Szenisches Verhandeln: Brasilianisches Theater der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839403389

Theater kann zu einem äußerst dynamischen Ort kreativen Verhandelns kultureller und gesellschaftlicher Fragen werden. Da

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German Pages 382 [381] Year 2015

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INHALT
Vorwort
Einleitung
1.1 Momentaufuahmen
1.2 Hier und Dort
1.3 Karten und Paten
1.4 Wegbeschreibung
2 Heterogenität, Gegensätze, Einheit? Brasilianische Kulturkonstruktionen
3 Konstellationen kultureller Mobilität
3.1 Postkoloniale Prägungen
3.2 Hybride Kulturen an den Rändern der Modeme
3.3 Konzepte im Wandel? Dritte Räume
3.4 Wege der Aneignung
4 Orte und Wege des Verhandelns: Theater in Brasilien
4.1 Eine kleine Theater-Geschichte
4.2 Bewusstmachen und Handeln: Augusto Boal
4.3 Theater als Anthropophagie: Ze Celso
4.4 Die Suche nach dem Muiraquita: Antunes Filho
4.5 Postmodeme Selbstinszenierung: Gerald Thomas, » The nowhere man«?
4.6 Theatrale Dimensionen und Strategien Ästhetiken des Hybriden - Zwischen Theater und Performance -Widerstand, Standort und Suche- Arbeitsprozess -Verhältnis zum Publikum
4.7 Panorama der 90er Jahre
5 Gegen den Strom: CompanMa do Latiio
5.1 Veränderung durch Erfahrung: Brecht als Modell
5.2 Aneignung als Begegnung, Spiel und Suche: Ensaio sobre o Latiio
5.3 Vom historischen Blick zur szenischen Aktualität: Santa Joana dos Matadouros
5.4 Eine Dramaturgie der Dezentralisierung: O nome do sujeito
5.5 Kollektives Verhandeln Thematik, Arbeitsform und Utopie: A Comedia do Trabalho
5.6 Theater, Politik, Schau-Spiel: Und sie dreht sich doch?
6 Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Denise Staklos
6.1 Strategisch und essentiell: das Teatro Essencial
6.2 Politische Geste einer Ästhetik des Hybriden: Desobediencia Civil
6.3 Theater als Dissonanz und Utopie: Vozes Dissonantes
7 Intermediales Verhandeln
7.1 Inter-Medialität im Theater Brasiliens und ihre kulturellen Dimensionen
7.2 Variationen einer Gattung: Melodrama
7.3 Intem1ediale Verwandlungen einer Text-Maschine: A Maquina
8 Schwinde(l)nde Grenzen: Teatro da Vertigern
8.1 Religion: Rahmen und Reibungsfläche
8.2 Reisen durch Räume
8.3 Arbeitsprozess: Gemeinsame Suche und Szenische Poetik
8.4 Apocalipse 1,11: Enthüllen und Verhandeln
8.5 Theater als Dritter Raum und Heterotopie
8.6 Auf Reisen: in der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf
9 Resultate, Grenzen und ein Ausblick
9.1 Wirkungsfelder szenischen Verhandeins
9.2 Der begrenzte Blick
9.3 Ausblick
10 Literatur und andere Quellen
11 Anhang
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Szenisches Verhandeln: Brasilianisches Theater der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839403389

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Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln

]onas, dem wir das Wandern zwischen den Welten in die Wiege gelegt haben

Uta Atzpodien (Dr. phil.), geb. 1968, ist freie Dramaturgin und Autorin. Sie studierte Theaterwissenschaft Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Hispanistik in Mainz, Valencia und Bogota. Seit 1995 ist sie Mitarbeiterin des Festival Internacional de Londrina (FILO) in Brasilien und hat seit Anfang der 90er Jahre bei Theaterprojekten u.a. in Brasilien, Chile und Kolumbien mitgewirkt.

UTA ÄTZPODIEN

Szenisches Verhandeln. Brasilianisches Theater der Gegenwart

[transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

©

2005

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Überse tzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld U mschlagabbildung: Marcos Moraes, Säo Paulo Lektorat & Satz: Uta Atzpodien Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-338-o Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www. transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Vorwort

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Einleitung Momentaufuahmen Hier und Dort Karten und Paten Wegbeschreibung

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Heterogenität, Gegensätze, Einheit? Brasilianische Kulturkonstruktionen

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3 3.1 3.2 3.3 3.4

Konstellationen kultureller Mobilität Postkoloniale Prägungen Hybride Kulturen an den Rändern der Modeme Konzepte im Wandel? Dritte Räume Wege der Aneignung

45 49 54 58 62

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Orte und Wege des Verhandelns: Theater in Brasilien 66 Eine kleine Theater-Geschichte 66 Bewusstmachen und Handeln: Augusto Boal 87 93 Theater als Anthropophagie: Ze Celso 103 Die Suche nach dem Muiraquita: Antunes Filho Postmodeme Selbstinszenierung: Gerald Thomas, »The nowhere man«? 111 Theatrale Dimensionen und Strategien 117 Ästhetiken des Hybriden - Zwischen Theater und Performance -Widerstand, Standort und SucheArbeitsprozess -Verhältnis zum Publikum Panorama der 90er Jahre 129

1.1 1.2 1.3 1.4 2

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

4.7

5 5.1 5.2

5.3 5.4 5.5 5.6 6

6.1 6.2 6.3

Gegen den Strom: CompanMa do Latiio Veränderung durch Erfahrung: Brecht als Modell Aneignung als Begegnung, Spiel und Suche: Ensaio sobre o Latiio Vom historischen Blick zur szenischen Aktualität: Santa Joana dos Matadouros Eine Dramaturgie der Dezentralisierung: 0 nome do sujeito Kollektives Verhandeln Thematik, Arbeitsform und Utopie: A Comedia do Trabalho Theater, Politik, Schau-Spiel: Und sie dreht sich doch? Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Denise Staklos Strategisch und essentiell: das Teatro Essencial Politische Geste einer Ästhetik des Hybriden: Desobediencia Civil Theater als Dissonanz und Utopie: Vozes Dissonantes

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Intermediales Verhandeln Inter-Medialität im Theater Brasiliens und ihre kulturellen Dimensionen Variationen einer Gattung: Melodrama Intem1ediale Verwandlungen einer Text-Maschine: A Maquina

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8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

Schwinde(l)nde Grenzen: Teatro da Vertigern Religion: Rahmen und Reibungsfläche Reisen durch Räume Arbeitsprozess: Gemeinsame Suche und Szenische Poetik Apocalipse 1,11: Enthüllen und Verhandeln Theater als Dritter Raum und Heterotopie Auf Reisen: in der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf

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9 9.1 9.2 9.3

Resultate, Grenzen und ein Ausblick Wirkungsfelder szenischen Verhandeins Der begrenzte Blick Ausblick

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Literatur und andere Quellen

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Anhang

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7.1 7.2 7.3

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VORWORT

Den folgenden Seiten möchte ich meinen Dank an all jene vorausschicken, die dieses Buch erst möglich gemacht haben: Dr. habil. Kati Röttger, Prof. Dr. Christopher Balme und der DFG für die Förderung im Rahmen des Graduiertenkollegs »Theater als Paradigma der Modeme«. Ganz besonders hat mich Almuth Fricke als treue Weggefährtin unterstützt. Auch Hedda Kage und Heidrun Adler von der »Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.« danke ich. Von Alexander Stillmark habe ich viel über interkulturelle Dialoge erfahren. Die Theaterberichterstattung aus Lateinamerika für die Zeitschrift »Theater der Zeit« ist mir immer ein anregendes Forum gewesen. In Brasilien habe ich über die Mitarbeit beim Internationalen Theaterfestival in Londrina (FILO) von 1995 bis 1999 aufschlussreiche Einblicke in Theater und Kulturpolitik gewonnen. Bei allen Fragen haben mich die Gespräche mit den Theaterwissenschaftlerinnen Ana Maria Rebouyas aus Säo Paulo und Rosyane Trotta aus Rio de Janeiro stets weitergebracht. Die Begegnungen mit Sergio de Carvalho, Antonio Araujo, Denise Stoklos und so vielen anderen Theatermachern und -Wissenschaftlern wie Roberto Lage, Nitis Jacon, Jerusa Franco, Reinaldo Maia, Silvia Femandes, Antunes Filho, Marcio Marciano, Helena Albergaria, Miriam Rinaldi, Roberto Audio, Sergio Siviero, Maria Tendlau, Ney Piacentini, Mariängela Alves de Lima, Fernando Bonassi, Sabato Magaldi, Rosana Seligmann und vielen anderen waren von Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit geprägt. Auf dieser Seite der Weltkugel danke ich auch Nicole Janowski, Dr. Christian Meyer, Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann, Maria Zagar, Dr. Maike Wagner, Antje Schmelcher, Barbara Kastner, Thorsten Fagundes, Dr. Gilberto Calcagnotto, Andrea Kolthoff, Birgit Haller, Michael Janke, Hedi Lichtenstern und Gero Wierichs von transcript. Ganz besonders meinen Eltern für Respekt und Unterstützung. Meinem Mann Fernando für Geduld und Verständnis. Meinem Sohn Jonas für sein sonniges Wesen.

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1 EINLEITUNG

[ ... ] theatre remains a site to which people travel to view and/or experience something together. Because of this persistent potential to engage with the social in physically, materially embodied circumstances, looking at theatre (studies) continues as a vital, important research agenda. (Jill Dolan: Geographies of Learning)

1. 1 Momentaufnahmen Ein Jahr nach meiner ersten Lateinamerikareise als Rucksacktouristirr durch Mexiko und Guatemala begleitete ich im Herbst 1990 eine kleine Delegation der Mainzer Uni auf das Festival Iberoamericano de Teatro de Cadiz im Süden Spaniens. Bis heute ist es das einzige Festival in Europa, das sich auf das Theater Lateinamerikas konzentriert. Untergebracht waren die lateinamerikanischen, spanischen und portugiesischen Künstler und die weiteren Gäste (Theaterwissenschaftler, Veranstalter und Interessierte) in der »Residencia del Tiempo Libre«, einem weitläufigen, mehrstöckigen Betonbau am Strand von Cadiz, der während der Sommermonate spanische Rentner beherbergt. Hier verbrachte man Tage und Nächte zusammen: Es wurde lebhaft über die aufgeführten Theaterarbeiten diskutiert, deren bemerkenswerte oder zum Teil auch enttäuschende Qualität kommentiert, über Entstehungsprozesse und Produktionsbedingungen gesprochen, zusammen gespeist und gefeiert, Musik gemacht und bis zum frühen Morgen getanzt. Eine pulsierende Atmosphäre prägte den künstlerischen und zwischenmenschlichen Austausch. In einer ähnlichen Form und Intensität bin ich dieser Atmosphäre auch auf dem Festival Internacional de Londrina in Brasilien

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SZENISCHES VERHANDELN

wieder begegnet. Cadiz 1990 wurde so zur Initialzündung meiner Begeisterung für das Theater Lateinamerikas. Jenseits der Grenzen meines eigenen kulturellen Umfelds lernte ich Theater als kreatives Spielfeld und dynamischen Ort eines (szenischen) Verhandeins kennen. Als ich mich Anfang 1992 in Kolumbien intensiv mit den Arbeiten der Theatergruppe La Candelaria und anderer Theatermacher beschäftigte, bestätigte sich der Eindruck. Eine Faszination entwickelte sich, die seither meine Begegnung mit dem lateinamerikanischen Theater geprägt und geleitet hat. Auf Festivals in Deutschland, Spanien und Lateinamerika, aber vor allem bei längeren Aufenthalten in Brasilien seit 1995 fügten sich die Theatererlebnisse und Kontakte zu einem Kaleidoskop von Erfahrungen zusammen, die diese ersten Eindrücke bestärkten, erweiterten und modifizierten. Die Neugier auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erwachte. Die Unterschiedlichkeit der lateinamerikanischen Länder und die Vielfalt der Theaterarbeiten legten nahe, einen Schwerpunkt zu setzen. Nicht zuletzt der enge, auch persönliche Bezug zu Brasilien erleichterte die Entscheidung. Mein Blick konzentrierte sich auf zeitgenössische Theaterarbeiten in Brasilien seit den 90er Jahren. Wenn die Companhia do Latiio 1 aus Säo Paulo in den Lagern und Schulen der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento Sem Terra) mit ihren Inszenierungen auftritt, ist es häufig die erste Begegnung der Landarbeiter mit Theater. Diese Kontaktaufnahme steht paradigmatisch für den dynamischen Charakter dieser Theatergruppe. Von Anfang an haben die Texte und Ideen von Bertolt Brecht ihre Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen begleitet. Ihre Arbeit strebt nach Austausch und Verhandeln, im Probenprozess, auf der Bühne, mit dem Publikum. Die »Üne-Woman-Performances« der Schau-

Im Folgenden werde ich den portugiesischen Begriff »companhia" für Theatergruppe meist in der in Brasilien geläufigen Kurzform ..(ia." verwenden. Theatergruppen, Festivals, Inszenierungen und Hervorhebungen setze ich kursiv, Theatertexte in Anführungszeichen. Die zahlreichen Übersetzungen aus dem Portugiesischen sind überwiegend von mir: ln den längeren Textzitaten geht das daraus hervor, dass ich Original und Übersetzung nebeneinander bestehen lasse. ln wenigen Fällen lagen Übersetzungen ins Deutsche oder Englische vor, auf die ich zurückgreifen konnte. Mit meiner Gegenüberstellung von Originaltext und übersetzten Text möchte ich explizit auf die Veränderungen hinweisen, die jede Übersetzung mit sich bringt. Ich möchte die Möglichkeit geben, im Original zu lesen oder zu vergleichen. Immer wieder gibt es Begriffe, die sich nicht eindeutig übersetzen lassen. An dieser Stelle möchte ich nur auf das Wort »dramaturgia•• verweisen, das im Deutschen sowohl Dramatik als auch Dramaturgie bedeuten kann. ln Brasilien ist der Beruf des Dramaturgen bisher wenig verbreitet und wird in einigen Fällen mit »dramaturguista•• benannt. Im Arbeitsprozess vieler Theatergruppen der letzten Jahrzehnte sind die Grenzen zwischen den Aufgabenfeldern von Dramatiker und Dramaturgen fließend.

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EINLEITUNG

spielerin, Autorin und Regisseurin Denise Staklos spiegeln einen spielerischen, humorvollen und kritischen Umgang mit Gesellschaft und Kultur wider. Ganz selbstverständlich verleibt sie sich verschiedenste Denkansätze, Texte und Techniken ein, verbindet das hybride Material durch ihre szenische Präsenz und appelliert mit einem starken emotionalen Impetus an eine wache wie würdevolle Haltung des Publikums. Melodrama (1995), eine Produktion der in Rio de Janeiro arbeitenden Gruppe Cia. das Atores, ist ein szenisches Spiel mit der für Lateinamerika so typischen Gattung des Melodramas. A Maquina (1999), die Inszenierung des aus dem Bundesstaat Pernambuco stammenden Regisseurs Joäo Falcao, thematisiert in einem kreativen Umgang mit Mitteln der Volkskultur das Wirkungsfeld des Fernsehens in einem Spannungsbogen zwischen Land und Stadt, Tradition und Moderne. Bei dem in Säo Paulo arbeitenden Teatro da Vertigern sind nicht die Medien Reibungsfläche, sondern religiöse Themen und öffentliche Räume. Eine Kirche, ein Krankenhaus und ein verlassenes Gefängnis werden zu Orten einer Suche, an denen Theater und Gesellschaft aufeinander treffen und darüber erfahrbar gemacht werden. Diese Momentaufnahmen der Theaterarbeiten und -gruppen, mit denen sich die vorliegende Arbeit ausführlich beschäftigt, geben einen ersten Eindruck davon, in welche Richtung der Begriff szenisches Verhandeln weist. Gemeint ist eine Haltung, Einstellung, Praxis, letzten Endes ein Theaterverständnis. Es ist eine sehr lebendige und engagierte Auffassung, die sich in ihrer Mobilität von dem etwas erstarrten Modell absetzt, das in vielen deutschen institutionellen Theatern dominiert. Theatre can be a mobile unit in a journey across new geographies, [ ... ] a place that can be filled and moved, by and to the margins, perpetually decentered as it explores various identity configurations of production and reception. University theatre, in particular, has the potential to teach spectators how to be moved by difference, to encourage them to experience emotion not as acquiescent, but as passionate, and moving toward social change. 2

In ihrem Aufsatz »Geographies of Learning: Theatre Studies, Performance and the >Performative«< bedauert Jill Dolan, dass Performance und Theater, »performativity« und Theatralität zu etablierten Metaphern für die theoretische Beschäftigung mit kulturellen Phänomenen und Identität geworden sind, während das Theater selbst von solchen Betrachtungen häufig ausgenommen wird. Ähnlich wie Dolan eine »diffe2

Dolan, Jill (1993): Geographies of Learning: Theatre Studies, Perfomance und the »Performative", in: Theatre Journal 45, 1993: 436.

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SZENISCHES VERHANDELN

rently mapped geography oftheatre productions« (Dolan 1993: 426) fordert, soll es in dieser Arbeit um ein weites Verständnis von Theater gehen, das- neben Inszenierung und Text - Probenprozess, Zuschauerreaktionen und das kulturell-gesellschaftliche Umfeld einbezieht, und es als Ort versteht, an dem »culture reflects on the structure of its relationships and their possibilities« (Dolan 1993: 431 ). Theater und mit ihm die (Theater-)Theorie und Theaterwissenschaft bieten sich als exemplarische Felder von Kultur an: »a place to experiment with the production of cultural meanings [... ] a pedagogically inflected field of play at which culture is liminal or liminoid and available for intervention. Theatre studies - as a discipline and as a geography, tied to the academy but resonating far outside it - can offer the potential« (Dolan 1993: 432). Dolan fordert offensiv neue Metaphern und bezieht sich in diesem Kontext auf Peggy Phelan und ihren Umgang mit der Metapher der Brücke: lt is an attempt to walk (and live) on the rackety bridge between self and other - and not the attempt to arrive at one side or another - that we discover real hope. That walk is our always suspended performance - in the classroom, in the political field, in relation to one another and to ourselves. 3

Diese bildhafte Umschreibung des Lebens als ein Hin- und Herwandern zwischen dem Eigenen und dem Anderen (ohne an einer der beiden Seitenjemals ankommen zu wollen oder zu können) beschreibt sehr treffend den Hintergrund und die Entstehungsphase dieser Studie mit ihren zahlreichen Reisen über den Ozean und ihrem europäischem Blick auf die brasilianischen Theaterarbeiten. Szenisches Verhandeln ist der Begriff, den ich für den dynamischen Umgang der Theatermacher mit Kultur und Gesellschaft gewählt habe. Ein Verhandeln mit den Mitteln und Möglichkeiten des Theaters, darauf spielt das Adjektiv »szenisch« an. »Szenisch« nicht im engen Sinn der Szene im dramatischen Text, sondern im Hinblick auf die Inszenierung und den Prozess des »In-Szene-Setzens«. Das Ver-Handeln greift auf den für das Theater zentralen Begriff der Handlung zurück, geht in seiner aktivischen und verbalen Form aber darüber hinaus, spielt mit dem Präfix »ver« auf die Aspekte der Kommunikation und des Dialogs an. Im Gegensatz zu den englischen Begriffen »negotiate« oder »negotiations«, die in den auf den cultural studies basierenden Theorieansätzen immer wieder fallen 4 , kann man mit dem deutschen »(Ver-)Handeln« Parallelen 3 4

Phelan, Peggy (1993): Unmarked. London: Routledge, 174. Zit. n. Dolan 1993: 440. Vgl. Dolan 1993: 440; Bhabha, Homi (1994): the location of culture, London: Routledge, 25. Vor allem Stephen Greenblatt hat mit seinen .. shakespearean Negotiations" diesen Begriff geprägt. Vgl. Greenblatt, Stephen (1993): Ver·

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EINLEITUNG

zu dem portugiesischen Wort für »Schauspielen« »a(c)tuar« ziehen, das neben »Schauspielen« auch »bewirken, in Gang setzen« bedeutet. Über seinen Wortstamm »Handel« ist »Verhandeln« ein Begriff, der eng mit der Welt der Geschäfte, des Marktes und der Wirtschaft verbunden ist. Auch Stephen Greenblatt geht in seinen »Verhandlungen mit Shakespeare« von dieser ökonomischen Grundlage aus. Ihm geht es darum, die wirkungsvolle Energie von Kunstwerken zu verstehen. Er sieht sie in einem »subtilen, schwer fassbaren Ensemble von Tauschprozessen, einem Netzwerk von Wechselgeschäften, einem Gedränge konkurrierender Repräsentationen, einer Verhandlung zwischen Aktiengesellschaften« (Greenblatt 1993: 16) begründet. Vor dem Hintergrund der in fast allen brasilianischen Theaterarbeiten zum Ausdruck kommenden Kapitalismuskritik und der die soziale Ungleichheit fördernden neoliberalistischen Wirtschaftspolitik in Lateinamerika ist es mein Anliegen, den Begriff des Verhandeins aus diesem wirtschaftlichen Bedeutungskontext zu lösen, ihn umzudeuten, ihn positiver, poetischer und - über das Theater - vitaler zu besetzen. Hier gibt es Parallelen zu dem, was Erika Fischer-Lichte als »Theater als Modell für eine performative Kultur« beschrieben hat und als »performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts« 5 interpretiert. Einerseits bezieht sich Fischer-Lichte auf die »Retheatralisierung des Theaters« Anfang des Jahrhunderts, »die umfassende Theatralisierung des öffentlichen Lebens nach dem Ersten Weltkrieg« (FischerLichte 2000: 20) und die Performancekunst seit den 60er Jahren. Ihre im Hinblick auf das Theater und kulturelle Veranstaltungen untermauerte These lautet: »Die europäische Kultur hat im 20. Jahrhundert den Übergang von einer dominant textuellen zu einer überwiegend performativen Kultur vollzogen« (Fischer-Lichte 2000: 3)6 . Andererseits benennt Fischer-Lichte den Perspektivwechsel der Geisteswissenschaften in den neunziger Jahren. Das Interesse verlagere sich auf die »Tätigkeiten des Herstellens, Machensund auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende kulturelle Strukturen auflösen und neue herausbilden«: Die Metapher von »Kultur als Performance« (Fischer-Lichte 2000: 23) gewinne an Bedeutung. In ihrem

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handlungen mit Shakespeare. Innenansichten der Renaissance, Berlin: Fischer. Auf Greenblatt wird im Folgenden noch eingegangen. Fischer-Lichte, Erika (2000): Theater als Modell für eine performative Kultur. Zum performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts. (Vortrag im Rahmen des Symposiums »Kulturwissenschaften und Öffentlichkeit«). Saarbrücken: Pressestelle der Universität des Saarlandes. Fischer-Lichte verweist in ihrem Blick auf Europa darauf, dass die Kultur des Mittelalters sehr wohl eine performative Kultur gewesen sei, und es erst im 18. Jahrhundert eine Verschiebung hin zu einer textuellen Kultur gegeben hätte.

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SZENISCHES VERHANDELN

Aufsatz begrenzt Fischer-Lichte den Blick auf Europa. In Bezug auf Brasilien ist es fragwürdig, ob man von einem »performative turn« reden kann, da sich dort die - dem von ihr beschriebenen Wandel vorausgehende - textuelle Kultur nie richtig etabliert hat. Zudem ist in der brasilianischen Volkskultur der die Performativität charakterisierende Aufführungscharakter immer schon und bis heute sehr präsent. Wie oben schon bei Dolan anklang wird der heutzutage in der Theorie vielseitig kursierende Begriff der Perfonnativität häufig auf kulturelle Phänomene angewandt. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich mit ihrem wissenschaftlich weniger besetzten Begriff szenisches Verhandeln auf Theaterarbeiten. Dennoch wird sich zeigen, dass in Brasilien (unter Intellektuellen, Künstlern und in den »culturas populares«) das Verhandeln von Kultur und Gesellschaft in eine historisch verwurzelte, von der kolonialen Vergangenheit geprägte Auseinandersetzung mit kultureller Identität eingebettet ist. Verhandeln ist letzten Endes auch eine Metapher für das Unterfangen dieser Arbeit. Sie bringt Theatererlebnisse und Erfahrungen in einen Dialog mit theoretischen Gedanken und entwirft aus diesen Einzelteilen »Geographies of Learning«. Ohne Frage hat sich in die Praxis des Verhandeins der eigene, europäische Standort7 mit seinen Sehnsüchten und Projektionen eingeschrieben.

1.2 Hier und Dort Denkt man von Europa aus an Brasilien, dann drängen sich Bilder auf: Palmenstrände, schöne Mulattinnen, Indianerlnnen, Karneval, Samba, Fußball und bewaffnete Drogenbosse. Stereotypen prägen unsere alltägliche Vorstellung von Brasilien. Caipirinha und Capoeira sind zu einer vermarkteten Exotik und einem lustvollen Modephänomen geworden. Wie immer wieder bei der Beschäftigung mit dem »Anderen« zeichnet sich auch der Umgang mit Brasilien durch eindimensionale und marktorientierte Fremdbilder aus. Neben solchen oberflächlichen und klischeebesetzten Kulturkontakten stoßen brasilianische Kulturphänomene - wie beispielsweise der Karneval und die afrobrasilianischen Kulte und 7

Zur Metapher des Standorts bemerkt Dolan: »The metapher of location currently echoes through a number of contemporary political and academic discourses. ln feminist studies and activism, for one example, positionality is a strategy that locates one's personal and political investments and perspectives across an argument, a gesture toward placing oneself within a critique of objectivity, but at the same time stopping the spin of post-structuralist or postmodernist instabilities lang enough to advance a politically effective action. A position is an unstable but effective point of departure.•• Dolan 1993: 417.

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EINLEITUNG

Religionen - aufgrund ihrer Theatralität auf großes Interesse. Das brasilianische Theater jedoch ist weitgehend unbekannt. In Deutschland hat als einzige Ausnahme das themenorientierte Theaterfestival Movimientos 92 in Harnburg und Köln8 der Vielseitigkeit des brasilianischen Theaters ein relativ breites Forum geboten. Nur vereinzelt haben Gastspiele danach einen Einblick in die brasilianische Theaterlandschaft geboten: 1993 ist die Gruppe Teatro Piollin (Joao Pessoa) auf dem Sommertheaterfestival Harnburg aufgetreten, auf dem Festival Theater der Welt 1996 die Grupo Galpiio (Belo Horizonte) und auf dem Festival Theater der Welt 1999 in Berlin das Miniaturpuppentheater Caixa de Imagen (Sao Paulo) und die Straßentheatergruppe Cia. de Mysterios e Novedades (Sao Paulo). Antonio N6brega (Pemambuco/ Sao Paulo) ist auf das Festival d'Avignon 1998 eingeladen worden. Mit einer Aufführung des Teatro da Vertigern (Sao Paulo) begann das Festival Theater der Welt 2002 in Köln. Auf den Ruhrfestspielen 2004 stellte das Teatro Ojicina Uzyna- Uzona (Sao Paulo) seine mehrteilige Bühnenfassung von »Üs Sertoes« vor. In dieser Auflistung klingt eine Dominanz des »exotischen Blicks« an, eine Vorliebe für Folklore, Volkskultur und einfach das »Andersartige«. Dabei sehen sich Festivalmacher sicherlich von Faktoren wie der Frage nach dem Publikumsgeschmack und der Übersetzbarkeit beeinflusst, übergehen dabei aber oft andere, für ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext wichtige, vielleicht weniger exotische Theaterarbeiten. Inszenierungen brasilianischer Theatertexte an deutschen Bühnen sind selten, auch wenn einige Stücke ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht worden sind. Die deutschen Fassungen wie zum Beispiel die Texte des bekanntesten brasilianischen Dramatikers Nelson Rodrigues und einiger anderer Theaterautoren9 machen eine szenische Auseinandersetzung grundsätzlich möglich. Die Seltenheit solcher theaterpraktischer Dialoge lässt sich einerseits mit dem Mangel an Übersetzungen zeitge8

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Der damalige Leiter des Internationalen Sommertheaterfestivals Dieter Jaenicke hat auf das Hamburger kampnaget - Gelände (und das ausnahmsweise in Köln angeschlossene Festival) anlässtich des 500. Jahrestages der so genannten Entdeckung Amerikas zahlreiche lateinamerikanische Gruppen eingeladen. Darunter waren auch verschiedene brasilianische Theatergruppen wie die Grupo de Teatro Macunaima des Regisseurs Antunes Filho, die Cia. da Opera Seca des Regisseurs Gerald Thomas, die Gruppe Boi-Voador und die Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Denise Stoklos. Vgl. Anhang. Einige Texte von Nelson Rodrigues, Augusto Boal und anderen Autoren sind in Verlagen wie "Verlag der Autoren·· und ··henschel Berlin" in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden. Vgl. Liste im Anhang. Vor allem die »Theaterund Mediengesellschaft Lateinamerika e.v ... hat sich um die Veröffentlichung lateinamerikanischer Theatertexte im deutschen Sprachraum verdient gemacht. ln ihrer Reihe ist folgende Anthologie zu Brasilien erschienen: Thorau, Henry/Magaldi, Sabato (Hg.) (1996): Theaterstücke aus Brasilien. Berlin: Edition dia.

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SZENISCHES VERHANDELN

nössischer brasilianischer Stücke erklären. Sie hat aber andererseits auch viel mit Übersetzungsproblemen zu tun, die über die rein sprachlichen Dimensionen hinausgehen. Vielleicht fehlt für solche interkulturellen Inszenierungsprojekte auch nur ein bisscheu mehr Neugierde und Einfühlungsvermögen in den anderen kulturellen Kontext. Selbst wenn die Theatertexte sicherlich die hierzulande zugänglichste Referenz auf die brasilianische Theaterlandschaft darstellen, können sie nur ansatzweise Einblick in eine Theaterrealität ermöglichen, die sehr durch die Praxis und das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld geprägt ist. Anders als bei einem leichter exportierbaren und analysierbaren Kulturgut wie den brasilianischen Telenovelas oder dem brasilianischen Film bringt die Auseinandersetzung mit dem Theater durch Einmaligkeit und Vergänglichkeit des Mediums wie auch durch die geographische Entfernung Brasiliens weitere Hindernisse und Probleme mit sich. 10 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem brasilianischen Theater hat in Deutschland kaum stattgefunden und konzentriert sich auf den international vor allem als Theaterpädagogen bekannten Augusto Boa!, der durch zahlreiche Workshops in Europa und der ganzen Welt eine große Anhängerschaft gewonnen hat. 11 Die wissenschaftlichen Studien dramatischer Texte sind Einzelfälle. 12 Die internationale und auch brasilianische theaterwissenschaftliche Forschung der vergangeneu Jahre 13 legte einen Schwerpunkt auf den sich als kosmopolitisch, post-

10 Auch wenn man mit Hilfsmitteln wie Video- und Tonaufzeichnungen, Fotos, Textfassungen und Probennotaten eine Theateraufführung virtuell rekonstruiert, können diese die erlebte Theateraufführung nicht ansatzweise ersetzen. 11 Vgl. Thorau, Henry (1982): Augusto Boals Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis. Rheinfelden: Schäuble; Kastner, Barbara (2001 ): Das Zentrum »Theater der Unterdrückten" in Rio de Janeiro. Volkskultur und lnterkulturalität, Unveröffentliche Magisterarbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin; Baumann, Till (2001 ): Von der Politisierung des Theaters zur Theatralisierung der Politik. Theater der Unterdrückten im Rio de Janeiro der 90er Jahre. Stuttgart: lbidem; Wiegand, Helmut (Hg.): Theater im Dialog: heiter, aufmüpfig, demokratisch - deutsche und europäische Anwendungen des Theaters der Unterdrückten. Stuttgart: lbidem. 12 Als grundlegende Betrachtung zu Nelson Rodrigues gilt: Spinu, Marina (1986): Das dramatische Werk des Brasilianers Nelson Rodrigues. Frankfurt am Main: Peter Lang. ln ihrer Arbeit über Tendenzen in der Dramatik Lateinamerikas seit Mitte der 80er Jahre setzt sich Carolin Overhoff mit den brasilianischen Autoren Luis Alberto de Abreu und Alcides Noguiera auseinander. Vgl. Overhoff, Carolin (1999): Vom Töten alter Wunden. Neue Tendenzen in der Dramatik Lateinamerikas seit Mitte der 80er Jahre. Berlin: Vistas. 13 Vgl. George, David (2000): Flash and Crash Days. Brazilian theater in the post-dictatorship period. New York: Garland; Fernandes, Silvia/ Guinsburg, J. (Hg.) (1996): Um encenador de se mesmo: Gerald Thomas. Sao Paulo: Editora Perspectiva.

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EINLEITUNG

modern und avantgardistisch darstellenden Theatermacher Gerald Thomas, ein Phänomen, das im Laufe dieser Arbeit noch angesprochen wird. In seiner Betrachtung von Theatermachern aus dem hispanoamerikanischen Lateinamerika macht der Theaterwissenschaftler Alfonso de Toro über den Begriff der Postmoderne einen Paradigmenwechsel 14 im lateinamerikanischen Theater fest, den er in späteren Aufsätzen mit Verweisen auf die postkolonialen Theorieansätze in Verbindung bringt. In seinen Überlegungen zu »transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Forschungsgrundlagen der Theaterwissenschaft« 15 jongliert er mit Begriffen wie »Hybridität« und »Inter-medialität« oder »Transmedialität«, deren theoretische lmplikationen durchaus für das Thema dieser Studie von Interesse sind. Da de Toro seine theoretischen Überlegungen nicht aus der lateinamerikanischen Theaterpraxis heraus entwickelt, nicht von ihr ausgeht, sondern das Theater zu einem - aus dem Kontext gerissenen - Fallbeispiel für sein abstraktes und darin etwas oberflächliches Begriffsspiel macht, distanziert sich vorliegende Arbeit von seinem Vorgehen. 16 Ohne weiter auf de Toro zurückzugreifen, geht sie von Beobachtungen der Kultur und des Theaters Brasiliens aus und bringt diese in einen Dialog mit theoretischen Betrachtungen. Mir geht es darum, Beobachtungs- und Verständnisräume zu vertiefen und Zusammenhänge offen zu legen. In der nordamerikanischen Theaterwissenschaft ist vor allem Diana Taylor zu erwähnen, die sich in »Theatre of Crisis« 17 mit lateinamerikanischen Theatertexten auseinander setzt, die zwischen 1965 und 1970 entstanden sind. Sie untersucht, wie die von ihr ausgewählten fünf Autorlnnen, von denen keine(r) aus Brasilien stammt, »the changing representations of self/otherness in the critical context of shifting sociopolitical and historical power relationships« (Taylor 1991: 9). In »Negotiating performance. Gender, Sexuality and Theatricality in Latin/o America« verwenden die Herausgeber Diana Taylor und Juan Villegas den Begriff »Verhandeln« als Umschreibung für den Entstehungsprozess ihres Aufsatzbandes. Taylor geht in ihrem Vorwort über die wissenschaft14 Toro, Alfonso de (1993): Cambio de Paradigma? El nuevo teatro latinoameri· cano o la constituci6n de la postmodernidad espectäcular, in: Ders./Toro, Fernando de: Hacia una nueva critica y un nuevo teatro latinoamericano, Frankfurt, 27-46. De Toro geht auf die von ihm als postmodern analysierten Theaterarbeiten von Alberto Kurapel, Ram6n Griffero, Luis de Tavira und Eduardo Pavlovsky ein. 15 Toro, Alfonso de (2001 ): Reflexiones sobre fundamentos de investigaci6n transdisciplinaria, transcultural y transtextual en las ciencias del teatro en el contexto de una teoria postmoderna y postcolonial de la »hibridez« e »inter· medialidad«, in: Gestos 32, September 2001, 14-49. (www.uni-leipzig.de/ -detoro I sonstiges/ reflexiones. htm) 16 Vgl. Overhoff 1999: 13, die sich auch kritisch zu dem Wissenschaftler äußert. 17 Taylor, Diana (1991 ): Theatre of Crisis. Drama and Politics. Lexington.

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liehe Praxis hinaus und fragt: »Was >culture< then some priviliged space of aesthetic and philosophical debate removed from daily life and relationships of domination? Or was culture the arena in which these relationships and exclusionary practices could be fought out, or, more optimistically, negotiated?« 18 Daran anschließend möchte ich behaupten, dass es ein Ziel wissenschaftlicher Arbeiten sein sollte, die Eindimensionalität kultureller Vorstellungen aufzubrechen und zu widerlegen. Einseitige Schwerpunkte, oberflächliche Herangehensweisen, mit denen lediglich Theorien belegt werden, und allzu große Lücken im Spektrum der Auseinandersetzungen können selbst eine gewisse Eindimensionalität hervorrufen, sie verfestigen, anstatt ihr entgegenzuarbeiten. Die geographische Entfernung ist nur partiell dafür verantwortlich, dass sich kulturelle Kontakte oft sehr eindimensional gestalten. Deutlich wird dies in den Zeiten der Globalisierung, in denen die räumliche Distanz immer leichter überbrückbar ist. Seit der so genannten Entdeckung verfängt sich auch die Begegnung mit Lateinamerika und seiner Kultur immer wieder in den Schlingen des essentialistischen Kulturverständnisses der Modeme. Dabei zeichnet sich vor allem die brasilianische Realität durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Kulturen von jeher durch ihre Vielseitigkeit, Widersprüchlichkeit und ihre dynamischen Vermischungsprozesse aus. Seit über 500 Jahren entsteht eine Kultur (oder entstehen Kulturen), deren Verständnis sich einer essentialistischen und kolonialistischen Kulturauffassung eigentlich entzieht - auch wenn sie dieser lange gewaltsam untergeordnet wurde, sich ihr auch selbst untergeordnet hat. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts meldet sich die Kunst immer wieder als offensiver Versuch der kulturellen Loslösung aus der Vormachtstellung Europas und später Nordamerikas. Es sind Befreiungsversuche von Herrschaft und Dominanz, linearen Geschichtsmodellen und geschlossenen Kulturvorstellungen, auch wenn sie diese immer wieder selbst reproduzieren. Dieses postkoloniale Bedürfnis nach kultureller Selbsterkenntnis äußert sich als ein dynamischer Prozess, als eine kritische Suche, die ein beachtliches poetisches Potenzial freisetzt. In der heterogenen Form des Zusammenlebens der unterschiedlichen Kulturtraditionen verbirgt sich (nicht nur) in Brasilien neben einer utopischen Dimension immer auch ein gewaltiges KonfliktpotenziaL Letzteres wurzelt vor allem in der Konfrontation der - sich aus den Zeiten der

18 Taylor, Diana/Villegas, Juan (Hg.) (1994): Negotiating Performance. Gender, Sexuality and Theatricality in Latin/o America. London: Durham, 15. Taylor und Villegas beziehen ihre Verwendung von »Negotiating" auf den verhandelnden und diskutierenden Austausch zwischen Theaterwissenschaftlern. Dieses Wissenschaftsverständnis deckt sich mit meinem, auch wenn die vorliegende Arbeit sich nicht weiter auf den erwähnten Band bezieht, da er sich nicht explizit mit dem Theater in Brasilien beschäftigt.

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Kolonisation fortschreibenden und durch Kapitalismus und Neo-Liberalismus verstärkten - extremen sozialen Unterschiede. Das Verständnis von Kultur in Brasilien verweist auf die Geschichte von sich konfrontierenden, sowohl eingefahrenen, starren, als auch im Dialog stehenden und sich verändernden Positionen, als Perspektiven, als Geschichte der Grenzziehungen, aber auch Grenzüberschreitungen. Diese lange Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff, sei es - wie im Fall der brasilidade (Brasilianität) - angebunden oder auch losgelöst von dem Begriff der Nation, spiegelt eine Suche nach kultureller Identität wider. Charakteristisch sind ihre Hybridität, die ständige Veränderung und die Prozesshaftigkeit, auch wenn diese dynamischen Eigenschaften von offizieller und staatlicher Seite nicht immer eingestanden und gefördert worden sind. Theater, Musik, Kunst allgemein und teilweise auch die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandierenden Massenmedien haben sich immer wieder als Foren erwiesen, in denen sich gesellschaftliche Fragen und der kulturelle Dialog ausdrücken. Ihre Verhandlung des kulturellen (Selbst-)Verständnisses ist als ästhetischer Diskurs Teil eines komplexen Gewebes, das sich im Laufe des Jahrhunderts in immer anderen Formationen manifestiert hat. Diesem dynamischen und suchenden Umgang mit Kultur, wie er vor allem in der Volkskultur, bei Intellektuellen und Künstlern zum Ausdruck kommt, bin ich über die ausgewählten Theaterarbeiten seit den 90er Jahren nachgegangen. Er lässt sich im Dialog mit den Theorien des Postkolonialismus, der cultural studies 19 und den lateinamerikanischen Kulturtheorien20 besser nachvollziehen. Gemeinsame Grundlage ist ein Gegen-den-Strich-Lesen, ein konstruktiv-kreativer Umgang mit Kultur. Kulturelle Praxis und Theorie prägen ein Verständnis, nach dem sich Kulturen geschichtlich erst formieren. Paradigmatisch sind dabei solche Kulturen, die sich immer wieder mit ihrem Prozesscharakter konfrontiert sehen und deren Vielseitigkeit eindeutige Zuschreibungen unmöglich macht. In ihrer Dynamik und ihrem dialogischen Aushandeln widerlegen sie traditionelle Konzepte, die nach innen hin eine Homogenisierung suchen, während sie sich nach außen abgrenzen. In ihrer Heterogenität und ihren Widersprüchen verlangen diese Kulturen - ebenso wie die erwähnten Theorien - auch danach, die komplexen, sie bestimmenden Machtstrukturen einzubeziehen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit Theater als kultureller Praxis erfordert eine Kontextualisierung: Nur 19 Vgl. Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hg.) (1999): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 20 Einen guten Überblick gibt folgender Artikel: Herlinghaus, Hermann/Walter, Monika (1997): Lateinamerikanische Peripherie - diesseits und jenseits der Moderne, in: Weimann, Robert (Hg.): Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 242-300.

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sie kann der Dynamik, der Offenheit und dem Prozesscharakter szenischen Verhandeins Rechnung tragen.

1.3 Karten und Paten Die vorliegende Studie ist das Resultat einer Reise durch eine überwiegend städtische Theater- und Kulturlandschaft. Aus ihrem wandernden, selektiven Blick fugt sie eine Landkarte zusammen, deren Leerstellen und Auslassungen sie nur ansatzweise nachgehen kann, auch welltl sie immer mitgedacht werden sollten. Die Karte als »Vermittler zwischen Empirie und Konstruktion, zwischen Performanz und ihrer (Ver) Zeichnung«21 erscheint mir als ein treffendes Bild für diese Arbeit. Sie bietet zwar eine Orientierung im zeitgenössischen brasilianischen Theaterschaffen, ist aber gleichzeitig mit der Auswahl, den Aussparungen und der Art der Benelltlung durch die Sicht der Autorin geprägt. Die erkenntnistheoretisch motivierte Konstruktion von Karten ist aus der kolonialen und postkolonialen Praxis bekannt als Versuch des »textualizing the spatial reality of the other«22 , von dem sich- selbstkritisch betrachtetauch diese Arbeit nicht ganz lösen kann. Mit Ausnahme von Melodrama und A Maquina sind die anfangs erwähnten Theaterarbeiten in der Kultur- und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo entstanden. Obwohl die Zuwanderungsstadt Silo Paulo mit ihrer kulturellen und sozialen Heterogenität in vielerlei Hinsicht charakteristisch für die Vielseitigkeit ganz Brasiliens ist, können die Beispiele nicht als repräsentativ ftir das brasilianische Theater betrachtet werden: Es sind vielmehr Theaterarbeiten aus Brasilien. Aufgrund der Größe des Landes und seiner Entfernungen ist eine Beschäftigung mit Theaterarbeiten, die jenseits der Kulturachse Sao Paulo-Rio entstehen, selbst für brasilianische Wissenschaftler nur schwer zu realisieren. Die Theaterkritikerin Mariängela Alves de Lima fuhrt dies auch darauf zurück, dass sich der brasilianische Staat Anfang der 90er Jahre fast ganz aus einer die szenischen Künste unterstützenden Kulturpolitik zurückgezogen hat. 23 Die

21 Vgl. Brandstetter, Gabriele (2000): Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung, in: Brandl·Risi, Bettina/Ernst, Wolf·Dieter/Wagner, Meike (Hg.) : Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge. ePODIUM: München, 196. 22 Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (1998): Key concepts in post· colonial studies. London: Routledge, 31. 23 Lima, Mariängela Alves de (1999): teatro brasileiro nos anos noventa, unveröffentlichtes Manuskript, 1.

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Folge ist u.a., dass Inszenierungen nur in seltenen Fällen in andere Bundesstaaten und Städte auf Gastspielreise gehen. Wie die Momentaufnahmen und ersten Bemerkungen zum Szenischen Verhandeln zu zeigen versucht haben, ist das Interesse für dieses Projekt durch Begegnungen mit Theaterarbeiten ausgelöst worden, die sich auf eine dynamische, kreative und kritische Art mit gesellschaftlichen und kulturellen Fragen auseinander setzen. Der Begriff »Theaterarbeit« zielt auf ein Theaterverständnis ab, das sich an der dynamischen Zusammenarbeit aller Beteiligten im Probenprozess orientiert, das Zusammenspiel der verschiedensten Zeichenebenen in der Theateraufführung in den Mittelpunkt stellt und sie in ihrem gesellschaftlichkulturellen Kontext zu betrachten versucht. Dieses Theater, das sich als eine prozessuale Kunst versteht, geht trotz einer großen Bedeutung der textuellen Ebene nicht von der Dominanz des Textes aus. So ist bei den meisten der zu besprechenden Theaterarbeiten der Text erst im Lauf des Probenprozesses entstanden. 24 Die vorliegende Studie geht kaum auf die brasilianische Dramatik als eine von der Theaterpraxis losgelöste Kunstform ein. Viele wichtige Phänomene der vielseitigen brasilianischen Theatergeschichte und -Iandschaft werden ungenannt bleiben. Auch die nicht erst seit den 90er Jahren - für die brasilianische Theaterlandschaft wichtigen Theatermacher wie Antunes Filho, Ze Celso und Gerald Thomas spielen nur im Rahmen einer Kontextualisienmg der zu untersuchenden Theaterarbeiten eine Rolle und werden somit nur skizzenhaft in die Fragestellung dieser Arbeit einbezogen. Das Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, das dynamische Potenzial der in Brasilien selbst erlebten Theaterarbeiten besser zu begreifen. Es geht darum, dieses Theater in seinem jeweiligen Kontext zu verorten und dabei den verschiedenen Erscheinungsformen des Szenischen Verhandeins nachzugehen. Vor dem Hintergrund des immer noch sehr starren offiziellen europäischen und insbesondere deutschen Kulturverständnisses (man denke beispielsweise an die nicht weit zurückliegende Diskussion um die »Deutsche Leitkultur«) erscheint dieses nach kontinuierlicher Verändenmg strebende Verständnis von Kultur, wie es sich in den Theaterarbeiten und der brasilianischen Kulturgeschichte manifestiert, 24 Vgl. hierzu die unveröffentlichte Arbeit der brasilianischen Theaterwissen· schaftlerin Ana Maria Rebouc;:as 2001, die sich unter dem Titel ..szenische Poetik in der zeitgenössischen brasilianischen Dramatik« mit diesem Phäno· men auseinandersetzt. Sie geht auf verschiedene im Dialog mit dem Probenprozess entstandene Theatertexte ein, u.a. auch auf den Text .. o livro de J6« (Das Buch Hiob) des Dramatikers Luis Alberto de Abreu, der parallel zur gleichnamigen Inszenierung der Gruppe Teatro da Vertigern entstanden ist. Rebouc;:as, Ana Maria (2001 ): Pm!tica Cenica na dramaturgia brasileira contemporänea. Unveröffentlichte Magisterarbeit. ECA!Universidade de Säo Paulo.

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sehr anregend. Der forschende Dialog mit den verschiedenen - überwiegend außereuropäischen - Denkansätzen soll auch meiner eigenen Praxis einen Impuls verleihen. Für meinen theoretischen Ansatz haben verschiedene Denker Pate gestanden. Einer von ihnen ist Stephen Greenblatt und der vor allem von ihm geprägte New Historicism. Dieser Einfluss klingt nicht nur - wie schon ausgeführt - im Titel an, sondern hat sich auch in den Versuch eingeschrieben, meinen Fragestellungen in einem möglichst plastischen Umgang mit Sprache nachzugehen. 25 Greenblatt geht es mit seiner »Kulturpoetik« um das »Studium der kollektiven Erzeugung unterschiedlicher kultureller Praktiken und die Erforschung der Beziehung zwischen ihnen« (Greenblatt 1993: 14). Der New Historicism konzentriert sich dabei vor allem auf den Umgang mit Literatur und Geschichte. In dem von ihm dargestellten Wechselverhältnis zwischen der »Geschichtlichkeit von Texten« und der »Textualität von Geschichte« 26 macht er die Renaissance zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen. Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind nicht die historische (Theater-) Literatur und ihre Bühnenpraktiken, sondern die zeitgenössische Theaterarbeit Auch wenn der historische Blick für die Kontextualisierung eine Bedeutung hat, ist die Entfernung der Verfasserin zum Forschungsgegenstand weniger geschichtlich als geographisch. Sie liegt vor allem in der kulturellen »Andersartigkeit« aus dem überwiegend europäisch geprägten Blickwinkel. Dennoch haben sich verschiedene- von Greenblatt selbst als Arbeitsweise deklarierte - Gedanken der Vertreter des New Historicism27 als fruchtbar für die Auseinandersetzung mit den brasilianischen Theaterarbeiten erwiesen. Greenblatt spricht von der »Zirkulation sozialer Energie« (Greenblatt 1993: 9)28 . Es geht ihm um das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Damit spricht er das Phänomen eines dynamischen Austauschs an, dem unter dem Titel »Szenisches Verhandeln« im Hinblick auf das Theater nachgegangen werden soll. Aus Greenblatts Opposition von »Restriktion« und »Mobilität«29 kann man ein Oszillieren zwischen Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen ableiten. In dem von ihm als »Netzwerk von Verhandlungen« verstandenen Kultur25 Hier möchte ich nochmal an Dolans Forderung nach einem (positiv-offensiven) Umgang mit Metaphern im Kontext der (theater-)wissenschaftlichen Praxis verweisen. 26 Baßler, Moritz (1995): Einleitung: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, in: Ders. (Hg.): New Historicism. Literatur als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M.: Fischer, 8. Der Autor bezieht sich dabei auf Louis Montrose. 27 Vgl. Greenblatt, Stephen (1995): Kultur, in: Baßler 1995: 107. 28 Gleichnamiger Titel der Einleitung zu seinem Buch »Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance«. 29 Greenblatt, Stephen (1995a): Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Frankfurt a.M.: Fischer, 49.

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begriff räumt Greenblatt der Kunst eine über das Affirmative hinausgehende Rolle ein: »Die Fähigkeit der Künstler zu neuartiger Montage und Gestaltung der Kräfte ihrer Kultur, wodurch Elemente machtvoll interagieren, die im allgemeinen Haushalt kaum miteinander in Kontakt treten, hat die Kraft zur Erschütterung dieses affirmativen Verhältnisses.« (Greenblatt 1995a: 57) Mobilität, Dynamik und Dialog sind weitere Begriffe, die ausgewählten Theaterarbeiten charakterisieren. Es ist ein Theater, das aus einem Kontext heraus entstanden ist, den man als postkolonial beschreiben kann und der im Verlauf der Arbeit noch ausführlicher erörtert wird. Als Vertreter der postkolonialen Theorie thematisiert auch Edward Said in dem heute so aktuellen Aufsatz »Figures, Configurations, Transfigurations« sein Veränderung anstrebendes Verständnis von Kultu? 0 . Für die zum Teil sehr verzweigten Wege dieser Studie nahm dieses Verständnis vor allem in der Anfangsphase die Funktion eines Leuchtturms ein. In seinen - schon »klassischen« - Hauptwerken »0rientalismus«31 und »Kultur und Imperialismus« (Said 1994) analysiert Said die von Machtkonstellationen geprägte Konfrontation von Orient und Okzident. Er thematisiert die westliche, diskursive Konstruktion des Orients und konzentriert sich auf den geographischen Raum der ehemaligen englischen Kolonien. Diese geographisch konkretisierten Aspekte der Texte Saids werden im Verlauf der Arbeit nicht weiter ausgeführt. Im brasilianischen Kontext erweist sich das von Said geforderte »kontrapunktische Lesen« als aufschlussreich: »Die kontrapunktische Lektüre muss beides in Rechnung stellen, den Imperialismus und den Widerstand gegen ihn, und zwar indem wir die Lektüre der Texte so erweitern, dass sie einschließt, was einst gewaltsam ausgeschlossen worden war« (Said 1994: 112). Das Streben nach »transforming the present by ttying rationally and analytically to lift some of its burdens« (Said 1993: 330) findet man auch in der brasilianischen Kulturgeschichte. In dem Sinn soll Said ebenfalls als eher unsichtbarer, aber wegbegleitender Pate dieser Arbeit vorgestellt werden. Inwieweit dem Said'schen Denkansatz ähnliche Züge auch in den ausgewählten Theaterarbeiten zu finden sind, wird zu zeigen sein. Sicherlich hat sich auch in die vorliegende Arbeit eine Art von Faszination für das »Fremde« und »Andere« eingeschrieben: Ihre Motivation ist jedoch nicht auf den Versuch einer Grenzziehung, sondern auf die Suche nach einem grenzüberschreitenden Denken zurückzuführen. 30 Vgl. Said, Edward (1993): Figures, Configurations, Transfigurations, in: Cox, Jeffrey/Reynold; Larry (Hg.): New Historical Literary Study: Essays on Reproducing Texts, Representing History. Princeton: Princeton UP, Vgl. auch Said, Edward (1994): Kultur und Imperialismus. Frankfurt a.M.: Fischer, 30 u. 440. 31 Said, Edward (1981): Orientalismus. Frankfurt a.M.: Ullstein.

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1.4 Wegbeschreibung Im Zentrum dieser Studie stehen die theaterspezifischen Strategien, in denen sich das szenische Verhandeln von kulturellen, historischen, sozialen und politischen Thematiken im zeitgenössischen Brasilien manifestiert. Bevor ich jedoch die Resultate meiner Wanderung durch die zeitgenössische brasilianische Theaterlandschaft mit ihrer auf die 20Millionen-Stadt Sao Paulo konzentrierten »Feldforschung« vorstelle, geht es um Überlegungen, die ich in Kapitel 2 mit »Heterogenität, Gegensätze, Einheit? Brasilianische Kulturkonstruktionen« umschreibe. Ganz bewusst räume ich diesen nicht theaterspezifischen Betrachtungen einen relativ großen Platz ein: Sie beschäftigen sich aus einer historischen Perspektive mit den Diskussionen um das kulturelle Selbstverständnis Brasiliens, können die Komplexität der brasilianischen Kulturverhandlungen jedoch nur in ihren Grundzügen aufgreifen. Nicht nur aus europäischer Perspektive ist diese suchende Haltung bemerkenswert und hebt sich vom traditionell europäischen Umgang mit Kultur ab. Diesen Wissenshintergrund will ich auch dem Leser als Voraussetzung für das Verständnis der Theaterarbeiten vermitteln und ihm so eine erste »Landkarte« liefern. In einem dialogähnlichen Verfahren folgt darauf in Kapitel 3 eine Diskussion der Theorieansätze der post-colonial studies und der lateinamerikanischen Kulturtheorien. Sie baut auf den Eigenheiten der brasilianischen Kulturdiskussionen auf, knüpft an sie an. Dabei geht es darum, die kulturelle Mobilität dieser Konstellationen aus einer theoretischen Perspektive zu befragen. Ausgehend von den für ein Verhandeln relevanten Aspekten Dynamik, Mobilität und Dialog eröffnen sich für traditionell einseitige Konzepte wie Nation, Identität, Modeme und Zeit andere, flexiblere Dimensionen. An Begriffen wie Hybridität, Heterotopie m1d Dritte Räume wird dieses Aufbrechen- der Wandel der Konzepte - deutlich. Zudem wird gezeigt, dass die Geschichte der Repräsentation in ganz unterschiedlichen »Wegen der Aneignung« zwn Ausdruck kommt. Sie stecken im postkolonialen Gesellschaftsgefüge einen spannungsgeladenen Raum ab. Es sind die subversiven und kreativen Potenziale, die im Hinblick auf das Repräsentationsmedium Theater von weiterführender Bedeutung sind. Das Kapitel 4 stellt mit einem historischen Überblick die nicht nur im deutschen Sprachraum wenig erforschte brasilianische Theatergeschichte in ihren Grundzügen dar. Ausgangsmaterial dieser Überlegungen war die brasilianische Theaterhistoriographie. »Eine kleine TheaterGeschichte« geht mit einem Blick auf die besonders vernachlässigte Theaterpraxis der Frage nach, wie im postkolonialen Zusammenhang das

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Theater »Ürte und Wege des Verhandelns« von Kultur und Gesellschaft markiert. Eine besondere Rolle spielen die Theatermacher, die die zeitgenössische Theaterlandschaft in Brasilien entscheidend geprägt haben und immer noch beeinflussen. 32 Exemplarisch hebe ich vier auch heute noch aktive Regisseure hervor, die über ihre Praxis für die junge Generation der 90er Jahre zu einer Grundlage oder Orientierung geworden sind. Augusto Boa!, der ausgehend vom politischen Theater der 50er/60er Jahre über sein in den 70er Jahren im Exil entwickeltes Theater der Unterdrückten auch in den 90er Jahren Theater als Vehikel politischer Willensbildung einsetzt. Ze Celso, der erstmals Ende der 60er Jahre die künstlerischen Bewegungen der Antropofagia und Tr6picalia für sein Theater fruchtbar macht und seit den späten 80er Jahren mit seinen provokativen Inszenierungen wieder die brasilianische Theaterszene prägt. Antunes Filho zählt heute zu den wichtigsten Referenzgrößen im brasilianischen Theater: Seine Inszenierung Macunaima aus dem Jahr 1978 gilt als Monument der brasilianischen Theatergeschichte. Doch vor allem seine pädagogische Suche, die die Ausbildung, Arbeit und Ethik des Schauspielers ins Zentrum stellt, ist heute immer noch von zentraler Bedeutung. Seit Mitte der 80er, dem Ende der Militärdiktatur, betont der an der Ästhetik von Robert Wilson orientierte Theatermacher Gerald Thomas den universellen Charakter seiner Kunst und gilt mit seiner artifiziellen, von Anspielungen auf die brasilianische Realität weitgehend losgelösten Bühnenästhetik als Vertreter der Postmodeme im Theater Brasiliens. Aufbauend auf dem historischen Überblick und den Beobachtungen zu Augusto Boa!, Ze Celso, Antunes Filho und Gerald Thomas geht es darum, aus einem theatertheoretischen Blickwinkel Konstanten der »theatralen Dimensionen und Strategien« des szenischen Verhandeins aufzuspüren. Vor dem postkolonialen Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln das Theater einen gesellschaftskritischen und kulturaushandelnden Dialog aufnimmt. Als Konstanten haben sich die ästhetischen Strategien der Aneignung, Übersetzung und Hybridisierung herauskristallisiert, die man im Spannungsfeld der interkulturellen Theatertheorie ansiedeln kann und die in einem engen Zusammenhang mit dem von Christopher Balme geprägten Begriff des »Theatersynkretismus«33 stehen. Dabei geht es weniger um Gegenüberstellungen

32 Dieser Einfluss ist nicht nur in den zahlreichen von mir geführten Interviews immer wieder zum Ausdruck gekommen, sondern auch auf Theatersymposien. Vgl auch Rebouc;:as 2001: 17, die sich auf den prägenden Einfluss von Antunes Filho, Ze Celso und Gerald Thomas bezieht. 33 Balme, Christopher B. (1995): Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum. Tübingen: Niemeyer, 31 f.

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von Eigenem und Fremdem, hegemonialer und subalterner Kultur, sondern um ein Verhandeln Dritter Räume, das sich häufig in einem Spannungsfeld zwischen Theater und Performance vollzieht. Eine Haltung des Widerstands gegen gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse kmrunt zum Ausdruck, die ein theatrales Gegen-den-StrichLesen evoziert und sich mit dem vergleichen lässt, was Said im Umgang mit Literatur als »kontrapunktisches Lesen« (Said 1994: 112) einfordert. Sie führt zu einer Rückbesinnung auf den eigenen Standort und macht das Motiv der Suche zu ihrem Movens. Dabei kommt die dem Theater inhärente Möglichkeit des spielerischen Ausprobierens zum Tragen und verleiht ihm eine paradigmatische Rolle im suchenden Umgang mit Kultur- und Gesellschaftsprozessen. Von besonderer Bedeutung sind der Arbeitsprozess und die Kommunikationsstrukturen im Gruppentheater, die das kollektive Aushandeln zu ihrer Strategie werden lassen. Es manifestiert sich auch im Verhältnis zum Publikum: Über Mittel des epischen Theaters und ein kreatives Umgestalten traditioneller Theaterräume suchen die Theatermacher ein direkteres Verhältnis zu den Zuschauern. Die Intensität und Unterschiede des aus der brasilianischen Theatergeschichte abgeleiteten szenischen Verhandeins konstituieren ein weites Spektrum, dem ich die Theaterarbeiten seit den 90er Jahren zuordne und das ich über die Auseinandersetzung mit ihnen erweitere. Das »Panorama der 90er Jahre« gibt einen Einblick in das Theatergeschehen Sao Paulos des letzten Jahrzehnts vor der Jahrtausendwende und bezieht sich auch auf die Produktionsbedingungen der Theatermacher, auf Aspekte, die den konkreten Kontext der im Folgenden dargestellten Theatergruppen, -macher und -produktionen beeinflussen. Die Betrachtungs- und Darstellungsweise der Theaterarbeiten hängt nicht nur von ihren Eigenheiten und Schwerpunkten ab, sondern von der Art, wie ich ihnen - in und schon vor der Entstehungszeit dieser wissenschaftlichen Studie - begegnet bin. Auch hier ist es sinnvoll, den Akt des Verhandeins mitzudenken. Die Arbeit der Cia. do Latiio habe ich seit ihren Anfangen intensiv und mit großem Interesse verfolgt und auch streckenweise begleitet. 34 Für meine Studie bot sich in Kapitel 5 eine Betrachtung der einzelnen

34 ln der letzten vierwöchigen Probenphase vor der Premiere der Inszenierung 0 nome do sujeito war ich im September 1998 als dramaturgische Mitarbeiterin beteiligt . Im Februar 1999 habe ich einen zehntägigen Workshop über Heiner Müller gehalten, der im Rahmen des Veranstaltungsprogramms der Gruppe an ihrem damaligen Spielort des Teatro Eugenio Kusnet durchgeführt wurde. Im März 1999 fand im Goethe-lnstitut Säo Paulo ein Workshop des Berliner Regisseurs Alexander Stillmark mit der Cia. do Latiio zu Hanns Eislers Opernlibretto ,.Johann Faustus'' statt, an dem ich als Mitarbeiterin und Übersetzerin beteiligt war.

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Theaterproduktionen in einer chronologischen Abfolge an, da der Entwicklungsprozess der Gruppe auf diese Weise am besten zum Ausdruck kommt. Nach ihrer anfänglichen Beschäftigung mit Georg Büchner machte die Gruppe Texte, Stücke und Theaterideen von Bertolt Brecht zum Ausgangspunkt. Die Schriften des deutschen Autors wurden zum Modell und zur Methode. Im Dialog mit der brasilianischen Realität ist ein Spannungsverhältnis entstanden, über das der künstlerische und kollektive Akt der Aneignung eine Form und einen Weg gefunden hat. In ihren szenischen Verhandlungen und Bemühungen um eine brasilianische Dramaturgie kommt ein politisches Theater zum Ausdruck, das sich angesichts der kapitalistischen, neoliberalistischen und gleichzeitig verlausteten Machtstrukturen der Gesellschaft in Brasilien mit einer Haltung des »Gegen-den-Strom-Schwimmens« identifiziert. In Kapitel 6 stelle ich die Arbeit von Denise Staklos vor. Auf Festivals in Spanien und Deutschland bin ich ihr schon in den frühen 90er Jahren begegnet. Vom ersten Augenblick an war ich von der Ausdruckskraft ihres szenischen Spiels fasziniert. Sie gehört mit ihren über fünfzig Jahren einer älteren Generation an als die ansonsten vorgestellten, 35- bis 40jährigen Theaterregisseure. Sie ist die einzige Frau unter den von mir hervorgehobenen Theatermachern. Schon in der Gesamtkonzeption ihres Theaters zeichnet sich ein Sonderweg ab: Es geht das szenische Verhandeln zwar von einer persönlichen und schauspielerischen Perspektive her an, thematisiett dabei aber immer die Gesellschaft betreffende Fragestellungen. In der Arbeit von Denise Stoklos werden die Strategien der hybriden Ästhetik besonders deutlich, die sie mit einem politischen Gestus verbindet. Die in Kapitel 7 ausgeführten Betrachtungen zu Melodrama (1995) der in Rio arbeitenden Gruppe Cia. das Atores und A Maquina (2000) des pemambucanischen Regisseurs Joao Falcao heben sich in zweifacher Hinsicht von der Beschäftigung mit den anderen Theaterarbeiten ab: Es sind punktuelle Begegnungen mit zwei außerhalb von Sao Paulo entstandenen Produktionen. Hier ist mein Blick distanzierter, da ich weder den Entstehungsprozess noch die anderen Arbeiten dieser Theatermacher aus der Nähe verfolgen und in meine Untersuchungen mit einbeziehen konnte. Schwerpunkt ist das intermediale Aushandeln, das thematisch und in den ästhetischen Strategien zum Ausdruck kommt. Mit diesen Betrachtungen wird das in Kapitel4.6 thematisierte Spektrum der »Theatralen Dimensionen und Strategien« des szenischen Verhandeins besonders erweitert werden. Das Teatro da Vertigern ist die auch international bekannteste zeitgenössische Theatergruppe Brasiliens. Ihre drei im Laufe der 90er Jahre entstandenen Produktionen haben mein Erleben des zeitgenössischen

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brasilianischen Theaters in vielerlei Hinsicht geprägt. Insbesondere durch die Projektleitung des Kölner Gastspiels von Apocalipse 1,11 im Jahr 2002 konnte ich von detaillierten Informationen ausgehen, die dem gewöhnlichen Blick des Zuschauers und auch des Theaterwissenschaftlers ansonsten schwer zugänglich sind. Besonders markant sind ihr offener Umgang mit religiösen Fragestellungen, ihre ungewöhnliche Arbeit in öffentlichen Räumen und der kollektiv strukturierte Arbeitsprozess. Schwerpunkt meiner Überlegungen in Kapitel 8 ist Apocalipse 1,11 ( 1999), die jüngste Produktion der Gruppe, in der das szenische Verhandeln von gesellschaftlichen, kulturellen und auch ästhetischen Spannungsfeldern besonders prägnant zum Ausdruck kommt. Da in der vorliegenden Arbeit das Material der beobachteten, erlebten und untersuchten Theaterarbeiten im Vordergrund steht, wird es in einem abschließenden Kapitel darum gehen, die in Kapitel 4.6 aufgezeigten »Theatralen Dimensionen und Strategien« des szenischen Verhandeins nach dieser Begegnung mit der Theaterpraxis nochmals aufzunehmen und das Spektrum und ihre Charakteristika mithilfe dieses Materials zu erweitern. Da die Reiseroute aufgrund von Möglichkeiten, Erfahrungen und Interesse der Verfasserirr gewählt wurde, soll abschließend kurz auf die Auslassungen dieses begrenzten Blicks eingegangen werden: auf die zahlreichen weißen Flecken der angelegten Landkarte, auch auf die jüngst entstandenen Theaterarbeiten. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der vergangeneu Jahre und im skizzenhaften Vergleich zur Situation in Deutschland wird die Relevanz des szenischen Verhandeins angesprochen und mit kurzen Verweisen auf zeitgenössische Theaterarbeiten aus Deutschland verbunden. Am Ende stehen Fragen, die den Umgang mit Kultur betreffen, Fragen, die relevant sind für unser gesellschaftliches Hier-und-Jetzt, für die nicht nur am Theater und in der Festivalpolitik wichtige Auseinandersetzung mit differenten Kultur-Verständnissen.

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2 HETEROGENITÄT, GEGENSÄTZE, EINHEIT? BRASILIANISCHE KULTUR- KONSTRUKTIONEN

Denn es liegt ja im Wesen der Sache, daß Brasilianer sein nicht ein Zustand ist, sondern eine Art des Suchens_ Es liegt im Wesen der Sache, daß Brasilien nicht vollendet ist (im Sinne von vergangen und gelungen), sondern daß es vorläufig ist (provisorisch, unartikuliert, gewagt

es es macht

und künftig). Brasilien ist nicht Wirklichkeit, hat den Geruch des Unwirklichen, und wenig Sinn zu fragen, was

es in Wirklichkeit

bedeutet, Brasilianer zu sein und zu werden. Brasilien ist eine Potentialität, eine Möglichkeit (vielleicht eine unter den Möglichkeiten, aber sicher nicht eine unter vielen Möglichkeiten), und

es hat nur Sinn zu fragen, was es bedeuten

könnte, Brasilianer zu sein und zu werden. (Vilem Flusser: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen)

»Brasilien. Ein Land der Zukunft« heißt das euphorische, immer wieder auch als naiv kritisierte, literarische Porträt Brasiliens, das der- von zwei Reisen Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts inspirierte - Schriftsteller Stefan Zweig verfasste. Seine Vision einer friedvollen »neuen Zivilisation« gründet in den die brasilianische Kultur charakterisierenden ethnischen Vermischungen, den Assimilationsprozessen und der Fähigkeit zur »schöpferischen Umwandlung« 1• Kaum weniger visionär klingt der viele Jahre später verfasste Titel »Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen« 2 : ein Text des Philosophen Viiern Flusser, der Ende

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Zweig, Stefan (1997): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt a.M.: Insel, 141. Flusser, Vilem (1994): Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung. Mannheim: Bollmann.

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der 30er Jahre vor den Nationalsozialisten von Prag nach Sao Paulo flüchtete und dort fast drei Jahrzehnte lebte. Flusser betrachtet Brasilien als ein potenzielles »Land der authentischen Synthese« (Flusser 1994: 37), das sich in historischen Kategorien nur schwer fassen lasse. Mit dem Begriff der »Dephasierung« geht er dem für Brasilien typischen Phänomen nach, »Mitgeteiltes, Vermitteltes, Kommuniziertes irgendwie in der eigenen Lebenswelt in Wirklichkeit umzusetzen« (Flusser 1994: 78). In diesem von ihm in Brasilien beobachteten stetigen Prozess, den er als schöpferisch und spielerisch umschreibt, sieht Flusser weniger eine ausschließlich spezifisch brasilianische, als vielmehr menschliche Konstante. Als »bodenlos« beschreibt er diese Offenheit und schöpferische Flexibilität, mit der er jedoch nicht nur die brasilianische Kultur, sondern auch seine Situation als Migrant und Philosoph umschreibt. 3 Ihre Begeisterung für den dynamischen Charakter der brasilianischen Kultur äußern Zweig und Flusser von recht unterschiedlichen Standorten, da der eine das Land durch zwei kurze Besuche kennen lernte, der andere mehr als ein Vierteljahrhundert in Brasilien lebte. Deunoch verbindet beide (ursprünglich) Nicht-Brasilianer ihr distanzierter und sicherlich etwas verklärender Blick. Sie sind Teil einer recht eigenwilligen Geschichte von »Kultur-Konstruktionen«, die um das Jahr 2000, dem runden Jahrestag der so genannten Entdeckung Brasiliens, mit einer Flut von Publikationen zum kulturellen Selbstverständnis Brasiliens wieder auflebte. So wurde beispielsweise mit dem zweisprachig erschienenen Sammelband »Brasilien: Land der Vergangenheit?«4 auf den schon zum Topos gewordenen Text von Stefan Zweig angespielt. Mit pompösen Feierlichkeiten zelebrierte der Staat Brasilien am 22.4.2000 den 500. Jahrestag seiner »Entdeckung« durch die Portugiesen. Die von offizieller Seite wenig kritische Betrachtung der nicht nur harmonischen, sondern auch von Repression, Unterdrückung und Ausbeutung geprägten Geschichte des Vielvölkerstaates sorgte bei verschiedensten Bevölkerungskreisen5 für Proteste und auch international für Polemik. Das Nebeneinander von ausgeprägtem Nationalstolz, der von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung empfunden wird, und Kritik an der gegenwärtigen und historischen Entwicklung des Landes ist einer von vielen Gegensätzen, die Brasilien charakterisieren. Brasilien ist mit seinen 8,5 Millionen km2 das fünftgrößte Land der Erde, fast doppelt so groß wie Europa und nimmt 47 % - fast die Hälfte 3 4 5

Vgl. Flusser, Vilem (1999): Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Frankfurt a.M.: Fischer. Chiappini, Ligia/ Dimas, Antonio/Zilly, Berthold (Hg.) (2000): Brasil. Pais da Passado? Sao Paulo: Boitempo. Vor allem bei Indio-Stämmen und der »Landlosenbewegung" (MST), aber auch bei gesellschaftskritischen Intellektuellen und Künstlern.

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- der Fläche Lateinamerikas ein. 6 Es hat heute 170 Millionen Einwohner, von denen 81 % in den Städten leben, die Bevölkenmg ist sehr jung, 30,7 % sind unter 15 Jahre alt. Die ethnische Zusammensetzung lässt sich nur schwer beziffern, da der Großteil der Bevölkerung Mischlinge europäischer, afrikanischer und indianischer Abstanunung sind. Wenig bekannt sind die heute über 1 Million Einwohner japanischer Herkunft. Lebten um das Jahr 1500 fünf Millionen Indianer im Gebiet des heutigen Brasiliens, so sind es heute 300 000. Offiziell ist die Mehrheit der Bevölkerung katholisch, wobei von Jahr zu Jahr der Einfluss protestantischer Sekten wächst. Die Koexistenz von Katholizismus und afro-brasilianischen Kulten spiegelt einen starken religiösen Synkretismus wider. Seit 1889 ist Brasilien eine föderative Präsidialrepublik. Wirtschaftlich gilt es als Schwellenland. Seine Einkommensverhältnisse sind im weltweiten Vergleich ausgesprochen ungleich. Die unzureichenden Bildungsmöglichkeiten gelten immer noch als großes Problem des Landes. Während die Spanier bei ihrer Kolonisation auf Hochkulturen gestoßen sind, trafen die Portugiesen im geographischen Gebiet des heutigen Brasiliens auf einfache Sammler- und Jägerkulturen. Die Jesuiten spielten eine entscheidende Rolle bei der Missionierung und geistigen Eroberung der indianischen Völker. Auch die Holländer und Franzosen siedelten sich zeitweise als Kolonisatoren an. Einschneidend war der in der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnende Import von Sklaven aus Afrika. Seit ihren Anfängen charakterisiert sich die Gesellschaft durch das Aufeinanderprallen starker Gegensätze. Über dieUnabhängigkeitserklärung 1822 hinaus verharrt sie in kolonialen Strukturen und ist trotz der wachsenden Bedeutung der Städte über lange Zeit hinweg von ländlichen Wurzeln und Familienstrukturen geprägt. Sergio Buarque de Hollanda beschreibt dies in seinem 1936 erstmals erschienenen Essay »Die Wurzeln Brasiliens« als »Gutsherren-Mentalität«7 . Erst mit der Abschaffung der Sklaverei 1888 und der Ausrufung der föderativen Präsidialrepublik 1891 beginnt sich die Situation langsam zu ändern. Einwanderungsströme aus Italien, Spanien, Deutschland, Polen und anderen Ländern verstärken die Heterogenität der Bevölkerung. Mit der langsam einsetzenden Modemisierung strukturiert sich die Gesellschaft grundlegend um: Es beginnt eine Diskussion um »Kultur«, die Brasilien über das ganze 20. Jahrhundert begleitet.

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Die Daten wurden zunächst folgender Publikation entnommen: Bernecker, Watther L. /Pietschmann, Horst!Zoller, Rüdiger (2000): Eine kleine Geschichte Brasiliens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 325; später über die Brasilienangaben im Fischer Almanach 2004 aktualisiert. Buarque de Holanda, Sergio (1995): Die Wurzeln Brasiliens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 91.

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Diese Auseinandersetzung beruht auf einem gut nachvollziehbaren Drang nach Selbsterkenntnis und manifestiert sich als eine Suche nach kultureller und auch nationaler Identität. In der ästhetischen Praxis erscheint sie vor allem in ihrem sehr flexiblen Umgang mit Kultur als wegweisend. Vor dem heutigen Hintergrund von weltweiten ethnischen Konflikten, den Migrationsproblemen und immer noch vorherrschenden essentialistischen Vorstellungen von Kultur ist diese Tradition eines dynamischen Überdenkens und Neuformulierens bemerkenswert und paradigmatisch. Die Beschäftigung mit der eigenen Kultur, ihre Konstruktion und kontinuierliche Erfindung8 ist in diesem sich seit der Unabhängigkeit erst formierenden Kulturraum eine Geschichte von unterschiedlichen, oft widersprüchlichen und auch nicht immer klar voneinander zu trennenden Positionen. Das Grenzziehen und vielmehr noch das Grenzüberschreiten sind dabei zu Leitlinien des kulturellen Prozesses geworden. Die verschiedenen Ansätze, mit der ethnischen, kulturellen und sozialen Heterogenität umzugehen, reichen von offiziell-staatlichen Bemühungen, die zumeist zur Bildung der Nation nach einer Homogenisierung streben und bestehende Machtstrukturen verstärken, über soziologische Bestandsaufnahmen bis hin zur ästhetischen, bewusst schöpferischen Praxis. Ausschlaggebend flir die Diskussion um Kultur in Brasilien ist der Standort. Hier bietet sich zunächst eine Differenzierung zwischen Außenansicht und Innenansicht9 an, auch wenn erstere an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden soll. Bis ins 19. Jahrhundert galt der europäische Blick (als Außenansicht) in erster Linie dem oft als paradiesisch bezeichneten »Naturraum« Brasilien10, der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts dem »Kulturraum« Brasilien Platz machte. Die innerbrasilianische Diskussion um den »Kulturraum« Brasilien setzt im 19. Jahrhundert ein und wird zunächst in erster Linie über die Kunst und von Künstlern geführt. Zu Beginn der Unabhängigkeit ist es vor allem die Literatur, die identitätsstiftende und vereinigende Ansätze verhandelt: Der »Indianismus« des Schriftstellers Jose de Alencar schildert die Ureinwohner »als eine Art mythischer Vorfahren im Kampf ge-

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Vgl. Hobsbawm, Eric (1993): The invention of tradition. Cambridge UP. Vgl. hierzu und im folgenden: Nitschak, Horst (1995): Brasilianische Kultur: Gegensätze und Vielfalt, in: Brasilien im Umbruch. Dietrich Briesemeister/ Sergio Paulo Rouanet (Hg.). Frankfurt a.M. : TFM, 243-255. 10 Wie Nitschak ausführt zog Brasilien neben Einwanderern vor allem Forschun· gsreisende, Naturwissenschaftler, Zoologen, Geographen, Botaniker, Minera· logen und Völkerkundler an. ln Deutschland sind Brasilienstudien bezeichnen· derweise neben der Soziologie in der Geographie und der Ethnologie am stär· ksten vertreten. Vgl. hierzu: Kohut, Karl (1995): Brasilianistische Studien in Deutschland, in: Brasilien im Umbruch 1995: 405.

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gen die Kolonialmacht« 11 , wenig später orientiert sich der »Regionalismus« (Cändido 1984: 24) an den ländlichen Eigenheiten einer jeden Region. Von dieser sich kulturell isolierenden, die Eigentümlichkeiten im Partikularen suchenden Bewegung setzt sich seit Mitte des Jahrhunderts der Umgang mit den sich schnell verändernden Lebenswirklichkeiten in den Städten ab, den der Schriftsteller Machado de Assis entscheidend geprägt hat. Als Durchbruch eines sich formierenden kulturellen Selbstbewusstseins gilt die »Semana de Arte Modema 1922« in Säo Paulo, wenngleich die ästhetische Bewegung des »Modernismo« ohne eine Modernisierung der Gesellschaft entsteht12 . Schon hier werden die Modeme und die Modemisierung der Gesellschaft eng in das Projekt der Konstruktion einer kulturellen Identität eingebunden. Der Modernismo ist in seiner ersten Phase vor allem ein Bruch mit der Vergangenheit, eine Art Abrechnung mit der Geschichte, dem Kolonialismus und den an Europa orientierten Kulturvorstellungen der Oligarchie. Paradoxerweise ist er selbst beeinflusst von der europäischen Avantgarde. In einer zweiten Phase ab 1924 geht es den Modemisten um ein umfassenderes Kulturprojekt, den konstruktiven Umgang mit den Eigenheiten des modernen Brasiliens, seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, seinen Gegensätzen. Es geht ihnen um die »brasilidade« (Brasilianität). Diese besteht für die Künstler in dem hybriden Blick, der Vermischung von heterogenen Elementen, der Unmöglichkeit von klaren Definitionen w1d Kategorisierungen. Neben den bildenden Künstlern Anita Malfatti, Di Cavalcanti und Tarsila de Amaral sind die Schriftsteller Mario de Andrade und Oswald de Andrade führende Köpfe dieser Bewegung. Mario de Andrade schafft mit seinem 1928 veröffentlichten Roman »Macunaima« den Typus des brasilianischen (Anti-)Helden. Der Untertitel lautet bezeichnenderweise: »Der Held ohne jeden Charakter« 13 . Macunaima ist die Geschichte einer mythischen Figur der Amazonas-Indianer, dem pechschwarzen »Sohn der Nachtangst« (Andrade 2001: 7). Nach einem Bad ist der laszive, hässliche, faule und charakterschwache Macunaima blond, weiß und blauäugig geworden. Die Suche nach seinem verlorenen Talisman, einem Stein, ist geprägt von Verwand11 Candida, Antönio (1984): Die Stellung Brasiliens in der neuen Erzählliteratur Lateinamerikas, in: Strausfeld, Mechthild (Hg.): Brasilianische Literatur. Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 24. 12 Auch wenn die Industrialisierung schon eingesetzt hatte, kann man nach An· sieht des Soziologen Renato Ortiz noch nicht von einer Modernisierung der Gesellschaft sprechen. Vgl. Ortiz, Renato (1999): A moderna tradic;:ao brasileira. Sao Paulo: Brasiliense, 32. 13 Vgl. dt. Fassung des Textes: Andrade, Mariode (2001 ): Macunaima. Der Held ohne jeden Charakter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Iungen. Sie führt ihn auf die Wanderschaft nach Sao Paulo, vom Urwald in die Großstadt. Es wird eine Reise durch die brasilianische Realität, die Vielfalt ihrer Ethnien, kulturellen Einflüsse und regionalen Eigenheiten, durch den Kontrast von Tradition und Modeme. Erschöpft und müde kehrt der Antiheld schließlich in den Urwald zurück, wo ihm der mühsam zurückerworbene Stein, der Muiraquita, wieder abhanden kommt. Seine Geschichte erzählt er einem Papageien, der sie dem Autor weitererzählt, dieser dann dem Leser. Mit den Worten »Ich kam nicht zur Welt, um Stein zu sein« (Andrade 2001: 158) steigt Macunaima zum Himmel aufund verewigt sich als Sternbild des Großen Bären. Im »Manifesto Pau-Brasil« (1924) (Brasilholz-Manifest) ruft Oswald de Andrade zur Bildung einerneuen Sensibilität14 auf, fordert einen kritischen Blick auf die brasilianische Kultur, das Thematisieren ihrer Gegensätze wie auch der Versöhnung zwischen Tradition und Modeme, nativer Kultur und intellektueller Erneuerung. Spielerisch nimmt er sich in seinem »Manifesto Antrop6fago« (1928) (Anthropophagisches Manifest) der anthropophagen Vergangenheit seiner Vorfahren an, verweist damit ironisch sowohl auf das europäische Fremdbild des menschenfressenden Wilden 15 als auch auf den romantisierten »edlen Wilden« des brasilianischen Indianismus. 56 a antropofagia nos une. 5ocialmente. Economicamente. Filosoficamente. Ünica lei do mundo. Expressäo mascarada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiöes. De todos os tratados de paz. Tupy or not tupy that is the question.

[ ... ] 56 me interessa o que näo e meu. Lei do homem. Lei do antrop6fago.

[ ... ] Contra todos os importadores de consciencia enlatada. [ .. . ) Contra o mundo reversivel e as ideias objetivadas. Cadaverizadas. 0 stop do pensamento que e dinämico. Nur die Anthropophagie verbindet uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch . Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck aller lndividualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge. Tupy or not tupy, that is the question.

[ ... ]

14 Vgl. Nunes, Benedito (1995): Antropofagia ao alcance de todos (Vorwort), in: Andrade, Oswald de (1995): A utopia antropofagica. Säo Paulo: Globo, 11. 15 Vgl. beispielsweise Staden, Hans (1995): Zwei Reisen nach Brasilien 15481555. Marburg: Trautvetter. Staden hat mit seinen Texten und vor allem seinen Illustrationen das europäische Brasilienbild und damit verbunden den Kannibalismus-Mythos entscheidend geprägt.

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Mich interessiert nur, was nicht mein ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen. [ ... ] Gegen alle Importeure von Bewusstsein aus der Konserve. [ ... ] Gegen die reversible Welt und die objektivierten, zum Kadaver gemachten Ideen. Gegen den Stopp des Denkens, das dynamisch ist. 16

Interessanterweise bezieht Oswald de Andrade die Ausrufung der Anthropophagie in den ersten Zeilen des Manifests nicht nur auf Brasilien, ihm scheint es um eine globale Praxis zu gehen. Mit der provokativen Einverleibung, Übertragung und Umwandlung europäischer Modelle propagiert er einen kreativ-humorvollen Umgang mit einem komplexen, von post-kolonialen Machtstrukturen geprägten Beziehungsgeflecht, dem eine einfache Forderung nach Befreiung kaum gerecht werden würde, da die brasilianische nicht von der europäischen Kultur loszulösen ist. Dabei verbinden sich der politische Anspruch und die utopische Dimension mit der Suche nach kultureller Verortung und dem Herausbilden einer neuen Sensibilität zu einem Bewusstsein für das Erst-Entstehende, Performative und Prozesshafte. Der Modemismo - verstanden auch als »ein Streben (ist), ein Projekt, das in der Zukunft erschaffen werden soll« 17 - lässt sich in vielerlei Hinsicht kritisieren: Die geforderte Verbindung von Irrationalem, Primitivem und Triebhaftem mit der unkritischen Technikbegeisterung und einem grenzenlosen Fortschrittsglauben erweist sich vor allem aus heutiger Perspektive als problematisch. Selbstkritisch verweist Mario de Andrade 1945 auf den elitären Charakter der modernistischen Bewegung, ihr unzureichendes Eingehen auf soziale Problematiken und nennt sie eine »aristocracia do espiritu« 18, eine Geistesaristokratie. Dennoch erscheint nicht nur für den brasilianischen Kontext bahnbrechend, wie der kannibalische Verdauungsvorgang humorvoll die Aneignung von Kultur thematisiert, sie provokativ-bildhaft inszeniett und ihren prozessual-performativen Charakter zu einem Befreiungsschlag (um-)definiert.

16 Andrade, Oswald de (1999): Manifeste Antrop6fago, in: Rocha, Joäo Cezar de Castro/Ruffinelli (Hg.) (1999): Anthropophagy Today? Antropofagia hoje? An· tropofagia hoy? Antropofagia oggi? Nuevo Texto Critico 23124. Stanford University, 27 f. (Übersetzung: U.A.). Vgl. eine andere Übersetzung ins Deutsche: Andrade, Oswald de (1990): Anthropophagisches Manifest, in: Lettre International 3, Winter 1990, 40 f. 17 Ortiz, Renato (1994): Advento da modernidade?, in: Herlinghaus, Hermann/Walter, Monika (Hg.): Postmodernidad en la periferia: enfoques latinoamericanos de la nueva teoria cultural. Berlin: Langer, 186. 18 Andrade, Mario de (1990): 0 Movimento Modernista, in: Berriel, Carlos Eduardo (Hg.) (1990): Mariode Andrade Hoje. Säo Paulo: Ensaio, 20.

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Während die europäischen Avantgarde-Bewegungen als Reaktion auf eine moderne Gesellschaft entstanden sind, integriert der brasilianische »Modemismo« die (noch ausstehende) Modeme und auch die Modemisierung der Gesellschaft in sein Kulturprojekt In den folgenden Jahrzehnten taucht diese enge Verknüpfung der nationalen mit einer modernen Identität in den Diskussionen um das kulturelle Selbstverständnis immer wieder auf. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre und der Entstehung der Metropolen gerät die Herrschaft der Oligarchien ins Wanken und die Mittelschicht gewinnt an Einfluss. Unter der Präsidentschaft von Getl1lio Vargas (1930-45) und seinem autoritären »Estado Novo« (1937), der das wirtschaftliche Interesse von der Agrarwirtschaft auf die Industrie verlagert, werden die Modemisierung und die Stärkung der staatlichen Einheit des Landes zu zentralen Anliegen. 19 Während der Modemismo mit seinem kannibalischen Verzehr kosmopoliter und vor allem europäischer Kultur einen weltoffenen Charakter hat und traditionelle Grenzziehungen überschreitet, grenzen sich der »Verde-Amarelismo« (in Anspielung auf die brasilianischen Nationalfarben Grün und Gelb) und die aus ihm entstehende autoritäre Massenbewegung des »Integralismo« der brasilianischen Faschisten20 nach außen ab. Sie kämpfen gegen »Überfremdung« und definieren darüber ihre Auffassung von brasilidade. Modemismo wie auch »Verde-Amarelismo« entstehen in Sao Paulo: Als schon in den 20er/30er Jahren am stärksten industrialisierten Stadt Brasiliens kommen hier die Gegensätze des Landes und der Zeit offen zum Ausdruck. Als Reaktion auf die städtischen Bewegungen findet sich in der Stadt Recife im brasilianischen Nordosten eine Gruppe von Intellektuellen zusammen, die 1926 das »Manifesto regionalista« 21 verfasst (das jedoch erst 1952 publiziert wird) und die regionalen Traditionen und Fertigkeiten ins Zentrum einer kulturellen Entwicklung rückt. Der Soziologe Gilberto Freyre ist der bekannteste Vertreter dieser Gruppe. Sein nur wenige Jahre später erscheinendes Werk »Casa Grande e Senzala« (1933) ist eine bahnbrechende, historische Analyse der brasilianischen Gesellschaft, die der Heterogenität Brasiliens, der Vermischung von Ethnien und Kulturen Rechnung zollt: »Die Begegnung, die Verbindung und selbst die harmonische Verschmelzung 19 Die Förderung von Phänomenen wie dem Karneval sollen der "ßrasilianisierung« und damit der Integration der Gesellschaft dienen. 20 Die " AOpening out•, remaking the bounderies, exposing the Limits of any claim to a singular or anatonous sign of difference - be it dass, gender or race. Such assignations of social differences - where difference is neither One nor the Other but something eise beside, in-between - find their agency in a form of the ,future• where the past is not originary, where the present is not simply transitory. lt is, if I may stretch a point, an interstitial future, that emerges

in-between the claims of the past and the needs of the present. (Bhabha 1994: 219)

Wie kaum eine andere Romanfigur in der Weltliteratur spiegelt der in den 20er Jahren von dem brasilianischen Schriftsteller Mario de Andrade erschaffene Antiheld Macunaima jenen suchenden, aushandelnden und auf die Spannungsfelder der eigenen Hybridität zurückgeworfenen Umgang mit Identität wider, der im Kontext der Globalisierung immer wieder thematisiert wird. Wenn auch Stuart Hall im Hinblick auf die postkoloniale Migration von »neuen Identitäten der Hybridität«36 spricht, sucht er diese von den nationalen Identitäten abzusetzen. Benedict Anderson und andere Theoretiker demaskieren die Nation als Erfindung37, Konstruktion und imaginäre Gemeinschaft. Aus post-kolonialer Perspektive wird der enge Zusammenhang zwischen europäischem Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus deutlich und eine Überwindung nationaler Denkschemata gefordert. Doch selbst wenn das Konzept der Nation überwiegend auf die Homogenität einer Staatsgemeinschaft abzielt und Nationalismus bis in die heutigen Tage mit repressiven und militärischen Mitteln in Erscheinung tritt, lässt sich fragen: kann das Konzept der Nation nicht auch als dritter Raum in Erscheinung treten, der nach einem ausgewogenen Kräfteverhältnis strebend Gemeinsames mit Differentem 36 Vgl. Hall, Stuart (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung, in: Hörning/ Winter 1999: 425. 37 Vgl. Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a.M.: Campus.

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aushandelt? Interessanterweise hat Mario de Andrade Macunaima bewusst trans-national konzipiert38 . Bis heute symbolisiert Macunaima unter den brasilianischen Intellektuellen und Künstlern den brasilianischen Antihelden. Die mit dem brasilianischen Modernismo einsetzende Diskussion um die »cultura brasileira« oder »brasilidade« sucht sich immer wieder einer Utopie zu nähern, deren Konzept von Nation einem »Dritten Raum« nahesteht Aufwelche Weise herkömmliche Konzepte in den Dialog treten, sich gegenseitig unterwandern und den Raum zum Begegnungsort machen, spiegelt der Begriff der Heferotapie wider, dem Michel Foucault in seinem Aufsatz Andere Räume39 als Gegenbegriff zur Utopie nachgeht. Utz Riese umschreibt die Heterotopie in seiner Einleitung zu Heterotopien der Identität, einem Aufsatzband über »Literatur in interamerikanischen Kontaktzonen«, als »Vexierspiegel zwischen Realität und Utopie gleichermaßen«, als »Ergebnis gelebter kultureller Übersetzung und intermedialer Übertragung«40 . Sowohl die postkoloniale Theorie als auch die lateinamerikanische Kulturdebatte sind aus Spannungsfeldern entstanden. Diese hinterfragen sie, gehen ihren Ursprüngen nach und rufen selbstbewusst zu einem dynamischen Umdenken und Umwerten von herkömmlichen Konzepten auf. Über ihre theoretische Praxis werden sie selbst zu Akteuren dieser kulturellen Mobilität.

38 Mario de Andrade schreibt dazu in einem zweiten, verworfenen Vorwort von Macunaima: »Eine richtige Zusammenarbeit zwischen dem Nationalen und Internationalen, bei der die Schicksalshaftigkeit des einen sich mit einer unbeschränkten Auswahl dies anderen würzt! Dies gibt den rechten Ton, denn ein dauerhafter, unbewusster Universalismus ist vielleicht das augenschein· lichste Anzeichen der endlich als solchen begriffenen Humanität. Und das ist bereits fühlbar [ ... ]. So stammt auch der Held meines Buchs nicht eigentlich aus Brasilien. Er ist ebenso oder mehr venezuelanisch, wie er uns gehört, und weiß so wenig von der Torheit der Grenzen, dass er plötzlich im Land der Engländer landet, wie er Britisch Guayana nennt und sich statt seines auf der Insel Marapata zurückgelassenen und nicht wiedergefundenen Gewissens mit einem hispano-amerikanischen zufrieden gibt." Zit. n. Meyer-Clason, Curt (2001 ): Nachwort zur deutschen Ausgabe von Macunaima, in: Andrade 2001: 180. 39 Foucault, Michel (1990): Andere Räume, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, 34-46. 40 Riese, Utz (1999): Zur Einleitung: Kulturelle Übersetzungen und intermediale Übertragungen, in: Herlinghaus, Hermann/Riese, Utz (Hg.): Heterotopien der Identität. Literatur in interamerikanischen Kontaktzonen. Heidelberg: Winter, 7.

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3.4 Wege der Aneignung Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen. (Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers)

Im lateinamerikanischen und konkret brasilianischen Umgang mit Kultur, auf den holprigen Wegen kultureller Schöpfung und Aneignung, kommt eine Suche zum Ausdruck, ein Blick in einen zersprungenen Spiegel, der Kategorien wie »Selbst« und »Anderer«, »Eigen« und »Fremd« ins Schwanken bringt. Schlüssel und Medium der vielseitigen, von Machtstrukturen geprägten Geschichte ist die Repräsentation, die Darstellung und Vertretung. Wenn die brasilianischen Modemisten die Antropofagia proklamieren, die provokative Einverleibung der europäischen Kultur, dann machen sie sich nicht nur eine ausdrucksstarke Metapher zunutze, sondern fordern eine selbstbewusste Kreativität für den Akt der kulturellen Aneignung. Spielerisch stellen sie aus, dass sich »Alterität postkolonial in jedes Medium der Repräsentation eingeschrieben hat« (Riese 1999: 13). Während Bewegungen wie die »Tropicälia« die von den Antropophagisten gelegten Fährten weiterführen, bringt das »seit der Unabhängigkeit internalisierte Stigma der vern1eintlichen >Inauthentizität< Brasiliens« (Hollensteiner 1994: 171) eine entgegengesetzte Haltung zum Ausdruck Auch wenn diese vor allem von Literaten geprägte, wenig selbstbewusste Auffassung seit den 80er Jahren als überwunden gilt, wirkt sie sich im kulturellen Leben bis heute in einem immer wieder auffallenden Minderwertigkeitskomplex aus. Die Beobachtungen und Thesen des Theoretikers Roberto Schwarz aus den 70er/80er Jahren haben diese Debatte entscheidend stimuliert. Schon mit dem Titel »Misplaced Ideas«41 der auch auf englisch publizierten Aufsatzsammlung benennt er 41 Schwarz, Roberto (1992): Misplaced ldeas. Essays on Brazilian Culture. London/New York: Verso.

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den Kern seiner Argumentation. »We Brazilians and other Latin Americans constantly experience the artificial, inauthentic and imitative nature of our culturallife.« (Schwarz 1992: 1) Mit einer Reihe von Beispielen, die von Alltagssituationen, »Father Christmas sporting an eskimo outfit in a tropical climate« (Schwarz 1992: 1), bis zu geschichtlichen Phänomenen reichen, wie die über die offizielle Sklavenbefreiung 1888 hinausreichende Diskrepanz zwischen Sklavenhaltergesellschaft und koexistierenden liberalen Staatsideen, versucht er, dem »imitative character of (our) culturallife« nachzugehen: der nichtpassenden Kopie. Dabei macht Schwarz mit besonderem Blick auf die imitierenden Eliten den fehlenden Bezug zur sozialen Realität und die Vernachlässigung der extremen Klassenunterschiede deutlich: letztlich einen fehlenden Übersetzungsprozess in die gesamtgesellschaftliche Situation. So wirft er auch den Antropophagisten vor, sich einen abstrakten Brasilianer zum Subjekt gemacht zu haben, ohne näheres Eingehen auf seine Klassenzugehörigkeit (vgl. Schwarz 1992: 9)42 • Trotz aller Kritik beendet er seinen ursprünglich 1986 als Vortrag gehaltenen Text mit folgendem Ausblick: »Brazilian cultural life has elements of dynamism which displays both originality and lack of originality. Copying is not a false problem, so long as we treat it pragmatically, from an aesthetic and political point of view free from the mythical requirement of creation ex nihilo« Schwarz 1992: 17). Mit seinem Titel »Ideen am falschen Ort« macht Schwarz deutlich, dass das Problem der Praktiken kultureller Aneignung in der Zusammenhangslosigkeit von Idee und Ort liegt, in der räumlich nicht passenden Idee, das heißt der fehlenden Übersetzung und Übertragung. Den Hintergrund dafür sieht er in den sozio-ökonomischen Strukturen Brasiliens: Die Eliten orientieren sich an Europa und schließen die Ärmsten von der zeitgenössischen Kultur aus (vgl. Schwarz 1992: I6t3 . Der Philosoph Vilem Flusser hingegen stellt mit seinem Begriff der Dephasierung Zeit und Geschichte ins Zentrum seiner Überlegungen. Dephasierung ist für ihn der »Umstand, dass historische Phasen in Brasilien mit Verspätung auftreten«, dessen Ursache im >mngeschichtlichen Denken« liegt. Das Wesentliche an der Dephasierung ist der Versuch, Mitgeteiltes, Vermitteltes, Kommuniziertes irgendwie in der eigenen Lebenswelt in Wirklichkeit umzusetzen. [ ... ] Dephasierung ist der Versuch, Übermitteltes zu erleben, und

42 Vgl. auch die 1945 geäußerte Kritik von Mario de Andrade an der ModernismoBewegung, in der er ihr unzureichendes Eingehen auf soziale Problematiken vorwirft (vgl. Andrade 1990: 20). 43 Durch die stärkere Verbreitung der Massenmedien und das Aufkommen des lnternets hat sich in den letzten Jahrzehnten die Situation der Zugänglichkeit globaler Kultur etwas verändert.

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hat eine Verfälschung des Erlebens und des Erlebten zur Folge, selbst dann, wenn das Übermittelte wirklich verstanden wurde (was meistens nicht der Fall ist). (Flusser 1994: 78)

Dabei spricht Flusser eine Änderung der Einstellung an, die sich seiner Ansicht nach vielerorts vollzieht und darin besteht, »dass man von dem Versuch ablässt, Übermitteltes selbst nachzuerleben, und es stattdessen demjenigen anzupassen und einzuverleiben versucht, was man selbst erlebt hat. [... ] Echter Durchbruch der Dephasierung ist nicht Mischung von Übermitteltem, sondern dessen Synthese mit Selbsterlebtem« (Flusser 1994: 80-81 ). Anders als Schwarz geht es Flusser darum, das kreative und positive Potenzial der brasilianischen Situation in den Vordergrund zu stellen, das für ihn selbst utopische Dimensionen einzunehmen scheint: Brasilien ist ein entfremdetes Land, wenn man als Wirklichkeit das bezeichnet, was in Europa dafür gilt, aber wenn man an dieser Wirklichkeit zweifelt (wie viele in Europa es tun), dann kann Brasilien das Land sein, in dem versucht wird (und zwar unbewusst und unprogrammiert und daher echt), neue Lebensmotive und eine neue Religiösität zu finden, kurz einen neuen Typ von Gesellschaft, von Kultur, einen neuen Typ des Menschen. (Flusser 1994: 106)

Im Hinblick auf die postkoloniale Konstellation thematisiert auch Homi Bhabha den Faktor Zeit: »It is to introduce another locus of inscription and intervention, another hybrid, >inappropiate< enunciative site, through that temporal split- or time-lag-that I have opened [... ] for the signification of postcolonial agency« (Bhabha 1994: 242). Bhabha kritisiert den westlichen Repräsentationsbegriff, in dem er »die Koordinaten der Repräsentation vom Raum der Perzeption in den Raum der Artikulation«44 verschiebt. Er ersetzt Mimesis durch Mimikry. 45 In einer Kurzfassung 44 Vgl. Röttger, Kati (2002): »Wie werde ich Ausländer? ·Kanak Sprak', ·Sprechen Lernen' und performative Strategien der Entfernung, in: Balme, Christopher/Schläder, Jürgen (Hg.): Inszenierungen. Theorie - Ästhetik Medialität. Stuttgart: Metzler, 129. 45 Andere Theoretiker denken den in der Geistesgeschichte vieldiskutierten Begriff der Mimesis um. Wenn beispielsweise Stephen Greenblatt das verhandelnde Verhältnis zwischen empirischer Wirklichkeit und textueller Wirklichkeit, zwischen Gesellschaft und Theater betont, dann geht er über ein einseitiges Mimesis-Verhältnis hinaus: "Mimesis wird stets von Austausch und Handel begleitet, ja dadurch überhaupt erst hervorgebracht. « (Greenblatt 1993: 22). Der Ethnologe Michael Taussig thematisiert in seinem Text "Mimesis und Alterität«, in dem er sich mit der Bedeutung von mimetischen Vorgängen in der Kultur der Cuna-lndianer Kolumbiens beschäftigt, die Beziehung "aus Mimesis und Alterität innerhalb des kolonialen Raums der Repräsentation", eine Kontaktzone, die er mit dem "Tanzen zwischen dem sehr

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umschreibt er Mimkry als »almost the same but not quite« (Bhabha 1994: 89). In seinem in Anknüpfung an Lacan psychoanalytisch begründeten, hier nur skizzierten Verständnis unterstreicht Bhabha die Ambivalenz von Mimikry als »at once resemblance and menace« (Bhabha 1994: 86): »The menace ofmimicry is its double vision which in disclosing the ambivalence of colonial discurse also disrupts its authority« (Bhabha 1994: 88). Schon der karibische Dichter, Dramatiker und Theaterleiter Derek Walcott (vgl. Balme 1995: 54 ff.) verwendet den Begriff Mimikry. In seinem Aufsatz »The Caribbean: Culture and Mimicry« 46 aus dem Jahr 1974 bezieht sich Walcott auf den Schriftsteller V.S. Naipaul und seinen Roman The mimic man. Naipaul kritisiert den »imitativen Gestus (»mimicry«) der karibischen Gesellschaften« (Balme 1995: 58), konnotiert ihn negativ. Walcott wertet ihn um, indem er den kreativen Übersetzung- und Umformungsprozess in den Vordergrund stellt und bewusst auch in seine eigene Theaterpraxis einfließen lässt. Der Begriff Mimikry wird in vorliegender Arbeit nicht ausgeführt und auch bei der Betrachtung der Theaterarbeiten nicht weiter aufgenommen. Im Hinblick auf die Wege der Aneignung und das (szenische) Verhandeln ist dennoch der Perspektivwechsel interessant, der durch den offensiven Umgang mit dem Begriff Mimikry zum Ausdruck kommt. Er beschreibt die kreativen und subversiven Möglichkeiten von Repräsentation. Er macht aber auch deutlich, dass sich die eigentliche kulturelle Praxis in den postkolonial geprägten Regionen in einem breiten Spektrum äußert: Das klingt sowohl bei Schwarz, vor allem aber bei Flusser an. Das Spektrum stecken sowohl unreflektierte, Machtstrukturen transportierende Kopien ab, als auch Arbeiten und Phänomene, die die Potenziale der heterogenen Konstellation außerordentlich schöpferisch und kritisch nutzen. Bei den für diese Arbeit interessanten Theaterarbeiten geht es um den zuletzt genannten Bereich dieses Spektrums. Es wird deutlich werden, welche Strategien im Repräsentationsmedium Theater angewandt werden, um die zu verhandelnden Dimensionen des Repräsentationsakts zum Ausdruck zu bringen.

Gleichen und dem sehr Unterschiedlichen" umschreibt. Vgl. Taussig, Michael (1993): Mimesis and Alterity. A particular History of Senses. New York/London: Routledge, 133. Zit. n. Weimann, Robert (1997): Repräsentation und Alterität diesseits/jenseits der Moderne, in: Weimann, Robert (Hg.) : Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 35. 46 Walcott, Derek (1974): The Caribbean: Culture and Mimicry, in: Journal of lnteramerican Studies and World Affairs 16: 1 (Feb.), 3-13. Zit. n. Balme 1995: 58.

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4.1 Eine kleine Theater-Geschichte »Das brasilianische Theater existiert nicht« 1• Polemisch verweist der brasilianische Theaterwissenschaftler Sabato Magaldi auf eine Behauptung, die nicht selten geäußert wird. Sie wird auf Kriterien zurückgeführt wie den starken Einfluss der europäisch-nordamerikanischen Kultur, den fehlenden » Eigencharakter« 2 (Magaldi 1997: 9) der Theatertexte und -inszenierungen und auf die schwache Präsenz des Theaters im brasilianischen Alltagsleben. 3 Diese These verkennt die Vitalität des Theaters in Brasilien, ignoriert die Geschichte und Vielseitigkeit des Theaterschaffens und reduziert es auf den schwer fassbaren Maßstab des »Brasilianischen«. Lässt sich die Bedeutung des Theaters an »Zuschauerquoten« messen? Betrachtet man die Spielpläne von Städten wie Säo Paulo oder Rio de Janeiro, die zahlreichen Theaterfestivals und Straßentheatergruppen und die große Menge an theaterpädagogischen Projekten in Brasilien vermittelt sich - ganz im Gegensatz zur oben zitierten Annahme - der Eindruck, dass Theater im brasilianischen Alltagsleben einen bemerkenswerten Raum einnimmt. Die kleine Theatergeschichte wird zeigen, dass das Theater in Brasilien die unebenen Wege des auszuhandelnden kulturellen Selbstverständnisses in einer Doppelrolle begeht. Das Repräsentationsmedium Theater ist sowohl Spiegel als auch Akteur der Kultur-Verhandlungen. 1 2

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Magaldi, Sabato (1997): Panorama do Teatro Brasileiro. Säo Paulo, 9. Magaldi zitiert die - seiner Behauptung nach - geläufige Begründung der An· nahme, dass das brasilianische Theater nicht existiere: »Es hat sich bis jetzt noch keine Eigenheit des brasilianischen Theaters herauskristallisiert, die fähig ist, als dynamisierendes Element auf andere Kulturen zu wirken". Selbst erfolgreiche Produktionen erreichen, so schreibt Magaldi, nur zwei Prozent der Stadtbevölkerung (vgl. Magaldi 1997: 9).

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Einerseits ist es von den (post-)kolonialen und hybriden Gesellschaftskonstellationen geprägt und hat seine Strategien nach ihnen ausgerichtet, andererseits versucht es, auf diese Bedingungen Einfluss zu nehmen. Wenn man die bestehenden Historiographien des brasilianischen Theaters betrachtet, um den Kultur-Verhandlungen im Theater in ihren geschichtlichen Dimensionen nachzuspüren, trifft man auf Einordnungen, deren Datierungen voneinander abweichen. Generell siedeln die brasilianischen Theaterwissenschaftler die Anfänge des brasilianischen Theaters »im Schatten der katholischen Religion«4 an, führen sie auf die Instrumentalisierung von Theater zu Missionszwecken im kolonialen Brasilien des 16. Jahrhunderts zurück. Eine chronologische Auflistung der brasilianischen Inszenierungspraxis5 setzt mit der Gründung der ersten brasilianischen Theatergruppe durch den Schauspieler und Produzenten Joäo Caetano 1833 ein: Dieser brachte wenige Jahre später die erste in Brasilien entstandene Tragödie und auch Komödie auf die Bühne und integrierte die im Zuge der Romantik aufkommenden nationalistischen und volkstümlichen Bewegungen in das Bühnengeschehen. Andernorts wird der Durchbruch des modernen brasilianischen Theaters in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts als Anfang eines »durchsetzungsfähigen Eigencharakters«6 umschrieben. Die 1943 in Rio de Janeiro entstandene legendäre Inszenierung von Nelson Rodrigues »Vestido de Noiva« (Brautkleid)7, die von dem Exilpolen Zbigniev Ziembinski und der Theatergruppe Os Comediantes auf die Bühne gebracht wurde, gilt als wegweisender Meilenstein. Wenn man den Pfaden der Verschränkung zwischen Theater und einem verhandelnden Umgang mit Kultur nachgehen will, dann scheinen starre Gegenüberstellungen wie »Eigen« und »Fremd« oder die Frage gar nach einem eigenständigen brasilianischen Theater erst einmal wenig hilfreich. Verfolgt man das Theatergeschehen im geographischen Raum des heutigen Brasiliens bis in die frühe Kolonialzeit zurück, dann zeigt sich schon in der Praxis der portugiesischen Siedler, die in den Kirchen 4

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Prado, Decio de Almeida (1999): Hist6ria Concisa da Teatro Brasileiro. Sao Paulo: USP, 19. Zwei weitere wichtige Bände zur brasilianischen Theatergeschichte sind: Magaldi 1997; Cafezeiro, Edwaldo/Gadelha, Carmen 1996: Hist6ria da Teatro Brasileiro: um percurso de Anchieta a Nelson Rodrigues. Rio de Janeiro: Editora UFRJ/EDUERJ/FUNARTE. Milare, Sebastiao (1998): Apontamentos cronol6gicos da desenvolvimento da encenac;:ao no Brasil, in: Sete Palcos, 3, September 1998, 17. Sartingen, Kathrin (2000): " Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist der Umweg