstandenen Begriffe komplementär zueinander aufgefasst und jeder

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beliebige Punkt zwischen ihnen besetzt werden kann. Zudem bietet sich dadurch ein möglicher Weg, um die oben angeführte Simultaneität des Disparaten und die Verzeitlichung von Grenzverläufen sprachlich zu fassen. Die Einordung innerhalb dieser Kontinuen variiert in Abhängigkeit der jeweiligen Rahmensetzung, der situativen Fokussierung, des Kontextes der gerade vollzogenen Handlung und der Zielsetzung des jeweiligen Passagenvorgangs. Dabei werden auch gedankliche und kommunikative Vorgänge als wirklichkeitskonstituierend angesehen und nicht als Randerscheinungen abgetan. Die Betrachtung dieser komplexen Strukturen erfolgt neben dem Begriff des Performativen unter der im Kontext theaterwissenschaftlicher Analysen erprobten Annahme einer Gleichzeitigkeit von Transitorik und Materialität. Auch das Kräftemessen zwischen inszenierender Lenkung und kontingenter Ereignishaftigkeit lässt sich aus dem theatralen Beschreibungsrepertoire auf städtische Passagenräume transponieren. Die zweite zentrale Perspektive der Studie besteht in der Betrachtung und Analyse konkreter Theaterereignisse in Passagenräumen. Diese geben den Blick auf mittels Theater erzeugte Momente der Verfremdung und Irritation alltäglicher Passagenmuster frei. Durch die Engführung mit gesellschaftlichen Entwicklungen werden dabei die normativen Aufladungen routinierter Abläufe sichtbar und eröffnen sich zugleich Räume für abweichende Bewegungs- und Denkstrukturen. Zudem ist mit Theater in Passagenräumen eine Form des Theatralen gewählt, die sich offensiv mit der Frage nach dem Raum des Theaters und dessen sozio-kultureller Einbindung und Einflussnahme befasst. Jenseits geschlossener Kunsträume wird die Komplexität von Rahmenkonstellationen vervielfacht, eine Durchwirkung von inszenatorisch gesetzten Elementen und unplanbaren Ereignissen eingeplant und eine Auseinandersetzung mit bewegungs-räumlichen Bedingungen und Möglichkeiten unumgänglich. Durch die dem Theater mögliche Gleichzeitigkeit spielerischer Distanznahme und zugleich körperlich erlebter Ereignishaftigkeit bietet sich die Chance, die Vielschichtigkeiten gesellschaftlicher Strömungen und Widerstände zu erleben, Verbindungslinien und Verbindlichkeiten zu schaffen sowie Diversitäten in homogenisierten Umgebungen – wie Shopping Malls – zu erzeugen. Im Denkhorizont der vorliegenden Untersuchung ist Theater nicht als isolierte Kunstform zu verstehen, sondern als eine Sonderform des Performativen, die Teil eines von globalen Einflüssen durchwirkten städtischen Theatralitätskontinuums ist, das sich in der Inszeniertheit von Bewegungsmustern und Alltagsrollen ebenso zeigt wie in unterschiedlichen Praktiken ostentativer Zurschaustellung in urbanen Räumen, sei es in Form von Sportaktivitäten, Werbemaßnahmen oder Events. Innerhalb dieses Kontinuums ist jedoch eines der zentralen Spezifika von Theater dessen Möglichkeit, sich gezielt aus der Zweckrationalität und Zielgerichtetheit alltäglicher Passagenvorgänge zu lösen und spielerische Gegenbewegungen vorzunehmen. Im Kontext von Passagenräumen kann Theater so zu einem Moment produktiver Grenzziehung werden, im Sinne einer schwellenartigen Widerständigkeit

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im Mobilitätsablauf, eines Störens routinierter Bewegungsabläufe, die auf Reibungslosigkeit ausgerichtet sind, oder der Überschreitung von Konventionen hinsichtlich der Grenzen von Öffentlichem und Privatem. Diese treten häufig nicht offenkundig zu Tage, sondern sind feinstofflich in die Handlungen, Raumpraktiken und Wahrnehmungsweisen eingeschrieben und werden von diesen weiter tradiert. Theater verbleibt im Idealfall jedoch nicht auf der Ebene des Störmoments, sondern nutzt sein Potenzial, Spiel- und Reflexionsräume zu eröffnen, die jenseits reiner Pragmatik, Funktionalität und Ökonomie zu Diskurs, Reflexion, Kontakt, Kommunikation und städtischer Multifunktionalität anregen können und subtile Lenkungsmechanismen und Begrenzungen zur Anschauung bringen. Dabei kann es auch die Aufgaben übernehmen, wie Bauman die Möglichkeitsräume zeitgenössischer Kunst beschreibt, »den Prozeß der Sinnstiftung zu stimulieren und gegen die Gefahr zu schützen, daß er je zum Stillstand kommt; die inhärente Bedeutungsvielfalt und Komplexität aller Interpretation zum Bewußtsein zu bringen; als eine Art intellektueller und emotionaler Frostschutz zu wirken, der das Erstarren aller halben Erkenntnisse zu einem vereisten, den Fluß der Möglichkeiten einfrierenden Kanon verhindert.«3

Um in dieser Weise wirksam zu werden, müssen vermeintliche Grundkonstanten des Theatralen auf den Prüfstand gestellt werden, wodurch bei der Analyse eine Reformulierung tradierter Theaterbegriffe notwendig wird. Dies zeigt sich beispielhaft an dem Prinzip leiblicher Kopräsenz. Wird dieses häufig als Nukleus theatraler Interaktion gesehen – wie im Konzept der Feedbackschleife formuliert – zeigen die Theaterformen in Passagenräumen des frühen 21. Jahrhundert, dass die Ränder des Begriffs, um diese zu analysieren, weiter gefasst werden müssen. Denn findet sich in vielen Produktionen das Motiv der Stärkung des direkten Erlebens und der unmittelbaren Kommunikation bei gemeinsamer Anwesenheit und wird damit Kopräsenz häufig explizit in den Mittelpunkt gerückt und gegen andere Lebenspraktiken abgegrenzt, erfolgt ebenfalls in zahlreichen Entwürfen eine Aufwertung des Medialen. Dabei zeigt sich, dass intermediale Formen des Kopräsenten, die nicht über gleichzeitige körperliche Anwesenheit an einem Ort, sondern über akustischmediale Interaktionsformen zustande kommen, ebenfalls eine theatrale Kommunikation und ein wechselseitiges Feedback ermöglichen. Auf diese Weise können gesellschaftliche Leitbilder der globalen, mobilen Lebenswelt des frühen 21. Jahrhunderts wie das der Ubiquität, womit ein Anspruch ständiger Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Menschen, Dingen und Orten benannt ist, seitens des Theaters aufgegriffen werden. Zum einen erfolgt dies in Weiterführung des Ubiquitätsge-

3

Bauman 1999, 190.

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dankens, da auch Theater in Passagenräumen eine stärkere Verfügbarkeit aufweist, indem es für eine breitere Zuschauermenge unterwegs konsumierbar wird. Zum anderen kann es sich kritisch positionieren, da an Passagenräumen performativ gezeigt werden kann, dass die scheinbaren Verfügbarkeiten des Alltags nicht alle Lebensbereiche und Personengruppen betreffen und die Ubiquität somit in der Kehrseite mit Erscheinungen des Mangels und der Begrenzung einhergeht. Zudem ist in performativen Entwürfen auch die Möglichkeit des Erprobens, Experimentierens und Scheiterns eingedacht, Kategorien, die dem gesellschaftlichen Ziel der Reibungslosigkeit entgegenstehen. Entwirft sich Theater in Passagenräumen in dieser Weise neu und fasst die Effekte kultureller, gesellschaftlicher und medialer Prozesse im Sinne produktiver Durchdringung auf, so kann es mit diesen in einen spannungsreichen Aushandlungsprozess treten, anstatt eine Opposition zwischen Theater und (neuen) Medien beziehungsweise globalen wie lokalen Verschiebungsprozessen zu eröffnen oder weiterzuführen.4 Appelliert wird bei den Theaterentwürfen, die im Zuge der vorliegenden Studie vorgestellt wurden, weniger an eine rein rationale, gedankliche Reflexion; vielmehr ist diese stets durch körperlich-sinnliche Rezeptions- und Erlebnismodi ergänzt. Primavesi stellt hierzu folgende Überlegung an: »Als Ort des Lernens und der Bildung gilt das Theater schon seit der Antike. Seine durch körperliche und affektive Erfahrungen gesteigerte Wirksamkeit hat jedoch eine Funktionalisierung im Dienste bestimmter Lernziele immer wieder entzogen. Wenn im Theater Lernprozesse in Gang kommen, dann vielleicht gerade dadurch, dass die Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten des Publikums durchkreuzt und verunsichert werden. So bleibt zu fragen, inwieweit auch die Mobilisierung des Zuschauers in aktuellen Theaterarbeiten neue Formen des Lernens eröffnen kann.«5

Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage referiert er auf die Lehrstücke Brechts und fordert, dass »[g]egenwärtige Theaterarbeit, die Brechts Lehrstückprojekt ernst nimmt, […] eben auch von der Infragestellung des eigenen Apparats auszugehen [hat] – Theater im Stadium seiner produktiven Selbstentfremdung.«6 Sind viele der gewählten Fallbeispiele durch eine Verfremdung des Bekannten gekennzeichnet, ist die Vermittlungsform jedoch nicht mit jener Brechts gleichzusetzen. Man könnte daher eher davon sprechen, dass es sich bei den zeitgenössischen Formen des Passagenraumtheaters nicht um Lehrstücke, sondern um Lernstücke

4

Vgl. Buschauer 2010, 321.

5

Primavesi 2007, 79.

6

Primavesi 2007, 88 [Hervorhebung im Original]. Zu seinen Ausführungen zum Lehrstück vgl. Primavesi 2007, 82ff.

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oder besser Erfahrungsstücke handelt, bei welchen es um eine eigenständige Form des Zugangs geht. Über eigenes Handeln, aber ebenso das Spüren von Handlungsgrenzen, können und sollen dabei alternative Denk- und Aktionsradien erschlossen werden. Hat der Begriff des Lehrstücks einen didaktischen Duktus, kann mit Lernen und Erfahren verstärkt auf den Aspekt individueller Aneignung verwiesen werden. Die gewählten Beispiele performativer Praxis zeigen, dass Theater der Gegenwart damit nicht vorrangig Lösungen bietet, sondern zur Schulung im Umgang mit Entgrenzung und gesellschaftlichen Passagen beiträgt, wie auch Fischer-Lichte in einer Diagnose zum Theater seit den 1990er Jahren bemerkt: »Der Zuschauer muss sich von vertrauten, bisher gültigen Positionen und Regeln lösen und sich der Möglichkeit zu neuen Erfahrungen aussetzen. Die Transformationen, welche das Theater vollzieht, verstärken so noch die Krisenerfahrung, welche die gesellschaftlichen Transformationsprozesse ausgelöst haben. Im Unterschied zu diesen jedoch eröffnet das Theater dem Zuschauer die Möglichkeit, sich mit Unsicherheit und Destabilisierung, mit Entgrenzung und Grenzüberschreitung, mit Irritation und Verstörung spielerisch auseinanderzusetzen.«7

In Rückbezug auf die Frage nach dem Transformationspotenzial des Theatralen scheinen vor dem Hintergrund der Analysen besonders Theaterereignisse an Passagenräumen des Alltags vielversprechende Potenziale zu bergen. Denn dort ist es auch möglich, Spielarten zu erproben, die in etablierten Theaterstrukturen keine Plattform erhalten. Neben jenen Formen, die explizit Passagenräume zur Spielstätte erklären, können aber die von dieser Strömung des zeitgenössischen Theaters ausgehenden Impulse auch als Plädoyer für einen beweglichen, vernetzten, passageren Theaterbetrieb im Allgemeinen verstanden werden: »[N]icht die Entscheidung für oder gegen das Stadttheater, für oder gegen das freie Theater, für oder gegen die Stadtraumprojekte, das Spezialisten- und Postmigrantentheater, die Dramatik oder die Performance bestimmen das nomadische Theater. Entscheidend ist vielmehr das Ins-Verhältnis-Setzen, das In-Bewegung-Halten all dieser Formen, indem man sich ihrer Besonderheiten stets bewusst bleibt und sie kritisch reflektiert.«8

Hans-Thies Lehmann beschreibt »Formationen des ›Trans‹ im Sinne von ›über…hinaus‹, des Transits, des Durchquerens, des Transzendierens als Grenz-

7

Fischer-Lichte 1999, 10f.

8

Schlewitt 2011, 56.

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überschreitens. Ohne Trans keine Formation.«9 Der damit angesprochene Formations- und Ordnungsvorgang, der die Veränderung in habituelle Alltagsvorgänge zu integrieren im Stande ist und der sich auch an die Turner’sche Passage in Form einer Integrationsphase anschließt, wird durch die zweite entscheidende Eigenart von Passagenräumen befördert: Denn neben der Transitorik sind diese auch durch Routinen geprägt, durch welche sich Bewegungsvorgänge und Handlungen tradieren und täglich durch körperliche und kommunikative Vorgänge aktualisiert werden. Trifft nun auf diese Räume steter Bewegung und zugleich scheinbar gewohnter Umgebung, die von einer gewissen Konstanz der Alltagsroutinen generiert wird, ein Theaterereignis, werden Bezugsrahmen irritiert oder entzogen, wodurch das Versetzen in liminale Zustände befördert wird. Die damit verbundene Vorstellung von Liminalität ist in diesem Fall nicht notgedrungen im Sinne einer weitreichenden Krise oder Entwurzelung zu verstehen, sondern meist als transitorische, kurzfristige Verunsicherung. Denn deutlich stärker als bei einem Aufführungsbesuch beispielsweise in einem Staatstheater ist hierbei eine Form der Neupositionierung und Wiedereingliederung erforderlich – und sei dies auch nur in Form eines kurzen Sondierungsvorgangs, der notwendig wird, weil der gewohnte Durchgang versperrt ist. Ist auch ein kontemplatives Einlassen auf das performative Ereignis im Durchgang nur eingeschränkt möglich, weist Theater in Passagenräumen meiner Auffassung nach durch das gleichzeitige Wirken der Kräfte der Veränderung und der Routine und die enge Verflechtung mit den jeweiligen Räumen eine gesteigerte Chance auf längerfristige Wirkung und gesellschaftliche Einflussnahme auf.10 Denn Passagen sind nicht nur in ihrer Grundanlage durch Veränderung und stete Erneuerung geprägt, sondern sind zudem immer auf etwas Außenliegendes angewiesen und somit nur innerhalb relationaler Querbezüge denkbar. Daraus entfaltet sich eine spezielle Dynamik, die in stetem Werden begriffen ist. Nimmt man diesen dynamischen Raumtypus zum Ausgangspunkt der Betrachtung, kann dieser in einem nächsten Schritt dazu verhelfen, dieses scheinbare Außen nicht mehr als statische Bezugsgröße zu sehen, mit dem die Bewegungsräume in Beziehung treten. Vielmehr erscheinen Passagenräume dann als Verdichtungsmomente in einem relationalen Raumgefüge, das nicht statisch gegeben ist, sondern stets aufs Neue hervorgebracht und umgestaltet werden kann. Dass Theater in Passagenräumen des Alltags als performative Strömung zum jetzigen Zeitpunkt noch lange nicht im Abklingen begriffen ist, zeigt die hohe Dichte an Projekten, die die Spielpläne, Festivalkonzepte und spartenübergreifenden Kooperationen in Nah- und Fernräumen derzeit maßgeblich mitprägen. Auch als sozio-kultureller Forschungsgegenstand sind und bleiben Passagenräume weiter virulent, wie eine Reihe an Projekten an den Schnittstellen von Kunst und Wissen9

Lehmann 1999a, 15.

10 Zum Verhältnis von Wiederholung und Kontingenz vgl. auch Sennett 1998, 39ff.

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schaft exemplarisch zeigen: So fuhr Anfang des Jahres 2014 ein Zug von Helsinki nach Rovaniemi, um zum Thema Theatre and the Nomadic Subject eine mobile Konferenz auszurichten; in einem laufenden Forschungsprojekt befasst sich das Institut für Theorie der Züricher Hochschule der Künste in Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus und der ETH Zürich mit dem Thema Re/Okkupation. Gestaltung von Öffentlichkeit im urbanen Raum durch theatrale Interventionen und in einem Zusammenschluss der Theaterhäuser Basel, Dresden, Krakau, Mühlheim, Poitiers, Straßburg und Utrecht besteht seit 2012 das europäische Netzwerk Performing Cities zur gezielten Förderung von Theater in städtischen Räumen. Passagenräume in alltäglicher und performativer Praxis rücken somit sowohl aus kultur- und sozialwissenschaftlicher, als auch aus künstlerischer Warte immer stärker in den Fokus und können in vorgeschlagener Weise auch perspektivisch weniger als Nicht-Orte, denn als empfindliche Sensoren für gesellschaftlichen Wandel unserer Zeit fungieren. Zugleich wohnt ihnen selbst ein gesteigertes Potenzial an Veränderbarkeit inne, welche nicht im Sinne großer Umstürze auf der Ebene von Systemen, sondern auf der Mikroebene von Alltagssituationen im Durchgang ansetzt, eine Transformation en passant.

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I NTERNETQUELLEN

ZU DEN

E INZELBEISPIELEN

Schwarztaxi: Nioduschewski, Anja: »Schwarztaxi/Schauspiel Leipzig«, http://www.urbanite.net/ de/leipzig/events/schwarztaxi-5, Stand: 21.7.2015. »Schwarztaxi.« In: Centraltheater Leipzig, http://www.centraltheater-leipzig.de/ centraltheater/programm/centraltheater/inszenierung/archiv/schwarztaxi/, Stand: 15.5.12. »Schwarztaxi.« In: 40-Jahre-DDR. Das Ost-Blog, http://www.40-jahre-ddr.de/58/ schwarztaxi/, Stand: 21.7.2015. Parkour: http://www.americanparkour.com, Stand: 21.7.2015. http://dirkparkour.blogspot.de/, Stand: 21.7.2015. http://www.urbanfreeflow.com/, Stand: 21.7.2015. Schofield, Hugh: »The art of Le Parkour.« In: BBC News Online (2002), http:// news.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/1939867.stm, Stand: 21.7.2015.

380 | P ASSAGENRÄUME

Eichbaumoper: http://www.eichbaumoper.de, Stand: 15.5.2013. http://www.eichbaumoper.de/wordpress/?p=202, Stand: 15.5.2013.2013. http://www.eichbaumoper.de/wordpress/?p=821, Stand: 15.5.2013. http://raumlabor.net/eichbaum-countdown/, Stand: 8.10.2014. Deutsche Welle: »Ein U-Bahnhof wird zum Opernhaus.« In: DW-TV: Kultur.21 (2009), https://www.youtube.com/watch?v=UPG5y-nAfgM, Stand: 8.10.2014. Cargo Sofia Sorrento, Aureliana: »Das überaus reale Durcheinander.« In: taz (2007), http:// www.taz.de/1/archiv/?dig=2007/04/04/a0154, Stand: 8.10.2014. Shopping Center/Ciudades Paralelas http://www.ciudadesparalelas.com/menu_aleman.html, Stand: 20.11.13. LIGNA: »Radioballett. Übung in nicht bestimmungsmäßigem Verweilen.« In: LIGNA Blogspot, http://ligna.blogspot.de/2009/12/radioballett.html, Stand: 8.10. 2014. Tietjen, Friedrich: »No Excuses!« In: republicart 10 (2004), http://www.republic art.net/disc/aap/tietjen01_de.htm, Stand: 21.7.2015. Sometimes I think I can see you Pensotti, Mariano: http://marianopensotti.com/avecescreoeng.html, Stand: 8.10. 2014. Heimspiel 2011 (Köln): http://www.heimspiel2011.de/en/sometimes_i_think_i_ can_see_you.html, Stand: 21.7.2015. Westphal, Kristin: »Vom Ver-Rücken der Phänomene – Reflexionen über Wirklichkeiten von Stimmen.« In: onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung|zkmb (2011), http://www.zkmb.de/index.php?id=76&no_cache=1&sword_list[]=West phal, Stand: 8.10.2014. X Wohnungen Anonymus: »Theater in Privatwohnungen: Aus Zuschauern werden Voyeure.« In: Welt online (6/2011), http://www.welt.de/kultur/article13412663/HintermSchluesselloch-sitzt-ein-Nackter-am-Klavier.html, Stand: 8.10.2014. Bach, Aya: »Stell dir vor, es ist Theater...und es ist bei dir zu Hause: Das TheaterFormat ›X-Wohnungen‹ lädt weltweit zu Performances und Installationen bei Menschen ein, die in Problembezirken großer Städte leben. Ein Export-Schlager aus Deutschland.« In: Deutsche Welle Online (4/2010), http://dw.de/p/MUNZ, Stand: 21.7.2015. Brendel, Gerd: »Theaterreise ins Private. Das Projekt ›X-Apartments‹ in Beirut.« In: Deutschlandfunk (5/2013), http://www.deutschlandfunk.de/theaterreise-insprivate.691.de.html?dram:article_id=247235, Stand: 8.10.2014.

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Jung, Christian: »Mannheimer Schillertage: Blick durchs Schlüsselloch.« In: schwäbische.de (6/2011), http://www.schwaebische.de/journal/kultur/theater welt_theaterwelt_artikel,-Mannheimer-Schillertage-Blick-durchs-Schluesselloch_ arid,5085255.html, Stand: 8.10.2014. Nationaltheater Mannheim (2011): »X Wohnungen.« In: 16. internationale Schillertage online Programm (2011), http://www.schillertage.de/stueck_details. php?SID=993, Stand: 21.7.2015. Schaper, Rüdiger: »Kunstaktion ›X Apartments.‹ Die eigenen vier Leinwände.« In: Zeit Online 22 (2010), http://www.zeit.de/kultur/2010-06/kunstaktionwarschau/komplettansicht, Stand: 8.10.2014. Kalleinen, Tellervo: »Home Theatre«, http://www.tellervo.net/performances/hometheatre, Stand: 21.7.2015.

W EITERE I NTERNETQUELLEN Angie Hiesl Produktion: Familie und Zuhause – Ein Besuchs-Projekt in mehreren Teilen: http://www.angiehiesl.de/cms/?page=cat&catid=23, Stand: 21.7.2015. Ausländer Raus: http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t033, Stand: 21.7. 2015. Couchsurfing: https://www.couchsurfing.org/, Stand: 21.7.2015. DB Bahn: »DB Lounge: Die 1. Klasse im Bahnhof«, http://www.bahn.de/p/view/ service/1klasse/lounge.shtml, Stand: 21.7.2015. Die Zauberflöte in der U-Bahn: http://www.die-zauberfloete-in-der-u-bahn.de/, Stand: 8.10.2014. Evakuieren. Erster Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region: www. evakuieren.de, Stand: 21.7.2015. Hotel Hamburg: http://www.das-hotel-hamburg.de/entree/, Stand: 8.10.2014. Hotel Shabby Shabby: http://www.nationaltheater-mannheim.de/de/theater_der_ welt/stueck_details.php?SID=1865, Stand: 8.10.2014. La Boheme im Hochhaus: http://www.arte.tv/de/la-boheme-im-hochhaus/2790002. html, Stand: 8.10.2014. La Traviata im Hauptbahnhof: http://www.sendungen.sf.tv/aida-am-rhein/Nach richten/Archiv/2011/03/03/Archiv/La-Traviata-Uebersicht, Stand: 13.11.2012. Lau, Jörg: »Glück in tiefen Sesseln.« In: ZEIT online 19 (2000), http:// www.zeit.de/2000/19/200019.aussehen_lounges.xml, Stand: 21.7.2015. Lunatiks Produktion: livingROOMS – Das Zuhausetheater: http://www.lunatiks.de/ livingROOMS.htm, Stand: 21.7.2015. Playing the City: http://www.playingthecity.de/kuenstler/san-keller/, Stand: 13.6. 2014.

382 | P ASSAGENRÄUME

Rosa, Hartmut: »Die kommenden Tage: Risiken und Chancen in der Wissensgesellschaft.« Interview im Rahmen der HORIZONTE Expertengespräche im webTV des Stifterverbandes, Juni 2011, http://www.stifterverband.info/publikationen_ und_podcasts/webtv/rosa/, Stand: 21.7.2015. SBB, CFF und FS: »Bahnhof & Services«, http://www.sbb.ch/bahnhof-services/ am-bahnhof/bahnhof/shopville-zuerich-hb/events.marketingurl_%2524%2524% 2524zurich-events.html , Stand: 21.7.2015. SBB, CFF und FS: »Unser Angebot«, http://www.sbb.ch/content/dam/sbb/de/ pdf/sbb-konzern/sbb-als-geschaeftspartner/als-werbeplattform/promotionen/ promomappe_zuerich_de.pdf, Stand: 21.7.2015. SBB, CFF und FS: »Werbebroschüre für Aussteller: SBB, CFF, FS: Promotionen und Events in ShopVille-RailCity Zürich«, http://www.sbb.ch/content/dam/sbb/ de/pdf/bahnhof-services/am-bahnhof/rc_eventinfos_zuerich.pdf, Stand: 21.7 2015. Sonntagsverkäufe.ch: http://www.sonntagsverkaeufe.ch/shopville-railcity-zuerich/, Stand: 21.7.2015. Wrights and Sites: Mis-Guide: http://www.mis-guide.com, Stand: 21.7.2015.

V IDEOAUFZEICHNUNGEN UND P RODUKTIONSMATERIALIEN Schwarztaxi: Audiospur der Produktion Schwarztaxi (Centraltheater Leipzig), Regie: Sebastian Hartmann und Pernille Skaansar, Text: Pernille Skaansar und Anja Nioduschewski, Sound: Alexander Nemitz, Dramaturgie: Anja Nioduschewski (2011). Eichbaumoper: Videodokumentation Eichbaumoper: Opernbauprozess und Aufführung. Konzept: Jan Liesegang, Matthias Rick (Raumlabor Berlin); Regie: Cordula Däuper, Dramaturgie: Sabine Reich, Anna Melcher, Matthias Frense, Komposition/Text: Ari Benjamin Meyers/Bernadette La Hengst/Isidora Zebeljan/Boris Cicovacki/Felix Leuschner/Reto Finger (2009). Cargo Sofia: Videodokumentation zu Cargo Sofia von Rimini Protokoll, Regie Stefan Kaegi, Co-Regie Jörg Karrenbauer (2006).

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Call Cutta: Dokumentarfilm Call Cutta. A documentary film by Arjun Dutt (2005) [=Dokumentation Call Cutta 2005. Darin u.a.: Interview mit Stefan Kaegi und Mitschnitt einzelner Routen]. Beitrag aus dem 3sat Foyer: Globales »Mobile-Phone-Theater« in BerlinKreuzberg. ›FOYER‹ berichtet über ›Call Cutta‹ vom Rimini-Protokoll (6/2005). Skript zu Call Cutta von Rimini Protokoll (Wegbeschreibung, Aufführungsablauf und Fotografien der Route) in der Version der Aufführung am Hebbel Theater Berlin, (2005) [=Skript RIMINI]. Shopping Center: Textvorlage des Radioballetts Shopping Center – The First International of Shopping Malls von LIGNA im Rahmen des Projekts Parallele Städte/Ciudades Paralelas (2010/2011) [= Skript LIGNA]. Sometimes I think I can see you: Videodokumentation zu Sometimes I think I can see you in Zürich: https://www. youtube.com/watch?v=nWmU52nlgts, Stand: 8.10.2014. Videodokumentation zu Sometimes I think I can see you in Berlin: https://www. youtube.com/watch?v=TbSSZc8Vdt4#t=25, Stand: 8.10.2014. Videodokumentation zu Ciudades Paralelas (7/8): »Train Station« https://www. youtube.com/watch?v=cviLt1uEOT0, Stand: 8.10.2014. X Wohnungen: Videodokumentation X Wohnungen. 3 Touren durch private Räume in Mannheim im Rahmen der 16. Internationalen Schillertage 2011. Konzept: Matthias Lilienthal, Programmkoordination und Dramaturgie Anne Schulz, Nadine Vollmer, Produktionsleitung Anja Lindner (2011)

Dank

Ich danke meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Prof. Dr. Friedemann Kreuder für seine uneingeschränkte Loyalität, sein Vertrauen, seine Ermutigungen und seinen freundschaftlichen Rat. Meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Michael Bachmann danke ich für seine inspirierenden Ideen und die jahrelange enge Zusammenarbeit, die ich fachlich und menschlich nicht missen möchte. Prof. Dr. Peter Marx danke ich für sein offenes Ohr und sein Geleit von den ersten Schritten des Studiums bis zur Verteidigung dieser Schrift. Jun.-Prof. Dr. Julia Stenzel und Jun.-Prof. Dr. Elke Wagner danke ich für ihre Arbeit im Rahmen der Gutachterkommission. Großer Dank geht an Dorothea Volz, die mit Scharfsinn, unerschütterlicher Geduld und freundschaftlichem Wohlwollen jedes Wort dieses Buches – viele davon auch mehrfach – gelesen und überflüssige Passagen aus dem Text verbannt hat. Der Gedankenaustausch über die gesamte Arbeitsphase hinweg und darüber hinaus war und ist mir in jeder Hinsicht eine unschätzbare Stütze. Von Herzen danke ich meiner Familie für Netz und Boden, die bedingungslose Unterstützung und den Zusammenhalt in allen Lebensphasen. Ich danke meinen Freunden, dass sie mir immer wieder zeigen, dass Freundschaft nichts mit Passagen und Flüchtigkeit, sondern mit Halt und Wurzeln zu tun hat. Mein Dank gebührt besonders auch denjenigen, die mich durch Schlendereien, Ausflüge und Reisen immer wieder auf andere Gedanken gebracht und mir Herz und Rücken gestärkt haben. Danke an Sofie und Kalle, dass sie mir über die gesamte Zeit des Schreibens ein Zuhause bereitet haben, in das ich immer gerne zurückgekehrt bin und das auch jenseits geographischer Nahräume weiterbesteht. Danke an Mareike für Empathie und Telepathie seit Beginn meiner Mainzer Wege. Niklas danke ich innig für den geteilten Alltag weit jenseits des Alltäglichen. Für die große Hilfe bei den Korrekturen, die Ratschläge und die konstruktive Kritik danke ich ganz herzlich Anna Flingelli, Caroline Fries, Mareike Niemann, Julia Pfahl, Jessica Quinlan, Annika Rink, Anna Rösch, Julius Schmiedt, Kalle Schneider, Constanze Schuler, Rebekka Stolz, Sofie Taubert und Juliane Taubner, Niklas Wawrzyniak sowie Leander Taubner für die graphische Unterstützung.

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Februar 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance Juli 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3054-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig,, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

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ISBN 978-3-8376-3242-2

Nora Haakh Muslimisierte Körper auf der Bühne Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater Dezember 2015, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3007-7

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« Dezember 2015, ca. 368 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« August 2015, 336 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane Juli 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2913-2

Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller März 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2908-8

Anu Allas Spiel der Unsicherheit/Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre März 2015, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2966-8

Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

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