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German Pages 264 [265] Year 2014
Melanie Hinz Das Theater der Prostitution
Theater | Band 60
Melanie Hinz (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim mit dem Schwerpunkt Theater und Geschlechterforschung in Theorie und Praxis. Seit WS 2013/14 vertritt sie an der FH Dortmund die Professur »Ästhetische Bildung in den szenischen Künsten.« Sie ist Gründungsmitglied des Performance-Kollektivs »Fräulein Wunder AG« und arbeitet als Performerin und Regisseurin.
Melanie Hinz
Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart
Zugl.: Hildesheim, Univ. Diss., 2012 unter dem Titel: Theater und Prostitution. Zu einer Ökonomie des Begehrens.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1
Einleitung: Theater im Verruf der Prostitution | 7
›Echte‹ und ›falsche‹ Sexarbeiterinnen: Lulu – Die Nuttenrepublik (2010) | 13 Diskursanalytisches Vorgehen | 24 Forschungsprogramm | 32 2
Zur Ökonomie des Begehrens von Theater und Prostitution | 41
Wie Theater und Prostitution ihren Anfang nehmen | 44 Grundlegung einer Ökonomie des Begehrens | 47 Vorspiel im Bordell | 51 Energetischer Austausch im Theater | 73 3
Das Theater der Prostitution: Figurationen und Motive um 1900 | 91
Soziohistorische Faktoren: Der Prostitutionsdiskurs um 1900 | 92 Émile Zolas Nana als Projektionsfläche des Prostitutionsdiskurses | 98 Theaternutte: Zur Figuration der Schauspielerin | 109 Freier: Zur Figuration des Zuschauers | 129 Prostitution: Zur Ökonomie des Theaters | 141 Das Theater der Prostitution um 1900 | 155 4
Angestellte und Huren-Schauspieler: Ökonomische Reflexionen über die Arbeit des Schauspielenden | 163
Angestellte (Marx/Brecht) | 165 Huren-Schauspieler (Grotowski) | 171
5
Theater als erotisch-ökonomisches Tauschverhältnis: Ein Ausblick in die Gegenwart | 181
»Wir verkaufen Stücke mit unseren Körpern« | 181 Vom Paradigmenwechsel des Prostitutionsdiskurses im Theater und in der Performance-Kunst | 187 Trust! von She She Pop (1998) | 199 Art Gigolo von Jochen Roller (2003) | 219 6
Schlussbetrachtung: Theater des Begehrens | 237
Quellenverzeichnis | 243
Bibliographie | 243 Linkliste | 257 Dank | 259
1 Einleitung: Theater im Verruf der Prostitution
»Allein diese unreine Venus=Spiel haben diese Art oder Unart an sich/daß sowol diejenige/die da zuschauen/als dieselbst mitspielen/einerley Sünde auff sich laden. […] Nemlich/bey dergleichen Venus=Spielen/da allerley Gattungen unreiner Wercke vorgestellet werden/huret alles mit/was zugegen ist/und geschiehet/daß auch diejenige/welche mit reinem Gemüth auff den Schau=Platz sich begeben/mit unreinem Gemüth nach Hause kommen.«1
In dem Traktat Theatromania, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen Schau-Spielen des Pastors Anton Reiser aus dem Jahr 1681 erscheint das Theater als ein Schauplatz der Prostitution und ein Medium der Verführung. Dabei fasst Reiser das Theater als einziges Spiel, in dem alles »huret«2: Spieler und Zuschauer3 gleichermaßen. Reiser beschreibt die Wirkung des Theaters und der dort gezeigten Werke als sexuelle Ansteckung4, die – gleich dem Sündenfall5 –
1
Anton Reiser: Theatromania, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen Schau-Spielen. Ratzeburg: Nissen 1681, S. 188f. Eine generelle Anmerkung: Zitate werden stets wie im Original übernommen und nicht korrigiert.
2
Ebd., S. 189.
3
In der vorliegenden Arbeit werden im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache weibliche und männliche Schreibweisen verwendet. Sollte an der einen oder anderen Stelle nur eine von beiden Schreibweisen verwendet werden, so ist das jeweils andere Geschlecht mit eingeschlossen.
4
Zum Ansteckungsdiskurs hinsichtlich des Zuschauens im Theater: Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Zuschauen als Ansteckung«, in: Dies./Mirjam Schaub/Nicola Suthor
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bei Spielenden und Zuschauenden einen Transformationsprozess einläutet, aus dem die ›Reinen‹ am Ende der Vorstellung als Huren und Freier hervorgehen. Dieser Rollenwechsel von Heiligen zu Huren und Freiern6 kann laut Reiser allein über die sexuelle Ansteckung während des Sehens und Hörens verlaufen und bedarf keiner Realisierung durch einen Sexualakt.7 Augen und Ohren stellen in der Theateraufführung die primär genutzten Sinnesorgane der Zuschauenden dar. Reiser beschreibt diese als dem Genital äquivalente Körperöffnungen, über welche sexuelle Erfahrungen gemacht werden. Somit kollabiert in Reisers Darlegung die »Differenz von Sehen und Berühren«8 in der Wahrnehmung. Zuschauen wie auch Spielen werden von ihm als ein gemeinsam und gleichzeitig vollzogener somatischer Prozess beschrieben, welcher dadurch der sexuellen Interaktion zwischen Huren und Freiern gleicht. Dabei macht die Formulierung »huret alles mit«9 deutlich, dass die Differenz der Positionen – wer nun in der Theateraufführung die Position der Prostituierten und wer die des Freiers einnimmt – von Reiser nicht genauer bestimmt wird. Der Vorwurf der Hurerei zielt vielmehr darauf ab, eine grundsätzliche Abkehr der
(Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München: Fink 2005, S. 35-50. 5
Nach Christopher Wild wird in den Augen der Theaterfeinde im Theater der Sündenfall immer wieder reinszeniert. Vgl. Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. 1. Aufl. Freiburg i. Br.: Rombach 2003, S. 216.
6
»Prostituierte« und »Freier« sind durch das grammatische Geschlecht der deutschen Sprache geprägte Begriffe, die eine Asymmetrie der Geschlechterzuschreibung bezeichnen. So hat das männliche Substantiv »Freier« keine weibliche Entsprechung. Das Nomen »Prostituierte« wiederum wird im Sprachgebrauch meist auf die Signifikanz von Weiblichkeit beschränkt. Beide Nomen wie auch die Begrifflichkeiten »Dirne«, »Hure« und »Nutte« werden als konstruierte, historisch geprägte Projektionsfläche für den Diskurs in Bezug auf das Theater verwendet. Ansonsten wird auf die Begriffe Kunden/Kundinnen und Sexarbeiter/Sexarbeiterinnen zurückgegriffen.
7
»Bey allen andern Sünden verunreinigen und vergreifen sich nur diejenige/so dieselbe würcklich begehen/nicht aber/die entweder zusehen oder davon etwas hören.« Anton Reiser: Theatromania, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen Schau-Spielen, S. 188.
8
Vgl. zur Dichotomie von Sehen und Berühren in der Zuschauerrezeption: Erika Fi-
9
Anton Reiser: Theatromania, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen
scher-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 101ff. Schau-Spielen, 189.
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Menschen vom Theater zu bewirken. Reisers Text steht in einer Tradition theaterfeindlicher Schriften10 von Kirchenvätern, denen das Theater als heidnischer »Tempel der Venus«11 galt, in welchem normative Grundsätze des Zusammenlebens der Geschlechter zugunsten von Schamlosigkeit und Ekstase außer Kraft gesetzt werden. In diesem Sinne betrachtet Reiser vielmehr das Theater selbst als eine Hure, die Darstellenden und Publikum erotische Spiele anbietet und scheinbar ›magische‹ sexuelle Ansteckungskräfte zu besitzen scheint. Reisers theaterfeindliche Schrift stellt nur ein Beispiel dafür dar, dass in Bezug auf das Theater als Institution und Kunstform von der Antike bis zur Gegenwart immer wieder die metaphorische Rede12 von Prostitution13 ist. Die vorliegende Arbeit will der metaphorischen Rede mit dieser erkenntnisleitenden Frage auf die Spur kommen: Welche Verhandlungen über das Theater werden
10
Vgl. Stefanie Diekmann/Christopher J. Wild/Gabriele Brandstetter (Hg.): Theater-
11
Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam
feindlichkeit. München: Fink 2012. 1988, S. 37. 12
Ich möchte die Differenz zwischen der metaphorischen und der sozialen Rede von Prostitution in Bezug auf das Theater markieren. Die metaphorische Rede stellt eine Projektion der Prostitution auf das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Darstellenden, auf die Arbeit des Schauspielers und der Schauspielerin sowie auf das Theater als Institution dar. Die soziale Rede von der Prostitution in Bezug auf das Theater bezeichnet soziohistorische Faktoren und Fakten, welche zur freiwilligen, zwangsweisen oder notgedrungenen Sexarbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern oder der im Theater ausgeübten Prostitution führen/geführt haben. Im Rahmen dieser Arbeit gehe ich auf die soziale Rede von Prostitution nur dann ein, wenn sie für die metaphorische Rede von Bedeutung ist.
13
Durch den Diskurs um Sexarbeit ist die Verwendung des Begriffs Prostitution problematisch geworden. Susanne Koppe beispielsweise plädiert dafür, im Plural von »Prostitutionen« zu sprechen. Diese Pluralisierung macht auf Differenzen im Feld der Sexarbeit aufmerksam, die zwischen so unterschiedlichen sexuellen Dienstleistungen wie etwa denen eines Callgirls und denen einer Sexarbeiterin auf dem Strich verlaufen. Im Wissen um diese Differenzen verwende ich in diesem Buch dennoch den Begriff ›Prostitution‹, resultierend aus der historischen Bedingtheit des Diskurses in Bezug auf das Theater. Vgl. Susanne Koppe: »Sexarbeit zwischen patriarchaler Ausbeutung und emanzipatorischer Subversion«, in: Nina Degele (Hg.): Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink 2008, S. 193-207, hier S. 195.
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über den Vorwurf der Prostitution geführt? Anhand von Reisers Kritik der Hurerei in der Theateraufführung wird bereits deutlich, worum die Verhandlungen über das Verhältnis von Theater und Prostitution kreisen. Reiser beschreibt mit dem Vorwurf der Prostitution die mediale Disposition des Theaters als ein sexuelles und soziales Ereignis, in dem Zuschauende und Darstellende zusammen ›huren‹. Historisch ist diese Zuschreibung der Prostitution an das Theater unterschiedlich bewertet und ausdifferenziert worden.14 Dabei lassen sich zentrale Topoi des Prostitutionsdiskurses durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder auf die erotisch-ökonomische Wechselwirkung der Beziehung von Darstellenden und Zuschauenden zurückführen. So werden aufgrund von Nacktszenen die ersten Berufsschauspielerinnen im Mimus der römischen Antike als Prostituierte diffamiert und die sexuelle Begierde des männlichen Zuschauers nach ihnen wird einem Sexualakt gleichgestellt.15 Und wenn Jean-Jacques Rousseau als bekanntester Vertreter der Theaterfeinde der Aufklärung in seinem Brief an d’Alembert die Sittenlosigkeit der Theaterleute und ihr vermeintlich promiskuitives Zusammenleben anprangert, so be-
14
Es ist anzumerken, dass bisher keine Anthologie der metaphorischen Rede von der Prostitution in Bezug auf das Theater vorliegt. Dies stellt ein methodisches Problem für eine Diskursgeschichte der Prostitution dar. Bis zum 19. Jahrhundert taucht der Prostitutionsdiskurs nur vereinzelt als Randthema in theaterfeindlichen und theoretischen Texten auf.
15
So heißt es in einer Rede des Predigers Chyrostomos: »Hast Du auch mit einer solchen Dirne die Sünde nicht wirklich gethan, so ist solches doch durch deine Begierde geschehen, und dem Willen nach ist die Sünde vollführt. Und nicht nur in jenem Augenblick, sondern auch, wenn das Theater aus ist, haftet ihr Bild in deiner Seele: die Worte, die Stellungen, die Blicke, der Gang, der Tanz, das Spiel, die frechen Lieder. Mit zahllosen Wunden in der Seele gehst du nach Hause …« Chyrostomos zitiert in: Hermann Reich: Der Mimus. Ein litterar-entwickelungsgeschichtlicher Versuch. 2 Teile in 1 Band. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1903. Hildesheim [u.a.]: Olms [u.a.]. 1974, S. 129. Reichs Werk gilt als erstes, welches die Geschichte des Mimus aufarbeitet und wichtige Primärquellen aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Zugleich hat Reich in entscheidender Weise Anteil an der historischen Überlieferung, welche besagt, dass die ersten Schauspielerinnen Prostituierte gewesen seien. Er differenziert zwischen den Schauspielerinnen, die Nacktszenen spielen, welche er als tatsächliche »Dirnen« bezeichnet, und den hauptberuflich tätigen Schauspielerinnen.
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fürchtet er dabei vor allem Nachahmungen der vorgelebten und vorgespielten Leidenschaften durch die Genfer Bürgerinnen und Bürger.16 Um 1900 kommt es zu einer Verdichtung des Prostitutionsdiskurses. Infolgedessen findet eine Ausdifferenzierung der Motive und Figurationen von Prostituierten, Freiern und Zuhältern in Bezug auf das Theater statt. Schauspielerinnen werden als »Theaternutten«17 beschimpft, welche sich ihr Engagement mittels ihrer körperlichen Reize beschafften. Das sexuelle Interesse des männlichen Zuschauers an der Schauspielerin erscheint verwerflich, weil dadurch die Theatersituation mit der des Bordells verwechselt werde. Theaterdirektoren und Theateragenten geraten durch ihre Besetzungspraxis als ›Zuhälter‹ in die Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, das Theater in einen »Fleischmarkt«18 zu verwandeln, indem sie die erotische Attraktivität der Schauspielerinnen zum Kriterium für deren Beschäftigung am Theater machten. Die Motive des Prostitutionsdiskurses verweisen in der Verzahnung von ästhetischen, sozialen, ökonomischen und genderspezifischen Fragen auf das, was aus dem Theater ausgeschlossen werden soll. Prostitution, »die marktförmige Organisation von sexuellen bzw. als sexuell definierten Handlungen«19, ist stets durchdrungen von Prozessen gesellschaftlicher Ein- oder Ausgliederung, die je nach Gesellschaftsform und Jahrhundert unterschiedlich ausfallen. Dies lässt sich auch auf die Sprechakte der Prostitution in Bezug auf das Theater übertragen: Der Prostitutionsdiskurs kann somit Aufschluss über die historisch bedingten »Sperrbezirke«20 des Theaters geben.
16
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: »Brief an d‘Alembert über das Schauspiel«, in: Ders.: Schriften. Herausgegeben. von Henning Ritter. Band 1. Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 333-474.
17
Lemma »Theaternutte« in: Heinz Küpper: Wörterbuch der Umgangssprache. Stuttgart: Klett 1987, S. 832.
18
Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin. Stutt-
19
Kornelia Hahn: »Prostitution«, in: Renate Kroll (Hg.): Metzler Lexikon Gender Stu-
gart: Robert Lutz 1912, S. 154. dies Geschlechterforschung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S.321-322, hier S. 321. 20
Regina Schulte hat in ihrer gleichnamigen Untersuchung zu Prostitution und Tugendhaftigkeit im 19. Jahrhundert herausgestellt, dass die städtische Gesellschaft die sich verbreitende Prostitution mit Erschrecken sieht und versucht, sie von sich fernzuhalten. »Deshalb errichtet sie überall ›Sperrbezirke‹. […] Damit produziert sie die
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Über den Vorwurf der Prostitution wird zugleich eine Konstellation im Gefüge des Theaters herausgestellt, die gerade in jüngerer Zeit von der theaterwissenschaftlichen Theoriebildung betont wurde: das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Agierenden. Die leibliche Kopräsenz von Zuschauenden und Darstellenden wird dabei zu einem Signum für die Gegenwärtigkeit der Aufführung, die sich als Wechselwirkung von Bühne und Zuschauerraum und durch das Zusammenfallen von künstlerischer Produktion und Rezeption bestimmen lässt. Damit rücken vor allem die Aufführung als soziales Ereignis und die performative Dimension dieses Verhältnisses zwischen Darstellenden und Publikum in den Vordergrund der Betrachtung. Mit der Betonung des Aufführungsgeschehens geraten aber die institutionellen und ökonomischen Bedingungen aus dem Blick. Der Prostitutionsdiskurs zeigt auf, dass die Beziehung zwischen Zuschauenden und Agierenden schon seit jeher eine erotisch-ökonomische und durchaus problematische ist. Damit erscheint der Diskurs um Prostitution im Theater nur vordergründig als ein Diskurs über Schauspielerinnen, wie dies bisher in der Theatergeschichte dargestellt wurde. Denn zur Prostitution gehört immer auch die andere Position: die des Freiers. Wenn also das Theater als »Hurerei« verdammt wird (Reiser), in seiner Ökonomie mit Prostitution verglichen (Karl Marx) oder von der Prostitution befreit werden soll (Jerzy Grotowski), dann ist damit nicht allein die Rede von den Schauspielerinnen und Schauspielern, sondern vor allem von deren Verhältnis zu den Zuschauenden. Auffällig ist, dass der Prostitutionsdiskurs über das Theater, der sich um 1900 verdichtet, von männlichen Autoren geführt wird, die aus der Position des Zuschauers schreiben. Die Zuschreibung der Prostitution ist dabei an eine Produktion von Alterität gebunden, die als das Andere21 des Theaters zugleich begehrt und ausgegrenzt wird. Damit entblößen die Diskursproduzenten in der Pro-
Prostitution immer wieder neu.« Regina Schulte: Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M.: Syndikat 1984, S. 8. 21
Ich differenziere in dieser Arbeit zwischen das/der Andere und der andere. Mit dem großgeschriebenen Andere beschreibe ich, im Sinne der Theorie von Jacques Lacan, die Produktion von radikaler Alterität, die damit sowohl ein anderes Subjekt als Projektionsfläche als auch die symbolische Ordnung bezeichnet, welche das Verhältnis zum anderen Subjekt vermittelt. Das kleingeschriebene andere hingegen beschreibt das Verhältnis zu einem nächsten/ähnlichen Subjekt. Vgl. Dylan Evans: Lemma »andere/Andere«, in: Ders.: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant 2002, S. 38-40.
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jektion der Prostitution auf das Theater ihr eigenes Begehren. Der Diskurs über Prostitution im Theater um 1900 lässt sich somit als ein Diskurs über Theaterzuschauer und ihr Verhältnis und Begehren zum Theater fassen. In der Gegenwart lässt sich eine Umkehrung der Perspektive beobachten: Theaterproduzentinnen und -produzenten eigenen sich in ihren Performances die Topoi des historischen Zuschauerdiskurses an und kehren den Blick auf sich selbst um: Die Selbstbezichtigung als ›Prostituierte‹ wird als sexuell-ökonomische Kritikposition eingesetzt, um damit auf das erotisch-ökonomische Tauschverhältnis zum Publikum und seine Einbindung in Marktökonomien aufmerksam zu machen. Dabei weisen die Performerinnen und Performer auf die strukturelle Nähe zwischen schauspielerischer Arbeit und Sexarbeit hin, wenn sie ihre Performances als eine Dienstleistung ankündigen, mit der sie das Publikum mit dem Vorspielen von Emotionen, Begehren und Erotik zu dienen und zu verführen haben.22 Der Prostitutionsdiskurs ist in der Historie wie in der Gegenwart stets mit ökonomischen, ästhetischen und sozialen Bedingungen des Theaters verknüpft. Er wird virulent, wo die Beziehung zwischen Zuschauenden und Darstellenden problematisch, instabil, prekär, geschlechtsspezifisch oder zu intim wird. Damit ermöglicht es eine Analyse des Prostitutionsdiskurses, dieses Verhältnis – über die gegenwärtige Theoriebildung hinaus – um eine historische, ökonomische und genderkritische Perspektive zu erweitern.
›E CHTE ‹ UND › FALSCHE ‹ S EXARBEITERINNEN : L ULU – D IE N UTTENREPUBLIK (2010) Von der Aktualität des Prostitutionsdiskurses im gegenwärtigen Theater zeugt die Debatte um den Auftritt von Sexarbeiterinnen in Volker Löschs Berliner
22
Der Schauspieler Walter Schmidinger beschreibt in seiner Autobiographie die Arbeit des Schauspielers als die eines Verkäufers, der dienen und verführen muss und macht die Zuschreibung der Prostitution explizit: »Wenn man glaubt, seine privaten Gefühle verkaufen zu müssen, dann hat dieser Beruf etwas von Prostitution. Das hat er sowieso. Aber auch in der Prostitution muss man aufpassen, daß man mit dem Kunden nicht privat wird.« Klappentext von Walter Schmidinger: Angst vor der dem Glück. Herausgegeben von Stephan Suschke. Mit einem Vorwort von Klaus Maria Brandauer. Berlin: Alexander 2003.
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Schaubühnen-Inszenierung Lulu – Die Nuttenrepublik23, die im Herbst/Winter 2010 in zwei Etappen gezeigt wurde. Bereits im Vorfeld der Inszenierung kommt es auf der Internetplattform Nachtkritik24 in 55 Kommentaren über sechs Tage hinweg zu einer kritischen Diskussion über die Besetzung der Lulu-Figur. Der Regisseur Lösch hatte für die zeitgenössische Aufladung dieser Frauenfigur einen Chor nicht-professioneller Darstellerinnen25 gecastet, die – laut PR der Schaubühne – allesamt »in unterschiedlicher Weise als Sexarbeiterinnen (BizarrLady, Domina, erotisches Fotomodell, Escort-Lady, Hausdame, Hure, Kurtisane, Pornodarstellerin, Puffmutter, Sklavia, Stripteasetänzerin, Tantra-Masseurin, Zofe) tätig sind oder waren.«26 Im ersten Teil dieser Diskussion geht es um das historische Verhältnis, die Gemeinsamkeiten und Differenzen von Schauspielerinnen und Sexarbeiterinnen. Dabei lehnen die Forumsschreiberinnen und -schreiber trotz der Figuration von Lulu als Prostituierte im Drama eine Darstellung durch ›echte‹ Sexarbeiterinnen größtenteils ab. Diese Perspektive auf die Besetzung und Darstellung der Lulu verschiebt sich nach der Premiere. Der zweite Teil der Debatte beginnt, als bekannt wird, dass vier der fünfzehn Frauen, die als Sexarbeiterinnen aufgetreten
23
Lulu – Die Nuttenrepublik. Premiere am 11.12.2010. Schaubühne Berlin. Spielzeit 2010/2011. Regie: Volker Lösch.
24
Die Debatte ist nachzulesen auf der Homepage von Nachtkritik. Publiziert wurden zwei Artikel: Am 19.10.2010 erschien die Meldung: »Und die im Rotlicht sieht man doch«, deren Diskussion am 24.10.2010 von der Redaktion geschlossen wurde. Siehe Link 01 in der Linkliste. Der zweite Teil der Lulu-Debatte folgt auf die Premierenkritik von Esther Slevogt: »Erschlaffendes phallisches Gemüse« vom 11.12.2010. Im Forum entstand eine Diskussion mit weiteren 169 Kommentaren, die am 04.01.2011 von der Nachtkritik-Redaktion geschlossen wurde. Siehe Link 02.
25
Die Arbeit des Regisseurs Volker Lösch ist dafür bekannt, dass er Chöre mit gesellschaftlich ausgegrenzten Gruppen besetzt, welche die gewählten literarischen Stoffe mit Kommentaren aus ihrer Erfahrungswelt vergegenwärtigen. Den ersten Laienchor hat Lösch 2003 am Staatsschauspiel Dresden in seiner Inszenierung der Orestie auf die Bühne gebracht. Vgl. auch Christian Engelbrecht: Weber, Woyzeck, Wunde Dresden. Ein Versuch über Volker Löschs chorische Theaterarbeiten am Staatsschauspiel Dresden. Marburg: Tectum Verlag 2013.
26
Stefan Schnabel: »Ohne Angst leben. Notizen zu Lulu – Die Nuttenrepublik« in: Programmheft zu Lulu – Die Nuttenrepublik nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen. Redaktion: Schaubühne am Lehniner Platz. 49. Spielzeit 2010/11, S.3-5, hier S. 4.
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sind, von ausgebildeten Schauspielerinnen ›gespielt‹ wurden. Im Zentrum der Diskussion steht nun das Begehren des Publikums nach einer Besetzung durch ›echte‹ Sexarbeiterinnen. Der SZ-Kritiker Peter Laudenbach etwa beanstandet den Einsatz professioneller Schauspielerinnen im Chor der Sexarbeiterinnen als Betrug am »Authentizitätsversprechen«27 der Inszenierung, was weitere 169 Kommentare auf Nachtkritik sowie Reaktionen seiner Kollegen provoziert. Der Auftritt von ›echten‹ und ›falschen‹ Sexarbeiterinnen in der Schaubühne am Lehniner Platz evoziert eine Diskussion unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die mehr über deren Vorstellungsbilder von Theater als über den eigentlichen Gegenstand der Lulu-Inszenierung zum Vorschein bringt. Dabei werden bekannte Motive des Prostitutionsdiskurses aufgegriffen: die Sexarbeiterin als Andere, die Historizität der Schauspielerin als Prostituierte und ihre Emanzipationsgeschichte, die Gemeinsamkeiten zwischen Schauspiel und Prostitution als körperliche Arbeit, die Position des Zuschauenden als Voyeur sowie die sexuell-ökonomischen Tauschbeziehungen zwischen Schauspielerin und Zuschauern sowie Regisseuren als ihren Freiern. Im Folgenden werden diese Motive der Debatte aufgezeigt, um anhand dessen in das Themenfeld des Prostitutionsdiskurses in Bezug auf das Theater einzuführen. Die Prostituierte als Andere Der geplante Auftritt von Sexarbeiterinnen auf der Bühne erscheint bereits im Vorfeld als eine Herausforderung für den Blick der Zuschauerinnen und Zuschauer, obwohl die Arbeit mit Experten des Alltags28 zu einem populären Be-
27
Peter Laudenbach: »Alles echt? Volker Löschs falsche Huren in der Berliner
28
Vgl. Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater
›Lulu‹«, in: SZ vom 17.12.2010. von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander 2007. Das Regiekollektiv Rimini Protokoll hat für nicht-professionelle Darstellerinnen und Darsteller den Begriff Experten des Alltags statt Laie oder Amateur geprägt, um damit bestimmte Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten aufzuwerten, statt sie auf ihre schauspielerische NichtProfessionalität zu reduzieren. Vgl. Florian Malzacher: »Dramaturgien der Fürsorge und der Verunsicherung. Die Geschichte von Rimini Protokoll«, in: Ders./Miriam Dreysse (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander 2007, S.14-43, hier S. 23. Derzeit ist ein Boom von Nicht-Profis auf den Theaterbühnen zu beobachten. An dieser Entwicklung hat neben Rimini Protokoll
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setzungs- und Darstellungsphänomen im gegenwärtigen Theater geworden ist. Doch durch die Selbstdarstellung von Sexarbeiterinnen auf der Bühne befürchten die Forumsteilnehmenden auf Nachtkritik »puren Voyeurismus«29. Theater werde durch ihren Auftritt zu einem »Schmuddelsender« wie »RTL 2«30. Damit richtet sich die Kritik auf den ersten Blick an die Institution des Theaters, welche ihren Hochkulturstatus auf Spiel setze, indem sie sich ökonomische und ästhetische Strategien einer Spektakel-Kultur des Fernsehens aneigne. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass vielmehr die Wahrnehmung des Zuschauenden verhandelt wird, die von einem Kollabieren der »Doppeldeutigkeit«31 des Schauspielerinnenkörpers zeugt. In der imaginären Vorstellung ist die Wahrnehmung des Zuschauenden von einem »Einbruch des Realen«32 durch den Auftritt von Sexarbeiterinnen gekennzeichnet. Im Vordergrund der Diskussion steht der phänomenale Körper der nicht-professionellen Darstellerin. Durch das Interesse des Zuschauenden an der Körperlichkeit der Darstellerin und ihrem SoSein wird der von ihr hergestellte semiotische Körper der Lulu-Figur im Wahrnehmungsakt verdrängt. In dieser Hinsicht ist der Blick der Forumsteilnehmenden selbst voyeuristisch, da diese von einem ›sprechenden‹ Körper ausgehen, den sie bereits in ihrer Imagination tastend nach den Spuren der Sexarbeit absuchen, die vermeintlich an ihm hinterlassen wurden. Damit exponiert die LuluDebatte eine für den Prostitutionsdiskurs typische Figur des Zuschauers als Freier, dessen Begehren und Voyeurismus am phänomenalen Körper der Darstellerin entfacht wird. Bis zu diesem Zeitpunkt der Diskussion sind die Sexarbeiterinnen nur auf der imaginären Bühne der Forumsteilnehmenden, aber noch gar nicht auf der realen Schaubühne aufgetreten. Dennoch ist bereits ein mediales Bild »imaginierter Weiblichkeit«33 der ausgewählten Sexarbeiterinnen durch die Debatte konstruiert worden. Silvia Bovenschen entwickelt den Begriff der »imaginierten Weiblich-
Volker Lösch mit der Inszenierung von Bürgerchören in Klassiker-Bearbeitungen entscheidenden Anteil. 29
Vgl. hierzu zehnter Kommentar von ehrlich, 19.10.2010 – 22:04 Uhr. Siehe Link 01.
30
Ebd.
31
Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters. München: Wilhelm Fink 2008, S. 223.
32
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Auto-
33
Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu
ren 1999, S. 170. kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.
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keit« in ihrem gleichnamigen Buch, um die Differenz deutlich zu machen, die zwischen dem Leben realer Frauen und Weiblichkeitsinszenierungen in der Kunst besteht.34 Dabei hat sie dieses Konzept paradigmatisch an der Figur Lulu aus dem Wedekind-Drama vorgeführt: Alle männlichen Figuren in dem Drama richten ihr Begehren auf Lulu und konstruieren mit immer neuen Namensgebungen wie »Eva« oder »Mignon« ihre Identität. Lulu selbst, ihr Leben und ihre Bedürfnisse, spielen dabei gar keine Rolle. Dies lässt sich auf die Berliner Lulu-Debatte übertragen: Der imaginäre Auftritt repräsentiert ein Begehren zwischen Faszination und Abwehr am vermeintlich realen Körper der Sexarbeiterin, der damit in eine ähnliche Narration imaginierter Weiblichkeit eingebunden wird, wie sie die Lulu-Figur im Drama kennzeichnet und wie sie eigentlich durch die Erfahrungsberichte der Sexarbeiterinnen in der späteren Inszenierung außer Kraft gesetzt werden sollte. Die Figuration der Sexarbeiterin, ob im Drama um 1900, in der gegenwärtigen Debatte oder in der sozialen Realität, ist noch immer Teil eines Ausgrenzungsdiskurses, der die Sexarbeiterin als die »Andere« markiert. Darin zeigt sich eine historische Gemeinsamkeit von Sexarbeiterinnen und Schauspielerinnen: Beide werden aufgrund ihres Geschlechtes und ihres Berufes als Andere des Blicks konstruiert. Mit dieser Produktion von Alterität sind Schauspielerinnen auch heute noch konfrontiert, wenn, wie in der Lulu-Debatte, auf die »gemeinsamen Wurzeln« von »Prostitution und Schauspielerei«35 verwiesen wird, die das kollektive Gedächtnis über die Figuration der Schauspielerin geprägt haben. Die wiederholte Rede von der Schauspielerin als Prostituierte stellt dabei einen Sexualisierungseffekt dar, wenn einer der Forumsteilnehmer schreibt: »warum hier nicht aus dem ensemble besetzen??«36 Damit werden die Schauspielerinnen nicht als ›bessere‹ Darstellerinnen als die vorgeschlagenen Laiendarstellerinnen imaginiert, sondern als die ›besseren‹ Prostituierten. Die Nachtkritik-Debatte zeigt deutlich, dass die Figuration der Schauspielerin als Prostituierte, egal ob diese real oder nur in der Vorstellung der Zuschauenden Sexarbeit vollzieht, die Emanzipationsgeschichte der darstellenden Künstlerin wie des Theaters bedroht.
34
Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, S. 11ff.
35
17. Kommentar von momemori, 20.10.2010 – 08:31 Uhr. Siehe Link 01.
36
Ebd.
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Die Emanzipationsgeschichte der Schauspielerin Der Emanzipationsdiskurs wird vor allem im zweiten Teil der Debatte virulent. Es wird diskutiert, welche Konsequenzen es vor dem Hintergrund der Historizität der Schauspielerin als Prostituierte habe, wenn heute junge Schauspielerinnen Prostituierte darstellten. Dabei verkehrt sich aber die scheinbar feministisch argumentierende Kritik in das Gegenteil und reproduziert konservative Argumentationsfiguren: »ich finde daher den macho blick von lösch frappant. warum wurden blutjunge schauspielschülerinnen bzw. anfängerinnen als nutten gecastet und nicht zum beispiel ältere schauspielerinnen? hier wird es schmierig. die schaubühne agiert scheinbar nach dem motto ›sex sells‹ und ist so bei tutti frutti und boulevard angekommen. die jungen schauspielerinnen werden instrumentalisiert, ausgenutzt und auf perfide weise zwangsprostituiert und auf ihren körper reduziert. lösch macht so genau das, was der abend angeblich kritisiert.«37
Es stellt sich die Frage, wer in diesem Fall den Machoblick einnimmt: Lösch oder die schreibende Person, welche Lösch Zwangsprostitution vorwirft, wenn junge Schauspielerinnen in einer Theateraufführung Prostituierte darstellen sollen. Dabei wird auch hier der fiktionale Rahmen des Theaters, der eine Differenz zwischen Figur und Privatperson der Schauspielerin erzeugt, nicht mitkalkuliert. Vielmehr geht die Forumsschreiberin Irma la Douce davon aus, dass es bei einem attraktiven weiblichen Körper per se zu einer Verwechslung komme, durch welche die Darstellerin mit einer Prostituierten gleichgesetzt werde, während die Körperlichkeit einer alten Schauspielerin eine ästhetische Differenz zum sexuellen Weiblichkeitsbild von Prostituierten erzeuge. Damit einher geht die Bewertung, dass ältere Schauspielerinnen keine Sexualobjekte in der erotischökonomischen Blickkonstellation des Theaters mehr darstellten. Der Forumsteilnehmer rüdiger sch. spiegelt der Forumsschreiberin zurück, dass genau solche Aussagen der Stigmatisierung von Schauspielerinnen zuarbeiteten.38 Daran wird deutlich, dass aufgrund des historischen Kontextes die Darstellung von Prostituierten auf der Bühne für Schauspielerinnen zu einem Darstellungs- und Anerkennungsproblem ihrer Arbeit wird. Die Emanzipationsgeschichte der Schauspielerin ist der Versuch, sich vom Vorwurf der Prostitution loszusagen, die Fesseln der Geschichte abzulegen und für sich zu beanspruchen,
37
45. Kommentar von Irma la Douce, 15.12.2010 – 11:00 Uhr. Siehe Link 02.
38
Vgl. 41. Kommentar von rüdiger sch., 15.12.2010 – 01:29 Uhr. Siehe Link 02.
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nach künstlerischen und nicht nach sexuellen Kriterien beurteilt zu werden. Dies bedeutet auch, weder in der Spielweise noch in der Auswahl der Rollen dem Bild der Prostituierten in der Darstellung auf der Bühne entsprechen zu dürfen. Damit rekurriert die Debatte auch auf die Dichotomie von ›Huren‹- und ›Heiligen‹-Schauspielerinnen, denen unterschiedliche Darstellungsqualitäten zugesprochen werden. Schauspiel und Prostitution In der Debatte werden aber auch die Gemeinsamkeiten der Praxis des Schauspiels und der Prostitution als gestaltete Akte der Zurschaustellung diskutiert. Dabei bietet der Begriff ›Professionelle‹ die Folie für Zweideutigkeiten. In Bezug auf das Theater kennzeichnen die Begriffe Professionelle/Professionalität jemanden, der mit seinem Können eine Tätigkeit zum Gelderwerb ausübt. Damit werden ausgebildete Schauspielerinnen von Laien abgegrenzt. Im umgangssprachlichen Gebrauch wird der Begriff Professionelle aber auch für eine Prostituierte benutzt. Diese Dopplung wird durch den folgenden Kommentar aufgerufen: »Und Probleme mit dem Spielen von Rollen haben die Frauen auch nicht, das wird bestimmt das Professionellste was Lösch je gemacht hat. Er unterläuft sozusagen sein eigenes Konzept.«39 Prostituierte wie Schauspielerinnen sind professionelle Rollenspielerinnen, die theatrale Situationen gestalten können. So finden sich auf Internetprofilen von Sexarbeiterinnen häufig Hinweise darauf, welche Rollenspiele sie anbieten. Das Spektrum reicht von Kostümen und sozialen Rollen wie die Krankenschwester, welche sexuelle Implikationen haben, bis hin zu Machtszenarien im SM-Bereich. Beide Praxen – Schauspiel wie Prostitution – bauen auf Verstellung und Maskerade auf, die aber zugleich, je nach Schauspielverständnis und Wunsch des Kunden, nicht als solche sichtbar werden dürfen, sondern glaubwürdig verkörpert werden müssen. Das lässt den Schluss des Kommentars zu, dass es Lösch hier in doppelter Weise mit Professionellen zu tun habe. Ein anderer Forumsschreiber macht gerade hinsichtlich der Darstellungsqualität von Schauspielerinnen und nicht-professionellen Darstellerinnen eine Differenz von Schauspiel und Prostitution auf: »ein schauspieler verkauft auf der bühne sein können (in form des produkts seiner anstrengungen – der bühnenfigur). ein laie
39
12. Kommentar von Stefan, 19.10.2010 – 23:09 Uhr. Siehe Link 01.
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verkauft auf der bühne sich selbst – etwas anderes hat er nämlich nicht anzubieten – das nennt man normalerweise prostitution.«40 In dieser Debatte stellt die Sexarbeiterin die bedrohliche Figur für das Theaterverständnis dar. Sie wird zur Repräsentantin der nicht-professionellen Darstellerin schlechthin, die ›nur‹ sich selbst auf die Bühne bringe, ›nur‹ mit ihrer Körperlichkeit arbeite, aber ›nichts Neues‹ erschaffe. Dies steht analog zur Prostitution, in der Sexualität von Reproduktion abgekoppelt wird. Diese Denkfigur und Definition des Laien als Prostituierte macht zugleich deutlich, dass über Vorwürfe der Prostitution an Schauspielerinnen stets auch die Frage nach ihrem schauspielerischen Können verhandelt wird, welches sich hier aber an einem konservativen Theaterverständnis orientiert und Selbstinszenierungen davon abgrenzt. Zugleich macht der analysierte Kommentar deutlich, dass Schauspielkunst und Prostitution körperliche Arbeit sind, die gegen Geld verrichtet werden. Schauspielerinnen verkaufen ihr Können, Prostituierte verkaufen ihren Körper, so der Kommentar. Der Verkauf des Körpers ist in dieser Definition Prostitution. Doch auch Schauspielerinnen und Schauspieler können nur mittels ihres Körpers arbeiten, wie auch Prostituierte über ein Können verfügen, ohne die ihre Tätigkeit sonst nicht als professionell bezeichnet werden könnte. Letztlich besteht bei beiden Berufen das Können in einem berufsmäßigen Umgang mit dem Körper. Wenn Prostitution wiederum als Verkauf des Körpers definiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass Prostitution auch auf die Arbeit von Schauspielern und Schauspielerinnen übertragen wird. Der Umgang mit der inhärenten Käuflichkeit des Theaters stellt einen zentralen Topos des Prostitutionsdiskurses dar. Hurengucken: Das Begehren nach Authentizität Bezeichnenderweise ist der gesamte Diskurs um die Lösch-Debatte von Anfang an mit einem Authentizitätsdiskurs befasst, im Rahmen dessen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer zugleich vor einer Täuschung ängstigen.41 Eine Forums-
40
46. Kommentar von chor, 15.12.2010 – 13:40 Uhr. Siehe Link 02.
41
Der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen stellt auch für den erotischen Film eine Sehnsucht nach Authentizität in der Darstellung von Prostituierten fest. Seit den 1980er Jahren sei eine Entmythisierung der Prostitution zu beobachten: Recherche im authentischen Milieu, kritische Aspektierung von Männlichkeit, Kreislauf von Unterdrückung, Revolte und Scheitern der Bürgerlichkeit und ihr Abstieg. Vgl. hierzu Georg Seeßlen: »Hurengeschichten«, in: Ders.: Erotik. Ästhetik des erotischen Films. Marburg: Schüren 1996, S. 252-261.
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schreiberin malt sich vor der Bekanntgabe über die ausgebildeten Schauspielerinnen im Chor der Sexarbeiterinnen das Szenario aus, dass eine arbeitslose Schauspielerin den Fake auf der Bühne offenlegt: »›Ich spiele hier nur die Hure, bin Schauspielerin, um zu mindestens als Hure spielen zu können.‹«42 Hieran wird eine weitere Parallele zwischen Schauspielerinnen und Prostituierten deutlich: Beide fungieren in ihrem Beruf als Liebeskünstlerinnen, die in Interaktion mit ihren Kunden und Kundinnen Gefühle produzieren und Begehren performen müssen, welche sie im Moment der Aufführung im Bordell oder im Theater gar nicht selbst empfinden. Die ausgebildete Schauspielerin hat im Gegensatz zur Sexarbeiterin ein schauspielerisches Handwerk gelernt, wodurch sie Begehren täuschend echt darstellen kann. Dadurch sind die Zuschauenden von Anfang auf der Hut, wen sie in der Theateraufführung sehen: die Schauspielerin, die die Hure täuschend echt spielt, oder die Hure, die sich verstellt, um ihre Identität zu verschleiern. Diese Verwechslungsgeschichte wird in der Debatte von Anfang an inszeniert, bis nach der Premiere bekannt wird, dass nicht die gesamte Besetzung des Lulu-Chors aus Expertinnen der Sexindustrie besteht, sondern sich darunter auch Schauspielerinnen befinden. Der Theaterkritiker Peter Laudenbach macht in der Süddeutschen Zeitung einen Authentizitätsskandal daraus, dem der Kritiker Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung entgegenhält: »Wer jetzt noch unbedarfter ist und ›Betrug‹! ruft, gibt darüber hinaus seine voyeuristische Ader zu erkennen. Er hat ja schließlich nicht fürs Hurengucken Eintritt bezahlt, sondern für einen subventionierten Theaterabend mit gesellschaftspolitischer Funktion. ›Eine Hure ist ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch‹, lautet eins der unstrittigen Motti des Abends. Hat es uns also egal zu sein, ob es sich um Huren oder Nicht-Huren handelt? Die gleiche Gage bekommen sie jedenfalls. Andererseits wuchert der Regisseur doch selbst mit dem Pfund der Huren-Echtheit. Wer ist also der Ertappte? Die Schauspielstudentinnen, der Regisseur oder der Zuschauer, der sich nach dieser Enthüllung moralisch verstrickt?«43
Seidler macht deutlich, dass mit der Beschwerde über die ›falschen‹ Prostituierten nicht nur der Voyeurismus entlarvt wird, ›echte‹ Huren ansehen zu wollen, sondern damit auch ein Ökonomiediskurs hervorgerufen wird. Wer Betrug ruft, beschwert sich letztlich darüber, dass er das Produkt, welches er gekauft hat –
42
30. Kommentar von Schöne des Tages, 20.10.2010 – 20:47 Uhr. Siehe Link 01.
43
Ulrich Seidler: »Der Chor der Professionellen«, in: Berliner Zeitung vom 15.12.2010.
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ein Stück mit ›echten‹ Berliner Sexarbeiterinnen44, wie es die PR der Schaubühne angekündigt hat – nicht bekommen hat. Zurück bleibt damit ein enttäuschter Kunde, der das, wofür er bezahlt und was er begehrt hat, nicht erhalten hat. Ansprüche an die Echtheit von Darstellerinnen anzumelden, verleiht diesen Warencharakter und offenbart Theater als ein sexuell-ökonomisches Tauschverhältnis, in das Zuschauende als Kunden bestimmte Erwartungen und Begehren einbringen. Damit erhält Theater eine strukturelle Nähe zur Prostitution durch die Käuflichkeit und den Warencharakter der Darstellenden: Das Eintrittsgeld wird bezahlt für ihre Authentizität. Tauschbeziehungen Die Authentizitätsdebatte provoziert eine größere ökonomische Diskussion über die Produktionsbedingungen und Tauschbeziehungen im Theater. Die Aufdeckung des theatralen Tauschgeschäftes, in der Schauspielerinnen anstelle von Sexarbeiterinnen besetzt werden, bringt auch die Frage hervor: Was bekommen überhaupt die Sexarbeiterinnen für die Zurschaustellung ihrer selbst? Im offiziellen Casting-Gesuch zur Inszenierung, das auf diversen Plattformen von und für Sexarbeiterinnen veröffentlicht wurde, hieß es: »Wenn Sie bei uns viel Geld verdienen wollen, […] dann sind Sie bei uns FALSCH!«45 500 Euro für sechs Wochen und 80 Euro pro Vorstellung wurden den Darstellerinnen im Chor gezahlt. Zudem wurde im Casting-Gesuch betont, dass die Darstellerinnen über die Bezahlung hinaus von der Theaterarbeit profitieren könnten. »Wir können Ihnen aber auch einiges bieten. Das sind unsere Zahlungsmittel: Eine professionelle THEATER-ARBEIT mit einem der BESTEN THEATERTEAMS Deutschlands. Das SPIELEN einer HAUPTROLLE in einem BERÜHMTEN THEATER mit Vollprofis. Einen Crash-Kurs in SCHAUSPIELEREI. Viel SPASS beim Proben, Reden und Spielen. Das öffentliche Vertreten Ihrer GESCHICHTEN und MEINUNGEN. Öffentliche AUFMERKSAMKEIT und AKTZEPTANZ. Und hoffentlich: viel APPLAUS und ERFOLG!«46
44
Vgl. Schnabel, Stefan: »Ohne Angst leben. Notizen zu Lulu – Die Nuttenrepublik« in: Programmheft zu Lulu – Die Nuttenrepublik nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen, S. 4.
45
Siehe Link 03. Herv. i. O.
46
Ebd.
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Als Gegenwert winkt also nicht in erster Linie Geld. Stattdessen soll die Bezahlung in Form von Spaß, kultureller Bildung und Applaus erfolgen: Es werden in der Theaterarbeit mitunter andere Tauschwerte als die gängigen Zahlungsmittel in Form von Schecks und Scheinen offeriert. Doch gerade diese Auflistung macht deutlich, wie auch das Kapital im Theater im Umlauf ist und sich das Theater eben nicht als ein System außerhalb eines kapitalistischen Marktes präsentiert, wie Peter Laudenbach kritisiert: »Die Abendgage für die anstrengende Show beträgt bescheidene 80 Euro. Löschs RegieGage dürfte nicht unter 25000 Euro liegen. So setzt sich die von Lösch gerne attackierte Klassengesellschaft auf der Bühne und in den von ihm selbst geschaffenen Arbeitsbedingungen fort. In anderen Branchen nennt man so eine Bezahlung: sittenwidrig.«47
Lösch wird in der Debatte sowohl als Zuhälter als auch als Freier dargestellt. Als Zuhälter erscheint er im Kommentar von Laudenbach, um damit das Missverhältnis in der Bezahlung von Spielerinnen und Regie aufzuzeigen. Und im Forum von Nachtkritik heißt es: »wie ein zuhälter hübscht er die sexarbeiterinnen mit jungen, hübschen schauspielerschülerinnen und anfängerinnen auf, von wegen professionelle (!) chorspielerinnen, und lässt die sexarbeiterinnen als gutgelaunte, witzige dienstleistungsnutten rüberkommen.«48
In diesem Kommentar erscheint Lösch als Zuhälter der Schauspielerinnen, die er als Prostituierte agieren lässt. Die Schau- und Marktwerte, welche seine Inszenierung aufgrund der Besetzung erzielt, generieren Mehrwert für den Regisseur, nicht für die Spielerinnen, welche die körperliche Arbeit in der Aufführung leisten. Volker Lösch wird zur Paradefigur der widersprüchlichen politischökonomischen Dialektik des Theaters: Während der nach außen politisch links orientierte Regisseur Sprechchöre für Demonstrationen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 instruiert und seine Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne gesellschaftliche Missstände anprangern lässt, sind seine Arbeit, seine Bezahlung und damit auch er selbst nach innen Teil eines hierarchischen Staatstheaterbetriebs, dessen Organisationsform noch immer ein Relikt aus den feudalen Zeiten
47
Peter Laudenbach: »Alles echt? Volker Löschs falsche Huren in der Berliner ›Lulu‹«, in: SZ vom 17.12.2010. Im Abgleich dazu vgl. auch die erste Rezension der Inszenierung: Peter Laudenbach: »Die Professionellen «, in: SZ vom 13.12.2010.
48
110. Kommentar von judith b, 21.12.2010 – 13:29 Uhr. Siehe Link 02.
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des 18. Jahrhunderts ist. Der Regisseur nimmt hinter der Theaterleitung eine hegemoniale ökonomische Machtposition ein. Bereits zu Beginn der Debatte wird ihm unterstellt, er mache sich diese Position als Freier zunutze. Wenn in den Kommentaren von der »Besetzungscouch«49 die Rede ist, rekurriert dies auf das spezifische Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspielerin, welches als sexuelles imaginiert wird, nämlich als das von Freier und Prostituierter. Aus dieser Imagination schlägt auch eine der ausgewählten Sexarbeiterinnen Profit, die zwar am Ende nicht auf der Bühne steht, aber ihre Geschichte mit Lösch als »ihrem schlechtesten Freier« an ein Boulevardmagazin verkauft.50 Damit verkehrt sie das Machtverhältnis von Regisseur und Darstellerin und bietet den Regisseur zum Kauf an. Der Vorwurf der Prostitution thematisiert Theater als ein interpersonelles Gefüge, in dem sexuelle Macht- und Beziehungskonstellationen über die Figuren von Prostituierten, Freiern und Zuhältern konstruiert werden. Die Diskussion um den Auftritt von Sexarbeiterinnen zeigt, dass sich bei der Frage nach der Darstellung einer fiktionalen Prostituiertenfigur verschiedene Diskursebenen überlagern: Fragen der Historizität von Theater, der Besetzung, des Schauspiels, der Darstellung von Prostitution, der Rezeption des Publikums und seines Begehrens, der Aufführung als Kaufverhältnis, der ökonomischen sowie der institutionellen Bedingungen des Theaters. In der Debatte werden damit Zusammenhänge, beispielsweise die Parallelen von Schauspiel und Prostitution oder das erotisch-ökonomische Verhältnis von Regie, Darstellerin und Zuschauer, konstruiert, die bisher in der Theaterwissenschaft nicht in ihrer Wechselwirkung beachtet wurden. Die Lulu-Debatte bringt dabei keine ›Wahrheiten‹ des sozialen Lebens der Expertinnen der Sexindustrie, keinen genuinen Weiblichkeitsdiskurs oder Beschreibungen der eigentlichen Inszenierung zum Vorschein, sondern Befürchtungen, Bewertungen, Imaginationen und Empörungen der Zuschauerinnen und Zuschauer. Über Prostitutionsvorwürfe handeln Theaterkritiker und Rezipienten somit ihr gesellschaftliches Bild von Theater und Theaterarbeit aus.
D ISKURSANALYTISCHES V ORGEHEN Was sich in den Diskussionen um die Lulu-Inszenierung von Lösch zeigt, ist letztlich symptomatisch: Der eigentliche Diskurs findet meistens nicht auf der
49
16. Kommentar von clara, 12.12.2010 – 23:29 Uhr. Siehe Link 02.
50
49. Kommentar von Stefan, 15.12.2010 – 14:55 Uhr. Siehe Link 02.
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Bühne, sondern hinter den Kulissen, in Theaterkritiken, Kommentaren, Theaterstreitschriften, Theaterprogrammatiken oder Romanen statt. Angesichts der über die Jahrhunderte hinweg andauernden Projektion der Prostitution auf das Theater ist es umso erstaunlicher, dass es bisher keine theaterwissenschaftliche Forschung gibt, die danach fragt, was diese Projektion über das Theater in seiner Medialität, Ästhetik und Ökonomie aussagt. Hingegen existieren im Bereich der Sozialgeschichte einige Ansätze, die aus den überlieferten Texten Rückschlüsse auf die sozialen Lebensumstände der Theaterleute und ihrer fehlenden Anerkennung ziehen.51 Im Bereich der Frauenforschung gibt es zahlreiche Arbeiten und Aufsätze über die Konstruktion und Geschichte der Schauspielerin als Prostituierte. Hervorzuheben sind die Monografien von Tracy C. Davis Actresses as Working Women (1991)52, Shannon
51
Exemplarisch sind hierfür Hermann Schwedes Buch Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. Die Lebensformen der Theaterleute und das Problem ihrer bürgerlichen Akzeptanz (1993) und Ute Daniels Hoftheater (1995). Die verschiedenen Formen der Prostitution im Theater, die von den Verträgen der Theater mit Prostituierten über die Garderobe der Schauspielerinnen und Schauspieler als sexuellem Schauplatz bis hin zur Gelegenheitsprostitution von Schauspielerinnen zur Aufbesserung der Gage reichen, werden bei Schwedes in einem eigenen Kapitel mit dem Titel »Die freie Sexualität« abgehandelt. Vgl. Hermann Schwedes: Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. Die Lebensformen der Theaterleute und das Problem ihrer bürgerlichen Akzeptanz. Bonn: Verlag für Systematische Musikwissenschaft 1993, S. 129-149. Ute Daniel zeigt anhand des Karlsruher Hoftheaters in den Jahren von 1810 bis 1847 auf, dass Prostitution Ausdruck einer Sozialhierarchie am Theater war. Während die Primadonnen und Virtuosinnen durchaus von ihrer Gage gut leben konnten und auch die Bühnenkostüme gestellt bekamen, war die Lage für die unteren Ränge des Bühnenpersonals prekär. Durch Arbeitsverträge und Arbeitsbedingungen am Theater bildet sich im 19. Jahrhundert ein Schauspielerproletariat heraus, das zu Nebenbeschäftigungen wie die der Prostitution zwingt, während parallel unter den erfolgreichen Schauspielerinnen und Schauspielern eine Verbürgerlichung und ein Zuwachs an Sozialprestige stattfindet. Vgl. Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1995.
52
Tracy C. Davis schildert aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht die Arbeits- und Lebensbedingungen von Schauspielerinnen im England des 19. Jahrhunderts. Die Assoziation Schauspielerinnen/Prostituierte entstehe, weil beide Rebellinnen gegen eine bestehende Geschlechterordnung seien und mit der Wahl ihres Berufes gegen
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Bells Reading, Writing and Rewriting the Prostitutive Body (1994)53, Evelyn Fertls Von Musen, Miminnen und leichten Mädchen (2005)54 und Kirsten Pullens Actresses and Whores (2005). Letztere hat darauf hingewiesen, dass ›die Schauspielerin als Prostituierte‹ als eine historische Konstruktion verstanden werden muss, die aber noch immer Diskurseffekte auf das Bild heutiger Schauspielerinnen habe: »It is virtually impossible to pull apart the discursive construction – to imagine the actress as other than sexually suspect.«55 Es ist hinzuzufügen, dass
das Bild der tugendhaften Frau verstießen, die als Mutter und Hausfrau das Heim hütet. Schauspiel und Prostitution seien für Frauen »erroneous professions« gewesen. Eine Schauspielerin erlangte durch ihren Beruf finanzielle Selbstständigkeit, Mobilität, Bildung, schöne Kleider und manchmal auch gesellschaftlichen Einfluss. Dafür musste sie sexuelle Belästigungen, Anekdoten und Projektionen als Konsequenzen eines freien Berufslebens außerhalb eines domestizierten Frauenlebens in Kauf nehmen, so das Resümee von Davies. Tracy C. Davis: Actresses as Working Women. Their social identity in Victorian Culture. London/New York: Routledge 1991, S. 84 sowie 99f. 53
Shannon Bell arbeitet anhand verschiedener theoretischer Schriften von der Antike bis zum französischen Feminismus der 1970/1980er Jahre den Umgang mit dem Hurenkörper als Konstruktion und Dekonstruktion von Weiblichkeit als Konfiguration der objektivierten Andersheit heraus. Abschließend geht sie auch auf den künstlerischen Umgang damit in der feministischen Performance-Kunst ein. Vgl. Shannon Bell: Reading, Writing and Rewriting the Prostitutive Body. Bloomington /Indianapolis: Indiana University Press 1994.
54
Evelyn Fertl untersucht in ihrem Buch Von Musen, Miminnen und leichten Mädchen (2005) die Sozialgeschichte der römisch-antiken Mimin, durch deren Auftritt im Stegreifspiel des Mimus es theaterhistorisch zum markanten Zusammenschluss von Theater und Prostitution kommt. So ist wiederholt in der Theatergeschichte die Frage gestellt worden: Waren diese Darstellerinnen im Mimus mimae (Miminnen) oder meretrix (Prostituierte)? Fertl zeigt auf, das sich anhand der vorhandenen Textquellen und archäologischen Funde nicht eindeutig klären lässt, ob die ersten Berufsschauspielerinnen ›tatsächlich‹ in ihrer ersten Profession Prostituierte waren. Dennoch hat diese Leerstelle immer wieder zu Polemiken, Spekulationen und verschiedensten Überlieferungen in einschlägigen Werken der Theatergeschichte geführt. Vgl. Evelyn Fertl: Von Musen, Miminnen und leichten Mädchen. Die Schauspielerin in der römischen Antike. Wien: Braumüller 2005.
55
Kirsten Pullen: Actresses and Whores. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 2005, S. 26. Kirsten Pullen verweigert eine historiographische Perspektive auf
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die Sexualisierung der Schauspielerin als Prostituierte einen diskursiven Überblendungseffekt in der Theaterwissenschaft und -geschichte erzeugt hat, durch welchen die Kategorie der Prostitution für das Theater als solches verdrängt und allein auf die Figuration der Schauspielerin als Prostituierte übertragen wird. Die permanente Rede über die Sexualität der Schauspielerin in theatergeschichtlichen Texten kritisiert auch Ruth B. Emde in ihrem Buch Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts: »Obwohl man das Stereotyp des liederlichen Lebenswandels auf die Schauspieler beiderlei Geschlechts anwandte, wurde von der Theatergeschichtsschreibung nie besondere Anstrengung dahingehend unternommen, nachzuweisen, daß die Männer auf dem Theater sich als Stricher, Beischläfer von Königinnen, Travestiekünstler oder Striptease-Tänzer betätigt haben sollten. Für Frauen gilt das Gegenteil: […] Schauspielerinnen wird eine noch exzessivere Sexualität nachgesagt als Prostituierten […]. Es gibt kaum eine Veröffentlichung neueren Datums über Schauspielerinnen, die nicht auf den Zusammenhang von Kultus, Theater, Prostitution und sexueller Ausbeutung hinweist.«56
Emde problematisiert aus einer feministischen Perspektive die reproduzierende Darstellung der Schauspielerin als Prostituierte. Die Ontologisierung ihres Geschlechts habe zu einer Unsichtbarkeit ihrer Arbeit und künstlerischen Leistung in der Historie geführt, während im Gegensatz dazu der männliche Darsteller stets als Künstler, jedoch nicht als ›Stricher‹ gesehen werde. Für die in dieser Arbeit zu untersuchenden Verhandlungen über das Theater zeigt Emdes Kritik, dass der Vorwurf der Prostitution in eine wiederholte Rede von Sexualität einge-
die Schauspielerin als Prostituierte, um dieser wiederholten Zitierung zu entgehen. Sie untersucht stattdessen, wie einzelne Schauspielerinnen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein das Stigma der Prostituierten nutzten, um daraus für ihre Karriere und Kreativität Profit zu schlagen. Aus einer feministischen Perspektive analysiert Pullen, wie die Schauspielerinnen Mae West, Betty Boutell, Charlotte Charke und Lydia Thompson mit der an sie herangetragene Zuschreibung der Prostituierten künstlerisch und biographisch umgingen. Der Vorwurf der Prostitution gründete auf ihrer offen gelebten Promiskuität, nicht auf einer überlieferten berufsmäßigen Ausübung. Pullen zeigt auf, wie die Schauspielerinnen die »Whore-Position«, das Sprechen aus der zugeschriebenen Position der Hure, zu einem Akt feministischer Handlungspraxis aufwerten. 56
Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften und ihr Publikum. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997, S. 31.
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bunden ist, durch die differente Geschlechterbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert und reproduziert werden. Eine Auseinandersetzung mit der Projektion der Prostitution in Bezug auf das Theater bedarf einer genderkritischen Perspektive. Wie die bisherigen feministischen Forschungsergebnisse und die Debatte um Löschs Lulu-Inszenierung mit Sexarbeiterinnen gezeigt haben, ist sowohl die Figuration der Schauspielerin als auch die der Sexarbeiterin mit einem Weiblichkeitsdiskurs verbunden, durch den sie als Andere konstruiert wird. Indem der männliche Schauspieler aus dem historischen Diskurs um Prostitution ausgegliedert wird, ist bereits markiert, dass die schauspielerische Arbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern auf einer Geschlechterdifferenz fußt, die damit zugleich unterschiedliche Modelle weiblicher und männlicher Künstlerschaft hervorbringt. Mit dem Ausschluss des männlichen Schauspielers aus dem historischen Prostitutionsdiskurs verlagern sich Fragen von Sexualität allein auf die Beziehung zwischen einer weiblichen Darstellerin und einem männlichen Zuschauer, welche hinsichtlich des Konzeptes von Heteronormativität des Begehrens kritisch zu betrachten ist. Denn historisch geht damit zugleich die Unsichtbarkeit der Schaulust von Zuschauerinnen einher. Die Projektion der Prostitution auf das Theater konstruiert dichotome Geschlechterverhältnisse von Theaterarbeiterinnen und Theaterarbeitern, Darstellerinnen und Darstellern sowie Zuschauerinnen und Zuschauern, die in dieser Arbeit unter einer gendertheoretische Perspektive analysiert werden. Genderperspektive Gender als Analysekategorie dient in dieser Arbeit, die sich im Kontext der Gender/Queer Studies57 verortet, dazu, gesellschaftliche und kulturelle Normen sowie Normalisierungsprozesse aufzudecken und zu verunsichern, beispielsweise um gegen die Differenzen und Identitätskategorien von ›Mann‹ und ›Frau‹ als
57
Nina Degele bezeichnet die Gender/Queer Studies als »paradigmatische Verunsicherungswissenschaften«. Diesen Begriff entlehnt sie der Soziologie, welche ein Produkt der Moderne ist und sich immer schon mit Modernisierungsprozessen beschäftigt hat. Die Moderne bedeutet eine Verunsicherung im Strukturwandel von Gesellschaft, von Arbeit, Alltagspraxis, Kultur und Politik, die sich auch auf die Beziehungen und Bilder der Geschlechter auswirkte. Vgl. Nina Degele: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn: W. Fink 2008, S. 12f.
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Resultate der ›Natur‹ vorzugehen und das heteronormative Geschlechtermodell zu hinterfragen. Wenn im Folgenden von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ die Rede ist, so sind diese Begriffe kontextgebunden und als Effekte sozialer und kultureller Inszenierungspraktiken zu verstehen. Geschlecht ist nicht als ein biologisches Schicksal zu betrachten, sondern als ein historisch bedingter kultureller Prozess. Damit stützt sich diese Arbeit auf Judith Butler und ihr viel diskutiertes Buch Gender Trouble (dt. 1991)58, welches schnell zum poststrukturalistischen und konstruktivistischen Kernkonzept der Gendertheorie avancierte. Darin weist Butler darauf hin, dass es keinen ahistorischen, vordiskursiven Zustand von Geschlecht gibt und deshalb eine heuristische Trennung von Sex und Gender, wie sie in den 1980er Jahren als Sex-Gender-Relation eingeführt wurde, nicht möglich ist. Diese reproduziere vielmehr den Antagonismus von biologischer Materialität und kultureller Produktion.59 Stattdessen hat sie mit ihrer Performativitätstheorie von Geschlecht deutlich gemacht, dass Sex (biologisches Geschlecht), Gender (Geschlechtsidentität) und Desire (Begehren) Effekte kultureller Inszenierungen sind, die performativ hervorgebracht werden und in ihrer kohärenten Bezogenheit aufeinander eine heterosexuelle Matrix absichern. Da Geschlechtsidentitäten durch wiederholte performative Akte bestätigt werden müssen, ist ihnen das subversive Potential der Umschreibung inhärent. Butlers Gendertheorie hat damit auch den Blick für die Vielfältigkeit von Sexualitäten und Begehrenspositionen jenseits der Heteronormativität geöffnet. Damit hat Butler konsequent die von dem Poststrukturalisten Michel Foucault bereits in den 1970er Jahren vorgebrachten Überlegungen zur Produktion und Historizität von Sexualität fortgeführt. Der Wille zum Wissen und das Sprechen über Sexualität Michel Foucault geht in seiner Diskursgeschichte der Sexualität Der Wille zum Wissen davon aus, dass es einen permanenten Anreiz zum Wissen über Sexualität gibt, der aus der christlichen Geständniskultur entstanden ist und der im 19. Jahrhundert mit der Analyse durch die Sexualwissenschaften und der Psychoana-
58
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.
59
Vgl. ebd., S. 24f.
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lyse neue Gesprächsformen entwickelt hat.60 Die Kategorisierung und die Reglementierung aller möglichen Praktiken der Sexualität »für ein großes Archiv der Lüste des Sexes«61 zur wissenschaftlichen Erfüllung einer scientia sexualis bringen diese Lüste zugleich hervor und entfachen neue. Der Sexualitätsdiskurs ist, laut Foucault, an »wissensproduzierende[…], diskursvermehrende[…], lusterregende[…] und machterzeugende[…] Mechanismen«62 gekoppelt. Sexualität stellt somit als Diskurs und Gegenstand des Wissens kein ahistorisches Phänomen dar, sondern verfestigt sich seit den 1840er Jahren zu einem alle Lebensbereiche durchdringenden Sexualitätsdispositiv, das bis in unsere Gegenwart seine machtpolitischen Wirkungen entfaltet und für eine beständige Zirkulation des Sexualitätsdiskurses sorgt. »Sexualität ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann. Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und die Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.«63
Mit dem Bewusstsein des Subjekts, dass es einen (sexualisierten) Körper hat, den es schützen und pflegen muss64, entsteht das, was wir heute Sexualität nennen. Und das fortwährende Sprechen über den Sex hat, Foucault zufolge, einen enormen Anteil an der Entstehung des Sexualitätsdispositivs, und gerade nicht die Zensur und Tabuisierung des Sex. »Eher hat man einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionieren und zu wirksamen Momenten einer Ökonomie zu werden.«65 Indem Foucault Sexualität als ein Dispositiv benennt, macht er deutlich, dass der Sex nicht einfach nur ein sexuelles Vergnügen oder ein Akt der Fortpflanzung, sondern Teil eines Machtgefüges ist. An diesem Dis-
60
Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1977.
61
Ebd., S. 67.
62
Ebd., S. 76.
63
Ebd., S. 105.
64
Vgl. ebd., S. 121.
65
Ebd., S. 29.
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positiv wirken im Positiven wie Negativen unterschiedliche Kräfteverhältnisse, Diskurse, Institutionen, Subjekte und Ökonomien mit. Vier zentrale Diskurse macht Foucault für das Sexualitätsdispositiv aus, die entscheidenden Anteil an seiner Wirksamkeit haben: Die »Hysterisierung des weiblichen Körpers«, die »Pädagogisierung des kindliches Sexes«, die »Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens«, welche als staatlich unterstützte Politik des heterosexuellen Paares und der Kleinfamilie den Kern des Sexualitätsdispositivs darstellt, und die »Psychatrisierung der perversen Lust«66, welche zu mannigfaltigen Klassifikationen als ›abnorm‹ diskriminierter sexueller Praktiken und Identitäten führt, zu der auch Prostitution und Prostituierte gezählt werden. Sexualität wird damit zum Gegenstand einer Vielzahl von Diskursen, welche die einzelnen Wissensdisziplinen durchdringen: Pädagogik, Medizin, Sexualwissenschaft, Kriminalwissenschaft und Politik. Sie alle machen sich ein Bild vom Geschlecht, der Sexualität und ihren ›devianten‹ Verhaltensweisen, sie suchen im Sex nach der Wahrheit des Subjektes und seiner Identität. Und das Subjekt antizipiert die ›Wahrheitssuche‹ als Selbstsorge um sich, seinen Sex und seinen Körper. Es ist der Durchschlag der Diskurse auf den Körper des Subjekts und seiner Reflexion. Foucaults diskursanalytisches Denken über Sexualität und Macht ist für diese Arbeit in folgender Weise von Relevanz: Foucault legt mit dem Sexualitätsdiskurs offen, dass Geschlecht stets Teil kultureller und wissenschaftlicher Konstruktionsprozesse ist, welche Realitätseffekte haben. Beispielsweise errichtet das wiederholte Sprechen über das historisch propagierte Bild der Schauspielerin als Prostituierte Rezeptionskategorien in Bezug auf Theaterfrauen, die bis heute wirkmächtig sind. Theater und Prostitution sind als Gegenstände des Wissens nicht von Machttechniken zu trennen. Macht materialisiert sich im Prostitutionsdiskurs um das Theater etwa in der Autorität einer Sprecherposition und in ihren Begrifflichkeiten oder als Resultat von Praktiken und Verträgen, die wiederum an Ökonomien gebunden sind. Doch nicht nur hinsichtlich der Organisationsund Produktionsstruktur sowie der Geschlechterhierarchien in den Beschäftigungsverhältnissen weist das Theater inhärente Machttechniken auf. Theater hat auch Anteil an dem Fortwirken des Sexualitätsdispositivs durch die Auswahl von Themen und Texten für Inszenierungen und deren Darstellungen, die auf der Bühne stets Sexualitätsdiskurse mitverhandeln. Gerade im Theater als Ort des Zeigens und Verhüllens findet die Idee der Sexualität als Geheimnis, das es zu
66
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, S. 103. Herv. i. O.
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entdecken gilt, einen wirksamen Diskursboden und kunstfertige Darstellungen davon. Insofern ist der Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater stets in einer Doppelbödigkeit von Ausschluss und Faszination im Rahmen einer Geständniskultur der Sexualität zu betrachten. Das Gesagte ist dabei nicht eins zu eins Ausdruck einer machtvollen Position, gelegentlich vielmehr einer Ohnmacht − manches Machtverhältnis erzählt sich gerade durch seine Abwesenheit, durch ein Tabu. Dies ist es, worauf das diskursanalytische Denken Foucaults gerichtet ist: Gesagtes und Ungesagtes gleichermaßen als Teil eines Diskurses zu verstehen. Zugleich gilt es, die Mechanismen von Wissen, Diskursvermehrung, Lust und Macht zu untersuchen, die hinter der Projektion und Rede von der Prostitution in Bezug auf das Theater zum Vorschein treten. Methodisch liegt es für das gewählte Forschungsthema auf der Hand, sich dieses mittels einer Diskursanalyse zu erschließen, wie sie Foucault in seinen Werken Die Ordnung der Dinge und Archäologie des Wissens dargelegt hat.67
F ORSCHUNGSPROGRAMM Neben der Methodik der Diskursanalyse ist vor allem Foucaults Historisierung von Sexualität für die Analyse des Theater-Prostitutions-Diskurses von zentraler Bedeutung, denn dieser kann nicht unabhängig von seinen zeitgeschichtlichen Bedingungen gelesen werden. Mit der historisch bedingten Entwicklung des Sexualitätsdispositivs gehen auch in Bezug auf das Theater ein Anschwellen und eine Blütezeit des Prostitutionsdiskurses einher. Zwar verläuft die Zuschreibung der Prostitution durch die gesamte Theatergeschichte – »Seit den Kirchenvätern sieht der theaterfeindliche Diskurs einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Prostitution und Theater«68, konstatiert der Theaterwissenschaftler Christopher Wild –, jedoch ordnet sich diese bis zum 19. Jahrhundert anderen, historisch dominanteren Diskursen wie dem wirkungstheoretischen Ansteckungsdiskurs zum Medium Theater in theaterfeindlichen Schriften69 von Tertullian, Reiser bis
67
Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer 1991.
68
Vgl. Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters, S. 189.
69
Von Prostitution ist dabei nur in Bezug auf Zurschaustellung von Frauen explizit die
Sowie: Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973.
Rede. Es dominieren die Vorstellung und das Vokabular vom Theater als ›Sündenschule‹. Vgl. Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele. Anton Reiser: Theatroma-
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Rousseau oder als Vexierbild dem Tugendhaftigkeits- und Natürlichkeitsdiskurs um die Schauspielerin im 18. Jahrhundert unter.70 Zu einem expliziten, dominanten und populären Diskurs, der in einer Vielfalt von Schriften und Artefakten zu finden ist, wird der Prostitutionsdiskurs erst um 1900. Er stellt eine Reaktion dar: Die virulenten Diskurse um Sexualität fallen im Theater zusammen mit einer historisch bedingten ökonomischen Neustrukturierung durch die Gewerbefreiheit um 1869. Diese Freiheit der Theatergründung bringt eine Entwicklung zum Geschäftstheater mit sich, die von Zeitgenossen über den Prostitutionsdiskurs als Verlust von Kunstwerten und als Anstieg sexueller Schauwerte im Theater problematisiert wird. Die Überlagerung des Sexualitätsdispositivs mit der Entwicklung des Theaters zum ökonomischen Unternehmen bringt einen »historischen Notstand«71 für das Theater und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervor. Durch den Prostitutionsdiskurs soll dem Einfluss von Ökonomie und verkauftem Begehren auf das Theater als Institution und Kunstform Einhalt geboten werden. Die der Aufführungssituation inhärente doppelte Struktur als eine ästhetische und ökonomische Situation wird nun problematisch. Prostitution ruft die Kehrseite der Schauanordnung des Theaters hervor, in der die schauspielerische Arbeit, der Privatkörper und die institutionellen Ökonomien als körperliche Verkaufs- und Konsumsituation in den Blick geraten. Das Theater in seiner Doppelbedingtheit von Kunst und Käuflichkeit setzt Aushandlungsprozesse über Sexualität, Begehren und Ökonomie frei, welche die Arbeit am Theater genauso betreffen wie Aufführungen und deren Ästhetik. Im Dispositiv des Theaters geht es damit um diese immer wieder neu zu fassende diskursive und praktische Formierung und Anordnung der Beziehung von Darstellenden, Zuschauenden und Theatersituation.
nia, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen Schau-Spielen. JeanJacques Rousseau: »Brief an d’Alembert über das Schauspiel«, S. 333-474. 70
Zur Prostitution und der Hure als Vexierbild einer tugendhaften, natürlichen Darstellung siehe folgende Monographien: Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Sowie: Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt: Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. [u.a.]: Stroemfeld 2000.
71
Michel Foucault: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 120.
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Das Dispositiv des Theaters Der Begriff des Dispositivs kann die verschiedenen Ebenen des Prostitutionsdiskurses fassen. Foucault hat den Dispositivbegriff, ausgehend vom Sexualitätsdispositiv, erstmals theoretisch entworfen und in dem Interview »Ein Spiel um die Psychoanalyse« weitergedacht. Das Dispositiv versteht Foucault als ein »entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das 72
Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.«
Das Problem an Foucaults Begriff ist, dass er sich stets auf gesellschaftliche Phänomene wie Sexualität, Sicherheit, Macht oder Gefängnis bezieht, jedoch nicht auf ästhetische Phänomene. In der aktuellen Forschung zeigen sich sowohl ein Trend zur Dispositivanalyse73 als auch eine Suchbewegung nach einer Übertragung des Dispositivbegriffs auf das ästhetische Phänomen des Theaters74 − für
72
Michel Foucault: »Ein Spiel um die Psychoanalyse«, in: Ders: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 118-175, hier S. 119f.
73
Vgl. Andrea Bührmann/Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv – eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript 2008.
74
Vgl. André Eiermann: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste. Bielefeld: transcript 2009. Gerald Siegmund: »›UnFug‹: Gespenster und das Wahrnehmungsdispositiv des Theaters«, in: Ders./Petra Bolte-Picker (Hg.): Subjekt : Theater. Beiträge zur analytischen Theatralität. Festschrift für Helga Finter zum 65. Geburtstag. Frankfurt. a. M. [u.a.]: Peter Lang 2011, S. 31-45. Siegmund und Eiermann stellen ein Wahrnehmungsdispositiv des Theaters heraus, welches an die Produktion von Alterität gebunden ist. Es impliziert das performative So-Sein von Subjekten und Objekt bereits als ein Anders-Sein, das sich einer vollständigen Erfassung durch den Zuschauer entzieht. Deshalb beschreibt Siegmund das Wahrnehmungsdispositiv des Theaters folgendermaßen: »Wir sind im Theater also nie nur zu zweit (der Schauspieler und ich), sondern immer schon zu dritt (der Schauspieler, ich und das Theater).« Ebd., S. 40. Der Begriff des Wahrnehmungsdispositivs ist für eine Aufführungsanalyse sinnvoll, fasst jedoch nicht die
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den Film trifft dies schon längst zu.75 Jens Badura definiert ästhetische Dispositive im Anschluss an Foucault als »Wirklichkeitskonstellationen, die ästhetische Weltverhältnisse möglich machen – und dieses ›möglich machen‹ kann auf zwei Ebenen gedacht werden: als Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Weltverhältnisse sowie als Inszenierungszusammenhang zur gezielten Provokation ästhetischer Welterschließung […].«76
Als Paradebeispiel für diesen Inszenierungszusammenhang fungiert in Baduras Überlegungen die Theaterbühne. Das Problematische an Baduras Begriff des ästhetischen Dispositivs77 ist, dass Experiment, Erfahrung und Übung zu Leitbegriffen des ästhetischen Dispositivs werden, dabei aber Fragestellungen sozialer und ökonomischer Zusammenhänge sowie seine historische Bedingtheit ausgegliedert werden. Mitzudenken wäre für die Konstitution ästhetischer Dispositive auch, wie historische Konflikte auf die Formationen von Macht und Wissen in Inszenierungszusammenhängen von Artefakten und Subjektkonstitutionen einwirken. Der Begriff des Dispositivs dient in dieser Arbeit dazu, das Theater als einen Apparat zu fassen, in dem strategische Operationen durchgeführt werden, die produzierend und reglementierend auf Sexualität und Ökonomie im Theater einwirken, sei es durch die Formation von Subjekten und Ästhetik oder durch Ausschluss von Körpern und Begehren. Diesen Produktions- und Regulierungsprozess im Dispositiv des Theaters bezeichne ich als eine Ökonomie des Begehrens, die zugleich auf eine Gemeinsamkeit von Theater und Prostitution sowie auf deren Wechselwirkung zueinander verweist. Dabei zeigt sich das Dispositiv des Theaters gerade in seiner Doppelbedingtheit von Kunst und gesellschaftli-
historischen, sozialen und ökonomischen Produktionsbedingungen des Theaters und seine verschiedenen Diskursebenen. 75
Vgl. Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Claus Pias et. al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. München: DVA 2008, S. 381-404.
76
Jens Badura: »Ästhetische Dispositive?«, in: Critica – Zeitschrift für Philosophie
77
Vgl. hierzu auch die Tagung »Ästhetische Dispositive« an der ZHDK, die vom
und Kunsttheorie Band III/2011, S. 2-14, hier S. 5. 09.11. bis zum 12.11.2011 stattfand. Zudem wurde der Begriff des Dispositivs hinsichtlich der Wahrnehmung und Subjektivität des Zuschauers im Rahmen der Aufführung herausgearbeitet.
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cher Realität, da sich durch dessen Medialität die Darstellenden wie die Zuschauenden stets in diesem Spannungsverhältnis begegnen. Die Zuschreibung der Prostitution setzt vor dem historischen Hintergrund von Gewerbefreiheit und Sexualitätsdispositiv Reflexionsprozesse über Theater als erotisch-ökonomisches Tauschverhältnis und der damit verbundenen Produktion und Zirkulation von Begehren in der Aufführungssituation frei und reglementiert diese. Damit ist zugleich das Forschungsprogramm dieser Arbeit beschrieben, welches folgenden Fragen nachgeht: Welche ästhetischen, ökonomischen, sozialen und sexuellen Verhandlungen über das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Akteuren bringt die Projektion der Prostitution zum Vorschein? Wie lässt sich die Zirkulation einer Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters genauer fassen? Zirkulation sexueller Energien in Texten und Artefakten Im Fokus der Analyse stehen Texte und Aufführungen um 1900 und in der Gegenwart, welche die Projektion der Prostitution auf das Theater explizit machen und als sexuell-ökonomisches Tauschverhältnis reflektieren. Im Sinne eines erweiterten Quellenbegriffs des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt untersuche ich unterschiedliche Textgattungen, wie Roman, populärwissenschaftliche Studie oder Essay, und Artefakte, etwa Zeichnungen, Fotos oder Performances, zwischen denen eine »kulturelle[…] Zirkulation sozialer Energie«78 herrscht. Greenblatt begreift diese Zirkulation als sich gegenseitig stimulierende und bedingende Tauschprozesse. »Wenn es keine ausdrückliche Essenz gibt, die im ästhetischen Objekt lokalisiert werden könnte und dieses wiederum jenseits aller Deutung, vollständig sich selbst genügt und sich weder übersetzen noch ersetzen lässt – kurz wenn es keine Mimesis ohne Austausch gibt − dann müssen wir uns die Mühe machen und die komplexe, dynamische Zirkulation von Lüsten, Ängsten und Interessen genauer analysieren. […] Mit anderen Worten, Kunst wird nicht einfach von sich aus in den Kulturen vorhanden; sie wird zusammen mit den anderen Erzeugnissen, Praktiken und Diskursen einer gegebenen Kultur geschaffen.«79
78
Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach 1988, S. 18.
79
Ebd., S. 17.
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Somit speichern die Texte und Artefakte selbst eine soziale und mitunter gar sexuelle Energie. Die Theaterhistorikerin Ruth B. Emde hat die von mir untersuchten Texte um 1900 als »geschwätzig, frivol, wissenschaftlich wertlos«80 beschrieben. Durch die Projektion der Prostitution werden anhand dieser Texte das Begehren der Diskursproduzenten, ihre Vorstellungsbilder von Theater, die Schaulust des Publikums und die Erotik der Schauspielerin sichtbar. Diese Topoi erweisen sich für einen aufklärerisch-historiographischen Blick auf das Theater als problematisch. Ihre Untersuchung bedeutet, in ein Feld vorzudringen, in dem zwischen sexueller Projektion und Realität am Theater nicht mehr genau unterschieden werden kann. Doch aufgrund ihrer sexuellen Energie können diese Texte, die allesamt von Zuschauern verfasst worden sind, Einblick geben in das Begehren des Zuschauers, das in der Theaterwissenschaft bisher genauso im Dunkeln geblieben ist, wie man in der Prostitutionsforschung nur wenig über die Sexualität von Freiern weiß.81 Die Erfahrung von Erotik und sexuellem Begehren im Wahrnehmungsprozess einer Aufführung82 wird von Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftlern kleingeschrieben, weil sie methodische Probleme aufwirft. Sie birgt einerseits das Problem der Versprachlichung: Wie beschreibe ich mein Begehren? Hat meine leibliche Erfahrung von Lust überhaupt etwas in einer Analyse zu suchen? Oder kann daraus mehr über die Wirkungs- und Inszenierungsweise einer Aufführung sowie die Rezeption von Geschlechterbildern herausgefunden werden? Andererseits tritt damit auch die Subjektivität der Theaterforschenden in den Blick, und nicht nur diese, sondern auch das Wissen darum, dass Theaterwissenschaftler und Theaterwissenschaftlerinnen nicht bloß intellektuelle Sätze schreiben, sondern selbst einen Körper haben.83 Dies ist eine mögliche Er-
80
Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre
81
Vgl. Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Ei-
82
Vgl. hierzu Clemens Risi: »Hören und Gehört werden als körperlicher Akt. Zur
Schriften und ihr Publikum, S. 33. ne soziologische Studie. Bielefeld: transcript 2012. feedback-Schleife in der Oper und der Erotik der Sängerstimme«, in: Erika FischerLichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 98-111. 83
Auf diese Problematik verweist auch Jens Roselt: »Geisteswissenschaftler […] haben eigentlich gar keine Körper. Mag sich der reale Körper am Schreibtisch auch noch so krümmen und verbiegen, die Gedanken gehen immer geradeaus. Am besten
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klärung dafür, warum die sexuelle Dimension als mögliche Erfahrungskomponente des Zuschauers und der Zuschauerin in der Theaterwissenschaft nur als Randthema behandelt wird.84 Diese Arbeit kann mit der Zuschreibung der Prostitution die Leerstelle des Begehrens aufdecken und gibt mir als Theaterwissenschaftlerin die Chance, nicht zwangsläufig über mein eigenes Begehren, sondern das der anderen zu schreiben und dieses strukturell betrachten zu können.85 Aufbau der Arbeit Prostitution begreife ich als eine Wissenskategorie, die Auskunft gibt über eine virulente, zirkulierende und reglementierende Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters. In meiner Arbeit werde ich diskursanalytisch auf vier Ebenen untersuchen, was die Projektion der Prostitution über die mediale Disposition des Theaters (Kapitel 2), die historische Bedingtheit des Prostitutionsdiskurses (Kapitel 3), die schauspielerische Arbeit als Prostitution (Kapitel 4) sowie
ist, man kommt im eigenen Text gar nicht vor.« Roselt zeigt auf, dass eine solche Haltung mit der eines Theaterwissenschaftlers nur schlecht zusammengeht, weil Theater als Ereignis der Wahrnehmung auch einen reflektierten und sensiblen Umgang damit erfordere und nicht allein auf ein semiotisches Verstehen reduziert werden könne. Jens Roselt: »Aufführungsparalyse«, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne. Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen: Francke 2003, S. 145-153, hier S. 145. 84
Theaterwissenschaftler und Theaterwissenschaftlerinnen zeigen sich eher als Spezialisten für die Diskurse um Tugendhaftigkeit, Scham und Peinlichkeit, in welche die sexuelle Dimension als Negativ eingeht. Vgl. exemplarisch: Jens Roselt: »Die Würde des Menschen ist antastbar – Der kreative Umgang mit der Scham«, in: Carl Hegemann (Hg.): Erniedrigung geniessen. Kapitalismus und Depression III. Berlin: Alexander 2001, S. 47-59.
85
Es ist darüber nachzudenken, wie sehr eine Forschungsfrage bereits ein Begehren des Wissenwollens der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers zum Vorschein bringt. Für eine kritische Genderwissenschaft wäre es durchaus sinnvoll, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch ihr eigenes Begehren, welches sie an ihren Gegenstand herantragen, mitreflektierten, ohne dass dadurch die Qualität der Arbeit in Frage gestellt würde. Versuche dieser Art, die sich als wissenschafts- und machtkritisch verstehen, finden vor allem im Rahmen der Queer Theory statt. Vgl. hierzu Franziska Bergmann (Hg.): Queere (T)ex(t)perimente. Freiburg: fwf 2008.
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über die Aufführungssituation zwischen Zuschauenden und Darstellenden (Kapitel 5) aussagt. Das zweite Kapitel konzipiert eine »Ökonomie des Begehrens« als Parallele von Theater und Prostitution aufgrund ihrer medialen und diskursiven Formation. Das Kapitel dient als theoretische Grundlegung und Einführung in die Diskurse, welche die Zuschreibung der Prostitution an das Theater bedingen und das Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden formieren. Im dritten Kapitel blicke ich aus einer historiographischen Perspektive auf den Prostitutionsdiskurs um 1900. Diesen weise ich als historischen Marker aus, dessen Motive und Figurationen von Schauspielerinnen als Prostituierten, Zuschauern als Voyeuren und dem Theater als Bordell in entscheidender Weise ein Konfliktfeld des Theaters zwischen Kunstproduktion, Kommerz und Begehren produziert und geprägt haben. Das vierte Kapitel zeigt in einem Exkurs anhand dreier programmatischer Texte von Karl Marx, Bertolt Brecht und Jerzy Grotowski, wie diese auf den historischen Befund des 19. Jahrhunderts über die Käuflichkeit des Schauspielers reagieren und eine soziale, künstlerische Neuverortung schauspielerischer Arbeit vornehmen, die zwischen »Angestellten«86 und »Huren-Schauspielern«87 differenziert. Das letzte Kapitel stellt einen Ausblick dar, indem es die Auswirkungen des Prostitutionsdiskurses auf das Theater der Gegenwart anhand der Performance Trust! (1998) des Performance-Kollektivs She She Pop sowie der TanzPerformance Art Gigolo (2003) von Jochen Roller untersucht. In diesen Arbeiten bezeichnen sich die Performerinnen von She She Pop sowie Jochen Roller selbst als »Prostituierte« bzw. »Gigolo« und reflektieren ihr ökonomisches, machtpolitisches und sexuelles Tauschverhältnis mit dem Publikum. Das Interesse dieser Arbeit ist es, die Projektion der Prostitution als diskursive Verhandlung über das Theater als Institution, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, seine Kunstform, seine Ökonomie und Rezeption unter gendertheoretischer Perspektive zu betrachten. Hierbei geht es nicht darum, eine Geschichte der Theaterprostitution zu rekonstruieren, sondern darum, diskurskritisch jenem Zwiespalt auf die Spur zu kommen, welcher die metaphorische Rede über Prosti-
86
Vgl. Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Werkausgabe.
87
Vgl. Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, in: Ders.: Für ein Armes
Band 23. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verlag 1988, S. 53. Theater. Mit einem Vorwort von Peter Brook. Berlin: Alexander 1994, S. 27-58, hier S. 36.
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tution in Bezug auf das Theater erzeugt. Außerhalb der feministischen Diskussion um die Schauspielerin als Prostituierte und einer historischen Sittlichkeitsgeschichte des Schauspielerberufs stellt die Diskussion um Theater und Prostitution ein theaterwissenschaftliches Desiderat dar. Sich mit dem Diskurs der Prostitution zu befassen, bedeutet, zwei zentralen Tabuthemen des Theaters zu Leibe zu rücken: der Ökonomie und dem sexuellen Begehren. Theater und Prostitution haben gemeinsam, dass in dem Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden, beziehungsweise Freiern und Prostituierten, eine Ökonomie des Begehrens zirkuliert, die im Folgenden als Verklammerung der beiden Felder im Fokus der Betrachtung steht.
2 Zur Ökonomie des Begehrens von Theater und Prostitution
Das von mir gewählte Thema ist in mehrfacher Hinsicht für eine wissenschaftliche Analyse heikel.1 Es setzt zwei Phänomene zueinander in Bezug, die flüchtig sind: Theater und Prostitution. Wohl sind sie an jeweils spezifische Räume, Figurationen, Handlungspraxen und Ökonomien gebunden, aber das, was beide stiften, ist: Begehren. Doch dieses Begehren bleibt in der Regel privat und entzieht sich seiner Versprachlichung. Bis heute ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem sozialen Phänomen der Prostitution ein »gefährliches« und »problematisches« Thema2, unter dem verschiedene Wissensbereiche wie Geschlechterverhältnisse, Macht, Geld, Gewalt, Gesetze und Medizin zusammenkommen. Es fordert stets zu ethischen Fragen und Bewertungen auf, die äußerst fragil sind. Während Zwangsprostitution, Menschenhandel und Gewalt gegen Prostituierte per se einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellen, ist aber auch der Status der freiwillig
1
Martina Löw und Renate Ruhne gehen davon aus, dass Prostitution als das ›Andere‹ markiert wird. Sie beschreiben, wie die bürgerliche Kultur Prostitution ausgliedert: »Nach wie vor gilt Prostitution als heikel, unanständig und (jugend-)gefährdend. Sie wird isoliert, ausgegrenzt und in Städten an spezifische Orte verbannt. Schon ein Buch, eine Interview-Erzählung oder ein wissenschaftlicher Vortrag über Prostitution wird als unangemessen, abstoßend und potenziell verunreinigend für bisher prostitutionsfreie Kontexte wahrgenommen.« Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 9.
2
Božena Chołui/Ute Gerhard/Regina Schulte: »Editorial«, in: Dies. (Hg.): Prostitution, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Heft 1/2010. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010, S. 7-10, hier S. 7.
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ausgeübten und legalisierten Sexarbeit bis heute aus ethischen und feministischen Perspektiven ein unabgeschlossenes Thema. Die Debatte radikalisiert sich nach wie vor in Pro und Kontra der Legalisierung von Prostitution.3 In dieser Arbeit geht es nicht um eine Analyse des äußerst heterogenen sozialen Feldes der Prostitution. Und doch durchkreuzt die ›reale‹ Prostitution die historischen Diskurse über das Theater und die Schauspielerin. Sozialhistorisch ist überliefert, dass Schauspielerinnen aufgrund der prekären ökonomischen Verhältnisse am Theater durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder teils freiwillig, teils unter Zwang Geld durch Sexarbeit verdient haben.4 Betrachtet man jedoch die historischen Dokumente genauer, in denen auf die Sexarbeit von Schauspielerinnen verwiesen wird, so zeigt sich, dass diese Aussagen doppelbödig formuliert sind: Sie nehmen Kritik an den realen sozioökonomischen Ver-
3
Die ZDF-Talkshow »Menschen bei Maischberger« zog am 13.03.2012 Bilanz zu dem vor zehn Jahren geänderten Prostitutionsgesetz, im Zuge dessen rechtlich die Sittenwidrigkeit von Sexarbeit aufgelöst und Prostitution als Beruf anerkannt wurde. Die Riege der Rederinnen und Redner bei Maischberger brachte alle Topoi des Prostitutionsdiskurses in der Gesellschaft zur Anschauung: Die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer stellte ihre seit Jahren fixierte Kontraposition vor: Prostitution müsse verboten werden. Sie fördere den Menschenhandel und bedeute per se Gewalt. Dies beschränke das Bild von Frauen im Blick der Männer in der Öffentlichkeit auf eine zu erwerbende Ware. Eine Sexarbeiterin wiederum markierte ihre selbstbestimmte Position: Sie ginge dieser Dienstleistung freiwillig nach, bestimme die Regeln über sich und ihren Körper stets selbst und sei bisher nie Opfer sexueller Gewalt geworden. Als großer Profiteur im ökonomischen Sinne wurde ein Stuttgarter Großbordellbetreiber inszeniert. Und der zweite Mann in der Runde, ein Abgeordneter der Grünen, der an der Durchsetzung des Gesetzes beteiligt gewesen war, versuchte mehrfach darauf hinzuweisen, dass es nicht nur um heterosexuelle Sexarbeit ginge, konnte aber nichts daran ändern, dass in der Talkrunde stets von Männern als Freiern und Zuhältern und von Frauen als Prostituierten geredet wurde. Als diskursive Neuheit wurde die Stimme einer Ehefrau eingeführt, deren Mann sich bei ihr als Freier geoutet hatte und die nun eine Bestrafung von Freiern forderte, wie sie das schwedische Prostitutionsgesetz vorsieht. Diese Sendung ist nur ein Beleg für eine noch immer virulente Debatte um die Frage: Wie geht eine Gesellschaft mit Prostitution um?
4
Vgl. Renate Möhrmann: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 2000, S. 929. Vgl. Regina Schulte: Sperrbezirke, S. 105f.
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hältnissen am Theater und verzahnen sich zugleich mit einer metaphorischen Rede über das Theater als »Bordell« und Schauspielerinnen als »Huren«. In der metaphorischen Rede wird das Vokabular aus dem Arbeitsfeld der Prostitution aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang gerissen und auf die Institution und Kunstform des Theaters übertragen. Zwischen Signifikant (Prostitution, Hure, Bordell) und Signifikat (Theater, Schauspielerinnen) wird eine Beziehung der Ähnlichkeit konstruiert: Die Wörter ›Prostitution‹, ›Hure‹ oder ›Bordell‹ werden von Diskursproduzenten als Metaphern für das Theater benutzt, um die spezifische Ästhetik und Ökonomie der darstellenden Kunst kritisch zu verhandeln. Damit wird eine methodische Schwierigkeit dieser Arbeit sichtbar: Zwischen sozialer Realität der Sexarbeit von Schauspielerinnen und ästhetischem Diskurs über die metaphorische Rede der Prostitution in Bezug auf das Theater verläuft keine trennscharfe Diskurslinie. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, den Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater als Phantasma zu fassen, welches die Dichotomien von sozialer Realität und Kunst, Darstellenden und Publikum, Intimität und Öffentlichkeit zum Kollabieren bringt. Damit einher geht die den Diskurs durchziehende Angst vor einer Verwechslung und Sinnestäuschung, dass sich die Kunstform des Theaters als Prostitution entpuppen könne. Wissenschaftstheoretisch begebe ich mich damit auf ein unsicheres Terrain, mit dem Ziel, der kollektiven Projektion des Theaters als Prostitution, in welcher Ökonomien des Begehrens ausgehandelt werden, auf die Spur zu kommen. Projektion bezeichnet in der Psychologie und Psychoanalyse einen Abwehrmechanismus, in dem unerwünschte Begierden und Wünsche einem anderen zugeschrieben werden.5 In diesem Sinne wird Prostitution im Diskurs um das Theater zu einem Signifikanten für das nicht erwünschte Begehren, welches im performativen Raum des Theaters zwischen Darstellenden und Zuschauenden sowie in der Arbeit am Theater zirkuliert. Diese Verdrängungsleistung verstehe ich jedoch nicht negativ, sondern produktiv: als Hervorbringen von Vorstellungsbildern. Diese metaphorische Rede und Projektion der Prostitution in Bezug auf Ästhetik, Institution und Figurationen des Theaters bezeichne ich als Das Theater der Prostitution. Damit wird der Prostitutionsdiskurs als eine generelle Diskussion über die ästhetische Verfasstheit des Theaters und Inszenierung einer Metapher ausgewiesen und von der beruflichen Ausübung von ›realer‹ Prostitu-
5
Vgl. Dylan Evans: Lemma »Projektion«, in: Ders.: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant 2002, S. 240f.
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tion abgegrenzt, die zur Sozialgeschichte von Schauspielerinnen und ihren prekären Arbeitsbedingungen gehört. Das folgende Kapitel widmet sich der Metapher der Prostitution als Narrativ über das Medium des Theaters. Über die Projektion der Prostitution eröffnet sich ein Diskursraum, der von »Verhandlungen im Zwielicht«6 berichtet: von dem im Theater virulenten Begehren, seinen Ökonomien und Tabus.
W IE T HEATER UND P ROSTITUTION IHREN ANFANG NEHMEN Der etymologischen Bedeutung des Begriffs »prostituieren«, der sich vom lateinischen Wort »pro-stituere« ableitet, ist die Praxis des Theaters bereits eingeschrieben: Er wird übersetzt mit »vorn (d.h. vor aller Augen öffentlich) hinstellen, seinen Körper öffentlich zur Unzucht anbieten«7 oder auch »zur Schau stellen«8, »öffentlich preisgeben« und »bloßstellen«9. Der etymologische Ursprung des Wortes Prostituieren verweist darauf, dass Prostitution mit Mitteln theatraler Praxis arbeitet. Zugleich führt die etymologische Bedeutung vor Augen, dass sexuelles Begehren durch Schaustellung geweckt werden sollte. Diese ›Verkaufsstrategie‹ ist auf den Athener Gesetzesgeber Solon (ca. 630-560 v. Chr.) zurückzuführen, der Prostitution aus den heiligen Tempeln in ein kommerzielles Geschäft überführte.10 Vor dem Bordell stellte er Prostituierte11 mit den folgenden
6
Einen sehr guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Prostitutionsforschung bietet der Sammelband: Sabine Grenz/Martin Lücke (Hg.): Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld: transcript 2006.
7
Lemma »prostituieren«, in: Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Günther Drosdowski. Duden Band 7. Mannheim: Brockhaus 1989, S. 554.
8
Wikipedia-Eintrag zu »Prostitution«: siehe Link 04.
9
Lemma »Prostituieren«, in: Duden. Das Fremdwörterbuch. Duden Band 5. Mannheim: Brockhaus 2001, S. 816.
10
Vgl. zu Solon und seiner ersten Bordellorganisation: Iwan Bloch: Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Die Prostitution. Band 1. Berlin: Louis Marcus Verlagsbuchhandlung 1912, S. 211-217.
11
Iwan Bloch, der als einer der ersten Prostitutionsforscher gilt, führt das Wort Prostituierte ebenfalls auf die Zeit Solons zurück: »Auch das Wort ›Prostituierte‹, das man
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Worten aus: »gemeinsam allen zu ihrem Dienst bereit gegen Erlegung eines Obolus«12. Dies gilt als erste Definition gewerbsmäßiger Prostitution, die eine Vielzahl wechselnder Liebhaber (»allen«) gegen Entgelt (»einen Obolus«) voraussetzt, denen die Prostituierte in völliger Gleichgültigkeit ihres eigenen Begehrens »zu ihrem Dienst« bereitsteht.13 Die Straßenszene Solons bezeichnet zudem jenen Moment, der zeitlich vor dem Eintritt ins Bordell liegt und eng damit verwandt ist, wie Theater seinen Anfang nimmt: »Mit einem körperlichen Akt fängt bekanntlich alles an.«14 Was Hans-Thies Lehmann im Postdramatischen Theater als grundlegend für das Theater ausmacht, liest sich im Zusammenhang einer Untersuchung über den Prostitutionsdiskurs des Theaters seltsam zweideutig. Als körperlichen Akt bezeichnet Lehmann den Darstellungsvorgang durch Schauspielerinnen und Schauspielern, nicht den Geschlechtsakt. Den Auftritt des Menschen in einer Bühnensituation kennzeichnet Lehmann als einen gefährlichen Akt. Es muss jemanden geben, der sich aus dem Kollektiv löst und sich mutig vorn vor alle Zuschauerinnen und Zuschauer hinstellt. Es lässt den Menschen, wie Lehmann sagt, aus dem »Kollektiv in die Sichtbarkeit stürzen. Sie bedeutet Ausgesetztsein und Gefahr. Der Ort, der diese Gefährdung symbolisiert, ist die Bühne.«15 Doch was macht den Akt der Darstellung zur Gefahr für den Schauspieler und die Schauspielerin? Lehmann gibt auf diese Frage die Antwort: die Hybris der »Selbstüberhebung, die zugleich Überhebung über die anderen ist«16 und der Blick der anderen auf den ausgestellten Körper. Im Rahmen des theatralen Prostitutionsdiskurses wird diese Selbstüberhebung häufig als Darstellung selbstbewusster Sexualität interpretiert, wie sie beispielsweise bei einer Prostituiertenfigur wie Lulu bereits in der Rolle angelegt ist oder aufgrund mangelnden Scham-
gewöhnlich den Römern zuschreibt, findet sich in dieser Zusammensetzung schon in dem erwähnten Bericht über die erste Bordellorganisation des Solon, in welchem die Dirnen als [...] die vor dem Bordell feilstehenden (›prostasai‹) bezeichnet werden [...].« Ebd., S. 10. 12
Zitiert gemäß eines Berichtes des Philemon bei Athenaeus, in: ebd., S. 10.
13
Vgl. zitiert gemäß eines Berichtes des Philemon bei Athenaeus, in: Iwan Bloch: Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Die Prostitution. Band 1, S. 10.
14
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Auto-
15
Ebd.
16
Ebd.
ren 1999, S. 361.
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gefühls auf ein ›freies‹ Liebesleben der Schauspielerin und des Schauspielers zurückgeführt wird. Das Exponieren des Schauspieler- und Schauspielerinnenkörpers ruft im Blick der Zuschauenden »Neid, Mißgunst, Rachewünsche«17, aber auch Triebbesetzungen und Lust hervor. Das Sehen des anderen Körpers provoziert einen Vorgang des Selbstabgleichs als Subjektivierungsprozess (zum Beispiel Neid) und das Begehren nach ihm. Dies bedeutet wiederum für die Darstellerinnen und Darsteller, dass sich Projektionen an ihren Körper heften. Was die Prostituierte mit ihrem körperlichen Akt bezwecken muss, wenn sie sich auf die Straße stellt, um ihre Dienste anzupreisen, nämlich das Begehren nach einem ›Mehr‹ an ihrem Körper zu wecken, erweist sich für Schauspielerinnen und Schauspieler als Gefahr und »Preis des Hervortretens«18. Der Körper unterliegt damit sexuellen Bewertungen und Zuschreibungen, welche die Darstellenden selbst nicht kontrollieren können. Wenn Theater als Akt der Schaustellung bei Solon das Vorspiel zur Prostitution darstellte, dann bedeutet Prostitution das phantasmatische Endspiel des Theaters: Der Schauspielerkörper könnte zum Sexualobjekt und der körperliche Akt zu einem sexuellen Akt werden. Der theatrale Prostitutionsdiskurs leistet eine Arbeit an der Differenz, um eine symbolische und ökonomische Angleichung von Theater und Prostitution zu verhindern. Zugleich zirkuliert das Begehren im Theater gerade um und durch diese Differenz. Die beiden Herleitungen prostitutiver und theatraler Praxis haben zur Anschauung gebracht, dass Theater und Prostitution zwar mit einem körperlichen Akt der Schaustellung beginnen mögen. Doch sind das Begehren und die Erwartungen der Betrachterinnen und Betrachter, die sich an den körperlichen Akt richten, different und sollen dies auch bleiben: Während sich die einen für ihr Geld die Teilhabe an einem Theaterereignis sichern, kaufen die anderen ein Sexerlebnis – und damit ändert sich entscheidend die Wahrnehmung auf die sich zur Schau stellende Person. Durch die Projektion der Prostitution wird dieses Begehren hinsichtlich der Interaktion, Körperlichkeit und Wahrnehmung in der Beziehung zwischen Darstellenden und Publikum verhandelt und mit dem Verhältnis von Freiern und Prostituierten in Bezug gesetzt und abgeglichen.
17
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 362.
18
Ebd., S. 362.
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G RUNDLEGUNG EINER Ö KONOMIE
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B EGEHRENS
Um diese Verhandlungen offenzulegen, ist es notwendig, das Theater des Begehrens und das Begehren am Theater, welches im theatralen Prostitutionsdiskurs zur Aufführung kommt, dingfest zu machen. Doch gerade das Begehren entwischt nicht nur per se dem Subjekt19, sondern auch der Wissenschaft. Doris Kolesch hat darauf hingewiesen, dass Begehren ein äußerst flüchtiger, heterogener und teilweise widersprüchlicher Begriff sei. Dennoch sei es Aufgabe der Kulturwissenschaften, sich »Phänomenen widmen [zu] müssen, die flüchtig, ungreifbar und von diffuser Substanz wie Gestalt sind, und denen gleichwohl – vielleicht gerade deshalb – enorme Relevanz für das menschliche Selbstverständnis, für individuelle wie kollektive Identität, aber auch Prozesse der Interaktion und Kommunikation zukommt.«20
Dieser Aufgabe geht diese Arbeit nach – denn sexuelles Begehren ist ein solches Phänomen. Jemanden oder etwas zu begehren, stellt einen projektiven Vorgang und eine leibliche Erfahrung des Subjektes dar, welche dieses zugleich mit einem oder mehreren anderen in kommunikativen Prozessen verbindet. Kolesch bringt Begehren zunächst auf die allgemeine Definition als »Antriebskraft und Motivation für unterschiedliche Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Denkweisen«21. Kulturgeschichtlich und kulturtheoretisch sei Begehren als »Triebfeder für Veränderungen, für Zivilisation und Fortschritt, für die Erfindung von Neuem und für Innovation«22, aber auch als »Ursache von Ungleichheit, von Macht-
19
Dass das Subjekt nicht den Ort seines Begehrens kennt, gehört zu den Grundsätzen der Theorie von Jacques Lacan. »Dem wäre aber hinzufügen, daß das Begehren des Menschen das Begehren des Andern ist, wobei diesmal das ›des‹ in dem Sinn zu nehmen ist, den die Grammatiker subjektiv nennen, d. h. daß der Mensch als Anderer begehrt (worin die wahre Tragweite der menschlichen Leidenschaft liegt).« Jacques Lacan: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, in: Ders.: Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten/Freiburg i. Br.: Walter 1975, S. 167-204, hier S. 190.
20
Doris Kolesch: »Begehren«, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Große Gefühle. Ein Kaleido-
21
Ebd., S. 80.
22
Ebd.
skop. Berlin: Kadmos 2007, S. 78-100, hier S. 78.
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und Besitzstreben«23 eingeordnet worden. Im Duden wird Begehren als »Verlangen, nach jemandem oder etwas«24 beschrieben. Doch dieses Verlangen ist kein individueller Ausdruck oder Bestreben, sondern kulturell und symbolisch geprägt. So wurde der diffusen Erfahrung des Begehrens vor allem in der Philosophie und der Psychoanalyse mit einer komplexen Theoretisierung begegnet.25 Die eine Traditionslinie von Platon über Hegel zu Lacan begreift Begehren als ein unendliches, unerfülltes Streben nach dem Anderen, das aus einer Erfahrung des Mangels resultiert. Die konträre kulturtheoretische Position reicht von Spinoza über Nietzsche bis hin zu Deleuze und Guattari und konzipiert Begehren als »energetische, spielerische, experimentelle, erfinderische Positivität und Produktivität«26. Der Begriff des Begehrens wird in dieser Arbeit auf die sexuelle, ökonomisch-machtpolitische und rezeptive Dimension begrenzt. Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Begehrenstheorien sind folgende Aspekte von besonderer Relevanz und dienen hier als erste Definition des Begriffs, wie ich ihn im Folgenden anwenden und weiterverfolgen möchte. Begehren verstehe ich als eine kulturelle Konstruktion des sexuellen Verlangens, die sich in historisch bedingten Diskursen und Figurationen darstellt. Begehren initiiert und provoziert Subjektivierungsprozesse in der Kunst wie auch im Alltag. Begehren stellt eine Relation her, die sich konkret auf andere Personen/Objekte bezieht und das imaginäre Andere produziert. Begehrenspositionen sind in der symbolischen Ordnung geschlechtsspezifisch konnotiert. Die Begehrenskonzeptionen des Mangels oder des Überschusses machen bereits deutlich, dass Begehren stets Teil ökonomischer Prozesse ist. Beides geht von einer Zirkulation des Begehrens aus, die nicht abreißen darf, damit das Subjekt für sich selbst − ich begehre, also bin ich − und für eine Gesellschaft als ein sich ernährender und nährender Organismus in seiner Arbeitskraft, in seiner Liebe und in seinem Begehren nach Konsumtion produktiv bleibt. Begehren ist produktiver Antrieb des Subjektes, um sich in Ökonomien einzugliedern. Zugleich wird es selbst verwertet, auch wenn ihm selbst dies in der Regel nicht bewusst ist. Nach Joseph Vogl lässt sich »die Ökonomie als ein Ordnungssystem verstehen, das sich seit einigen Jahrhunderten auf das Verhältnis zwischen Menschen,
23
Doris Kolesch: »Begehren«, S. 80.
24
Lemma »Begehren«, siehe Link 05.
25
Doris Kolesch: »Begehren«, S. 79.
26
Ebd.
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zwischen Dingen und zwischen Dingen und Menschen bezieht […].«27 Unter dem Begriff der Ökonomie werden somit ebenso Tauschbeziehungen gefasst wie eine gute Haushaltsführung mit den vorhandenen Ressourcen. Zugleich ist Ökonomie keine in der Natur liegende Sache, sondern ein historisch bedingtes kulturell hervorgebrachtes Ordnungssystem, das kulturellen Wandlungsprozessen unterliegt. »Es lässt sich um und nach 1800 vielmehr ein grundsätzlicher Wechsel der Kategorien feststellen, mit denen man die ökonomischen Kräfte, die umlaufenden Reichtümer und die Gesetze ihrer Herstellung analysiert. Sei es ›Arbeit‹, ›Arbeitskraft‹, ›Produktion‹ oder ›Konsumtion‹ – aus der Konfiguration dieser Begriffe ist bis auf weiteres die Gestalt eines ökonomischen Menschen hervorgetreten, es hat sich aus dieser Konfiguration ein folgenreiches Wissen vom arbeitenden und produzierenden, vom lebenden und begehrenden, vom konsumierenden und sich selbst verzehrenden Menschen ergeben.«28
Vogl macht deutlich, dass der Begriff der Ökonomie nicht auf den Bereich der Wirtschaft zu beschränken ist, sondern hier Arbeit, Reproduktionsarbeit, Waren und Konsumtion ineinandergreifen. Durch Wertsetzungen und Tauschbeziehungen formieren sich Subjektmodelle des ökonomischen Menschen. Zum Inbegriff des sexuell-ökonomischen Menschen wird die Figuration der Prostituierten stilisiert, in deren Subjektentwurf die Dichotomien von Sexualität und Ökonomie, Körper und Geld kollabieren. Judith Butler hat in ihrem Aufsatz »Merely Cultural« für eine begriffliche und politische Erweiterung des Ökonomiebegriffs plädiert, um damit nicht nur die Reproduktion von Waren, sondern auch von Subjektivität und Geschlechtlichkeit zu erfassen. »The point here is that, […] struggles to transform the social field of sexuality do not become central to political economy to the extent that they can be directly tied to questions of unpaid and exploited labour, but also because they cannot be understood without an expansion of the ›economic‹ sphere itself to include both the reproduction of goods as well as the social reproduction of persons.«29
27
Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich:
28
Ebd., S. 12.
29
Judith Butler: »Merely Cultural«, in: New Left Review I/227, January-February
diaphanes 2011, S. 11. Herv. i. O.
1998, S. 33-44, hier S. 40.
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Die Erweiterung des Ökonomiebegriffs auf das Feld der Sexualität soll die Wechselwirkung von beidem stärker sichtbar machen, die beispielsweise Fragen der Familienpolitik, Heteronormativität oder bezahlter und unbezahlter Arbeit betrifft. Um diese ökonomische Formierung der Sexualität der Subjekte aufzuzeigen, hat Foucault »die sorgfältig geplante Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens«30 als Biopolitik bezeichnet. Sex konzipiert er als Scharnier zwischen den Disziplinen des Körpers zwischen »Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien« und den »Bevölkerungsregulierungen«31. So entstünde eine »politische Technologie des Lebens«32. Die Disziplinierung des Körpers und die Regulierung der Bevölkerung durch Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate werden zu Polen, »um die herum sich die Macht zum Leben organisiert.«33 Foucaults Begriff der Biopolitik als Teil einer politischen Ökonomie macht deutlich, dass weder Sex noch der Körper noch das Begehren frei von ökonomischen Prozessen sind: Das ›Aufsparen der Jungfräulichkeit‹34, die Askese, das Verlangen nach Intensivierung, die Ektase, die erzieherische Regulierung von Masturbation, das Maßhalten der Gelüste, die Diät, das Ausgrenzen von sexuellen Spielarten oder Sexualitäten sind immer auch schon ökonomische Programme, die sowohl auf der Selbstsorge des Subjektes beruhen als auch einer gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Ihre Norm und ihr Ziel betreffen seit dem 18. Jahrhundert die Ehe und Fortpflanzung des heterosexuellen Paares als elementarste Institution der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft.35 Die Naturalisierung der Ehe anhand der Biologie der Geschlechter hat zugleich verschleiert, was Prostitution zur Anschauung bringt: das machtpolitische Ineinandergreifen von Sexualität und Ökonomie. Dabei durchkreuzt Prostitution als Handlungspraxis einen normativen Umgang mit Sexualität, Arbeit und Geld.
30
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, S. 135.
31
Ebd., S. 140.
32
Ebd.
33
Ebd., S. 135.
34
Vgl. zur Jungfräulichkeit als angesehener Schatz durch die Kirche und als realpolitische Handelsware: Anke Bernau: Mythos Jungfrau. Eine Kulturgeschichte weiblicher Unschuld. Berlin: Parthas 2007, S. 142.
35
Udo Gerheim weist darauf hin, dass das »hegemoniale Modell der monogamen Ehe und romantischen Liebe« stets den Ausgangspunkt der Diskussion um Prostitution einnimmt. Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie, S. 62.
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Sex wird aus dem Bereich von Liebe, Ehe und Reproduktion gelöst und als Dienstleistung verkauft, die leicht erhältlich ist und ihren Preis hat. Prostitution repräsentiert durch ihre Unsichtbarkeit in Städten und ihre mediale Präsenz ein Begehren nach dem »Anderen«36, das als gefährlich, obszön, pervers, unanständig, rauschhaft eingeschätzt wird. Bezahlt und begehrt wird dabei die »Herstellung einer anderen Welt«37. Der Begriff der Herstellung ist somit ökonomisch und theatral zugleich gemeint. Die Produktion von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, von Aufmerksamkeit und Schauwerten, Atmosphären, Fiktionen, Körpern und Figurationen als Teil kultureller Inszenierungen kann unter diesen Vorzeichen als ökonomischer Prozess charakterisiert werden. Begehren ist also stets Teil ökonomischer Prozesse in Tauschbeziehungen: Teil der Zirkulation von Energien, Intensitäten, Wünschen, der Verwertung und Bewertung, der Konsumtion von Subjekten und Objekten, der Arbeit und Reproduktion, der Hervorbringung von Subjektivität, Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten sowie der Reglementierung durch die soziale Biopolitik. In diesem Sinne spreche ich im Folgenden von einer Ökonomie des Begehrens. Diese fungiert in dieser Arbeit als theoretische Verklammerung der beiden so unterschiedlichen Felder Theater und Prostitution. Das folgende Kapitel bringt die Ökonomie des Begehrens als strukturierende Analysekategorie in das Verhältnis von Theater und Prostitution ein. Ich stelle eine Ökonomie des Begehrens als Gemeinsamkeit von Theater und Prostitution heraus, die sich aber durch Unterschiede in der ›Haushaltführung‹ mit den Ressourcen Darstellung und Blick, Verhüllen und Zeigen, Berühren und Sehen, Körper und Geld auszeichnet. Diese wird zunächst an einer historischen Abbildung einer Bordellsituation entfaltet und dann anhand des theaterwissenschaftlichen Diskurses zum Verhältnis von Darstellenden und Zuschauenden fortgeführt.
V ORSPIEL IM B ORDELL In Pierre Dufours Weltgeschichte der Prostitution38, die etwa 1870 als erste populärgeschichtliche Abhandlung zur Prostitution veröffentlicht und 1907 ins
36
Vgl Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen
37
Ebd., S. 18.
38
Vgl. Pierre Dufour: Weltgeschichte der Prostitution. Paderborn: Voltmedia o. J.
Welt, S. 11f.
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Deutsche übersetzt wurde, findet sich eine undatierte Abbildung ohne Titel, die jenen bereits skizzierten Moment der Schaustellung und Werbung von Sexarbeiterinnen vor ihren möglichen Kunden im Bordell bei Solon zeigt. Abbildung: Vorspiel im Bordell
Quelle: Pierre Dufour: Weltgeschichte der Prostitution, zwischen S. 158 und S. 159.
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Im Folgenden möchte ich diese Abbildung39 als Vexierbild von Prostitution und Theater lesen. Es stellt Prostitution einerseits als theatrale Schauordnung dar und thematisiert andererseits das im Dispositiv des Theaters virulente Begehren nach Prostitution. Beginnen möchte ich damit, mich der Zeichnung in einer ersten Bildanalyse zu nähern, deren Leitfragen sind: Was ist zu sehen? Wo gibt es sind Leerstellen? Und was weckt die Imagination der oder des Betrachtenden? Am vorderen Bildrand ist die Rückenansicht eines Mannes mit Zylinder zu sehen, der seinen Blick durch ein Fernglas auf eine zweistöckige Bühne richtet. In jedem der kleinen Schaukästen, die mit Vorhängen versehen sind, agiert für den Betrachter sichtbar eine Frau. Eine liegt barbusig auf einem Diwan und schaut den Betrachter direkt an, eine andere weist mit einer Handgeste auf ihr Bett. Wieder andere sind dem Betrachter nicht direkt zugewandt. Sie knöpfen scheinbar privat ihr Kleid zu oder betrachten sich im Spiegel. Im Hintergrund ist bei allen Frauen ein Sofa oder Bett sichtbar. Ihre Schaukästen sind mit Schriften versehen, auf denen Namen mit Rollenzuschreibungen zu lesen sind, zum Beispiel »Rosine – l’enfant« oder schlicht »Clothilde«. Vor diesen Schaukästen steht ein schmales langes Sofa, auf dem lässig ein Mann in Hemd und Bademantel liegt. Möglicherweise ist er der Zuhälter dieser Frauen, vielleicht aber auch ein Freier, der sich ausruht. Auch sein Blick ist auf die Frauen in den Schaukästen gerichtet. Seine rechte Hand deutet mit dem Zeigefinger jedoch auf einen der zwei Hüte, die neben ihm liegen. Möglicherweise ist der Hut ein Sammelbehälter für das Geld, das die Kunden für ihre Besuche zahlen. Der Tauschwert des Geldes ist in der Zeichnung nicht sichtbar, ebenso wenig wie mögliche Freier, die ebenfalls ihre Hüte auf dem Diwan liegen gelassen haben könnten. Bei zwei Schaukästen ist der Vorhang als Sichtblende zugezogen. So wird den anwesenden Freiern Anonymität gewährt. Doch etwas Entscheidendes fehlt dieser Abbildung, weshalb sie überhaupt nur als Vexierbild von Theater und Prostitution gelesen werden kann: Der Sexualakt zwischen Kunde und Sexarbeiterin wird in der Abbildung nicht in Szene
39
Die Abbildung findet sich bei Dufour in einem Kapitel zum 19. Jahrhundert, in dem einige pornografische Zeichnungen ohne Einbindung in den Text als Bildteil eingefügt worden sind. Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch kritisiert, dass die Geschichte der Prostitution, die der Autor Paul Lacroix unter dem Pseudonym »Pierre Dufour« verfasste, nicht mehr sei »als eine mehr oder weniger vollständige Aneinanderreihung von mehr oder weniger verbürgten Tatsachen«. Iwan Bloch: Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Die Prostitution. Band 1, S. XVII.
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gesetzt. Das eindeutigste Beweismittel der Sexarbeit, die bezahlte sexuelle Interaktion zwischen beiden, wird der Sichtbarkeit und Verbildlichung entzogen. Zugleich gewinnen die beiden Vorhänge im Bild an Bedeutung. Sie trennen ab, was nicht gesehen werden soll. Die blickdichten Vorhänge und ›herrenlosen Hüte‹ steigern zugleich die Imagination, dass sich dahinter die sexuellen Handlungen von Prostituierten und Freiern ereignen. Durch die abwesende Darstellung des Geschlechtsverkehrs erscheint das abgebildete Bordell als theatrale Situation. Die Frauen werben mit Posen, Blicken und Körperhaltung um die Gunst des Betrachters. Sie setzten sich in diesen Schaukästen ›in Szene‹ für den Betrachter mit Fernglas auf dem Bild und den Bildbetrachtenden außerhalb der Bildrahmung. Hingegen sind die körperlichen Spuren der Kunden nur noch durch Stellvertreterobjekte, ihre Hüte, gekennzeichnet. Die beiden abgebildeten Männer werden als Träger des Blicks inszeniert, welche die Frauen zum Anschauungsobjekt machen. Die Zeichnung bildet Prostitution als theatrale Schau- und Blickordnung ab. Figurationen von Prostituierten, Freiern und Zuhälter und der Raum des Bordells werden als theatraler Schauplatz des Begehrens sichtbar, auf dem geschlechtsspezifische Blickkonstellationen und Begehrenspositionen inszeniert und eingenommen werden. Durch Darstellungsvorgänge und Rollenzuschreibungen erscheinen die Prostituierten als Figuren in einer Bühnensituation, ihre Kunden wiederum als ihre Zuschauer. Wie im Theater ist die Bordellsituation durch Inszenierungsstrategien von Verhüllen und Zeigen gekennzeichnet, um dadurch die Imagination und das Begehren der Betrachtenden zirkulieren zu lassen. De facto zeigt die Abbildung ›nicht mehr‹ als ein Theater der Blicke und Posen, und die vermeintlich stattfindende Prostitution ist ein Produkt der Imagination der Bildbetrachtenden. Dass es sich bei der Zeichnung um die Darstellung einer Bordellsituation handelt, vermute ich, weil das Bild innerhalb der Weltgeschichte der Prostitution reproduziert wurde. Wäre es in einem theaterhistorischen Werk abgebildet, könnte ich die Darstellung auch als ›Theater‹40 interpretieren.
40
Hiermit beziehe ich mich auf Rudolf Münz‘ Theatralitätsmodell, indem er durch unterschiedliche Verwendung von Anführungszeichen Formen des Theaters markiert. Münz differenziert zwischen Theater als Form des Kunsttheaters, »Theater« als theatraler Situation des Alltags sowie ›Theater‹ als Gegenströmung zum jeweils zeitlich existierenden Kunsttheater. Denn für eine Theaterdarstellung des 19. Jahrhunderts wäre es durchaus ungewöhnlich, wenn es, wie in der Abbildung, nur ein bis zwei Zuschauer gäbe, die nicht einmal zugewiesene Sitzplätze haben. Zugleich kann
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Doch neben der Theatralität der Bordellsituation macht die Abbildung eine Ökonomie des Begehrens sichtbar, die aufgrund der fehlenden Darstellung des Sexualaktes charakteristischer für die Kunstform des Theaters im Rahmen der Guckkastenbühne ist, in der die Rampe eine körperliche Trennung von Publikum und Darstellenden in einen Zuschauer- und einen Bühnenraum vornimmt.41 Die Abbildung zeigt eine Anordnung von Zuschauern und Darstellerinnen, deren Darstellungsvorgänge von Verbergen und Zeigen Leerstellen zur Projektion lassen, die mit Vorstellungsbildern und Figurationen der Prostitution aufgefüllt werden können und dadurch ein Theater der Prostitution evozieren. Anhand des Bildes soll deshalb im Folgenden strukturell der Frage nachgegangen werden, welche theatralen Strategien und Dispositionen die Projektion der Prostitution in Bezug auf das Theater entfacht. Zur Dramaturgie des Begehren Dem Bild kommt eine dramaturgische Funktion für das Spiel der Geschlechter im Bordell zu. Es zeigt ein Vorspiel der Sexarbeiterinnen vor ihren Kunden und stellt dieses als einen Prolog vor dem sexuellen Akt aus: das Theater vor der Prostitution. Ihre Selbstinszenierung für den Blick der männlichen Betrachter zögert den sexuellen Akt hinaus, sie führt zum Aufschub. Dieser Aufschub erregt beim Betrachter einen Mangel, der sein Begehren und seine Imagination in Zirkulation versetzt. Die Dramaturgie des Begehrens ist hier eine Dramaturgie des Aufschubs, der zeitlichen Verzögerung, des Mangels an sexueller Erlösung, die zugleich die Potenz des Sexuellen im Spiel hält. In diesem Sinne bildet das Vorspiel im Bordell, wie ich die Zeichnung im Folgenden benennen werde, eher eine theatrale Aufführungssituation als eine Darstellung von Prostitution ab. Im Kontext des Theaters bezeichnet der Begriff des Vorspiels entweder ein kurzes, einaktiges Gelegenheitsstück im höfischen Theater, eine Rahmenhandlung vor dem eigentlichen Drama oder wird, vor allem im Englischen und Fran-
Prostitution nach Münz‘ Modell als »Theater« bezeichnet werden, weil es als soziales und alltägliches Phänomen, wie anhand der Abbildung vorgeführt, Aspekte von Theatralität aufweist. Vgl. Rudolf Münz: »Theater und Theatralität. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt ›Theatergeschichte‹«, in: Ders.: Theatralität und Theater. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1998, S. 66-81. 41
Vgl. hierzu das Unterkapitel »Zur Differenz von Sehen und Berühren im Illusionstheater«.
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zösischen, gleichbedeutend mit »Prolog« verwendet.42 Im dramentheoretischen Sinne rahmt das Vorspiel die kommende Handlung, es geht ihr voraus. Das sexuelle Vorspiel vor dem Geschlechtsverkehr macht vor allem eines: Lust auf mehr. Das Theater kann potenziell sexuelle Lust wecken, aber in der Regel erfüllt sie diese nicht im Rahmen der Aufführung. Im Gegensatz dazu überführt das Gewerbe der Prostitution das Begehren in eine bezahlte Dienstleistung, die dem ›sexuellen Mangel‹ ein Ende bereiten soll. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied in der Ökonomie des Begehrens von Theater und Prostitution. Bei der ›realen‹ Prostitution ist diese auf eine lineare Dramaturgie angelegt, ausgerichtet auf die sexuelle Dienstleistung (beispielsweise des Geschlechtsaktes) und zusteuernd auf die Befriedigung des Kunden/der Kundin (zum Beispiel durch den Orgasmus). Theaterformen hingegen, die auf einer Differenz von Sehen und Berühren von Zuschauenden und Darstellenden basieren, beispielsweise durch die Guckkastenbühne, entfalten eine Ökonomie des Begehrens durch ein komplexes Wechselspiel von Zusehen geben, Aufschub und Mangel. Die tatsächliche sexuelle Handlung wird dabei ökonomisch auf- und ausgespart, ereignet sich also gerade nicht. Aber als Leerstelle ist die Abwesenheit sexueller Interaktion den Zuschauern und Zuschauerinnen präsent und stimuliert ihre Imagination. Der Vorhang als Projektionsschirm des Begehrens In der Abbildung Vorspiel im Bordell erweckt ein Requisit das Begehren und die Aufmerksamkeit des Betrachters und der Betrachterin, das geradezu den Inbegriff der Theatralität darstellt: der Vorhang. Der zurückgezogene Vorhang bietet den Prostituierten im Bild eine Bühne zur Darstellung, der zugezogene Vorhang gewährt den Freiern Anonymität. Das Wechselspiel von Zeigen und Verbergen für eine Ökonomie des Begehrens wird durch das theatrale Mittel in Szene gesetzt. Der Vorhang ist Ausdruck für eine »Theaterfaszination, die er auf sich zieht«43, denn er verkörpert die Praxis des Theaters als die des Zeigens und Verbergens. Der Vorhang verbirgt die Theatermaschine und ist zugleich selbst ein
42
Vgl. Gérard Schneilin: »Vorspiel«, in: Manfred Brauneck/Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 1181f.
43
Gabriele Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, in: Dies./Sibylle Peters (Hg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste. Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach 2008, S. 19-41, hier S. 25.
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Teil von ihr. »Als Element des Theater-Rahmens verkörpert er zugleich die gesamte Institution und ihre Geschichte der Repräsentation: eine Geschichte, die die Welt der Bühne abgrenzt von der alltäglichen Wirklichkeit.«44 Die Abbildung inszeniert jedoch eine Umkehrung des Vorhangmotivs. Der Vorhang verbirgt gerade nicht die Bühne, sondern die alltägliche Wirklichkeit der Prostitution. Für das Theater der Prostitution ist es paradigmatisch, dass der Vorhang auf dem Bild zubleibt. Der Vorhang verweigert den pornographischen Blick auf den sexuellen Akt, der sich hinter dem Vorhang zwischen Kunde und Sexarbeiterin abspielen könnte. Kein Blick durchs Schlüsselloch, kein ertappter Moment in flagranti – der Vorhang verbirgt den Sex. Das ist seine praktische Funktion. Die beiden geschlossenen Vorhänge im Bild stellen eine räumlich trennende Membran zwischen Theater und Prostitution, zwischen außen und innen, Zuschauerraum und Aktionsraum dar. Der Vorhang repräsentiert die Differenz zwischen Theater und Prostitution. Doch diese Differenz ist nicht fest und starr, sondern wird in der Abbildung als Schwelle inszeniert. Auch im Bild könnten die Vorhänge fallen und den Blick auf die Sexarbeit freistellen. Als Requisit verweist der Vorhang immer schon auf die Möglichkeit der Transformation: »Das Spiel mit dem Zeigen-Verbergen, das Theatrale schlechthin, enthält die Magie der Verwandlung. Dieses ›Anders‹-Werden, ›Anders‹-Scheinen markiert den Anfang des Theaters. Und es wird zum Blendwerk des Teufels in den Augen jener, die das Theater verdammen.«45
So war der Vorhang für Theaterfeinde ein Mittel der Verführung, da er etwas Verborgenes preisgab. In der Abbildung symbolisiert der Vorhang einen »Induktor des Begehrens«46. Das Bild der Prostitution bleibt hinter den Falten des Vorhangs verborgen. Aber die stoffliche Fläche wird zugleich zu einem Schirm für das Begehren der Zuschauenden. Die Projektion der hinter dem Vorhang liegenden Prostitution verschiebt sich in die Imagination. Dort vollzieht sich bereits eine Verwandlung der Zuschauenden, nämlich die zu Freiern.
44
Gabriele Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, S. 29.
45
Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters: »Ouvertüre«, in: Dies. (Hg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste. Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach 2008, S. 7-15, hier S. 7.
46
Klappentext des Buches: vgl. ebd.
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»Die Verwandlung […] hat vielleicht längst schon begonnen, bevor der Vorhang sich gehoben hat. In jenem Moment nämlich, in dem der Zuschauer die leere Fläche des Vorhangs mit Bildern seiner Erwartung und mit Szenen seiner Vorstellung belebt: mit all jenen Wünschen und Träumen, Tagesresten und Phantasien, die immer schon im Theater des Begehrens mitspielen. So gesehen verhüllt und zeigt der Vorhang nicht nur die Verwandlungen auf der Bühne des Theaters. Er ist auch das Medium der Verwandlungen auf der Bühne der Imaginationen und der Sinne des Betrachters.«47
Der Vorhang eröffnet nicht nur die Bühne der Imaginationen in der Wahrnehmung der Betrachtenden, sondern er stellt in der Ökonomie des Begehrens im Theater zugleich ein Regulativ von Zeigen und Verbergen dar; ein Regulativ davon, was mittels der Augen begehrt und was nur im Verborgenen einer Bühne der Imagination realisiert werden darf. Im Lacanschen Sinne fungiert der Vorhang als Spiegel des Begehrens des Subjektes.48 Es findet sein Begehren, aber nicht den Ort des anderen, an dem es sich erfüllen könnte. Denn der Raum der Prostitution bleibt durch den Vorhang verschlossen. Aus dem Verschluss entsteht ein Mangel, der das Begehren der Betrachtenden entfacht. Als Voyeure und Voyeurinnen wollen sie sehen, was sie nicht sehen dürfen, und wissen, worüber nur die Imagination Auskunft gibt. Das Theater erscheint in der Abbildung als Lever Rideau49 vor der Prostitution. Der Vorhang trennt hier das Vorspiel vom Nachspiel ab und zeigt so seine zeitliche Dimension. Während sich das Vorspiel als Anordnung des Theaters lesen lässt, kommt der Prostitution das Nachspiel gleich. Der Vorhang präsentiert auch eine Dunkelzone, trennt die Aufführung vom Alltag hinter den Kulissen. Das Phantasma der Verwechslung von Theater und Prostitution wird auf den Vorhang projiziert: Er könnte sich öffnen und das Theater als Bordell entblößen. Die Präsenz des Verborgenen hinter den Kulissen, hinter dem Vorhang oder in der Dunkelheit schürt die erotische Lust des Publikums und hält zugleich Schau-
47 48
Gabriele Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, S. 25. Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. Wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17.07.1949«, in: Ders.: Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten/Freiburg i. Br.: Walter 1973, S. 63-70.
49
Dies ist die Bezeichnung für ein Theaterstück im 19. Jahrhundert, dem die Funktion des Vorhangs zukam. Der Einakter wurde als Vorspiel vor dem Hauptstück gezeigt. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, S. 21.
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lust unter Kontrolle. Für diese Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters stellt der Vorhang ein zentrales ästhetisches Mittel zur Inszenierung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dar, um einerseits die Bühne der Imagination zu öffnen und andererseits die Differenz zwischen Theater und Prostitution, Illusion und Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Illusionsheterotopie Die Abbildung Vorspiel im Bordell bildet einen Raum ab, der durch verschiedene Séparées, die durch Vorhänge und auf mehreren Etagen von einander abgetrennt werden, als Bordell lesbar wird. Die performativen Handlungen und Blicke der anwesenden Männer und Frauen konstituieren diesen zugleich als eine Bühnensituation, in der sich die Frauen für ihre Kunden zur Schau stellen. Theater wie Bordell hat Michel Foucault in seinem Aufsatz »Andere Räume«50 als Heterotopie bezeichnet. Heterotopien sind laut Foucault Räume, die sich in ihrer Andersartigkeit dem alltäglichen Raum und seinen Gesetzen entgegenstellen. Es seien »privilegierte oder geheiligte oder verbotene Orte«51, die eine gesellschaftliche Funktion einnehmen, in dem sie Abweichungen Raum geben, die an einem alltäglichen Ort keinen Platz haben. Am Beispiel des Theaters beschreibt Foucault folgenden Grundsatz der Heterotopie: »Die Heterotopie vermag an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind. So läßt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen […].«52 Durch widersprüchliche Platzierungen lässt sich im Theater die Totalität der Welt abbilden. Der Heterotopie kann laut Foucault die Funktion zukommen, »einen Illusionsraum zu schaffen, der den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. Vielleicht ist es diese Rolle, die lange Zeit die berühmten Bordelle gespielt haben, deren man sich nun beraubt findet.«53 An dieser Stelle macht Foucault eine Parallele zwischen Theaters und Bordell auf: Beide
50
Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam: Leipzig 1992, S. 3446.
51
Ebd., S. 40.
52
Ebd., S. 42.
53
Ebd., S. 44.
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können als »Illusionsheterotopie«54 bezeichnet werden. Dem Bordell schreibt Foucault die gesellschaftliche Funktion zu, als anderer Raum die trügerische Scheinwelt des Realraums des Alltags zu entlarven und dem Theater die Universalisierung von Welt abzubilden (wie auch der Zoo). Das Bordell deckt auf, was sonst nicht gesehen werden kann und das Theater bringt in einem Illusionsraum zusammen, was sonst nicht an einem Ort zu haben ist. Vor dem Hintergrund von Foucaults Begriff der Heterotopie können Theater und Bordell als außeralltägliche Erfahrungsräume mit eigenen Regelsystemen charakterisiert werden, in denen (sexuelle) Normen der Gesellschaft überschritten werden können. Theater und Bordell sind damit in besonderer Weise Räume der Begehrensproduktion. Sie nehmen nicht nur die Funktion ein, emotionale und leibliche Intensitäten oder außeralltägliche Grenzerfahrungen zu ermöglichen, sondern auch einen Raum der Phantasie für den Einzelnen zu kreieren. Schaulust Die Illusionsheterotopie des Theaters wird allerdings von ihren Besucherinnen und Besuchern anders als im Bordell genutzt. Der Theaterraum lässt sich als Wahrnehmungsdispositiv fassen, in welchem sich die Sinnlichkeit und das Begehren über den Blick des Betrachtenden ereignen, insbesondere in der Guckkastenbühne, welche dem Publikum einen Schutzraum der Dunkelheit für seine Phantasie ermöglicht. Anders als im Bordell wird das sexuelle Begehren der Zuschauerinnen und Zuschauer nicht in einer konkreten Aktion ›realisiert‹, sondern durch das berührende Schauen sublimiert. Sehen ist ein sozial und kulturell konditionierter Prozess, der für das Begehren des Subjekts eine, wenn nicht die, entscheidende Rolle spielt. Sehen ist ein sinnlicher Vorgang, der in enger Korrespondenz zur Sexualität steht. Der Blick stellt einen intersubjektiven Bezug zwischen zwei Menschen her, die körperliche Reaktionen des Begehrens, der Scham und der Sinnlichkeit auslösen kann. Dies ist für das Theater genuin, denn es ist ein Ort der Schaulust. Zuschauerinnen und Zuschauer gehen ins Theater, um zu sehen und sich sehend zu erfahren. Sehen und Gesehenwerden bilden eine Dialektik, die das Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden entscheidend bestimmt und »eine kulturelle (oder nicht körperliche) Form des sexuellen Austauschs«55 bedeutet.
54
Michel Foucault: »Andere Räume«, S. 44. Herv. i. O.
55
Christina von Braun: »Gender, Geschlecht und Geschichte«, in: Dies./Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 16-57,
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In der Sexualtheorie von Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt die sexuelle Befriedigung durch das Sehen einen zentralen Stellenwert ein. In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1903) legt er sein Skopophiliekonzept dar, das in den 1970er/1980er Jahren eine Fortschreibung in der feministischen Filmwissenschaft erfährt. Die Skopophilie definiert Freud als einen Partialtrieb, der unabhängig von den erogenen Zonen existiert. Das Schauen beschreibt Freud als einen »Weg, auf dem die libidinöse Erregung am häufigsten geweckt wird«56 und zugleich als für die Auswahl des Sexualobjektes von entscheidender Bedeutung. Das sexuelle Schauen hat für Freud zwei Funktionen: Es kann als Appetitmacher für den Sexualakt fungieren oder in künstlerische Akte sublimiert werden. »Die mit der Kultur fortschreitende Verhüllung des Körpers hält die sexuelle Neugierde wach, welche danach strebt, sich das Sexualobjekt durch Enthüllung der verborgenen Teile zu ergänzen, die aber ins Künstlerische abgelenkt (›sublimiert‹) werden kann, wenn man ihr Interesse von den Genitalien weg auf die Körperbildung im Ganzen zu lenken vermag. Ein Verweilen bei diesem intermediären Sexualziel des sexuell betonten Schauens kommt in gewissen Grade den meisten Normalen zu, ja es gibt ihnen die Möglichkeit, einen gewissen Betrag ihrer Libido auf höhere künstlerische Ziele zu richten.«57
Das sexuelle Interesse entzündet sich nach Freud gerade an der Nichtsichtbarkeit des nackten Körpers und seiner Genitalien. Der tastende Blick über den Körper wird erregt durch seine inszenierte Verhüllung. Das Schauen entfesselt somit die Neugier auf das Betasten und selbstständige Entdecken des nackten Körpers des Sexualobjektes. Eine sexuelle Befriedigung, die allein durch die sexuelle Schaulust ohne anschließenden heterosexuellen Sexualakt ausgelöst wird, pathologisiert Freud in den Drei Abhandlungen der Sexualtheorie als Voyeurismus.58.
hier S. 47. Von Braun konstatiert dies für das Kino, dessen Entstehung historisch mit der Entwicklung der Sexualwissenschaft zusammenfällt. 56
Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: Ders.: Sexualleben.
57
Ebd.
58
Folgende Ausprägungen der Schaulust denunziert Freud: »a) Wenn sie sich aus-
Studienausgabe. Frankfurt a. M.: Fischer 1972, S. 47-146, hier S. 66.
schließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbindet (voyeurs: Zuschauer bei den Exkretionsfunktionen), c) wenn sie das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, verdrängt. Letzteres ist in ausgeprägter Weise bei den Exhibitionisten der Fall […]. Die Macht, welche der Schaulust entge-
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Hingegen wird von Freud, besonders in Das Unbehagen der Kultur von 1930, die Verschiebung sexueller Befriedigung durch Kunstrezeption als »hervorstechender Zug der Kulturentwicklung«59 aufgewertet. Letzteres bezeichnet Freud als »Sublimierung (der Triebziele)«60: »[D]ie Befriedigung wird aus Illusionen gewonnen, die man als solche erkennt, ohne sich durch deren Abweichung von der Wirklichkeit im Genuß stören zu lassen. Das Gebiet aus dem diese Illusionen stammen, ist das des Phantasielebens […]. Obenan unter diesen Phantasiebefriedigungen steht der Genuß an Werken der Kunst, der auch dem nicht selbst Schöpferischen durch die Vermittlung des Künstlers zugänglich gemacht wird. Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lebensquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen.«61
Sowohl durch Kunstrezeption als auch durch Kunstproduktion können Triebe laut Freud umgeleitet werden und Genuss verschaffen. Besonders durch Illusionen in der Kunst könne eine Phantasiebefriedigung stattfinden. Wenn im Theater überhaupt ein sexuelles Schauen initiiert wird, dann können die Zuschauenden dieses nur als sexuelle Spannung ohne Entladung erfahren. Die Aufführungssituation im Theater realisiert Schaulust im Gegensatz zur Prostitution gerade als eine Ökonomie des Zeigens und Verbergens, welche die Lust des oder der Betrachtenden dadurch entfacht, dass der Sexualakt (in der Regel) ein Produkt der Phantasie bleibt. Freud macht in seinem Text nicht die Besonderheit der Sublimierung durch unterschiedliche Kunstformen konkret. Er beschreibt die Sublimierung allgemein als einen Lustgewinn, der gerade auch bei den Künstlern selbst, durch psychische und intellektuelle Arbeit gewonnen werden könne.62 Die Sublimierung der Triebe durch Kunst sei »›feiner und höher‹«63, ihre Sättigung sei nur ge-
gensteht und eventuell durch sie aufgehoben wird, ist die Scham […].« Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 66. Analog zum Voyeurismus pathologisiert er den Exhibitionismus. 59
Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur (1930)«, in: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 29-108, hier S. 63.
60
Ebd.
61
Ebd., S. 47.
62
Vgl. ebd., S. 46.
63
Ebd.
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dämpft: »[S]ie erschüttern nicht unsere Leiblichkeit«. Genau diese Beobachtung der Triebbefriedigung durch künstlerische Sublimierung trifft auf die Kunst des Theaters so nicht zu, denn die Illusion wird in einem Moment der Wirklichkeit im Hier und Jetzt und unter der Anwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden hergestellt. Die Illusion wird vor den Augen des Zuschauenden mittels des Körpers der Darstellenden realisiert. Sowohl die Darstellenden als auch die Zuschauenden sind in die Vorgänge der Produktion und Rezeption von Theater leiblich eingebunden. So verläuft im Theater keine trennscharfe Linie zwischen dem sexuellen Schauen als künstlerische Sublimierung oder als Voyeurismus. Die erotische, leibliche Bezugnahme zu den Darstellenden durch ein mögliches sexuell- tastendes Schauen weist Parallelen zum Verhältnis zwischen Freiern und Prostituierten auf. Deshalb wird im Kontext des historischen Prostitutionsdiskurses in Bezug auf das Theater die Schaulust der Zuschauenden als Voyeurismus und auf Seiten der Schauspielenden als Exhibitionismus problematisiert und gerade nicht als Sublimierung angesehen. Freuds Sexualtheorie hat in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass Schaulust noch immer den »›au gout‹ des Schlüpfrigen, moralisch Bedenklichen, Schmuddeligen, Unschicklichen oder Anrüchigen«64 hat, wie Peter Springer in seinem Werk Voyeurismus in der Kunst problematisiert.65 Die historisch-kulturell bedingten Ökonomien des Sehens und Gesehenwerdens sind somit durch Werte und Bewertungen gekennzeichnet. Begehrenspositionen Dies lenkt den Blick auf die verschiedenen Positionen im Prostitutionsdispositiv, welche geschlechtlich und ökonomisch markiert sind: Wer darf eigentlich schauen? Und wer ist das Sexualobjekt des Blicks? Wie werden die Begehrenspositionen auf die Geschlechter verteilt? Die Abbildung Vorspiel im Bordell zeigt paradigmatisch das heterosexuelle Begehren zwischen männlichen Betrachtern und weiblichen Darstellerinnen. Der im Zentrum stehende Betrachter gibt sich, durch seine Sehhilfe markiert, als Subjekt des Blicks aus, welches die Frauen seinem Blick unterwirft. Wer blickt und wer angeblickt wird, daraus entwickelt sich ein machtvolles Szenario des Begehrens, in das sich die Ordnung der Geschlechter
64
Peter Springer: Voyeurismus in der Kunst. Berlin: Reimer 2008, S. 32.
65
»Konkret: Voyeurismus und Voyeur/Voyeuse besitzen heute einen negativen Beiklang, sind begleitet von Psychologisierung, Pathologisierung, Devianz und gar Kriminalisierung […].« Ebd.
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auch ökonomisch eingeschrieben hat.66 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fußt diese auf einer Ökonomie der Differenz von Mann und Frau, Blick und Körper, Subjekt und Objekt, Freier und Prostituierter, die auf der Grundlage der Biologie von Mann und Frau naturalisiert wird. Auf dieser dichotomen und angeblich biologisch legitimierten Ordnung werden die Subjekte in ihrer Sexualität reglementiert und kontrolliert. Diskursiv wird daraus abgeleitet, wer ›überhaupt‹ welche Begehrenspositionen einnehmen ›darf‹. So wurde bezüglich des Diskurses um das sexuelle Schauen immer wieder hinterfragt, ob Schaulust per se eine männliche Lust sei, durch die ein Unterdrückungsverhältnis Frauen gegenüber zum Tragen komme. Denn während dem Mann ein Trieb des Sehens zugesprochen wurde, wurde der sexualisierte weibliche Blick als ›Gefahr‹ stilisiert, beispielsweise im Mythos der Medusa, sowie als ›Sicherheitsmaßnahme‹ durch Augenwasser getrübt und durch Schleier verdeckt.67 Die Verdrängung des weiblichen begehrenden Blicks ist ein Grund für die fehlende Sichtbarkeit der Frau als Zuschauerin im Theater wie auch als Konsumentin sexueller Dienstleistungen im Prostitutionsdiskurs. Die Strategien des Verhüllens des Blicks sind eine Metapher dafür, dass auch der Blick der Darstellerin nicht an ihre Betrachter zurückgeworfen werden sollte, weil sie dadurch ihr sexuelles Interesse am anderen bekunden würde. Eine Kritik am Privileg des männlichen Blicks äußern feministische Filmwissenschaftlerinnen seit den 1970er Jahren. Sie gehen davon aus, dass sich die »historisch und kulturell verschieden ausgeprägten Formen des Sehens der Geschlechter«68 in den Erzählweisen des Kinos fortschreiben. Im Folgenden werde
66
Im Folgenden werde ich auf jene Theorien des Blicks rekurrieren, welche die geschlechtsspezifische Kulturgeschichte des Blicks berücksichtigen. Eine genaue Ausführung der Blicktheorien von Georg Simmel, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre und Jacques Lacan hinsichtlich einer Konzeption des Verhältnisses von Zuschauenden und Darstellenden in der Aufführung als »Partizipation der Blicke« hat Adam Czirak vorgelegt. Darin spielt eine sexuelle und geschlechtsspezifische Konnotation jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Adam Czirak: Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens im Theater und Performance. Bielefeld: transcript 2012.
67
Vgl. Klaus Laermann/Gisela Schneider: »Augen-Blicke. Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung«, in: Kursbuch 49/1977, S. 36-58.
68
Sabine Gottgetreu: Der bewegliche Blick. Zum Paradigmenwechsel in der feministischen Filmtheorie. Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 1992, S. 1.
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ich ausführlich auf Laura Mulveys Theorie des männlichen Blicks eingehen, welche sie 1975 in ihrem Artikel »Visuelle Lust und narratives Kino«69 dargelegt hat. Das Interessante an Mulveys Theorie ist, dass sie ein, wenn auch schematisches, Analysewerkzeug vorlegt, um Inszenierungen von Blick und Begehren unter feministischen Aspekten kritisch zu betrachten. Sie zeigt dabei die kulturelle Tradition geschlechtsspezifisch konnotierter Begehrenspositionen eines männlichen Blickträgers und eines weiblichen Blickobjektes auf, die bis heute weitreichende Folgen für Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit und somit für geschlechtsspezifische Subjektivierungsprozesse hat. Anhand der Hollywood-Filme der 1940er Jahre und im Anschluss an Sigmund Freuds Skopophiliekonzept stellt Mulvey eine Analogie von Filmform und dem Unterbewussten der patriarchalen Gesellschaft heraus. Mulvey geht in ihrer feministischen Filmtheorie von einem dreifach normierten männlichen Blick aus: Innerhalb der filmischen Erzählung agiere der männliche Protagonist als aktiver Handlungsträger, der die weiblichen Figuren seinem Blick unterwerfe und so zu Objekten des Begehrens fetischisiere. In produktionsästhetischer Hinsicht käme dabei eine männliche Autorschaft zum Tragen, denn dieses Blickverhältnis von männlichem Blickträger und weiblichem Blickobjekt werde wiederum in der Regel von Kameramännern in Szene gesetzt. Auf der Ebene der Rezeption antizipiere und identifiziere sich der männliche Zuschauer mit dem Blick des Protagonisten. So könne er in der Dunkelheit des Kinos sowohl seinen Narzissmus als auch seine Schaulust ausleben. Dabei konstatiert Mulvey, dass der Apparat des Kinos wie die Genese des Films in idealer Weise auf das Begehren des männlichen Zuschauers ausgerichtet seien und als bestätigende männliche Identitätsmaschine fungierten. Durch die filmische Erzählweise, die dem männlichen Zuschauer eine Identifikation mit dem Protagonisten der Handlung ermögliche, und durch ein Starsystem, welches Begehren an weiblichen ›Schaustücken‹ produziere, kann der männliche Zuschauer zwei gegensätzliche Lust bringende Strukturen des Schauens befriedigen − seinen Narzissmus und seinen Voyeurismus, also seine IchLibido und seinen Sexualtrieb. Nach Freud interagieren und überlagern sich diese in der Artikulation des Begehrens. Laura Mulvey unterscheidet zwischen sadistischer Skopophilie und fetischistischer Skopophilie, die verschiedene filmische Erzählweisen befördern. In beiden Fällen geht es um die Frage nach der Aneignung des Weiblichkeitsbildes. Ausgehend vom Kastrationskomplex des
69
Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 48-65.
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Mannes könne die männliche Angst vor Weiblichkeit nur durch ihre Unterdrückung (Sadismus) oder Glorifizierung (Fetischismus) überwunden werden. Nach Mulveys Theorie entwirft der Hollywoodfilm der 1940er Jahre einen hierarchischen Gegensatz eines Aktiv-passiv-Schemas, der den Mann stets als Träger des Blicks und somit als Subjekt und die Frau als Angeblickte, als Objekt, hervorbringe. Ihr Körper erscheine stets als ein Körper für andere. ›Die Frau‹ als Schauobjekt werde zum Signifikanten für das männliche Begehren, in das der männliche Zuschauer seine Selbstentwürfe projizieren könne. Mulveys Theorie hat viel Kritik geerntet.70 Man mag ihre Theorie sehr schematisch und homogenisierend finden, sie ist jedoch vor dem Hintergrund eines zeitgeschichtlichen und feministischen Kontextes zu lesen. Mulveys dezidiert feministisches Anliegen war es, die Frau aus ihrem Status als sexualisiertes Objekt aus dem männlichen Blick zu befreien und eine Dekonstruktion dieser Blickkonstellationen und Begehrenspositionen zu provozieren. Insofern liefert Mulvey ein Analyseinstrumentarium, welches es erlaubt, kritisch geschlechtsspezifisch konnotierte Subjekt-Objekt-Positionen zu beleuchten. 71 Mulvey führt also eine kulturell geprägte und bis heute stabile Begehrenskonstellation vor und entlarvt sie als Stütze einer hegemonialen Ordnung.72
70
Die Kritik an Mulvey hat vor allem dazu geführt, dass sich innerhalb der feministischen Filmwissenschaft und im Zuge der Frage nach einer weiblichen Ästhetik Anfang der 1980er Jahre ein Diskurs herausbildete, welcher weibliche Schaulust aufwertete. Linda Williams kritisiert, dass die Passivität des weiblichen Subjekts in Mulveys Theorie und ihr Blickmodell die visuellen Formen des Genießens beider Geschlechter behindert habe. Vgl. Linda Williams: »Pornografische Bilder und die ›Körperliche Dichte des Sehens‹«, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Id-Verlag 1997, S. 65-97.
71
Wie Mulveys Blicktheorie für die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse produktiv gemacht werden kann, habe ich aufgezeigt in: Melanie Hinz: »Blinde Flecke. Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung eines weiblichen/männlichen Regieblicks im Theater«, in: Franziska Bergmann/Franziska Eder/Irina Gradinari (Hg).: Geschlechter-Szene. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater. Fupf. Freiburg 2010, S. 66-83.
72
Zugleich reproduziert sie selbst eine Geschlechterordnung, die Mann und Männlichkeit mit dem Blick und somit auch mit Subjektivität gleichsetzt, Frau und Weiblichkeit hingegen auf Körperlichkeit und die Position des begehrenswerten Anderen festlegt. Hierin realisiert sich Begehren allein in einer heterosexuellen Matrix. Der kritische Diskurs von Mulvey ist also zugleich selbst zweischneidig, denn auch er
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Die Asymmetrie zwischen Prostituierter und Freier Durch Mulveys Theorie lässt sich die Abbildung Vorspiel im Bordell als Inszenierung des männlichen Blicks lesen, die zugleich die Strukturierung geschlechtlich konnotierter Begehrenspositionen im Prostitutionsdispositiv sichtbar macht. Analog zur männlichen Schaulust erweckt der Diskurs die Frage, ob Sexarbeit allein auf eine männliche Lust zugeschnitten sei. Prostituierte und Freier führen in der Abbildung jene Dichotomien von Objekt und Subjekt, Frau und Mann, Körper und Macht fort, die bereits an den Positionen von Blickträger und Angeblickter im Diskurs um männliche Schaulust ausdifferenziert wurden. Die Frauen befinden sich durch die Anordnung der Schaukästen in einer ausgestellten Situation, die ihre Körperlichkeit exponiert. Das chorische Prinzip der Serialität − in jedem Kasten bewegt sich eine Frau − hebt umso mehr ihre Weiblichkeit hervor: Das Frausein wird in der Zeichnung durch Weiblichkeitsstereotype wie Kleid, lange Haare, hochgepuschtes Dekolleté, aber auch durch das Bühnendekor eines Spiegels, die Enge und Privatheit eines Schlafzimmers sowie Inschriften mit weiblichen Namen und Rollen inszeniert. Ihre Darstellungsleistung ist durch den Kontext des Bordells zugleich als Aufmerksamkeitsstrategie und Dienstleistung gerahmt. Die beiden Männer hingegen sind in der Unterzahl. Durch ihre Differenz zueinander, der eine im Anzug, der andere im Bademantel, stechen sie in ihrer Individualität stärker hervor. Zugleich findet eine Anonymisierung statt, da einige Männer ihre Hüte liegen gelassen haben und gar nicht sichtbar sind. Auch die beiden Männer im Bild sind nur von der Seite zu sehen. Diese asymmetrische geschlechtsspezifische Rollendifferenz zwischen männlichem Freier und weiblicher Prostituierter ist paradigmatisch für die soziale Ordnung der Prostitution. Diese Asymmetrie bildet das zentrale Forschungsprogramm feministisch geprägter Prostitutionsforschung. Dabei hat die wissenschaftliche Forschung entscheidend dazu beigetragen, dass Prostituierte stets als Frauen dargestellt, imaginiert und festgelegt werden. Denn so fällt der männliche Sexarbeiter, der in der Antike noch eine zentrale Rolle spielte, aus dem Diskurs und sogar aus der deut-
führt zum Ausschluss anderer Begehrenspositionen: Weder der Mann als Schauobjekt noch die Frau als lustvolle Zuschauerin kommen darin vor, genau wie homosexuelle und bisexuelle Begehrensformationen nicht von Mulvey mitgedacht werden. Dies resultiert ebenfalls daraus, dass Mulvey ihre Analyse auf das binär kodierte Geschlechterprogramm der Psychoanalyse stützt.
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schen Sprache: Prostituierte wird im Duden nur als weibliche Form angegeben.73 Der Genderpart der Prostituierten, selbst wenn ein Mann diesen übernimmt, ist in der westlichen Kultur weiblich konnotiert, weil sich hierbei ein Subjekt als körperliches Objekt an andere verkauft. Darin kommt eine kulturell geprägte, aber häufig anhand der Biologie der Geschlechter naturalisierte Sexualordnung zum Ausdruck, welche Weiblichkeit mit Körperlichkeit, Sexualität und Objekthaftigkeit verbindet und medial vermittelt.74 »Die Prostituierte« war bis ins 19. Jahrhundert nicht nur eine Berufsbezeichnung für eine Frau, die gewerbsmäßig sexuelle Handlungen verkauften, sondern überdies ein Schimpfwort für promiskuitive Frauen. Als promiskuitiv galten in der damaligen Gesellschaft Frauen, die ohne Ehevertrag oder mit mehr als einer Person Geschlechterverkehr hatten. Erst seit dem Ersten Weltkrieg gilt Prostituierte allein als Berufsbezeichnung für eine Frau, die sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anbietet.75 Die kulturellen, zumeist männlichen Projektionen von Weiblichkeit gründen auf der Herstellung einer wirksamen Dichotomie, aus der eine bürgerliche und christliche Moral den Wert von Frauen bestimmte und sie in Prostituierte und Nicht-Prostituierte, Eva und Maria, Hure und Heilige unterteilte. Das Weiblichkeitsbild der Prostituierten ist damit nur ein markantes Beispiel dafür, dass in kulturellen Weiblichkeitsfigurationen, seien es die Femme fatale, das tugendhafte Mädchen oder die Mutter, stets Sexualität und Identität untrennbar zusammengeschlossen werden. Die Identität von Weiblichkeit ist ohne ihren Sex nicht denkbar, wohl aber Männlichkeit ohne eine Reduktion auf ihr Gattungswesen. Hinter diesem kulturellen Phantasma weiblicher Sexualität zwischen Hure und Heiliger verschwinden Bilder des Mannes als Lustobjekt und Sexarbeiter.76 Sexarbeit von Männern
73
»Prostituierte, die; (Frau, die Prostitution betreibt)«, in: Duden. Die deutsche Recht-
74
Vgl. Hedwig Wagner: Die Prostituierte im Film. Zum Verhältnis von Gender und
75
Vgl. Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis
76
Im Rahmen homosexueller Bild- und Begehrenswelten finden diese Männlichkeits-
schreibung. Mannheim [u.a.]: Dudenverlag 2000, S. 774. Medium. Bielefeld: transcript 2007. Brecht. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006, S. 14. inszenierungen ihren Platz. Dennoch ist die Prostitutionsdebatte bis heute auf den Weiblichkeitsdiskurs und heterosexuelle Perspektiven fokussiert. Nur an ihren Rändern tauchen Forschungen zu »mann-männlicher Prostitution« auf, welche auch im Zusammenhang mit HIV und AIDS betrachtet werden und den Gay Studies zugeordnet werden. Vgl. Sabine Grenz/Martin Lücke: »Momente der Prostitution. Eine
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sowie auch die Frau als Kundin oder Zuhälterin bilden eine Leerstelle in der Diskussion − und das nicht, weil dies nicht existierte, sondern weil das »feministische Forschungs-Paradigma […] in erster Linie das Verhältnis zwischen weiblichen Prostituierten und männlichen Freiern sowie das von Männern dominierte System der Sex-Industrie diskutiert.«77 Der Gegen-Genderpart zur Prostituierten ist der Kunde, der die sexuelle Handlung mit der Prostituierten erwirbt. Die Figur des Freiers ist männlich konnotiert und repräsentiert normative Männlichkeitsvorstellungen von ökonomischer und sexueller Autonomie, sich kaufen zu können, was er braucht. Während die Prostituierte bis ins 19. Jahrhundert stets erkennbar für Freier, Polizei und Öffentlichkeit bleiben musste, erkauft sich der Freier auch die Anonymität, so dass sein Handeln im Dunkeln bleiben kann. Diese Schattenexistenz führte er bis in die 1980er Jahre auch in der Forschung.78 Udo Gerheim hat in seiner soziologischen Studie Die Produktion des Freiers verdeutlicht, dass der Diskurs um den Freier auf zwei dichotomen Diskurspositionen fußt. Die eine geht von einem Triebtheorem in Bezug auf die männliche Sexualität aus, in dem der Prostitution die Funktion zukomme, zur »Regulierung seines Triebhaushaltes« ohne soziale und emotionale »Bindungserwartungen«, der »Unmittelbarkeit der sexuellen Begegnung« und ihrer »Maß- und Schrankenlosigkeit« beizutragen.79 Dabei sollte die Möglichkeit sexueller Befriedigung in der Prostitution zugleich die Idee der bürgerlichen Kleinfamilie absichern. Die Gegenposition hat vor allem vonseiten der Feministinnen den Freier als Täter ausgemacht, der Frauen, indem er sie ›kaufe‹, zur Ware mache und sie als Subjekte negiere. Dieses gewaltvolle Unterdrückungsverhältnis bestätige die hegemoniale Ordnung: Letztlich kaufe sich der Freier nicht Sex, sondern die Bestä-
Einführung«, in: Dies. (Hg.): Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld: transcript 2006, S. 9-22, hier S. 13. 77
Ebd., S. 12.
78
Der Soziologe Udo Gerheim spricht gar von »gravierenden Forschungslücken im Bereich Freierforschung. Die letzte Untersuchung zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1994, der Anteil der prostitutionsaktiven Männer wird dort auf 18 Prozent aller geschlechtsreifen Männer angeführt.« Udo Gerheim: »Freier – Die unbekannten Subjekte. Kleine Soziologie heterosexueller Prostitutionskunden«, in: Elisabeth von Dücker/Museum der Arbeit (Hg.): Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelten und Mythen. Bremen: Edition Temme 2005, S. 150-155, hier S. 150.
79
Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie, S. 67.
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tigung seiner Machtposition.80 Insbesondere Alice Schwarzer hat diese Kontraposition immer wieder eingenommen und für eine Bestrafung des Freiers plädiert, wie es auch das Prostitutionsgesetz in Schweden vorsieht. 81 Der Diskurs der Prostitution macht deutlich, dass die Wissenschaft selbst entscheidenden Anteil an der Reproduktion eines heterosexuellen Forschungsparadigmas hat, das Prostituierte als Frauen und Freier als Männer bespricht. Zugleich stellt sich in diesem Diskurs markant die Frage, wie Sexualität ökonomisch und gesellschaftlich verwertet und bewertet wird. Dabei realisiert sich die Ökonomie der Prostitution entscheidend über Dichotomien wie die von Opfer und Täter, Objekt und Subjekt, Geld und Körper. Prostitution und der Diskurs um diese reproduziert die Wirkmächtigkeit der heterosexuellen Matrix und ihre ungleiche Verteilung der zugeschriebenen Begehrenspositionen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Heinrich W. Ahlemeyer hebt die Asymmetrie im prostitutiven Intimsystem als Rollendifferenz von Prostituierter und Freier hervor, die für ihr Funktionieren notwendig sei.82 Da sich in der Prostitution kein Liebesverhältnis realisiere, welches den Sex legitimieren würde, stelle sich stets die Frage an die Geschäftssituation zwischen Freier und Prostituierter, ob es sich dabei um eine sklavische Ausbeutungssituation handele oder um eine Dienstleistung, die als Arbeit anerkannt werden kann. Ein problematisches Verhältnis: Darstellende und Zuschauende Anhand der Abbildung Vorspiel im Bordell als theatrale Schauordnung und inszenierte Szene der Prostitution zwischen Freiern und Prostituierten ist über die Gemeinsamkeit von Theater und Prostitution deutlich geworden, dass beide
80
Sabine Grenz hat 19 qualitative Interviews mit männlichen Kunden geführt und aufgezeigt, dass diese durch Prostitution sowohl ihre heterosexuelle Männlichkeit als auch regressive Vorstellungsbilder von Weiblichkeit zu bestätigen suchen. Hingegen wurde das Bezahlen von den Männern nicht, wie es die feministische Forschung formulierte, als Machthandlung interpretiert, sondern vielmehr als Kauf des perfekten sexuellen Erlebnisses. Vgl. Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.
81
Vgl. Kate Millett: Das verkaufte Geschlecht. Die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution. Mit einem Vorwort von Alice Schwarzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1981.
82
Heinrich W. Ahlemeyer: Geldgesteuerte Intimkommunikation. Zur Mikrosoziologie heterosexueller Prostitution. Gießen: Psychosozial-Verlag 2002, S. 94-102.
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durch ein gegenwärtiges soziales und leibliches Verhältnis von Akteuren bzw. Akteurinnen und Kunden bzw. Kundinnen gekennzeichnet sind. Dieses Verhältnis wird durch eine Ökonomie des Begehrens formiert und reglementiert, in der Begehrenspositionen besetzt werden, die sich als Asymmetrie einer Rollendifferenz ausweisen. Während in der Prostitution offensichtlich differente Bewertungen und soziale Einschränkungen von Sexualität, Ökonomie und Geschlecht mit den Parts von Prostituierten und Freiern verbunden sind, werden diese hinsichtlich des Verhältnisses von Zuschauenden und Darstellenden nur selten thematisiert. Vielmehr erscheint es als besonders wünschenswert, beide in einem Verhältnis auf Augenhöhe erscheinen zu lassen. Insofern bietet Prostitution als Wissenskategorie Kritikpotenzial, um die unterschiedlichen Machtpositionen deutlicher herauszustellen. Im Gegensatz zu Mulveys starrer Subjekt-Objekt-Theorie des Blicks wird stets das Verhältnis zwischen Zuschauer und Darstellerin im und außerhalb des Rahmens der Theateraufführung verhandelt. Dies zeigt besonders deutlich eine von Jens Roselt in seinem Aufsatz »Schaubühne oder Peepshow« beschriebene Szene über eine problematische Erfahrung von Schaulust, die er bei einem Sitznachbarn beobachtet. »An der Rampe steht eine Frau. Die Schauspielerin stellt ihren Körper aus, kokettiert mit den Figuren und dem Publikum. Dieser Auftritt verfehlt seine Wirkung nicht. Der Mann auf dem Platz neben mir, etwa 50 Jahre alt, wird unruhig. Er sucht den Blick seiner Gattin, um demonstrativ mit dem Kopf zu schütteln. Er stöhnt genervt. Zischt seiner Frau zu, dass das unmöglich sei. Während er sich so ereifert, kramt er nervös in der Tasche, holt sein Opernglas hervor, fixiert damit die Schauspielerin, stellt ›sie‹ scharf und starrt kopfschüttelnd nach vorne. Eine paradoxe Situation: Lechzend sieht der Mann auf die Bühne und beteuert gleichzeitig, wie kalt ihn das alles lässt.«83
Die Schaulust, die die Schauspielerin in der Szene weckt, kann von dem Mann nicht ohne Kommentar genossen werden. Roselt stellt heraus, dass der Körper aufrege, der Text hingegen den Theaterzuschauer beruhige. Der Theaterzuschauer erwarte im Theater, dass in der Sinnlichkeit stets ein Sinn stecke. Doch die pure Anwesenheit der Schauspielerin bringe stets ein Surplus gegenüber dem Text und einem Aufgehen in der Semiotik hervor.
83
Jens Roselt: »Schaubühne oder Peepshow?«, in: Hamburger Hefte No. 1: Vom Schau-Geschäft. Deutsches Schauspielhaus in Hamburg. Spielzeit 00-01, S. 4-10, hier S. 4.
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Die Blickkonstellation, die Roselt beschreibt, findet wie bei Mulvey zwischen einem männlichen Zuschauer und einer Schauspielerin statt, die ihren Körper in Szene setzt. Und doch ist hier etwas anders: Das Subjekt-ObjektVerhältnis erweist sich als höchst instabil. In der Konfrontation mit der Sinnlichkeit des Körpers der Schauspielerin erfährt sich der Zuschauer gerade nicht als stabiles männliches Subjekt des Blicks, das in einer machtvollen Geste den Körper der anderen unterwirft. Vielmehr zeigt sich der Theaterzuschauer als ein gespaltenes Subjekt, das einen Einbruch kruder Sinnlichkeit vor den Augen seiner Sitznachbarinnen und Sitznachbarn erlebt. Er versucht, sich mittels Kommentar, Kopfschütteln und Abwertung der Szene vom Körper und vom Geschehen zu distanzieren und zugleich sich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er will gerade nicht zum Voyeur werden und muss doch zum Fernglas greifen. Durch den Körper der Schauspielerin wird er mit seinem eigenen Begehren konfrontiert und erkennt sich zugleich selbst als Objekt, konstatiert Roselt.84 Der beschriebene Zuschauer fühlt sich von seinem Begehren selbst ertappt und ist damit nicht mehr ›Herr im eigenen Haus‹. Er findet sich wieder am Ort der Anderen. Diese Szene gibt dreierlei für die Schaulust des Zuschauenden im Theater zu bedenken. Erstens zeigt sie auf, wie Roselt konstatiert, dass sich Theaterzuschauer und Theaterzuschauerinnen einen »Knick in der Optik«85 antrainiert haben, sodass ihr Blick auf den realen Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler durch die dramatische Kategorie einer Figur verstellt wird. Das Begehren soll sich an Sinn und nicht an Sinnlichkeit entzünden. Zweitens revidiert sie ein stabiles Subjekt-Objekt-Verhältnis des Begehrens zwischen Zuschauer und Darstellerin. Drittens belegt sie, dass der männliche Zuschauer Schaulust als ›verwerflich‹ erfährt, während die weibliche Darstellerin an der Rampe ihre Macht als Subjekt spielerisch zu nutzen weiß. Die Begehrenspositionen, die sich zwischen zwei Subjekten ausgehandelt werden, sind gerade nicht auf eine einfache Gleichung von Subjekt und Objekt, Blick und Körper zu reduzieren, ebenso wenig wie das Begehren dem männlichen Subjekt stets Effekte der Bestätigung bringt. Vielmehr erlebt sich hier der Zuschauer überrascht und überrumpelt vom eigenen Begehren. Begehrenspositionen zwischen Zuschauenden und Darstellenden im Theater sind stets in der Schwebe und verhandelbar. Roselt stellt zudem heraus, dass die Schaubühne trotz der Präsenz ihrer Körper nicht mit einer Peepshow zu verwechseln sei. In der Peepshow erlebe sich der
84
Jens Roselt: »Schaubühne oder Peepshow?«, S. 6.
85
Ebd.
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Zuschauer »in der schmuddeligen Kabine seiner Phantasie«86 nur als Einzelner völlig unbeobachtet. »Schauen im Theater ist mehr als bloßes Gaffen, Spannen oder Glotzen. Es reflektiert das Zusehen als Bedingung seiner Existenz, in dem es den Zuschauer seiner selbst gegenwärtig macht.«87 Damit wird zugleich eine zentrale Differenz von Theater im Vergleich zur Prostitution deutlich. Die kollektive Gemeinschaft von Zuschauerinnen und Zuschauern steht der individuellen Erfahrung und Konsumtion der sexuellen Dienstleistung des einzelnen Kunden bzw. der einzelnen Kundin gegenüber. Die Masse des Publikums und das Ensemble von Spielenden sind in ihrer Anordnung different von jener der Prostitution. In der Prostitution geht es um die sexuellen Wünsche der jeweiligen Einzelperson. Die Projektion von Prostituierter und Freier auf das Verhältnis von Darstellenden und Zuschauenden bringt nicht nur eine ästhetische und soziale Problematisierung hervor, sondern auch eine Ausdifferenzierung der beiden Figurationen. Zugleich weist die Zuschreibung von Prostituierter und Freier eine Rollendifferenz auf, welche durch Kategorien wie Darstellung, Blick, Sexualität, Begehren, Gender und Ökonomie strukturiert wird, welche bisher in der Theaterwissenschaft in ihrer Verklammerung miteinander noch nicht in dieser Deutlichkeit hinsichtlich des Verhältnisses von Zuschauenden und Darstellenden betrachtet wurden, obgleich dies ein zentrales und häufig bearbeitetes Thema der aktuellen Theaterwissenschaft darstellt. Im Folgenden werde ich die Wechselwirkung von Zuschauenden und Darstellenden aus der Perspektive der Theaterwissenschaft und Theatergeschichte in den Blick nehmen, um anhand der medialen Disposition des Theaters jene Diskurse aufzuzeigen, die eine strukturelle Nähe zur Prostitution evozieren.
E NERGETISCHER AUSTAUSCH
IM
T HEATER
In der gegenwärtigen Theaterwissenschaft hat durch die Theoriebildung zur Performativität der Aufführung88 auch eine (Wieder-)Entdeckung des Zuschauenden und seiner ästhetischen Erfahrung stattgefunden, die ihn als konstitutiven Teil
86
Jens Roselt: »Schaubühne oder Peepshow?«, S. 6
87
Ebd., S. 10.
88
Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Aufführung«, in: Dies.: Erika Fischer-Lichte /Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 16-26.
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des Aufführungsgeschehens begreift. 89 Ins Zentrum der Analyse rückt damit die unmittelbare Wechselwirkung von Darstellung und Rezeption in der Aufführung als mediale Disposition des Theaters. Leibliche Kopräsenz von Darstellenden und Zuschauenden Konstitutiv für die Aufführung im Theater ist die leibliche Kopräsenz von Zuschauenden und Darstellenden. Die Aufführung im Theater ist ein soziales Ereignis, zu dem sich Akteure und Publikum an einem Ort zur selben Zeit versammeln, um gemeinsam eine Situation zu erleben. Dabei muss diese dichotome Rollendifferenz im Laufe der Aufführung überhaupt erst hergestellt werden. Das bedeutet auch, dass sie stets instabil ist und durch Rollenwechsel verkehrt und aufgelöst werden kann.90 Die Gegenwärtigkeit des Theaters zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit der Produktion durch das Schauspielensemble und der Rezeption durch das Publikum aus. In einem wechselseitigen Produktions- und Wahrnehmungsprozess konstituiert sich die Aufführung, die nicht als künstlerisches Produkt festgehalten werden kann, sondern flüchtig ist. Die Emergenz von Bedeutung und die Herstellung des theatralen Ereignisses sind damit an Darstellende und Zuschauende gleichermaßen gebunden, auch wenn ihnen in der Regel differente Positionen im Aufführungsgeschehen zukommen. Erika FischerLichte beschreibt die wechselseitige Wirkung aufeinander als zirkulierende Feedback-Schleife: »Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird.«91
Durch die Feedback-Schleife befinden sich Zuschauende und Darstellende in einem somatischen Prozess miteinander. Daraus resultiert der Vorwurf der Prostitution: Zuschauende und Darstellende ›haben‹ im Rahmen der Aufführung für
89
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Francke 1997 sowie Jan Deck/Angelika Sieburg (Hg.): Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater. Bielefeld: transcript 2008.
90
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 63.
91
Ebd., S. 59.
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eine gewisse Zeit ein Verhältnis miteinander. Wie in der Prostitution vollzieht sich ein Erfahrungsaustausch zwischen denen, die mit ihrem Körper arbeiten, und denen, die ihn konsumieren. Im Theater wird, wie auch in der Prostitution, eine soziale Situation zwischen Produzierenden und Konsumierenden gestiftet, indem sich beide in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander wahrnehmen und erfahren. In dieser Bezogenheit aufeinander kann zwischen Zuschauenden und Darstellenden (sexuelles) Begehren zirkulieren. Dieses Begehren am anderen entsteht aber nicht in einem Moment der Gleichzeitigkeit, wie es Fischer-Lichtes Konzept der Feedback-Schleife suggeriert, sondern durch die »responsive Differenz«, die zwischen Zuschauenden und Darstellenden besteht, wie Roselt in seinem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung betont: »In der Aufführung teilen Zuschauer und Schauspieler etwas miteinander, auch dann wenn sie nicht einer Meinung sind oder unangenehm voneinander berührt werden. Gerade in der Differenz kann hier die Gemeinschaft stecken, d.h. die gemeinsame Erfahrung kann als Fremderfahrung im phänomenologischen Sinne aufgefasst werden. Wahrnehmend ist der Zuschauer beim Anderen und damit nie ganz bei sich.«92
Die Differenz entsteht also vor allem dadurch, dass sich die Erfahrung des Zuschauenden immer an anderen Körpern abspielt: denen der Schauspielenden und der anderen Zuschauenden, die sich mit ihm in einem Raum aufhalten. Der Zuschauende ist nie ganz bei sich ist und ist auch nicht identisch mit der Menge der anderen Zuschauer. Der Zuschauende erlebt sich zugleich in einer Situation der Teilhabe und der Differenz. Die Fremderfahrungen, die er im Aufführungsgeschehen macht und von denen Roselt spricht, sind Erfahrungen der Alterität. Gerade durch die unmittelbare Konfrontation mit Körpern und performativen Handlungen in der Aufführung werden die Zuschauenden auf ihr eigenes Leibsein zurückgeworfen. Dadurch können verstörende, irritierende und lustvolle Momente der Scham, des Ekels und der Erotik evoziert werden − Zuschauen kann so eine leibliche, interaktive Erfahrung von Schaulust ermöglichen. Mit dem Interesse für die Wahrnehmung und Interaktion des und der Zuschauenden im Aufführungsgeschehen ist erstaunlicherweise bisher nur selten die sexuelle Dimension der Zuschauererfahrung betont worden. Roselt hat darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf das Verstehen von Aufführungen als semiotischer Gegenstand zu einer »Verdrängung all jener ambivalenten Zu-
92
Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters. München: Wilhelm Fink 2008, S. 245.
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schauerhaltungen, von denen die Faszination für das Theater geprägt sein kann: Aufregung, Unterhaltung, Langeweile, Spannung, Aggression oder Erotik«93 geführt hat. Diese Aspekte sind jedoch für die Leiblichkeit des Zuschauenden im Aufführungsgeschehen konstitutiv: »Wenn Adrenalin in die Ästhetik gepumpt wird und sich die unmöglichsten Körperteile mit Blut füllen, dann ist der Zuschauer nicht mehr als körperloser, intelligibler Rezeptionsapparat zu denken. Die performative Potenz des Ereignisses rückt Scham, Ekel und Erotik ins Blickfeld der Ästhetik.«94
Zuschauende haben einen Leib, über dessen Schnittstelle sich ihnen die Wahrnehmung der Aufführung vermittelt. Zuschauende haben auch ein Geschlecht und eine Sexualität. Der Begriff ›leibliche Erfahrungen‹ macht im Sinne Maurice Merleau-Pontys95 deutlich, dass in der Wahrnehmung des und der Zuschauenden intellektuelles Verstehen und sinnliches Erleben ineinandergreifen. Zuschauen realisiert kein ›reines Sehen‹. Im und durch den Blick des Zuschauers und der Zuschauerin entsteht Begehren, welches durch den anderen und den eigenen Körper hervorgebracht wird. Dieses Begehren kann mannigfaltig sein: Es reicht vom Verlangen, die Zeichen der Geschichte zu deuten, über die Lust am Schauen bis zur sexuellen Projektion auf die Darstellerkörper. Zuschauende können sich selbst in vielfältiger Weise in einer Aufführungssituation erleben, als Liebhaber, Voyeurinnen, Freier, Geliebte, Verlassene etc., bzw. sich in solche transformieren, wie es das Textbeispiel in der Einleitung und die Formel »huret alles mit« von Anton Reiser gezeigt haben.96 Zur Differenz von Sehen und Berühren im Illusionstheater Der Vorwurf der Prostitution zielt immer auch auf die Gefahr einer körperlichen Berührung zwischen Zuschauenden und Darstellenden ab. Dies erscheint erstaunlich, ist doch das Theater im ursprünglichen Sinn des theatrons eine Schauanordnung, die Distanz zwischen den beiden Positionen voraussetzt. Was
93
Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 322.
94
Jens Roselt: »Aufführungsparalyse«, S. 152.
95
Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter
96
Anton Reiser: Theatromania, oder, Die Wercke der Finsternisz in denen öffentlichen
1966. Schau-Spielen, S. 188.
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das Theater als Schauanordnung gefährdet – und über den Prostitutionsdiskurs thematisiert wird –, ist die leibliche Kopräsenz, welche die Möglichkeit gegenseitiger Berührung impliziert. Die Vorstellung der Nähe und der körperlichen Berührung stellt dabei das Konzept der Schauanordnung und der damit verbundenen distanzierten Rezeptionssituation infrage. Fischer-Lichte unterstreicht, dass im Theater in diesem Sinne ein Gegensatz zwischen Sehen und Berühren bestehe: »Einer der Gründe für diesen Gegensatz mag darin liegen, daß Theater ein öffentliches Medium darstellt, Berührung dagegen der Intimsphäre zuzurechnen ist«97 – oder der Prostitution, wenn sie im ökonomischen Prinzip des Zeigens gegen Bezahlung stattfindet. Durch die Theaterexperimente der Performance-Kunst in den 1970er Jahren und die Herstellung von Gemeinschaften mit dem Publikum wurde dieses Tabu längst performativ bearbeitet, mit dem Ziel, die Gegensätze von Privatheit und Öffentlichkeit, Fiktion und Illusion, Distanz und Intimität zum Kollabieren zu bringen. Die Differenz von Sehen und Berühren problematisiert somit ein spezifisches historisch tradiertes Theaterbild. Berührung, Nähe und Differenz von Zuschauenden und Spielenden erweisen sich damit als zentrales Thema nicht nur des gegenwärtigen Diskurses über eine Ästhetik des Performativen98, sondern auch des historischen Theaterdiskurses. Fischer-Lichte führt das Tabu der Berührung zwischen Publikum und Schauspielensemble historisch auf das Konzept des Illusionstheaters des 18. Jahrhunderts99 zurück. Die Zuschauenden sollten ihren Blick auf die Illusion des Bühnengeschehens richten und die leiblich präsenten Schauspieler und Schauspielerinnen ›allein‹ als semiotische Körper einer Rollenfigur auffassen. In der ›tatsächlichen‹ Berührung beider Gruppen bestand die Gefahr eines Einbruchs des Realen, durch den die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Präsenz des Schauspielerkörpers gelenkt und die Illusion der Bühnensituation überschrieben werden könnte. »Das Illusionstheater schließt daher eine tatsächliche Berührung,
97
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 101.
98
Vgl. das gleichnamige Buch von Erika Fischer-Lichte über die Performativität der
99
Hierbei ist anzumerken, dass das Publikum im 18. Jahrhundert noch mit auf der
Theateraufführung: ebd. Bühne saß und Berührung durchaus möglich war. Räumlich entwickelt sich das Konzept des Illusionstheaters im Dispositiv des Guckkastentheaters erst im 19. Jahrhundert. Es resultiert aus dem Diskurs um die Idee eines autonomen Kunstwerks und aus der Frage, wie dieses möglichst ohne Störungen vom Zuschauenden rezipiert werden kann.
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einen direkten körperlichen Kontakt zwischen Akteuren und Zuschauern aus.«100 Vielmehr sollte die Berührung zwischen beiden auf einer metaphorischen, imaginativen Ebene stattfinden und allein über den Blick erfahrbar werden.101 Diese imaginäre Bezugnahme zur Darstellung, in der das Erleben der Illusion durch nichts gestört werden sollte, wird im 19. Jahrhundert in idealer Weise durch das Dispositiv des Guckkastentheaters räumlich konstruiert und perfektioniert. Die Verschleierung des technischen Apparates des Theaters, die zentralperspektivische Sicht auf die Bühne durch die ansteigende Ordnung der Sitzplätze, die Trennung und Distanzierung vom Bühnengeschehen sollten den Zuschauenden eine »vollkommene Versetzung auf die Bühne«102 ermöglichen.103 Der gemeinsame Handlungsraum des Publikums verlor an Bedeutung und wurde zu einem Erlebnisraum umgebaut, in dem sich die Aufmerksamkeit der Einzelnen ganz auf die Theateraufführung richten sollte. Das Erleben der Zuschauenden sollte durch einen imaginären Eintritt in das Theaterbild ermöglicht werden: »Ziel […] war letzten Endes eine Immersion des Zuschauers in das Geschehen auf der Bühne, ohne eine Verwechslung oder Vermischung von Realität und
100 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 103. 101 Hier lässt sich zugleich eine Verschiebung der Wirkungsästhetik konstatieren. Nicht Berührung, sondern Rührung des Zuschauenden wird als Konzept gesetzt. Diese wird im Sinne von movere – als Bewegtheit der Seele – allein auf der psychischen Ebene verortet, die allerdings reale körperliche Effekte zeitigt: als eine Übertragung von Affekten, die von Noverre, Schiller oder Lessing beispielsweise in Bewegung und Bewegtheit als physiopsychische Wechselbeziehung zwischen Akteuren und Zuschauenden beschrieben wird. In diesem Sinne kann der Prostitutionsvorwurf als Gegendiskurs zum Ideal einer Wirkungsästhetik, die sich auf das rhetorische Konzept des movere beruft, gelesen werden, wie es im 18. Jahrhundert formuliert wird. Vgl. zu diesem Diskurs: Christina Thurner: Beredte Körper − bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld: transcript 2009. 102 Jörg Brauns: Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, S. 220. 103 Die Entwicklung beginnt im 18. Jahrhundert und wird spätestens im 19. Jahrhundert in Wagners Festspielhaus in Bayreuth umgesetzt. Während im Barocktheater Bühne und Zuschauerraum in einer elliptischen Form angeordnet und Zuschauende auch auf der Bühne platziert waren, wird nun von Wagner das Konzept eines »isolierten Zuschauers« entworfen, der in der frontalen Gegenüberstellung zum Bühnengeschehen völlig in diesem aufgehen soll. Hier sind bereits die Grundlagen für das spätere Dispositiv des Kinos gelegt, wie Jörg Brauns zeigt. Vgl. ebd.
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Kunst zu riskieren.«104 Durch die Immersion realisieren die Zuschauenden eine direkte berührende Bezugnahme des Erlebens zu den Darstellerinnen und Darstellern, in der sie sich als isolierte Betrachter erfahren. Die Zuschreibung der Prostitution an das Theater und das Publikum geht mit einem Einbruch des Realen einher. Sie tritt dann in Erscheinung, wenn die Illusion der Bühne instabil wird und die Produktionsbedingungen des Theaters und seine technische und institutionelle Apparatur offengelegt, wenn sich die Schauspielerinnen und Schauspieler der Blicke ihrer Betrachterinnen und Betrachter bewusst werden, wenn aus der anonymen Beziehung eine direkte Wechselwirkung wird. Auffällig werden dabei die Momente des Übergangs von der Theaterillusion in den Alltag: Mit dem Austritt des Zuschauenden aus dem Guckkastentheater erlebt er die Enttäuschung, dass die gezeigten Darstellungen, ausgelösten Gefühle und sexuellen Phantasien nicht ihm als Einzelnem galten, sondern dem gesamten Publikum: Sie präsentieren sich als bewusst kalkulierte Effekte der Berührung durch die Theaterinszenierung. Das Entfachen und der Aufschub der Leidenschaft des Zuschauenden erscheinen nun als ökonomisches Kalkül, weshalb auch das Illusionstheater in den Verruf der Prostitution gerät. Dieser Vorwurf verweist darauf, dass die Ökonomie des Begehrens zwischen Zuschauenden und Darstellenden nie für beide gleichbedeutend ist. Denn für die einen stellt die Theateraufführung ein einmaliges Ereignis und Erleben dar, für die anderen eine professionelle szenische Produktion von Begehren, die sie an mehreren Terminen einer kollektiven Masse von Zuschauerinnen und Zuschauern darbieten. Das Darstellungsparadigma der Kurtisane: Emotionen vortäuschen Vorspielen bezeichnet in sozialen Situationen auch einen Akt der Täuschung. So gibt der Duden als eine Definition an: »auf eine bestimmte Art und Weise agieren, um jemanden etwas Unwahres glauben zu machen.«105 ›Glauben zu machen‹ als Darstellungsstrategie ist genuin für das Theater und einer der Gründe dafür, dass Schauspielerinnen und Schauspieler in der Rhetorik christlicher Theaterfeinde aufgrund ihrer Fähigkeiten der Verstellung als Lügner beschimpft wurden. Auch Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter stehen unter dem Täuschungsver-
104 Jörg Brauns: Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien, S. 226. 105 Siehe Link 06.
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dacht, dass die Lust, die sie während des Sexualaktes performen, möglicherweise nur vorgetäuscht und damit vorgespielt ist: »Prostituierte gehören zu jenen Gruppen von Menschen, denen man ihren Auftritt nicht unmittelbar glaubt, deren Berufsausübung also von Glaubwürdigkeitsproblemen gerahmt ist. Der Verdacht bzw. die Unterstellung, es werde manipuliert, getäuscht, unwahr gesprochen oder unaufrichtig gehandelt, begleitet die Interaktion […].«106
Zugleich erwarten die Kundinnen und Kunden einen ›echten‹ Ausdruck sexueller Performance, »um nicht die Lust zu verlieren«.107 Glaubwürdigkeitsprobleme haben Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter aufgrund der gesellschaftlich negativen Bewertung des sozialen Feldes der Prostitution, Schauspielerinnen und Schauspieler durch die ästhetische Rahmung der Bühne. Trotz dieser unterschiedlichen Hintergründe müssen beide Gruppen Darstellungstechniken dafür entwickeln, wie sie Emotionen und Begehren für ihre Kunden und Kundinnen so glaubwürdig wie möglich verkörpern können. In der Schauspieltheorie wird vor allem im 18. Jahrhundert erbittert darüber gestritten, ob der Schauspieler die Emotion, die er im Betrachter auslösen soll, selbst empfinden muss oder nicht. Einer der bekanntesten Verfechter eines kalten Verstandesschauspielers ist der französische Aufklärer Denis Diderot. In seiner programmatischen Schrift Paradox über den Schauspieler setzt er den Bühnendarsteller mit einer Kurtisane gleich: »Ich bleibe bei meiner These und sage: übertriebene Empfindsamkeit macht mittelmäßige Darsteller; mittelmäßige Empfindsamkeit macht die Masse schlechter Schauspieler, und das vollständige Fehlen von Empfindsamkeit ist die Voraussetzung für erhabene Schauspieler. Die Tränen des Schauspielers stammen aus seinem Gehirn; die des empfindsamen Menschen steigen aus seinem Herzen auf. Beim empfindsamen Menschen bringt das Innerste den Kopf in maßlose Erregung; beim Schauspieler bringt bisweilen der Kopf eine vorübergehende Erregung im Innersten hervor: er weint wie ein ungläubiger Priester, der über die Passion predigt; wie ein Verführer zu den Füßen einer Frau, die er nicht liebt, die er jedoch täuschen will; wie ein Bettler auf der Straße oder am Portal einer Kirche, der Sie
106 Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt, S. 179. 107 Ebd., S. 180.
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beschimpft, wenn er sieht, daß es ihm nicht gelingt, Sie zu rühren; oder wie eine Kurtisane, die nichts empfindet, aber in Ihren Armen die Besinnung verliert.«108
Diderot konzipiert die Kurtisane als paradigmatisches Beispiel für eine kalte Verstandesschauspielerin, die nichts empfinde, aber ihre Leidenschaft in den Armen des Freiers heiß performe. Für Diderot ist die Kurtisane ein positives Vorbild für den Schauspieler, der sich selbst unter Kontrolle hat und zugleich seine Wirkung auf den Zuschauer kühl berechnet. Denn nicht die Empfindsamkeit im Herzen macht Diderots Meinung nach einen erhabenen Schauspieler aus, sondern die Steuerung affektiver Vorgänge durch das Gehirn. Das Paradox des Schauspielers liegt nach Diderot darin, dass Schauspieler Gefühle nur dann glaubhaft vermitteln können, wenn sie diese gerade nicht empfinden. Der erhabene Schauspieler ist nach Diderot immer schon eine Hure in Bezug auf seine eigenen Gefühle und die des Publikums: Er täuscht sie vor. Genau darin liegt nach Diderot die künstlerische Leistung des Schauspielers, denn er kann sie wiederholen, so wie auch die Kurtisane ihre Leidenschaft für jeden Kunden als Teil der von ihr erwarteten Arbeitsleistung wieder und wieder herstellen kann. Wenn Diderot für den Schauspieler mit Verstand plädiert, so geht es dabei auch um die Vermittlung ästhetischer Distanz, die zwischen Schauspielern und Zuschauern seiner Meinung nach herrschen soll. In Diderots Konzeption des Schauspielers wird es zu einem Qualitätsmerkmal, dass der Schauspieler seine persönlichen Emotionen und sein privates Begehren nicht zur Aufführung bringt. Zur Schau und zum Kauf: Die Disposition von Schauspielern und Schauspielerinnen Wenn Diderot beschreibt, wie Schauspieler und Schauspielerinnen Emotionen erzeugen können und inwieweit biographische und somatische Erfahrungen in den Darstellungsprozess eingebunden werden sollen, geht es auch um die Frage, wie das Verhältnis von Privatkörper und Figur im Akt der Darstellung zu charakterisieren ist. Denn die Disposition des Schauspielenden zeichnet sich durch Doppeldeutigkeit109 aus: Als phänomenologischer Körper und als semiotischer Körper tritt er in der Wahrnehmung der Zuschauenden auf. Darauf aufbauend
108 Denis Diderot: »Paradox über den Schauspieler«, in: Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander 2005, S. 137-147, hier S. 143. 109 Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 223.
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stellt der Theaterkritiker Julius Bab110 die strukturelle Nähe des Theaters zur Prostitution heraus. »Der Bürger setzt seit alter Zeit dem Schauspieler noch ein ganz anderes Vorurteil entgegen als dem sozial unzuverlässigen Künstler überhaupt, und zwar wesentlich deshalb, weil des Schauspielers Material der eigene Körper ist. Denn deshalb kann sich der Schauspieler nicht wie Maler oder Dichter von seinem Werk distanzieren, er steht mit seiner Privatperson immer gleichsam mit zur Schau, zur Schau − zum Kauf.«111
Der Schauspieler ist immer zugleich Subjekt und Objekt des theatralen Vorgangs, weil er nur über seinen eigenen Körper ein künstlerisches Ergebnis wie beispielsweise die Darstellung einer Figur zur Anschauung bringen kann. Da er also selbst das Medium und Material seiner Kunst ist, kann sich der Schauspieler weder von seiner Darstellung als Werk distanzieren, um sie zu betrachten, noch kann er sich im Darstellungsvorgang von seiner Privatperson und seinem Privatkörper distanzieren, weil durch seinen Körper und seine Person der Darstellungsakt verläuft. Selbst bei der Verkörperung einer dramatischen Rolle, durch welche die Illusion einer anderen geschaffen werden kann, ist die Privatperson des Schauspielers nie zu leugnen. Mit Babs Formel »zur Schau – zum Kauf« kommt zum Vorschein, was im Theater häufig verleugnet werden soll: dass Schauspieler und Schauspielerinnen als auch die künstlerische Arbeit, die sie hervorbringen, Teil ökonomischer Verhältnisse sind – und nicht eine allem enthobene sinnliche Erfahrung. Das Publikum hat sich den Blick auf die Schauspieler und Schauspielerinnen, ihre Handlungen und ihren Körper auf der Bühne mit einer Eintrittskarte ›gekauft‹. Hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zur Prostitution, im Rahmen derer sich eine Person ebenfalls in ihrer Körperlichkeit zum Kauf stellt. Nur die entgegengebrachten Leistungen divergieren. Im Gegensatz zu den anderen Künsten kaufen und rezipieren die Zuschauerinnen und Zuschauer im Theater kein objektivierbares Werk wie ein Gemälde oder ein Buch, sondern die Wirkungen, die Schauspieler und Schauspielerinnen mittels ihrer Körper am Leib der Zuschauenden hervorrufen. Die Hervorbringung und der Verkauf leiblich-ästhetischer Wirkungen evozieren die Projektion der Prostitution auf die Kunstform und Arbeit des Schauspielers und, ganz besonders, der Schauspielerin.
110 Julius Bab tritt als Produzent des Prostitutionsdiskurses um 1900 auf. Vgl. Kapitel 3. 111 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay. Berlin: Oesterheld & Co. 1915, S. 54.
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Die historische Figuration der Schauspielerin: Heilige und Hure Die Gegenwärtigkeit des phänomenologischen Körpers des Schauspielers, seine Sinnlichkeit und damit auch die Anwesenheit seines Geschlechtskörpers im Akt der Darstellung wurden erst reflektiert und problematisiert, als Schauspielerinnen die Bühne betraten. Der Frauenkörper, der als sexuell ansteckend konstruiert wurde, kehrte in besonderer Weise hervor, dass das Verhältnis von Darstellenden und Zuschauenden auf einer erotisch-ökonomischen Blickkonstellation fußt. Deshalb stellte die Schauspielerin schon immer eine Gefahr für das Gleichgewicht einer Ökonomie des Begehrens dar. Bereits durch den bloßen Anblick der Schauspielerin imaginierten die Theaterfeinde eine Verführung der Männer, stellt Doris Kolesch in Theater der Emotionen112 heraus: »Die theatralen Körperpraktiken ängstigen die Theaterfeinde aufgrund ihrer potenziell unkontrollierbaren und undisziplinierten Sinnlichkeit. So gelten die Schauspielerinnen als wahre ›Todesmaschinen‹, deren laszive Täuschungen und Freizügigkeiten Körper und Seele der Männer ins Verderben stürzen.«113
Damit geriet dem männlichen Zuschauer vor allem die Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit des phänomenologischen Körpers in den Blick, durch den die künstlerische Darstellung einer Figur verdrängt zu werden schien. Zugleich wurde das Verhältnis zwischen der Schauspielerin und dem männlichen Zuschauer als ein per se erotisches imaginiert. Das Spiel mit ihrem sinnlichen Körper in der Darstellung vor einem zahlenden Publikum brachte die Schauspielerin von Beginn an in den Ruf, eine Prostituierte zu sein. Was Doris Kolesch hier für das 17. Jahrhundert konstatiert, markiert ein Grundproblem weiblicher Schauspielkunst: Wie kann die Sinnlichkeit und Verführungskraft des weiblichen Körpers im Aufführungsgeschehen kontrolliert werden, damit die Schauspielerin nicht als Hure erscheint? Solange ihr Körper als ein sexuell ansteckender bzw. gefährlicher imaginiert wird, entwickeln sich weibliche Darstellungsdiskurse als Regulativ der weiblichen Sinnlichkeit. Dabei geht es seit jeher in letzter Konsequenz um die Gegenposition: den männlichen Zuschauer. Er soll von der Schauspielerin nicht adressiert werden, sondern sein
112 Vgl. Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a. M: Campus 2006, S. 218. 113 Ebd., S. 219.
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Begehren an ihr m Schutzraum des Theaters genießen können, ohne als Lüstling exponiert zu werden. »Im Grunde befanden sich Schauspielerinnen auf der Bühne in einer Zwickmühle. Sie sollten über weibliche Reize verfügen, durften diese aber nicht explizit zeigen, weil so nicht nur ihre Verehrer, sondern auch die Sittenwächter gereizt würden. Sie mußten das Kunststück vollbringen, anziehend zu sein, ohne dabei Erektionen zu verursachen.«114
Dieser Zwickmühle sollten die Schauspielerinnen durch Scham, Anmut und Grazie entfliehen. Roselt weist jedoch darauf hin, dass durch die »schamhafte Scheu« das »Begehren mancher Herren« noch gesteigert wurde.115 Günther Heeg hat diese Darstellungsanforderung der Natürlichkeit als »Zerreißprobe der Schauspielerin«116 zwischen Begehren und Verbot in seiner Untersuchung Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im 18. Jahrhundert charakterisiert. Die Schauspielerin sei einerseits mit dem Begehren des Publikums konfrontiert, andererseits mit dem ihr auferlegten Gebot, ihre Darstellung als weibliche Tugendhaftigkeit auszuweisen. »Die Schauspielerin des 18. Jahrhunderts, die ganz mit der symbolisch strukturierten Rolle eins werden soll, muß auf den existierenden Körper verzichten, der die Repräsentation flieht. Sie muß das Opfer der Weiblichkeit bringen.«117 Bereits im 18. Jahrhundert überschreitet die leibliche Existenz des weiblichen Körpers auf der Bühne die symbolische Repräsentation. Der weibliche Körper muss verdrängt und geopfert werden, damit er nicht permanent auf sich selbst verweist. Das ist das Darstellungsproblem, welches der Schauspielerin aufgebürdet wird und im bürgerlichen Trauerspiel und Rührstück ästhetisch verfasst wird. Sie hat die Rolle der Unschuld zu spielen, während das Publikum sein Begehren und die Sendung des Nationaltheaters gleichzeitig im Akt der Darstellung verwirklicht haben will. »Es erzeugt den double bind aus offiziellem Nichtwissen, Anti-Repräsentation, Primat des Sinns, Sieg der Tugend, Verbesserung der Sitten einerseits und der heimlichen Lust am
114 Jens Roselt: Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander 2005, S. 52. 115 Ebd., S. 53. 116 Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt : Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, S. 83. 117 Ebd., S. 87.
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Schauen und Zurschaustellen, dem Primat des Körpers, der Sensation des Lasters und der moralischen Entlastung andererseits.«118
Dabei müsse die Schauspielerin ihre Weiblichkeit als Opfer darbieten, damit sich die Gemeinschaft des Nationaltheaters konstituieren und zugleich dennoch ihr heimliches Begehren an der Schauspielerin entfalten könne. Dies führe die Schauspielerin aber zu Darstellungsforderungen, die immer mit dem Risiko behaftet seien, plötzlich als Hure angesehen zu werden. Die Anforderungen an die Natürlichkeit des Darstellungsvorgangs beschreibt Heeg folgendermaßen: »Sofern die Schauspielerin die Rolle mit ihren eigenen ›Naturangaben‹ bereichert, verspricht sie einzigartige Intimität, die das Begehren des Zuschauers weckt. Insofern sie das kreatürliche Substrat ganz ›in den Dienst‹ der Rolle stellt und seine Teile zu einem kunstvollen und wiederholbaren Ganzen zusammenfügt, wendet sie sich an die Allgemeinheit und verbittet sich jeden persönlichen Zugriff. Verrät sie zuviel »Vorbedacht und Kunst‹, nimmt ihr das Publikum die Unschuld nicht mehr ab. Ihre ›Naturgaben‹ scheinen dann nicht dem Einzigen im dunklen Zuschauerraum unwiederbringlich und absichtslos dargebracht, sondern allen jederzeit und überall öffentlich feilgeboten. Jeder einzelne Zuschauer fühlt sich dann von ihr betrogen, und augenblicklich korreliert ihr Bild mit dem der Hure.«119
Heeg führt vor, dass der Rolle der Unschuld mit einer »unschuldigen Darstellung«120 Folge zu leisten ist. Eine Darstellung der Unschuld und Natürlichkeit der Schauspielerin sei dann gelungen, wenn die Schauspielerin ihren Körper ganz mit der Rolle synthetisiere und es dem männlichen Zuschauer so erscheine, als wisse sie nichts von ihrer Darstellung. Zugleich wolle sich der Zuschauer als Einziger erfahren, dem die Intimität der Darstellung zuteilwerde. Das Misslingen der natürlichen Darstellung bringe die Schauspielerin in den Verruf der Prostitution. Zur Hure mache sich die Schauspielerin, wenn ihre Darstellung »absichtsvoll« erscheine. Absichtsvoll sei die Darstellung der Schauspielerin dann, wenn sie auf das Publikum in seiner Gesamtheit abziele und mit »zuviel ›Vorbedacht und
118 Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt : Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, S. 88. Herv. i. O. 119 Ebd., S. 89. 120 Ebd., S. 91.
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Kunst‹«121 handle. Genau dann fühle sich der Zuschauer, der sich als Liebender imaginieren will, von ihr betrogen, weil er nur einer unter vielen sei. Aber auch ein Übermaß an Künstlichkeit und Kunst, welches den Rahmen als künstlerischen und nicht intimen, naiven präsentiere, bringe die Schauspielerin in den Verruf der Hure. Die Hure jedoch stelle das Negativ des Phantasmas der weiblichen natürlichen Gestalt dar. Ohne die Potenz dieser Kippfigur könne zugleich das Bild der Unschuld seine Wirkung nicht entfalten, verdeutlicht Heeg. Denn die Dichotomie von Heiliger und Hure werde auf der Ebene der Rollenfächer fortgeführt, wenn etwa Emilia Galotti von Orsina in Lessings Drama Emilia Galotti oder Luise von Lady Milford in Schillers Kabale und Liebe abgegrenzt werde. So werde im bürgerlichen Trauerspiel stets die jugendlich Naive bzw. jugendliche Liebhaberin durch die Intrigantin bzw. Charakterdarstellerin grundiert.122 Wie Vexierbilder seien diese ineinander verzahnt und bedingten das Paradox der weiblichen Darstellung: »Der Vorwurf der Hurerei der Schauspielerinnen samt den heiligsten Beteuerungen ihrer Ehrbarkeit ist allgegenwärtig in den Debatten über die Schaubühne als moralische Anstalt und die gesellschaftliche Stellung und Sendung des Schauspielers. Unabhängig vom soziologisch-historischen Wahrheitsgehalt der Behauptungen ist es die Eigenart der Darstellung, die das Bild der Hure zum Komplement des Unschuldsengels macht. […] und es hängt vom Blick des Zuschauers ab, ob ihm die Hure oder die Heilige entgegenblickt.«123
Wenn die Erscheinung der Hure oder Heiligen nicht nur eine Frage der Darstellung ist, sondern auch eine des Zuschauerblicks, dann kann der Zuschauer der Darstellerin auch als Freier erscheinen. Heeg zeigt anhand der Figur der Schauspielerin Aurelie in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre die wechselseitige Projektion aufeinander auf. In den Augen der Schauspielerin sind es die Zuschauer, welche stets nur das ›eine‹ wollen und damit die künstlerische Sendung des Nationaltheaters unterlaufen. Der Vorwurf der Prostitution stellt eine wechselseitige Projektion von Zuschauern und Darstellerinnen dar, in der das verdrängte Begehren am Anderen zur Aufführung kommt.124 Spielweisen sind somit historisches Resultat eines bestimmten Theater- und Geschlechterverständnisses und
121 Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt : Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, S. 89. 122 Vgl. ebd., S. 91. 123 Ebd., S. 90f. 124 Vgl. ebd., S. 96f.
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eng damit verknüpft, in welcher Weise Schauspielerinnen (und Schauspieler) als begehrende und begehrliche Subjekte erscheinen und sich selbst erfahren durften bzw. dürfen. Energetisches Theater Die gegenwärtigen und historischen Theaterdiskurse zeigen, dass die Frage des Begehrens und der Intimität aufgrund der leiblichen Kopräsenz als medialer Disposition des Theaters schon immer durch Darstellungsdiskurse und räumliche Anordnungen diskutiert wird. Die Projektion der Prostitution konfrontiert das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Darstellenden darüber hinaus mit einem Sexualitäts- und Ökonomiediskurs. Wenn das Verhältnis zwischen beiden als jenes zwischen Freier und Prostituierter beschrieben wird, dann wird Theater als »commerce de plaisir«125 sichtbar, d.h. als ein »Handel mit sinnlicher Lust für andere«126. Erfahrungen der Sinnlichkeit und des Begehrens zirkulieren im Aufführungsgeschehen. Die mediale Disposition des Theaters, die durch leibliche Kopräsenz, eine erotisch-ökonomische Blickkonstellation zwischen Darstellenden und Zuschauenden, sowie die Doppeldeutigkeit des Schauspielers und der Schauspielerin gekennzeichnet ist, evoziert die Zuschreibung der Prostitution. Die historischen und gegenwärtigen Diskurse zur Beziehung von Zuschauenden und Darstellenden in der Aufführung entwerfen diese Beziehung als ein Verhältnis der energetischen Übertragung, welches sich mit dem Konzept der Feedback-Schleife, der responsiven Fremderfahrung durch und am anderen fassen lässt. In den wechselseitigen Projektionen von Zuschauenden und Darstellenden als Prostituierte und Freier zeigt sich die Ökonomie des Begehrens, die im Dispositiv des Theaters zirkuliert. Einen radikalen Entwurf dieses Verhältnisses hat der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard mit seinem Konzept des »energetische[n] Theater[s]«127 dargelegt. Im energetischen Theater sind Zuschauende und Darstellen-
125 Iwan Bloch zitiert den Begriff nach dem Arzt Louis Martineau, der diesen in seinem Buch La prostitution cladestine (1883) dargelegte. Iwan Bloch: Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Die Prostitution. Band 1, S. 34. 126 Ebd. In der Antike wurden alle Gewerbetreibenden als Prostituierte klassifiziert, die sinnliche Genüsse verkauften, etwa Schankwirtinnen, Sängerinnen, Fischverkäuferinnen, Prostituierte und Schauspielerinnen. 127 Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin: Merve 1982, S. 21.
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de durch »Kräfte, Intensitäten und Affekte in ihrer Präsenz«128 wechselseitig aufeinander bezogen. Eine Libidioökonomie tritt sich an die Stelle repräsentativer und semiotischer Besetzungen. Damit formuliert Lyotard die Utopie eines Theaters der Präsenz und einer enthierarchisierten Zirkulation einer Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters: »Wo man die Zeichenbeziehung und deren Kluft abschafft, wird die Machtbeziehung (die Hierarchie) und folglich die Herrschaft des Dramaturgen + Regisseurs + Choreographen + Bühnenbildners über die angeblichen Zeichen und die angeblichen Zuschauer unmöglich.«129
Mit dem Ende der Repräsentation gäbe es in diesem Sinne auch keine Zuschauenden mehr. Sie würden wie Darstellende und andere Objekte in der Aufführung zu Energieträgern. In Lyotards energetischem Theater wäre der Vorwurf der Prostitution nicht mehr zu erbringen, denn die Zuschreibung der Prostitution problematisiert ein Begehren, welches die Positionen und hierarchischen Beziehungen im Theater infrage stellt und an deren Zersetzung arbeitet. Zugleich werden durch die Projektion der Prostitution und auch nur im Vergleich des Theaters mit der Prostitution jene Hierarchien wiederum rekonstruiert. Durch das Konzept des energetischen Theaters charakterisiert Lyotard Theater als Dispositiv, in dem ein Begehren arbeitet, welches er vom Eros und vom Todestrieb Freuds ableitet. Das Dispositiv des Theaters kanalisiert diese Energie und lässt sie zugleich zirkulieren. Damit ist das Subjekt/der Zuschauende nicht den Strukturen des Dispositivs unterworfen, sondern aufgrund des Begehrens als »arbeitender Energie«130 ermöglicht es ihm, auch das Dispositiv durch Verschiebungen und Versetzungen zu verändern. Dabei stellt das Dispositiv ein Machtgefüge dar, welches durch räumliche Strukturierungen gekennzeichnet ist. Aufgrund dieser räumlichen Strukturen finden mittels der arbeitenden Energie fortlaufend Grenzziehungen, Verdoppelungen und Versetzungen statt. Der Dispositiventwurf von Lyotard setzt also das Begehren von Zuschauenden und Darstellenden in Beziehung zu einem räumlichen Gefüge, das spezifische Hierarchisierungen hervorbringt. Das Dispositiv des Theaters formiert, so Lyotard, eine hierarchische Beziehung von Bühne und Saal und eine hierarchische Beziehung von
128 Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 21. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 48.
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außen und innen. Diese Grenzen regulieren, was in der Aufführung wahrnehmbar wird und was nicht. »Tatsächlich ist jedes Theater ein Dispositiv, das mindestens ein Mal verdoppelt wird (es kann auch mehrfach verdoppelt werden: Hamlet, Marat-Sade, La prochaine fois je vous le chanterai; es kann umgedreht werden; es kann verschoben werden: die Schauspieler spielen in den Kulissen, die Zuschauer sitzen auf der Bühne); es wird also aus zwei Grenzen, zwei Sperren gebildet, welche die Eingangs- und die Ausgangsenergie filtern: eine Grenze (1), die bestimmt, was dem Theater ›äusserlich‹ ist (die Realität) und was ihm ›innerlich‹ ist; und eine Grenze (2), die das Innere aufteilt in das, was wahrzunehmen ist und was nicht (Schnürboden, Kulissen, Bestuhlung, Publikum…)«.131
Die Zirkulation des Begehrens setzt Lyotard in eine räumliche Dimension des Theaters, die von Ein- und Ausschließung, Machtstrukturen und Relationen bestimmt ist. Doch diese Grenzen erweisen sich als instabil und bedroht. Aufgrund der unablässig arbeitenden Libidoenergie stellt sich kein stabiles Machtgefüge her, stattdessen werden Aushandlungsprozesse eröffnet. Genau dies bildet der Prostitutionsdiskurs um 1900 ab, der permanent daran arbeitet, Differenzen hervorzubringen, um die Grenzen zu stabilisieren. Lyotards Konzept des energetischen Theaters ermöglicht es der Betrachtung des Prostitutionsdiskurses sowie des Theaters als Dispositiv, die nichtdiskursiven Effekte des Begehrens zu erfassen und hervorzubringen, die Foucaults Dispositivbegriff nicht fasst.132 Durch Lyotards Theaterdispositiv wird deutlich, dass eine Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters die Kräfte und Sichtbarkeiten um die Grenze von Zuschauenden und Darstellenden, innen und außen der Darstellung und dadurch auch die Differenz von Theater und Prostitution strukturiert. Die Zuschreibung der Prostitution an das Theater zeigt diese ästhetischen, ökonomischen, sozialen und geschlechtlichen Asymmetrien und Versetzungen auf, welche das Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden regulieren, und bestimmt dieses Verhältnis als ein erotischökonomisches Tauschverhältnis, gekennzeichnet durch Projektion, Verfehlung, Vortäuschung und Verwechslung. Davon erzählt der Prostitutionsdiskurs um 1900.
131 Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 22. Herv. i. O. 132 Vgl. hierzu das erste Kapitel von »Das Dispositiv des Theaters«.
3 Das Theater der Prostitution: Figurationen und Motive um 1900
In diesem Kapitel möchte ich nun die theoretische Perspektive um eine historiographische erweitern: Wie ein roter Faden zieht sich der Vorwurf der Prostitution durch die gesamte Geschichte des Theaters. Die in Kapitel 2 dargelegte mediale Disposition des Theaters ist dabei für die historische Kontinuität der Metapher der Prostitution in Bezug auf das Theater verantwortlich. Doch darüber hinaus muss der Prostitutionsdiskurs als ein zeitspezifischer und historischer betrachtet werden, welcher das Theater, dessen gesellschaftliche Stellung, dessen Aufführungen sowie dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter dem Zusammenwirken von ästhetischen, sexuellen, ökonomischen und sozialen Faktoren reflektiert. Stellt Prostitution in Bezug auf das Theater seit der Antike ein wiederkehrendes Motiv dar, formiert sich die metaphorische Rede von der Prostitution doch erst um 1900 zu einem »unaufhörlichen […] Rauschen«1, sodass von einem Diskurs gesprochen werden kann. In einer Vielzahl von Textformen und Darstellungen, die von zeitkritisch soziologischen Essays, Theaterromanen, Dramen, Schauspielerinnenbiographien, Zeitschriften, Theaterstreitschriften, Theatergeschichte, psychoanalytischen Abhandlungen bis hin zu Karikaturen und Zeichnungen reichen, kommt der Prostitutionsdiskurs zur Aufführung. Zurückzuführen sind das Anschwellen des theatralen Prostitutionsdiskurses und das literarische Spiel mit der Metapher der Prostitution in Bezug auf das Theater jedoch auf sozial-ökonomische Faktoren, die zur Herausbildung eines Theaterproletariats führten und der realen Sexarbeit von Schauspielerinnen Vorschub leisteten. Insofern ereignet sich die Ausdifferenzierung der Projektion der
1
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 10.
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Prostitution in Bezug auf die Kunstform und Institution des Theaters vor dem Kontext einer sozioökonomischen Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen am Theater und darüber, wie diese die Sexarbeit von Schauspielerinnen beförderten. Im Folgenden möchte ich zunächst eine soziohistorische Kontextualisierung des Prostitutionsdiskurses vornehmen. Dabei gehe ich von folgender These aus: Der Prostitutionsdiskurs reagiert auf einen historischen »Notstand«2 des Theaters. Die ökonomischen Probleme, die aus der Gewerbefreiheit des Theaters seit 1869 resultieren, werden in der Diskussion verstärkt durch das alle Lebensbereiche durchdringende »Sexualitäts-Dispositiv«3.
S OZIOHISTORISCHE F AKTOREN : D ER P ROSTITUTIONSDISKURS UM 1900 In der Wendezeit um 1900 vollzieht sich ein tiefgreifender struktureller Kulturund Gesellschaftswandel: »[d]ie Entwicklung von der ›Bürgerstadt‹ zur Großstadt, die Ausdifferenzierung der Wissenschaften sowie das Entstehen neuer Formen der Öffentlichkeit bzw. des Konsums«4. Das bürgerliche Zeitalter ist ein widersprüchliches: Ökonomisierung, Bildungs- und Repräsentationsanspruch des Bürgertums, Hoch- und Popkultur, »illusionistische Schauvergnügungen«5 und der aufkommende Naturalismus eines Gerhart Hauptmann oder Henrik Ibsen existieren in einer »Vielfalt von theatralen Genres und theaterkulturellen Sphären«6 nebeneinander. In dieser Zeit wird die Projektion der Prostitution auf das Theater zu einem »Topos der Kulturkritik«7, um soziale, sexuelle, ästhetische und ökonomische
2
Michel Foucault: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, S. 120.
3
Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, S. 105, so-
4
Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um
wie meine Ausführungen dazu in der Einleitung. 1900. Tübingen [u.a.]: Francke 2008, S. 47. 5
Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters.
6
Ebd., S. XVII.
7
Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um
Band 3. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1999, S. XVII.
1900, S. 40.
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Missstände und Umbrüche der modernen Gesellschaft anzuzeigen und zu reflektieren. In Bezug auf das Theater gründet sie sich vor allem auf eine Kritik an den Auswirkungen der 1869 eingeführten Gewerbefreiheit des Theaters, der zufolge Theater als Privatunternehmen gegründet werden konnten. Peter W. Marx und Stefanie Watzka sehen aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Historiographie in der Gewerbefreiheit des Theater von 1869 »das wichtigste Datum«8 für die Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Damit tritt die Ökonomie des Theaters in den Fokus und wirkt auf das Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden sowie die Arbeitsbeziehungen am Theater ein. Aufgrund der ökonomischen Umbruchsituation gerät die Institution Theater in den Verruf der Prostitution. Als Bordell wird metaphorisch insbesondere das Varieté als Inbegriff eines »Theater des Sinnlichen«9 dargestellt, das die neue Form des Geschäftstheaters repräsentierte. Innerhalb des Arbeitsfeldes Theater tritt zudem eine neue Berufsgruppe in Erscheinung: die Theateragenten10, welche im Zuge der Ökonomisierung und Dezentralisierung des Theaters ab den 1830er Jahren als Vermittlerfiguren ökonomische und personelle Aufgaben am Theater übernehmen und mit ihrer Geschäftspraxis sowohl real als auch metaphorisch in den Verruf der Prostitution kommen. Der Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater um 1900 nimmt bei der Gewerbefreiheit seinen sozialkritischen Ausgangspunkt, um die ausbeuterische und prekäre Lage am Theater anzuzeigen. Als ein solches soziales Übel wird die Gelegenheitsprostitution von Schauspielerinnen angesehen und als soziale Folge der Ökonomisierung des Theaters und der Herausbildung eines Theaterproletariats dargestellt. »Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Prostituierten rekrutierte sich
8
Peter W. Marx/Stefanie Watzka: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt: Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914. Tübingen: Francke 2009, S. 9-16, hier S. 9.
9
Das Varieté entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. In Hinterzimmern von Tavernen und Pubs wurden den männlichen Gästen erotische Programme angeboten. Insofern ist das Varieté in seinen Anfängen eine theatrale Form, die das sexuelle Interesse des männlichen Publikums wecken soll. Vgl. Ernst Günther: »Varieté«, in: Hans-Otto Hügel: Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, 460-465, hier S. 460.
10
Zum Beruf des Theateragenten, der sich in den 1830er Jahren entwickelte: Vgl. Stefanie Watzka: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger. Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft. Marburg: Tectum 2006.
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aus kleineren Schauspielerinnen, Chorsängerinnen, Artistinnen, Tänzerinnen, ›Brettldamen‹ usw.«11, konstatiert Regina Schulte zur Situation der Prostitution am Ende des 19. Jahrhunderts. Als Ursache für die reale Sexarbeit von Schauspielerinnen werden geringe Gagen, Kündigung nach unbezahltem Probemonat oder längere Arbeitslosigkeit angeführt. Insbesondere Schauspielerinnen waren von den prekären Arbeitsbedingungen am Theater betroffen, zu denen geschlechtsspezifische Theatergesetze wie Kündigungsmöglichkeit bei Heirat oder unehelicher Schwangerschaft einer Schauspielerin sowie der sogenannte Kostümparagraph beitrugen.12 Diese drei Theatergesetze betreffen eine biopolitische Regulierung des Schauspielerinnenkörpers: Durch die Sanktionierung unehelicher Schwangerschaft wurde der unsittliche Körper der Schauspielerin ›bestraft‹; durch die Intoleranz einer Heirat sollte sie als imaginäres Sexualobjekt der Bühne erhalten bleiben und an das männliche Publikum stets die Vorstellung vermitteln, sie sei noch zu haben. Im Gegensatz zu ihrem männlichen Kollegen musste die Schauspielerin zudem ihre Kostüme als Kapital in ihr Engagement mit einbringen.13 Der Kostümparagraph stellte die Schauspielerin vor eine ökonomische Kalkulation: Um die im Rahmen ihres Engagements verlangten Kostüme vorweisen zu können, musste sie als Kapital ihren sexuellen Körper oder das Nähen als Re-
11
Regina Schulte: Sperrbezirke, S. 105.
12
Schwanbeck weist diese drei Punkte als soziale Hauptprobleme der Schauspielerin um 1900 aus. Vgl. Gisela Schwanbeck: Sozialprobleme der Schauspielerin im Ablauf dreier Jahrhunderte. Berlin-Dahlem: Colloquium 1957, S. 74.
13
Die enorme ökonomische Last des Kostümparagraphen für die Schauspielerin wird durch folgende lange Liste an aufzubringenden Kostümen deutlich: »Allein die Grundausstattung an historischen Kostümen besteht für die junge Schauspielerin aus mindestens fünf Varianten: 1. Griechisches Kostüm, ärmellose Tunika in blaßrosa, hellblau oder weiß, Sandalen und Armspangen, 2. Spanisches Kostüm mit langer, schmuckbesetzter Plüschschleppe, Stuartkragen, Mantilla und Haarkämmen, 3. Gretchenkostüm mit Haube, 4. Rokokokostüm mit allem Schnickschnack und noch ein bescheidenes Biedermeierkleidchen. Doch das ist längst nicht alles. Zum historischen Grundstock kommen die Gesellschaftskleider, Stadttoiletten, Strandtoiletten, Besuchstoiletten, Bummeltoiletten, Dinertoiletten, Balltoiletten […].« Malte Möhrmann: »Die Herren zahlen die Kostüme. Mädchen vom Theater am Rande der Prostitution«, in: Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 2000, S. 292-317, hier S. 295.
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produktionsarbeit mit einbringen. Die Diskussion über die reale Prostitution von Schauspielerinnen rekurriert darauf, dass der Kostümparagraph dafür Vorschub leistete. Hier vermischt sich im Prostitutionsdiskurs die soziale Realität mit der Projektion auf die Schauspielerinnen als Prostituierte. Ein Großteil der Diskursproduzenten kritisiert zugleich mit dem Vorwurf der Prostitution im metaphorischen Sinne die ökonomische Kalkulation des Sexualkörpers der Schauspielerin für die Geschäftspraxis des Theaters. Diese Kritik erzählt zugleich von verdrängten erotischen Phantasien, die Schauspielerinnen in der Wahrnehmung der Diskursproduzenten evoziert haben: Die Schauspielerin stellt um 1900 für ihre Zuschauer ein heikles, sexuelles und faszinierendes »Ideal der Weiblichkeit«14 dar und ihre Anziehungskraft wurde zum kulturellen Motor des Theaters. Diese Motive verbinden sich um 1900 mit einem anderen Feld, welches auf das Theater und seine Diskurse Einfluss nimmt: die sich entwickelnde Sexualwissenschaft und Prostitutionsforschung. Um 1900 wird Prostitution zu einer Kategorie des Wissens in verschiedenen Forschungsfeldern wie Medizin, Psychoanalyse und Sexualwissenschaft. Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf das Subjekt der Prostituierten und auf ihre Sexualität. Eine Vielzahl von Hygienikern, Kulturwissenschaftlern, Kriminologen und Medizinern15 praktizieren ihre Studien als Devianzforschung: Prostitution kategorisieren sie als abweichendes sexuelles und soziales Verhalten, das sie abwertend verurteilen. Die Prostituierte wird zur exemplarischen weiblichen Versuchsperson der medizinischen und psychiatrischen Wissenschaft, die wie eine Kriminelle untersucht, vermessen und verhört wird.16 Dabei repräsentiert sie in den Augen der Sexual-
14
Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um
15
Zu nennen sind: Pierre Dufour: Weltgeschichte der Prostitution. Alfred Blaschko:
1900, S. 299. Die Prostitution im 19. Jahrhundert. Berlin: Aufklärung 1902. Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf der Darstellung und Biologie und Psychologie des normalen Weibes. Reprint Hamburg 1894. Saarbrücken: VDM 2008. 16
Der italienische Psychiater Cesare Lombroso versuchte in seinem Werk Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte von 1894 anhand unzähliger Messungen der Physiognomie von Prostituierten zu beweisen, »dass eine monströse Physiologie mit einer ›ethischen Idiotie‹ einhergehe«. Damit machte er die Prostituierte zum weiblichen Gegenmodell des ›geborenen‹ männlichen Verbrechers. Katja Sabisch: »Die Prostituierte im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«, in: Božena Chołui/Ute Gerhard/Regina Schulte (Hg.): Pros-
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wissenschaftler den als ›pervers‹ disqualifizierten sexuellen Körper sowie bedrohliche Aspekte weiblicher Sexualität. Im Zuge dieser Forschungen wird auch die Schauspielerin mit dem Typus der Prostituierten verglichen, um über ihre Sexualität Modelle von Subjektivität und Künstlerschaft zu verhandeln. Die Prostitutionsforschung kehrt aber auch die sexuellen Wirkungen des Theaters auf seine Zuschauer und Zuschauerinnen hervor. Zwischen Abwehr und Faszination kommt es um 1900 im Rahmen der Sexualwissenschaft zu einer Narration der Sexualität in Bezug auf das Theater, die gegensätzliche Bewertungen erfährt. Iwan Bloch etwa stellt in seinem zweibändigen Werk Die Prostitution (1912), in dem er medizinisch-naturwissenschaftliche mit kulturhistorischer Forschung verbindet, Prostitution wie Theater als eine vorzivilisierte Praxis dar, die sich auf einer »Form der dionysischen Selbstentäußerung des Menschen, religiöser und künstlerischer Ekstase«17 gründe. Dies wertet er als Vertreter der Devianzforschung als ein ›verwerfliches‹ und ›krankhaftes‹ Vergnügen ab, um darüber eine Abgrenzung der kulturellen Praxis der Moderne vorzunehmen und diese wiederum als eine Aufklärungs- und Fortschrittsgeschichte erzählen zu können. Der Sexualwissenschaftler Leo Schidrowitz wiederum entwirft eine Gegengeschichte zu Blochs Konstrukt: Theater repräsentiere das »Amüsement der Menschheit«, dessen Bedeutung für das Publikum aus den Darstellungen von »Schmutz, Lüsternheit, Spottlust; Scherz, Satire, Ironie«18 entstehe, die es im Theater erleben könne. In Schidrowitz Sittengeschichte des Theaters (1925) kommen dem sexuellen Spiel und nicht der Theatervorstellung Aufführungscharakter und Aufmerksamkeit zu. Dies stellt er in zahlreichen Anekdoten und Bildern als Sammlung aus: mit schönen Schauspielerinnen, versunken in ihr Rollenstudium, vielen halbnackten Frauen in erotischen Dessous, Küssen in der Loge und hinter den Kulissen bei laufender Vorstellung, einem Guckkasten ums männliche Geschlecht und Blicken mit Riesenfernrohren unter Damenröcke. Schidrowitz Sittengeschichte erzählt Theater als Schauplatz eines gesteigerten Voyeurismus. Die Zuschreibung der Prostitution an das Theater erscheint bei
titution, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Heft 1/2010. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010, S. 11-28, hier S. 18. 17
Iwan Bloch: Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen.
18
Leo Schidrowitz: Sittengeschichte des Theaters. Eine Darstellung des Theaters, sei-
Die Prostitution. Band 1, S. XIX. ne Entwicklung und Stellung in zwei Jahrtausenden. Wien [u.a.]: Verl. für Kulturforschung 1925, S. 309.
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ihm im Sinne Lyotards als ein energetisches Theater, in dem Effekte des Sexuellen auf die Zuschauerinnen und Zuschauer zirkulieren, welche die Projektion der Prostitution präsent halten, ohne den Geschlechtsakt selbst in Szene zu setzen. Schidrowitz Sittengeschichte des Theaters stellt keine seriöse historische Abhandlung über die Erotik des Theaters dar. Er entwirft durch Auswahl und Collage erotischer Abbildungen und Anekdoten eine Populärgeschichte, die die Sexualität zum Movens der Kultur erhebt.19 Sexualwissenschaft und Prostitutionsforschung haben entscheidenden Anteil an der unablässig zirkulierenden Rede von Sexualität, die Foucault als scientia sexualis beschrieben hat. »Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und als das Geheimnis geltend machen.«20 Dabei ist es stets die Konstruktion ›des Anderen‹, die das Begehren nach Spezifizierung weckt und damit zu einem Anschwellen der Diskurse der Sexualität durch Inklusion und Exklusion führt, was sich beispielhaft am Diskurs um Prostitution zeigt. Dieses wissenschaftliche Interesse an Sexualität, Weiblichkeit und Prostitution ist einer der Gründe für die Formierung des Prostitutionsdiskurses in Bezug auf das Theater um 1900, da dieser Diskurs als Anreiz des Wissens eine Zirkulation sexueller Energie in den ästhetischen und ökonomischen Debatten am Theater freisetzt. Die unablässige metaphorische Rede von der Prostitution ›infiziert‹ Theaterliteratur21, Theaterbilder und Beziehungsverhältnisse am Theater. Die um 1900 soziohistorisch bedingten Motive von Gewerbefreiheit, prekären Arbeits-
19
An die Tradition der Sittengeschichte von Schidrowitz knüpft Arthur Maria Rabenalts fünfbändige Ausgabe mit dem Titel Mimus eroticus an, in der er von der Antike bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine »erotische Schauszenik« ergründen will. Das akribische Sammeln historischer Erotik- und Körper-Erzählungen in den szenischen Künsten ohne Quellenangabe und das Abdrucken diverser weiblicher Aktaufnahmen popularisieren eine scientia sexualis. Wie Schidrowitz auch erscheint Rabenalt als spezifische Form des Forschers als Voyeur. Vgl. Arthur Maria Rabenalt: Mimus Eroticus: Die erotische Schauszenik in der antiken Welt (I)/ Das venusische Schauspiel im Mittelalter und der Renaissance (II-III)/ Beiträge zur Sittengeschichte der erotischen Szenik im 20. Jahrhundert (IV-V). Hamburg: Verlag für Kulturforschung 1965-1967. Der Begriff Prostitution ist im Sachregister erfasst.
20
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, S. 40.
21
Vgl. zum Zusammenhang von Theaterliteratur und Sexualität um 1900: Johannes W. Pankau: Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
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bedingungen und Schauspielerinnen als ›real‹ tätigen Sexarbeiterinnen sowie die Entstehung der Prostitutionsforschung und des Sexualitätsdispositivs eröffnen die Bühne für die metaphorischen Verhandlungen von Theater und Prostitution.
É MILE Z OLAS N ANA ALS P ROJEKTIONSFLÄCHE DES P ROSTITUTIONSDISKURSES Prostitution in Bezug auf das Theater wird um 1900 zu einem populären Motiv, insbesondere im Genre des Theaterromans22, was entscheidenden Anteil daran hat, dass Prostitution zu einer kollektiven Imagination über das Theater gerinnen kann. Besondere Strahlkraft auf den deutschen Prostitutionsdiskurs und seine Produzenten übt der »Prostituiertenroman«23 Nana (1880) des französischen Autors Émile Zola (1840-1902) aus. Der Roman liefert eine faszinierende und angstbesetzte Projektionsfläche für die Topoi und Figurationen des Prostitutionsdiskurses: Die Protagonistin Nana verkörpert die paradigmatische Figur der Theaterprostituierten. Sie repräsentiert das Phantasma der sich sexuell zur Schau stellenden Schauspielerin, die nur mittels der Schönheit ihres Körpers ihr Publikum in einen sexuellen Bann zu ziehen weiß. Die männlichen Zuschauer werden zu schweißgebadeten Voyeuren, die den sexuellen Akt mit ihr begehren. Genau dieses Begehren weiß der Theaterdirektor ökonomisch zu kalkulieren und macht keinen Hehl daraus, dass sein Theater zum Bordell und damit zum Geschäft wird. Der Roman, der sein Ursprungsmotiv in Eduard Manets gleichnamigem Bild Nana von 1877 fand und in der Verfilmung von Jean Renoir künstlerisch fortgeschrieben wurde, entfaltet eine paradigmatische Narration über das Theater der Prostitution um 1900. Zola beginnt seinen Roman mit einer detaillierten Beschreibung eines Pariser Varietétheaters und dessen Milieus: dem opulenten Bühnenraum, der Geschäf-
22
Lena Blessing macht deutlich, dass Prostitution im Genre des Theaterromans sowohl in Bezug auf das Leben der Darstellenden als auch zur Figurenzeichnung der unkeuschen Schauspielerin häufig thematisiert wird. Die Theaterromane würden dies als »soziales und wirtschaftliches Problem der gesellschaftlichen Stellung einer Schauspielerin« erkennen. Lena Blessing: »…aber die Theaterwelt ist überhaupt eine ganz andere Welt als die gewöhnliche«. Das deutsche Theater im Spiegel des Theaterromans des 19. Jahrhunderts. Berlin: Logos Berlin 2010, S. 200f.
23
O. A.: »Daten zu Leben und Werk«, in: Émile Zola: Nana. Frankfurt a. M.: Fischer 2009, S. 469-471, hier S. 470.
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tigkeit der Mitarbeitenden des Theaters, der Neugier und Ungeduld des Publikums wegen der bevorstehenden Premiere der Inszenierung »›Die blonde Venus‹«24. Nana, der Name der Darstellerin, welche die Hauptrolle der Venus spielen wird und zuvor ihr Geld als Prostituierte verdient hat, ist in den Gesprächen des Publikums und Kritiker übermächtig präsent. Niemand hat sie bisher als Schauspielerin auf einer Pariser Bühne erlebt, doch bereits vor ihrem ersten Auftritt wird sie als »Entdeckung des Bordenave«25 und als »neue[r] Stern«26 betitelt. Der Theaterdirektor Bordenave verwehrt sich im Gespräch mit dem Kritiker Fauchery und dessen aus der Provinz stammendem Vetter Hektor La Faloise dagegen, sein Unternehmen Theater zu nennen, und entgegnet mehrfach insistierend: »Sagen Sie lieber: mein Bordell …«27 Auch bezeichnet er seine Schauspielerinnen als »Dirnen«, welche er durch Schläge aufs Hinterteil zur Raison bringe. Die Auskunft, die der Direktor den beiden Herren über Nana gibt, ist, dass sie »die Stimme einer Klistierspritze«28 habe und keine ausgezeichnete Schauspielerin sei, sondern: »Wie ein Stück Holz! Sie weiß weder mit Händen noch Füßen etwas anzufangen.«29 Daraufhin fragt der Kritiker, wie denn Nana, wenn sie doch nicht singen und nicht spielen könne, seine Theaterinszenierung zu einem Erfolg führen könne? Woraufhin der Direktor entgegnet: »Hat eine Frau es nötig, singen und spielen zu können? Ach, mein Kleiner, du bist recht dumm! Nana hat etwas anderes … Donnerwetter! Etwas, das alles ersetzt … […] Du wirst sehen, sie braucht nur auf der Bühne erscheinen, und das ganze Haus läßt die Zunge heraushängen.«30
An die Stelle schauspielerischen Könnens rückt im Kommentar des Theaterdirektors Bordenave Nanas Geschlecht. Weil sie eine Frau sei, habe sie »anderes« zu bieten. Was konkret dieses sexuell konnotierte ›Andere‹ ist, ist der Imagination seiner Zuhörer überlassen, verschwindet hinter einem Kraftausdruck wie »Donnerwetter« und der bildlichen Beschreibung des Publikums, das ihr hinterherhecheln werde. So wird Nana über mehrere Seiten hinweg nur über Fremdbe-
24
Émile Zola: Nana. Frankfurt a. M.: Fischer 2009, S. 8. Herv. i. O.
25
Ebd., S. 9.
26
Ebd., S. 8.
27
Ebd., S. 10.
28
Ebd.
29
Ebd.
30
Ebd., S. 11.
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schreibungen als »imaginierte Weiblichkeit«31 eingeführt, von der niemand weiß, woher sie kommt, die kein schauspielerisches Geschick habe, die alle anderen Schauspielerinnen in Neid und Konkurrenzkampf versetze, von der sich der Theaterdirektor Bordenave aber verspricht, dass sie nichtsdestotrotz ihre Wirkung auf der Bühne entfalten werde. Einige Zuschauerinnen tuscheln in abfälligen Worten über Nana und ihre Liebhaber. Die von Bordenave bereits im Vorfeld in Umlauf gesetzten Gerüchte über Nana erhöhen die Imagination und Spannung des Publikums umso mehr. Bordenaves Prophezeiung über Nanas Erfolg ist zugleich eine ästhetische und ökonomische Wirkungskalkulation, durch welche er Profit erwirtschaften will. Bis zu Nanas erstem Auftritt auf der Bühne wartet das Publikum gespannt, ungeduldig und aufgeregt und findet kaum Gefallen an den anderen Darstellerinnen und Darstellern. Doch dann tritt Nana zum ersten Mal vor das Publikum − und enttäuscht es. Denn Bordenaves Beschreibungen von Nanas stimmlichem und schauspielerischem Talent stellten sich nun nicht als Koketterie oder Übertreibung, sondern als Tatsachen heraus: »Nie hatte man eine so falsche, ungeschulte Stimme gehört. […] Sie hatte keine Haltung, warf die Hände in die Luft und wiegte den ganzen Körper, was sehr unschicklich und unschön gefunden wurde.«32 Während der erste Auftritt die Zuschauenden aufgrund der Darstellungsweise verstört, erobert sich Nana ihr Publikum jedoch mit jedem weiteren Auftritt immer mehr. Bevor das Publikum Unmut über die ungeschickte Darstellung bekunden kann, gewinnt Nana »Fühlung mit dem Publikum, durch ein Augenzwinkern schien sie selbst ihm sagen zu wollen: Ich weiß, dass ich kein Stümpfchen Talent habe; aber das tut nichts zur Sache, ich habe dafür etwas anderes.«33 Mit jedem weiteren Auftritt, den Nana innerhalb der Inszenierung hat, steigert sie das Begehren des Publikums: »[D]ieses große, starke Mädchen, das sich auf die Schenkel schlug und gluckste wie eine Henne, verbreitete einen Duft des Lebens, der Allmacht des Weibes um sich her, der das Publikum berauschte. Von diesem zweiten Akt an war ihr alles erlaubt: die schlechte Haltung auf der Bühne, das Falschsingen, die Unkenntnis der Rollen. Sie brauchte sich nur umzuwenden und zu lachen, um Beifall zu ernten. Als sie die famose Hüftbewegung
31
Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchun-
32
Émile Zola: Nana, S. 22.
33
Ebd., S. 23.
gen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen.
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machte, geriet das Parkettpublikum in Feuer; die Hitze stieg von Rang zu Rang bis zur Decke hinauf.«34
Statt durch schauspielerische Kenntnis scheint Nana das Publikum durch ihre Natürlichkeit zu begeistern, die sich in Schenkelklopfen oder einem glucksenden Lachen äußert und mit der Metapher vom »Duft des Lebens« versehen wird. Nicht der schöne Schein, sondern ihr Sosein und ihre Körperlichkeit regen das Publikum zu rauschhaftem Applaus an. Nana lenkt mit »Allmacht« den Blick auf ihren phänomenologischen Körper, den sie durch das Spiel mit ihren weiblichen Reizen geschickt in Szene setzt. Deshalb geht auch die Rechnung des Direktors auf, dass eine Frau auf der Bühne nicht spielen und nicht singen können müsse. Stattdessen zeigt sich Nana in ihrer Geschlechtlichkeit, die dem Publikum während einer Nacktszene als Venus35 noch deutlicher vor Augen geführt wird. »Ein Schauer ging durch den Saal. Nana war nackt. Sie war nackt mit einer ruhigen Kühnheit, der Allmacht ihres Fleisches sicher. Sie war in einen einfachen Gazeschleier gehüllt. Ihre runden Schultern, ihre Amazonenbrust, deren rosige Spitzen aufrecht und fest standen wie Lanzenspitzen, ihre breiten, sich wollüstig wiegenden Hüften, ihre Schenkel – diese Schenkel einer üppigen Blonden; kurz ihr ganzer Körper war unter dieser leichten, schaumweißen Hülle zu sehen.«36
Nanas Geschlechtskörper, ihre Brust, ihre Hüften, ihre Schenkel, werden von Zola detailliert beschrieben und erotisch konnotiert.37 Im Zusammenspiel mit dem Gazeschleier wird der Schauwert ihrer Nacktheit inszeniert und durch die transparente Verhüllung erotisch gesteigert. Zola beschreibt Nanas Auftritt im Abgleich zur körperlichen Reaktion des Publikums: »Die Gesichter der Männer verlängerten sich und wurden ernst; die Nase zog sich zusammen, der Mund bebte, die Lippen wurden trocken.«38 Nanas Erscheinung führt zu einer Unmittelbarkeit des körperlichen Erlebens beim männlichen Publikum, zu einem Mo-
34
Émile Zola: Nana, S. 29.
35
Mit der Renaissance ist die Venus zum Inbegriff des weiblichen Aktes geworden.
36
Émile Zola: Nana, S. 35.
37
Der Roman wurde in der Kritik seiner Zeit teilweise als pornographisch eingestuft.
Seitdem kursieren mehrere berühmte Nacktdarstellungen.
Vgl. O. A.: »Daten zu Leben und Werk«, S. 470. 38
Émile Zola: Nana, S. 35f.
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ment des Erhabenen, der sie zugleich in Angst und Schrecken versetzt, wie Zola weiter beschreibt: »Nana lächelte noch immer, aber es war das grausame Lächeln des Weibes, das Männer vertilgt.«39 Die Erfahrung weiblicher Sexualität, die von Nana ausgeht, inszeniert Zola als Faszinosum und Gefahr zugleich. Damit entrückt er seine Protagonistin in das Reich der mythischen Frauenfiguren – ins Reich einer Medusa, die Männer durch ihren Blick erstarren lassen kann, oder der römischen Liebesgöttin Venus, die Nana in der Inszenierung tatsächlich spielt.40 »Nach und nach hatte Nana von dem Publikum Besitz ergriffen, und jetzt unterlagen ihr alle Männer. Die Brunst, die von ihr ausströmte wie von einem wilden Tier, verbreitete sich immer mehr und erfüllte allmählich den gesamten Saal.«41 Die Metaphern des Animalischen − »Brunst« und »wie von einem wilden Tier«42 − beschreiben eine Vorstellung weiblicher Sexualität, die sich instinktiv und triebhaft äußert und der sich die Männer nicht entziehen können. Doch auch die Zuschauerinnen werden als erbleichend und erstaunt beschrieben, auch sie stehen im Bann und Begehren von Nanas Körper. »Der ganze Saal war erregt und erschöpft, von einem Zauber befangen, von jenem Verlangen erfüllt, das in stiller Mitternachtsstunde die Insassen der Schlafstuben bewegt. Angesichts dieser fünfzehnhundert unterjochten, am Schlusse des nervenspannenden Schauspiels erschöpften Menschen stand Nana siegreich da in der Macht ihres Mamorleibes, in der Macht ihres Geschlechts, das sich stark genug fühlt, diese ganze Welt in Trümmer zu stürzen und inmitten des allgemeinen Verderbens aufrecht zu bleiben.«43
Erschöpfung, Erregung und Schweiß als zentrale Rezeptionserfahrungen der Aufführung von »Die blonden Venus« im Pariser Varieté gleichen der Beschreibung der körperlichen Erfahrung eines Sexualaktes, nur dass dieses Verlangen zwar gereizt, im Theater aber wie bei in Schlafstuben nächtigenden Menschen durch die Kollektivität nicht ›tatsächlich‹ vollzogen wird. Am Ende warten die Männer im Vorraum mit leuchtenden Augen und »brennend vor Begierde nach
39
Émile Zola: Nana, S. 36.
40
Diese wird in theaterfeindlichen Schriften auch als Gründungsgöttin des Theaters
41
Émile Zola: Nana, S. 37.
42
Ebd.
43
Ebd., S. 36f.
beschrieben. Vgl. Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele, S. 37f.
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Nana«44, die sie in der Realität weiterführen wollen. Und der Direktor, zufrieden mit dem Erfolg, den Nana seinem Theater bereitet hat, schließt mit den Worten: »Sag doch, in mein Bordell!«45 Anhand von Zolas Exposition lässt sich hinsichtlich des Prostitutionsdiskurses in Bezug auf das Theater zeigen, dass die Projektion von Theater als »Bordell« und Schauspielerinnen als »Dirnen« nicht aus per se feststehenden Funktions- und Berufsbestimmungen resultiert, sondern erst durch die Performativität der Handlungen und Sprechakte von Schauspielerinnen, Publikum sowie dem Theaterdirektor konstituiert wird. Nana als paradigmatische Figur der Schauspielerin als Prostituierte Der Theaterdirektor ist derjenige, der den Prostitutionsdiskurs im Roman explizit macht, indem er seine Schauspielerinnen als Dirnen und sein Theater als Bordell bezeichnet. Im Zusammenhang mit seiner Funktion als Unternehmer und Leiter des Theaters hat er Definitionsmacht bzw. wird ihm diese zugesprochen, wenn er im Vorfeld der Premiere von Theaterkritikern und Zuschauern befragt wird, was zu erwarten sei. Dieses Sprechen, welches die Rahmung der Premiere und des ersten Kapitels des Romans ausmacht, erweist sich als Lenkung der Rezeptionshaltung des Publikums (und der Leserschaft). Seine Definitionsmacht ermöglicht es insbesondere den männlichen Zuschauern, das sexuelle Interesse, welches sie innerhalb der Aufführungssituation entwickeln, auch noch später im Foyer gegenüber den Darstellerinnen zu formulieren. Zugleich präsentiert sich Bordenave als Ökonom par excellence, der die Theaterinszenierung als Geschäft betrachtet und die Wirkungen, die sie hervorrufen soll, genau berechnet hat.46 Bordenave organisiert sie als ökonomische Kalkulation sexueller Schauwerte. Im Zentrum seiner ökonomisch-ästhetischen Berechnung steht die Darstellerin Nana. Denn die Wirkungen, die Bordenave von Anfang an mit der Besetzung der Venus durch Nana berechnet hat, sind jene sexueller Lust, welche Nana
44
Émile Zola: Nana, S. 40.
45
Ebd.
46
Da von einem Regisseur nicht die Rede ist, ist davon auszugehen, dass Bordenave nicht nur für die Besetzung und die Vermarktung der Inszenierung verantwortlich zeichnet, sondern auch Regie führt. Die Einschätzung ästhetischer Wirkungen, die durch eine Inszenierung und die Darstellenden darin hervorgerufen werden sollen, ist im Allgemeinen die Aufgabe der Regie.
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durch vier zentrale Inszenierungsstrategien zu steigern weiß: durch ihre weibliche Schönheit, ihre Authentizität, ihre Nacktheit und das gekonnte kokette Spiel mit erotischen Reizen. Diese rücken ihren Geschlechts- und Privatkörper in den Mittelpunkt der Szene und steigern ihren Schauwert, insbesondere für das männliche Publikum. Das von Bordenave immer wieder beschriebene mystifizierte Andere an Nana kann im schauspieltheoretischen Sinne als Präsenz des Schauspielerinnenkörpers beschrieben werden. Nana generiert Aufmerksamkeit durch die Eigenart ihres nicht professionalisierten Schauspielerinnenkörpers und durch ihr Selbstbewusstsein, mit diesem umzugehen: Sie ist sich des Publikums als auch der Wirkungen, die sie entfacht, stets bewusst. Man könnte Nana als eine Performerin beschreiben, welche der Figur der Venus zwar ihren Körper gibt, sie aber nicht in einem psychologischen Sinne verkörpert, sondern als Folie für ihre eigene Selbstinszenierung47 benutzt. Diese entsteht erst in der Beziehung zu ihrem Publikum, zu dem sie eine »Fühlung« aufbaut und dessen Reaktion sie steuern und beeinflussen kann. Sie verschließt sich und ihren Körper nicht hinter der Illusion eines fiktionalen Spiels, sondern erfasst die Wirklichkeit, die sie zwischen sich und dem Publikum in der Aufführungssituation herzustellen vermag, und vermittelt diese wiederum durch zweierlei: »durch ein Augenzwickern«48, das sich als direkter Blick ans Publikum ausweist, und durch das Exponieren ihres (nackten) Körpers. Mit beiden Handlungen – dem direkten Blick wie der Darstellungsstrategie der Nacktheit – überschreitet Nana das kulturhistorische Paradigma weiblicher Darstellung (im Alltag wie auf der Bühne) des 18. Jahrhunderts, welches im 19. Jahrhundert durchaus noch Wirkmächtigkeit besitzt. Heeg hat in Das Phantasma der natürlichen Gestalt dargelegt, dass Hure und Heilige im 18. Jahrhundert wie Vexierbilder der weiblichen Darstellung ineinandergriffen und es letztlich nur eine Frage des Zuschauerblicks sei, welches Bild gesehen werde. Die Hure erscheine dem Zuschauer dann, wenn die Schauspielerin ihre Weiblichkeit nicht zugunsten einer unschuldigen, unreflektierten Darstellung opfere. Jede absichtsvolle Darstellung einer Schauspielerin, die ihre Wirkungen kalkuliert und an das gesamte Publikum adressiert, lasse sie in den Augen der Zuschauenden als Hure erscheinen. Dann fühle sich der einzelne Zu-
47
Vgl. Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim/Zürich/NewYork: Olms 2005.
48
Émile Zola: Nana, S. 23.
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schauer als Liebender betrogen, weil er nur ein Freier unter vielen sei.49 Heegs Darlegungen über weibliche Schauspielkunst und den inhärenten Vorwurf der Prostitution machen deutlich, dass die Diskurse um 1900 bereits in einer längeren schauspieltheoretischen Diskussion stehen und stets nach Lösungsansätzen suchen, der Existenz des weiblichen Körpers zu begegnen, welche sowohl für die Darstellung von weiblicher Unschuld als auch für das Synthetisieren mit einer Figurendarstellung problematisch erscheint. Vor dem Hintergrund dieses Darstellungsparadigmas wird deutlich, warum Nana im schauspieltheoretischen und genderspezifischen Sinne die Grenzen normativer Weiblichkeitsdarstellung sprengt. Nana opfert ihre Weiblichkeit nicht zugunsten einer unschuldigen, tugendhaften Darstellung. Sie ist sich ganz im Gegenteil ihres Körpers als Kapital und der Wirkungsmacht ihrer Sexualität bewusst. Genau dies macht sie aber vor dem Hintergrund des Paradigmas weiblicher Darstellung in der Wahrnehmung der Zuschauenden zu einer ›Hure‹. Durch den offensiven Umgang mit ihrem nackten Geschlechtskörper und im Wissen um den Blick des Publikums auf ihren Körper präsentiert sie sich als Dienstleisterin für die Verführung des Publikums. Der nackte Körper drängt sich den Betrachtenden unmittelbar auf: durch seine Gegenwärtigkeit, durch die Nähe zum Publikum, durch die direkte körperliche Reaktion von Scham über Ekel bis hin zu Lust, die er auszulösen vermag. Zola rückt in den Fokus seiner Beschreibung genau jenes Reaktionsverhältnis des Auftritts der nackten Darstellerin Nana zum unmittelbaren Feedback des Publikums. Dabei beschreibt Zola Nanas Nacktszene gerade nicht als einen Moment des Schocks, sondern als lustvolles Erleben, welches dem Publikum durch Nanas Sinnlichkeit widerfährt. Die Direktheit des Blicks und Nanas offensiver Umgang mit Sexualität authentifizieren sie im schauspieltheoretischen Sinne als Dirne, die die Liebeskünste und ihren Geschlechtskörper beherrscht und deren Auftritt auch den Übertritt der normativ-weiblichen Schamgrenze markiert. Sie gibt ihren Körper und ihre Genitalien den Blicken des Publikums preis. Durch ihre Nacktheit und ihren Blick macht sie den Zuschauenden ein erotisches Angebot. Sie bringt dabei zugleich ein Paradoxon zur Aufführung: Sie macht sich zum Objekt der Blicke und behält zugleich die Macht über die Wirkungen ihrer Darstellung (»Macht ihres Marmorleibes«, »Macht ihres Geschlechts«) bei. Damit gibt sie ihre Subjekthaf-
49
Vgl. Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, S. 90f. sowie meine Ausführungen in Kapitel 2, »Die historische Figuration der Schauspielerin: Hure und Heilige«.
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tigkeit nicht auf, sondern blickt zurück.50 Der Blick zurück an das Publikum, den Zola als ein Aufnehmen von »Fühlung mit dem Publikum« benennt, statt eines schamhaft gesenkten Blicks oder eines Schleiers über den Augen durchbricht das Dispositiv des männlichen Blicks sowie das Paradigma der unschuldigen Darstellung. Um 1900 wird der zurückgeworfene Blick einer Frau kulturhistorisch noch sexualisiert und gilt als mögliches Erkennungszeichen von Prostituierten. Durch die Wirkmächtigkeit von Darstellungs- und Weiblichkeitsdiskursen sowie die szenische Selbstinszenierung von Nana generiert sich ihre metaphorische Anrufung als Prostituierte. Im Sinne von Judith Butlers Theorie über die Performativität von Geschlecht ist nicht zu entscheiden, ob dieser Vorgang der Identitätsbildung ein Akt der Macht oder Ohnmacht des Subjektes ist. Am Beispiel Nanas zeigt sich jedoch, dass sie diese Anrufung, die bereits der Theaterdirektor durch seine Sprechakte vorbereitet hat, annimmt und mit ihr spielt. Die Darstellungsposition der Hure, die »Whore-Position«51, nutzt Nana als eine machtvolle, indem sie sich gerade nicht ausschließlich zum Objekt des Blicks macht, sondern diese als eine Subjektposition für die Autorschaft weiblicher Darstellung und Geschlechtsidentität nutzt. Doch mit der Macht der ›Hure‹ als Inbegriff einer selbstbewussten sexuellen Frau geht zugleich die Ohnmacht der Schauspielerin einher. Sie wird in ihrer Weiblichkeit und als Liebesobjekt begehrt, aber nicht in ihrer Künstlerschaft ernst genommen. Werner Hofmann schreibt in seiner Untersuchung Nana. Eine Skandalfigur zwischen Mythos und Wirklichkeit: »Das Mädchen Nana ist gleichsam eine Allegorie der Käuflichkeit. Der Mann ist eine Allegorie des betrogenen Käufers.«52 Die Beziehung zwischen Mann und Frau zeige sich bei Nana als die von Käufer und Ware. Die Käuflichkeit wird bei Hofmann mit einer kapitalismuskritischen Perspektive konnotiert, da die Ware den Käufer dominiere. Nana mache sich selbst zu einer Ware, die von Männern begehrt, die aber keiner von ihnen allein für sich haben kann. Prostitution repräsentiert ein Tauschverhältnis, in dem die eine Ware stets durch mehrere Hände zirkuliert.
50
Edouard Manet durchbrach mit seinem Aktgemälde Olympia (1863) paradigmatisch die Ikonographie des weiblichen Blicks. Auf dem Bild ist eine Prostituierte nackt auf einem Bett liegend zu sehen, die die Bildbetrachterinnen und Bildbetrachter nüchtern ansieht, während eine Dienstmagd ihr Blumen bringt.
51
Zur Annahme der Projektion der Hure als emanzipatorische Handlungspraxis von
52
Werner Hofmann: Nana. Eine Skandalfigur zwischen Mythos und Wirklichkeit.
Schauspielerinnen: Vgl. Kirsten Pullen: Actresses and whores. Köln: Dumont 1973, S. 85.
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Dies ist analog für die Aufführungssituation im Theater zu konstatieren: Nana als Darstellerin entfacht das Begehren einer Zuschauermasse, von der sich der Zuschauer den Status des einzigen Liebhabers nach Aufführungsschluss zurückerobern will. Die »Zerreißprobe der Schauspielerin«53 bleibt um 1900 bestehen: Sie pendelt nun zwischen sexueller Sublimierung der Projektionen des Zuschauers und dem eigenen Wunsch, sowohl sexuell als auch beruflich eigenständig als Frau leben zu können. Am Ende des Romans kann Nana ihr Glück nicht machen, das Begehren nach Verschwendung und Dekadenz lässt Zola nicht als Lebensziel für seine Protagonistin durchgehen. Der Roman Nana skizziert bereits das Diskursfeld der Projektion der Prostitution auf das Theater. Als zentrale Topoi des Diskurses lassen sich hieran ablesen: die Figuration der Schauspielerin als Prostituierte im Spannungsfeld der Dichotomie von Können versus Körper, die Kalkulation erotischer Wirkung und des Begehrens auf das Publikum im Aufführungsgeschehen sowie das Problem des ökonomischen Profits für den Betrieb des Theaters, mit dem die Figuration des Theaterdirektors als Zuhälters einhergeht. Es ist für die Analyse der Zuschreibung der Prostitution an das Theater festzuhalten: Je höher die Schauwerte des Körpers und je mehr diese für den Akt der Darstellung ökonomisch berechnet werden, umso mehr geraten die Darstellerin und das Theater in den Augen des Diskursproduzenten in den Verruf der Prostitution. Die Produktion des Mehrwertes eines Begehrens, das sich nicht auf den theatralen Gegenstand – Part der zu spielenden literarischen Figur –, sondern auf den Körper der Darstellerin richtet und über die Aufführungssituation hinaus darauf drängt, befriedigt zu werden, wird als erotische Aufreizung des Publikums verstanden, für die die Schauspielerin bezahlt wird. Die Protagonistin Nana in Zolas Roman wird zu einer paradigmatischen Figur der Schauspielerin als Prostituierte – auch jenseits des Romans. Nanas Auftritt im deutschsprachigen Prostitutionsdiskurs Im Rahmen des deutschsprachigen Prostitutionsdiskurses um 190054 wird Zolas Nana mehrfach zitiert. Nana tritt im Diskurs als negativ und gefährlich konno-
53
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt: Körper, Sprache und Bild
54
Diese Untersuchung beschränkt sich auf den deutschsprachigen Diskurs. Zum fran-
im Theater des 18. Jahrhunderts, S. 83. zösischen Prostitutionsdiskurs liegen keine wissenschaftlichen Studien vor. Der englischsprachige Diskurs ist in Ansätzen vom Shakespeare-Theater bis ins 20. Jahr-
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tierte Weiblichkeitsfigur auf, (angehende) Schauspielerinnen werden vor der Darstellung dieser Rolle gewarnt. Die Doppeldeutigkeit der Nana als Rolle einer Prostituierten und als Selbstinszenierung einer schlechten Schauspielerin in einem Theater der Prostitution wird für Schauspielerinnen zum Darstellungsproblem erklärt, insofern diese nicht selbst in den Verruf der Prostitution geraten wollen.55 »Dagegen wäre eine begründete Weigerung einer Darstellerin, in einer Dramatisierung von Zolas Nana die Heldin zu spielen, unter Umständen nicht aussichtslos. Aber da letzteres Stück und Dramatisierungen verwandten Kalibers mit durchaus eindeutigen Kurtisanenrollen nur auf Bühnen einer bestimmten Gattung, mit notorisch freiem Repertoire, zur Aufführung gelangen, so ist von vornherein anzunehmen, daß eine Darstellerin, die sich einem solchen Theater verpflichtet, sich darüber klar ist, daß sie keinen Lukretien und Thusnelden, sondern den leichtgeschürzten Heldinnen der Pariser Schwankmuße ihre Gestalt zu verleihen haben wird, und auch vor einer kompletten Trikotrolle und einem eindeutigen Milieu der Handlung nicht zurückschrecken darf.«56
Im Kontext einer Ratgeberliteratur für angehende Schauspielerinnen kommt der Vorwurf der Prostitution um 1900 markant zur Aufführung. Theaterkenner wie der Kritiker und Intendant Paul Schlenther57, der Schriftsteller, Dramaturg und
hundert aufgearbeitet. Vgl. Joseph Lenz: »Base Trade: Theatre as Prostitution«, in: ELH, Band 60/1993, S. 833-856. 55
In der Debatte um Volker Löschs Lulu-Inszenierung wird in der Verwechslung von Schauspielerinnen mit Sexarbeiterinnen beim Spielen der Prostituiertenrolle Lulu in der Gegenwart die gleiche Argumentation wiederholt. Vgl. in der Einleitung das Unterkapitel »Die Emanzipationsgeschichte der Schauspielerin«.
56
Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin. Leipzig: Rothbarth 1905, S. 103f. Sowie zur Entkleidungsszene der Nana: Vgl. Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung. Stuttgart: W. Hädecke 1922, S. 49.
57
Paul Schlenther (1854-1916) arbeitete 1883 als Kritiker der Deutschen Literatur Zeitung und ab 1886 bei der Vossischen Zeitung Berlin. 1889 war er Mitbegründer des Vereins der Freien Bühne. Als Direktor des Wiener Burgtheaters war er von 1898 bis 1910 tätig. Danach arbeitete er als Kritiker des Berliner Tageblatts. Vgl. C. Bernd Sucher (Hg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. München: dtv 1999, S. 612.
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Theaterkritiker Julius Bab58 der Theaterpublizist Heinrich Stümcke59 und der Kulturwissenschaftler Rudolf Goldschmit-Jenter stellen aus einer soziologischen und historiographischen Perspektive im Mittelpunkt ihrer zeitkritischen Essays den Topos der ›Frau als Schauspielerin‹ als Problematik für die Arbeit am Theater und ihre männlichen Zuschauer heraus. Der Prostitutionsdiskurs um 1900 wird von Männern entfacht, die in ihrer Funktion als Zuschauer Verhandlungen über das Verhältnis zur Schauspielerin und zum Theater um 1900 führen. Zolas Nana stellt in ihren Schriften eine zentrale Projektionsfläche für die Figuration der Schauspielerin als Prostituierte dar.
T HEATERNUTTE : Z UR F IGURATION
DER
S CHAUSPIELERIN
»Theaternutte: Schauspielerin mit geringem Bühnentalent, aber tüchtig in der Nutzanwendung ihrer körperlichen Reize.«60 Um 1925 bürgert sich das derbvulgäre Schimpfwort »Theaternutte« für eine talentlose Schauspielerin ein.61 Was Nana als imaginierte Weiblichkeit repräsentierte, materialisiert sich zu einer populären Zuschreibung, mit der Schauspielerinnen konfrontiert werden. Zu-
58
Julius Bab (1880-1955) gilt als Theaterchronist der Zeit um 1900. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Bab als Dramaturg tätig, erst in Königsberg und später in Berlin an der Volksbühne. 1939 ging er ins Exil, erst nach Frankreich, dann in die USA. C. Bernd Sucher (Hg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker, S. 32.
59
Heinrich Stümcke (1872-1923) war ein Theaterkenner des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Seine literarische Tätigkeit begann er 1891. Er war Herausgeber der Neuen literarischen Blätter sowie der Westöstlichen Rundschau. Die Theaterzeitschrift Bühne und Welt gründete er 1898 und gab sie bis 1913 heraus. 1902 gründete er die bis heute bestehende Gesellschaft für Theatergeschichte. Vgl. Peter W. Marx/Stefanie Watzka (Hg.): Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt: Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914. Tübingen: Francke 2009, S. 309.
60
Lemma »Theaternutte«, S. 832.
61
Der Begriff »Nutte« taucht erstmals im Berlinerischen des 19. Jahrhunderts auf. Die Etymologie des Begriffs Nutte gründet sich auf dem vulgär-derben Wort Nute für Ritze, Spalt für das weibliche Geschlechtsteil. Vgl. Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Günther Drosdowski. Duden Band 7. Mannheim: Brockhaus 1989, S. 492.
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mindest kann ein häufiger Gebrauch des Schimpfwortes impliziert werden, wenn dieses auch heute noch im Wörterbuch der Umgangssprache zu finden ist. Das bereits bei Nana angelegte Motiv des geringen schauspielerischen Könnens bei gleichzeitig geschickter Inszenierung des Geschlechtskörpers legt das Schimpfwort als Erkennungsmerkmal der Theaternutte fest. Die Differenz von Können und Körper wird zu einem zentralen Topos des Prostitutionsdiskurses. Was Nanas Darstellungsleistung auszeichnete, gerät nun in der Definition des Schimpfwortes »Theaternutte« in Misskredit. Durch die »Nutzanwendung der körperlichen Reize« wird betont, dass die Zuschauenden durch die Schönheit und das erotische Spiel geblendet werden und dadurch die ›miserable‹ schauspielerische Leistung übersehen. Durch ihre Darstellung lenkt ›die Theaternutte‹ den Blick auf ihren phänomenologischen Körper und maskiert so die schlechte Darstellungsqualität. Zugleich transformiert sie das Verhältnis, das aufgrund der leiblichen Kopräsenz mit den Zuschauenden im Theater besteht, in ein erotisches Verhältnis. Doch »die Nutzanwendung der körperlichen Reize« deutet außerdem darauf hin, dass die Schauspielerin ›nur‹ aufgrund von Geschlechtsverkehr oder ›nur‹ aufgrund ihres Körpers an ihr Engagement gekommen sei. Das macht Theaterdirektoren und Regisseure zu ihren potenziellen Zuhältern und Freiern. Aber auch über das Theater hinaus wird die Schauspielerin als ›Nutte‹ mit dem Gewerbe der Prostitution sowie mit promiskuitiver Sexualität verbunden. Um 1900 kommt es damit zu einer unscharfen Verwendung des Wortes, da es sowohl reale Sexarbeiterinnen als auch unverheiratete Frauen mit einem oder mehreren Liebhabern bezeichnet. In der lexikalischen Definition wird allerdings die Kundschaft nicht mit benannt, obwohl die Zuschreibung ein sexuelles Gegenüber voraussetzt, in dessen Projektion die Schauspielerin zum Bild der Theaternutte gerinnt. Das Schimpfwort »Theaternutte« und die sexuelle Projektion entstehen auf Grundlage eines Darstellungsdiskurses, der problematisiert, wie Schauspielerinnen ihre Weiblichkeit auf der Bühne und im Alltag zu Schau stellen. Um 1900 ist es kein Problem mehr, wie noch in den Jahrhunderten zuvor, dass Frauen die Bühne betreten, die Frage ist jedoch, wie sie sich zur Schau stellen und wie viel sie von sich preisgeben: »[A]ber daß sie sich als Dirne oder Ehebrecherin, in Hosenrollen und gelegentlich in mehr oder minder pikanter Entblößung zeigt, erregt bedenkliches Schütteln des Kopfes.«62 Das Wie wird über den Begriff der Prostitution reglementiert. Ein Zuviel an repräsentierter Männlichkeit (und dadurch Übertritt des eigenen Geschlechts) durch Hosenrol-
62
Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 88f.
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len überschreiten das Maß ebenso wie ein entblößter weiblicher Körper, der wiederum ein Zuviel an Weiblichkeit preisgibt. Wenn die metaphorische Rede von der Schauspielerin als Prostituierte ist, so wird damit die Transgression normativer Weiblichkeit angezeigt. Die Wahl ihrer Rollen und Kostüme, ihr Talent, die Orte, an denen sie auftritt, das nach außen dringende Privatleben und das Bildrepertoire, welches sie bedient, werden zu einem wichtigen Teil ihres Images als Schauspielerin, dessen erotische Wirkung sie unter Kontrolle behalten muss. Die Arbeit an diesem Image bedeutet, sexuellen Aufwand zu leisten, um der Anrufung als »Theaternutte« zu entgehen. Sie führt im Prostitutionsdiskurs zu einer Ausdifferenzierung von Weiblichkeitsbildern der Schauspielerin, die ihren Ausgangspunkt bei dem Gegensatz von Huren und Heiligen63, der Erzählung und Subjektivierung von ›guten‹ und ›schlechten‹ Schauspielerinnen, nimmt. Heilige und Huren Die heilige Schauspielerin betritt im Prostitutionsdiskurs nur selten die Bühne. Sie wird als eine durch das Theater und ihre ›hurenhaften‹ Kolleginnen bedrohte Figur inszeniert: »Die Gleichberechtigung der Geschlechter im schauspielerischen Beruf ist somit schon längst eine unabweisbare Forderung der Kunst geworden. Die Kunst hat diesen Beruf geweiht. Wiewohl man oft genug nur hyperbolisch oder phrasenlogisch von Melpomenes und Thaliens Priesterinnen spricht, so hat es doch seit anderthalb Jahrhunderten in Deutschland und auch sonst weibliche Schauspieler jederzeit gegeben, für die ihre Kunst ein Heiligtum war, das sie mit reinen Händen berührten. Daß an dieses Heiligtum auch unreine Hände tasten, ja daß viele dieser Hände erst in der Berührung mit der Bühne unrein werden, ist leider wahr […].«64
Schlenther konstruiert hier eine Differenz zwischen den reinen Händen und den unreinen Händen. Reine Hände haben Schauspielerinnen, die die Theaterkunst
63
Blessing hat aufgezeigt, dass auch im Theaterroman vor allem zwei Schauspielerinnentypen existieren: die keuschen und die unkeuschen Schauspielerinnen. Vgl. Lena Blessing: »… aber die Theaterwelt ist überhaupt eine ganz andere Welt als die gewöhnliche …« Das deutsche Theater im Spiegel des Theaterromans des 19. Jahrhunderts, S. 189.
64
Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater. Berlin: Richard Taendler 1895, S. 37.
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als Heiligtum behandeln. Dies seien jene Künstlerinnen, die den Fortschritt des Theaters begünstigen. Sie selbst seien Priesterinnen, Heilige. Doch zugleich verschmutzen die unreinen Hände das Theater und ziehen auch die reinen Hände mit in den Dreck. Das Paradox ist aber, dass die einen vermögen, aus dem Theater ein Heiligtum zu machen, während andere, die nicht beim Namen genannt werden, durch den Kontakt mit dem Theater infiziert werden und sich die Hände schmutzig machen. Die »Berührung mit der Bühne« verweist auf das Theater als ein Medium der sexuellen Ansteckung, dessen Wirkungen die Schauspielerin in eine Hure transformieren können. Diese Wirkung der Ansteckung entfaltet sich gerade deshalb, weil Theater aus einem Verhältnis der Berührung hervorgeht, in welches auch die heilige Schauspielerin zwangsläufig eingebunden wird: Aufgrund der leiblichen Kopräsenz in der Aufführung gerät sie in körperlichen Kontakt mit ihren Kolleginnen mit den schmutzigen Händen und mit den Zuschauenden. Dies macht deutlich, dass die Schauspielerin nicht nur in einem erotischökonomischen Tauschverhältnis mit dem Zuschauer, sondern auch mit ihrer Arbeit steht. Schlenther führt somit in seinem Essay Der Frauenberuf am Theater die Verworfenheit mancher Schauspielerin nicht auf ihre Disposition als Frau, sondern auf die des Theaters zurück. Durch die Metapher der reinen und der unreinen Hände ruft Schlenther die weibliche Dichotomie von Heiliger und Hure auf, in die er die Schauspielerinnen einteilt. Jede Schauspielerin könne potenziell zu einer Hure werden – das sei ihr Berufsrisiko. Schlenther macht deutlich, dass dieses Risiko hoch sei, denn die Schauspielerin stehe unter dem Druck des sexuellen Interesses ihrer Zuschauer. Die Heilige unter den Schauspielerinnen ist als Einzelphänomen gedacht, damit sie überhaupt einen ›wahrhaftigen‹, heiligen Auftritt haben kann, der sich von der breiten Masse der Schauspielerinnen (»viele [unreine] Hände«) abheben und im Auge des Betrachters differenziert werden kann. Das Begehren an und nach der Heiligen wird stimuliert durch den ökonomischen Mangel an ihr, dadurch kann die Logik der weiblichen Dichotomie und der Ökonomie des Begehrens im Theater aufrechterhalten werden. Die Heilige funktioniert über das ökonomische Prinzip der Abstinenz und Exklusivität, die Hure hingegen über ihre massenweise und für alle zugängliche Käuflichkeit. Hinzu kommt die besondere Leistung, welche die Heilige unter den Schauspielerinnen zu erbringen hat: Sie muss sich bei der »Berührung mit der Bühne« gegen das ›verseuchte‹ Theater schützen, um nicht selbst mit schmutzigen Händen infiziert zu werden. Mit der Stereotypisierung als Heilige wird sie als tugendhafte Frau dargestellt und genau dadurch in ihrer Künstlerschaft aufgewertet.
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Theaterprinzessinnen und Näherinnen Den großen Auftritt als Antagonistinnen der heiligen Schauspielerinnen im Prostitutionsdiskurs haben die sogenannten Theaterprinzessinnen. Diese Bezeichnung ist ebenso ein Schimpfwort wie Theaternutte. Sie unterscheiden sich jedoch in der Differenz der ökonomischen Positionen von Elend und Prunk65, die sie repräsentieren. Über luxuriöse Objekte wie Juwelen und elegante Roben und Beziehungen zu reichen Zuschauern wird das Weiblichkeitsbild der Theaterprinzessin von den Diskursproduzenten in Szene gesetzt. Sie werden als Figuren der Verschwendung und der Verführung konstruiert. »Sie wollen alle nur Tugenden verkörpern. Aber sie vergessen, daß die Tugend schlicht
und einfach geht. Sie behängen ihre Scheintugend mit Diamanten und Perlen, die den zehnfachen Wert ihrer Jahresgage haben, und bekleiden sie mit Toiletten, die nur zwei Millionärssöhne bezahlt haben können. Den Mangel an Talent kann freilich nicht einmal der Salon Worth umhüllen, und das Unverständnis für die eigne Kunst überstrahlt alle Juwelen. Es sind keine Künstlerinnen, keine Schauspielerinnen, sondern Theaterprinzessinnen, die das Theater als Aushängeschild für ihre Reize, die Kunst als heiliges Mittel zu heillosen Zwecken ansehen.«66
Vom Idealbild der tugendhaften, schlichten Schauspielerin grenzt Schlenther die Theaterprinzessinnen ab. Deren Darstellung wird aufgrund des übermäßigen Einsatzes von Requisiten und Kostümen als künstlich und lügenhaft gekennzeichnet. Der Umgang der Theaterprinzessinnen mit diesen Materialien wird deshalb problematisch, weil sie so das Geld in den Blick der Inszenierung von Weiblichkeit sowie des Theaters rücken, dessen Wert in den Objekten materialisiert erscheint. Durch die Zurschaustellung der prunkvollen Objekte am eigenen Leib erhält auch der Körper der Darstellerin Warencharakter und sie wird zum Vorläufer des Models.67
65
Dies beschreibt Stümcke folgendermaßen: »Wer auf Gummirädern, mit livriertem Diener und Kutscher, Blaufuchs und Zobel gehüllt, zur Probe vorfahren kann und nach der Vorstellung im chambre separée nach Pariser Karte soupiert, für den bedeuten die 60-100 Mark Monatsgage nur das Trinkgeld für Garderobiere, Friseur und Zofe.« Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 73.
66
Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 42.
67
Vgl. zum Diskurs über die Schauspielerin als modisches Vorbild und ihre Funktion für die Mode um 1900: Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel
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Damit führen Theaterprinzessinnen den Zuschauenden das Theater als einen Schauplatz der Käuflichkeit und des Scheins vor Augen. Die Scheinhaftigkeit des Theaters, welche für dieses als Schauordnung paradigmatisch ist, erfährt eine zeichenhafte Versetzung auf die Verkörperung von Geldwerten und der Prostitution durch die Requisiten und Kostüme der Schauspielerin, die auf eine ökonomische Zirkulation im und außerhalb des Theaters verweisen. Die Grenze zwischen innen und außen, zwischen Theater und Prostitution erweist sich durch die Theaterprinzessinnen als instabil. Ihr Auftritt auf der Bühne kommt einem Vorspiel im Bordell gleich, da sie ihre »Reize […] zur Schau stellen, um sie so vorteilhaft wie möglich an den Meistbietenden zu verkaufen.«68 Damit repräsentieren die Theaterprinzessinnen die weibliche Figur des ökonomischen Menschen analog zu den Theaterdirektoren und Theateragenten.69 Die als Prostitution betitelte Arbeits- und Darstellungspraxis der Theaterprinzessinnen widersetzt sich einem Opferdiskurs der Schauspielerin als Prostituierte. Die Theaterprinzessinnen beherrschen die Zirkulation der ökonomischen Tauschwerte im Theater durch ihre Inszenierung von Weiblichkeit. Durch das Übermaß ihrer Maskerade überschreiten sie aber den Echtheitsdiskurs der tugendhaften Darstellerin und werden als ›schlechte‹ Schauspielerinnen und »skrupellose[…] Evatöchter«70 ausgewiesen. Die Darstellung der Theaterprinzessinnen erscheint als eine Vortäuschung von Weiblichkeit, hinter der keine ›Natur‹ mehr auszumachen ist. Damit unterlaufen die Theaterprinzessinnen aber die essentialistischen Schauspieltheorien der Zeit, die sie aufgrund ihres Geschlechtscharakters als Frau als Inbegriff der Natur für den Beruf der Schauspielerin berufen sehen.71 Die Figur der Theaterprinzessin stellt bereits ein modernes Subjektmodell dar, indem Weiblichkeit als Inszenierungseffekt und Maskerade72 sichtbar wird. Sie erscheint als Selbstdarstellerin, die sich durch die Verwendung theatraler
des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln: Böhlau 2005, S. 168-179. 68
Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 72f.
69
Vgl. hierzu das Unterkapitel »Theaterdirektoren und Theateragenten«.
70
Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 72.
71
Vgl. hierzu das Unterkapitel »Die Frau als ideale Schauspielerin«.
72
Vgl. Joan Riviere: »Weiblichkeit als Maskerade«, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 34-47. Sowie Judith Butler: »Gender Is Burning: Fragen der Aneignung und Subversion«, in: Dies.: Körper von Gewicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. S. 171-197.
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Mittel in Szene setzt, »um durch den Glanz des Theaters, ihre ›Weiblichkeit‹ zu erhöhen«73. Genau deshalb wird die Darstellerin als eine ohne Talent abgewertet. Ihre Selbstinszenierung legt »den Glanz des Theaters«74 als eine Ökonomie des Begehrens von Zeigen und Schauen offen. Die Aufdeckung der theatralen Mittel zur Produktion von Weiblichkeit dekonstruiert das Theater als ein Geschäft mit Schauwerten, das auf das Begehren seiner Zuschauerinnen und Zuschauer zielt. In die Kritik gerät dabei die Zeigelust der Theaterprinzessinnen, welche das Gegenmodell zum Zuschauer als Voyeur darstellt. »Die femmes entretenues empfinden die gewaltigste Sucht, sich auf dem Theater zu zeigen, eine Sucht, worin Eitelkeit und Kalkül sich vereinigen, da sie dort am besten ihre Körperlichkeit zur Schau stellen, sich den vornehmen Lüstlingen bemerkbar machen und zugleich auch vom größeren Publikum bewundern lassen können.«75
Die Zeigelust wird als eine spezifisch weibliche Suchtform pathologisiert und unterstellt der Schauspielerin ein mangelndes »Schamgefühl«76, während der Betrachter zugleich seine eigene Scham wahrnimmt. Hinter der Kritik der Zeigelust der Theaterprinzessinnen verbirgt sich die Angst eines Zuschauers, der sich durch die offensichtlich Lust an der Ausstellung von Weiblichkeit durch die Darstellerin als ›Lüstling‹ dargestellt sieht. Die luxuriöse Verhüllung des weiblichen Körpers gilt als erotische Taktik, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. Damit bringt die auffällige Maskierung und Dekoration des weiblichen Körpers ebenso hohe Schauwerte hervor wie die Enthüllung des nackten weiblichen Körpers. Diese Darstellungsweisen werden mit der Projektion der Prostitution versehen, weil sie den Zuschauer im Sinne Lyotards zu einer energetischen Versetzung auffordern, welche den Blick auf die Materialität der Darstellerin, ihre Kostüme und die erotische bzw. ökonomische Verfasstheit des Aufführungsgeschehens lenkt. Diese performative Darstellungsstrategie der Theaterprinzessin, die sich über Attribute ihre Identität auf der Bühne zusammensetzt, stellt zugleich in den Au-
73
Gustav Rickelt: Schauspieler und Direktoren. Berlin-Lichterfelde: Langenscheidt 1910, S. 79.
74
Ebd.
75
Heinrich Heine: »Von der französischen Bühne [1837]«, zitiert in: Rudolf K. Gold-
76
Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre
schmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 45. Wirkung, S. 51f.
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gen der Diskursproduzenten die Arbeit und das Handwerk des Schauspielers infrage. Der Darstellungsdiskurs über die Weiblichkeit der Schauspielerin verbindet sich im Prostitutionsdiskurs mit einem Arbeitsdiskurs und der Hinterfragung von Künstlerschaft. Dabei gilt das Theaterprinzessinnentum als »Krebsschaden der Schauspielkunst«77, das »ehrlicher Frauenarbeit«78 von Schauspielerinnen schade und durch den zur Schau gestellten Prunk der Kunst die Anerkennung nehme: Der Prunk überglänze die »Reinheit des Echten«79. Das »Echte« wird zum authentifizierten Gegenprogramm wider die Künstlichkeit, den Luxus und die Geschäftstüchtigkeit am Theater. Durchgängig sind sich die Diskursproduzenten darüber einig, dass es zu einer ökonomisch kalkulierten Bevorzugung der Theaterprinzessinnen käme, die zwar kein Talent, aber einen Reichtum der Ausstattung gegenüber den talentierten, aber armen Schauspielerinnen vorzuweisen hätten. Theaterprinzessinnen repräsentieren eine Figur der Verschwendung, die bereits im Namen auf eine höfische und prunkvolle Theaterkultur verweist. Als heiliges Gegenbild der Theaterprinzessinnen werden jene Schauspielerinnen dargestellt, die Schneiderinnen sind, »um Schauspielerinnen sein zu können«.80 Diese beherrschen nicht nur das Handwerk von Nadel und Faden, sondern auch das der Schauspielkunst. Im Gegensatz zum modischen Oberflächenphänomen der Theaterprinzessinnen repräsentieren sie die ehrliche Arbeiterin, die sich durch eine gute Seele, Tugendhaftigkeit, Fleiß und eine gute Haushaltsführung ihrer ökonomischen und erotischen Ressourcen auszeichne: Denn »wer nicht sehr gut rechnet oder eine Rechenmeisterin zur Anstandsdame hat, ist bei den Privattheatern entweder aufs Schuldenmachen oder auf Liebschaften angewiesen.«81 Die fleißige und sparsame Arbeiterin wird zur idealen Künstlerin, für die allein Genie nicht mehr auszureichen scheint, um die ökonomischen und sexuellen Hindernisse auf dem Berufsweg einer Schauspielerin zu meistern.82 »Diese Theaterprinzessinnen, […] die […] nur noch Dirnen [sind], können aller-
77
Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 43.
78
Ebd., S. 43.
79
Ebd., S. 44.
80
Gustav Rickelt: Schauspieler und Direktoren, S. 72.
81
Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 44f.
82
Parallel zu den Debatten zur Aufwertung von Schauspielkunst als Frauenarbeit finden Debatten um den Schauspieler als Virtuosen statt. Seine Kulturgeschichte verläuft jedoch über Kunst- und Geniedebatten und wird nur äußerst selten über sein Geschlecht und seine Sittlichkeit verhandelt.
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dings anständigen Mädchen die Bühne verleiden.«83 Der Erfolg der fleißigen und talentierten Schauspielerin scheint also durch die ›falschen‹ Schauspielerinnen bedroht, die kraft ihrer Sexualität im Theater arbeiten. Liebende und Dirnen Die Sexualität der Schauspielerin wird zu einem zentralen Topos des Prostitutionsdiskurses, um das Subjektmodell der Schauspielerin von dem der Dirne zu differenzieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass in beiden Berufen mit Sexualität gearbeitet wird, diese sich aber durch eine unterschiedliche »arbeitende Energie«84 auszeichnet. Die energetischen Kräfte der Sexualität der Darstellerin für den künstlerischen Prozess untersucht der österreichische Gynäkologe Dr. Bernhard Adam Bauer in seinem 500 Seiten umfassenden populärwissenschaftlichen Werk mit dem Titel Komödiantin – Dirne? (1927)85 Es ist das einzige Werk, bei dem sich der Prostitutionsdiskurs im Titel niederschlägt. Sein Forschungsinteresse beschreibt Bauer darin folgendermaßen: »Wir wollen an Hand unserer reichen Erfahrungen über jene geheimen Vorgänge im Weibe, die nur durch die große Kunst der Psychoanalyse sich unserer Kenntnis offenbarten, die große Frage entscheiden: Ist die Komödiantin eine Dirne oder nicht?«86
83
Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 42.
84
Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 48.
85
Trotz des späten Erscheinungsdatums von 1927 ist Bauers Werk aufgrund seiner zeithistorischen Bezugnahme auf Phänomene wie den Kostümparagraphen und der Faszination für die Psychoanalyse ideengeschichtlich dem Prostitutionsdiskurs um 1900 zuzuordnen. Es entfaltet alle Motive und Figurationen des Prostitutionsdiskurses und markiert zugleich den Abschluss der Debatte um 1900.
86
Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit. 110. Aufl. Wien [u.a.]: Fiba-Verl. 1927, S. 387. Vereinzelt hat das Werk von Bauer bisher in der Analyse weiblicher Schauspielkunst Erwähnung gefunden. Vgl. hierzu: Denis Hänzi: »Der ideale Regisseur – Zur Genese eines normativen Männlichkeitsmusters«, in: Christa Binswanger/Margret Bridges/Brigitte Schnegg/Doris Wastl-Walter (Hg.): Gender Scripts. Widerspenstige Aneignungen von Geschlechternormen. Frankfurt a. M./New York: Campus 2009, S. 143-160. Sowie den Artikel: Christine Künzel: »›Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit‹. Anmerkungen zum Geschlecht der Schauspielkunst«, in: Gaby Pailer/Franziska Schößler (Hg.): Geschlechter Spiel Räume. Dramatik, Theater, Performance und Gender. Amsterdam [u.a.]: Ropoi 2011, S. 241-254.
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Diese Forschungsfrage untersucht Bauer jedoch nicht im sozioökonomischen Theatermilieu87, sondern anhand der Psyche der Schauspielerin und ihren sexuellen Trieben. Der voyeuristische Blick des praktizierenden Frauenarztes und psychoanalytischen Wissenschaftlers sucht die geheimen Vorgänge des Weibes wie den Blick durchs Schlüsselloch: Anhand der Sexualität der Schauspielerin sei ablesbar, ob sie eine Dirne oder Komödiantin sei, so die These Bauers. Er geht wie die Prostitutionsforscher von einem ›sprechenden weiblichen Körper‹ aus, der nur lange genug betrachtet werden muss, um seine sexuellen Neigungen, wie Prostitution, Homosexualität oder Exhibitionismus, zu offenbaren. Im Gegensatz zu den erniedrigenden Experimenten mit den Körpern von Prostituierten um 190088 stellt die Schauspielerin für ihren Forscher ein faszinierendes Forschungsobjekt dar, das nah und fern zugleich ist, eine Art offenes Buch, aus dem sich lesen lässt, wenn sie die Bühne betritt oder die Klatschspalten der Presse füllt, und deren Leben hinter den Kulissen viel Spielraum für die sexuelle Phantasie ihres Beobachters lässt. Die Frau als Schauspielerin ist ein imaginierter Typus, kein empirisch protokollierter Fall. Das zeigt sich exemplarisch daran, dass Bauer stets verallgemeinernd von ›der Komödiantin‹ spricht, ohne reale Schauspielerinnen beim Namen zu nennen. Zugleich ist sein Werk Komödiantin – Dirne? als biographisches Projekt zu bezeichnen, welches auf seinen persönlichen Erfahrungen mit Schauspielerinnen in seinen Sprechstunden als Arzt89 oder als Zuschauer innerhalb von Provinzbühnen90 fußt. Dass ein Gynäkologe Sexualität als Movens künstlerischer Produktion und Identität der Schauspielerin untersucht, stellt exemplarisch eines der sonderbaren Forschungsprogramme um 1900 dar, die im Zuge einer scientia sexualis entstanden sind.
87
So schreibt die Soziologin Schwanbeck über Bauers Buch als historische Quelle für die Untersuchung des Schauspielerinnenleben: »Auch das Buch des Mediziners Dr. Bernhard Adam Bauer: ›Komödiantin-Dirne?‹ (1927) hat für die vorliegende Untersuchung wenig hergegeben. Der Autor versucht das Wesen der Komödiantin mit Hilfe der Psychoanalyse zu ergründen. Dem Werk fehlt jedoch das für uns Entscheidende: die Theaternähe.« Gisela Schwanbeck: Sozialprobleme der Schauspielerin im Ablauf dreier Jahrhunderte, S. 9.
88
Vgl. hierzu das Unterkapitel »Faktoren für die Formierung des Prostitutionsdiskur-
89
Vgl. Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lie-
ses um 1900«. ben im Lichte der Wahrheit, S. 295. 90
Vgl. ebd., S. 301.
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Mit seiner Untersuchung reagiert Bauer auf die Schriften zur Frau als Schauspielerin von Bab, Goldschmit und Stümcke, als deren Leser und Kenner er sich ausweist. Dabei interessiert er sich besonders für die Frage, wie die ›private‹ Sexualität der Schauspielerin auf den künstlerischen Produktionsprozess einwirke. Der Diskurs verweist auf das Darstellungsparadigma der Kurtisane im 18. Jahrhundert91, dessen Topos im Prostitutionsdiskurs fortgeführt wird. Die großen Schauspielerinnen seien immer schon große »Liebeskünstlerinnen«92 gewesen, bei denen sich die Zuschauer gefragt hätten, »ob die Schauspielerin das, was sie spielt, auch wirklich empfinde, ob die virtuose Darstellerin großer Buhlerinnen auch in ihrem Privatleben eine Messalina und Kleopatra sei.«93 Wurden im 18. Jahrhundert über die Frage nach Gefühlsschauspielerin oder Verstandesschauspielerin ästhetische Debatten geführt, die nach dem Herstellungsprozess der Darstellung von Emotionen fragten, verschiebt Bauer den Diskurs auf die Einflussnahme von Sexualität. Für Bauer stellt das Theater einen Ort des »Sinnentaumels«94 dar, dessen sexuelle Wirkungen auch an der Schauspielerin nicht spurlos vorbeigehen könnten. Er mutmaßt, »daß in ihr als Weib weitaus stärker und dringender das Verlangen wach werden muß, diese nach und nach in sich aufgenommene Erotik der Bühne auch irgendwie und irgendwo ausleben zu können.«95 Bauer macht das Theater für die Verführungskraft der Sinne der Schauspielerin verantwortlich. Die starke erotische Wirkung dieses Ortes müsse sich zwangsläufig bis auf ihr privates Liebesleben auswirken. Damit dies nicht länger von Zuschauenden als »Anschein eines Dirnenlebens«96 abgewertet werde, entwickelt Bauer eine höchst eigenwillige energetische Theorie über die sexuelle Produktivkraft der Schauspielerin für ihre Kunst, über die er eine Abgrenzung der Schauspielerinnen von Dirnen vornimmt und zugleich zu einer Umwertung dieser Differenz im Diskurs beiträgt.
91
Vgl. hierzu in Kapitel 2: »Das Darstellungsparadigma der Kurtisane: Emotionen
92
Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 94.
93
Ebd., S. 89.
94
Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im
95
Ebd., S. 325.
96
Ebd. S. 394.
vortäuschen«.
Lichte der Wahrheit, S. 330.
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Bauer geht grundsätzlich davon aus, dass jede Frau einen »Dirnenkomplex«97 in sich trage, einen sexuellen Trieb, der sie nach einer variantenreichen und promiskuitiven Sexualität streben lasse. Im Gegensatz zur männlichen Sexualität werde der Wunsch nach der Variation sexuellen Erlebens bei Frauen aber gesellschaftlich reguliert und beschränkt. Bei einer offenen Artikulation ihres Gefühls- und Sinnenlebens würde die Frau von Männern in die »Kategorie der niederen Dirne«98 eingeteilt. Nicht alle Frauen könnten jedoch lebenslang diesen »Dirnenkomplex« unterdrücken. Bei Frauen mit starkem Sexualtrieb blieben laut Bauer nur zwei Wege zur Auslebung und Sublimierung dieses Komplexes: entweder als Dirne oder als Schauspielerin zu arbeiten. Der Gynäkologe und Psychoanalytiker rät jedoch von der ersten Möglichkeit ab, da dies ein Weg »unehrlicher Arbeit«99 und »Geldgier«100 sei. Hierbei greift Bauer auf Kategorien der Differenzierung von Schauspielerinnen und Dirnen zurück, die bereits entfaltet wurden: jene von Arbeit und Kunst sowie von Täuschung und Wahrhaftigkeit. Doch die Zuschreibung Dirne ist für Bauer nicht einfach am Beruf ablesbar. Dirnen sind ihm zufolge auch im Theater zu finden. »Es bleibt das Schicksal jener ›Künstlerin‹, für die der Beruf einwandfrei nur zum Deckmantel nacktester und niedrigster Prostitution wurde, jener ›Künstlerin‹, der es zuzuschreiben ist, daß der Beruf der Künstlerschaft des Weibes als solcher so sehr in Mißkredit kommen konnte.«101
Der Unterschied zwischen Dirnen und Schauspielerinnen im Theater zeigt sich laut Bauer in einem unterschiedlichen Einsatz von Sexualität in ihrer Arbeit als Schauspielerin. Dirnen setzten ihre Sexualität im Verhältnis zu den Zuschauern im Aufführungsgeschehen zum Erwerb von Geld und anderen Luxusgütern ein, sie suchten das Theater als Ort für ihre Prostitution auf. Sie befänden sich selbst in einem Verhältnis der Prostitution, aber in keinem künstlerisch-erotischen Verhältnis zum Theater. Darin unterscheiden sie sich Bauer zufolge von den Schauspielerinnen, die ihre Sexualität künstlerisch im Darstellungsakt sublimieren.
97
Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im
98
Ebd., S. 389.
99
Ebd., S. 392.
Lichte der Wahrheit, S. 391.
100 Ebd., S. 397. 101 Ebd., S. 416.
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»Alle sexuelle Not, die in dem Weibe vergraben liegt, zu überwinden und zu fliehen ist der Komödiantin in ihrem Berufe möglich. Jedes auch nur kleinste Moment sexuellen Begehrens nicht erbarmungslos unterdrücken zu müssen, sondern ungehindert aufflammen zu lassen zu einer wild verzehrenden Glut ist ihr ja gestattet; denn ihre Kunst ermöglicht es ihr ja – sich auszuleben. Nicht etwa nur in ihrer Lebensführung, nicht etwa nur in ihrem Privatleben, sondern vornehmlich dann, wenn sie da oben auf den Brettern der abendlich beleuchteten Bühne steht, wenn sie jene Situationen mit ihrem ganzen Empfinden durchlebt und wiedergibt, die ihr von Dichterhand vorgeschrieben wurden.«102
Bauer charakterisiert den Beruf der Schauspielerin als einen, in dem eine sexuelle Befreiung und Selbstverwirklichung der Frau möglich sei, da er ihr sinnliche Erfahrungen ermögliche. Die sexuelle Energie der Schauspielerin, die nach außen strebe, werde durch die Kunstform des Theaters kanalisiert. Die sexuellen Erfahrungen, welche die Schauspielerin auf der Bühne wie auch in ihrem Privatleben mache, stünden in einem energetischen Wechselbezug zu der künstlerischen Produktivität, die damit dem Publikum und dem Theater gleichermaßen zugutekomme. »Die künstlerische Produktivität wächst mit der Entfaltung der erotischen Kräfte und diese selbst begeistern sich wieder stets von neuem an dem Fortschritt und der wachsenden Größe der Künstlerschaft, des Ansehens und des Ruhmes!«103
Das Aufführungsgeschehen erzeuge ein Übermaß erotischer Wirkungen für die Schauspielerin. Sie könne aber lediglich drei Viertel dieses Erregungszustandes mit ihrem Liebespartner auf der Bühne ausleben. Ein Drittel der durch die Aufführungssituation angestauten sexuellen Energie dränge ins Privatleben und müsse dort ausgelebt werden. Deshalb gehe die Schauspielerin wechselnde Liebesverhältnisse ein. In Bauers Energiemodell kollabiert über die Sexualität der Schauspielerin der Gegensatz von innen und außen. Ihr Liebesleben und die erotische Wirkung auf der Bühne werden von Bauer in ein produktives Austauschverhältnis gesetzt, und die Sexualität wird zum schöpferischen Produktionsort der Schauspielerin erklärt. In Bauers Konzeption kann die Schauspielerin somit im Dispositiv des Theaters eine energetische Versetzung von der Dirne zur Künstlerin vornehmen.
102 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 393f. 103 Ebd., S. 332.
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Die Teststrecken der weiblichen Sexualität der Schauspielerin von Sadismus über Masochismus und Orgien bis hin zur lesbischen Liebe mit Kolleginnen104 stellen ›erotische‹ Proben für das Theater dar, um durch ihre sexuellen Erfahrungen die Erotik der Bühne und ihre künstlerische Produktivität als Künstlerin zu steigern. Die ›ideale‹ Schauspielerin stellt bei Bauer eine Maria-MagdalenaFigur dar, eine ›wahrhaftig Liebende‹, die durch ihre sexuellen Ausschweifungen noch immer unbefriedigte, zugleich aber im alltäglichen Leben geläuterte, die am Ende doch einem Einzigen Treue schwört: dem Theater. »Einem verloschenen Vulkan gleich, steht sie, die einstmals so viel gelebt und geliebt hatte, nunmehr hoch über allem Verlangen nach Liebesgenüssen. Sie, die einst in tollsten Sektgelagen schwelgte, sie, die einst als Königin der Leibe so manchen Mannes Ehre, Glück und Vermögen kalten Blutes zugrunde gerichtet hatte! Sie, die neben ihrer Begeisterung zur Kunst nur noch die Begeisterung zur Liebe kannte, ist nun nur noch Priesterin ihrer großen Kunst, die ihr jetzt mehr denn je alles zu ersetzen hat – und alles ersetzen kann!«105
Im Unterschied zu den Dirnen am Theater zeichnet Bauer die Schauspielerin als Liebende, die sich in ihrer Leidenschaft dem Theater und ihrem Beruf hingibt und letztlich mit ihm verheiratet ist. Das Bild der sexuell aktiven leidenschaftlichen Schauspielerin bringt überdies die Vorstellung hervor, »daß eine keusche Jungfrau noch niemals eine große Künstlerin geworden sei!«106 Denn die gehemmte Jungfer könne bestimmte Gefühle nicht auf die Bühne transportieren. Im Gegensatz zu ihr ermögliche die sexuell aktive Künstlerin eine Durchlässigkeit und ›Öffnung‹ des Frauenkörpers in der Bühnensituation, die in der Aufführung für die Zirkulation des Begehrens zum Zuschauer empfänglich bleibe. Deshalb werde auch die verheirate Schauspielerin am Theater nicht gern gesehen, da sie sich »im Spiel mit ihrem Partner größere Reserve auf[legt], als für die Wirkung mancher Rolle gut ist.«107 Die bürgerlichen Konzepte von Mutterschaft, Ehe und Jungfräulichkeit widersprechen der Projektionsfläche der Schauspielerin, die den Darstellungsakt wie einen Sexualakt behandeln soll, in dem sie sich in ihrer Sinnlichkeit verausgabt. »[S]ie folgt nur den Impulsen ihrer Künstlerna-
104 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 436. 105 Ebd., S. 439. 106 Ebd., S. 402. 107 Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 107f.
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tur, nicht aber ihrer Dirnennatur! Ist sie auch Übermensch, lebt sie auch als Überweib, sie ist dennoch nicht – Dirne!«108 Bauer verbindet die Stilisierung des Genies (»Übermensch«109) der Künstlerin mit ihrer Sexualität. Damit sexualisiert Bauer den Typus der Schauspielerin zur modernen sexuell aktiven Frau. Bauer fordert mit seiner Theorie zu einer Neubewertung weiblicher Sexualität auf. Der problematische Sexualkörper der Schauspielerin, der im Prostitutionsdiskurs diskutiert wird, wird bei ihm als künstlerische Produktivkraft positiv dargestellt. Zugleich nimmt Bauer eine Umschreibung des Diskurses vor, indem er die Darstellerinnen und ihre promiskuitive Sexualität in ein anderes Verhältnis zum Theater setzt. Er konstruiert ein Liebesverhältnis des gegenseitigen Gebens und Nehmens zwischen der Schauspielerin und ihrem Beruf, welches ihr einerseits sexuelle Erfahrungen ermögliche und sie andererseits zu einer großen Künstlerin mache. Indem Bauer die Schauspielerin als Liebende des Theaters inszeniert, verkehrt er den Prostitutionsdiskurs. Der Liebesdiskurs soll die Zuschreibung der Prostitution an die allgemeine Käuflichkeit und promiskuitive Sexualität der Schauspielerin zu Ende bringen. Bauer legitimiert dadurch sowohl die erotische Wirkung des Theaters als auch eine ›freizügige‹ Sexualität der Schauspielerin in ihrem Privatleben. Nichts in Bauers Theorie fußt auf einer Empirie eines Sexuallebens der Schauspielerin. Bauer steht der Schauspielerin als Zuschauer, nicht als Wissenschaftler gegenüber. Die Schauspielerin stellt eine weibliche ekstatische Wunschfigur männlicher Imagination dar. Progressiverweise wird ihre Sexualität utopisch aufgeladen: Die Schauspielerin verkörpert eine sexuell aktive Frau, die die hemmenden Grenzen der Bürgerlichkeit überschreitet. Genau deshalb ist es aber so schwierig, die Anrufung als Dirne loszuwerden, solange eine befreite weibliche Sexualität nicht in allen Gesellschaftsschichten möglich ist. Bei Bauer kommt es zu einer Positivierung freier Liebe und Erotik als Überschreitung der Sittengrenze. Zwar erfährt die Schauspielerin als Femme fatale, als genießende erotische Frau, in diesem Kontext eine Aufwertung, dennoch bleibt ihre Produktivität rückgebunden an ihre Sexualität, wie dies auch bei der Arbeit einer Prostituierten der Fall ist. Die Kunsttätigkeit, die Beschreibung eines Gestaltungswillens und Könnens beginnen im Angesicht des Begehrens des männlichen Diskursproduzenten zu verschwinden. Bauers Theorie stellt eine Weiterentwicklung
108 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 441. 109 Ebd.
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der Theorien zur Frau als Schauspielerin dar, welche die Schauspielerin aufgrund ihres Geschlechts zur Schauspielkunst berufen sehen. Die Frau als ›ideale‹ Schauspielerin Bab und Goldschmit konstruieren in ihren Schriften eine ideale Schauspielerin, die sie auf die biologisch fundierte Ordnung der Geschlechter110 zurückführen. Diese weist jedoch für die Künstlerschaft von Frauen ein Problem auf. Wie kann die Frau als Schauspielerin in ein Modell der Arbeitsteilung eingepasst werden, das auf dem Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit beruht, wenn dies die Kreativität von Frauen aufgrund eines schöpferischen Triebs, der dem männlichen Geschlecht zugeschrieben wird, ausgrenzt? Wie also die Schauspielerei und ihre Sinnlichkeit als Beruf für eine Frau legitimieren? Was beim Mann nie einer Legitimation bedurfte, geht bei der Schauspielerin paradoxerweise mit einer Reflexion und Rechtfertigung ihrer Weiblichkeit einher. Die ideale Schauspielerin wird von Julius Bab als Wesen der Totalität und der Natur aufgrund einer dichotomen Geschlechtertheorie von Gefühl versus Verstand, Natur versus Kultur, begründet. »Das Werk der Frau ist, ihrer passiv allumfassenden, totalen, instinktiven, naturalen Art nach, direkt und individuell, es nimmt nicht den Umweg über Werke, es haftet an der Persönlichkeit, denn die Frau (als ideale Polarkraft!) besitzt nicht jene monomane Konzentrationskraft, die einen Stoff aus der Gesamtheit der Welt herausschneidet, um ihn mit symbolischer Kraft für das Ganze zu belasten, und die aus der eigenen Natur ein Organ zur souveränen Übermacht über alle anderen herauszüchtet. Die Wirkung der Frau haftet an ihrer ganzen Persönlichkeit […].«111
110 »Wir stellen Gegensatzpaare auf, wir sagen, daß der Gegensatz ›Weib-Mann‹ verwandt sei mit den Gegensätzen geschlossen – offen/ruhend – beweglich/konservativ – revolutionär/passiv – aktiv/allumfassend – teilend/Totalität – Details/Glauben – Skepsis/Instinkt – Bewußtsein/Gefühl – Verstand/Natur – Kultur ---Aber wenn wir das sagen, wissen wir wohl, daß diese Gegensatzpaare nie völlig mit dem sexuellen Kontrast zusammenfallen, daß sie, jeder für sich betrachtet, etwas Schiefes im Vergleich haben, und daß nur ihr Ensemble, ihr Zusammenklang nach dichterischer Art einen Gefühlswert erzeugt, der unserer Empfindung bei dem Kontrast weiblich – männlich annähernd entspricht.» Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 17. 111 Ebd., S. 19.
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Bab inszeniert die Frau als Empfangende, die stets ›Geschöpf‹ bleibe und sich nicht zur Schöpferin aufschwingen könne, denn er spricht ihr die weiblich konnotierten Eigenschaften von Passivität, Intuition und einer Totalität des Geschlechtswesens zu. Weil die Frau keine abstrahierenden Fähigkeiten besitze112 und nicht von sich selbst als Persönlichkeit absehen könne, sei die Schauspielkunst die ideale Kunstform für sie, denn hier könne sie »direkt und individuell«113 wirken. Goldschmit teilt diese Ansicht mit Bab und die beiden gehen sogar so weit zu sagen, die Schauspielkunst sei die einzige Kunst, in der die Frau überhaupt schöpferisch tätig sein könne. Der Geschlechtscharakter der Frau findet für Bab seine Spiegelung im Wesen der Schauspielkunst, welche dem »reinen Wirklichkeitsvorgang viel verwandter ist, als jedes künstlerische Erlebnis sonst. [...] Und auf diesem Naturgrunde begegnen sich Frauen und Schauspielkunst.«114 An anderer Stelle beschreibt Bab, dass die Frau nie nur einen Vogel malen könne, ohne den ganzen Wald mit aufs Papier zu bringen, weshalb sie nicht zur Malerin tauge; so erscheine die Schauspielkunst als ideale weibliche Kunstform, weil sie sich hier in ihrer Totalität als Individuum einbringen könne. Sie müsse sich nicht auf einen allein geistigen oder allein körperlichen Vorgang reduzieren, sondern könne stets beides ins Spiel einbringen. Zudem seien die Darstellungsvorgänge, auch wenn sie der Auswahl und Form unterliegen, verwandt mit jenen Tätigkeiten, die die Frau aus ihrem alltäglichen Leben kenne. Insofern leiste sie Reproduktionsarbeit, aber sie müsse keine Übertragung in ein anderes Medium, etwa das der Schrift oder der Malerei, herbeiführen. Mit der Positivierung der Frau als ideale Schauspielerin geht eine Reduktion auf ihr Geschlecht einher: Die Schauspielerin erscheint nicht als schöpferisches Subjekt, sondern als ein Geschöpf, ein unfertiges Wesen, das selbst nicht die
112 »Die Frau erscheint uns so oft in ihrem künstlerischen Bemühen dilettantisch und sentimental, weil sie nicht den Baum im Licht malen kann, ohne einen Vogel in den Zweigen, eine Wolke am Himmel mitzugeben, die dem schönen Naturganzen, aber nicht dem künstlerisch wirksamen Ausschnitt zugehören. [...] Die Unfähigkeit im äußeren und inneren Bereich trennend zu konzentrieren [...], trennt die Frau von freier künstlerischer Produktion. Es ist nun die einzige Eigenart der Schauspielkunst, daß sie von ihrem Ausübenden weder diese innere organische Konzentration noch jene äußere Stoffwahl fordert. Im Gegenteil verbietet sie beide aufs entschiedenste!« Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 28. 113 Ebd., S. 19. 114 Ebd., S. 33.
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Kraft aufbringe, sich zu formen, das andere benötige, um sich Form zu geben, das selbst keinerlei Fähigkeiten der Konstruktion und Abstraktion besitze.115 Die Aufwertung der Künstlerschaft der Frau als Schauspielerin geht zugleich mit einer Festschreibung auf ihre Weiblichkeit einher. Wenn die ideale Schauspielerin eine Frau ist, die vor allem ihren Körper zur Schau bringt und zur Erotik des Bühnengeschehens beiträgt, so hat dies auch Konsequenzen für die gesellschaftliche Bewertung des Berufes als solchem. Die Analogie von Schauspielkunst und Weiblichkeit trägt zu einer Klassifizierung des Schauspielers als Geschöpf, Körper und Objekt des Blicks bei. So wirkt die Ordnung der Geschlechter bis in die Hierarchien der Künste und eine geschlechterkonstituierende Arbeitsteilung: »[D]ort wird nicht nur die ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ bestimmter Arbeitsbereiche hergestellt, sondern die Differenz zwischen Männern und Frauen überhaupt.«116 Diese Definition der Soziologin Nina Degele lässt sich auch auf die Arbeitspositionen und die Bewertung des Theaters um 1900 übertragen. Der Dichter leistet die Form: Drama, Handlung, Rollen. Der Regisseur überprüft und ordnet die Wirkung der Schauspielerin. Und die Theateragenten und Theaterdirektoren sorgen für ihre Engagements. Um 1900 sind Schauspieler und Schauspielerinnen mit der Ausdifferenzierung der geschlechtskonstituierenden Arbeitsteilung am Theater in ihrer Künstlerschaft abhängig von den Ideen von Dichter und Regisseur und von der institutionellen Macht von Theaterdirektoren geworden. Historisch betrachtet fällt mit dem Diskurs der Verweiblichung des Schauspielberufes eine mehr und mehr ausdifferenzierte Arbeitsteilung am Theater zusammen. Schauspielerinnen sind stets davon bedroht, ihren künstlerischen Subjektstatus zu verlieren, wenn Schauspielkunst als reproduktive und damit das weibliche Geschlecht konstituierende Kunstform definiert wird. Schauspielkunst und die Schauspielerin im Gegensatz zu den männlich konnotierten Bereichen Regie und Direktion werden nach dem »Prinzip der dualen Klassifikation«117 in ein Konzept von Zweigeschlechtlichkeit eingegliedert, das
115 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 56. 116 Nina Degele: »Arbeit konstruiert Geschlecht – Reflexionen zu einem Schlüsselthema der Geschlechterforschung«, in: Freiburger FrauenStudien. Zeitschrift für Interdisziplinäre Frauenforschung: Arbeit und Geschlecht. Ausgabe 16/2005, S. 13-40, hier S. 23. 117 Ebd.
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der Schauspielerin eine »erotische Sonderstellung«118 zuschreibt, in der ihr Geschlecht stets auf die Arbeit einwirkt. Sie verkörpert per se Sexualität im Theater, auf die sich das sexuelle Interesse der männlichen Zuschauer richtet. Damit kann ein Vorurteil auch durch die Legitimierung von Schauspielkunst als ›Frauenarbeit‹ nicht außer Kraft gesetzt werden: das Bild der Prostituierten. Deshalb kommt der Prostitutionsdiskurs markant in jenen Schriften zur Aufführung, die den Schauspielberuf als Frauenarbeit legitimieren wollen. Obwohl die Idealisierung weiblicher Eigenschaften der Frau als Schauspielerin sie in ihrem Beruf und in ihrer bürgerlichen Weiblichkeit restituieren soll, bleibt der Verdacht der Prostitution bestehen. Dies liegt daran, dass eine Frauenarbeit, als deren Qualitäten Schönheit, Weiblichkeit und Körperlichkeit der arbeitenden Frau definiert werden, aus der Perspektive des Bürgertums eine ›verdächtige Ähnlichkeit‹ zur Tätigkeit von Prostituierten aufweist. »Eine Frau hat eben keine irgendwie männlichen, aktiven, nach außen wirkenden, exponierenden Neigungen, Talente, Berufe zu haben! Sonst ist sie kein Weib, und da sie auch kein Mann ist, und die Menschheit ja reinlich in diese beiden Gruppen zerfällt, so ist sie überhaupt kein richtiger Mensch, also minderwertig, verächtlich, preisgegeben. Auf diesem höchst ruchlosen, weil naturfremden, willkürlichen Dogma beruht zum großen Teil das soziale Unglück der heutigen Schauspielerinnen. […] Und unter der Herrschaft jenes umgebrochenen, so sehr bequemen Sexualdogma beschloß der männliche Pöbel aller Stände, daß dies ›also‹ keine richtigen Frauen wären, keine Menschen mit Anspruch und Menschenwürde und Achtung – also gute Beute.«119
Damit entwirft Bab die Kehrseiten einer Ideologie der Geschlechterdifferenz, in der sich der Mann als alleiniger Schöpfer imaginiert und Frauen, die den Raum des Privaten übertreten und sich auf aktive Weise mit Zeigelust exponieren, zu »Freiwild«120 erklärt werden. Aufgrund der Verweiblichung von Schauspiel-
118 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 66. 119 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 52f. 120 Dies verweist auch auf ein gleichnamiges Stück von Arthur Schnitzler, in der eine Schauspielerin von einem Theaterdirektor als Freiwild für billiges Geld gesehen wird, sie aber nicht in die angebotenen Verträge einwilligt. Arthur Schnitzler: »Freiwild. Schauspiel in drei Akten«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Arthur Schnitzler: Der einsame Weg. Zeitstücke 1891-1908. Mit einem Nachwort von Hermann Korte. Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 157-230.
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kunst als auch durch die Projektion als aktiv sexuelle Frau, die die Normen bürgerlicher Weiblichkeit überschreitet, wird die Schauspielerin als sexuelles Objekt betrachtet und auf diesen Status im Theater festgelegt. Bab zeigt mit dem Begriff des Sexualdogmas an, dass die Regulierung und Produktion von Sexualität und Erotik rund um die Schauspielerin in eine machtpolitische ökonomische Matrix eingebunden wird, die von jenen ›ausgenutzt‹ werde, die in der Ordnung der Geschlechter am Theater den männlichen Part zugewiesen bekommen haben: Direktoren, Kritiker, Theateragenten und Theaterzuschauer. Dies verdammt die Schauspielerin im Theater der Geschlechterpolarität dazu, stets ›die Frau‹ spielen zu müssen, eine prekäre Begehrensposition, welche sie stets auf Messers Schneide zur Prostitution balancieren lässt. Die Produktion der Anderen Die Arbeit an der Differenz zwischen Huren und Heiligen, Theaterprinzessinnen und Näherinnen, Dirnen und Liebenden und die Idealisierung der Frau zur Schauspielerin erweisen sich als phantasmatische Produktion der Anderen, die als gegensätzlich angelegte Ökonomien von Sexualität und Arbeit wie Vexierbilder ineinandergreifen: die Exklusivität der Heiligen und die Masse der Huren, die luxuriöse Maskerade der Theaterprinzessin und die tugendhafte Natürlichkeit der Näherin, der Liebesdienst am und die Prostitution im Theater. Letztlich fußen die Konstruktionen von Heiligen, Huren, Theaterprinzessinnen, Näherinnen, Liebenden und der Frau als idealer Schauspielerin darauf, dass diejenigen, die von ihnen sprechen, nichts anderes sehen als ihren Sex (Geschlecht). Damit ist ein Problem und Dilemma der Besprechung und Bewertung von weiblicher Schauspielkunst durch den Prostitutionsdiskurs benannt: Dieser nährt und reguliert gleichermaßen die Zirkulation sexueller Energien und Phantasien um den weiblichen Privat- und Arbeitskörper der Schauspielerin. Ihre Künstlerschaft wird in ein Spannungsverhältnis zur ihrer Sexualität und Inszenierung von Weiblichkeit gestellt. Die Produktion der Schauspielerin als Andere erweist sich als ein Darstellungsdiskurs über die Schauspielerin als Prostituierte, der stets auf den männlichen Blick verweist, mit dem die Diskursproduzenten sie betrachten und konstruieren.
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»Aber auch die Träger der Schauspielkunst erlebten die volle Entfaltung erst, als die Frau in die Bezirke der Darstellung eintrat: Romeos Feuer entzündete sich erst an Julies keuscher Leidenschaft, als diese Julie eine Frau war.«121
Der Auftritt der Schauspielerin wird als Grund einer neuen Wirkungsdimension des Theaters gesetzt. Tragik und Leidenschaft seien in den Darstellungen zwischen einem Schauspieler und einem Frauendarsteller nie zur Wirkung gekommen. Romeos Leidenschaft werde erst durch den weiblichen Gegenentwurf der Keuschheit entfacht, dem die Zuschauenden Glauben schenken, weil die JuliaDarstellerin ›tatsächlich‹ eine Frau ist, mit der sie die Eigenschaft der Keuschheit und Tugendhaftigkeit verbinden. Dadurch wird Erotik zu einer zentralen Rezeptionserfahrung im Verhältnis zwischen Darstellerin und Zuschauer, das zugleich der Gefahr ausgesetzt ist, mit dem Tauschakt der Prostitution verwechselt zu werden. Damit treten das Begehren im Aufführungsgeschehen als auch das Begehren der Zuschauenden in den Fokus der Analyse. Sie werden ebenso ausdifferenziert wie Geschlechterbilder der Schauspielerin. Das ›ideale‹ Begehren zwischen Darstellerin und Zuschauer Das erotisch-ökonomische Tauschverhältnis im Aufführungsgeschehen beschreibt Rudolf Goldschmit auf der Folie populärer essentialistisch begründeter Theorien des 18. Jahrhunderts zur Geschlechterdifferenz.122 Die zirkulierende Erotik zwischen Zuschauer und Darstellerin führt er auf den heterosexuellen Sexualakt zurück und legt damit die Begehrenspositionen in einem Theater der Geschlechterpolarität fest. Anhand des Sexualaktes definiert Goldschmit, dass der Mann der »Zeuger«123 und damit »allein-schöpferisch«124, die Frau hingegen
121 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 58. 122 Vgl. hierzu exemplarisch: Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt a. M./New York: Campus 1991. 123 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 55. 124 Ebd.
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»nur Empfangende«125 ist. Dies sieht er als ein »Symptom für den ganzen Lebensprozeß«126: Der Akt der Zeugung sei durch das Prinzip der Polarität bedingt und entstünde, wenn aus Erotik Sexualität werde. Beide Geschlechter zögen sich kraft des Eros an wie Magneten und bedürften einander, um in ihrem Menschsein Vollständigkeit zu erlangen. So wird der Eros als ein biologistischmythisches Triebtheorem des Begehrens festgelegt. »Der Eros ist die Triebkraft aller schöpferischen Wirksamkeit. [...] In die Welt ist mit der
Schaffung der Geschlechter ein Dualismus gesetzt, der alle tragischen Schicksale bestimmt. Der Mensch als Geschlechtsindividuum ist kein Ein-Wesen, sondern ein HalbWesen. Es bedarf eines anderen Geschlechtsindividuums, um zur letzten Seligkeit der Hervorbringung zu gelangen. Dieser tragische Dualismus ist stets von den im geistigen Sinne ›schaffenden‹ Naturen, von den Künstlern und Philosophen am heftigsten, am leidenschaftlichsten empfunden worden.«127
Der Mensch als »Halbwesen«128 suche nach seiner zweiten Hälfte und erfahre Begehren stets als einen Mangel. Dieser Mangel kann nach Goldschmit nur auf einen gegengeschlechtlichen Partner projiziert und im Sexualakt kurzzeitig überwunden werden. Was bedeutet dieses Triebmodell des Begehrens für das Theater? Schauspielerin und Zuschauer werden im Theater der Geschlechterpolarität aufgrund der Differenz ihrer Geschlechtsidentität wechselseitig aufeinander bezogen. Die leibliche Kopräsenz im Aufführungsgeschehen wird mit den sexuellen Wirkungen des Geschlechtsaktes gleichgesetzt. Der Zuschauer wird zum konstitutiven Bestandteil dieses Verhältnisses. Sein sexuelles Begehren beeinflusst das Aufführungsgeschehen, die Produktionsbedingungen am Theater und
125 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 55. 126 Ebd. 127 Ebd., S. 54. 128 Goldschmit-Jenter rekurriert mit dem Menschen als Halbwesen auf den Mythos des Kugelmenschen aus Platons Gastmahl. Goldschmit, der die Gastmahl-Passage in einem längeren Zitat wiedergibt, kürzt jedoch jene Stellen, in denen auch von der gleichgeschlechtlichen Anziehungskraft der Kugelmenschen im Mythos die Rede ist, da es laut Platon eben auch mann-männliche und weib-weibliche Kugelmenschen gab, die von Zeus gespalten wurden. Insofern hat Goldschmit Platons Mythos heteronormativ interpretiert. Platon: Das Gastmahl. Stuttgart: Reclam 2008.
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den Objektcharakter der Schauspielerin als Geschlechtskörper. Goldschmit zufolge muss es aber so reguliert werden, dass das Verhältnis von Zuschauer und Schauspielerin stets ein erotisches bleibt, in dem sich die Ökonomie des Begehrens durch eine Erfahrung des sexuellen Mangels auszeichnet. Die Grenze zwischen Theater und Prostitution wird im Prostitutionsdiskurs mit dem Geschlechtsakt gleichgesetzt und kollabiert, wenn »in Zeiten des Verfalls Schauspielerin und Drama und Publikum auf einen einzigen Generalnenner [gebracht werden]: Sexualität.«129 Die sexuelle Ansteckungsgefahr der Prostitution geht damit von drei Positionen aus: der medialen Disposition des Theaters und seiner Stoffe, der Inszenierung von Weiblichkeit durch die Schauspielerin und dem als triebhaft konnotierten Begehren des Zuschauers. Für alle drei wird dies zu einem »erotischen Problem«, wie Goldschmidt konstatiert: »Das erotische Problem wird – von dieser Einstellung aus abgeschätzt – zur Gefahr für die Kunst, kann zur Trübung des Genießens und künstlerischen Erlebens beim Zuschauer führen und zugleich die Unbekümmertheit des Schaffens bei der Schauspielerin verwirren.«130
Goldschmit problematisiert auf diese Weise die Schwelle zwischen Kunst und Prostitution, die durch die ›Macht‹ der erotischen Wirkung zwischen Darstellerin und Zuschauer im Aufführungsgeschehen erzeugt wird und stets in ein Theater der Prostitution kippen kann. Das erotische Problem betrifft dabei das Theater als Ort der Kunst, die Anerkennung der Arbeit der Schauspielerin und die ästhetische Erfahrung des Zuschauers. Während die Zuschreibung der Prostitution an die Figuration der Schauspielerin einen Darstellungs- und Arbeitsdiskurs hervorbringt, wird über die Figuration des Zuschauers ein Wirkungs- und Begehrensdiskurs geführt. Der Zuschauer als Voyeur Goldschmits Überlegungen zum Theater der Geschlechterpolarität und des ›triebhaften‹ Begehrens des Zuschauers sind auf eine Aussage des Historikers Eduard Devrient in seiner 1850 veröffentlichten Geschichte der deutschen
129 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 65. 130 Ebd., S. 57.
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Schauspielkunst131 zurückzuführen, die im Prostitutionsdiskurs um 1900 auffallend häufig von den Diskursproduzenten zitiert und diskutiert wird, um den »kategorialen Bruch«132 im Verhältnis des Zuschauers zum Theater zu beschreiben, welcher mit der Einführung von Frauen auf der Bühne einhergeht. Dieser Bruch bezieht sich einerseits auf das Ende einer ausschließlich männlichen Darstellungstradition133 und deutet zudem bereits kulturelle Umbrüche in der Rezeption des Theaters an, innerhalb derer das geschlechtliche Interesse der Zuschauer die moralische und aufklärerische Anstalt des Theaters, wie sie für das 18. Jahrhundert anvisiert wurde, durchkreuzt. »Bis dahin waren, wie wir wissen, bei allen Banden die Frauenrollen von Knaben gespielt worden. Die Oper hatte zwar schon längst die herrschende Sitte durchbrochen und Frauen auf die Bühne gebracht, weil man sich mit der unzureichenden Ausbildung der schnell wechselnden Sopranstimmen der Knaben nicht begnügen wollte; indessen waren die Frauen in der Oper noch nicht allgemein geduldet, als Velthens Truppe diese kühne Neuerung schon nachahmte. Sie war von tief greifender Wichtigkeit und es darf ihr ein großer Anteil an der Anziehungskraft, welche Velthens Aufführungen ausübten, zugeschrieben werden. Aber abgesehen von dem heftigen Verstoß gegen die Sitte, den das Theater damit beging, war mit der Einführung der Frauen – so sehr die Darstellung auch an Wärme, Wahrhaftigkeit und natürliche Ausbildung gewinnen mußte – doch für alle Zeiten der Geschmack und das Urteil des männlichen Publikums durch das geschlechtliche Interesse getrübt.«134
131 Eduard Devrient berichtet von einem Personenverzeichnis von 1685. Dieses Personenverzeichnis führt erstmals in Deutschland auch Frauen auf, die als Berufsschauspielerinnen in der Truppe des Magister Velthen angestellt sind. 132 Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, S. 299. 133 Hilde Haider-Pregler stellt aus feministisch-kritischer Sicht das männliche Theaterwesen seit der Antike in groben Zügen dar. Vgl. Hilde Haider-Pregler: »Das Verschwinden der Langeweile aus der (Theater-)Wissenschaft. Erweiterung des Fachhorizontes aus feministischer Perspektive«, in: Renate Möhrmann (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin: Dietrich Reimer 1990, S. 316-349, hier S. 325. 134 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Neu bearbeitet und bis in die Gegenwart fortgeführt als Illustrierte deutsche Theatergeschichte von Willy Stuhlfeld. Berlin/Zürich: Eigenbrödler-Verlag 1929, S. 56.
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Das Verhältnis der Schauspielerinnen zur Schauspielkunst und den Zuschauenden, welches durch die Neuerung entsteht, kennzeichnet er mit Wärme, Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit. Damit stilisiert Devrient die Schauspielerinnen zu Trägerinnen der Authentizität, die bereits die Entwicklung einer späteren Geschlechtertheorie zur Frau als Schauspielerin vorwegnehmen. Denn die von Devrient gewählten Begriffe zur Beschreibung der weiblichen Schauspielkunst sind allesamt Ausdrücke, die für die Beschreibung des weiblichen »Geschlechtscharakters«135 populär sind, wie ihn Goldschmit und Bab theoretisiert haben. Auch Devrient reduziert die Schauspielerin damit auf eine Vorstellung von Weiblichkeit als naturhaftes, ›bloß seiendes‹ Wesen.136 Und damit fängt das Problem an: Die Schauspielerin erscheint in den Augen von Devrient nicht in ihrer künstlerischen Funktion als eine, die sich in etwas anderes auf der Bühne verwandelt, also als eine Virtuosin oder Verwandlungskünstlerin, sondern sie erscheint ihm in erster Linie als Frau. So lässt sich die von Devrient beschriebene Einführung der Frauen als Entdeckung der Geschlechtlichkeit im Theater lesen. Durch den Auftritt der Frau auf der Bühne als Akt der Zurschaustellung ihres weiblichen Körpers vor den Augen des männlichen Betrachters treten beide in die sexuelle Szene ein. Das Theater wird zum sexualisierten Schauplatz. Damit verbunden ist für beide Beteiligten als auch für das Theater der Verlust von körperlicher und psychischer Unschuld. Zugleich ist der Verlust durch geschlechtsspezifische Unterschiede gekennzeichnet. Der erste Auftritt der Frau als Schauspielerin auf der Bühne gerinnt durch Devrients Kommentar zu einem Phantasma des Sündenfalls: Sie braucht nur die Bühne der Weltgeschichte zu betreten und schon zieht sie ihre Zuschauer in ihren sexuellen Bann. Die Schauspielerin ist in Devrients Sicht eine Verführerin des Zuschauers, aber er nennt sie nicht Prostituierte. Der Verlust, den die Schauspielerin zu ertragen hat, besteht also darin, dass sie, um zum Subjekt des schauspielerischen und schöpferischen Aktes zu werden, zugleich zum Objekt der Betrachtung wird. Diese Objektivierung durch den Zuschauer geht für Devrient
135 Karin Hausen: »Die Polarisierung der ›Geschlechtercharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Sabine Hark (Hg.): Dis/Kontinuitäten: feministische Theorie. Wiesbaden: VS 2007, S. 173-196. 136 Simone de Beauvoir sieht die Frau aufgrund ihres biologischen Schicksals als ein Wesen, das in »Wiederholung und Immanenz« gefangen gehalten wird und ganz auf Gegenwärtigkeit ausgerichtet ist. »Die Frau […] ist ursprünglich existierendes, das das Leben schenkt und sein Leben nicht aufs Spiel setzt.« Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 90.
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zwangsläufig mit einem geschlechtlichen Interesse einher, das sich fortan nicht mehr auf den präsentierten Kunstkörper, sondern auf den realen Körper der Schauspielerin richtet. Dabei problematisiert Devrient nicht die Darstellung der Schauspielerin, sondern viel allgemeiner die geschlechtliche Disposition des Betrachters zur Darstellerin. Im Zuge dessen scheint nicht von Interesse zu sein, welche Rollen oder Handlungen die Frauen in Velthens Truppe zu spielen hatten, ob sie schön oder hässlich waren, sich erotisch oder tölpelhaft bewegten. Devrient zeigt den kategorialen Umbruch in der Rezeption des Zuschauers an: Dieser wird zum Verführten, der durch sein geschlechtliches Interesse an der Schauspielerin in einen Zustand sexueller Erregung während der Theateraufführung gerät. Devrients Kommentar liest sich damit viel eher als eine Art Vorspiel auf dem Theater, dem der Eintritt in die Prostitution noch folgen könnte. Denn die verdeckte Angst des Zuschauers besteht darin, dass das geweckte sexuelle Interesse seiner Kontrolle entgleitet und stärker gestillt werden will, als es in der Imagination während eines Theaterbesuchs möglich ist. Infolge eines Reiz(Schauspielerin)-Reaktions(geschlechtliches Interesse)Schemas legt sich über den Geschmack und den Blick des Zuschauers ein sexueller Schleier, der seinen distanzierten, kritischen Theaterblick ein für alle Mal trübt. Letztlich trauert Devrient um ein ›reines‹ Theater, in dem das sexuelle Begehren keine Rolle spielt und der männliche Zuschauer ›nur‹ ästhetische und keine sexuellen Erfahrungen machen soll. Das geweckte geschlechtliche Interesse ›verdirbt‹ Devrients Ansicht nach Geschmack und Urteil. Damit konzipiert Devrient aber auch einen männlichen Zuschauer, der nicht von seinen Begierden absehen kann, sondern ihnen heillos ausgeliefert und verfallen ist, der nicht mehr Herr über sich selbst ist. Für den Zuschauer als Voyeur wird der Platz im Dunkeln wie die Anonymität für den Freier notwendig, damit seine Begierde im Aufführungsgeschehen im Verborgenen bleibt. Devrient operiert in seinem Kommentar mit einem männlichen Blick. Devrients skizziertes Blickverhältnis des männlichen Zuschauers auf die Schauspielerin folgt dieser Blickhierarchie. Einerseits bestätigt sich darin das Vorstellungsbild von Männlichkeit durch einen Beobachter, der die Subjektposition innehat, andererseits disponiert er die Schauspielerin als weibliches Objekt. Zugleich zeigt die Befürchtung Devrients, dass der Beobachter keine stabile und distanzierte Position mehr innehat: Er verliert seine »Distanz« und »Kontrolle«137, weil die Schauspielerin sinnliche Re-
137 Vgl. Christian Kravagna (Hg): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Id. Archiv 1997, S. 8.
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gungen in ihm entfacht, die ihn vom Zeugen und Kritiker einer Aufführung in den Status eines Voyeurs versetzen. Damit zerbricht das Ideal des männlichen Betrachters. Die rationalen Fähigkeiten des Erkennens, Abstrahierens und Objektivierens gehen nach Devrient aufgrund einer Trübung durch das geschlechtliche Interesse verloren.138 Devrients historische Darstellung der ersten Berufsdarstellerinnen am Dresdner Hoftheater um 1685 verlässt die historische Kontextualisierung und gerät zu einem Kommentar über die Wirkungen weiblicher Schauspielkunst im Auge des männlichen Betrachters.139 Für Devrient ist die Schauspielerin aufgrund ihrer zwangsläufig zur Schau gestellten Weiblichkeit eine problematische Figur. Dies rührt daher, dass Devrients Kommentar in einem Vorher-Nachher-Modus formuliert ist: Vor dem Eintritt der Frau in die Schauspielkunst gab es scheinbar kein geschlechtliches Interesse, welches die Rezeption der Theateraufführung durch den männlichen Zuschauer beeinträchtigt hätte. Im Theater der Geschlechterpolarität löst der Schauspieler keine sexuellen Reize aus. Dies suggeriert, dass der männliche Schauspieler den männlichen Zuschauer in erotischer Hinsicht kalt gelassen habe.140 Der Schauspieler als erotisches Objekt des Blicks fällt aus dem Rahmen des Theaters der Geschlechterpolarität und wird nur an seinen Rändern diskursiviert. Devrient konfiguriert aufgrund ihrer Weiblichkeit allein die Schauspielerin als sexuelles Objekt der Wahrnehmung. Damit spielt sich das von Devrient konzipierte sexuelle Beziehungsverhältnis zwischen Schauspielerin und
138 Klaus Laermann und Gisela Schneider bezeichnen diesen Blick als einen einäugigen Blick, der sich jeder Sinnlichkeit entziehen will und dessen Ideal ein »detachiertes und distanziertes Sehen« ist: »Das Ideal dieses Blicks ist der Mythos des ›reinen‹ Sehens, das zugleich reine Sprache wäre: kurz: das redende Auge, die intellektuelle Anschauung.« Klaus Laermann/Gisela Schneider: »Augen-Blicke. Über einige Vorurteile und Beschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung« in: Kursbuch 49/1977, S. 48. 139 Devrient schildert diese Wirkungen so, als wäre er selbst dabei gewesen, obwohl er das erste Mal, als eine professionelle Schauspielerin die Bühne betreten hat, gar nicht miterlebt hat. Devrient, der um 1850 die Geschichte der deutschen Schauspielkunst schreibt und als Sänger, Schauspieler und Theaterdirektor gearbeitet hat, konnte bereits auf eine mehr als 150jährige Geschichte weiblicher Bühnenkunst blicken, die für die Entwicklung der Schauspielkunst zum Massenspektakel und Leitmedium durchaus bedeutsam war. 140 Vgl. auch Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 58.
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männlichem Zuschauer im Rahmen einer heterosexuellen Matrix ab; das geschlechtliche Interesse des Zuschauers an der Schauspielerin ist allein heteronormativ gedacht. Devrients Kommentar vermittelt somit ein Deutungsmuster für das Verhältnis der Schauspielerin zum männlichen Zuschauer, das keine historische Einordnung, sondern eine diskursive Erörterung über die Wirkmächtigkeit von Sexualität als Teil der Aufführungssituation darstellt, die implizit Schauspielerinnen zu Prostituierten und Zuschauer zu Freiern macht. Ausdifferenzierung der Zuschauer Im Prostitutionsdiskurs um 1900 findet eine Ausdifferenzierung der Zuschauer in antagonistische Figuren statt: Die einen gehen aus künstlerischem Interesse an den Aufführungen, die anderen aufgrund ihres sexuellen Begehrens in Theater. Damit einher geht eine Wertung der ›guten‹ Kunstbetrachter und der ›schlechten‹ Voyeure über die Zuschreibung der Prostitution. »Eine besondere soziale Schwierigkeit des Theaters liegt nun aber darin, daß ein sehr großer Teil der Zuschauer weder eine zartere Empfindlichkeit noch ein tieferes Gewissen besitzt, und daß er sehr bereit ist, an dem zur Schau gestellten Körper einen simplen sexuellen Reiz zu entzünden, der jedes künstlerische Verhältnis, und hier wie überall auch jede menschliche Hochachtung, zerstören muß.«141
In die Kritik geraten jene Zuschauer, die ganz bewusst ins Theater gehen, um ihre Aufmerksamkeit allein auf den sexuellen Reiz des Theatererlebnisses zu lenken. Und die dabei ›noch nicht einmal‹ ein schlechtes Gewissen darüber empfinden, das künstlerische Verhältnis außer Kraft zu setzen. Damit zeigt sich bereits ein offensichtlicher Wandel der Figuration des Zuschauers vom verunsicherten Voyeur zum Kunden und Konsumenten. Der Zuschauer bei Devrient war seinem Trieb und seinem geschlechtlichen Interesse affirmativ und affektiv ausgeliefert. Das geschlechtliche Interesse, welches die Schauspielerin in ihm weckte, war für ihn lustvoll und krisenhaft zugleich. Um 1900 entwickelt sich ein Zuschauertypus, der mit seinem sexuellen Begehren souverän umgehen kann. Er bringt das Theater in den Verruf der Prostitu-
141 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931 mit einem Geleitwort von Alphons Silbermann. Stuttgart: Ferdinand Enke 1974, S. 96.
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tion, weil er es als eine Peepshow aufsucht, um sein sexuelles Begehren zu befriedigen. Durch seine konsumierende Haltung und seinen sexuellen Blick auf die Darstellerinnen wird das erotisch-ökonomische Tauschverhältnis der Aufführung sichtbar und problematisch. Obwohl der Zuschauer als Kunde und Konsument die analoge Position zur Schauspielerin als Prostituierte darstellt, wird der Zuschauer zwar mit Attributen des Freiers ausgestattet, aber nie als solcher bezeichnet. Dies ist der blinde Fleck in einem Diskurs, in dem der männliche Blick der Diskursproduzenten den Blick auf sich selbst verdrängt. Im Prostitutionsdiskurs erfährt der Zuschauer zugleich eine Aufwertung seiner Position im Aufführungsgeschehen. Sein Blick und sein Begehren werden dafür verantwortlich gemacht, ob die Aufführung als eine Situation der Kunst oder der Prostitution hervorgebracht wird. Damit machen die Diskursproduzenten die Wechselbezogenheit von Produktion und Rezeption, von Zuschauenden und Darstellenden unabhängig von deren Geschlecht, explizit. Die Wahrnehmungsschranke zwischen Theater und Prostitution Aus der Prämisse, dass der Blick der Zuschauer entscheidenden Anteil daran hat, dass die Schauspielerin aus ihrer Rolle als künstlerisches Subjekt in den Status eines sexuellen Objekts versetzt wird, ergibt sich für Bab und Goldschmit folgende Frage: Wie bleibt man ein ›guter‹ Zuschauer? Dies stellt ihrer Meinung nach ein schwieriges Unterfangen dar, da die erotische Wirkung für das Theater konstitutiv sei und genau darum von seinen Zuschauerinnen und Zuschauern geschätzt werde. Goldschmit konstatiert, dass »nur im unnormalen Zuschauer das Gesetz von der geschlechtlichen Polarität jeder menschlichen Betätigung unwirksam«142 gemacht werden könne. Damit erscheint auch der lustlose Zuschauer aufgrund seiner nicht sexuell empfänglichen Männlichkeit, die Goldschmit als ›unnormal‹ pathologisiert, als ›schlechter‹ Zuschauer. Im Theater der Geschlechterpolarität soll eine erotische Wirkung möglich sein, ohne dass sie »Schauspielerin und Drama und Publikum auf einen einzigen Generalnenner [bringt]: Sexualität.«143 Der Sex144 muss aus dem Theater und der Wahrnehmung des Zuschau-
142 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 56f. 143 Ebd., S. 65. 144 Was als Prostitution auf der Bühne gewertet wurde, ist aber, wie die Diskurse um Nana gezeigt haben, ein Problem erhöhter Schauwerte. Bereits Nacktheit wurde als Konkretisierung der Sexualität wahrgenommen.
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ers ausgeschlossen werden, damit Theater Theater bleibt und nicht Prostitution wird. »In der Tat! Welche puritanische oder sonst ideologische Gewaltsamkeit könnte eine Theorie entwickeln, nach der eine Kunst ganz auf der Ausdruckskraft eines Körpers aufgebaut wäre, und die stärkste Kraft, mit der der Körper im täglichen Leben von Mensch zu Mensch wirkt, die sexuelle Kraft, mit der die Geschlechter einander anziehen, sollte nicht ins Spiel kommen!? Es ist gar keine Frage, daß jede starke Schauspielerwirkung ganz nah benachbart der erotischen ist. Und vielleicht macht nur die Rampe, d. h. das Gefühl privater Unerreichbarkeit, der Strahl, den das Bewußtsein ›Kunst‹ in das Gehirn wirft, den Unterschied zwischen mimischer und erotischer Ergriffenheit aus.«145
Theater sei eine Situation, die ähnlich wie im Alltag auch, aus Beziehungsverhältnissen von Mensch zu Mensch organisiert sei. Die Hauptrolle in diesen Beziehungsverhältnissen zwischen Menschen spiele die sexuelle Anziehungskraft, die aus der Polarität der Geschlechter erwachse. Es erfordere einen aufgeklärten Zuschauer, der die Grenze zwischen mimischer und erotischer Ergriffenheit selbst ziehen könne, sobald »ein sexueller Reiz auf ihn zu wirken anfängt«146, indem er »sein künstlerisches Empfinden deshalb zur Vorsicht und zur Abwehr aufruft«147. Es bedürfe der Rampe, um dem Zuschauer die theatrale Situation wieder ins Bewusstsein zu rufen, wenn dieser von einer starken Schauspielerwirkung stark ergriffen worden sei. Die Rampe konstituiert eine Differenz von Sehen und Berühren, die durch das Dispositiv des Guckkastentheaters um 1900 räumlich hergestellt wird. Damit soll das Illusionstheater dem Zuschauer zwar eine Immersion als eine Berührung durch den Blick erlauben, ihn aber nicht mit der Gegenwärtigkeit des Körpers der Darstellenden und dem Außen als Wirklichkeit des Theaters konfrontieren. Zugleich erhält der Zuschauer so einen Schutzraum für seine Phantasie. Deshalb braucht es für Bab eine weitere als die räumliche Rampe. Diese müssten sich die Zuschauenden selbst als eine Art Wahrnehmungsschranke zulegen, damit die mimische Ergriffenheit nicht mit einer erotischen verwechselt werde und eine ästhetische Distanz zum Spielgeschehen und damit auch zur Erotik der Bühne erhalten bliebe.
145 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, S. 95. 146 Ebd., S. 96. 147 Ebd.
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Die ästhetische Distanz fungiert als ein Wahrnehmungsvorhang, der eine Grenze des Begehrens zwischen Theater und Prostitution setzt. Doch diese Wahrnehmungsschranke zwischen Theater und Prostitution sei von den Schauspielerinnen und Schauspielern durch ihre Doppeldeutigkeit selbst nicht zu kontrollieren und stets in Gefahr, durch den Blick des Zuschauers niedergerissen zu werden: »Wer nun nicht künstlerisches Gefühl genug hat, um zwischen dem darbietenden Künstler, dessen Privatexistenz ja gar nicht auf die Bühne kommt, und dem allein dargestellten schauspielerischen Kunstwerk zu unterscheiden, wer nicht Phantasie genug hat, um statt des Hamletdarstellers wirklich einen dargestellten Hamlet zu sehen, für den bleibt Schauspielkunst allerdings eine bezahlte Schaustellung menschlicher Körper und erhält somit eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Prostitution.«148
Bab markiert damit ein Zuschauerproblem für die Darstellerinnen und Darsteller. Im Blick des Betrachters können sie ihres Kunstrahmens enthoben und zu einem Objekt sexuellen Interesses werden. Der Blick des Zuschauers prostituiert die Darstellenden, wenn seine Wahrnehmung durch einen »Einbruch des Realen«149 gekennzeichnet ist und sich das Interesse einzig auf den sichtbaren (sexuellen) Körper und die Privatperson richtet. Das »bloße[…] Erlebnis[…]«150 als Überwältigung der Sinne aufgrund der Plurimedialität151 des Theaters mache die Schauspielkunst zu einer »Schwellenkunst«152, die immer »nur halb Kunst und noch halb Erlebnis ist«153. Die Schwelle als Übertritt der moralischen Grenzen und Normen und der Erlebnischarakter verbinden Schauspielkunst und Prostitution. Babs Begriff der »verdächtige[n] Ähnlichkeit«154 erhält die Differenz der Systeme von Theater und Prostitution aufrecht. Die Angst, die Bab formuliert, ist vielmehr, dass das Theater als Apparat der Prostitution gesehen werden könnte. Anhand der Rezeption des Zuschauers beschreibt er einen Prozess der Mimikry, in welchem das Theater als Prostitution erscheine. In der Wahrnehmung des Betrachters – des Zuschauers wie des
148 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 54f. 149 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 170. 150 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 29. 151 Manfred Pfister: Das Drama. München: Fink 2001, S. 24. 152 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 29. 153 Ebd., S. 30. 154 Ebd., S. 55.
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Diskursproduzenten – findet eine Assimilierung von ästhetischen und erotischen Erwartungen und Erregungen statt, die das Theater und seine Darstellenden in den Verdacht der Prostitution bringen. Das Geld, das der Zuschauer bezahlt hat, erscheint nicht mehr als Tauschwert für ein künstlerisches Werk, welches zur Betrachtung steht, sondern als Gegenwert für »eine bezahlte Schaustellung menschlicher Körper«. Bab konstituiert die Projektion der Prostitution auf das Theater aus der Perspektive des Zuschauers als Rezeptions- und Imaginationsleistung, innerhalb derer der (männliche) Zuschauer den Rahmen (Theater versus Prostitution), die Erfahrung (ästhetische versus erotische Ergriffenheit), die Darstellerin (Schauspielerin versus. Dirne) und das Geld (für Kunst versus Körper) umwertet. Durch diesen Rezeptionsprozess kommt es laut Bab zur verdächtigen Ähnlichkeit des Theaters mit der Prostitution. Der Zuschauer erlebt einen Einbruch der Prostitution in die Wahrnehmung. Dieser Einbruch kennzeichnet jene Transformation des Zuschauers in der Aufführungssituation zu einem Freier, bei der sich dieser ganz dem sinnlichen Vergnügen und den Affekten hingibt, die der Darstellerkörper bei ihm auslöst. Der Zuschauer als Begehrender Das Theater der Geschlechterpolarität wird als erotisch-ökonomische Schauordnung zwischen einer Darstellerin und einem Zuschauer konstituiert, in welcher eine Ökonomie des Begehrens zirkuliert. Der Zuschauer wird als derjenige konzipiert, der die Blickmacht im Theater besitzt. Er ist aber nun durch den Auftritt der Schauspielerin potenziell in die Gefahr geraten, seine distanzierte Position durch sexuelle Empfindungen preiszugeben und in die Position des Voyeurs zu verfallen. Das heterosexuelle erotische Begehren in der Aufführungssituation sowie die sexuelle Projektion auf das Theater und die Schauspielerin werden zu einem erotischen Problem. Befürchtet wird, dass nicht mehr das künstlerische, sondern das sexuelle Erleben die vordergründige Erwartung des Theaterzuschauers sei. Mit der Zuschreibung der Prostitution wird versucht, die ästhetische Distanz zwischen Kunst und Sexualität aufrechtzuerhalten. Das Theater der Geschlechterpolarität stellt sich als ein sinnliches Theater dar, in dem Eros als ein heterosexuelles Begehren des Mangels zwischen Darstellerin und Zuschauer zirkuliert. Die Dichotomien von Kunst und Prostitution, Sehen und Berühren, innen und außen werden instabil, weil die Wahrnehmung des Zuschauers einen Einbruch des Realen erfährt, durch den er sein Begehren am Ort des Anderen, am Darstellerkörper, wiederfindet. Die Diskursproduzenten bringen die Zuschreibung der Prostitution als Regulativ in den Wirkungs- und Wahrnehmungsdiskurs ein, um zwi-
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schen ›guten‹ und ›schlechten‹ Zuschauern zu differenzieren. Die ›schlechten‹ Zuschauer verwechseln in den Augen der Diskursproduzenten aufgrund ihres sexuellen Interesses an der Darstellerin das Theater mit einem Bordell.
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Die Arbeit an der Differenz betrifft im Prostitutionsdiskurs des Theaters um 1900 nicht allein den Schauspielerinnenkörper und den Zuschauer. Die Unterscheidung in Huren und Heilige, in Kunstbetrachter und Voyeure bildet nur ein Unterkapitel eines umfassenderen Problems, auf das sich letztlich der gesamte Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater um 1900 zurückführen lässt: die hartnäckige Differenzierung von Kulturtheater und Geschäftstheater155, die mit dem Aufkommen der Gewerbefreiheit des Theaters vor allem von einer bürgerlichen Elite wieder verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Diese bürgerliche Elite hing noch der Idee der Nationaltheaterbewegung des 18. Jahrhunderts an und propagierte die ästhetische Erziehung des Publikums ebenso wie die Unvereinbarkeit von Theater und Geschäft.156 Deshalb taucht der Prostitutionsdiskurs insbesondere in solchen Texten auf, die einem Kulturtheater-Ideal nahestehen und dieses zurückerobern wollen. In den soziologischen Schriften zum Beruf der Schauspielerin spricht eine bürgerliche Elite, die sich progressiv für bessere Arbeitsbedingungen von Frauen am Theater einsetzt und zugleich dem Theater restaurativ mit der Anklage der Übel der Prostitution das Ökonomische austreiben will, um zurück zu einer Kunst ohne ökonomische Vorgaben zu gelangen. Stefanie Watzkas hat die Aufrechterhaltung des Kunsttheater-Ideals als »antimodernistischer Verdrängungsakt« beschrieben, »welcher aus einer Verweigerungshaltung gegenüber den Ökonomisierungsbestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstand.«157 Im Folgenden soll im Anschluss an Watzkas These untersucht werden, inwieweit der Prostitutionsdiskurs entscheidenden Anteil am Verdrängungsakt des Ökonomischen aus dem Theater hat bzw. warum und wie das Ökonomische in
155 Vgl. paradigmatisch Ludwig Seelig: Geschäftstheater oder Kulturtheater? Berlin: Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger 1914. 156 Vgl. zum Diskurs der Dichotomie Geschäftstheater – Kunsttheater: Stefanie Watzka: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger, S. 113-123. 157 Ebd., S. 123.
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der Zuschreibung der Prostitution in Bezug auf das Theater auftritt. Denn durch den abwertenden Begriff findet eine Ausgrenzung ökonomischer Fragen in das Feld der Prostitution statt – Fragen, welche erst bei genauer Lektüre nicht allein von Sexualität, Schaulust und Körperlichkeit berichten, sondern ebenso Anklage erheben gegen Geldgier, Profitsucht, Kapitalismus und Käuflichkeit. Das Theater als Bordell In den Memoiren Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin (1912), welche von einer unbekannten Schauspielerin unter dem Pseudonym Helene Scharfenstein veröffentlicht wurden, wird die junge Helene, die den Entschluss gefasst hat, Schauspielerin zu werden, von einem bereits seit langer Zeit beruflich tätigen Schauspieler namens Konrad über das Theater belehrt: »Mein Fräulein, Sie überschätzen wie die meisten Menschen das Theater und halten es womöglich auch für eine Anstalt zu edler, hoher Kunstpflege. Drei oder vier gibt es wirklich, die das sind, die anderen sind samt und sonders ganz nüchterne Erwerbsunternehmungen wie Warenhäuser, Mäntelfabriken, Hotels oder Bordelle, nur mit dem Unterschied, daß beim Theater grausamer mit den Angestellten gewirtschaftet wird, daß sie mehr zu tun haben, weniger Befriedigung finden und schneller verbraucht werden als in irgendwelchen anderen Betrieben.«158
Konrad tritt Helenes naiver Vorstellung vom Theater als Kunstinstitut mit dem Bild eines wirtschaftlichen Betriebes entgegen, in dem die menschliche Arbeitskraft schlimmer verbraucht und ausgebeutet werde als in einem Bordell. Konrad greift in seiner Argumentation auf die Dichotomie von Kunsttheater und Geschäftstheater zurück, die für den Prostitutionsdiskurs um 1900 paradigmatisch ist. Die räumliche Eingliederung des Theaters in eine Topographie mit Warenhäusern, Hotels und Bordellen stellt seine Ökonomisierung als kapitalistisches Unternehmen ebenso heraus wie die Popularisierung als Massenvergnügen. Die eindringliche Warnung an das junge Mädchen nimmt vorweg, dass jegliche Prostitution, von der Schauspielerinnen in ihrem Berufsleben bedrängt sein könnten, letztlich nicht auf ihrer Weiblichkeit gründe, sondern eine Folgeerscheinung der Ökonomisierung des Theaters sei: »Ein Mädchen, das ohne starke Begabung oder viel Geld zur Bühne geht, könnte ebenso gut in ein Bordell ge-
158 Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin, S. 52.
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hen.«159 Dabei führt Konrad einen ökonomischen Rechenschluss vor: Für jene Frau, die nicht genug Eigenkapital in Form von Geld oder Talent in das Engagement einbringen könne, werde das Theater zu einem Bordell, in dem sie sich verkaufen müsse. Im Raum eines Bordells steht alles unter dem Diktat der Käuflichkeit. Das Bordell verweist um 1900 auf die ›Verkommenheit‹ des Theaters zum Geschäft und zum käuflichen Massenvergnügen. Als »Fleischmarkt der jüngeren Hautefinance«160 beschreibt Scharfenstein in ihren Memoiren jene Theater und Kabaretts. Sie seien keine Kunstinstitute mehr, hier habe das Fleisch der Darstellerinnen wie andere Waren auch keine Subjekthaftigkeit mehr. Es erziele seinen Wert aus dem Verkauf und unterliege den Regeln des Marktes. Das Bordell wird somit als Synonym des Geschäftstheaters gebraucht, in dem mit Körpern Handel getrieben wird und das durch den Prostitutionsdiskurs als ›schlechtes‹ Theater ausgegrenzt wird. Über den Begriff der Prostitution vollzieht sich eine Abgrenzung von Hochkultur und populärer Kultur, Theater und Nicht-Theater, von bedeutungsvoller Kunst und jenen Theaterformen, die im Zeichen der Prostitution stünden wie »heute noch in Tingeltangeln und niederen Bühnen«161. Dabei gerät vor allem, wie schon bei Zola als spezifischer Theaterort beschrieben und mehrfach als Bordell benannt, das Varieté (oder auch Tingeltangel) genannt, in die Kritik, »daß durch seine Darbietungen die niederen Instinkte, namentlich die Geschlechteslust, angeregt werden sollen.«162 Das Varieté repräsentiert sowohl die neue ökonomische Form des Theaters als Privatunternehmen als auch ein Theater der Sinnlichkeit, in welchem die Körperlichkeit der Darstellenden durch performative Praxen wie Artistik oder Tanz in den Mittelpunkt rückt. Die Kritik an der Anregung der »Geschlechteslust«163 macht deutlich, dass hierbei den Theatern als Institution die Schuld zur Verführung zugewiesen wird: Die Theaterleiter sorgen durch die Darstellungen der Schauspielerinnen für eine
159 Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin, S. 83. 160 Ebd., S. 154. 161 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 54. 162 Gerichtsurteil vom 11.04.1907, abgedruckt in: Der Artist Nr. 2151 vom 11.03.1923, zitiert nach Wolfgang Jansen: Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst. Berlin: Hentrich 1990, S. 61. Die Anregung der sexuellen Lust, zum Beispiel durch Nacktdarstellungen von Tänzerinnen, den Striptease oder durch das kokette, wenig bekleidete Nummerngirl, missfiel jenen Vertretern des Varietés, die dieses vor allem als ein virtuos artistisches etablieren wollten. 163 Ebd.
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Anreizung des Begehrens. Im ›schlechten‹ Theater – im Theater der Prostitution – schließt sich der Kreis des erotischen Problems: Darstellerin, Zuschauer und Theater überschreiten gleichermaßen durch Darstellung, Begehren, Wirkungsweise und Geschäftspraxis die Sphäre der Kunst und betreten einen Vergnügungsraum, der mit dem Bordell verglichen wird. So schreibt auch der Schauspieler Conrad Alberti in seiner Streitschrift: »Wie viele Theaterdirectoren gleichen nicht jenem Monsieur Boerdenave in Zola’s ›Nana‹, der, wenn man von seinem Theater spricht […] ruft: ›Zum Henker, sagen Sie doch nicht immer mein Theater, sagen Sie doch mein Bordell!‹ In der That, viele Theaterdirectoren […] wissen recht gut, daß ihre Kunstinstitute nichts anderes sind als geschickt maskierte Bordelle, sie dulden den Unfug ruhig aus Rücksichtnahme für die Kasse; sie sparen ja am Gagenetat, je mehr Nebeneinnahmen ihre Künstlerinnen besitzen; die Liebhaber der letzten sind ihre besten Theaterbesucher, und wenn sie an ihre Künstlerinnen höhere Anforderungen stellen als die blendender Toiletten und leidlichen Memorirens ihrer Rollen, so ist es in Regel höchstens das Verlangen des jus primae noctis!«164
Albertis Geste der Kritik ist eine Demaskierung: Hinter dem zurückgezogenen Vorhang des Theaters kommt ein Bordell zum Vorschein, das seine Geschäfte auf der Prostitution als Nebeneinnahme der Künstlerin gründet. Als Herrscher und Betreiber des Bordells erscheint der Theaterdirektor, der allein nach dem ökonomischen Prinzip handelt, damit seine Kasse stimmt. Der Hinweis auf das Herrenrecht der ersten Nacht setzt die Macht-Thematik zwischen Direktor und Schauspielerin wie jene von Herrscher und Beherrschter in Szene. Das Bordell wird zur Metapher für einen Ort, an dem sämtliche Arbeitsbeziehungen von einer Ökonomie des Begehrens durchdrungen sind. Tauschbeziehungen in der Theaterarbeit »›Haben Sie auch Verhältnisse?‹ fragte kürzlich der Regisseur einer ›idealen Volksbühne‹ das arme Wesen, das bei ihm erste Liebhaberinnen spielen sollte, und warf dabei einen kritischen Blick auf ihr schlichtes Straßenkleid. Köchinnen werden von der rigorosen
164 Conrad Alberti: »Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887)«, in: Peter W. Marx/Stefanie Watzka (Hg.): Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt: Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914. Tübingen: Francke 2009, S. 75-132, hier S. 109.
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Hausfrau oft verpflichtet, keinen Schatz zu haben. Umgekehrt ist ein Schatz der Schauspielerinnen auch für die Theaterdirektoren ein Schatz.«165
Die Differenz von innen und außen, von Privatleben und Öffentlichkeit, Sexualität und Ökonomie kollabiert im Begriff des Verhältnisses. Theater wird im Prostitutionsdiskurs als ein Arbeitsfeld beschrieben, das sich aus Tauschbeziehungen konstituiert: die Aufführung zwischen Darstellenden und Zuschauenden, die Probe zwischen Darstellenden und Regie, die Engagementsvermittlung zwischen Darstellenden und Theateragenten sowie die zwischen Direktoren bzw. Direktorinnen und Mitarbeitenden. Durch die Zuschreibung der Prostitution wird Theater als ein interpersonelles Gefüge von Verhältnissen deutlich, das stets mit Menschen, ihren Körpern und Begehren arbeitet und handelt. Die Arbeitspraxis des Theaters steht damit im Widerspruch zu einer Geschäftspraxis als Unternehmen, das auf rationalen und objektivierbaren Kategorien von Geld und Verkaufsquoten fußt. Auf diesen Widerspruch weisen die Diskursproduzenten hin, wenn sie sämtliche Beziehungsverhältnisse am Theater in eine Narration der Ökonomie einbinden, in der Menschen, Körper und Sex als nüchterne Tauschwerte zirkulieren. Unter dem ökonomischen Druck werde die Kunst »zur Handelsware«166 und »Menschen zum Werkzeug«167. »Es kommt aber hier weniger auf diese generellen Einzelfälle an, als auf die Tatsache, daß im Prinzip die ganze Einrichtung des weiblichen Gagen- und Kostümwesens auf diesem dunklen Grunde ruht.«168 Auf die Prostitution schiebe »der Unternehmer einen Teil seiner Unkosten«169. Er setze für die Schauspielerin eine höhere »finanzielle Leistungsfähigkeit«170 an als für ihre männlichen Kollegen. Dabei rechne der Direktor fest mit der Prostitution als einem »für selbstverständlich gehaltenen Nebenerwerb«171 der Schauspielerin als »Einnahmequelle«172, »die nur in ihrer weiblichen Eigenschaft begründet sein kann – es heißt ganz einfach, daß dieser ganzen Kalkulation die Zuversicht in
165 Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 44. 166 Ebd., S. 6. 167 Ebd. 168 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 60. 169 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, S. 108. 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 59.
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das ›geschlechtliche Interesse‹ der Männerwelt zugrunde liegt – das Gottvertrauen zur Prostitution.«173 Die Diskursproduzenten kritisieren mit den Metaphern des »dunklen Grundes«174 sowie des »Gottvertrauen[s]«175 eine fehlende Reflexion der gängigen Geschäftsverhältnisse am Theater. Der Warencharakter der Kunst wie der Künstlerin, die Profitgier der Theaterdirektoren und die Tauschbeziehungen am Theater werden als kalkulierte Prostitution im Betrieb des Theaters erzählt, als »Auswüchse eines kapitalistischen oder einseitig höfischen Betriebes«176. Der Prostitutionsdiskurs fungiert als Kultur- und Kapitalismuskritik an den Produktionsbedingungen des Theaters, die als patriarchalische Strukturen ausgewiesen werden. Das männlich dominierte Netzwerk des Theaters wird als »Paschawirtschaft«177 der Theaterunternehmer oder als »Maitressen- und Haremswirtschaft in den meisten Direktionszimmern«178 kritisiert. Damit werden jene Männer beschrieben, »die unter dem Deckmantel ihres Berufes als Theateragenten, Kritiker, Kapellmeister oder Theaterdirektoren ihre Machtstellung zum Zwecke der Erfüllung eigener sexueller Wünsche und Begierden auszunützen trachten.«179 Theaterdirektoren und Theateragenten Dabei stechen zwei männliche Figuren hervor, die für die Geschäftspraxis des Theaters als Bordell verantwortlich gemacht werden: Theaterdirektoren und Theateragenten. Sie werden als »Dunkelmänner[…] und Vampyre […]«180 bezeichnet, ihnen haftet wie Freiern eine sexuelle Anonymität an. Dunkelmänner wie Vampire erscheinen als zwiespältige, unmoralische, blutsaugende Nachtgestalten, denen nicht zu trauen ist. Auch wenn die Schauspielerin als Prostituierte bezeichnet wird, erhalten Theaterdirektoren und Theateragenten nicht die Zu-
173 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 59. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 84. 177 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, S. 105. 178 Conrad Alberti: »Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887)«, S. 109. 179 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 291. 180 Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 54.
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schreibung Zuhälter. Zwar nehmen sie diese Funktion im Prostitutionsdiskurs teilweise ein, sie werden aber nicht mit ihr identifiziert. »Leider aber führt beim Theater der Weg zum Engagement oder zu einer guten Rollen und damit zu einer Karriere häufig durch das Schlafzimmer der Direktoren […].«181 Wiederholt ist im Prostitutionsdiskurs vom Schlafzimmer des Theaterdirektors als Verhandlungsort von Rollen und Karrieren der Schauspielerin die Rede. Dies macht ihn zu einer ambivalenten Männlichkeitsfigur, die als Teil eines sexuell-ökonomischen Betriebs imaginiert wird. Als »Zuhälter im Hausvaterrock«182 werden Intendanten erst in den 1968er Jahren beschimpft, als Hierarchien und Machtpositionen infrage gestellt werden. Um 1900 hingegen repräsentiert der Theaterdirektor noch eine historisch gewachsene Autoritätsfigur, die in einer Genealogie mit einer Reihe für die Theaterkultur namhafter Künstler von Johann Wolfgang Goethe über Eduard Devrient bis Max Reinhardt steht. Der Theaterdirektor verkörpert die »hegemoniale Männlichkeit«183 am Theater um 1900. Seine Machtposition sowie die Hierarchien im Theater werden durch die Zuschreibung der Prostitution nicht infrage gestellt. Stattdessen wird hinterfragt, wie Theaterdirektoren mit ihrem Personal und der Institution des Theaters umgehen. Um 1900 gilt der Beruf des Theaterdirektors als ein typisch männlicher, was eine Infragestellung durch eine Zuschreibung als Zuhälter nur schwer möglich macht, denn dann müsste eine andere Fortschrittsgeschichte des Theaters erzählt werden. »Männer machen Geschichte. Männer machen auch die Geschichte des Theaters.«184 Mit diesen Sätzen eröffnet Max Epstein in seiner Schrift Das Theater als Geschäft (1911) sein Kapitel über die Theaterdirektoren. In der Beschreibung namhafter Direktoren von Adolf L’Arronge über Otto Brahm bis Max Reinhardt taucht nur eine einzige Frau auf: Aurelie Révy. Zu ihr schreibt er: »Es ist ausgeschlossen, dass eine Frau dem geist- und gemütsverwirrenden Treiben
181 Gustav Rickelt: Schauspieler und Direktoren, S. 96. 182 O. A.: »Intendantenbeschimpfung. Sehr frei nach Peter Handke und Werner Berg«, in: Theater heute 04/1968, S. 4. 183 »Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechterbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).« Robert Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen: Leske und Budrich 1999, S. 98. 184 Max Epstein: Theater als Geschäft. Berlin: Axel Juncker 1911, S. 99.
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des Berliner Theaterwesens auf die Dauer gewachsen sein kann. Sie wird sich zu ihrer Unterstützung eines starken männlichen Armes bedienen müssen.«185 Damit macht Epstein deutlich, dass Theaterdirektor ein Beruf für Männer sei. Alleinig sie seien der Aufgabe, zumal in jener Theaterzeit, die er als krisenhaft ausweist, gewachsen. Vielmehr kommt den Theaterdirektoren trotz aller sexueller Verfehlungen die Aufgabe zu, dass Theater aus der krisenhaften Zeit, die mit der Zuschreibung der Prostitution versehen wird, zu befreien. Die meisten Theaterdirektoren seien »tüchtige und gerissene Geschäftsleute«186, bei ihnen sei »der Künstler im Unternehmer erstickt«187, schreibt Gustav Rickelt in seiner Untersuchung Schauspieler und Direktoren (1910). Dabei erscheint der Theaterdirektor als ein männliches Subjekt, das – vergleichbar mit der Schauspielerin als Prostituierte – seiner Bestimmung als Künstler aufgrund der Ökonomisierung des Theaters nicht mehr nachgehen kann. Dies sei eine Folge davon, dass der Direktor zu einem »Kapitalisten«188 geworden sei. »Nur wenn die Stadtgemeinde das Theater in eigne Regie nimmt und den Direktor mit einem fixen Jahresgehalt anstellt oder aber, auf Grund sorgfältiger Schätzung, ihm für die Kostümierung des weiblichen Personals einen angemessenen jährlichen Extrabetrag zahlt, der unter keinem andern Namen verwandt und verrechnet werden darf, so würde das erstrebte Ziel, den eingefressendsten Krebsschaden der modernen Bühne, die freiwilige und notgedrungene Prostitution, wenn nicht zu beseitigen, so doch erheblich einzudämmen erreicht werden.«189
Der Theaterdirektor selbst soll zum Arbeitnehmer werden, um seine ökonomische Stellung am Theater zu beschränken͘ Wenn Max Martersteig für die Zeit vor 1830 konstatiert, dass »Angebot und Nachfrage noch in glücklichem Verhältnis«190 standen, so ist damit für die Zeit um 1900 eine Differenz markiert. Das Gleichgewicht des Begehrens wie der Ökonomie scheint in ein bedrohliches
185 Max Epstein: Theater als Geschäft, S. 111. 186 Gustav Rickelt: Schauspieler und Direktoren, S. 93. 187 Ebd. 188 Julius Bab spricht explizit vom Theater als »kapitalistisches Theaterunternehmen« und vom Direktor als »kapitalistische[m] Theaterunternehmer«. Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, S. 177 und S. 90. 189 Heinrich Stümcke: Die Frau als Schauspielerin, S. 84. 190 Max Martersteig: Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert. Eine kulturgeschichtliche Darstellung. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1904, S. 267.
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Kräftefeld geraten zu sein und damit auch der Beruf des Theaterdirektors. Die Tragik des Werteverfalls am Theater und der Geschäftspraktiken des Theaterdirektors wird über den Begriff der Prostitution inszeniert. Damit wird die von der bürgerlichen Elite heraufbeschworene Krise des Theaters als Geschäftstheater als sittliches Problem innerhalb der Arbeitsverhältnisse am Theater markiert. Die Probleme der sexuellen Ausbeutung werden vom Theaterdirektor größtenteils abgelenkt und auf die Figur des Theateragenten übertragen. Vom geldgierigen Typus des Theateragenten191 berichtet Helene Scharfenstein in ihren Memoiren. Vor ihnen wird sie vor ihrem ersten Besuch einer Theateragentur eindringlich durch ihren besten Freund gewarnt: »Den Leuten […] gelten Sie nicht als ein Mensch, der hofft und strebt und fühlt und leidet, sondern nur als eine Ware. Der Theateragent nimmt nicht mehr Anteil an Ihnen, als der Kaufmann an dem Sack Kaffee, den er verhandelt, als der Metzger an dem Schlachttier, das er verpfundet, es wäre denn, daß er ein rein männliches Interesse für Ihr Weibtum, für Ihren Körper empfände, und das ist schlimmer als gleichgültig gegen Ihre Menschlichkeit. Leider gehört es zu den feststehenden Gebräuchen dieser Gentlemen.«192
Der Theateragent wird mit zwei weiteren männlich konnotierten Berufsgruppen in Verbindung gebracht: dem Kaufmann und dem Metzger. Er erscheint aufgrund seiner Geldgier als kapitalistischer Ökonom par excellence, als »Inbegriff der Wirtschaftlichkeit«193. »Es hat noch nie einen Theateragenten gegeben, der für die Kunst auch nur das geringste aus Liebe zu ihr getan hätte […]. Sie arbeiten alle nur für ihren Geldbeutel und für ihr Amüsement […].«194 Wie ein Metzger nehme er die Menschen gleich Tieren aus, entweder um an ihr Geld zu kommen oder um durch ihren Körper sein Begehren zu befriedigen. Als Triebfeder seines Begehrens wird stets sein individueller Reichtum propagiert, welcher
191 Eine ähnliche Zeichnung des Theateragenten arbeitet Lena Blessing für das Genre des Theaterromans heraus: Der Theateragent fungiere im Theaterroman zumeist als »böser Gegenpart der Hauptfigur« und als habsüchtige »Person, die über Leichen geht«. Lena Blessing: »… aber die Theaterwelt ist überhaupt eine ganz andere Welt als die gewöhnliche …« Das deutsche Theater im Spiegel des Theaterromans des 19. Jahrhunderts, S. 184f. 192 Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin, S. 97. 193 Stefanie Watzka: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger, S. 155. 194 Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin, S. 98.
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auf Kosten der Kunst und der Menschlichkeit ginge. Der Theateragent wird als Börsianer und Spekulant dargestellt, seine Aktien sind seine Künstlerinnen und Künstler. Deshalb werden Theateragenturen häufig als »Winkelbörsen für Talentlosigkeit, Lüderlichkeit und Elend«195 bezeichnet, also als eine Institution, die ohne Konzession börsenähnliche Strukturen aufweist. Der Theateragent erscheint als männliche Figuration der Maßlosigkeit, welche die Ökonomie des Begehrens am Theater stört und in eine ökonomische und künstlerische Schieflage bringt. Eine Abwertung der Figuration des Theateragenten geht auch mit seiner Sexualisierung als Lüstling einher. So begegnet die Schauspielerin Helene während ihres ersten Vorstellungsbesuchs in einer Agentur einem Theatervermittler, der sie mit »seinen lüsternen kleinen Schweinsäuglein«196 ansieht, ihr gleich einen »schmutzigen Antrag«197 macht und ihr direkt an die Brust fasst. Helene beschimpft ihn als »belumptes Subjekt«198 und flüchtet. Fortan kommuniziert sie mit Theateragenturen nur noch per Post. Auch Bauer arbeitet in seinem Buch Komödiantin – Dirne? eine Figuration des Theateragenten als »mächtige[r] Herrscher«199 aus, der den Instinkt eines »Mädchenhändlers«200 habe. Es sei sein Talent, »[…] aus den rein körperlichen Vorzügen der Künstlerin weit mehr Kapital schlagen zu
können, als aus der Qualität ihrer Kunstleistung! Hier meldet sich in ihm als in dem Manne jene Lüsternheit, die sein Beruf als solcher mit sich bringt, wobei ihm die Freiheit dieses Berufes in Bezug auf alle sexuell erotischen Fragen willig und hilfreich zur Seite steht.«201
195 Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 47. 196 Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin, S. 101. 197 Ebd., S. 102. 198 Ebd. 199 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 292. 200 Ebd., S. 294. Vgl. auch die Zuschreibung »Sklavenhändler« bei: Tony Kellen: Die Not unserer Schauspielerinnen. Studien über die wirtschaftliche Lage und die moralische Stellung der Bühnenkünstlerinnen, zugleich Mahnwort und Wegweiser für junge Damen, die sich der Bühne widmen wollen. Berlin: Wigand 1902, S. 70. 201 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 294.
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Die Sexualisierung des Theateragenten als Lüstling, Frauenunterdrücker und Kapitalist dient der Abwertung und Ausgrenzung dieses Berufsfeldes aus dem Theaterleben. Wie im Freierdiskurs der Freier erscheint auch der Theateragent als hedonistische Täterfigur, der, wie Bauer schreibt, in einer patriarchalischen Geste der Macht »unter Anwendung von Gewalt«202 »seine Stellung ausnütze«203, um Frauen »gefügig zu machen«204, um seine eigene Macht und Männlichkeit zu bestätigen. Er wird zur Personifikation des neuen Geschäftstheaters, das als durch Unmoral, Amüsement und Massenkunst gekennzeichnet beschrieben wird. Stefanie Watzka hat in ihrer historischen Aufarbeitung des Berufs des Theateragenten mit dem bezeichnenden Titel Verborgende Vermittler herausgestellt, dass Theateragenten nur selten in der Theaterhistorie beschrieben wurden »[…] oder wenn doch einmal, dann als negatives Stereotyp, nämlich als unmoralische Despoten, die aus Geldgier nicht nur den Menschen, sondern auch der Kunst schadeten.«205 Auch im Prostitutionsdiskurs werden Theateragenten ausschließlich negativ gezeichnet. Dabei sticht jedoch eine Markierung besonders deutlich hervor, die Watzka in ihrer Arbeit nicht näher reflektiert: die Klassifikation des Theateragenten als Männerberuf.206 Im Rahmen des Prostitutionsdiskurses wird der Theateragent zu einer männlichen Stellvertreterfigur des Geschäftstheaters stilisiert. Seine sexuellen Begierden und Geschäftspraktiken greifen ineinander und bringen das Theater so in den Verruf der Prostitution. Durch die Figuration des Theateragenten wird eine Werteverschiebung im Betrieb des Theaters angezeigt: von der Relevanz der Kunst hin zu der Relevanz von Geld, Geschäft und Sex. Zugleich verhindert die Klassifikation des Theateragenten als Männerberuf wie ein fehlender Diskurs zur männlichen Sexualität um 1900 eine Abwertung als Zuhälter im Rahmen des Prostitutionsdiskurses.
202 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 295. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Stefanie Watzka: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger, S. 8. 206 Folgende drei Hauptmotive der Stereotypisierung der Figuration des Theatervermittlers hat Watzka in ihrer Arbeit herausgestellt: jüdische Markierung, Geldgier und Lüsternheit. Vgl. ebd., S. 9.
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Robert Connell hat in seinem Buch Der gemachte Mann darauf hingewiesen, dass sich hegemoniale Männlichkeit durch relationale Beziehung zu anderen Männlichkeiten konstituiert.207 In diesem Sinne kommt dem negativen Stereotyp des Theateragenten die Funktion zu, die in die Krise geratene Figur des Theateragenten aufzuwerten. Denn im Abgleich der beiden Männlichkeitsfiguren, die im Prostitutionsdiskurs häufig gemeinsam auftreten, gilt der Theateragent stets als der ›schlechtere‹ von beiden. Während der Theaterdirektor die Schauwerte der Schauspielerinnen für sein Publikum bedenkt und künstlerisches Verständnis mitbringt, bleibt der Theateragent eine Außenseiterfigur, die vom Theater und seinen Arbeitsbeziehungen individuell profitiert, aber kein künstlerisches Interesse am Theater zeigt. Damit findet auch hier über den Prostitutionsdiskurs eine Ausdifferenzierung zweier Berufsgruppen statt, durch die der Theateragent als negativ konnotierter Anderer208 und als Projektionsfläche für sexuelle Täterdiskurse erscheint. Die Schauspielerin als Ware Die Männlichkeitsinszenierungen von Theaterdirektoren und Theateragenten konstituieren sich zugleich durch die Konstruktion von Geschlechterdifferenz in Bezug auf die Schauspielerin. Die Abgrenzung von Männlichkeit und Weiblichkeit erfolgt dabei nach der Rollendifferenz und Asymmetrie von Begehrenspositionen, die für die Prostitution paradigmatisch sind: Die einen geben ihren Körper, die anderen geben Geld. Dabei ist geschlechtsspezifisch konnotiert, wer welche Tauschwerte in das Verhältnis einbringt. »Männlichkeit steht für das abstrakte Zeichen, die Zeichenhaftigkeit des Geldes, Weiblichkeit für die Materiali-
207 Vgl. Robert Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, S. 97. 208 Hierbei ist anzumerken, dass die Ausgrenzung des Theateragenten in der Theatergeschichte mit einem antijüdischen Diskurs verbunden ist. Diese Projektion bestimmt sein Bild entscheidend mit und ist deshalb kritisch zu betrachten. Im Prostitutionsdiskurs wird auf eine jüdische Identität der Theateragenten nicht explizit verwiesen. Vgl. zum antijüdischen Diskurs über den Theateragenten: Stefanie Watzka: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger, S. 129136.
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sierung dieses Zeichens, für seine Macht in der ›Wirklichkeit‹.«209 Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun macht in ihrem Artikel »Das Geld und die Prostitution« deutlich, dass Prostitution nicht ohne die Kulturgeschichte der Geldwirtschaft zu verstehen sei. Sie zeigt auf, dass die »Entleibung des Geldes« als Abstraktum »ihre Wiederbeleibung«210, fordert, welche durch die Prostitution geleistet werden kann. Christina von Braun konstatiert besonders für das 19. Jahrhundert: »Kurz zusammengefasst: Geld macht geil, aber die Abstraktheit des Geldes löst auch Ängste aus, die zu einem Bedürfnis nach Rematerialisierung der Zeichen führen – im menschlichen Körper, der höchsten und kreditwürdigsten Ware.«211 Übertragen auf den Prostitutionsdiskurs um 1900 erscheint die Schauspielerin als diejenige, der die männlichen Figuren Warencharakter zuweisen. »Unterstützt wird sowohl ihr eigenes sexuelles Wünschen als auch das Begehren der Männerwelt dadurch, daß die Direktoren solcher Bühnen in richtiger Geschäftstüchtigkeit es rasch erlernt haben, mit der Lüsternheit des Publikums, namentlich dessen männlichen Anteiles, zu rechnen. Sie legen bei dem Engagement dieser Art von den Choristinnen gar keinen oder nur wenig Wert auf deren Können, weit mehr auf die Schönheit der Erscheinung, auf die Schönheit der Beine, auf die Wohlgeformtheit des Körpers und des Busens. Nicht Engagement ist der Vorgang zu nennen, der den Abschluss der Verträge mit dieser Art von Mädchen zeitigt, sondern weit richtiger Assentierung!«212
Die Bewerbungsprüfung von Schauspielerinnen vor Vertragsabschluss eines Engagements wird beschrieben wie die Musterung eines Models nach seinen Maßen: Anhand von Beinen und Busen des Schauspielerinnenkörpers werde das Begehren des Publikums abgeschätzt und taxiert, ob der Körper wohl dessen sexuelles Interesse und Schaulust hervorrufen könne. Vom Vorspielen von Rollen ist nicht die Rede, auch nicht von Talent und Können. Im männlichen Blick von Theateragenten und Theaterdirektoren werde die Schauspielerin als »weibliches
209 Christina von Braun: »Das Geld und die Prostitution«, in: Sabine Grenz/Martin Lücke (Hg.): Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld: transcript 2006, S. 23-41, hier S. 34. 210 Ebd., S. 29. 211 Ebd., S. 25. 212 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 418f.
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Material«213, »Bild«214 oder »Ware«215 versachlicht. Ihre Prüfung verlaufe einzig nach sexuell-ökonomischen Kriterien. Das Künstlerische werde zweitrangig: »Handel und Gewerbe, keine Kunst! […] Derselben Beobachtungen giebt ein anderer, sehr bedeutender Schauspieler einen drastischen Ausdruck: ›Ich weiß, daß unsere Anfängerinnen bei den Agenten Ware sind, die nach dem Aeußern (des Körpers) und dem Innern (des Geldbeutels) sorgfältig sortiert wird.‹«216
In der Dichotomie von Äußerem und Innerem beschreibt Schlenther die zirkulierenden Tauschwerte von Körper und Geld im Betrieb des Theaters. Ironischerweise wird das Innere, womit ansonsten der Charakter oder die Seele eines Menschen gemeint ist, mit dem Inhalt der Geldbörse gleichgesetzt. So wird eine Werteverschiebung im Geschäftstheater moniert. Das Tauschverhältnis des Engagements lautet nicht: Arbeitskraft der Künstlerin gegen Geld. Vielmehr müsse die Schauspielerin mit dem Einsatz von Eigenkapital wie Körper oder Geld dafür bezahlen, überhaupt ein Engagement zu bekommen. Dabei werden die Arbeit am Theater und die Aufführung durch die Probe der Erotik und Attraktivität der Schauspielerin wechselseitig aufeinander bezogen. Es ist der Sexualkörper der Schauspielerin der als Relais zwischen der Institution des Theaters und der Wirkung auf das Begehren des Zuschauers fungiert. Durch die Debatten um die Körperlichkeit der Schauspielerin als ostentative Schaustellung der Erotik und Präsenz findet eine »Wiederbeleibung« des Theaters in seiner Materialität und medialen Disposition der leiblichen Kopräsenz statt. Ausgewiesen als Akte eines Theaters der Prostitution findet eine Selbstversicherung der materiellen Werte des Theaters abseits des abstrakten Geldes und Geschäftes statt, in der die Diskursproduzenten jedoch nur die eigene Angst erkennen können: die Angst vor der Prostitution. Die Stellvertreter der hegemonialen Männlichkeit verdrängen ihre Geschäftsängste und rematerialisieren ihre Macht am Körper der Schauspielerin. Durch die Verleiblichung der Schauspielerin als Dirne entsteht zugleich ein diskursiver Überblendungseffekt:: Die Präsenz der Schauspielerin als Stereotyp der Theaternutte verdrängt in ihrer Präsenz das ökonomische Begehren der männli-
213 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 108. 214 Ebd., S. 307. 215 Paul Schlenther: Der Frauenberuf im Theater, S. 50. 216 Ebd.
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chen Figuren. Hinter der problematischen Körperlichkeit der Schauspielerin kann die Profitgier ihrer Freier und Zuhälter, die nie als solche benannt werden, geschickt maskiert werden. Im Prostitutionsdiskurs des Theaters wird vor dem Hintergrund einer krisenhaften und wirkmächtigen Erfahrung von Erotik und Sexualität, die sämtliche Beziehungsverhältnisse durchdringt und instabil werden lässt, eine hegemoniale Geschlechterordnung rekonstruiert: Weiblichkeit wird durch die Körperlichkeit der Dirne problematisiert, Männlichkeit anhand von Prostitution als Geschäft. Der Topos der Kritik an den sozioökonomischen Verhältnissen erzielt jedoch weniger diskursive Aufmerksamkeit und Anschlussfähigkeit als der Diskurs um die Schauspielerin, weshalb dieser in der Theaterhistorie auf einen Weiblichkeitsdiskurs verengt wurde. Die Projektion der Schauspielerin als Dirne maskiert das geschäftliche Interesse an ihr. Stattdessen ruft die Projektion einen Genderdiskurs über Fragen weiblicher Sittlichkeit, Zurschaustellung und Körperlichkeit hervor, hinter dem die Ökonomiethematik wie auch die männlichen Figurationen verdrängt und geschützt werden können. Denn es gehört zur Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900, dass sie ihren »kommerziellen Charakter« als »Konsumgüter« verbergen musste, »um ihre kulturelle Wirkung entfalten zu können.«217
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Prostitution und Theater sind Spielstätten des Vergnügens, die sich vom täglichen Alltag bewusst abheben. Der Weg ins Theater oder ins Bordell markiert den Eintritt in eine fiktionale Welt des Scheins, in der sinnliche Stimulationen erkauft werden, die zu Hause nicht unbedingt zu haben und zu teilen sind. Lust ist eine zentrale Antriebsfeder für den Besuch, schließlich wollen die Kunden sensorische Erfahrungen machen – nicht nur, aber auch. Der Prostitutionsdiskurs um 1900 bringt dies zur Aufführung. Theater erscheint um 1900 als ein Ort des »Sinnentaumels«218, in der Projektion der Diskursproduzenten bevölkert von Theaterprinzessinnen, Dirnen, Theaternutten, Voyeuren und Lüstlingen. Sämtliche Verhältnisse am Theater erscheinen ihnen von einer Zirkulation erotischer
217 Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, S. 286. 218 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 330.
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Energie infiziert und beherrscht. »Hier kommt nun freilich noch ein sehr wichtiges Moment hinzu, das im Verhältnis des Theaters zur Gesellschaft eine Riesenrolle spielt: diese bahnbrechenden Typen sind Frauen! Und die Beziehung der Theaterwirkung zum Erotischen ist tief und merkwürdig.«219 Die Diskursproduzenten versuchen, im Prostitutionsdiskurs zu verdrängen, was sie selbst zugleich fasziniert und verstört: die erotischen Wirkungen des Theaters. Zum Auslöser der »Erotik der Bühne«220 und damit auch zum »erotischen Problem«221 stilisiert wird die Schauspielerin, deren Körper sich ihnen aufgrund ihrer Weiblichkeit in seiner Gegenwärtigkeit aufdrängt. Doch der Genuss der erotischen Wirkungen im Verhältnis zwischen Darstellerin und Zuschauer erscheint problematisch, weil damit in der Wahrnehmung des Betrachters die Semiotik der Aufführung in den Hintergrund gerät. Stattdessen richtet sich der Blick der Diskursproduzenten auf die Performativität des Bühnengeschehens: auf den phänomenologischen Körper der Darstellerin, ihre Nacktheit und Körperlichkeit, die Materialität der präsentierten Objekte wie Juwelen und Kostüme. All dies hat durch seine Präsenz eine erotische Wirkung auf den Leib der Betrachtenden, eine Wirkung, die von einem ›Einbruch der Prostitution‹ gekennzeichnet ist. Die Erfahrung des Begehrens drängt auf das Beziehungsverhältnis zwischen Darstellerin und Zuschauer ein, wodurch ein Moment der Gegenwärtigkeit eintritt, welcher die szenische Fiktion und ästhetische Distanz der Inszenierung einreißt. Beiderseits hinterlässt die Zirkulation erotischer Energie in der Aufführung einen Mangel, der ins Außen des Theaters und ins Sexualleben strebt, so lautet die Diagnose der Diskursproduzenten um 1900. Dabei erscheint die Grenze zwischen innen und außen, zwischen Zuschauenden und Darstellerin, zwischen Öffentlichkeit und Intimität, instabil geworden zu sein. Das Theater der Prostitution besetzt die Imaginationen des Zuschauers über die Aufführung hinaus bis zum Theaterleben hinter den Kulissen, wovon die Zeichnungen und Narrationen von den mit Blumen und Briefen initiierten Avancen der Kavaliere, vom Röckeheben in den Winkelbörsen der Agenten oder von der Rollenvergabe in den Schlafzimmern der Direktoren zeugen. Damit tritt die hinter den Kulissen verborgene Welt der Hinterbühne in Erscheinung, die durch
219 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, S. 94. 220 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 330. 221 Rudolf K. Goldschmit-Jenter: Die Schauspielerin. ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung, S. 57.
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das Dispositiv der Guckkastenbühne gerade von der Wahrnehmung der Zuschauenden ferngehalten werden sollte. Im Prostitutionsdiskurs erweist sich die Wirkung des Guckkastentheaters als eine so starke Versetzung, dass sich der Zuschauer zuweilen als schweißgebadeter Liebhaber erlebt, sodass die leibliche Bezugnahme zur Schauspielerin auch nach der Vorstellung in seiner Projektion von Huren noch nachklingt. Die Aufführung erscheint im Prostitutionsdiskurs stets in ihrer Wechselbezogenheit auf das Liebes- und Arbeitsleben und die Imagination von Zuschauern und Darstellerinnen. Dabei wird kaum von den Inszenierungen und Stoffen des Theaters um 1900 berichtet, sondern stets die mediale Disposition des Theaters als erotisch-ökonomische Blickkonstellation verhandelt. Von einer bürgerlichen männlichen Elite aus Theaterkritikern, Intendanten, Ärzten, Publizisten, Literaten und Soziologen wird die Metapher der Prostitution gebraucht, um anzuzeigen, dass eine Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Zuschreibung der Prostitution verweist um 1900 auf den Zusammenschluss einer zirkulierenden Erfahrung des Begehrens mit einem aufgrund der Gewerbefreiheit präsenten und kulturkritischen Ökonomiediskurs. Dadurch tritt zugleich die Doppeldeutigkeit der Schauspielerin in den Blick: Ihre Produktion auf der Bühne ist zugleich ein künstlerischer und ein ökonomischer Prozess. Im Begehren an der Schauspielerin, die auf der Bühne ihre Arbeit leistet, fällt der Blick zurück auf den Betrachter: Er sieht sich als ihr Kunde. Und das erfüllt die Diskursproduzenten mit Scham. Die Projektion der Prostitution wird dabei als ein Regulativ eingesetzt, um die (ästhetische) Distanz zwischen Kunst und Leben und in den Geschlechterbeziehungen zwischen Schauspielerinnen und Zuschauern, Theateragenten sowie Direktoren (wieder) herzustellen. Die Markierung der Prostitution erfasst jene Phänomene vor und hinter den Kulissen, die durch eine Produktion von Mehrwert gekennzeichnet sind: die übermäßige Maskerade der Theaterprinzessinnen ebenso wie der entblößte Körper der Nana. Der Steigerung der Schauwerte durch »Überfülle«222 oder Nacktheit wird eine Steigerung des Begehrens zugeschrieben. Der nackte wie auch der verhüllte Körper wird als ein per se erotischer Körper imaginiert, der nicht Sinn, sondern Sinnlichkeit und Stimulanz verspricht und den die Schauspielerin zudem mit großer Zeigelust ausstellt. Diese imaginierte Zeigelust wird zugleich als »Exhibitionismus« pathologisiert und als
222 Überfülle gilt als eines der postdramatischen Theaterzeichen, vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 154f.
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Übertritt der Grenze zur Prostitution markiert.223 Denn über den Prostitutionsdiskurs versuchen die Sprecher um 1900 die gefährliche Sinnlichkeit des Theaters, etwa die erotische konnotierte Schaulust oder Körperlichkeit der Darstellerin, einzuschränken – doch wird sie zugleich projiziert und damit reproduziert. Der Erfahrung als Kunde und damit auch zwangsläufig der Lust wollen die Diskursproduzenten einen Riegel vorschieben: Die Käuflichkeit des Begehrens ist in der sexuellen und theatralen Wertepyramide »schlecht«224. Zu Zeiten einer Ökonomisierung des Theaters als Geschäftsapparat ringt eine bürgerliche Elite darum, das Theater als aufklärerische und moralische Anstalt225, wie es im 18. Jahrhundert programmatisch wurde, zurückzugewinnen. So wird in diese ideologische Rhetorik der Geschichtsschreibung über das Theater als Instrument der Aufklärung der Prostitutionsdiskurs integriert, um über diffamierende sexuelle Bewertungsmuster die Sinnlichkeit und performative Dimension des Theaters zu beschränken. Die Diskursproduzenten nehmen über die Zuschreibung der Prostitution eine Ausdifferenzierung ›guter‹ und ›schlechter‹ Schauspielerinnen, ›guter‹ und ›schlechter‹ Zuschauer und ›guter‹ und ›schlechter‹ Theaterhäuser vor. Die Arbeit an der Differenz soll den Versetzungen, die im Dispositiv des Theaters durch die Zirkulation sexueller Energie stattfinden,
223 Bernhard Adam Bauer: Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 337. 224 Gayle Rubin führt vor, dass Sexualfeindlichkeit massiv die Debatte der Sexualität durchziehe, in Wissenschaft, populärer Kultur und auch im Feminismus, und durch Bewertungen reguliert wird: »Diesem System entsprechend sollte Sexualität, die als ›gut‹, ›normal‹ und ›natürlich‹ gilt, im Idealfall heterosexuell, ehelich, monogam, fruchtbar und nicht-käuflich sein, innerhalb derselben Generation und zu Hause stattfinden. Sie sollte dagegen Pornographie, Fetische, Sexspielzeug aller Art und Rollen jenseits von männlich und weiblich ausschließen. Aller Sex, der gegen diese Regeln verstößt, ist ›schlecht‹, ›abnorm‹ oder ›unnatürlich‹.« Gayle S. Rubin: »Sex denken: Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik«, in: Andreas Kraß (Hg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 31-79, hier S. 41. 225 Vgl. zur Programmatik des Theaters als Anstalt der Aufklärung: Friedrich Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? eine Vorlesung, gehalten zu Mannheim in der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft am 26sten des Junius 1784«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8: Philosophische Schriften. Herausgegeben von Barthold Pelzer/Hans-Günther Thalheim. Berlin: Aufbau 2005, S. 87-97.
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Einhalt gebieten und die Hierarchien von innen und außen, Darstellerin und Zuschauer, Kunst und Leben, Theater und Geschäft, Arbeit und Sexualität, Sehen und Berühren wieder rekonstruieren. Zur Wiederherstellung erschütterter Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit226 trägt die Projektion der Prostitution ex negativo zu einer Stabilisierung der Ordnung der Geschlechter am Theater bei. Die Zuschreibung an die Schauspielerin legt sie und ihren Beruf auf eine weiblich konnotierte Körperlichkeit, Sexualität und Objekthaftigkeit fest, wie auch die Schauspielkunst eine weibliche Vergeschlechtlichung erfährt. Sie wird jedoch eingegliedert in die Vorgaben, Gesetze und Gebote einer hegemonialen Ordnung, die durch Theaterdirektoren und Theateragenten repräsentiert wird. Damit einher geht eine männliche Vergesellschaftung institutioneller und organisatorischer Tätigkeit am Theater, die sich im Abstraktum von Geld und Geschäft im Gegensatz zum weiblichen Körper symbolisiert. Die Rollendifferenz von Freier und Prostituierte, die metaphorisch auf das Verhältnis von Zuschauer und Darstellerin übertragen wird, folgt dem Prostitutionsdiskurs der Zeit als eine ausschließlich heterosexuell imaginierte Beziehung. Dies hat zur Folge, dass der männliche Schauspieler im Rahmen des Prostitutionsdiskurses um 1900 keine Rolle spielt. Dadurch, dass er von den Geschlechter- und Begehrensfragen ferngehalten wird, kann er seinen Künstlerstatus als Virtuose227 beibehalten. Die Unsichtbarkeit seiner Sexualität gewährleistet dies ebenso wie die Nichtthematisierung eines homosexuellen oder weiblichen Begehrens. Beides wird aus der Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters um 1900 in den analysierten Texten ausgegliedert. Dabei werden das weibliche Begehren und die Position der Zuschauerin in doppelter Weise ausgrenzt: Das weibliche Begehren kommt im Prostitutionsdiskurs selbst nicht zur Sprache228 und die Position als Zuschauerin im Theater wird von den Diskursproduzenten nicht thematisiert.
226 Vgl. die kulturelle Entwicklung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre: Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M.: Fischer 1995. 227 Vgl. Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant: Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg: Könighausen & Neumann 2011. 228 Der einzige diskutierte Text von einer Frau war ein fiktionalisiertes Tagebuch einer unter Pseudonym schreibenden Schauspielerin. Vgl. Helene Scharfenstein: Aus dem Tagebuche einer deutschen Schauspielerin.
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Diejenigen, die den Prostitutionsdiskurs aufrufen, sind Männer, die als Theaterkritiker, Kulturwissenschaftler oder auch ein Arzt die Funktion Zuschauender im Theater einnehmen. Aus dieser Perspektive verfassen sie ihre Schriften. Zu fragen bleibt: Warum ist der Prostitutionsdiskurs um 1900 ein Männerdiskurs? Sicherlich hat dies damit zu tun, dass die Publizisten in der Wissenschaft und am Theater größtenteils Männer waren. »Das Moralproblem der Frau als Schauspielerin ist wesentlich ein Problem der männlichen Zuschauermoral«229, schreibt Bab. Beschwört wird die sexuelle Verführbarkeit des Zuschauers, die vom weiblichen Körper ausgehe. Über den Begriff der Prostitution findet zugleich eine intellektuelle und moralische Distanzierung davon statt. Das Sprechen über die Prostitution gliedert sich in ein Konzept der Alterität, das die Projektion der Schauspielerin als Andere beständig (re-)konstruiert. Indem vorwiegend Männer den Prostitutionsdiskurs führen, weisen sie zugleich selbst die Kategorie des Anderen von sich und übertragen sie auf das Konzept von Weiblichkeit. Treffenderweise hat Shannon Bell in ihrem Werk Reading, Writing and Rewriting the Prostitutive Body konstatiert: »Prostitutes are ›spectacles‹ in patriarchal discourse […].«230 Die Prostituierte erscheint im Prostitutionsdiskurs männlicher Diskursproduzenten als Schauspiel und Spektakel des Anderen und generiert dadurch erhöhte Schauwerte und Aufmerksamkeit. In der Ausgrenzung der Prostitution liegt für die männlichen Diskursproduzenten zugleich ein Akt der Distanznahme, auf die sich Bells Aussage übertragen lässt: »The prostitute identity was produced as the negative identity of the bourgeois subject: the ›not I‹.«231 Durch die Produktion der Schauspielerinnen als Andere grenzen sie sich als Nicht-Ich von ihrer Schaustellung und Körperlichkeit ab. Dabei bringen sie sich als ihre Zuschauer zugleich selbst hervor. Der Prostitutionsdiskurs ist ein Diskurs von Zuschauern, die das eigene Begehren und die selbst erlebten oder beobachteten Erfahrungen einer Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters um 1900 in die Schranken verweisen wollen. Dabei reinszenieren sie in ihren Texten die erotisch-ökonomische Blickkonstellation des Theaters und bringen sich als Zuschauer hervor, die ihren eigenen blinden Fleck, ihr eigenes Begehren, nicht sehen können, aber unentwegt thematisieren und damit konservieren. Vielleicht befallen aufgrund dessen heutige Leserinnen und Leser beim Durchschauen ihrer Schriften Scham und Unbe-
229 Julius Bab: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, S. 69f. 230 Shannon Bell: Reading, Writing and Rewriting the Prostitutive Body, S. 141. 231 Ebd., S. 43.
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hagen, wenn sie sie als frivol abwerten.232 Sie geben einer Projektion über das Begehren des Zuschauers in Bezug auf die Darstellerin und das Theater eine Bühne, die eigentlich spätestens mit dem Fall des Vorhangs und dem Black der Flüchtigkeit überlassen wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die metaphorische Rede über Prostitution um 1900 verhandelt den Kommunikationsprozess zwischen Darstellenden und Zuschauenden – die Autopoiesis der Aufführung – als erotische Feedbackschleife der Geschlechter. Die Performativität des Aufführungsgeschehens tritt in den Vordergrund der Wahrnehmung der Diskursproduzenten und wird von ihnen mit der Metapher der Prostitution als ›bedrohliche‹ sinnliche Erfahrung eingestuft. Damit gibt der Prostitutionsdiskurs Aufschluss über eine historische Entwicklung der Diskussion über die Spezifik des Theaters: Der Performativitäts- und Aufführungsdiskurs hat seit den 1970er Jahren in der künstlerischen Praxis und seit den 1990er Jahren in der Theaterwissenschaft einen Paradigmenwechsel erfahren: Die aufgerufenen Diskurse um die leibliche Kopräsenz von Zuschauer und Darstellerin, um Körperlichkeit und den Einbruch des Realen, die als Sperrbezirke eines Theaters der Prostitution um 1900 ausgewiesen werden, haben in der Gegenwart im Diskurs um Performativität und Performance-Kunst eine Aufwertung erfahren. Sie kennzeichnen die performative Dimension der Aufführung als soziales Ereignis. Diese Erfahrung der Gegenwärtigkeit des Theaters wird im Prostitutionsdiskurs als ein Akt der Störung beschrieben, als Austritt aus der Illusion der Bühne und Übertritt in die soziale Wirklichkeit, die die Diskursproduzenten mit der Projektion der Prostitution kennzeichnen. Dabei beschwören die Sprechakte der Differenzierung zwischen Theater und Prostitution immer wieder neu die Sinnlichkeit und Performativität der Aufführungssituation sowie Theater als ein »starkes Medium«233 und schlagen so eine Brücke zu den theaterwissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart.
232 Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften und ihr Publikum, S. 33. 233 Stefanie Diekmann/Christopher J. Wild/Gabriele Brandstetter: »Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen«, in: Dies. (Hg.): Theaterfeindlichkeit. München [u.a.]: Fink 2012, S. 7-18, hier S. 9.
4 Angestellte und Huren-Schauspieler: Ökonomische Reflexionen über die Arbeit des Schauspielenden
Was hat das Theater der Prostitution um 1900, das durch die metaphorische Rede der Prostitution über das Theater als Begehrens- und Projektionsraum entworfen wird, mit unserer Gegenwart zu tun? Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verflüssigung der Kategorien Gender und Desire im 21. Jahrhundert erscheint der geführte Prostitutionsdiskurs im Bezug zum Theater auf den ersten Blick als spezifisches Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das über die Historie der Geschlechterordnung in der Arbeit am Theater und eine geschlechtsspezifische Rezeption Aufschluss gibt. Doch über die Projektion der Prostitution werden nicht allein Sexualitäts- und Geschlechterthematiken diskutiert, sondern auch ökonomische Diskurse über die Institution und Kunstform des Theaters geführt. Diese ökonomischen Reflexionen gewinnen im 20. und 21. Jahrhundert in Theaterprogrammatiken und Performances an Bedeutung. In der Diskussion um die Neuverortung des Berufs des Schauspielenden und der Klassifikation seiner Tätigkeit zwischen Kunst und Arbeit wird die Rede über Prostitution fortgesetzt und erweitert. Um 1900 wurde die Metapher der Prostitution verwendet, um die zunehmende Ökonomisierung des Theaters zu kritisieren, die durch das historische Ereignis der Gewerbefreiheit am Theater ausgelöst wurde. Anhand der Schriften um 1900 habe ich das Theater als ein erotisch-ökonomisches Tauschverhältnis und einen Geschäftsapparat beschrieben, der auf Angebot und Nachfrage, Zeigelust und Schaulust, Körper und Geld fußt, aber dies kaschieren muss, um einer aufklärerischen Rezeption gerecht zu werden. Das Theater um 1900 wird in den Schriften als Idealbild eines Literaturtheaters konzipiert, in dem der soziale Außenraum − die Ökonomie der Arbeit am Theater − keinesfalls die Aufführung als eine fiktional geschlossene Welt stören darf, die zugleich aber schon die Wahr-
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nehmung der Diskursproduzenten in ihrem Blick auf das Aufführungsgeschehen durchdringt. Ihre Kritik zielt jedoch auf eine Verdrängung des Ökonomischen aus der Sphäre des Kunsttheaters. Dies resultiert aus dem Wunsch nach einem Einfühlungsakt beim Zuschauen. Teure Kostüme oder die Differenz von Schauspielerin und Rolle werden von den Diskursproduzenten als Störfaktoren für den illusionären Theatergenuss beschrieben. Die soziale Realität am Theater tritt dann bei der Rezeption einer Aufführung in den Vordergrund. Der Prostitutionsdiskurs um 1900 im Bezug zum Theater macht deutlich, dass Ökonomie und Ästhetik in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die Reflexion von Ökonomie im Bezug zur Institution des Theaters fügt sich in eine kulturelle Debatte ein, in der »Ökonomie um 1900 zum Leitdiskurs der rasanten Modernisierung«1 avanciert und auf Kunst und Kulturschaffen Einfluss nimmt. Historisch ist dies auf eine erste Phase der Globalisierung zurückzuführen, wie die Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler beschreibt: »Es entstehen innovative Produktions- sowie Konsumtionsformen; das internationale Verkehrswesen, die industrielle Entwicklung überhaupt sowie die umfassenden Börsenaktivitäten lassen große, ja fabulöse Reichtümer entstehen. Das Kapital gerät in eine transnationale Bewegung und produziert neue Abhängigkeitsverhältnisse, die den Mythos vom individualistisch-rationalistischen Homo oeconomicus nachhaltig infrage stellen.«2
Praktiken des Spekulativen, der Akkumulation von Geld und Luxus werden um 1900 auch in literarischen Texten problematisiert, wie Schößler aufzeigt. Das große Kaufhaus, die Börse und das Aktiengeschäft werden als »dubiose Luftge3 schäfte« pathologisiert, vor allem weil sie das »Ethos solider Arbeit«4 infrage stellen. Wenn in den Texten um 1900 für die Institution des Theaters die Metaphern des Bordells und Fleischmarktes verwendet werden, so wird dadurch die Infizierung der Sphäre der Kunst durch das Ökonomische beschrieben. Anders als bei der Arbeit von Geschäftsleuten, die sich durch »phantasmatische Operationen«5 bei Aktiengeschäften in einen Raum des Illusionären einschreibt, landet
1
Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld: Aisthesis 2009, siehe Klappentext.
2
Ebd., S. 10.
3
Vgl. ebd., S. 13.
4
Ebd., S. 11.
5
Ebd., S. 13.
4 A NGESTELLTE UND H UREN -S CHAUSPIELER
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die Tätigkeit der Schauspielenden auf dem Boden der Tatsachen: Diese wird anhand von Körper, Geschlecht und Präsenz bemessen, wieviel sie für den Erfolg des Theatergeschäfts, insbesondere bei Privattheatern, einbringt. Die ökonomischen Reflexionen erfassen eine Auflösung der Dichotomie von Kunst und Arbeit, die für die Idee des Künstlers als Genie im 18. Jahrhundert paradigmatisch war. An der Metapher der Hure lässt sich eine Neubestimmung des Berufes des Schauspielers und Schauspielerin im 20. Jahrhundert ablesen, die bereits im langen 19. Jahrhundert eingeleitet wird.
ANGESTELLTE (M ARX /B RECHT ) In den theoretischen Schriften von Karl Marx, die grundlegend den ÖkonomieDiskurs um 1900 bestimmen, taucht ebenfalls die Gleichsetzung von Schauspielenden und Huren auf. Diese unterscheidet sich trotz Zeitgenossenschaft maßgeblich von der Verwendung und Argumentation in den untersuchten Texten zum Theater um 1900. Ausgangspunkt von Marx‘ politischer Ökonomie ist es, ökonomische Verhältnisse, ob am Theater oder in der Prostitution, klassifizierbar und beschreibbar zu machen. Der Einzelne der Gesellschaft soll so ein Wissen über kapitalistische Produktionsverhältnisse erlangen, um sich gegen seine Ausbeutung zur Wehr setzen zu können. Wenn Marx Bordelle und Schauspielhäuser, Schauspieler und Huren in einer Reihe nennt, dann ist dies in keine metaphorische, sondern in eine wissenschaftliche Rede eingebunden, um strukturelle Gemeinsamkeiten der Arbeit von Schauspielenden und Prostituierten aufzuzeigen. »Ein entrepreneur von Schauspielhäusern, Konzerten, Bordellen usw. kauft die temporäre Verfügung über das Arbeitsvermögen der Schauspieler, Musikanten, Huren etc. – in fact auf einem Umweg, der nur ökonomisch-formelles Interesse hat; für das Resultat die Bewegung dieselbe –; er kauft diese sogenannte ›unproduktive Arbeit‹, deren ›Dienste im Augenblick ihrer Leistung vergehen‹ und sich nicht fixieren oder realisieren in ›einem dauernden‹ (particular heißt es auch) ›Gegenstand oder einer verkäuflichen Ware‹ (außer ihnen selbst). Der Verkauf derselben an das Publikum erstattet ihm Salair und Profit. Und diese Services, die er so gekauft hat, befähigen ihn, sie wieder zu kaufen, d. h., durch sie selbst wird der Fonds erneuert, aus dem sie bezahlt werden.«6
6
Karl Marx: »Theorien über den Mehrwert. Erster Teil«, in: Ders./Friedrich Engels: Werke. Band. 26.1. Berlin/DDR: Dietz 1965, S. 136.
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Marx Schrift Theorien über den Mehrwert von 1863 greift den Diskurs zum Theater als Geschäft auf. Marx stellt hier heraus, dass Theater an der Produktion von Mehrwert beteiligt ist und nicht im Sinne Adam Smiths als »unproduktive Arbeit«7 bezeichnet werden könne. Schauspieler wie Huren definiert Marx dann als produktive Arbeiter, wenn sie ihr Arbeitsvermögen an einen Unternehmer verkaufen, der wiederum ihren Service feilbietet. Auf diese Weise produzieren sie Kapital. Marx zeigt auf, dass sämtliche Tätigkeiten in ein kapitalistisches System eingebunden werden können, solange sie Mehrwert erzeugen. Damit reiht Marx die Arbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern in die industrielle Warenproduktion ein und definiert diese − wie die von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern − als Dienstleistung. Dies stellt insofern einen Paradigmenwechsel für den Beruf des Schauspielenden dar, da nun seine Kunstproduktion strukturell als ökonomische Arbeit charakterisiert wird. »Befinden sich nicht in jedem Augenblick auf dem Markt neben Weizen und Fleisch etc. auch Huren, Advokaten, Predigten, Konzerte, Theater, Soldaten, Politiker etc.? Diese Burschen oder Burschinnen erhalten das blé et autres denrées de nécessité oder d’agrément nicht umsonst. Sie geben dafür oder dringen dafür auf ihre Dienste, die als solche Dienste einen Gebrauchswert und infolge ihrer Produktionskosten auch einen Tauschwert haben.«8
Schauspielende und Huren werden ebenso auf einem Markt gehandelt: Ihre Dienste stellen für den Konsumenten einen Gebrauchswert und für den Anbietenden der Ware oder der Dienstleistung einen Tauschwert dar. Dennoch neh-
7
Als unproduktive Arbeit versteht Smith die Arbeit von Angestellten wie Juristen, Ärzten, Schauspielern, Balletttänzern usw., welche nicht in die industrielle Warenproduktion eingebunden ist, weil ihre Tätigkeiten flüchtig sind. Für Marx ist jene Arbeit unproduktiv, die keinen Mehrwert hervorbringt und nur durch Revenue eingelöst wird: »Ein Schauspieler z. B., selbst ein Clown, ist hiernach ein produktiver Arbeiter, wenn er im Dienst eines Kapitalisten arbeitet (des entrepreneur), dem er mehr Arbeit zurückgibt, als er in der Form des Salairs von ihm erhält, während ein Flickschneider, der zu dem Kapitalisten ins Haus kommt und ihm seine Hosen flickt, ihm einen bloßen Gebrauchswert schafft, ein unproduktiver Arbeiter ist. Die Arbeit des erstren tauscht sich gegen Kapital aus, die des zweiten gegen Revenue. Die erste schafft einen Mehrwert; in der zweiten verzehrt sich eine Revenue.« Karl Marx: »Theorien über den Mehrwert. Erster Teil«, S. 127.
8
Ebd., S. 138f.
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men Schauspielende und Huren durch ihre »nichtmateriellen Produktionen«9 eine Sonderstellung im Kapitalismus ein, da ihre angebotenen Dienste flüchtig sind und nicht in einer fixen Ware materialisiert werden können: »Die Produktion ist nicht trennbar von dem Akt des Produzierens, wie bei allen exekutiven Künstlern, Rednern, Schauspielern, Lehrern, Ärzten, Pfaffen etc.«10 Der Körper von Schauspielenden wie Huren stellt dabei die Arbeitskraft und den Arbeitsgegenstand dar, durch den das Produkt der Arbeit geschaffen wird. Bei den performativen und dienstleistenden Tätigkeiten des Prostituierens wie des Schauspiels emergieren die Produktion des Dienstleistenden und die Konsumtion des Kunden bzw. der Kundin im Moment der Interaktion.11 Für Schauspieler und Schauspielerinnen reicht die Definition ihrer Arbeit als Dienstleistung nicht aus, weil diese eben nicht nur Arbeit, sondern auch Kunst ist. Diesen Doppelcharakter der Leistung definiert Marx wie folgt: »Dem Publikum verhält sich hier der Schauspieler gegenüber als Künstler, aber seinem Unternehmer gegenüber ist er produktiver Arbeiter.«12 Künstlerische Leistung für das Publikum und für den Unternehmer Mehrwert generierende Arbeitsleistung gehen in der Aufführung zusammen. Dadurch, dass das Produkt nicht von ihrem privaten Körper zu trennen ist, sind der Schauspieler und die Schauspielerin im Rahmen des Lohnarbeitsverhältnisses ein besonderes Beispiel für die Entfremdung von der eigenen Arbeit. Annemarie Matzke beschreibt dieses Problem schauspielerischer Arbeit und dessen Rezeption folgendermaßen: »Somit wird
9
Karl Marx: »Theorien über den Mehrwert. Erster Teil«, S. 385.
10
Ebd., S. 386.
11
Zu differenzieren wäre zwischen Darstellenden und Prostituierten insofern, als dass das künstlerische Produkt bei Schauspielerinnen und Schauspielern in einen größeren arbeitsteiligen Prozess einer Inszenierung eingebunden ist, während das Produkt bei Prostituierten allein an ihrem Körper verrichtet wird. Zudem unterscheidet sich die Konsumtion des dienstleistenden Körpers durch die Kundinnen und Kunden: Im Falle des Schauspielers oder der Schauspielerin wird der Genuss in der Regel über das Auge und nicht über einen unmittelbaren Körperkontakt wie bei der Sexarbeit vermittelt.
12
Karl Marx: »Theorien über den Mehrwert. Erster Teil«, S. 386. Herv. i. O. Annemarie Matzke hat in ihrem Buch Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe darauf hingewiesen, dass Marx die Spezifik der Rezeption in der Arbeit des Schauspielers als produktive, immaterielle Arbeit in seine Klassifikation von Schauspielkunst nicht miteinbezieht. Vgl. Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript 2012, S. 57.
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die Figur des Schauspielers zum Paradigma der Entfremdung. Dem Schauspieler wird nicht nur seine Arbeit zur Ware und damit entfremdet. Diese Arbeit ist an ihn selbst, seinen Körper, gebunden: Er wird (sich) selbst zur Ware.«13 Das Paradigma der Entfremdung betrifft Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen gleichermaßen, weil ihre Körper der Konsumtion durch ihre Kundinnen und Kunden wie Waren ausgeliefert sind und in der Interaktion mit diesen gleichsam als Waren objektiviert werden können. Durch Marx‘ Definition von schauspielerischer Arbeit als eine unter vielen möglichen Dienstleistungen wird deutlich, dass die Arbeit des Schauspielers und der Schauspielerin stets auf das Ziel ausgerichtet ist, für andere zu arbeiten und zu spielen. Damit kann »der Schauspieler dem ›Warencharakter‹ seiner Arbeit nicht entkommen.«14 Fällt der Blick wie bei Marx auf die Frage von Mehrwert, den Schauspieler und die Schauspielerinnen für den kapitalistischen Theaterunternehmer bzw. Theaterunternehmerin hervorbringen, so wird die Kunstsituation überschritten und als ökonomische Situation sichtbar, in der sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Für die Zeit um 1900 ist es für die Berufe des Schauspiels und der Prostitution neu, dass sie mit der Kategorie der Arbeit versehen werden. Indem Marx Schauspielende und Prostituierte als Angestellte definiert, entstehen für beide Berufsgruppen Möglichkeiten der Selbstermächtigung. In seinen Texten beschreibt Marx Prostitution bereits als Sexarbeit, obwohl diese aus sittlichen Gründen im 19. Jahrhundert nicht als solche gebilligt wurde. Im deutschen Prostitutionsgesetz ist Sexarbeit erst seit 2002 als eine sexuelle Dienstleistung rechtlich anerkannt. Dieser Ermächtigungsdiskurs betrifft auch die Neubestimmung des Berufs des Schauspielers. Das Wissen um den eigenen Warencharakter ermöglicht es den Schauspielerinnen und Schauspielern kritisch und reflexiv mit den ökonomischen Verhältnissen am Theater umzugehen. Es bewahrt sie vor einer Ausbeutungssituation, wie sie von den Diskursproduzenten um 1900 metaphorisch als Prostitution beschrieben wird. Doch Marx ökonomische Überlegungen über die Arbeit des Schauspielenden werden erst von Bertolt Brecht Anfang des 20. Jahrhunderts für die Schauspieltheorie produktiv gemacht. Er greift Marx‘ Definition des Schauspielenden als Angestellten auf und führt sie theaterprogrammatisch fort:
13
Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe, S. 56.
14
Ebd., S. 57.
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»Ich spreche zunächst von Deiner Profession, dem Schauspielbetrieb, das Gewerbe, in das
Du gegangen bist, gleichviel aus welchen Gründen, hoffentlich den besten. Gleichgültig, was Du dort anstellen solltest, musst Du wissen, was dort mit dir angestellt werden wird. Die Theater verkaufen Unterhaltung, einige in Form von Bildung. Du wirst entlohnt (und beschäftigt), je nachdem, was du dem Besitzer einbringst, an Geld oder an Ansehen, das er in Geld umsetzen kann. In den staatlichen Theatern werden Dienste entlohnt, welche den herrschenden Ideen, d. h. den Ideen der Herrschenden geleistet werden – aus den Steuergeldern der Beherrschten. Es ist gut für Dich zu wissen, daß Du eine Angestellte bist, etwa wie jemand, der angestellt ist, Getränke zu servieren, aber natürlich ist das nicht alles. Die Geknechteten, die es wissen, können etwas gegen ihre Knechtschaft tun.«15
Brecht beschreibt die Arbeit des Schauspielenden als der eines Angestellten gleichwertig. Damit charakterisiert er im Sinne Marx‘ den Schauspielenden als einen Dienstleistenden, der in ökonomische Produktionsverhältnisse am Theater eingebunden ist. Seinem Warencharakter kann der Schauspielende nicht entkommen, aber er kann sich dessen bewusst sein, in dem er sich als Angestellter am Theater begreift. Der Schauspielende könne eine selbstbestimmte Haltung zu seiner Arbeit einnehmen, wenn er sich darüber im Klaren sei, dass er sich nicht in einem herrschaftsfreien Raum bewege, sondern wisse, dass das Theater »ein Unternehmen« sei, »das Abendunterhaltung verkauft.«16 Damit weist Brecht sowohl politisch als auch künstlerisch einen neuen Weg im Umgang mit den ökonomischen Bedingungen am Theater: Er fordert Reflexion und Entlarvung der hegemonialen und ökonomischen Verhältnisse, um eine Emanzipation des Schauspielers und der Schauspielerin zu befördern. Denn eine Umkehr oder Veränderung könne nur durch das Bewusstsein über den eigenen Angestelltenstatus bewirkt werden. Damit widerspricht Brecht zugleich einer »Mystifizierung künstlerischen Schaffens«17, welches sich jahrhundertelang als Gegenmodell zu gesellschaftlicher und ökonomischer Arbeit verstand. Für Brecht reicht es aber nicht aus, dass Schauspielerinnen und Schauspieler zur Vorbereitung ihrer Rollen auf der Probe Marx lesen. Im Akt des Schauspiels selbst muss der gesellschaftskritische Standpunkt des Schauspielers und seine Position als Angestellter dem Publikum gezeigt werden: »Das Geprobte am
15
Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Werkausgabe, S. 53.
16
Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Werkausgabe. Band
17
Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe, S.
21. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 184. 57.
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Spiel tritt voll in Erscheinung, das auswendig Gelernte am Text, der ganze Apparat und die ganze Vorbereitung.«18 Mit der Offenlegung des Arbeitsprozesses als wiederholte Demonstration des Geprobten soll die »Bereitung der Illusion«19 für das Publikum und damit dessen Einfühlung verhindert werden. Ein gesellschaftliches Urteil könne sich das Publikum nur dann bilden, wenn es von den Schauspielerinnen und Schauspielern Widersprüche gezeigt bekomme. Dafür müsse der Schauspieler den Widerspruch seiner Arbeit offenlegen statt ihn zu verkitten, nämlich die Differenz von Schauspieler und Rolle. Brecht begünstigt dadurch eine Darstellungsweise, durch die der Schauspieler seine ökonomische Position auf der Bühne durch das Aufrechterhalten der Differenz thematisieren kann. »Der Standpunkt, den er einnimmt, ist ein gesellschaftskritischer Standpunkt. […] So wird sein Spiel zu einem Kolloquium (über die gesellschaftlichen Zustände) mit dem Publikum, an das er sich wendet.«20 Die Dekonstruktion der homogenen Einheit der Figur, die direkte Adressierung des Publikums und damit die Auflösung der vierten Wand sind Inszenierungsstrategien des Verfremdungseffekts im epischen Theater. Was die Diskursproduzenten um 1900 als Kennzeichen des bürgerlichen Theaters zu bewahren und genau solche offengelegten Spielweisen durch die Metapher der Prostitution abzuwehren suchten, wird nun bei Brecht über den Begriff des Schauspielers als Angestellter positiv konnotiert. Bei Brecht werden ökonomischer, sozialpolitischer und ästhetischer Diskurs kurzgeschlossen. Daraus resultiert sowohl eine Spielweise des epischen Theaters als auch eine Neuverortung des Berufs des Schauspielers, der sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Teil sozialpolitischer und ökonomischer Verhältnisse begreifen soll. Trotz Sozialkritik war es für Brecht dabei wichtig, dass das lustvolle Vergnügen aller Beteiligten am Schauspiel nicht zu kurz kommt:
18
Bertolt Brecht: »Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters (1940)«, in: Manfred Brauneck (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 277-286, hier S. 279.
19
Ebd.
20
Bertolt Brecht: »Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt«, in: Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander 2005, S. 278-297, hier S. 283. Herv. i. O.
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»§ 6 Dagegen gibt es schwache (einfache) und starke (zusammengesetzte) Vergnügungen. Die letzteren, mit denen wir es bei der großen Dramatik zu tun haben, erreichen ihre Steigerungen, etwa wie der Beischlaf sie in der Liebe erreicht; sie sind verzweigter, reicher an Vermittlungen, widersprüchlicher und folgenreicher.«21
Damit überschreitet Brecht die Programmatik der Diskursproduzenten um 1900, wenn er das Theater mit Sex gleichsetzt.22 Brecht nutzt die Metapher des Beischlafs aus Liebe, um das sinnliche Vergnügen als integrativen Bestandteils von Schauspielen und Zuschauen deutlich zu machen, ohne dabei die Position des Zuschauenden wie des Darstellenden zu diffamieren. Brechts Schriften zum Theater zeigen damit eine Möglichkeit im Theater der Gegenwart auf, wie mit der Ökonomie des Begehrens – dem sinnlichen Vergnügen wie der ökonomischen Verfasstheit – im Dispositiv des Theaters umgegangen werden kann: durch Offenlegung der ökonomischen und sozialpolitischen Disposition des Schauspielenden, ohne dabei den Bezugspunkt der dramatischen Fabel aufzugeben.
H UREN -S CHAUSPIELER (G ROTOWSKI ) Eine zu Brecht konträre Position im Umgang mit der ökonomischen Verfasstheit des Theater nimmt der polnische Regisseur Jerzy Grotowski in seiner Theaterprogrammatik Für ein armes Theater (1968)23 ein. In dieser verwendet Grotowski explizit die Metapher der Prostitution, um sich gegen die Ökonomien am Theater zur Wehr zu setzen und sich von ihnen frei zu machen. So entsteht einerseits ein Rückbezug auf die Debatten um 1900 und andererseits verbindet Grotowski die ökonomischen Reflexionen, wie Brecht auch, mit dem Entwurf eines neuen Selbstverständnisses des Schauspielenden gegenüber seiner Arbeit. Als Ideal des ›neuen‹ Schauspielers konzipiert er den »›heiligen‹ Schauspie-
21
Bertolt Brecht: »Kleines Organon für das Theater«, in: Ders.: Über Theater. Leipzig: Reclam 1969, S. 205- 243, hier S. 208.
22
Vgl. Jens Roselt: »Verfremdete Figuren. Bertolt Brecht«, in: Ders. (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander 2005, S. 274-277, hier S. 277.
23
Vgl. Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater. Mit einem Vorwort von Peter Brook. Berlin: Alexander 1994.
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ler«24, der frei von jedweder ökonomischer, sozialer oder sexueller Vereinnahmung seines Selbst ist.25 Der »heilige Schauspieler« stellt ein Phantasma in Grotowskis Programmatik dar. Erst durch das entworfene Gegenbild − den »HurenSchauspieler«26 − wird plastisch, welche konkreten Neuerungen Grotowski für die Arbeit des Schauspielenden hin zu dessen Ideal vorsieht. Die Dichotomie von Heiligen und Huren − ein zentraler Topos der Figuration der Schauspielerin um 1900 − greift Grotowski im Interview »Das Neue Testament des Theaters«27 auf, das der italienische Theatermacher Eugenio Barba 1964 mit ihm führte. Grotowski löst die Dichotomie aber aus ihrem gendertheoretischen Zusammenhang28 und erweitert sie explizit um die ökonomischen Zuschreibungen von arm und reich, die auch schon um 1900 indirekt mit dem Topos von Huren und Heiligen als Gegensatz von übertriebener Maskerade versus Natürlichkeit bzw. begabte, aber arme Theaterarbeiterin versus untalentierte, aber reiche Theaternutte inhaltlich verbunden wurden. Das Theater der Prostitution beschreibt Grotowski als das »Reiche Theater«29, eine Form »künstlerischer Kleptomanie«30 und größenwahnsinnige[r] Schaustücke«31. Ausdruck dessen sei die Anhäufung vieler anderer Kunstdisziplinen in einer Theaterinszenierung, das Zusammenraffen materieller Reichtümer durch die Schauspielenden sowie ihre klischeehaften Darstellungen. All dies
24
Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 36.
25
An diesem Ideal forschte er in seinem Theaterlaboratorium im Südwesten Polens mit
26
Vgl. Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 36.
27
Eugenio Barba führte das Interview mit Jerzy Grotowski 1964. Den Titel »Das Neue
28
Nur an einer Stelle geht er auf den Zusammenhang der Schauspielerin zum Bild der
seinem Schauspielensemble von 1959 bis 1976.
Testament des Theaters« wählte Barba. Vgl. ebd., S. 27-58. Hure ein: »Es ist eine Tatsache, daß viele Jahrhunderte hindurch Theater mit Prostitution assoziiert wurde, im einen und anderen Sinne des Wortes. Die Wörter ›Schauspielerin‹ und ›Hure‹ waren Synonyme. Heute sind sie etwas eindeutiger voneinander geschieden, nicht weil sich die Gesellschaft geändert hat. Heute ist der Unterschied zwischen der ehrbaren Frau und der Hure etwas verwischt.« Ebd., S. 34. Das Einfließen des Bildes der Hure in das allgemeine Frauenbild wird hier sozial beklagt, aber hinsichtlich der Situation für das Theater von Grotowski nicht weiter ausgeführt. 29
Ebd., S. 18.
30
Ebd.
31
Ebd.
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führe zu einer »Entfremdung«32 der Schauspielenden und der Zuschauenden. Mit der Metapher der Prostitution richtet sich Grotowski gegen ein Theater des Mehrwerts und der Verschwendung, das er im Repräsentations- und Unterhaltungstheater seiner Zeit verwirklicht sieht. Dagegen konzipiert Grotowski Das Arme Theater als Bruch mit einer Ökonomie des Begehrens: Der Schauspielende soll sich wie ein Mönch von materieller Anerkennung durch andere sowie von einem »bourgeoise[n] Konzept von Lebensstandard«33 radikal abwenden. Im Armen Theater proklamiert Grotowski bereits 1968 einen Ausstieg aus der Warenproduktion, indem sich das Theater von allen Produktionsmitteln der »bildende[n] Künste, Beleuchtung und Musik«34 befreien soll. Das Arme Theater entwirft er als »ein asketisches Theater, in dem die Schauspieler und das Publikum das einzige sind, was übrig geblieben ist.«35 Der differente Umgang mit einer Ökonomie des Begehrens im privaten Leben wie auf der Bühne unterscheidet den »heiligen Schauspieler« vom »Huren-Schauspieler«. Ähnlich dem Motiv der Schauspielerin als Heilige um 1900 stellt der »heilige Schauspieler« in Grotowskis Armem Theater eine Figuration der Enthaltsamkeit dar, die an religiöse Menschenbilder wie das des Buddhisten als Asket und das des Protestanten als sparsamer, enthaltsamer, fleißiger Arbeiter erinnert. Der »Huren-Schauspieler« hingegen repräsentiert eine Figuration der Verschwendung, wie sie um 1900 die sogenannten Theaterprinzessinnen darstellten. Mit den Metaphern des »Huren-Schauspielers« im »reichen Theater« unter der Regie eines »Zuhälter«-Regisseurs wehrt sich Grotowski radikal gegen ein Theater der Konsumtion.36 Damit führt er die bereits um 1900 virulente Debatte über die Käuflichkeit des Schauspielenden und dessen Einbindung in ein profitträchtiges Theaterunternehmen fort. Im Gegensatz zum Diskurs um 1900, der in erster Linie eine Kritik am Theater als kapitalistisches Unternehmen darstellte, verlagert Grotowski die Debatte nun auf die Arbeit des Schauspielers und den
32
Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbst-
33
Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 48.
34
Ebd., S. 33.
35
Ebd.
36
Sein Theater werde »keine Kulturbedürfnisse befriedigen« und auch keine Unterhal-
inszenierung im zeitgenössischen Theater, S. 71.
tung bieten für diejenigen, die sich nach getaner Arbeit regenerieren wollen. Vgl. ebd., S. 42.
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Umgang mit seinem Begehren nach ökonomischer Anerkennung seiner Leistung. »Der Schauspieler ist ein Mensch, der mit seinem Körper in der Öffentlichkeit arbeitet, ihn öffentlich darbietet. Wenn dieser Körper sich darauf beschränkt, vorzuzeigen, was er ist − das kann jeder durchschnittliche Mensch tun −, dann ist er kein gehorsames Instrument, das dazu fähig wäre, eine geistige Handlung zu vollziehen. Wenn er für Geld ausgebeutet wird, um die Gunst des Publikums zu erlangen, dann grenzt die Kunst des Schauspiels an Prostitution.«37
Die Grenze zur Prostitution liegt für Grotowski in der öffentlichen Präsentation des Schauspielenden als ›eines Körpers für andere‹. Wenn der Schauspielende für das Publikum spielt, als Tauschwert seine Gunst und damit seinen Applaus verlangt, dann zeigt er sich Grotowski zufolge als »Huren-Schauspieler« und stellt die Nähe zur Prostitution her: »Wenn der Schauspieler den Zuschauer als Orientierungspunkt nimmt, dann bietet er sich in gewisser Weise zum Verkauf an. […] Eine Art Prostitution […].«38 Damit kommt es bei Grotowski zu einem veränderten »Paradox des Schauspielers«39: Das Ziel sei nicht, dass sich dieser hinter einer vierten Wand verschließe, was Grotowski als »Lüge«40 bezeichnet. Ganz im Gegenteil solle der Schauspielende »in Konfrontation mit den Zuschauern«41 gehen. »Er muss sich hingeben, anstatt sich zurückzuhalten, er muss sich öffnen, anstatt sich zu verschließen, denn das würde im Narzissmus enden.«42 Die Schwierigkeit bestehe jedoch darin, die Hingabe nicht für den Zuschauenden, sondern als »authentischen Akt«43 des Schauspieler-Selbst zu vollziehen, durch den sich das Publikum miterfahren kann. »[S]o fordert Grotowski von seinem Schauspieler durch Selbstkontemplation genau diese Ausrichtung auf einen
37
Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 34.
38
Jerzy Grotowski: »Die Technik des Schauspielers«, in: Ders.: Für ein Armes Theater. Mit einem Vorwort von Peter Brook. Berlin: Alexander 1994, S. 235-247, hier S. 245.
39
Vgl. Denis Diderot: »Paradox über den Schauspieler«, S. 137-147.
40
Jerzy Grotowski: »Die Technik des Schauspielers«, S. 245.
41
Ebd.
42
Ebd.
43
Ebd.
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Zuschauer auszuschalten«44, beschreibt Annemarie Matzke Grotowskis schauspieltheoretischen Ansatz. Durch die Konzentration auf sich selbst könne der Schauspieler seine menschliche Käuflichkeit überwinden, für die Grotowski die Metapher der Prostitution verwendet. Die besondere Käuflichkeit des Schauspielenden resultiere daraus, dass Schauspielen »eine besonders undankbare Kunst«45 sei: »Sie stirbt mit dem Schauspieler. [...] Mithin ist seine einzige Befriedigungsquelle die Reaktion des Publikums.«46 Damit zeigt Grotowski an, dass der Schauspielende – anders als der bildende Künstler, der ein Werk wie eine Skulptur oder ein Gemälde schafft – keinen materiellen Gegenwert seiner Kunst zurückbehält, der ihm Bestätigung zuteilwerden lassen könnte. Daraus entstehe die Begierde des Darstellenden nach »überwältigende[n] Ovationen«47, »Blumen oder anderen Symbolen des Wohlgefallens des kommerziellen Theaters«48 als Gegenleistungen, die letztlich ihm bezeugen müssten, was er geschaffen hat. Die gezeigte und gezahlte Anerkennung des Zuschauenden stellt in der Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters einen Tauschwert für die nichtmaterielle Produktion des Schauspielers und der Schauspielerin im Akt der Aufführung dar. Doch das ökonomische Prinzip betrifft nicht nur den Lebensstil, sondern ist nach Grotowski dialektisch mit der Spielweise des Schauspielenden verbunden: »Der Unterschied zwischen dem ›Huren-Schauspieler‹ und dem ›heiligen‹ Schauspieler ist der gleiche wie der Unterschied zwischen der Kunstfertigkeit einer Hure und der Haltung des Geben und Nehmens, die wahrer Liebe entspringt: mit anderen Worten der Selbstaufopferung. Das Wesentliche in diesem zweiten Fall ist die Fähigkeit, jegliches störende Element zu eliminieren, um jede vorstellbare Grenze überschreiten zu können. Im ersten Fall ist es eine Frage der Existenz des Körpers, im zweiten eher die seiner Nicht-Existenz. Die Technik des ›heiligen‹ Schauspielers ist eine induktive Technik (das heißt eine Technik des Eliminierens), wohingegen die des ›Huren-Schauspielers‹ eine deduktive Technik ist (das heißt eine Anhäufung von Kunstfertigkeiten).«49
44
Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, S. 71.
45
Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 47.
46
Ebd.
47
Ebd.
48
Ebd.
49
Ebd., S. 36.
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Überfülle versus Reduktion, Außen- versus Innen-Gerichtetheit macht Grotowski als Kennzeichen der unterschiedlichen Spielweisen des »HurenSchauspielers« und des »heiligen Schauspielers« aus. Der »Huren-Schauspieler« orientiere sich an dem, was ihn im Äußeren einer Gesellschaft umgibt, und reproduziere die Maskeraden des gesellschaftlichen Lebens durch eine Anhäufung von Methoden, Schauspielstilen, Klischees und Tricks. Der »HurenSchauspieler« kenne kein Maß und keine Schamlosigkeit, er sei sich seines Körpers als eines Körpers für andere stets bewusst und an der Produktion von Mehrwert orientiert. Der »heilige Schauspieler« hingegen arbeite an seinem Inneren nach einem Prinzip der Unterlassung. Er überwinde seine Käuflichkeit, indem er die Arbeit an seinem Körper und mit seinem Körper als Vorgang der Selbstopferung vollziehe. Die Selbstopferung bedeute für den Schauspieler, dass er das Begehren und die Bedürfnisse, die ihm sein Körper vermittele, überwinde und er in einen Zustand komme, in dem er absolut über seinen Körper (als Nicht-Existenz) wie über ein Instrument verfügen könne. »Wenn er seinen Körper nicht exhibitionistisch ausstellt, sondern ihn annulliert, verzehrt, befreit von jeglichen Widerstand gegen alle psychischen Impulse, dann verkauft er seinen Körper nicht, er opfert ihn.«50 Die Armut künstlerischer und materieller Mittel formt gemäß Grotowski einen Schauspieler, der sich dem Theater als »Geschenk«51 hingibt. Gleich einem Liebenden soll sich die Aufmerksamkeit des Schauspielenden allein auf das Theater richten. Mit der »Haltung des Gebens und Nehmens« als Form »wahrer Liebe«52 wiederholt Grotowski einen Liebesdiskurs, der dem System der Prostitution entgegentritt. Jedoch nicht die erotische Liebe meint Grotowski, sondern das Konzept der Agape, der selbstlosen Liebe. Durch den Liebesdiskurs wie durch die fernöstlich orientierten Schauspieltechniken zeichnet Grotowski einen von seinem Begehren befreiten Schauspielerkörper. Die unablässige Arbeit am eigenen Körper und am Selbst macht ihn zu einem unermüdlichen Lernenden, der zur moralischen und körperlichen Perfektion hinstrebt, sie aber letztlich nie erreichen kann. Auffällig ist, dass dieser asketische Schauspielerkörper in den fotografischen Dokumenten von Grotowskis Arbeit stets als ein magerer, muskulöser, athletischer, halbnackter Männerkörper abgebildet wird, der mit nicht mehr als einem
50
Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 35.
51
Ebd., S. 40.
52
Ebd., S. 36.
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Slip bekleidet ist. Der Schauspieler Ryszlard Cieslak hat dies ikonografisch durch seine Darstellung in der Inszenierung Der standhafte Prinz geprägt.53 In der Kombination von Text und körperlicher Repräsentation erscheint der »heilige Schauspieler« in Grotowskis Für ein Armes Theater als ein Männlichkeitsideal eines leistungsfähigen, selbst optimierten Körpers, welches wie in antiken männlichen Aktdarstellungen zum Vorbild des Allgemein-Menschlichen erhoben wird. Der »Huren-Schauspieler« hingegen verharre in seinem Körper und mache keine Fortschritte. Er bleibe stets das, was er sei, ein Dilettant. So wie die Heiligkeit ein Fernziel sei, dem im Armen Theater entgegenzustreben sei, so sei die Prostitution der Schatten, welcher die Theaterleute verfolge. »Um die Metapher des ›Huren-Schauspielers‹ weiterzuführen: das Äquivalent beim Regisseur wäre der ›Zuhälter-Regisseur‹. Und ebenso wie es unmöglich ist, alle Spuren der ›Hure‹ im ›heiligen‹ Schauspieler auszutilgen, läßt sich der ›Zuhälter‹ im ›heiligen‹ Regisseur nie völlig ausmerzen.«54
Heiligkeit und Prostitution stellen in Grotowskis Theaterprogrammatik ein Vexierbild von Theaterarbeit dar, in das alle am Theater Beteiligten, von der Regie bis hin zu den Zuschauenden, verwickelt sind. In der Art und Weise, wie sie die Kunstform des Theaters für sich verwerten und konsumieren, bringen sie sich als heilige oder hurende Subjekte performativ hervor. Prostitution stellt für Grotowski eine Metapher für die »Erbärmlichkeit«55 dar, die sich in Tyrannei und Arbeitsscheue beim Regisseur (Zuhälter), in Konsumhaltung und Regenerationswünschen beim Publikum56 und der Gier nach Aufmerksamkeit und Reichtum beim Schauspielenden (Hure) äußere. Grotowski bleibt in den Diskursen des 19. Jahrhunderts verhaftet, indem er die Dichotomie von »heiligen Schauspieler« und »Huren-Schauspieler« unreflektiert fortschreibt. Bei ihm kommt es jedoch zu einem radikalen Ausstieg aus der ökonomischen Produktion, der sowohl die ästhetische Form des Theaters, das Verhältnis zum Publikum wie die Arbeits- und Lebensweise des Schauspielenden betrifft. Grotowskis Verdrängung des Ökonomischen aus dem Thea-
53
Vgl. hierzu auch das Cover sowie die Abbildungen in: Jerzy Grotowski: Für ein
54
Ebd., S. 52. Herv. i. O.
55
Ebd.
56
Interessanterweise bezeichnet Grotowski die Zuschauenden nicht als Freier.
Armes Theater, S. 116-122.
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ter wird zu einer körperlich anstrengenden Lebensaufgabe des Schauspielenden, allem anderen als dem Theater zu entsagen: »Unser Weg ist mithin eine via negativa – keine Ansammlung von Fertigkeiten, sondern die Zerstörung von Blockierungen.«57 Wie ein Bildhauer solle der Schauspieler die sozialisierten Schichten seines Selbst abtragen, bis ein authentischer Zustand erreicht werde.58 Grotowskis Neuverortung des Berufs des Schauspielers betrifft die Verknüpfung von Kunst und Leben des Schauspielenden wie die künstlerische Suche nach Authentizität im Rahmen eines »Theater der Erfahrung«59. Die Praktiken der Askese, der Fokus auf die schauspielerische Arbeit am und mit dem Körper und der Rückzug in ein Leben in einer Kommune werden zum Gegenentwurf zum bürgerlichen Schauspieler. Die Schauspielerinnen und Schauspieler in Grotowskis Theaterlaboratorium treten in einen lebenslangen Probenprozess ein, in dem sie üben, ihr Begehren nach Narzissmus, Applaus, Geld und Aufmerksamkeit wie ein Mönch zu zügeln und sich so aus den Fesseln eines Theaters der Prostitution zu befreien. Grotowski plädiert mit seiner Programmatik eines Armen Theaters für einen Schauspieler, der sich nicht zur Hure und damit zur Ware macht, der sich nicht den Bedürfnissen des Publikums anpasst und der auch nicht glaubt, dass er selbst das Theater sei60 und zugleich sein ganzes persönliches und berufliches Streben auf seine eigene Ausbildung zu einem idealen Menschen richtet, der sich von den Fesseln sozialer Zurichtungen befreit. Damit beförderte er eine »Gegen- und Subkultur des Theaters«61, deren Ausstieg aus ästhetischer Konvention und ökonomischer Produktion zum Vorbild für die freie Theaterbewegung der 1960er Jahre wurde. Mit dem Armen Theater versucht Grotowski, das Theater als com-
57
Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 15. Herv. i. O.
58
Vgl. zum Authentizitätsdiskurs bei Grotowski: Geesche Wartemann: Theater der Erfahrung. Authentizität als Forderung und Darstellungsform. Hildesheim: MuTh 2002, S. 30-47, hier S. 39.
59
Manfred Brauneck:»Theatergeschichtlicher Kommentar: Theater der Erfahrung – Freies Theater« (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 458-463, hier S. 458.
60
Vgl. zur Kritik an der Selbstgenügsamkeit des Schauspielers: »Nach Ansicht des Schauspielers soll all dies nichts offenbaren, sondern ist sich selbst genug, da, wie gesagt, er, der Schauspieler Herr X, das Theater ist.« Jerzy Grotowski: »Das Neue Testament des Theaters«, S. 29.
61
Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Band 5. Stuttgart [u.a.]: Metzler 2007, S. 747.
4 A NGESTELLTE UND H UREN -S CHAUSPIELER
| 179
merce (de plaisir) zu überwinden. Für dieses Anliegen erscheint es konsequent, dass Grotowski den Zuschauenden im Laufe seiner Arbeit schlussendlich verbannte und den Fokus auf die Ausbildung des Schauspielenden legte.62 Denn mit dem Ausschluss des Vergnügens und der Konsumtion durch den Zuschauenden, wird nicht nur der Diskurs über ein Theater der Prostitution abgeschlossen, sondern auch die Kunstform des Theaters als ein Tauschverhältnis von Sehen und Gesehenwerden gelangt ans Ende. Grotowski und Brecht entwerfen zwei gegensätzliche Programme, wie mit dem Befund um 1900 des Theaters als Geschäft umgegangen werden kann. Diese programmatischen Überlegungen bilden sowohl politisch, historisch wie ästhetisch den Vorspann für die Arbeiten der Performance Kunst. Was bei Grotowski und Brecht noch im Format der Theaterprogrammatik verhandelt wird, wird in den Performances der Gegenwart, beispielsweise in Aufführungen von She She Pop oder Jochen Roller, szenisch radikalisiert umgesetzt: die Aufwertung des Selbst im Akt der Darstellung (Grotowski) sowie die Thematisierung der ökonomischen Bedingungen des Theaters (Brecht) in der Aufführungssituation. Während der Prostitutionsdiskurs um 1900 die Produktion von Begehren in der Aufführungssituation aus der Perspektive der Zuschauenden in den Blick nahm, bei Brecht und Grotowski eine sozial-ökonomische Reflexion und ästhetische Neubestimmung der Arbeit des Schauspielenden theaterprogrammatisch entworfen wurde, wird in der Gegenwart die Wechselseitigkeit des ökonomischerotischen Tauschverhältnisses zwischen Publikum sowie Akteurinnen und Akteuren im Theater thematisch: Künstlerinnen und Künstler reagieren auf den historischen Prostitutionsdiskurs und reflektieren in Theaterprogrammatiken und Aufführungen ihre Einbindung in eine Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters – eine Ökonomie, der sie durch den Blick der Zuschauenden und die Mechanismen des Kulturmarktes ausgesetzt sind. Dabei werden die sexuellökonomischen Bedingungen am Theater nicht wie um 1900 aus dem Theater ausgegrenzt, sondern vielmehr als Konstitution des Theaters sichtbar gemacht
62
Von 1971 bis 1984 arbeitete Grotowski an der Auflösung des Verhältnisses von Zuschauenden und Darstellenden und zeigte keine Inszenierungen mehr. Er bezeichnete dies als paratheatralische Phase seines Schaffens, in der er Übungsprogramme für Schauspieler und Schauspielerinnen sowie Laien erstellte, deren Selbsterfahrung im Vordergrund stand. Grotowski vermittelte diese in Workshop und Seminaren auch außerhalb Polens, vor allem in den USA. Vgl. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Band 5, S. 751.
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und reflektiert. Dadurch erhält die Projektion der Prostitution machtkritisches Potenzial für die Hinterfragung der sexuell-ökonomischen Bedingungen am Theater, welche nicht nur spezifische Arbeitssubjekte und Geschlechterbilder der Theaterarbeiter und Theaterarbeiterinnen formen, sondern auch auf die Aufführungssituation am Theater einwirken. Daran lässt sich bereits ein Paradigmenwechsel des Prostitutionsdiskurses in der Gegenwart ablesen: Der Prostitutionsdiskurs wandelt sich von einem Diskurs der Zuschauenden zu einem Diskurs der Produzierenden. Über die Metapher und Projektion der Prostitution hinterfragen und thematisieren Theatermacherinnen und Theatermacher die Künstlerschaft und Tätigkeit des Schauspielers und der Schauspielerin als sexuell-ökonomische Arbeit. Die theaterwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren den Arbeitsbedingungen am Theater, der Historizität der Probe als spezifische Arbeit am Theater63, den Verfahren des Probierens64 und dem Verhältnis von Theater und Ökonomie65 ein zunehmendes Interesse entgegengebracht. Dieser Forschung eröffnet der Prostitutionsdiskurs nun eine geschlechter- und machtkritische Perspektive, welche die Thematisierung von Produktionsverhältnissen nicht nur als ästhetisches Verfahren betrachtet, sondern auch als sexuell-ökonomische Formierung von Subjektmodellen des Schauspielers und der Schauspielerin sowie von Tauschbeziehungen der Theatermacherinnen und Theatermachern am Theater.
63
Vgl. Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe.
64
Vgl. Melanie Hinz/Jens Roselt (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im
65
Vgl. Franziska Schößler/Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart.
Theater. Berlin: Alexander 2011. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld: transcript 2009.
5 Theater als erotisch-ökonomisches Tauschverhältnis: Ein Ausblick in die Gegenwart
»W IR
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Auf dem Cover des Wiener, einem Magazin für Mode und Luxus, ist ein nackter schmaler Frauenoberkörper zu sehen, über den sich lange blonde Haare schlängeln. Der nackte Torso steht im Zentrum des Schwarz-Weiß-Fotos, das Gesicht des Nacktmodells mit dunkel geschminkten Augen ist nur im Profil am äußersten Bildrand zu sehen. Es ist eines jener Aktfotos, die gemeinhin als »ästhetisch«2 beschrieben werden, weil sich der nackte Frauenkörper dem Blick ›schön‹ und nicht ›obszön‹ anbietet. Dennoch hat dieses Foto einen Skandal hervorgerufen. Denn der Titel auf dem Cover lautete: »Die nackte Ballerina. Ballett wie wir es lieben«3. Das Aktmodell ist Karina Sarkissova, Solotänzerin an der Staatsoper Wien, ausgebildet am russischen Bolschoi-Ballett. Aufgrund der veröffentlichten Nacktfotos wurde sie von Direktor Dominique Meyer und Ballett-
1
Zitat der Balletttänzerin Karina Sarkissova unter: Link 07.
2
Vgl. einen Artikel vom 10.10.2010 auf der österreichischen Nachrichtenplattform oe24.at: »Eklat um nackte Staatsoper«, in dem der Fotograf Manfred Baumann mit den folgenden Worten zitiert wird: »Die Fotos sind ästhetisch. Gerade in der Oper wird doch viel mit Erotik gespielt. Da sollte man doch toleranter sein..« Siehe Link 08.
3
Eine Abbildung des Covers siehe Link 09.
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chef Manuel Legris entlassen.4 Doch warum wird einer seit zehn Jahren beschäftigten renommierten Solotänzerin im 21. Jahrhundert wegen Nacktfotos gekündigt? Der Fall löste ein riesiges internationales Medienecho aus. Was wie eine »Chronique scandaleuse«5 des 19. Jahrhunderts anmutet, ereignete sich im Oktober 2010. Im Mediendiskurs um Sarkissova taucht der Vorwurf der Prostitution nicht direkt auf. Allerdings lassen sich darin mehrere Motive entdecken, die bereits im Prostitutionsdiskurs um 1900 eine zentrale Rolle spielten. Sarkissovas Nebentätigkeit als Aktmodell ist im weitesten Sinne dem Feld der Sexarbeit zuzuordnen. Das mediale Interesse daran, Nacktaufnahmen von ihr zu sehen, entsteht durch Sarkissovas berufliche Stellung und ihren durch ihre tänzerische Arbeit trainierten weiblichen Körper. So wie die Theaterprinzessinnen als Verführte und Verführende galten, weil sie aus ihrer Position als Schauspielerinnen Profit zogen, so wird dies auch Sarkissova unterstellt.6 Was um 1900 von einigen Theaterdirektoren befördert, von anderen lautstark kritisiert wurde, macht offenbar auch heutigen Direktoren noch Angst: mit ihrer Institution und Kunst in den Verruf des Sexuellen zu geraten. Die Tänzerin7 erscheint als Ansteckungsfigur, welche
4
Sie galt als ›Wiederholungstäterin‹, da sie aufgrund von Nacktfotos in der Zeitschrift Penthouse bereits ein Jahr zuvor von der Direktion verwarnt worden war. Siehe Link 10. Nach der Mediendebatte wurde Sarkissova wieder eingestellt.
5
»Deshalb ist Kulissentratsch, diese Miniaturausgabe jeder Sittengeschichte, die Hauptnahrung für das Interesse, das unsere Zeit dem Theater entgegenbringt und darum steht das Theaterleben und das Wesen mehr im Brennpunkt der Augen unserer Welt als die Theaterleistung, weit mehr auch als das Gehaben aller anderen Kreise der Gesellschaft«, beschreibt Leo Schidrowitz in den 1920er Jahren die Bedeutung der Chronique scandaleuse, welche die Presse noch immer gerne aufgreift, wie die Geschichte über Sarkissova zeigt. Leo Schidrowitz: Sittengeschichte des Theaters. Eine Darstellung des Theaters, seine Entwicklung und Stellung in zwei Jahrtausenden, o. S.
6
Boulevardzeitungen wie Die Krone unterstellten der Tänzerin, sie sei nur über die Nacktfotos prominent geworden. Nach dem Skandal war Sarkissova als Jurorin in der Castingshow Dancing Stars zu sehen. Siehe Link 07.
7
Es ist anzumerken, dass Balletttänzerinnen um 1900, genau wie Schauspielerinnen oder Sängerinnen, als darstellende Künstlerinnen Prostitutionsvorwürfen ausgesetzt waren. Exemplarisch widmet Bauer der Tänzerin, ihrer Genealogie und den an sie gerichteten Prostitutionsvorwürfen ein eigenes Kapitel: Vgl. Bernhard Adam Bauer:
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die Institution wie die Kunstform Ballett durch ihre Tätigkeit als Aktmodell sexualisiert. Denn in den Aussagen gegenüber der Presse wies die Theaterdirektion darauf hin, dass sie sowohl die reißerische Aufmachung des Covers als auch das ungefragte Ablichten in den Räumlichkeiten der Staatsoper bei früheren Shootings schockiere. So lautete der Grund der Kündigung: »Die Nebentätigkeit von Frau Sarkissova unter Ausnutzung ihrer Reputation als Solotänzerin des Wiener Staatsballetts und der dadurch entstehende Konnex zur Wiener Staatsoper widerspricht eindeutig arbeitsrechtlichen Vorschriften.«8 Dem wiederum entgegnete Sarkissova, »die moralischen Vorbehalte seien nur ein Vorwand, um ›bewährte Künstler‹, die Kündigungsschutz genießen, ›auszuhebeln‹. Schließlich stünden Tänzer immer wieder nackt auf der Bühne.«9 Das sittliche Problem wird auf die sozioökonomische Ebene arbeitsrechtlicher Fragen verschoben. Der Frage, welches Weiblichkeitsideal einer Tänzerin eine Institution wie das Wiener Staatsballett verfolgt, wenn sie einer Primaballerina aufgrund von Aktfotos kündigt, wird nicht nachgegangen. Warum erscheint es für eine Kunstinstitution so problematisch, mit sexuellem Begehren in Verbindung gebracht zu werden? Die Angst vor dem Verlust der ›reinen‹ Betrachtung einer Kunstform wie Ballett zugunsten einer nur noch auf das Begehren nach attraktiven Körpern ausgerichteten Anschauung – als »Ballett wie wir es lieben« – mag eine Antwort darauf sein. Während die Direktoren die Differenz von Kunst und sexuell-ökonomischem Kommerz für ihr Haus aufrechterhalten wollen, negiert Sarkissova selbst diesen Unterschied. Sie stellt einen Zusammenhang her zwischen der Tätigkeit als Tänzerin und jener als Aktmodell, wenn sie in einer Zeitung folgendermaßen zitiert wird: »Wir verkaufen Stücke mit unseren Körpern.«10 Aus der Perspektive einer Dienstleisterin, nicht einer Künstlerin, beschreibt sie beides als dieselbe Tätigkeit: mit ihrem Körper Produkte zu verkaufen, die durch ihren Körper hergestellt und aufgrund dessen konsumiert werden können. Sarkissova eignet sich eine Rhetorik an, welche die künstlerische Praxis einer Tänzerin im Kontext einer Dienstleistungsgesellschaft verortet und Tanz als ›Arbeit‹ wie jede andere auch sichtbar macht. Auch die Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster hat im Kon-
Komödiantin – Dirne? der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit, S. 442-463. 8
Siehe Link 10.
9
Siehe Link 11.
10
Siehe Link 07.
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text des zeitgenössischen Tanz vom Tänzerkörper als einem »hired body«11, einem gemieteten Körper, gesprochen, der auf Angebot und Nachfrage des Marktes ausgerichtet sei. Sie leistet damit eine Kritik an der Warenförmigkeit der Körper. Doch wenn der Tänzerkörper in kapitalistische Produktionsprozesse eingebunden ist und die Arbeit am und mit dem Körper immer auch eine ökonomische Verwertung erfährt, was unterscheidet dann darstellende Kunst und Sexarbeit voneinander? Während die Soziologin Vera Trappmann aufzeigt, dass der zeitgenössische Tanz und das Tanztheater seit den 1970er Jahren Diskurse und Strategien der Widerspenstigkeit entwickelt haben, wie einer kapitalistischen Vereinnahmung zu entgehen ist12, stellt Sarkissovas Aussage einen Affront dar. Als Ballerina ist sie einer Ästhetik des Tanzes zugeordnet, in der die Normierung von Schönheit und Geschlecht, Tradition und Prunk statt Gesellschaftskritik und Widerspenstigkeit eine zentrale Rolle spielen. Sarkissova kritisiert dies nicht, sondern nutzt die inhärenten Mechanismen der Tradition des Balletts für ihre Selbstvermarktung aus. Mit ihrer Aussage − »wir verkaufen Stücke mit unseren Körpern«13 − weist sie die Kunstform des Balletts von der ernsten zur kommerziellen Kultur zu. Ihr schöpferisches Tun, Choreographien zu tanzen, wird von ihr nicht als Kunst, sondern als Arbeit beschrieben. Damit reißt sie eine Dichotomie ein, die seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich ist: die Trennung von Kunst und Arbeit.14 Doch welche konkreten und diskursiven Probleme
11
Susan Leigh Foster: »Dancing Bodies«, in: Jonathan Crary/Stanford Kwinter (Hg.):
12
Als Strategien spricht Trappmann von der Präsentation subversiver Körper, die sich
Incorporations. New York: ZONE 1992, S. 480-495, hier S. 494. den Normierung des ästhetisierten Tänzerkörpers widersetzen, und von der expliziten Kritik der politischen und ökonomischen Ordnung durch Choreographinnen und Choreographen in ihren Arbeiten. Das Publikum werde durch die ästhetische Erfahrung von Tanz auf sich selbst zurückgeworfen und könne so Wahrnehmungsmuster und Dichotomien von Kultur hinterfragen. Vgl. Vera Trappmann: »Widerspenstige Körper. Kapitalismuskritik im Tanz«, in: Karina Becker/Lars Gertenbach/Henning Laux/Tillmann Reitz (Hg.): Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands. Frankfurt/New York: Campus 2010, S. 339-358. 13
Siehe Link 07.
14
Die Trennung von Kunst und Arbeit wird im Zuge eines neuzeitlichen Arbeitsbegriffes im 18. Jahrhundert formuliert, in dem künstlerische Praxis zu einer spezifischen Form der Nicht-Arbeit erhoben wird. Vor der Industrialisierung waren Kunst und Arbeit im Handwerk verbunden. Vgl. hierzu Annemarie Matzke: »Die Kunst, nicht zu arbeiten. Inszenierungen künstlerischer Praxis als Nicht-Arbeit bei Bertolt Brecht
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treten auf, wenn die Tätigkeit von Theaterarbeiterinnen und Theaterarbeitern nicht mehr als Gegenwert gesellschaftlicher Arbeit betrachtet und bewertet wird? An dem Fall Sarkissova stehen sich diese beiden Seiten konfrontativ gegenüber: die Theaterdirektoren, die verhindern wollen, dass ihre Balletttänzerin und ihre Kunstsparte in eine sexuell-ökonomische Perspektive geraten, und die Balletttänzerin selbst, die sich im Fotostudio wie auf der Bühne als Arbeitnehmerin in einem sexuell-ökonomischen Gewerbe erfährt. Die performative Praxis, Stücke oder Nacktfotos zu verkaufen, scheint für die Ausführende gleichbedeutend zu sein. Doch hinsichtlich Umgang und Rezeption unterscheidet sich der nackte Körper auf der Bühne deutlich von seinem festgehaltenen Abbild in Form eines medial zu vervielfältigenden erotischen Aktfotos, das noch immer im Internet zu finden ist: Rezeption und Konsumtion durch die Zuschauenden sind im Theater flüchtig. Durch das transitorische Moment der Aufführung widersetzen sich die gezeigten Körper der Käuflichkeit. Die Vergänglichkeit des Moments, der von den Rezipienten nur erinnert, aber nicht fixiert werden kann, stellt durchaus einen Schutzraum für beispielsweise sich nackt präsentierende Akteurinnen und Akteure dar. Die Darstellenden verfolgen wohl nur selten das dezidierte Ziel, eine sexuell simulierende Wirkung zu erzeugen. Dennoch wurde bereits im Prostitutionsdiskurs um 1900 eindringlich davor gewarnt, dass die Darstellerin auch in der Kunstform des Theaters nicht vor einem sexuellen Interesse der Zuschauenden geschützt ist. Die Diskussion über die Einbindung des nackten Darstellerinnenkörpers in Ökonomien des Begehrens im Theater (zum Beispiel: Erfolg von Stücken) und die daraus resultierenden Profitmöglichkeiten in der Sexarbeit (zum Beispiel: Anfrage für Aktfotos) sind längst nicht zu Ende. Doch der Nacktheitsdiskurs15 tangiert nicht mehr ausschließlich den weiblichen Körper, sondern auch den männlichen, wie der Fall Sarkissova ebenfalls zeigt. So wurden auch Nacktbilder des zuständigen Ballettchefs Manuel Legris aufgedeckt, der Sarkissova entlassen hatte. Diese werden von einem InternetBoulevardmagazin folgendermaßen beschrieben:
und Heiner Müller«, in: Jörn Etzold/Martin Jörg Schäfer (Hg.): Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken. Weimar: Verlag der Bauhaus-Uni 2011, S. 156-171, hier S. 159. 15
Vgl. hierzu auch Ulrike Traub: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld: transcript 2009.
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»Auf einem Bild drückt er seinen Körper von hinten gegen eine nackte Tänzerin, seine Arme umfassen die junge Frau. Auf einem anderen Foto erklettert er die Fassade der Pariser Oper. […] Wieso darf sich der Ballett-Chef ausziehen, seine Tänzerin aber nicht?«16
Die feministische Frage verweist auf den kulturgeschichtlichen Zusammenhang, in dem Darstellerinnen am Theater anderen Bewertungen unterzogen werden als ihre männlichen Kollegen. So äußert Sarkissova in den Medien, sie fühle sich »als Frau diskriminiert«.17 Damit trifft sie jedoch einen wunden Punkt der Betrachtung: Kann die Nacktheit einer Darstellerin überhaupt als ein künstlerischer Akt weiblicher Subjektivität, welcher der objektivierenden Einordnung eines männlichen Blicks widersteht, betrachtet werden?18 Oder steht durch Nacktheit die Anerkennung von weiblicher Künstlerschaft mit auf dem Spiel: »Can an artist be a naked woman? Does a woman have intellectual authority while naked and speaking?«19 Die aufgeworfenen Fragen werden die Kulturgeschichte der Schauspielerin weiter begleiten, solange Körperlichkeit und Objektstatus mit der kulturellen Konstruktion von Weiblichkeit einhergehen werden. Darauf können vor allem die seit 1968 zunehmend sich wandelnde visuelle Kultur und Repräsentation des männlichen Darstellers Einfluss nehmen, in denen dieser offensichtlich als Objekt des Blicks20 und sexueller Körper thematisiert wird. Das Beispiel Sarkissova gibt darüber Auskunft, wie auch im 21. Jahrhundert auf sozioökonomischer und medialer Ebene Topoi des historischen Prostitutionsdiskurses in der Arbeitsrealität am Theater weiterwirken und ausgehandelt werden. Der Prostitutionsdiskurs um 1900 hat in spezifischer Hinsicht ein Thea-
16
Siehe Link 08.
17
Siehe Link 10.
18
Tanja Stelzer hat im Zeit-Artikel »Die neuen Nackten« das Problem beschrieben, dass sich Frauen heute im Umgang mit Nacktheit als modern und selbstbewusst inszenieren wollen, dabei aber die ökonomische Verwertung sowie das Bildrepertoire nicht unter Kontrolle haben. Vgl. Tanja Stelzer: »Die neuen Nackten«, in: Die Zeit vom 29.03.2012.
19
Catherine Elwes: »Floating Feminity: A Look at Performance Art by Woman«, in: Sarah Kent/Jaqueline Morreau (Hg.): Woman’s images of Men. London: Pandora 1990, S. 164-193, hier S. 174.
20
Vgl.: Als erste deutschsprachige Aufarbeitung des Blicks auf Männlichkeit widmet sich folgende Schrift einem Desiderat der Geschlechterforschung: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hg.): Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Köln [u.a.]: Böhlau 2004.
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| 187
terbild geprägt, das sich in einem Konfliktfeld von Kunst, Ökonomie und Sexualität abspielt. Auch in der Gegenwart stellen die Figuration der Darstellerin – und nun auch des Darstellers – als sexuelle Dienstleisterin bzw. sexueller Dienstleister sowie der Zwiespalt des Theaters zwischen modernem Unternehmen und aufklärerischem Kunstinstitut zentrale Motive des Diskurses dar. Im Gegensatz zum Ausgrenzungsdiskurs um 1900 aus der Perspektive der Zuschauenden, welche die ökonomische Situation des Theaters gerade nicht im Theater sehen und erfahren wollten, machen Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart in Interviews und Aufführungen auf das ökonomisch-erotische Tauschverhältnis aufmerksam, in dem sich Zuschauende und Darstellende befinden. Zwar ereignet sich die Zuschreibung der Prostitution nicht mehr so schnell wie noch um 1900, wie der Fall Sarkissova gezeigt hat, dennoch werden zentrale die Arbeit von Darstellerinnen und Darstellern betreffende Topoi des Diskurses in der Jetztzeit fortgeführt. Im Folgenden soll es darum gehen, wie Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart in Selbstaussagen und Performances auf die Zuschreibung der Prostitution an ihren Beruf reagieren und künstlerisch bearbeiten: Wie gehen sie mit der Konsumtion und dem sexuellen Blick der Zuschauenden auf ihre Körper um? Wie verorten sie ihre künstlerische Arbeit im Spannungsfeld von Dienstleistung und Schauspielkunst? Und wie thematisieren sie in ihren Performances eine Ökonomie des Begehrens im Kommunikationsprozess mit ihrem Publikum?
V OM P ARADIGMENWECHSEL DES P ROSTITUTIONSDISKURSES IM T HEATER UND IN DER P ERFORMANCE -K UNST Paradigmatisch für den Prostitutionsdiskurs der Gegenwart ist, dass sich dieser in die Reflexion der ökonomischen Bedingungen des Theaters seit den 1990er Jahren21 eingliedert. Zudem ist es durch den von der Hurenbewegung22 ausgelös-
21
Vgl. einen Überblick über den Ökonomiediskurs des Theaters: Franziska Schößler/Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution.
22
Hurenbewegung (auch: Prostituiertenbewegung) bezeichnet den Zusammenschluss von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, die sich politisch für ihre soziale und rechtliche Gleichstellung einsetzen. »Sex als Arbeit sichtbar zu machen, war Verdienst der Hurenbewegung der 1970er in den USA. Sie prägte den Begriff sexwork, der
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ten Diskurs um die Anerkennung von Prostitution als Sexarbeit zu einer erweiterten Perspektive sexueller Arbeit gekommen, die sämtliche Arbeitsverhältnisse durchdringt. Besonders anschlussfähig war die Debatte für jene Berufe, die emotionale oder körperliche Arbeit als Dienstleistung ausüben, etwa Verkäufer und Verkäuferinnen, Aktmodells, Balletttänzer und Balletttänzerinnen oder Performerinnen und Performer. So kommt es zu einer Thematisierung von Schauspiel als Prostitution und Prostitution als Schauspiel als zwei aufeinander bezogene Seiten einer Tätigkeit, in der es um die warenförmige und käufliche Produktion von Sexualität durch das arbeitende Subjekt und die künstliche Herstellung von Begehren für Kunden und Kundinnen geht.23 Analog zur Hurenbewegung, in der Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen die Unsichtbarkeit ihrer Existenz verließen und ihre Rechte selbst einklagten, ist auch in Bezug auf die performativen Künste seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel zu beobachten, der zu einem Diskurs der Produzierenden wird. Während der Prostitutionsdiskurs um 1900 von einem Begehren an der Anderen und der Produktion von Alterität geprägt war, die stets ein Sprechen von Zuschauenden über die Theaterwelt und deren Schauspielerinnen war, so ist in der Gegenwart eine Auseinandersetzung, Aneignung und Dekonstruktion der »Whore-Position«24 durch Künstlerinnen und nun auch durch vereinzelte männliche Künstler zu beobachten. Die künstlerische Bearbeitung von Prostitution oder die spielerische Nutzung als Metapher stellt eine Arbeit an der Erfahrung eines prekär erlebten Subjektstatus als Künstlerin und Künstler dar und eine Reflexion der Einbindung der eigenen Kunstproduktion in sexuellökonomische Tauschbeziehungen. Damit einher geht eine Institutionskritik, die meistens von prekär beschäftigten Künstlerinnen und Künstlern formuliert wird.
sich international durchgesetzt hat […].« Elisabeth von Dücker: »Rückenansichten Sexwork«, in: Dies./Museum der Arbeit (Hg.): Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelten und Mythen. Bremen: Edition Temme 2005, S. 13f., hier S. 13. Die Hurenbewegung formierte sich in Deutschland erst in den 1980er Jahre. Vgl. Maya Czajka: »Huren in Bewegung«, in: Elisabeth Dücker/Museum der Arbeit (Hg.): Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelten und Mythen. Bremen: Edition Temme 2005, S. 206f. 23
Vgl. zu Aspekten der Darstellungskunst im Beruf der Sexarbeiterin/des Sexarbeiters: Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt, S. 177-192.
24
»Ultimately, the whore position may allow women a space for agency; performance is the strategy by which they expand that position to offer alternative narratives of female sexuality and experience.« Kirsten Pullen: Actresses and whores, S. 2.
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Ein besonders radikales und komplexes Beispiel solcher PerformanceArbeiten ist Andrea Frasers Projekt Untitled von 2003, eine Auftragsarbeit für einen privaten Sammler, die Frasers Galerie für sie arrangierte. Der Sammler musste einwilligen, mit Andrea Fraser Sex zu haben und dabei in einem Hotelzimmer gefilmt zu werden. Als Gegenleistung bekam der Sammler eine Kopie des Videos. Das dafür erhaltene Honorar teilte sich Andrea Fraser mit der Galerie. Als Werk stellte Andrea Fraser später die Videoaufnahme in 60 Minuten Länge in einer Kameraeinstellung ohne Ton aus der Perspektive einer Überwachungskamera aus. Wie es für die Performance-Arbeiten von Andrea Fraser charakteristisch ist, erzählt Untitled von den Beziehungen zur Marktökonomie des Kunstbetriebes und der ambivalenten Autonomie der Künstlerin. Fraser sagte in einem Interview, die Idee zu dem Projekt sei in der Zeit um 2000 entstanden. Damals habe sie die Beobachtung gemacht, dass Museen mehr und mehr zu kommerziellen Betrieben geworden seien. Zugleich hätte sie kaum noch Angebote bekommen. »Der erste Impuls war ein extremes Wörtlichnehmen der alten Metapher, Kunst zu verkaufen sei eine Art, sich zu prostituierten, des Künstlers/der Künstlerin als Prostituierter.«25 In ihrem Konzeptionsprozess sei die Faszination für »transgressive künstlerische Akte «26 hinzugekommen, die jedoch durch Institutionen determiniert würden. Statt der Befreiung durch »Kunst-Sex-als-Fantasie«27 interessierte sie »Kunst-Sex-als-Tauschhandel«28. Fraser selbst sieht in ihrer Arbeit nicht eindeutig den ökonomischen Tauschhandel von Sexualität thematisiert, für welchen die Prostitution als Metapher stehe, sondern die Transformation einer »ökonomischen Beziehung des Kaufens und Verkaufens von Kunst in eine absolut menschliche Beziehung«29. Der Privatsammler fungiert in Frasers Video-Performance nicht allein als Geldgeber, sondern schreibt sich mit seinem Körper als ihr Freier, als Performer, als Körper und als Objekt des Blicks in das Werk von Andrea Fraser ein. Der Sammler hinterlässt somit am künstlerischen Werk seine körperlichen Spuren, denn letztlich ›bezahlte‹ auch er mit seinem Körper für die Entstehung von
25
Yilmaz Dziewior: »Interview mit Andrea Fraser«, in: Ders. (Hg.): Andrea Fraser. Works. 1984 to 2003. Kunstverein in Hamburg. Köln: Dumont 2003, S. 78-90, hier S. 88.
26
Ebd.
27
Ebd.
28
Ebd.
29
Ebd., S. 89.
190 | DAS T HEATER DER P ROSTITUTION
Kunst. Vermittelt durch den Sex, verschmelzen »das System der kommerziellen Kunst und das System des kommerziellen Sex«30 miteinander und eröffnen neue Blicke auf die etablierten beruflichen Beziehungen: Die Künstlerin tritt als Sexarbeiterin dem Sammler gegenüber, der zu ihrem Freier wird. Der Galerist wird wiederum zum Zuhälter der Künstlerin. Die einfache und fast zynische Betrachtung der ökonomischen Beziehungen, in denen die Künstlerin agiert, wird zugleich konterkariert durch die gewöhnliche, nicht-pornografische Darstellung des Geschlechtsverkehrs im Video. All dies macht die Interpretation der Arbeit von Andrea Fraser mehrdeutig: Es geht um das sexuelle Begehren des Sammlers nach der Künstlerin und seine unmittelbare Konsumtion an ihr durch ihre Kunstwerke, um die Reichweite künstlerischer und sexueller Autonomie der Künstlerin sowie um die Kritik an der Selbstinstrumentalisierung im privaten Mäzenatentum.31 Die in den 1990er Jahren aufkommende Selbstreflexion und der Abgleich von künstlerischer Produktion und Sexarbeit haben ihre ästhetischen wie politischen Wurzeln in den Theaterexperimenten nach 1968. Insbesondere Künstlerinnen der feministischen Performance Art lehnten sich in den 1970er Jahren gegen die Zuschreibungen eines männlichen Blicks auf, der sie allzu oft auf den Status eines Körperobjekts reduzierte und eine Anerkennung weiblicher Künstlerschaft unmöglich machte. Dem widersetzten sie sich durch das explizite Ausstellen und Thematisieren des »(Wahrnehmungs-)Rahmen[s] […], der die Konstruktion des weiblichen Körpers als Bild bzw. als Objekt bestimmt«32. Die Entwicklung der künstlerischen Position der Performerin und die große Dominanz von Frauen im Feld der Performance Art stellten eine Reaktion auf die Vereinnahmung des weiblichen Körpers durch männliche Künstler wie Autoren, Maler oder Regisseure, den Austritt aus männlich dominierten Produktionsprozessen und eine Rückgewinnung weiblicher Autorschaft dar.33 Die Performerin tritt als Subjekt und Objekt, als Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin ihrer eigenen Kunst als eine Transgressionsfigur auf, die den der Schauspielerin zugeschriebenen
30
George Baker: »Frasers Form«, in: Yilmaz Dziewior (Hg.): Andrea Fraser. Works.
31
Vgl. Yilmaz Dziewior: »Interview mit Andrea Fraser«, S. 90.
32
Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössi-
1984 to 2003. Kunstverein in Hamburg. Köln: Dumont 2003, S. 19-49, hier S. 45.
scher Performance«, in: Bettina Bannasch/Stephanie Waldow (Hg.): Lust? Darstellungen von Sexualität in der Gegenwartskunst von Frauen. München [u.a.]: Fink 2008, S. 189-202, hier S. 190. 33
Vgl. ebd.
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weiblich konnotierten Objektstatus im Produktionsprozess und in der Aufführung destabilisiert und unterläuft. »A performer may be sexual, but she is not a stripper, she may act, but she is not an actress, she may be intellectual but she is not an academic, she may emply political analysis, but she is not a politician […]. By being both intellectual and erotic, she escapes categorisation into existing disciplines with their attendant pigeon-holing for women.«34
Die Performerin unterwandert dichotome Geschlechterklassifikationen (intellektuell versus erotisch) ebenso wie Berufszuschreibungen (Schauspielerin, Akademikerin, Politikerin), wenn sie sich in einer Performance präsentiert. Sie weiß um die sexuelle Arbeit, die sie mit ihrem Körper leistet, deshalb ist sie aber noch lange keine Stripperin. Shannon Bell hat dies in ihrer Arbeit über den prostitutiven Körper in der Performance Art als Hauptthema ausgemacht: »Womens’s performance art is deconstructive in an additional way: It is ›the discourse of the objectified other‹.«35 Die Objektivierung ›der Frau‹ als Sexualobjekt war zudem ein zentrales Thema der in den 1970er Jahren virulenten zweiten Frauenbewegung, deren Diskurse von den Performerinnen künstlerisch bearbeitet wurden. So kam es in einer Vielzahl von Performances, zum Beispiel von Marina Abramoviü, Valie Export oder Annie Sprinkle, zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung und Dekonstruktion der Weiblichkeitsdichotomie von Huren und Heiligen. Prostituierte und das sexuelle Geschäft stellten in der bildenden Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts ein häufiges Bildmotiv in den Arbeiten männlicher Künstler wie Degas, Manet, Toulouse-Lautrec, Renoir, Kirchner, Beckmann und Picasso36 dar. In der Performance-Kunst weiblicher Künstlerinnen in den 1970er Jahren ging es um die Einnahme einer feministischen Kritikposition und die Überschreibung des imaginierten Weiblichkeitsbildes der Prostituierten. Shannon Bell stellt in ihrem Buch Reading, Writing and Rewriting the Prostitutive body eine spezifische Form der Body Art vor, die sie als prostitutive Performance Art bezeichnet. Performance-Künstlerinnen wie Annie Sprinkle hatten
34
Catherine Elwes: »Floating Feminity: A Look at Performance Art by Woman«, S.
35
Shannon Bell: Reading, Writing & Rewriting the Prostitutive Body, S. 140.
36
Vgl. Anna Novakov: »Point of Excess: Marina Abramoviü’s 1975 Performance Role
174.
Exchange«, in: Woman’s Art Journal Vol. 24, No. 2, Autumn 2003-Winter 2004, S. 31-35, hier S. 31.
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berufliche Erfahrungen als Sexarbeiterinnen und nahmen aufgrund dessen eine feministische Kritik an der männlich dominierten Sexindustrie vor. Als Initialereignis prostitutiver Performance Art beschreibt Bell die Arbeit Deep Inside Porn Stars37, die 1984 im sogenannten Club 90 stattgefunden hat. Dies war laut Bell der Deckname für die private Wohnung von Annie Sprinkle, die sieben Pornodarstellerinnen eingeladen hatte, um von einem feministischen Standpunkt aus in Performances und Erzählungen ihre Arbeit in der Pornoindustrie vor einem Publikum zu reflektieren. Die Frauen führten ihre Kleidung als Pornodarstellerinnen vor, zogen ihre Alltagskleidung an, erzählten von ihrem Tagesablauf und ihren Kindern, ihrer Kindheit und ihrem Umgang mit ihrer Vagina, während Annie Sprinkle dem Publikum Tee servierte. Der Rahmen Performance-Kunst fungierte als eine Diskursplattform, um eine Arbeit an der Differenz von Heiliger und Hure vorzunehmen und Klischeebilder von Sexarbeiterinnen durch ihre alltäglichen Erzählungen vor Publikum zu dekonstruieren. »From their position as a pornographic body, prostitute performance artists displace, transcode, and overwrite the representation.«38 In der Zurückweisung einfacher Klassifikationen bestehe die Möglichkeit, Transgressionen zwischen dem heiligen und dem profanen Körper auszulösen. Zugleich verortet Bell Performance-Künstlerinnen der prostitutiven Performance Art als Sex-Positivistinnen, die durch ihre Performances zu einer Aufwertung weiblichen Begehrens beitragen wollten. Innerhalb des von Bell vorgestellten Kontextes prostitutiver PerformanceKunst wurde die Performance Post Porn Modernist (1991) von Annie Sprinkle besonders bekannt und besonders breit rezipiert.39 Hierin findet der Topos von Theater und Prostitution als Akt der Schaustellung eine konfrontative künstlerische Thematisierung, in der sich Sprinkle als »Subjekt ihrer Performance«40 und prostitutives Objekt des männlichen Blicks inszeniert. Während sie auf einem gynäkologischen Stuhl sitzt, lässt sie die Zuschauer und Zuschauerinnen mit einer Taschenlampe durch ein Spekulum auf ihren Muttermund schauen. Sprinkle inszeniert ihren Körper als prostitutiven, in welchen die Zuschauenden als Kunden und Kundinnen mittels ihres Blicks voyeuristisch ›eindringen‹ können. Dreysse hat aufgrund der angelegten Zentralperspektive des Blicks eine »struk-
37
Shannon Bell: Reading, Writing & Rewriting the Prostitutive Body, S. 143-147.
38
Ebd., S. 141.
39
Shannon Bell bespricht sie ebenfalls als exemplarische Arbeit prostitutiver Perfor-
40
Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössi-
mance-Kunst. Ebd., S. 147-154. scher Performance«, S. 191.
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turelle Ähnlichkeit mit dem voyeuristischen Dispositiv des Guckkastentheaters«41 beschrieben, das zugleich von Sprinkle durchkreuzt wird: »Die Inszenierung eines pornographischen Blicks in die Vagina legt die Konstruktionen des weiblichen Körpers im Wahrnehmungsrahmen des Illusionstheater offen, macht aber zugleich auch Theater als Spiel von An- und Abwesenheit, von Verhüllen und Enthüllen, Sehen und Gesehenwerden unmöglich.«42
Sprinkles Arbeit lotet sowohl die Grenzen der Schaulust als auch einer Ökonomie des Begehrens des Theaters aus, die an sie als darstellende Künstlerin, Pornodarstellerin und Sexarbeiterin herangetragen wird, indem sie ihre Vagina zum Schauplatz der Performance erhebt. Der voyeuristische Blick findet jedoch, wie Dreysse angemerkt hat, nicht mehr als eine »Leerstelle«43. Diese wird zwar immer wieder neu mit kulturellen Projektionen aufgeladen, gibt aber selbst nichts zu sehen. Gerade durch die Entblößung und Einsicht in den weiblichen genitalen Innenraum verweigert Sprinkle den visuellen begehrlichen Zugriff auf ihren Körper durch die Zuschauenden. Insofern stellt ihre Performance eine Arbeit an der Entmystifizierung des weiblichen Körpers als sexualisiertes Schauobjekt des Blicks dar, wie es für die feministische Performance-Kunst exemplarisch ist. Einen Rollentausch von Künstlerin und Prostituierter initiierte bereits Marina Abramoviü in ihrer frühen Performance Role Exchange (Amsterdam, 1975).44 Abramoviü suchte im Amsterdamer Rotlichtviertel nach einer Sexarbeiterin, die wie sie als Künstlerin bereits zehn Jahre in ihrem Beruf tätig sein sollte. Mit ihr tauschte Abramoviü dann den Platz. Die Sexarbeiterin Suze stellte sich bei der Eröffnung einer Ausstellung zwei Stunden lang in den Ausstellungsraum einer Amsterdamer Galerie, während Abramoviü sechs Stunden in Suzes Schaufenster im Rotlichtviertel verbrachte. Die zeitliche Differenz entstand dadurch, dass das Honorar der Galerie nur dem entsprach, was Suze für zwei Stunden Sexarbeit
41
Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössi-
42
Ebd., S. 193.
43
Ebd.
44
Film-Stills sowie ein Kommentar von Abramoviü zu ihrer Performance Role
scher Performance«, S. 191.
Exchange: siehe Link 13. In dem Kommentar beschreibt Abramoviü, dass sie in Amsterdam zum ersten Mal ein Rotlichtviertel betreten habe, welches sie aufgrund ihrer strengen Sozialisation schockierte. Aus dieser Angst heraus habe sie Role Exchange initiiert.
194 | DAS T HEATER DER P ROSTITUTION
verdiente.45 Beide Performances wurden dokumentiert. Daraus entstand eine Videoarbeit, die auf einem doppelten Bildschirm Suze und Abramoviü nebeneinander zeigt. Beide sind rauchend zu sehen, Suze trägt einen weißen Anzug mit schwarzer Bluse und blondierte Haare. Sie steht in einem White Cube, während Marina Abramoviü, ganz in Schwarz gekleidet, an einem geöffneten Fenster sitzt. Mit Role Exchange befragt Abramoviü, wie gesellschaftliche Räume – auf der einen Seite das Bordell, auf der anderen Seite die Kunstgalerie – weibliche Identität hervorbringen, erzeugen und reglementieren. Künstlerin wie Sexarbeiterin bewegen sich in männlich dominierten Feldern, die den Projektionen ihrer Kunden und Kundinnen ausgesetzt sind. Zugleich fungiert das Schaufenster als Schnittstelle zwischen einer männlich konnotierten Öffentlichkeit und einem weiblich konnotierten Innenraum. Das Schaufenster im Rotlichtviertel macht den Verkauf von Sexualität und das Begehren danach sichtbar. Die räumliche Verortung und Offenbarung des Rotlichtviertels als Schau- und Aktionsplatz prostitutiver Sexualität führen zu einer Verunsicherung und Überschreitung gesellschaftlicher und moralischer Grenzen.46 Damit einher geht eine Abwertung der im Feld agierenden Subjekte. Der White Cube des Ausstellungsraums hingegen wertet das Subjekt im Rahmen der Hochkultur auf. Abramoviü zeigt in Role Exchange auf, wie durch soziale Kontexte und Wahrnehmungsweisen das jeweilige Subjekt im Blick der Betrachtenden formiert und zugleich durch die Räumlichkeiten authentifiziert wird.47 Im Zuge dessen müssen beide, Künstlerin wie Sexarbeiterin, durch ihre Performance und Präsenz im Galerieraum oder im Schaufenster des Rotlichtviertels für den Verkauf ihrer Arbeit werben. Die sexuelle Arbeit, die beide – wenn auch in unterschiedlicher Weise – leisten müssen, erscheint als eine geteilte Erfah-
45
Vgl. Samantha Henman: »Reading Marina Abramoviü’s performance art as feminist act«, in: Concordia Undergraduate Journal of Art History, Volume VI. Siehe Link 12.
46
Löw und Ruhne haben anhand empirischer Befragungen zum Rotlichtviertel in Frankfurt a. M. herausgestellt, wie dieses von den Probanden als unsicher und beängstigend beschrieben wird und zu einer Ausgrenzung führt. Damit einher gehe eine zunehmende Verhäuslichung der Prostitution. Sie verlagere sich weg von der Straße in den Wohnungsinnenraum. Vgl. Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt, S. 116-121.
47
Vgl. eine ausführliche Beschreibung der Performance: Anna Novakov: »Point of Excess: Marina Abramoviü’s 1975 Performance Role Exchange«, S. 31-35.
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rung. Die mimetische Aneignung der Rolle der Sexarbeiterin durch Künstlerinnen stellt nicht nur eine politische Geste der Solidarität dar. Sie ist von der Faszination für ein zersplittertes Subjekt geprägt, das die Überschreitung von Geschlechtsidentitäten, von sozialen Räumen und Normen schon immer verkörpert und auch den Schmerz gesellschaftlicher Zuschreibung und Ausgrenzung gespürt hat. Es sind die Themen, die Künstlerinnen der Body Art in den 1970er Jahren in ihren Performances beschäftigt haben und durch die sich eine Nähe zur Figuration der Sexarbeiterin ergibt. Beatriz Preciado hat in ihrer poststrukturalistischen Sex-Utopie Kontrasexuelles Manifest Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen provokativ »MultimediaKörper-Performer«48 genannt, um die Vielfältigkeit (Multimedialität) ihrer Subjektivität und Sexualitäten als Vorbild für queere Subjekte anzuzeigen. Zugleich durchkreuzt sie die Diskussionen über die Grenzen von Performance-Kunst, Schauspiel und Sexarbeit, indem sie fordert: »[I]hre Rechte sollen denen von Künstlern und Schauspielern gleichwertig sein«49. Die Anerkennungskämpfe im Feld der Sexualität, die stets um die Konstitution und Stabilisierung von Geschlechterdifferenz zirkulieren, will Preciado durch eine »kontra-sexuelle Ökonomie«50 außer Kraft setzen. Dass sie dafür das Feld der Kunst wählt, macht zugleich deutlich, dass dieses einen Schwellenraum für experimentelle Arbeitsund Subjektentwürfe sowie alternative Ökonomiekonzepte darstellt, da durch die Konzeption von Kunst als Nicht-Arbeit Freiheit, Verschwendung, Selbstverwirklichung und Müßiggang51 verbunden wurden, die nicht permanent auf eine zielgerichtete Produktion ausgerichtet sind. Die Diskurse der Gendertheorie, die poststrukturalistische Hinterfragung des Subjektes und die Arbeiten der Performance Art nehmen Einfluss auf Themen und Ästhetik des experimentellen Gegenwartstheaters seit den 1990er Jahren und seine Bearbeitung des Prostitutionsdiskurses. Die Diskurse der Hurenbewegung und Gendertheorie hat insbesondere René Pollesch wiederholt in seinem Dis-
48
Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest. Berlin: b_books 2003, S. 32.
49
Ebd.
50
Ebd. S. 31.
51
Im Rahmen der Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts um den Künstler als Genie tauchen die genannten als Aspekte als Charakteristik des Künstlers als NichtArbeiter und gesellschaftlicher Außenseiter auf. Vgl. Annemarie Matzke: »Die Kunst, nicht zu arbeiten. Inszenierungen künstlerischer Praxis als Nicht-Arbeit bei Bertolt Brecht und Heiner Müller«, S. 160f.
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kurstheater aufgegriffen. In seinem Stück Sex nach Mae West52 bearbeitet er die Produktion von Emotionen als sexuelle Arbeit, die Schauspielerinnen, Hausfrauen und Sexarbeiterinnen gleichermaßen leisten müssten. Die feministische Autorin Elfriede Jelinek wiederum hat in ihrem Stück Über Tiere (2007) aus durch die Polizei abgehörten und aufgezeichneten Gesprächen zwischen Kunden und Vermittlern einer Wiener Sexagentur, die aufgrund eines Skandals um minderjährige Prostituierte von der Wiener Stadtzeitung Der Falter aufgedeckt wurden, einen fiktionalen Theatertext geformt.53 Er kontrastiert die Begierden und Liebesenttäuschungen einer alternden Frau im ersten Teil mit dem Mädchenhandel korrupter Zuhälter. Wie bei Jelinek bildete die Dokumentation heutiger Sexarbeit auch bei Annette Kuss‘ Inszenierung Freudendienste (2006) den Ausgangspunkt für eine theatrale Bearbeitung. Aus Interviews mit Sexarbeiterinnen und ihren Kunden im Berliner Freudenhaus Hase formte Kuss ein Stück, das sie von Schauspielerinnen als Site-specific-Arbeit am Originalschauplatz Bordell aufführen ließ.54 Eine Interviewrecherche mit verschiedenen Sexarbeiterinnen aus Deutschland war auch der Grundstein für die Uraufführung Rotlicht (2013) am Deutschen Theater Göttingen in der Regie von Julia Roesler und ihrer werkgruppe 2.55 Anders als bei Freudendienste wird die Feldforschung hier in den Raum des Theaters überführt: Die große Bühne wird in Rotlicht als voyeuristischer Schauplatz ausgestellt, indem die sechs Schauspielerinnen erst nach einem Telefonanruf durch einzelne Zuschauende56 die recherchierten Erfahrungsberichte als Dienstleistung auf Abruf preisgeben und in die Rollen von Sexarbeiterin-
52
René Pollesch: »Sex nach Mae West«, in: Theater heute 03/2002, S. 64-69.
53
Elfriede Jelinek: Drei Theaterstücke. Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Reinbek bei Hamburg: rororo 2009, S. 9-51. Die Uraufführung fand am 04.05.2007 am Burgtheater Wien statt. Regie führte Ruedi Häusermann.
54
Freudendienste. Hebbel am Ufer. Januar 2006. Regie: Annette Kuss.
55
Rotlicht von werkgruppe 2. Deutsches Theater Göttingen. April 2013. Regie: Julia
56
In der von mir besuchten Aufführung war auffällig, dass allein weibliche Zuschauer
Roesler. Musikalische Leitung: Insa Rudolph. zum Handy griffen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zuschreibungen an männliche Sexualität findet beim männlichen Publikum im Moment der Aufführung eine Selbstreflexion statt, ob sie als Freier oder Voyeure vom restlichen Publikum betrachtet werden könnten, wenn sie anrufen. Das macht das Spielangebot in Rotlicht für männliche Zuschauer riskant.
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nen schlüpfen. Durch diese Interaktion wird das Verhältnis von Schauspielerinnen und Publikum als das von Prostituierten und Kunden explizit gemacht. Die Suche nach der Authentizität von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern verfolgen jene künstlerischen Arbeiten, in denen diese als Experten des Alltags auf der Bühne stehen. In der Inszenierung Dream Dolls (2009)57 der Regisseurin Maria Magdalena Ludewig in der Bar Übel und Gefährlich auf St. Pauli agieren ausschließlich jüngere Frauen, die auch das Bild der Schauspielerin als Prostituierte befragen. Auffällig an dem Bürgerprojekt Pornoladen. Aus dem Unterleib der Stadt (2013)58 von Marc-Oliver Krampe am Schauspiel Essen ist hingegen, dass hier unterschiedliche Generationen und Berufe, die im weiten Feld der Sexarbeit in Essen agieren, gemeinsam auf der Bühne stehen und von ihren persönlichen Erfahrungen berichten: Pornodarsteller, Stricher, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, ein Arbeiter in einem Pornoladen, eine Sexualbegleiterin für Menschen mit Handicap, eine Aktivistin der Hurenbewegung und ihr Ehemann. Zwei Ensemblemitglieder des Theaters übernehmen in der Inszenierung die Repräsentation von Sinnlichkeit und Körperlichkeit von Sexarbeit durch performative Aktionen wie Striptease und Pole Dance. Sie arbeiten als Stellvertreter erotisch konnotierter sozialer Rollen und reihen sich so ebenfalls in den Cast ein, der eine Perspektive der Diversität auf das Thema Sexarbeit eröffnet. Das Interesse an der anderen Welt der Prostitution wird bei Jelineks Text Über Tiere als patriarchale Unterdrückungsgeste entlarvt, bei Polleschs Sex mit der Ökonomisierung der Subjektivität und der Gefühle im Kapitalismus gleichgesetzt, bei Ludewigs Dream Dolls als Zuschreibungen der Zuschauenden an die auf der Bühne agierenden Frauen dekonstruiert und von Krampe als soziale Arbeit in einer Stadt kartographiert. Während hier Prostitution zum Sujet wird und Theater den medialen Verhandlungsrahmen dafür zur Verfügung stellt, gibt es aber auch Performance-Künstlerinnen und -Künstler, welche die Zuschreibung der Prostitution an den eigenen Status als Künstlerin oder Künstler bzw. an die Aufführungssituation als solche richten und somit den Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater explizit machen. »Good evening. Let’s look at the starting situation. You bought a ticket. You entered the theatre, you were seated and the show begins, has begun, is beginning from the beginning;
57
Dream Dolls. Kampnagel Hamburg. Juni 2009. Regie: Maria Magdalena Ludewig.
58
Pornoladen. Aus dem Unterleib der Stadt. Schauspiel Essen. Mai 2013. Regie: Marc-Oliver Krampe.
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I am here and you are there. I’m selling something and you are buying something. I have something you wish to see.«59
Mit diesen Worten leitet die slowenische Theatergruppe Via Negativa ihre beim Transeuropa-Festival 2006 in Hildesheim gezeigte Performance Incasso (2004) ein und macht die Aufführung als erotisch-ökonomischen Tausch explizit. Im Erwerb des Tickets ist nicht nur das Verhältnis von Verkaufenden und Kaufenden bereits angelegt, sondern auch, dass die Performerinnen und Performer etwas besitzen und zeigen werden, was die Zuschauenden begehren. Die Gruppe Via Negativa nutzt in der Performance Incasso, die im Rahmen eines Zyklus zum Thema Todsünden die Geldgier behandelt, das eingezahlte Geld des Publikums als Spielmaterial ihrer Performance. Dabei zeigen sie, wie Geld Begehren schafft, und behandeln es selbst als Fetisch. Sie bringen es mit ihrem eigenen Körper und seinen Öffnungen in Berührung und stellen körperliche und persönliche Relationen zum Thema Geld her. Die beschmutzten, teilweise blutbeschmierten Geldscheine werden abschließend als ›Kunst‹ versteigert, um so auf den prostitutiven Rahmen der Aufführungssituation und »das strukturelle Zusammenspiel von Blick, Eros und Geld«60 aufmerksam zu machen. Bei Via Negativa wie auch in den im Folgenden besprochenen Performances von She She Pop und Jochen Roller zeigt sich der Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater in Gestalt von Verhandlungen über das Verhältnis von Ökonomie, Kunst, Arbeit und Sexualität. Dabei wird die Aufführungssituation als ein sexuell-ökonomisches Tauschverhältnis thematisiert und reflektiert. Anerkennungsprobleme der Künstlerschaft von Frauen und Männern und die Zersplitterung stabiler Subjektkonzepte des Künstlergenies wie auch von Geschlechteridentität im postfordistischen Zeitalter werden über die Projektion der Prostitution verhandelt. Die Hinterfragung des Wertes von Theaterarbeit, die Auseinandersetzung mit dem Künstler bzw. der Künstlerin als Rollenmodell für »das un-
59
Die einleitenden Worte zur Performance Incasso wurden im Ankündigungstext des Gastspiels beim Transeuropa-Festival veröffentlicht, siehe Link 14, sowie die Homepage von Via Negativa, siehe Link 15.
60
Eine ausführliche Analyse der Performance und ihrer Reflexion von Schauspiel als Prostitution: vgl. Franziska Schößler: »Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte«, in: Dies./Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld: transcript 2009, S. 106-108, hier S. 107.
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ternehmerische Selbst«61 sowie den vom »neuen Kapitalismus« geforderten flexiblen Menschen62 führen zu einer Hinterfragung von Schauspiel als Arbeit – und Prostitution.
T RUST ! VON S HE S HE P OP (1998) Trust! (Schließlich ist es Ihr Geld)63 ist eine der ersten professionellen Arbeiten des Performance-Kollektivs She She Pop, das sich 1993 am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gründet und zunächst nur aus Frauen besteht.64 Von Anfang an bestimmen eine kollektive, nicht-arbeitsteilige Produktionsweise, Strategien der Selbstdarstellung, Stückentwicklung als Konzeption von Spielstrukturen, Bezüge zur Popkultur und die Partizipation der Zuschauenden die Theaterästhetik von She She Pop. Die Biographie und jeweilige Lebensphase der einzelnen Performerin bzw. des einzelnen Performers wie auch der Gruppe schreiben sich stets in die Inszenierungen mit ein. Mit jeder Inszenierung steht auch das Kollektiv She She Pop neu auf dem Prüfstand: Wer sind wir als Gruppe? Und welche Utopien und Sorgen teilen wir? Während die mehrfach ausgezeichnete Inszenierung Testament (2010) den vorläufigen Höhepunkt der Erfolgsgeschichte von She She Pop darstellt; in der die Performenden zusammen mit ihren Vätern die Ambivalenz des Generationenvertrags als Tausch von Liebe und Geld verhandeln und eine erste Lebensbi-
61
Ulrich Böckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.
62
Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Ber-
63
An der Produktion beteiligt waren: Johanna Freiburg, Claude Jansen, Lisa Lucassen,
lin: Siedler 1998. Mieke Matzke, Katharina Oberlik, Ilia Papatheodorou, Anja von Steht und Berit Stumpf. Die Performance wurde gezeigt im April 1998 beim Festival Junge Hunde, Kampnagel Hamburg, sowie beim Festival reich & berühmt, Podewil Berlin, im Oktober 1998 im Rahmen der Retrospektive beim Festival diskurs in Gießen, im Mai 1999 im Rahmen der Woche der Arbeit, Neue Szene, Schauspielhaus Leipzig, und im September 1999 auf dem Festival Home & Away, Kulturprogramm der EXPO Hannover. Siehe Link 16. 64
Heute sind die ständigen Mitglieder von She She Pop: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf.
200 | DAS T HEATER DER P ROSTITUTION
lanz ziehen, steht die Performance Trust! von 1998 am Anfang der Arbeitsbiographie von She She Pop. Acht Performerinnen problematisieren in der Aufführung ironisch das prekäre Leben innerhalb der professionellen PerformanceGruppe She She Pop in der freien Szene: Als Performerinnen müssen sie sich und ihre Kunst mit jeder Aufführung wieder neu verkaufen.65 Das Setting: Tabledance in einer Spar- und Sammelshow Die Performance Trust! beginnt mit einer inszenierten Pressekonferenz: An einem Tisch sitzen vier Performerinnen von She She Pop, nur mit Unterwäsche bekleidet, und rufen den Notstand aus: She She Pop sei »bankrott«66 und stehe am »Abgrund«67. Seit Jahren arbeite die Gruppe an einem Konzept für ein Projekt mit dem Titel »Fremde Wesen«68, einem Familienprojekt, das nun erneut keine Festivaleinladung und Förderung erhalten habe. Möglicherweise sei das Projekt zu »komplex und persönlich für eine szenische Umsetzung«69 oder »vielleicht hätten sie auch nur zu weit auseinander gewohnt«70, konstatiert eine der Performerinnen. Stattdessen hätten sie ein »zwielichtiges Angebot«71 einer Kampnagel-Kuratorin ins Rahmenprogramm des Festivals Junge Hunde erhalten. Das Honorar betrage »einen lächerlichen Etat«72 von 1.000 bis 2.000 DM für alle, und sie müssten sich beraten, ob die Annahme dieser Einladung nicht ihrem Image schade und das endgültige Aus für die Gruppe bedeute. Die Performerinnen inszenieren sich mit betroffenen Blicken ins Publikum und bekleidet mit dem ›letzten Hemd‹ als Opfer einer undurchschaubaren Macht- und Marktökonomie. Im Prolog der Aufführung Trust! entwerfen She She Pop ein Krisenszenario des eigenen beruflichen Untergangs, in dem die
65
Vgl. Annemarie Matzke: »Warum tanzt ihr eigentlich? Choreographien bei She She Pop«, in: Friederike Lampert (Hg.): Choreographieren reflektieren. Münster: Lit 2010, S. 221-233, hier S. 224.
66
Die Analyse der Aufführung bezieht sich auf die Videodokumentation der Performance von 1998 beim Festival Junge Hunde auf Kampnagel Hamburg. Verweise auf den gesprochenen Text sind von der Aufnahme transkribiert.
67
Ebd.
68
Ebd.
69
Ebd.
70
Ebd.
71
Ebd.
72
Ebd.
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| 201
Gruppe aufgrund von Phasen »des auf der Stelle Tretens«73, miserablen Produktionsbedingungen in der freien Szene, mangelnden Geldern und eigenen Selbstzweifeln gelandet sei. Der Akt des Scheiterns wird jedoch als Impuls für eine feministische Selbstbehauptung inszeniert: Die Performerinnen verkünden ihre neue Strategie, nun als »Sexgöttinnen«74 tätig zu sein. Fortan würden sie die Zirkulation des Geldes und die Selbstvermarktung für ihre berufliche Zukunft selbst in die Hand nehmen. Die Selbstbetitelung als Sexgöttin repräsentiert das Bewusstsein der Performerinnen über ihre Einbindung in eine Ökonomie des Begehrens, deren Steuerung sie in der Aufführungssituation nun selbst übernehmen, indem sie die ökonomische Struktur der Prostitution adaptieren. Diese erweist sich insofern als Autonomieposition, da sie als ein direktes sexuellökonomisches Tauschverhältnis von körperlicher Leistung gegen Geld formiert wird, das nicht über dritte Instanzen wie beispielsweise eine Kuratorin vermittelt werden muss. She She Pop übertragen dieses Tauschsystem auf die Aufführungssituation und inszenieren es als bestimmende Spielstruktur und Referenzsystem von Trust!. »Lisa: Trust ist eine Spar- und Sammelshow. Heute Abend werden wir alle hier um Geld bitten und nicht immer nur die großen Firmen. Wir bieten unser Können in viele verschiedene Angebote zerlegt an. Sie müssen also jede Darbietung einzeln bezahlen. Auf diese Art können Sie mit Ihrem Geld und Ihrer Zustimmung direkten Einfluss nehmen auf unsere zukünftige Arbeit und künstlerische Weiterentwicklung. Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.«75
In vielen Inszenierungen von She She Pop wird der Spielrahmen dem Publikum zu Beginn der Aufführung durch eine Performerin vermittelt. Annemarie Matzke hat darauf hingewiesen, dass die Aufführung dadurch zweifach gerahmt wird: »Vom Spielrahmen ›Theater‹ und einem weiteren Rahmen, der innerhalb des Spiels Theater ein anders organisiertes Spiel konstituiert.«76 Die Doppelbödigkeit des Spielrahmens ist dem Publikum durch die kurze Vermittlung eingangs stets bewusst. Dies geschieht nicht allein, um die Spielregeln des Abends zu er-
73
Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival
74
Ebd.
Junge Hunde im April 1998. 75
Ebd.
76
Annemarie Matzke: Testen. Spielen. Tricksen. Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, S. 161.
202 | DAS T HEATER DER P ROSTITUTION
läutern und dem Publikum seine Mitspielrechte zu erklären. Vielmehr geht es in den Arbeiten von She She Pop grundsätzlich darum, das Verhältnis von Zuschauenden und Agierenden immer wieder neu zu disponieren und auszuloten.77 Damit ist eine Reflexion der theatralen Situation von Sehen und Gesehenwerden als solcher gemeint. Diese strukturiert She She Pop szenisch durch offene Raumkonzepte jenseits der Guckkastenbühne und die Konzeption der Zuschauenden als Mitspieler. In Trust! weisen die Performerinnen den Zuschauenden die Rolle der Geldgeber und Geldgeberinnen zu. Dies liefert eine Projektionsfläche für eine Bandbreite an ambivalenten Rollenzuweisungen von Gönnern und Gönnerinnen über Voyeure und Voyeurinnen sowie Konsumierenden bis hin zu Freiern, welche die Position der Zuschauenden im Theater schon immer projektiv betreffen. Einerseits werden die Zuschauenden im zitierten Prolog als Förderer angesprochen, denen die verantwortungsvolle Aufgabe zukommt, durch ihre Zustimmung die Zukunft von She She Pop finanziell zu sichern. Zugleich mag zwar der Begriff der Spar- und Sammelshow an eine »Benefiz-Gala«78 erinnern, doch in Trust! tut niemand etwas gratis. Die Zustimmung der Zuschauenden soll sich in klingender Münze äußern. Zweitrangig im vorgegebenen ökonomischen System werden damit immaterielle Reaktionen der Zuschauenden wie Applaus oder Lobeshymnen. Das Publikum wird zum Verhandlungspartner, was gezeigt und wofür gezahlt werden soll. Die Aufführung gerät zu einer »theatralen Vertragsverhandlung«79 zwischen zwei Gruppen, die unterschiedliche Kapitalien und Erwartungen in die Aufführung einbringen. Der Rahmen des Theaters, der in Trust! stets präsent ist, macht allen Anwesenden in der Aufführungssituation deutlich, dass bereits Rollenzuweisungen existieren: Die einen sind als arbeitende Darstellerinnen verantwortlich für die Show, die anderen sind die zahlenden Konsumentinnen und Konsumenten dieser Darstellungsleistung. Was also per se schon inhärent in der Schauordnung des
77
Vgl. zur Rolle des Zuschauers in den Arbeiten von She She Pop: Annemarie Matzke: »Enter the Game. The role of the spectator in the performances of She She Pop«, in: Performance Research, Volume 16, No. 3., September 2011, S. 117-120.
78
Ein Rezensent hat sie auch als solche beschrieben: »Die inszenierte Benefiz-Gala hangelt sich fortan von einem Spendenaufruf zum nächsten – bei diesem Tauschhandel auf dem Theater gibt es Show nur gegen Cash«. Christoph Bieber: »… und nun zu etwas anderem. Zwei Theaterabende mit showcase beat le mot und she she pop«: siehe Link 17.
79
Ankündigungstext von Trust!: siehe Link 16.
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Theaters als Rollendifferenz und ökonomisches Tauschverhältnis angelegt ist, machen She She Pop radikal sichtbar und treiben es auf die Spitze: »Wir zeigen – sie zahlen«80. Die Preisgabe des Körpers gegen das Geld weist damit eine strukturelle Ähnlichkeit zur Sexarbeit auf, insbesondere zur Spezifik des Tabledance, auf die sich She She Pop explizit in Trust! beziehen. Die sexuelle Dienstleistung, die meistens in Nachtclubs angeboten wird, offeriert erotisch animierende Tänze, teilweise mit Striptease für das Publikum. Die sexuellen Berührungsmöglichkeiten der Tänzer und Tänzerinnen durch die Zuschauenden sind dabei begrenzt. Nur wenn dem Tänzer oder der Tänzerin Geld zugesteckt wird, ist eine körperliche Berührung möglich. Der szenische Rückgriff auf die Cultural Performance81 des Tabledance ermöglicht »a set of rules and a vocabulary for performers and spectators«82. Räumlich, szenisch, imaginativ und ökonomisch liefert die Tabledance-Show das Setting für Trust!. Das Raumkonzept des Tabledance greifen She She Pop auf, indem das Publikum von Podesten umgeben ist, auf denen die Performerinnen in unmittelbarer Nähe agieren und tanzen. Der Blick unter den Rock ist dabei kaum zu vermeiden. Bereits die durch den Raum vorgegebene Ordnung der Blicke exponiert die Darstellerinnen als Schaustücke und die Zuschauenden als Voyeure und Voyeurinnen. Bereits durch die Verortung in einer Tabledance-Show werden die Zuschauenden nicht als Zeugen und Zeuginnen oder hochkulturelle Betrachter und Betrachterinnen gedacht, sondern als schaulustige Kundinnen und Kunden einer Spektakelkultur, für die She She Pop popkulturelle Angebote vom Striptease über Musicaleinlagen bis hin zur hässlichsten Performerin der Welt vorbereitet haben. Diese Angebote können und müssen gegen Geld von den Zuschauenden erworben werden. Nur so bekommen sie als Gegenleistung Theater zu sehen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn das Publikum nicht zahlt, bekommt es auch nichts zu sehen. Theater wird als eine käuflich zu erwerbende Ware präsentiert. Die Nummerndramaturgie des Abends, die in einer Angebotsliste für das Publikum sichtbar aushängt, erweist sich als eine ökonomische Spannungs- und
80
Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998.
81
She She Pop hat häufig Cultural Performances als szenischen Ausgangspunkt und Setting für ihre Inszenierungen gewählt, beispielsweise den Ball in Warum tanzt ihr nicht? oder die Sportveranstaltung in Rules.
82
Annemarie Matzke: »Enter the Game. The role of the spectator in the performances of She She Pop«, S. 120.
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Handlungskurve. Gleich dem Steigen oder Fallen einer Aktie bringen die einzelnen Angebote mehr oder weniger Geld, mehr oder weniger Aufmerksamkeit ein. Die ästhetische Wirkungskalkulation von Dramaturgie wird zu einer ökonomischen Berechnung. Dies zeigt sich besonders deutlich an dem Angebot »Tschechovs Drei Schwestern«, das für 10 Mark als Leseprobe inszeniert, für 12 Mark vorgespielt und für 15 Mark plus Requisiten und Frisuren zu erwerben ist. Die Preissteigerung macht deutlich, dass bei mehr Einsatz von Produktionsmitteln und Arbeitskraft auch mehr gezahlt werden muss. Damit wird die künstlerische Leistung der Performerin als Dienstleistung klassifiziert, weil die künstlerische Praxis als Form der Nicht-Arbeit von Inspiration, Verschwendung und künstlerischer Notwendigkeit zugunsten ökonomischer Effizienz außer Kraft gesetzt wird. Käufer der Leistung ist das Publikum, das allein durch seine Geldgabe konstitutiv zum Gelingen und Fortgang der Aufführung beiträgt. Zynisch und pragmatisch zugleich wird die »Feedback-Schleife«83 zwischen Zuschauenden und Performenden als offensichtlicher Geldfluss verbildlicht, indem die Münzen aus den Portemonnaies der Zuschauenden in die Sparbüchsen der Performerinnen wandern. Die Zuschauenden nehmen so direkten Einfluss auf die Aufführung und bewirken durch mehr Geld auch mehr Inspiration bei den Performerinnen, wie eine der Performerinnen in Trust! konstatiert. Diese ökonomische Situation ist wirklichkeitskonstituierend: Hier geht es nicht um ›Spielgeld‹, sondern um echtes Geld, das in einem Transaktionsprozess den Besitzer wechselt. So reflektiert die Gruppe in ihrer Performance ein Tabu im Theater: die Zirkulation von Geld. Die Zirkulation des Geldes »Darüber hinaus ließe sich von einer Nähe des Theaters zur Prostitution sprechen, denn der Kauf einer Eintrittskarte berechtigt zum voyeuristischen Blick auf exponierte Körper.«84 Die Kulturwissenschaftlerin Franziska Schößler macht deutlich, dass die Berechtigung des Schauens im Theater in der Regel durch den Tauschwert des Geldes erworben wird. So lohnt es sich den Stellenwert der Eintrittskarte und den Vorgang der Bezahlung noch genauer als Teil des ökonomischen Systems des Theaters zu be-
83
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 59.
84
Franziska Schößler: »Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte«, S. 93.
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trachten, das gerade nicht in den Verruf der Prostitution kommen will. Theater konsumieren darf, wer dafür bezahlt hat. Die anderen müssen draußen bleiben. Dass reale Körper, die möglicherweise beim Betrachtenden Begehren erzeugen, als Gegenleistung für dieses Geld angesehen werden können, bringt die Nähe des Theaters zur Prostitution hervor. Damit das Geld mit den agierenden Körpern gar nicht erst in Berührung kommt und die »dissimulierte erotischökonomische Blickkonstellation«85 als Assoziation zur Prostitution im Verborgenen der Erkenntnis und Erfahrung der Zuschauenden bleiben kann, wird die Bezahlung in den Außenraum des Foyers verlagert. Dort gibt man sein Geld deshalb auch an das Kassenpersonal ab und nie direkt an die Schauspielerinnen und Schauspieler. Für das eingezahlte Geld bekommt man dann die Eintrittskarte als Wertmarke. Das Geld ›infiziert‹ somit nicht die Theatersituation. Die Eintrittskarte lässt vergessen, dass ein ökonomischer Vertrag geschlossen wurde, sie alleine zeigt man am Eingang in den Theaterraum vor, nicht aber den 20-EuroSchein. Der Ausschluss des Geldes aus der Kunstsphäre des Theaters ist für dieses konstitutiv. Barbara Gronau und Jutta Wangemann, Kuratorinnen des Festivals Palast der Projekte 2008 am HAU, das sich explizit mit dem Verhältnis von Theater und Ökonomie auseinandersetzte, verweisen auf einen zusätzlichen Aspekt der Eintrittskarte: »In dem Moment, wo ich als Zuschauer eine Karte kaufe, werde ich Teil des ökonomischen Systems Theater. Ich vollziehe zum einen eine Geste des ökonomischen Tauschs, die besagt: Erfahrungen kann man kaufen. Zum anderen überschreite ich mit dem Ticket die symbolische Grenze zwischen Alltags- und Kunstwelt. Hier stellt sich immer die Frage, ob Künstler diesen Tauschakt eher verschleiern oder darauf Bezug nehmen.«86
Der ökonomische Tauschakt ermöglicht Erfahrungen, die man kaufen kann. Aber das Ticket symbolisiert, dass diese Erfahrungen keine alltäglichen sind, sie vollziehen sich in einer künstlichen Welt. Das Ticket setzt somit den symbolischen Schnitt zwischen Alltag und Theater, das Geld hingegen bleibt immer dem profanen Alltag und Wirtschaftsleben verhaftet. She She Pop unterlaufen in Trust! durch den spielerischen Einsatz des Geldes diese symbolische Grenze zwischen Leben und Kunst. Der Kauf des Tickets be-
85
Franziska Schößler: »Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Pa-
86
Barbara Gronau/Jutta Wangemann: »HEBBEL AM UFER: Was tun die ungleichen
last der Projekte«, S. 107. Brüder Theater und Wirtschaft miteinander?«. Siehe Link 18.
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rechtigt das Publikum zwar zum Eintritt in den Theaterraum, aber es bedarf größerer Investitionen, um tatsächlich theatrale Darbietungen geboten zu bekommen. Der am Abend mehrfach sichtbar vollzogene Tauschakt lässt die Grenze zwischen Kunst und Ökonomie kollabieren und macht deutlich, dass der Tauschakt, auch wenn er meist im Verborgenen bleibt, die Aufführungssituation immer mitbestimmt – in der Frage nach der Sichtbarkeit der Darstellung, nach dem Einsatz der Darstellenden und ihres Auftritts sowie nach der Zusammenkunft des Publikums. In entscheidender Weise authentifiziert das Geld die Performerinnen als Selbstdarstellerinnen ebenso wie ihre prekäre Lage als Gruppe. Das Geld reduziert den fiktionalen Schein der Theatersituation und schafft einen wirklichkeitskonstituierenden Rahmen des tatsächlichen Verkaufs. Die Transformation der Zuschauenden verläuft über die Leerung ihrer Geldbörsen und die Vermehrung auf dem Bankkonto von She She Pop, dem Erwerb einer Dienstleistung gegen die (erotische) Preisgabe des Körpers. Die Produzenten des Prostitutionsdiskurses um 1900 befürchteten eine kapitalistische Vereinnahmung der Schauspielerin durch einzelne Liebhaber. In Trust! treten She She Pop als Kollektiv von Frauen dem Kollektiv der Zuschauer und Zuschauerinnen entgegen, um die erotisch-ökonomische Machtsituation neu auszuhandeln. Anders als bei der Prostitution wird der initiierte Tausch nicht individuell, sondern kollektiv und genossenschaftlich vollzogen. Der oder die Einzelne zahlt nicht nur für sich, sondern immer auch für alle. Hierin steckt auch ein utopisches Moment wider die Staffelung von Eintrittspreisen im Theater: Die Gemeinschaft als Ganzes muss finanziell für den Theaterabend aufkommen. Wie der Applaus ist auch die Geldspende ein kollektives Moment der Beurteilung der vorgebrachten Leistungen und Angebote. Die Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters baut immer auf das Kollektiv, nie auf den Einzelnen oder die Einzelne, im Ensemble wie im Publikum, und verweigert sich damit kapitalistischen Eigentumsverhältnissen. Georg Simmel hat in seiner Philosophie des Geldes herausgestellt, dass das Geld im wirtschaftlichen Tausch eine Vermittlungsinstanz als allgemein akzeptiertes Äquivalent einnimmt. Der Tausch konstituiere als soziale Interaktion die Relation des Subjektes zum Objekt, »die wir, subjektiv, unser Begehren, objektiv, ihren Wert nennen.«87 Das Begehren am Anderen (Objekte, Dienstleistungen, Subjekte usw.) werde in den Wert des Geldes transformiert. Damit markiert Simmel eine zeitliche Differenz zwischen dem Begehren nach einem Objekt oder einer Dienstleistung, der Relation in Geld als ›neutrales‹ Tauschmittel und
87
Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Berlin: Duncker und Humblot 1958, S. 24.
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dem nachgehenden Genießen. Zwar stellt der Tausch eine Übertragung von Begehren in Wert und deren Bezahlung für das ersehnte Genießen durch Geld dar – Geld dient damit der Befriedigung des Begehrens des Subjektes –, doch damit objektiviert das Geld den begehrten Gegenstand zu einem abstrakten Wert und führt zu seiner Entpersonalisierung. So schreibt Simmel in Zur Psychologie des Geldes: »Darum ist es ganz richtig: in Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf; das Geld ist das absolut Objektive, an dem alles Persönliche endet.«88 In dem »Gefühl von der Unpersönlichkeit des Geldes«89 sieht Simmel auch den Grund, warum Prostituierte abgewertet werden bzw. sich selbst degradieren, wenn sie gegen Geld ihren Körper geben. In Trust! thematisieren She She Pop, dass die Zahlung des Geldes bzw. die Ökonomie im Theater stets durch das Begehren am Anderen hervorgerufen wird. In Simmels Sinne stellen sie die zeitliche Differenz von Begehren, Zahlen und Genießen zur Schau, indem sie zuerst das Angebot bewerben, also Begehren wecken, dann das Geld einsammeln und abschließend die Leistung liefern, welche die Zuschauenden dann konsumieren können. Begehren und Genießen werden als Movens des ökonomischen Tausches im Theater sichtbar gemacht. In Trust! übernimmt das Publikum den Blick und die Handlung des begehrenden Käufers, der durch das Geld die dargebotene Kunst wie die Performerinnen mit Wert bemisst und dadurch objektiviert. Die Performerinnen wiederum bezeichnen sich dabei selbst als Sexgöttinnen und Prostituierte. Mit diesem Sprechakt, der Sichtbarkeit des Geldes und der offensiven Darstellung des ökonomischen Tauschaktes weisen sie zugleich deutlich darauf hin, dass der Verkauf der Performerin, das Begehren nach ihr und ihrer Weiblichkeit, stets mitverhandelt wird.
88
Georg Simmel: »Zur Psychologie des Geldes (1889)«, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 267-281, hier S. 277.
89
»denn dies […] ist etwas so Persönliches, daß sie nur mit der gleichen Hingabe der ganzen Persönlichkeit äquivalent erwidert werden kann, am wenigsten aber durch denjenigen Wert, der von allen der unindividuellste, von dem specifischen Inhalt der Persönlichkeit entfernteste ist; so daß diejenige, die jenen dennoch für diesen hingibt, dadurch selbst die denkbar größte Herabsetzung des Wertes ihrer Person begeht und an den Tag legt.« Ebd., S. 279.
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Weiblichkeit als sexuelle Darstellungsleistung Die Performerinnen behaupten in Trust!, eine neue Vermarktungsstrategie für ihre Arbeit auszuprobieren, indem sie sich als »Sexgöttinnen«90 präsentieren. Damit stellen She She Pop die Frage, inwiefern die Performance von Weiblichkeit für die Steigerung des Marktwertes der Gruppe und eine »Ökonomie der Aufmerksamkeit«91 verantwortlich ist.92 Im Prostitutionsdiskurs in Bezug auf das Theater um 1900 wurde propagiert, mit der offensiven erotischen Inszenierung von Weiblichkeit durch die Darstellerin gehe eine Steigerung des Mehrwertes für das Theater bei gleichzeitiger Abwertung der Künstlerschaft und des Könnens der Darstellerin einher. Es ist zu untersuchen, wie She She Pop mit diesem Konnex szenisch und reflexiv umgehen. Im Gegensatz zum Prostitutionsdiskurs um 1900, in dem aus einer essentialistischen Perspektive die Identität der Schauspielerin und ihre Künstlerschaft stets auf ihren Genus zurückgeführt wurden, weisen She She Pop in ihren Arbeiten die (Geschlechts-)Identität der Performerin als theatral hergestellte Subjektivität93 aus – im Alltag wie auf der Bühne. Damit werden ihre Spielweisen und Konstruktion von Spielidentitäten vor dem Hintergrund eines poststrukturalistischen Subjektverständnisses im postdramatischen Theater lesbar.94 Weiblichkeit erscheint in Trust! als eine performativ hervorgebrachte sexuelle Darstellungsleistung jeder Performerin. Die im Bühnenspiel erzeugte und als weiblich markierte Identität jeder einzelnen Performerin ist dabei nicht an vor-
90
Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998.
91
Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: dtv 2007.
92
Die Gruppe selbst geht wie bereits bei der Namensgebung des Kollektivs offensiv mit der Zuschreibung und Vermarktung als weiblich konnotierte Gemeinschaft um. Es wäre ein eigener Diskurs, zu überprüfen, wie gerade in Zeitungskritiken wiederholt auf die Konstruktion als »Frauengruppe« z. B. als »Spice Girls des Theaters«, die She She Pop selbst entwickelt hat, zurückgegriffen wird und welche (teilweise abwertenden) Bedeutungen weiblicher Künstlerschaft damit einhergehen, wenn beispielsweise der Abschlusssatz eines Porträts lautet: »Sie sind das Theater, das sich in die Brüste wirft.« Daniele Muscionico: »Das Theater, das sich in die Brüste wirft«, NZZ vom 29.06.2003.
93
Vgl. Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, S. 95f.
94
Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater.
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gegebene theatrale Rollen gebunden, sondern wird aus einem Set medial und sozial überlieferter Posen, Handlungen und Erzählungen zusammengestellt und zur Aufführung gebracht. Die Performerinnen zeigen erotische Choreographien auf tischähnlichen Podesten. Sie heizen als Cheerleader das Kaufbegehren des Publikums an. Sie begeben sich in die klassischen Theaterrollen von Tschechovs Drei Schwestern, sie produzieren Emotionen durch Popsongs und Musicals, eine legt einen Striptease hin und eine gibt, mit einem Bademantel bekleidet, per Video Einblick in die Privatsphäre ihrer Küche. Das Zusammenstellen von Weiblichkeitsattributen zeigt sich besonders deutlich durch die Nummerndramaturgie. Die Angebote, die nicht kohärent aufeinander Bezug nehmen und die zwischen Posen, Selbstinszenierungen und parodistischem Rollenspiel changieren, erfordern eine jeweils andere Darstellung von Weiblichkeit durch die Performerinnen. So muss Johanna Oberlik sowohl die hässlichste Performerin der Welt spielen, indem sie sich die Haare vor dem Gesicht zusammenbindet, als auch in einem anderen Angebot strippen. Zudem stellen sich die Performerinnen zu Beginn der Aufführung ihr Kostüm für den Abend aus einem herumwandernden Altkleidersack zusammen: Die eine trägt ein Negligé, die nächste ein Etuikleid mit Wanderstiefeln, eine andere ein viel zu großes Fußballtrikot mit Rock. Geschlechtsidentität wird bei She She Pop im Sinne Judith Butlers als ein künstliches Konstrukt sichtbar, das prozessual und fragmentarisch durch die performativen Akte der Darstellerin hergestellt wird.95 Die prekär beschäftigte Performerin als Prostituierte Im Spektrum der thematisierten Weiblichkeitsbilder wird wiederkehrend in Trust! auf die darstellende Künstlerin als Prostituierte verwiesen. Die Aneignung der »Whore-Position«96 erfolgt dabei vor allem über den sprachlich vermittelten Akt, indem in Erzählungen ironisch mit den imaginären Zuschreibungen an die Darstellerin als Prostituierte gespielt wird. Die Gruppe greift hierbei auf sexuelle Klischees von Theaterarbeit zurück, in denen wie um 1900 die Darstellerin auf vorwiegend männliche Gönner angewiesen ist, welche ihr materielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Ausgerechnet die Diskussion über das schlecht sitzende Kostüm, für das keine Sponsoren gefunden wurden und das nun aus dem priva-
95
Auf diesen Aspekt in den Arbeiten von She She Pop hat auch Miriam Dreysse hingewiesen: Vgl. Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössischer Performance«, S. 193.
96
Kirsten Pullen: Actresses and whores, S. 2.
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ten Kleiderschrank stammt, wird in Trust! zum Auslöser für die Wuttirade einer Performerin über die Prostitution. »Johanna:
Wir mussten jedes Mal, um überhaupt eine Auftrittsmöglichkeit zu bekommen, […] mit jemandem ins Bett gehen.
Ilia:
Ich mach‘ das normalerweise auch nicht. Okay, manchmal sehen die Leute ganz gut aus […].
Johanna:
Und dann haben wir auch keine Technik. Und dann müssen wir mit den ganzen Technikern ins Bett gehen, um überhaupt eine Grundausstattung zu bekommen. Täglich müssen wir uns prostituieren, um überhaupt einen Probeschlüssel zu bekommen!«97
›Ins Bett gehen‹ mit Freiern sowie Technikern oder an anderer Stelle mit einem »Kurdirektor aus St. Peter-Ording«98 steht als Bild für die Schwierigkeit einer Theatergruppe in der freien Szene, die keine institutionellen Ressourcen hat und sich permanent verkaufen muss, um überhaupt Theater machen zu können. Der Prostitutionsdiskurs in Trust! parodiert die Marktökonomie des Theaters. Gerade über die humorvolle Überzeichnung unterläuft die Inszenierung die um 1900 immer wieder beschworene Naturalisierung der Schauspielerin als Prostituierte. She She Pop führen das Bild der sich prostituierenden Darstellerin als imaginierte Weiblichkeit und Projektionsfläche vor, um darüber paradoxerweise als prekär beschäftige Performerinnen authentisch zu erscheinen. Insofern stellt die Anrufung der Prostituierten eine Metapher dar, die ästhetische und soziale Distanz herstellt, wodurch die miserablen Produktionsbedingungen am Theater im eigenen Betriebssystem spielerisch kritisiert werden können. Das Rendezvous im Schrank: Über die intime Begegnung mit dem Zuschauenden als Freier Nicht nur der Sprechakt verweist auf den Prostitutionsdiskurs, auch hat ein szenisches Angebot explizit strukturelle Ähnlichkeit zur Prostitution als sexuellökonomische Performance, in welcher der »Warencharakter des weiblichen
97
Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998.
98
Ebd.
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Körpers in der patriarchalisch geprägten Dienstleistungsgesellschaft«99 ausgestellt wird: Die Performerinnen haben Nummernschilder in der Hand und werden als »Beauty-She, Blondy-She, Su-She, Sporty-She, Bitch-She und RittShe«100 angekündigt. Diese Namen erinnern an Spitznamen von Sexarbeiterinnen und eröffnen zugleich sexuelle Projektionen auf die Performerinnen. Es wird angepriesen, dass diese nun ganz »privat und intim«101 zu kaufen seien, »weg von der Rolle, hin zur Privatperson«102. So wird mit einem möglichen Voyeurismus des Publikums gespielt, hinter die Maskerade der Darstellerin blicken zu wollen und zu können. Die propagierte Sichtbarkeit der Privatperson der Darstellerin, die angeblich den Inszenierungsrahmen und damit die ästhetische Distanz aufgibt, wird in den Rahmen des Prostitutionsdiskurses in Bezug auf das Theater gestellt. Für fünf DM könne ein Zuschauer oder eine Zuschauerin eine »Dame ihrer Wahl«103 kaufen, um mit ihr persönlich in einen für das Publikum nicht einsehbaren engen Schrank zu gehen. Dadurch wird eine Paarsituation geschaffen, die sich aus der theatralen Begehrensökonomie herauslöst. Denn sie richtet sich explizit auf ein intimes Verhältnis zwischen Darstellerin/Darsteller und Kundin/Kunde, das nicht mehr als kollektives Moment geteilt und konsumiert werden kann. Das Angebot löst sich zudem explizit aus einer heterosexuellen Begehrensstruktur, wie sie im Prostitutionsdiskurs um 1900 als einziges sexuelles Begehren in der Theatersituation konstruiert wurde. Hier ist das Angebot für alle Geschlechter zu kaufen und entwirft somit alle Zuschauenden als potenzielle Kundinnen und Kunden. Der Schrank verweist zudem auf die Phrase »to be in the closet« und stellt eine Metapher für nicht offenbarte Sexualität dar, die erst durch ein »coming out of the closet« öffentlich gemacht wird. She She Pop thematisiert damit nicht den Kontext der Homosexualität, der Schrank stellt eine Metapher für den nicht offenbarten Voyeurismus der Zuschauenden dar. Doch nur wer sich ›outet‹ und Geld gibt, kann den inszenierten Ort des Begehrens betreten. Die Person wird zugleich selbst zum Objekt der Schaulust der anderen Zuschauerinnen und Zuschauer.
99
Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössischer Performance«, S. 195.
100 Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998. 101 Mitschrift der Videodokumentation von Trust!, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998. 102 Ebd. 103 Ebd.
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Das »coming out« des Zuschauenden als Kunden führt bei She She Pop zu einem ›coming in‹. Anders als im System der Prostitution gibt es in der Aufführungssituation von Trust! keine Anonymität für den Kunden/die Kundin beim Kauf des Angebots. Für einen Großteil des Publikums erhält der Schrank die Funktion eines Vorhangs104, wodurch die private Begegnung der Sichtbarkeit entzogen wird. Zugleich erhöht die Nichtsichtbarkeit des Geschehens im Schrank die Projektion des außen vor sitzenden Publikums. Die Exklusivität des Angebots führt zu einer Steigerung des Begehrens: Im öffentlichen Theaterraum wird durch den Schrank ein zweiter intimer Raum inszeniert, der auf das Bordell verweist – eine Heterotopie in der Heterotopie105. Dieser erzeugt in der Imagination bzw. Partizipation des Zuschauenden eine andere Welt mit neuen Spielregeln und Erwartungen. Für den Kunden und die Kundin markiert der Schrank die Schwelle zum »Rollenwechsel«106: Sie werden zu Mitagierenden. In besonderer Weise macht der Rollenwechsel die Aufführungssituation als soziales Ereignis erfahrbar: Die Kundin oder der Kunde wird für alle deutlich sichtbar und begibt sich in eine Situation, in der die Spielregeln mit der Performerin neu bestimmt werden müssen und Machtverhältnisse auf der Probe stehen. Miriam Dreysse verweist hinsichtlich dieser Aktion auf den Einbruch stabiler Subjekt-Objekt-Beziehungen zwischen Akteurin und Zuschauer bzw. Zuschauerin: »Die Öffentlichkeit der Theatersituation wird verwandelt in eine Situation höchster Intimität, auf engstem Raum ist man mit dem Körper des bzw. der Anderen – und so auch mit dem eigenen – konfrontiert und zugleich mit der Frage, welche Rolle man selbst denn nun spielen soll. Der Zuschauer wird so auch immer wieder auf seine eigene Rolle im den
104 Vgl. zum Motiv des Vorhangs Kapitel 2, »Der Vorhang als Projektionsschirm des Begehrens«. 105 Vgl. hierzu Kapitel 2 Illusionsheterotopie. Foucault hat es als Charakteristikum der Heterotopie des Theaters markiert, dass auf der Spielfläche der Bühne einander widersprüchliche Räume entworfen werden können. Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«, S. 42. 106 Erika Fischer-Lichte hat in Ästhetik des Performativen deutlich gemacht, dass beim Rollenwechsel in besonderer Weise die Aufführung als »soziales Ereignis« erfahrbar wird: »In ihr geht es, wie verborgen auch immer, um die Aushandlung oder Festlegung von Positionen und Beziehungen und damit um Machtverhältnisse. In der Aufführung sind Ästhetisches und Soziales bzw. Politisches untrennbar miteinander verknüpft.« Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 68.
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Spiel des Sehens und Gesehens-Werdens, des Kaufens und Verkaufens verwiesen, die Subjekt- und Objektpositionen werden durcheinander gewürfelt, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, von Selbst und Anderem in die Schwebe gebracht.«107
Die sich aus dem Kollektiv herauslösenden Zuschauenden befinden sich nach der Beschreibung von Dreysse nicht in einer souveränen Position, wie es die in der Aktion angelegte Zuschreibung als ›Freier‹ vermuten ließe. Viel mehr ruft die Situation, mit einer Performerin in einem engen Schrank zu sitzen, Verunsicherung und Scham hervor. In besonderer Weise zeigt die Performance, dass das Verhältnis von Performerin und Zuschauer oder Zuschauerin (wie im Umkehrschluss auch das von Sexarbeiterin und Freier) nicht als stabiles Subjekt-ObjektVerhältnis zu charakterisieren ist, auch dann nicht, wenn mittels Geld bestimmt wurde, wer den Warencharakter innehat. Auch die Zuschauerin oder der Zuschauer wird mit Erwartungen konfrontiert und als Andere oder Anderer objektiviert, in diesem Fall sowohl vom Kollektiv der Zuschauenden als auch von den Performerinnen. Gerade der initiierte Moment von Nähe und möglicher Berührung mit der Performerin ruft eine oszillierende Zuschauererfahrung hervor, in der es gerade keine Gewissheiten über sexuelle Machtverhältnisse in der Aufführungssituation mehr gibt, weil die jeweiligen Zuschauenden ihre stabile Position als Betrachtende aufgegeben haben. Die Performerin hingegen ist den Zuschauenden insofern überlegen, da sie durch die Konzeption der Aktion ein Vorwissen hat. Die Verunsicherung der SubjektObjekt-Relation zwischen Zuschauenden und Performerin lässt damit auch das Verhältnis von Freier und Prostituierter überdenken: Insofern man in der Prostitution nicht ohnehin ein Unterdrückungsverhältnis sieht, gibt es keinen sicheren Genderfokus der Analyse mehr: Gibt die Prostituierte ihre Subjektivität durch den Akt der Prostitution auf oder erlangt sie gerade durch diesen Macht, Autonomie und Ökonomie? Insofern lässt sich für die Performerin in Trust! konstatieren, dass sie sich gerade durch die direkte Interaktion aus der Projektion als Andere des (männlichen) Blicks befreien bzw. diesen problematisieren kann. Wider die Objektivierung durch den voyeuristischen Blick In einem Interview mit der Zeitschrift Theater heute zum Thema Frauen am Theater hat die Performerin Ilia Papatheodorou die Objektivierung von Darstel-
107 Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössischer Performance«, S. 195.
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lerinnen und ihrer Attraktivität durch den Zuschauerblick als grundlegendes Darstellungsproblem beschrieben. »Eine erste Erfahrung war, als Frauen auf der Bühne zu stehen und diesem voyeuristischen Blick ausgeliefert zu sein. Da haben wir angefangen, das Licht im Zuschauerraum anzumachen, den Blick zurückzuwerfen und den Leuten direkt zu begegnen: Ich weiß, dass du mich anschaust. Heute würde ich sagen: Das ganze Interaktionsthema war immer sehr stark mit dem Frauenthema verbunden. Diese Unschuld aufzubrechen, die dem Zuschauer im Dunkeln gewährt wird, und die Frage nach der Herrschaft über den Blick aufzuwerfen, war ein wesentlicher Impuls unserer Arbeit.«108
Der von Papatheodorou aus den eigenen Darstellungserfahrungen beschriebene voyeuristische Blick, welcher die Darstellerin als käufliches Objekt betrifft, ist ein zentrales Thema der Diskursgeschichte der Prostitution in Bezug auf das Theater. Doch lässt sich sowohl an Papatheodorous Aussage als auch an Trust! ein Paradigmenwechsel im Umgang mit diesem voyeuristischen Blick beschreiben: Die erotisch-ökonomische Blickkonstellation der Aufführungssituation wird durch das Raum- und Spielkonzept einer Tabledance-Show, die sichtbare Zirkulation des Geldes und die selbstreflexive Darstellungsweise der Performerinnen offensiv gezeigt. Die Produzenten des Prostitutionsdiskurses um 1900 wollten stets verhindern, dass die Schauspielerin das Wissen um ihr Angeschautwerden und ihre potenzielle Käuflichkeit in der Aufführungssituation ausstellt. Tat sie dies offensiv, wurde sie als Prostituierte beschimpft. Die Ökonomie des Begehrens im Theater der Geschlechterpolarität sollte störungsfrei verlaufen, genossen, aber keinesfalls zum Thema der Aufführung gemacht werden. Wer dies tat, wer die Aufführung als sexuelle Verkaufssituation für sich nutze, wurde wie Zolas Nana oder die Theaterprinzessinnen als Theaternutten beschimpft. Was die Kulturgeschichte der Schauspielerin als sexuelle Projektion immer betraf und noch heute betrifft, eignen sich She She Pop in der Selbstbenennung als Sexgöttinnen/Prostituierte an, um darüber die Betrachtung von Darstellerinnen als verkäufliche Subjekte zu hinterfragen. Insofern kann das Ausstellen sexueller Arbeit als feministischer Akt gelesen werden. Die Performerinnen von She She Pop (wie auch Sexarbeite-
108 Eva Berendt/Barbara Burckhardt/Franz Wille: »Einzelkämpferinnen an zwei Fronten. Ein Gespräch unter Frauen und Müttern: Amélie Niermeyer, Intendantin in Düsseldorf, Friederike Heller, Regisseurin, Ilia Papatheodorou, Performancekünstlerin, und Kathrin Röggla, Autorin«, in: Theater heute 03/2011, S. 4-14, hier S. 6.
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rinnen) wissen sich das Zusammenspiel von Begehren an Weiblichkeit und Nachfrage durch eine hegemoniale Gesellschaft in der Aufführungssituation zunutze zu machen109. Sowohl mit dem Setting des Tabledance als auch mit der Aussage, »sich zu prostituieren«, stellen She She Pop die Verdinglichung ihrer weiblichen Körper im Theater als sexuelle Konsumtion gegen Geld aus. Dieses Begehren zerlegt in einzelne Angebote anzubieten, die jeweils vom Publikum bezahlt werden müssen, stellt eine widerständige Geste dar, um der Objektivierung im männlichen Blick durch Ironie entgegenzuwirken. She She Pop reflektieren die Markt- und Blickökonomie, können sie aber letztlich auch nicht außer Kraft setzen, wie Performerin Ilia Papatheodorou selbst konstatiert: »Das Schlimme ist, du kannst als darstellende Künstlerin auf der Bühne zwar laut darüber reflektieren, aber du steckst trotzdem in dem Mechanismus drin, musst attraktiv sein, also verkäuflich.«110 Störungspotenziale eines erotisch-ökonomischen Begehrens in der Aufführung She She Pop machen in Trust! deutlich, dass im Theater – in einem diskursiv geprägten hegemonialen Raum, in dem spezifische geschlechtliche Erwartungen und Projektionen an die Künstlerinnen gerichtet werden – die Selbstbestimmung der darstellenden Künstlerin über sich und ihre Darstellung von Weiblichkeit reguliert wird. Diese Erwartungen und Projektionen entlarven She She Pop parodistisch: die Herstellung von Emotionen (Musical), von Intimität (Rendezvous
109 Im Rahmen der feministischen Diskussion um Prostitution in den 1970er Jahren wird dies als potenzielles »emanzipatorisches Moment« benannt: Indem die Prostituierte Geld für sexuelle Handlungen nehme, ließe sie sich gerade nicht wie in einer Ehe ausbeuten, sondern bestimme selbst die Bedingungen, enthülle Sexualität als Arbeit und erhalte durch den Gelderwerb Autonomie und Macht. Denn die Prostituierte ziehe so Gewinn aus dem patriarchalen System, welches Frauen auf ihre Sexualität und Objektsein reduziere. »Sie werde dadurch zu einer Art Avantgarde der Frauenbewegung«, fasst Schmackpfeffer zusammen. Petra Schmackpfeffer: Frauenbewegung und Prostitution. Über das Verhältnis der alten und neuen deutschen Frauenbewegung zur Prostitution. Oldenburg: Universität Oldenburg 1989, S. 142. 110 Eva Berendt/Barbara Burckhardt/Franz Wille: »Einzelkämpferinnen an zwei Fronten. Ein Gespräch unter Frauen und Müttern: Amélie Niermeyer, Intendantin in Düsseldorf, Friederike Heller, Regisseurin, Ilia Papatheodorou, Performancekünstlerin, und Kathrin Röggla, Autorin«, S. 7.
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im Schrank) und von Nacktheit/Erotik (Striptease/Tabledance). Denn die Angebotsliste bildet das Begehren nach der darstellenden Künstlerin ab; nach dem, was mit ihr seit Jahrhunderten aufgrund ihres Geschlechts in Verbindung gebracht wird. Paradigmatisch für den Umgang mit dem aufgerufenen Prostitutionsdiskurs ist, dass Verhandlungen und Reflexionen über ihn über »Vorstellungen von Kunst und Konzepte des Künstlerseins«111 geführt werden. »Selbstoffenbarung, das Präsentieren des eigenen Körpers vor anderen, wird als alltägliches Geschäft des darstellenden Künstlers ausgestellt: ein permanentes Casting der SelbstInszenierungskompetenz. Gefragt wird, was den Performer, der seinen Körper im Tanz ausstellt und dafür Geld bekommt, von dem eines Gogo-Tänzers oder anderen Körpern, die man buchen kann, unterscheidet. Verwiesen werden damit auch auf die politische Dimensionen einer solchen Selbst-Präsentation: als Frage nach Sichtbarkeit und Geld und damit nach Macht. Die inszenierte table dance show als Choreographie der künstlerischen Markt-Ökonomie.«112
Annemarie Matzke weist damit über die Genderthematik hinaus: Für darstellende Künstler und Künstlerinnen, die im Rahmen eines Theaters der Selbstdarstellung agieren, gehöre es zum Geschäft, sowohl ihren Körper als auch ihre Selbstinszenierungskompetenz auf die Probe und unter Beweis zu stellen. Die Selbstoffenbarung kann durchaus zu schambesetzter Entblößung in der Wahrnehmung der Zuschauenden führen. In der Debatte um die Lulu-Inszenierung von Volker Lösch beispielsweise wurde in einem Kommentar die These aufgestellt, dass der Schauspieler, der kein anderes Produkt, etwa eine dramatische Figur, hervorbringe, sondern nur sich selbst, eine Prostituierte sei.113 Und auch bei Grotowski geriet jener Schauspieler unter den Verdacht der Prostitution, der nichts anderes als die Masken seines Selbst zeigte, statt sie abzulegen. Haben also Gogo-Tänzerin und Performerin gemeinsam, dass sie ausschließlich sich selbst im Akt der Darstellung vor Kundinnen und Kunden hervorbringen? Und bestimmt sich danach ihr Wert? An dem Kommentar in der Lulu-Debatte wird deutlich, dass innerhalb dieser Diskussion der Leistung eines Schauspielers, der sich in eine dramatische Figur verwandelt, mehr künstlerischer Wert zu gesprochen wurde als der Selbstdarstellungskompetenz einer Performerin.
111 Annemarie Matzke: »Warum tanzt ihr eigentlich? Choreographien bei She She Pop«, S. 224. 112 Ebd. 113 46. Kommentar von chor , 15.12.2010 – 13:40 Uhr. Siehe Link 02.
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Sexarbeiterinnen haben mit Performerinnen gemeinsam, dass sie sich »als Äußerungs- und Inszenierungsinstanz […] als ein Anderer gegenüber[stehen].«114 Diese theatrale Subjektivität dient dem Schutz ihrer Privatperson und ihrer Privatsphäre. Für die Performerin stellt die Gestaltung ihres Selbst als eine Andere den künstlerischen Akt auf einer Bühne der Selbstinszenierung dar. Damit stehen Performerinnen und Sexarbeiterinnen in ihrer Tätigkeit vor ähnlichen Darstellungsaufgaben, die sie im schauspieltheoretischen Sinne jedoch unterschiedlich zu lösen haben. An Löws und Ruhnes zusammenfassenden Ausführungen über die Darstellungskompetenz von Sexarbeiterinnen lässt sich die Differenz einer Darstellungsleistung als Teil einer Dienstleistung der Sexarbeiterin im Gegensatz zur künstlerischen Arbeit einer Performerin genauer bestimmen. Die Prostituierten müssten das Begehren nach den Freiern glaubhaft verkörpern, da sie aufgrund des Interesses an Gelderwerb statt Lustgewinn bei ihren Kunden unter Täuschungsverdacht stünden.115 »Was von Prostituierten erwartet wird, ist, dass sie eine Inszenierung präsentieren, daß heißt eine intentionale szenische Darstellung, die auf die sinnliche Wahrnehmung des konsumierenden Kunden zielt und die dabei den Freier in einer Weise adressiert, dass die Darstellung nicht als Inszenierung wahrgenommen wird […]. Wie Schauspieler im Theater, denen man allerdings die Inszenierung anmerken darf, müssen Sexarbeiterinnen dazu ihren Körper einsetzen und ihren Raum gestalten. Ihre Aufgabe besteht in der performativen Hervorbringung eines Kontextes, der Lust nicht behindert, sondern fördert.«116
Aus schauspieltheoretischer Sicht lässt sich die erforderte Darstellungsleistung der Sexarbeiterin als psychologisches Schauspiel beschreiben, in dem die Sexarbeiterin Raum, Atmosphäre und Kostüm kohärent zu ihrer Figurendarstellung gestaltet. Glaubwürdigkeit entstehe dann, wenn die Lust des Kunden durch die Figurendarstellung befördert werde, der theatrale Rahmen als solcher aber nicht sichtbar hervortrete. Damit wird die Darstellung der Sexarbeiterin zum notwendigen Gestaltungsmittel für eine gut zu konsumierende Dienstleistung sexueller Lust.
114 Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, S. 90. 115 Vgl. Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt, S. 185. 116 Ebd., S. 184f.
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Anders als bei Sexarbeiterinnen oder Gogo-Tänzerinnen stellen die Darstellungen der Performerinnen von She She Pop keine leicht zu konsumierende Ware dar, auch wenn sie als solche inszeniert werden. Die Performerinnen präsentieren sich im Sinne Brechts als Angestellte des Theaters, die den Inszenierungsrahmen und ihre Einbindung in eine Marktökonomie in der Performance ausstellen und reflektieren. Zwar regen sie das Begehren des Publikums immer wieder durch erotisch konnotierte Tänze an, um zu Geldspenden aufzufordern. Doch geht es hierbei vielmehr darum, eine in der Aufführungssituation zirkulierende Ökonomie des Begehrens sichtbar zu machen und sie durch inszenierte Störungen, Scham117 und Verfremdungseffekte zu unterlaufen. Das Kostümbild orientiert sich nicht an modischen Trends oder Regeln. Die Wanderschuhe etwa passen nicht zum Etuikleid, und das Fußballtrikot ist viel zu groß. Die Striptease-Performance wird weder mit erotischer Musik unterlegt, noch erhält sie einen szenischen Fokus. Der Gang in den Schrank mit einer Performerin bringt wahrscheinlich vielmehr Scham und Unsicherheit denn eine lustvolle Begegnung für den Zuschauenden hervor.118 Und auch die partizipative Einbindung des Publikums als Spendengemeinschaft in das Aufführungsgeschehen unterwandert Dichotomien stabiler Subjekt-Objekt-Verhältnisse erotischökonomischen Begehrens und macht so die ökonomisch-rezeptive Doppelheit der Zuschauenden deutlich. Die Inszenierung des Publikums als ökonomische Spendengemeinschaft hebt den kollektiven Moment einer Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters hervor. In der Auseinandersetzung und vor den Augen einer Gemeinschaft wird das erotisch-ökonomische Begehren des oder der Einzelnen, das stets ein erotischer Mangel bleibt, mit den Reaktionen der anderen Zuschauenden, welche die Aufführung mitgestalten und regulieren, abgeglichen. Was also bei einem Gogo-Tänzer oder einer Sexarbeiterin in der Wahrnehmung der Kundinnen und Kunden als ›schlechte‹ Dienstleistung bewertet werden würde, also den lustvollen Konsum zu stören und zu reflektieren, erweist sich als subversives Potenzial der künstlerischen Selbstinszenierung von Performerinnen sowie als Kritik an erotisch-ökonomischen Machtverhältnissen.
117 Zur Erfahrung von Scham in den Arbeiten von She She Pop, über die in besonderer Weise das »Verhältnis von Subjekt und Anderem, Sehen und Gesehen-Werden verhandelt« wird: Miriam Dreysse: »Entblößungen. Zu Darstellungen von Weiblichkeit in zeitgenössischer Performance«, S. 200. 118 Vgl. ebd., S. 195.
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A RT G IGOLO VON J OCHEN R OLLER (2003) Wie bei She She Pop stehen auch bei Jochen Roller die Hinterfragung der prekären Arbeit als Tänzer über die Metapher der Prostitution und seine persönliche Einbindung in (sexuelle) Ökonomien relativ am Anfang seiner künstlerischen Arbeit als Tänzer, Choreograph und Performance-Künstler. Die Thematisierung der eigenen Prekarisierung als ›Spektakel der Prostitution‹ generiert für She She Pop und Jochen Roller eine erhöhte Ökonomie der Aufmerksamkeit in der freien Theaterszene, welche für beide zur Erfolgsgeschichte wird.119 Perform Performing. Über den Sinn und Unsinn, Tanz als Arbeit zu betrachten (2003/2004) stellte für Jochen Roller120 den internationalen Durchbruch seiner künstlerischen Arbeit dar, welche sich im Spannungsfeld von modernem Tanz, Konzepttanz, Lecture Performance und Performance-Kunst bewegt. Jochen Rollers Performance Art Gigolo – der zweite Teil seiner Trilogie Perform Performing – bearbeitet eine markante Leerstelle des Prostitutionsdiskurses: den männlichen Darsteller als Prostituierte. Der sexuelle Blick der Diskursproduzenten um 1900 blendete den männlichen Schauspielerkörper aus der erotisch-ökonomischen Blickkonstellation des Theaters bewusst aus. Seine Sexualität, seine Liebesverhältnisse hinter den Kulissen, seine Körperlichkeit auf der Bühne ließen die Diskursproduzenten bei Fragen nach Prostitution in Bezug auf das Theater kalt oder außer Acht. Die Schauspielerin hingegen nahmen sie in jeglicher Hinsicht genau unter die Lupe. »Ist die Frau am Theater also recht eingehend beforscht und ihre Reduktion auf die Position der ewigen Schauspielerin zusehends überwunden, so steht eine explizit geschlechtertheoretisch interessierte Aufarbeitung der männlich-vergeschlechtlichten Welt der Bretter, die ja die Welt bedeuten wollen, noch aus.«121
119 Katharina Pewny hat in ihrem Buch Das Drama des Prekären herausgestellt, dass die Thematisierung der Arbeitssituation bei Künstlern wie Jochen Roller und René Pollesch zum »Motor ihres Erfolgs« wird und damit eine Transformation des Prekären stattfindet. Vgl. Katharina Pewny: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript 2011, S. 222. 120 Roller hat eine klassische Ballettausbildung absolviert, Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Choreographie am Laban Centre in London studiert. Bis 2010 war er als Dramaturg auf Kampnagel, Hamburg, tätig. Siehe Link 19. 121 Denis Hänzi: »Der ideale Regisseur – Zur Genese eines normativen Männlichkeitsmusters«, S. 155. Hänzi hat sich in seiner Promotion mit der noch immer wirksamen
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Eine fehlende Männlichkeitsforschung in der Theaterwissenschaft betrifft die Inszenierungen von Männlichkeit auf Bühne ebenso wie die von Männern, die am Theater arbeiten, bestätigt der Soziologe Denis Hänzi. Die Geschlechterinszenierung des männlichen Schauspielers steht bis heute im »toten Winkel der Aufmerksamkeit«122. Warum wird nicht auch der Schauspieler als Objekt des Blicks und als begehrenswerter Anderer diskursiviert? Für die Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters erscheint der männliche Darsteller als ein »Körper ohne Gewicht«123, für die Repräsentation des Theaters und des Schauspielerberufs ist er aber umso gewichtiger. Das eine bedingt in diesem Fall das andere. Judith Butler beschreibt Männlichkeit als eine Figuration der Krise, die den Leib als einen, der begehrt, isst, liebt und schwitzt, verleugnen muss, um das rationale Prinzip verkörpern zu können. Der körperlose Körper könne imaginär und diskursiv dadurch behauptet werden, dass die Thematisierung von Körperlichkeit auf andere Körper wie etwa jene von »Frauen und Sklaven, Kinder und Tieren«124 ausgelagert werde, welche aus einer »Ökonomie männlicher Vernunft«125 ausgeschlossen würden, um zugleich die Körperlosigkeit von Männlichkeit zu stabilisieren. Der diskursive – nicht der leibliche – Ausschluss des sinnlichen, sexuellen Männerkörpers stellt damit keine Spezifik des Schauspielers, sondern vielmehr ein Resultat von Ausgrenzungsprozessen dar, welche die Konstruktion von Männlichkeit und deren Hegemonie in einer bipolaren Geschlechterordnung absichern. Es ist dennoch erstaunlich, dass der Schauspieler in einem Beruf, der auf sinnlicher Körperarbeit fußt, bis heute kaum von sexuellen Zuschreibungen und gendertheoretischen Debatten tangiert wurde.126 Die zirkulierenden Geschlech-
Verfestigung männlicher Dominanz im Regieberuf beschäftigt: Vgl. Denis Hänzi: Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. Bielefeld: transcript 2013. 122 Inge Stephan: »Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ›ersten Geschlechts‹ durch men’s studies und Männlichkeitsforschung«, in: Claudia Benthin/Inge Stephan: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau 2003, S. 12. 123 Judith Butler: Körper von Gewicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 58. 124 Ebd., S. 80. 125 Ebd. 126 Der männliche Schauspieler tritt in der Theatergeschichte nur dann als geschlechtliche Figuration auf, wenn er Frauen darstellt. Die Diskursproduzenten kritisierten die Travestie als einen Übertritt der Scham und des Geschlechts. Bis zur Neuzeit sind vor allem in christlichen Schmähschriften, insbesondere zum elisabethanischen The-
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terdiskurse über die »Frau als Schauspielerin« um 1900 materialisieren diese als erotischen »Körper von Gewicht« im Theater. Die Figuration der Schauspielerin als Prostituierte sichert damit die Unsichtbarkeit des sexualisierten männlichen Schauspielerkörpers ab. Im Gegensatz zum männlichen Schauspielerkörper war der männliche Tänzerkörper seit dem 19. Jahrhundert und der Einführung der Primaballerina mit sexualisierenden Zuschreibungen konfrontiert. Die Tätigkeit des Tanzens stellte ein Anerkennungsproblem für die Inszenierung normativer Männlichkeit dar und wurde mit Zuschreibungen der Effeminierung sowie der Homosexualität versehen, da der Tänzer seine Körperlichkeit in den Fokus des Blicks des Publikums rückt. 127 Jochen Rollers Performance Perfom Performing zeugt exemplarisch von einem Paradigmenwechsel im Theater: weg von der diskursiven Körperlosigkeit von Männlichkeit hin zur thematisierten Performance von Männlichkeit, weg von der Ökonomie der Repräsentation hin zu einer Ökonomie des Begehrens.
ater und zur römischen Antike, Unsittlichkeitsvorwürfe an Schauspieler enthalten, die Frauen spielen. Exemplarisch hierfür ist das Traktat von Tertullian: »So wird die außerordentliche Beliebtheit des Theaters vor allem durch eine Unflätigkeit erzielt, die der Atellanen-Schauspieler in seiner Gestik zum Ausdruck bringt, die der Mimen-Schauspieler sogar durch Frauenkleider darstellt – womit er das Gefühl für Geschlecht und Scham völlig aufhebt, so daß sie leichter zu Hause als auf der Bühne erröten – und die schließlich der Pantominen-Darsteller von Jugend auf an seinem Körper erduldet, damit er ein Künstler sein kann.« Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele, S. 55ff. 127 Vgl. Burt Ramsay: The male dancer. Bodies. Spectacle, Sexualities. London: Routledge 2007. Janine Schulze hat in Dancing Bodies – Dancing Gender aufgezeigt, dass in einer Fülle von Schriften zur männlichen Tanzkunst die normative Männlichkeit des Tänzer (re-)konstruiert wird, »um damit das Vorurteil einer Verweiblichung und damit assoziierten Verweichlichung zum Schweigen zu bringen. Es ist zum einen der Versuch, den tanzenden Mann als Sportler und Athleten zu verstehen, und ihn zum anderen als soldatischen Mann zu sehen.« Janine Schulze: Dancing Bodies – Dancing Gender. Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie. Dortmund: Edition Ebersbach 1999, S. 149. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind diese Abwertungen des männlichen Tänzerkörpers nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Feld des Tanzes reüssieren viele männliche TänzerChoreographen wie Jérôme Bel, Thomas Lehmen oder Xavier Le Roy, die in ihren Arbeiten selbstreflexiv mit der Geschichte des Tanzes und des Körpers umgehen.
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Perform Performing: Die Produktion und der Verkauf von Begehren Perform Performing besteht aus den drei Solos No Money, No Love (2003), Art Gigolo (2003) und That’s the way I like it (2004), in denen Roller hinterfragt, inwieweit Tanz als Arbeit betrachtet werden kann. Hier treten verschiedene Dimensionen des Arbeitsbegriffs in den Blick, welche die Performance des Tänzers als Nicht-Arbeit, Arbeit am Selbst, sexuelle Arbeit und Erwerbsarbeit wie jede andere auch reflektieren. Die Performance Perform Performing inszeniert den ökonomischen Aufstieg von Jochen Roller als Tänzer von einer prekären NichtArbeit, die er sich durch diverse Nebenjobs – zum Beispiel als Verkäufer in einer Bekleidungskette und im Callcenter – finanzieren muss (1. Teil), über das Generieren der Aufmerksamkeit des Publikums und des Kunstmarktes als Art Gigolo, wobei er sich auch sein Geschlecht ökonomisch zunutze macht (2. Teil), bis hin zur Erwerbsarbeit, welche er in einen Kontext mit anderen Arbeitern stellt, die, genau wie er, Jochen Roller heißen (3. Teil). Die Inszenierung einer Erfolgsbiographie auf dem Kulturmarkt beschreibt Roller zugleich als erfolgreiche Produktion und Verkauf von Begehren an das Publikum und den Kulturmarkt. Nur wer Begehren erzeugt, bekommt auch Arbeit – so skizziert Jochen Roller in Art Gigolo die kursierenden Tauschwerte auf dem Kulturmarkt. Er zeigt in seiner Performance die Inszenierung von Begehren im Aufführungsgeschehen und im Image des Künstlers als eine bewusste, sexuell-ökonomische Kalkulation, um den eigenen Marktwert und Lohn zu steigern. Damit setzt Roller seine Performance in strukturelle Ähnlichkeit zur Prostitution und zu anderen Dienstleistungsberufen: Gigolos, Verkäufer und Tänzer gleichermaßen müssen gut performen, um sich gut zu verkaufen. »In der Sprache der Wirtschaft heißt das, dass ich viel verkauft habe. Für mich heißt eine gute Performance, eine gute Vorstellung zu haben. […] Eine Performance als Verkäufer ist gar nicht so anders als eine Performance als Tänzer. Denn als Verkäufer wie als Tänzer muss man a) gut rüber kommen, b) kompetent wirken und sich c) gut verkaufen können. Und wenn ich mich gut verkaufe, habe ich eine gute Performance.«128
Roller thematisiert die Doppeldeutigkeit des Begriffs Performance: als Aufführung und wirtschaftliche Verkaufsleistung. Das Aufführungsereignis definiert er
128 Mitschrift der Videoaufnahme der Aufführung von Perform Performing von Jochen Roller am 23.01.2005 am Hebbel am Ufer in Berlin. Teil 1: No Money, No Love.
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als ein Verhältnis zwischen Verkäufer und Kunden, in dem er durch seine Darstellungsqualitäten bei seinen Kunden Aufmerksamkeit und Begehren erzeugen muss, um eine gute Performance und damit Mehrwert auf dem Kulturmarkt zu erzielen. Im Gegensatz zur Sexarbeit, wo der Kaufvertrag zwischen Prostituierter und Kunde bereits vor der Dienstleistung (Performance) geschlossen wird, ist jener zwischen Performer und Publikum/Kulturförderung stets prekär. Der Performer muss seinen Wert auf dem Kunstmarkt und das Begehren nach ihm in der Vorstellung im Theater wie in der Phantasie des Publikums wiederholend performativ hervorbringen und vollziehen. Performen wird zur Wertschöpfung des Künstlers. Roller spitzt zu, dass sich sein Wert nur an den Geldern der Kulturförderung bemesse. Bekomme er keine Gelder, habe er auch keinen Wert: No Money – No Love. Roller rekurriert damit auf das von Simmel beschriebene Tauschverhältnis, welches das Begehren nach einem Objekt in Geld transformiere. Genau dies macht ihn im Sinne Grotowskis zu einem »Huren-Schauspieler«, der stets an seinen Lohn denkt, während er auf der Bühne agiert. Im Folgenden werden die verschiedenen Strategien untersucht, mit denen Roller versucht, beim Publikum Begehren nach seiner Person und seiner Kunst hervorzurufen und sich in eine Ökonomie des Begehrens einzuschreiben. Denn anders als bei den Performerinnen von She She Pop, welche in ihrer Performance Trust! die Schaulust des Publikums auf sich und ihre weiblichen Körper dekonstruieren, geht Roller von einem Objektstatus aus, der erst hergestellt werden muss. Sprachlich und performativ führt er die Täuschungsmanöver vor, die er anwenden muss, um als Objekt in einer erotisch-ökonomischen Blickkonstellation wahrgenommen und anerkannt zu werden. Der männliche Körper als Ware Bevor Roller in Art Gigolo Verkaufsstrategien testen kann, thematisiert er in No Money, No Love die eigene Investition in seine Kunst und damit auch in seinen Körper. Roller trägt einen grünen Jogginganzug und ist bereits im Bühnenraum, bevor das Publikum eintritt und auf der Zuschauertribüne Platz nimmt. Der Bühnenraum ist mit weißem Tanzboden ausgekleidet und sieht aus wie eine Probebühne, ausgestattet mit vielen kleinteiligen Objekten wie Koffern, Büchern, einem Flipchart, einem Kassettenrekorder und einem Mikro, welche dem Performer Handlungsmöglichkeiten offerieren. Roller agiert in diesem Setting als emsiger Arbeiter, der sich noch in der Probephase befindet. Die ausgestellten Objekte erscheinen zugleich wie die Produktpalette eines Warenhauses, in dem Roller selbst damit beschäftigt ist, sich als Ware auf dem Kulturmarkt hervorzubringen und einzureihen. Um in naher Zukunft Begehren produzieren zu können,
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muss er zunächst Eigenkapital anhäufen und in sich selbst investieren. Die Lohn bringenden Tätigkeiten in anderen Berufsfeldern, denen Roller nachgeht, um seine Nicht-Arbeit als Tänzer zu finanzieren, müssen zugleich den Nebeneffekt haben, dass er während dieser Tätigkeiten weiter als Tänzer trainieren kann. Seine Arme tanzen, während er vorführt, wie er im Bekleidungsgeschäft H&M die Hemden zusammenfaltet. Der Bauchmuskeltrainer am Körper dient nicht nur der Präsentation des Gerätes als Ware, sondern auch zum Stählen der eigenen Bauchpartie. Und während der Telefonate im Callcenter probt Roller seine neue Choreographie. Der Verkauf von Hemden und Bauchmuskeltrainern wird von Roller effizient genutzt für die Perfektionierung des eigenen Körpers als präsentables Objekt, das in einer erotisch-ökonomischen Blickkonstellation des Theaters Aufmerksamkeit und Begehren erzielt. Wenn Katharina Pewny von Tanz als »Performanz von Ökonomie«129 spricht, so macht sie dabei auch auf eine Wachstumskurve aufmerksam, die den Körper in einem permanenten Transformationsprozess halten muss, damit er sein Kapital nicht durch absinkende Muskelkraft verliert. Im Tanzen wird die Dimension von Performance als Arbeits- und Genderleistung besonders deutlich, durch die sich der Tänzer einen Körper erschafft, um ihn in der Aufführungssituation als perfekten, attraktiven und sportlichen Arbeitsgegenstand einsetzen zu können. Die Ökonomie des Performens ist produktiv für eine Ökonomie des Begehrens im Dispositiv des Theaters, da sie zugleich die Attraktivität des sexuellen Körpers mit formt. Performen ist damit immer auch eine sexuelle Arbeit130, die für die Selbstinszenierung des Performers den Mehrwert einer Geschlechtsidentität und eines spezifischen Körpers erzeugt, womit er das Begehren des Publikums und des Kulturmarktes auf sich lenken kann. Beim Tanz ebenso wie bei der Prostitution ist eine gute Performance an einen Körper gebunden, der für die Kundinnen und Kunden attraktiv erscheinen und die geforderten körperlichen Aktionen leisten kann.
129 Katharina Pewny: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. S. 230. 130 Die sich im Kontext der Queer Theory verortenden Künstlerinnen und Autorinnen Renate Lorenz und Brigitta Kuster haben die Begrifflichkeit »sexuell arbeiten« als Herstellungsweise von Geschlechtersubjektivität theoretisch entfaltet. »Sexuelle Arbeit bezeichnet den Aufwand, der mit der Subjektivierung im Feld von Arbeit verbunden ist, sowie die Drohungen und Versprechungen, unter denen er bewältigt werden muss.« Renate Lorenz/Brigitta Kuster: sexuell arbeiten. Eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben. Berlin: b_books 2007, S. 19.
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Die Selbstdarstellung als Art Gigolo Im zweiten Teil von Perform Performing wandelt sich Jochen Rollers Selbstinszenierung: Aus dem Arbeiter, der mit der Produktion seiner Ware beschäftigt ist, wird ein Gigolo, der Begehren nach sich selbst als Ware erzeugt und seinen Lohn dafür fordert. Bezeichnenderweise tritt Jochen Roller in Art Gigolo erst auf, als das Publikum schon sitzt. So erzeugt er eine größere Aufmerksamkeit für sein Erscheinen auf der Bühne und präsentiert sich von Anfang an als exponiertes Objekt des Blicks in einer Schauanordnung des Theaters. Roller trägt einen braunen Anzug, der zum dekadent wirkenden Bühnenraum passt, welcher mit einem Ledersessel, einer Bar mit Orchidee, einem Fernrohr und einer Uhr im Retrostil der 1960er Jahre eingerichtet ist. Er setzt sich in den Ledersessel und betrachtet ruhig sein Publikum, während dieses mit einem abgespielten Musicalsong willkommen geheißen wird. Der zurückgeworfene Blick des Performers131 an das Publikum zeigt deutlich, dass sich Roller der Macht der Blicke des Publikums über sich und seine Kunst bewusst ist. Denn die gewählte Raumanordnung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum führt das Begehren auf eine Differenz von Sehen und Berühren zurück und zielt auf eine Immersion des Zuschauers ab, der sich über seinen Blick in eine körperliche Beziehung zu Roller setzt. Indem Roller das Publikum mit rhetorischen Fragen konfrontiert, die sich unmittelbar auf die Gegenwärtigkeit der Performance beziehen, zeigt er das ökonomische Tauschverhältnis auf, in dem sich Performer und Publikum gemeinsam befinden: »Warum sind Sie hier? Was erwarten Sie? Warum sind Sie nicht ins Musical gegangen? […] Denn wie überall geht es auch hier um die Quote. […] Es geht ums Verkaufen und ob sich etwas rechnet«132, leitet er seine Performance Art Gigolo ein und präsentiert sich dabei als Unternehmensberater seiner eigenen künstlerischen Arbeit. Mit der neuen Vermarktungsstrategie seiner Kunst verändert Roller auch seine Selbstinszenierung und die eingesetzten ästhetischen Produktionsmittel, um im Stil einer Lecture Performance zu reflektieren und performativ vorzuführen, wie Begehren erzeugt werden kann. Glamour führe zur Auratisierung des Künst-
131 Der direkte Blick der Schauspielerin an das Publikum wurde um 1900 noch als Blick einer Prostituierten gelesen, die den Zuschauenden damit ein sexuelles Angebot machte. Vgl. Kapitel 3, »Nana als paradigmatische Figur der Schauspielerin als Prostituierte«. 132 Mitschrift der Videoaufnahme der Aufführung von Perform Performing von Jochen Roller am 23.01.2005 am Hebbel am Ufer in Berlin. Teil 2: Art Gigolo.
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lers und steigere damit das Begehren nach ihm, zitiert Roller später Andy Warhols Vermarktungstaktik, welche er sich für Kostüm und Raumgestaltung zunutze gemacht hat. Der Anzug und das Interieur verleihen Roller die Ausstrahlung eines Selfmademan, der Inszenierungsstrategien hegemonialer Männlichkeit adaptiert und imitiert, sie aber aufgrund der wiederholten Bezugnahme auf den prekären Status seiner Arbeit nicht ›besitzt‹. Die Sprechakte laufen damit der Männlichkeitsinszenierung zuwider, die als Maskerade enttarnt wird. Auch im Anzug bleibt das männliche Subjekt prekär. Die »patriarchale Dividende«133 allein scheint die Körperlosigkeit des männlichen Körpers nicht mehr abzusichern. Die männliche Identität muss sich auf dem Schauplatz der Geschlechteridentitäten performativ durch Handlung, Maskerade und Körperlichkeit hervorbringen, um Wert zu erzeugen, gesehen und anerkannt zu werden. Dies manifestiert Roller, indem er sich im Laufe der Performance wiederholt als Gigolo bezeichnet. So macht er deutlich, dass die Konstruktion von Männlichkeit ebenfalls an sexuell-ökonomische Prozesse der Begehrensproduktion gebunden ist und der männliche Körper ebenso in die Ökonomie von Begehren eingliedert wird wie jeder andere Körper auch. Dabei erscheint die Figur des Gigolos in der Performance in doppelter Gestalt: erst als Marionette und später verkörpert durch Roller. Die Marionette sieht aus wie Harry Potter, dargestellt durch den Jungschauspieler Daniel Radcliffe. Sie repräsentiert Jugendlichkeit und eine massenmediale populäre Männlichkeitsfigur, der Roller seine Stimme leiht. Der Prostitutionsdiskurs wird zunächst nur über die Harry-Potter-Marionette verhandelt, die diverse englischsprachige Songs von Bing Crosby über Tina Turner bis hin zu Prince rezitiert, in denen das Bild des Gigolos verhandelt wird. Eine andere Welt entsteht hier nicht durch das Rotlichtmilieu, sondern durch die Popindustrie, deren Begehrensproduktion mit dem Verkauf von Körpern einhergeht und sexuelle Maßstäbe für das Image von Künstlern und Künstlerinnen setzt. Gigolos wie auch Popstars und Tänzer verdienen nur so lange Geld, wie eine Nachfrage nach ihnen besteht. Diese Thematik wird bereits in dem Song Just a Gigolo aus dem Jahr 1930 aufgegriffen, durch den die Figur des Gigolos in der Performance eingeführt wird:
133 Als patriarchale Dividende bezeichnet Robert Connell einen Mehrwert der Anerkennung, den heterosexuelle, weiße Männer in einer patriarchalen Gesellschaft aufgrund ihres Geschlechts bekommen. Robert Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, S. 100.
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»Just a gigolo, everywhere I go/People know the part I’m playing/Paid for every dance/Selling each romance/Every night some heart betraying/There will come a day/Youth will pass away/Then what will they say about me/When the end comes I know/They’ll say just a gigolo/As life goes on without me.« 134
Die Parabel des Gigolos entwirft den Tänzer als einen, der jeden Tanz und jede Romanze verkaufen kann, solange er für seine Jugend und seinen Körper bewundert wird, der aber kein soziales Netz mehr hat, wenn das Alter kommt. Die Marionette wird zum anschaulichen Bild für den Künstler, der stets vom Geld der anderen bewegt wird, der in den Fängen des Kulturmarktes steckt und der sich selbst und seinem eigenen Körper entfremdet erscheint. Die Anforderungen, die der Markt an Künstler und Künstlerinnen stellt, macht sie zu Gigolos, die von den Bedürfnissen und dem Geld des Publikums abhängig sind. »I’m your private dancer, a dancer for money/I’ll do what you want me to do/I’m your private dancer, a dancer for money/And any old music will do.«135 Durch den Songtext von Tina Turners Private Dancer von 1984 verstärkt Roller die Konnotation von Tanzen als sexuelle Dienstleistung gegen Geld. Die Aneignung der Position als männlicher Sexarbeiter erfolgt von Roller zunächst nur durch den Sprechakt, der einerseits der männlichen Puppe über die Songtexte Eigenschaften eines Gigolos zuweist und andererseits einen diskursiven Kontext schafft, welcher Rollers Position als Tänzer in die strukturelle Nähe zur Prostitution rückt. So ruft Roller die Doppelheit des Begriffs Gigolo als Prostituierter und als »einfühlsamer136 Tänzer und Unterhalter mit »guten Manieren«137 – als sogenannter Eintänzer, der in den 1920er Jahren für Geld mit alleinstehenden Frauen tanzte – auf. Im Setting von Perform Performing agiert Roller auch durch das gewählte Format des Tanzsolos138 als Eintänzer, der sich prostitutiv verhält, weil er das
134 Song Just a Gigolo. Text: Irving Caesar. 1930. 135 Tina Turner: Private Dancer. 1984. 136 Mitschrift der Videoaufnahme der Aufführung von Perform Performing von Jochen Roller am 23.01.2005 am Hebbel am Ufer in Berlin. Teil 2: Art Gigolo. 137 Ebd. 138 Das Tanzsolo liefert in allen drei Teilen von Perform Performing den ästhetischen Rahmen für die Verhandlung (männlicher) Subjektivität. Johannes Odenthal hat das Tanzsolo als »Geschichtsschreibung des modernen Subjektes« beschrieben, in dem der Tänzerchoreograph in einen »Dialog mit der anderen Seite seiner Existenz« trete. Bei Roller stellt das Solo eine Probe und Reflexion der Subjektivität als Künstler
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Begehren des Publikums auf sich und seinen Körper fokussiert. Das Solo materialisiert in besonderer Weise seine Körperlichkeit, da kein anderer menschlicher Körper auf der Bühne zu sehen ist, der Differenz oder Konkurrenz oder mehr Gewicht erzeugen könnte. Roller bietet dem Publikum in der Aufführungssituation sich und seinen Körper als einzige Projektionsfläche an. Durch die Form des Solos exponiert er sich zum begehrenswerten Anderen des Zuschauerblicks, durch welchen jede Zuschauerin und jeder Zuschauer in eine körperliche und ökonomische Beziehung mit ihm tritt. Die wiederholte Selbstbezeichnung als Gigolo stellt diskursiv die Verkaufssituation heraus, in der der Tänzer zu Unterhaltungs- und Erlebniszwecken für einen Anderen agiert, der für ihn in der Regel anonym bleibt. Die Anerkennung als Tänzer geht mit einer Verdinglichung als begehrenswerter Körper einher, der wie ein Verkäufer zum Kauf der Körperware verführen und wie ein Sexarbeiter Intensitäten des körperlichen Erlebens produzieren muss. In diesem Sinne hat die Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster den Tänzerkörper als einen gemieteten Körper beschrieben: »Uncommitted to any specific aesthetic vision, it is a body for hire: it trains in order to make a living. […] This body, a purely physical object, can be made over into whatever look one desires. Like one’s lifestyle, it can be constructed to suit one’s desires.«139
Im Blick von Zuschauenden und Choreographen wird der Tänzerkörper zu einem formbaren Material für ihr Begehren. Gerald Siegmund beschreibt in diesem Zusammenhang den Tänzer als »willenlose[…] Marionette im Kräftespiel der Choreographen und des Marktes«140. In diesem Sinne verwendet Roller auch die Marionette als jenen verdinglichten jugendlichen Liebhaber, an dem als totes Objekt jegliches Begehren als Mangel erfahrbar wird und zirkulieren kann, während das Begehren nach dem gegenwärtigen Tänzerkörper endlich und flüchtig ist, indem es sowohl durch den Moment der Aufführung als auch durch den Verfall und die Verfehlungen des eigenen Leibs des Tänzers begrenzt wird. Damit
dar; als Künstler, der sich nicht mehr über einen Geniestatus, sondern als Ware auf dem Kunstmarkt behaupten muss. Johannes Odenthal: »Tanz – Subjekt – Ritual. Drei Thesen zum Solo«, in: Ders: Tanz, Körper, Politik. Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte. Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 69-72, hier S. 69f. 139 Susan Leigh Foster: »Dancing Bodies«, S. 494. 140 Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript 2006, S. 17.
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widersetzt sich der ›reale‹ Tänzerkörper einer vollständigen Konsumtion als gemieteter Körper, da er nicht wie eine Marionette als Objekt erfasst werden kann. Als sein eigener Choreograph verweigert Roller sich zugleich einem vollständigen Zugriff auf seinen Körper und pachtet ihn für sich selbst. Er erscheint nicht nur als Gigolo, sondern auch als sein eigener Zuhälter und Arbeitgeber. Als Miete für den Körper verlangt er, wie auch ein Gigolo, seinen Lohn: den Applaus. Roller zufolge repräsentiert ein großer Schlussapplaus ein kollektives Begehren nach dem Künstler, steigert den Marktwert und bedeutet in der Verlängerung dessen auch mehr Geld durch die Kulturförderung. Applaus als Lohn des Gigolos Wiederkehrend tritt im Prostitutionsdiskurs das Motiv des Applauses auf: In der Performance Trust! von She She Pop beschreibt eine Performerin den Beifall als eine »Woge der Liebe«141, durch welche sich das prostitutive Verhältnis zwischen Zuschauenden und Performerinnen in ein Liebesverhältnis verwandeln könne und in der die Performerin ganz eins mit dem Publikum werde. Georg Franck sieht den Applaus im Rahmen seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit im Zwischenfeld von liebender Zuwendung und Profit: »Was gibt es […] Hinreißenderes als den Beifall, der einem entgegentost?«142 Hier dreht sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis des Begehrens um: Das Publikum besitzt, was der Performer haben will. Die Zuschauenden treten als Agierende performativ durch den hergestellten Sound in Erscheinung. Der Applaus, nicht die bereits vergangene Aufführung, bestätigt die Arbeitskraft des Performers. Spätestens der Applaus ist der körperlich berührende Abdruck, den das Publikum an dem Performer hinterlässt. Der Applaus markiert zugleich die Auflösung des erotischökonomischen Tauchverhältnisses, es besiegelt den Feierabend des Performers und die Auflösung der Sphäre von Kunst und Realität. Denn beklatscht wird nicht mehr die Figur, sondern die Privatperson. Roller bestimmt den Schlussapplaus als Maßstab für den Wert, den seine Performance beim Publikum erzielt; also als eine Form der Gage für seine Leistung. Ein großer Schlussapplaus sei eine performative Hervorbringung des Begehrens des Publikums nach ihm, deshalb lohne es sich, Claqueure zu engagieren. Der Applaus sei schließlich ein kollektives Moment, in das alle einfielen.
141 Mitschrift der Videodokumentation von Trust! von She She Pop, gezeigt beim Kampnagel-Festival Junge Hunde im April 1998. 142 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 10.
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Zugleich würde ein Theaterabend, der dem Publikum vielleicht nicht gefallen habe, durch den gemeinsamen Applaus etwas mehr wertgeschätzt, verweise er doch auf eine großartige Erfahrung der anderen Zuschauenden, die man begehrt, weil man sie scheinbar verpasst hat, resümiert Roller. Er verweist dabei auf die im 19. Jahrhundert existierende Praxis der Claqueure, welche den Erfolg des Virtuosen als applaudierende Performer steigern mussten. Der Applaus ist nicht nur eine Hände reichende Gabe der Dankbarkeit und eine Sympathiebekundung an die Arbeit des Performers, sondern auch eine ökonomische Geste. Der Applaus stellt eine »Aushandlung von Anerkennung«143 dar und eine »Würdigung einer Leistung, die […] gestisch produziert als auch gestisch beglaubigt wird«144. Er beglaubigt dem Performer, dass sein flüchtiges Produkt Wirkung bei anderen entfaltet hat. Es bringt die Gemeinschaft der Zuschauenden als Kunden und Kundinnen hervor, die nun mehr oder weniger Applaus für das zahlen, was sie bekommen haben. Bei Roller restauriert sich ganz im Gegenteil zu der Interpretation von She She Pop durch den Applaus das erotischökonomische Verhältnis, in das er als Performer und als Produkt auf dem Kunstmarkt eingebunden ist. Durch den Applaus wird der Austausch körperlicher Intensitäten in der Aufführungssituation zwischen Performer und Publikum als ökonomisches Verhältnis bezeugt. Der unmögliche Austritt aus der Prostitution Der Applaus macht allerdings zugleich auf eine Leerstelle aufmerksam: Am Ende hält niemand mehr in Händen als die Intensität körperlicher und energetischer Wirkung, welche Performer und Zuschauende aneinander hinterlassen haben. In der Absenz eines festzuhaltenden Produktes bei gleichzeitigem Insistieren auf dem Live-Charakter sieht Siegmund das widerständige Potenzial des Tanzes, mit dem der Körper des Tänzers seinem Warencharakter entgehen kann: »Demnach kann die unhintergehbare Präsenz der Performance oder Aufführung kein Objekt produzieren, weil sie in der Zeit vergeht und verschwindet. Weil sie verschwindet,
143 Bettina Brandl-Risi: »Applaus: Die Gesten des Virtuosen«, in: Christoph Wulf/Erika-Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung. Aufführung. Praxis. München: Fink 2010, S. 266-280, hier S. 266. Zur historischen Praxis der Claqueure: vgl. ebd., S. 276. 144 Ebd., S. 266.
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widersteht sie dem bloßen Konsum von Gegenständen und nimmt daher eine kritische Position innerhalb der Ökonomie des Marktes ein.«145
Roller versucht am Ende von Art Gigolo, aus der Verdinglichung als begehrenswerter Körper und seiner Warenproduktion auszusteigen, indem er nun durch Strategien des Verhüllens und Zeigens mit der Präsenz des eigenen Tänzerkörpers agiert und damit die Dominanz der sprachlichen Ordnung verlässt. Roller verbirgt nun auch die Marionette als ein Objekt, das für eine Ökonomie der Repräsentation stand und sich durch ein semiotisches Verweissystem als Zeichen für das begehrenswerte Andere auszeichnete, in einem Kartoffelsack. Fortan eignet sich Roller die Position des Gigolos als Selbstdarstellungsstrategie affirmativ an. Am Ende entwirft Roller das Endzeitszenario eines gesättigten Kulturmarktes und behauptet, dass er innerhalb von fünfzehn Minuten fähig sein müsse, Begehren zu produzieren, wenn seine Kunst und er selbst weiter Bestand haben sollten. Das Begehren des Publikums nach dem Performer wird damit als dessen Existenzbedingung ausgewiesen – vergleichbar einem Gigolo, der auf die sexuelle Nachfrage nach ihm angewiesen ist. Roller beherzigt Andy Warhols Hinweis, dass eine Erfahrung des Mangels und der Nichtverfügbarkeit des Künstlers das Begehren des Publikums und damit seinen Marktwert steigern könne. Er macht sich rar und verlässt die Bühne. Durch die Absenz des Körpers tritt die Gegenwärtigkeit der Performance in den Vordergrund der Wahrnehmung der Zuschauenden. Mit dem Abgang des Performers entzieht er sich dem erotisch-ökonomischen Blick des Publikums, er tritt aus der Schauordnung des Theaters heraus. Aber genau dadurch erlebt das Publikum eine Art Liebesentzug. Es kann sich durch die Abwesenheit des Körpers zugleich vergegenwärtigen, dass es aufgrund von Schaulust im Theater sitzt, weil es Körper betrachten und konsumieren will. Erst durch die Abwesenheit erfahren die Zuschauenden das körperliche Verhältnis, in welchem sie sich zum Performer befinden, der ihnen intensive Erlebnisse verschaffen soll. Gemäß dem Vorhangprinzip146 wird nun die leere Spielfläche zur Projektionsfläche für das Begehren der Zuschauenden nach dem Performer; einem Begehren, das immer stärker nach ihm als Objekt des Blicks verlangt. Die körperliche leere Bildfläche stellt im Theater einen Austritt aus der Warenproduktion
145 Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, S. 21. 146 Vgl. Kapitel 2, »Der Vorhang als Projektionsschirm des Begehrens«.
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dar, sie wirft die Zuschauenden auf ihr eigenes Begehren am Ort des Anderen zurück. In einem ökonomischen Sinne fühlen sie sich betrogen, weil sie für ihr Geld keine Darstellenden zu sehen bekommen. Ein Theater ohne Darstellende markiert einen Ausstieg aus der Produktion von Schauwerten. In dieser antitheatralen Szene nehmen die Zuschauenden sich aber umso deutlich als Kundinnen und Kunden wahr, die aufgrund des gezahlten Eintritts auch ein Recht auf die Sichtbarkeit des Darstellerkörpers zu haben scheinen. Alle erleben sich in Bezug auf Roller in einem Verhältnis des körperlichen Verlustes. Alle ersehnen seinen nächsten Auftritt. Die Grenzen der Heteronormativität werden dabei überschritten, weil die körperliche Erwartung alle Zuschauenden gleichermaßen betrifft. Die Abwesenheit des Darstellers auf die Bühne erzeugt einen charakteristischen Moment des Begehrens und zugleich die Störung der unhinterfragten Konsumtion. Roller inszeniert seine Rückkehr auf die Bühne als spektakulären Auftritt, der für ihn als Performer eine Fallhöhe konstruiert und für das Publikum eine überraschende Dekonstruktion des Begehrens hervorbringt. Jochen Roller betritt nackt die Bühne und hält einen kurzen Vortrag: Er habe seine Argumentation noch einmal überprüft und sei zu dem Schluss gekommen: Entweder man brauche Kunst oder eben nicht. Er würde all seine Kulturfördergelder zurückgeben. Denn auch bei einem Gigolo gäbe es eine Situation, in der er nicht bezahlt werde, nämlich dann, wenn er sich verliebe. Dann beginnt Roller zum Popsong Love don’t cost a thing von Jennifer Lopez, seinen Penis zu exponieren, indem er ihn als Eintänzer in den Blick der Betrachtung rückt. Während Roller seine trainierten Bauchmuskeln beim Walken auf der Stelle anstrengt, baumelt sein Penis durch die Hüftbewegung hin und her. Dabei blickt der Performer das Publikum in einer Geste der Unterwerfung direkt an – wie ein Hund, der seinem Herrchen gefügig ist. Zuweilen unterbricht Roller seinen Penistanz, schreitet ein paar Schritte über die Bühne und beginnt von Neuem. So versucht er, seinen Penis möglichst vielen Zuschauenden in der Zentralperspektive zu präsentieren, um eine ideale Immersion der Betrachtung zu ermöglichen und so die ästhetische Distanz zwischen Performer und Zuschauenden zu verringern. Roller verlagert die Produktion von Begehren auf seinen Penis; dieser wird von ihm als Schaustück in der erotisch-ökonomischen Blickkonstellation des Theaters eingesetzt und fetischisiert. Die Entblößung des Penis wird zu einer ökonomischen Geste: Durch die Performance und Leistung des Penis wird Männlichkeit als sexuelle Arbeit vollzogen. Zugleich sichert auch der Penis keine naturalisierende Gewissheit des männlichen Geschlechts mehr ab. In Anlehnung an Beatriz Preciados Theorie
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des Dildos147 hat Katharina Pewny den Einsatz des Penis bei Roller als »BioDildo«148 bezeichnet, welcher die Signifikation des Phallus149 nicht von Natur aus besitzt, sondern nur als »Autorität des Natürlichen«150 performativ hervorbringt. In Anschluss an Pewny lässt sich weiterdenken, dass der Penis bei Roller ein Übergangsobjekt zwischen der symbolischen Repräsentation von Männlichkeit und der selbstreferenziellen Präsenz-Erfahrung des Genitals in seinem Sosein darstellt. Der schlaffe Penis wedelt tanzend wie der Schwanz eines Hundes um Anerkennung und Aufmerksamkeit der Zuschauenden. Der Penis erzeugt dabei ein klatschendes Geräusch, das zugleich eine Geste der Selbstberührung ist, so als wollte er sich selbst Applaus spenden, als »eine Beglaubigung, dass der Penis noch ›dran‹ ist«151. Als Subjekt der Performance profitiert Roller von dem, was sein Penis als vorgeführtes und von ihm gesteuertes Objekt gleich einer Marionette an Aufmerksamkeit hervorruft. Die häufig als prekär oder als in die Krise geraten beschriebene Männlichkeit zeichnet sich bei Rollers Inszenierung nicht durch Machtverlust aus, sondern dadurch, dass sie neben den ernsten Spielen auch die Steuerung des Begehrens und die Selbstinszenierung als begehrenswerter Anderer beherrschen muss, um als darstellender Künstler zu reüssieren und vor allem gesehen zu werden.152 Der Penistanz erscheint auch als Verzweiflungsakt eines Performers, für den es keinen Ausweg aus seinem Dasein als Gigolo gibt.
147 Vgl. Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest. 148 Katharina Pewny: »Der Penis als Dildo oder: Das letzte Spektakel der Männlichkeit (in der Performancekunst)«, in: Gaby Pailer/Franziska Schößler (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender. Amsterdam [u.a.]: Ropoi 2011, S. 329-339, hier S. 333. 149 Vgl. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Ders.: Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1975, S. 119-132. 150 Ebd., S. 333. 151 Ebd., S. 334. 152 Dies ist Ausdruck eines Männlichkeitsbildes im Wandel. Seit den 1990er Jahren gibt es in der kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Forschung ein erhöhtes Interesse an der Erforschung der Inszenierungen von Männlichkeit. Dies geht einher mit gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen: Familienmännlichkeit, Arbeitslosigkeit von Männern und die erotische Inszenierung des Männerkörpers in Werbung/Kunst zeigen eine »ökonomische Prekarisierung des männlichen Ge-
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Das Moment des Gesehenwerdens wird zugleich für die Zuschauenden zu einem unangenehmen Erlebnis, welches ihnen den der Theatersituation inhärenten Voyeurismus bewusst macht. Die virtuose und bewegende Zurschaustellung des Penis fordert im Sinne Freuds zu einem tastenden Blick153 der Zuschauenden auf, die zugleich mit der eigenen Scham und der Frage konfrontiert sind, wie sie dem Schauspiel des Penis entgehen können. Die zur Schau gestellte geschlechtliche Physiognomie präsentiert Roller als ein »energetisches Theater«154, das die Performance des Penis als Intensität seiner Präsenz aufzeigt. Doch genau diese Präsenz des exponierten männlichen Geschlechtsteils führt zu einer Implosion des Begehrens nach dem Performer. Die Nacktheit des Darstellers155 stellt Theater als Prostitution auf die Probe, da der ausgestellte Geschlechtskörper die Zuschauenden sowohl zu sexuellökonomischen Bewertungen als auch zu einem sexuell tastenden Blick auffordert. Um 1900 war die Nacktheit einer Künstlerin ein Grund für die Zuschauenden, sie statt einer darstellenden Künstlerin als Prostituierte anzusehen. Roller rekurriert auf diesen Diskurs, wenn er den Blick der Zuschauenden – die er dadurch in die Position von Voyeuren und Freiern bringt – radikal mit der Zurschaustellung seines Geschlechtsteils konfrontiert. Wie ein Sexarbeiter löst auch er Effekte leiblicher Erfahrung bei den Zuschauenden aus, für die diese bezahlt haben, egal ob sie dies nun sehen und spüren wollten oder nicht.
schlechts«. Katharina Pewny: »Der Penis als Dildo oder: Das letzte Spektakel der Männlichkeit (in der Performancekunst)«, S. 332. 153 Vgl. hierzu Kapitel 2, »Schaulust«. 154 Lyotard propagiert eine Libidoökonomie im Theater, die eine Ökonomie der Repräsentation als Zeichen für ein anderes Zeichen ablöst. Damit würden die Zeichen im Theater zu vorübergehenden Besetzungen in einer Energiezirkulation, die nicht mehr übereinander sagen als die »Kräfte, Intensitäten, Affekte ihrer Präsenz«. Das energetische Theater wird bei Lyotard zu einem Theater des Begehrens, das sich aus der Präsenz speist und hierarchische Herrschaft und Macht über die Zeichen außer Kraft setzt. Jean-Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 21. Vgl. hierzu auch Kapitel 2, »Energetisches Theater«. 155 Vgl. zur Geschichte der Nacktheit im Theater seit dem 19. Jahrhundert: Ulrike Traub: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Zwar beschreibt die Autorin Jürgen Goschs Macbeth (2005), worin die Nacktheit männlicher Darstellerkörper im Zentrum steht, analysiert sie aber nicht unter einer Genderkategorie.
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Aufgrund dessen kann die auf der Textebene propagierte Umwandlung des Prostitutionsdiskurses in einen Liebesdiskurs, welcher insbesondere durch den Film Pretty Woman156 populär in Szene gesetzt wurde, performativ nicht vollzogen werden. Die Romantisierung des Sexarbeiterbildes wird durch den ökonomischen Vertrag, der allen Zuschauenden bewusst macht, dass sie aus Schaulust und nicht aus Liebe im Theater sitzen, unterlaufen. Die Entblößung des Penis wird zum Äquivalent für eine Enthüllung einer Ökonomie des Begehrens, in die sich Roller mit seinem Penistanz als performativ hergestelltes Schaustück ökonomisch erfolgreich einschreibt. Zugleich unterläuft er durch die ausgestellte Präsenz seines Körpers und Genitals im Sinne Gerald Siegmunds den eigenen Warencharakter, dessen Leiblichkeit sich dem Blick des Publikums in obszöner Weise anbietet und anbiedert. Genau dadurch verweigert er sich einer Konsumtion durch das Publikum. Zwar ermöglicht der Penistanz eine intensive Erfahrung von Körperlichkeit für die Zuschauenden, da die Aktion zu einer leiblichen Bezugnahme zum Genital auffordert und es als Objekt des Begehrens ausstellt. Doch zugleich konfrontiert der Tanz das Publikum mit der eigenen Scham und Reflexion über die Bedingungen des erotischökonomischen Tauschverhältnisses im Theater. Roller verfolgt im Gegensatz zu She She Pop die affirmative Strategie, sich radikal bis zur Entblößung in eine Ökonomie des Begehrens einzuspeisen, um Mehrwerte zu generieren. Dabei zeigen sich unterschiedliche Voraussetzungen im Umgang mit männlichen und weiblichen Darstellerkörpern. Während der weibliche Darstellerkörper durch den Prostitutionsdiskurs um 1900 bereits mit Sexualisierungseffekten markiert ist, welche She She Pop dekonstruiert, eignet sich Roller die »Whore-Position«157 als subversive Darstellungsstrategie von Männlichkeit an, um Geschlechterbilder und Begehrenspositionen zu stören und Kritik an den sexuellen Marktökonomien zu üben. Durch seinen Penistanz produziert Roller Mehrwerte intensiver Körperlichkeit, die nicht in einer Sinnproduktion und Repräsentation aufgehen, sondern einen Exzess von Geschlechtlich-
156 Pretty Woman. 1989. Regie: Garry Marshall. In einer Aschenputtel-Dramaturgie zeigt der Film, wie das prostitutive System endet, indem sich die Prostituierte Vivian, gespielt von Julia Roberts, in ihren Freier, den Millionär Edward Lewis (Richard Gere), verliebt. Das Ende des Films suggeriert als Happy End eine Heirat der beiden und damit eine Bestätigung normativer Genderparts. Vgl. zur Darstellung der Prostitution im Hollywoodfilm Pretty Woman: Hedwig Wagner: Die Prostituierte im Film. Zum Verhältnis von Gender und Medium, S. 21-33. 157 Kirsten Pullen: Actresses and whores, S. 2.
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keit erzeugen, der sich dem Blick der Zuschauenden unangenehm aufdrängt und sich dadurch der erotisch-ökonomischen Verfügbarkeit für die Zuschauenden entzieht. Denn indem Roller die Entblößung seines Geschlechts in einen Kontext mit der Arbeit eines Gigolos rückt, entblößt er zugleich Prozesse der Begehrensproduktion im Theater als sexuelle Ökonomien des Zeigens und Verbergens, des Ein- und Ausschlusses von künstlerischen Arbeiten, Körpern und Künstlern auf dem Kulturmarkt.
6 Schlussbetrachtung: Theater des Begehrens
Die Verhandlungen über Theater und Prostitution erscheinen damals wie heute als Reflexion und diskursive Formierung des (intimen) Verhältnisses zwischen Darstellenden und Zuschauenden, das die mediale Disposition des Theaters auszeichnet. Um 1900 wurde die Zuschreibung der Prostitution von männlichen Zuschauern gebraucht, um jene theatralen Strategien und Geschlechterfigurationen auszugrenzen, durch welche die ästhetische Distanz zwischen Schauspielerin und Zuschauer in ein erotisches Verhältnis transformiert werden könnte. Die ostentative Körperlichkeit, die Schaulust des Publikums, der doppeldeutige Schauspielerkörper, die leibliche Kopräsenz von Zuschauer und Darstellerin, die durch den Einbruch der Prostitution bedroht erscheint, und das Theater als Schwellenraum zwischen Leben und Kunst stellen zentrale »Sperrbezirke«1 des Theaters der Prostitution um 1900 dar. Es sind genau jene Motive, die seit den 1960er Jahren im Diskurs um Performance Art und Performativität im Kontext der Theaterwissenschaft neue Relevanz erlangen und aufgewertet werden. Das Theater der Prostitution ist zu einem Theater des Begehrens geworden, das phänomenologisch die Aufmerksamkeit auf die Sinnlichkeit der im Aufführungsgeschehen sichtbaren Subjekte und Objekte in Bezug auf die Wahrnehmung der Zuschauenden lenkt, ohne dass dabei die Zuschreibung der Prostitution verwendet würde. »Ein ›Theater des Begehrens‹ funktioniert nach dem Marx’schen Prinzip des ›Mehrwertes‹: In ihm werden Objekte und Körper weder in ihrer semiotischen Zeichenhaftigkeit
1
Regina Schulte: Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, S. 8.
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noch in ihrem ›Sosein‹, ›in der Fülle [ihrer] Erscheinungen‹ wahrgenommen und sichtbar. Vielmehr fesselt und fasziniert das, was auf der Bühne besonders intensiv in Szene gesetzt oder zum Ausdruck gebracht wird, die Zuschauer und ihre Blicke dadurch, dass dessen theatrale Ausdrucksqualität nicht in den ihm eigentümlichen phänomenalen Eigenschaften aufgeht […], sondern ein ›Mehr‹ birgt und zeigt.«2
Mit dem Mehrwert des Theaters des Begehrens bezeichnet Adam Czirak ein ästhetisches Surplus der Sinnlichkeit, das nicht im Verstehen aufgeht. Den Diskursproduzenten um 1900 war dieser Mehrwert, der den Schauwert von Körpern als auch von Objekten, wie beispielsweise Kostümen, steigerte, ein Dorn im Auge, weil sie genau darin eine Blicklenkung auf das So-Sein der Schauspielerin befürchteten, die damit wie eine Ware Begehren produziere und sich in ihrer Käuflichkeit ausweise: nämlich als Prostituierte. Wie Czirak thematisierten auch die Diskursproduzenten um 1900 das Verhältnis der Zuschauenden zu den Darstellerinnen als ein gegenwärtiges und leibliches. Doch sie sahen darin keine positive ästhetische Erfahrung für die Zuschauenden. Sie fürchteten permanent den Einbruch der Prostitution in deren Wahrnehmung, indem die Zuschauenden Gefahr liefen, den Darstellungsakt der Schauspielerin mit dem einer Prostituierten zu verwechseln. Aufgrund der leiblichen Kopräsenz und Gegenwärtigkeit der Körper von Zuschauenden und Darstellerinnen wurde ihre Beziehung in der Aufführung als die von Freiern und Prostituierten figuriert und als erotischökonomisches Tauschverhältnis kritisiert. Das Tabu der sexuellen Berührung zwischen Zuschauenden und Agierenden wurde um 1900 aus der Perspektive der Diskursproduzenten mit der Projektion der Prostitution zwar problematisiert, sorgte aber zugleich durch die Erfahrung des Mangels für eine virulente Zirkulation des sexuellen Begehrens in der Imagination der Zuschauenden und damit auch im Dispositiv des Theaters. Dieses Tabu der Intimität wird in Aufführungen seit den 1960er Jahren, die einer Ästhetik des Performativen zuzurechnen sind, durch die Auflösung der Guckkastenbühne, durch Rollenwechsel von Zuschauenden zu Kosubjekten und durch direkte Berührungen zwischen Zuschauenden und Agierenden künstlerisch überschritten. In den theaterwissenschaftlichen Analysen werden diese Beziehungsverhältnisse zwischen Zuschauenden und Agierenden als Auflösung der Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit, als Herstellung der Aufführung
2
Adam Czirak: Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, S. 239f.
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als soziales Ereignis und als Dekonstruktion des Illusionstheaters eingeordnet.3 Mit der Aufwertung der Materialität von Körpern, Objekten und Handlungen, der Aufwertung des Aufführungsereignisses gegenüber dem dramatischen Text und der Partizipation der Zuschauenden tritt in den theaterwissenschaftlichen Analysen aber zugleich die ökonomische Verfasstheit der Aufführungssituation in den Hintergrund. Für die Wahrnehmung von Zuschauenden und Agierenden mag sie weiterhin eine Rolle gespielt haben und noch spielen. Die Zuschreibung der Prostitution findet an ihren Rändern weiterhin statt. So wird bei einer Aufführung von Richard Schechners Performance Group beschrieben, wie sich eine Performerin durch die Berührung von Zuschauenden prostituiert gefühlt habe.4 Felix Ruckerts Performance Secret Service verweist bereits im Titel explizit auf eine sexuelle Dienstleistung, die auch als solche beschrieben, aber nicht reflektiert wird.5 Auch wenn diese Performances die Grenze der sexuellen Berührung zwischen Zuschauenden und Agierenden überschreiten, ist sie damit noch nicht obsolet geworden, sondern wurde in ästhetischer Weise umgewertet und thematisiert. Fragen des Begehrens sind dem Theater eingeschrieben: Sie werden historisch nach Theater- und Geschlechterbildern und gesellschaftlichem Umgang mit Sexualität nur jeweils anders bewertet. Die fehlende theaterwissenschaftliche Perspektive auf Schauspiel als sexuelle Arbeit und auf die ökonomischen Bedingungen am Theater mag Resultat eines Diskurses sein, der sich in erster Linie als aisthetischer Diskurs6 formiert, welcher nach den Wahrnehmungsbedingungen des Zuschauerinnen und Zuschauer als Kosubjekten der Aufführung fragt. Doch bereits im Dispositiv des Theaters um 1900 kommt es zu einer Aufwertung der Zuschauenden, deren körperliche Bezugnahme zur Darstellerin durch Immersion im Rahmen der Guckkastenbühne begünstigt wird. Während sich die Partizipation der Zuschauenden um 1900 als imaginative Leistung des Begehrens im Aufführungsgeschehen vollzieht, werden die Zuschauenden in der Gegenwart zu direkter Interaktion auf die Bühne geladen. Die künstlerischen Arbeiten von She She Pop und Jochen Roller, die einer Ästhetik des Performativen zuzuordnen sind, verhandeln den Einfluss der Zuschauenden als partizipative wie ökonomischen Leistung und weisen damit
3
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 106.
4
Vgl. ebd., S. 101ff.
5
Ebd., S. 111ff.
6
Vgl. exemplarisch: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Berlin: Theater der Zeit 2006.
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auf eine nicht bearbeitete Lücke der theaterwissenschaftlichen Betrachtung von Theater als erotisch-ökonomisches Tauschverhältnis hin. Doch wie kommt es, dass die Topoi des Diskurses der Prostitution knapp hundert Jahre später im Zuge einer Ästhetik des Performativen eine solche Aufwertung erfahren, während die Rede von der Prostitution im theaterwissenschaftlichen Diskurs zugleich nur noch an ihren Rändern auftaucht? Den Prostitutionsdiskurs als ein historisches Problem abzutun, das mit dem Gegenwartstheater und den Performativitätsdebatten nichts mehr zu tun hat, würde die Verhandlungen über die mediale Verfasstheit des Theaters unterschlagen. Der Prostitutionsdiskurs setzt sich um 1900 aus der Sicht der Zuschauenden und in der Jetztzeit aus Sicht der Produzierenden mit dem erotisch-ökonomischen Tauschverhältnis auseinander, welches beide Parteien im Aufführungsgeschehen miteinander teilen. Wie die Dienstleistung der Prostitution ermöglicht auch die leibliche Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden einen Austausch von Energien, Erfahrungen und Intensitäten und ist zugleich von sexuell-ökonomischen Asymmetrien und Rollendifferenzen geprägt. Die Konstitution dieser AkteurZuschauer-Beziehung, die grundlegend für die Aufführungssituation des Theaters ist, wird historisch in Bezug auf die Nähe und Differenz zueinander und die Zirkulation des Begehrens zwischen ihnen immer wieder neu ökonomisch formiert, ethisch bewertet und künstlerisch verhandelt. Stefan Hulfeld hat das Verhältnis von Theatergeschichte und Gegenwartstheater problematisiert, in dem sich das Letztere stets in einem Herrschaftsgestus der Geschichte als dem Gestrigen und dem Gegenwartstheater als »Fortschritt« zuwende, statt sich wechselseitig bedingende kulturelle Dynamiken aufzuzeigen.7 Um dem entgegenzuwirken und ein Bezugssystem von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, habe ich den Begriff des Dispositivs eingeführt, um damit auf eine historische Formierung des Theaters als spezifisches ästhetisches und soziales Machtverhältnis zu verweisen. Das sich um 1900 formierende Theater ist durch das Zusammenfallen von Sexualitätsdispositiv und Ökonomiediskurs des Theaters gekennzeichnet. Damit formiert sich Theater als ein Machtverhältnis, welches sich in Richtung zweier Aspekte strategisch verhalten muss, da diese durch historische Prozesse nun im Apparat des Theaters explizit geworden sind: einerseits das Tabu des Sex zwischen Zuschauenden und Agierenden sowie die dadurch bedingte Differenz von Sehen und Berühren und andererseits die ökonomischen Verfasstheit der Aufführungssituation. Beides zu-
7
Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich: Chronos 2007, S. 342.
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sammen bedingt erst die Zuschreibung der Prostitution. Eine historiographische Forschung kann mithilfe des Dispositivbegriffs die Formierung eines Dispositivs und den Wandel seiner Diskurse als kulturelle Dynamiken in den Blick nehmen, die sich stets im Spannungsfeld von Kunst und sozioökonomischer Realität bewegen. Denn auch darauf verweist der Dispositivbegriff von Foucault: auf eine machtvolle Verklammerung der ästhetischen, künstlerischen Prozesse in der soziohistorischen Gegenwart. Insofern lässt sich zwar heute eine andere Wertschöpfung hinsichtlich des Tabus des Berührens und der Reflexion von Theater als ökonomischer Situation beobachten. Dennoch verhalten sich Theaterarbeiten stets dazu. Den Begriff einer Ökonomie des Begehrens habe ich eingeführt, um daran einerseits eine strukturelle Gemeinsamkeit von Theater und Prostitution aufgrund der medialen Verfasstheit herauszustellen; andererseits, um Produktionsprozesse des erotisch-ökonomischen Begehrens im Theater als Institution und Kunstform sichtbar zu machen. Im Theater fällt im Vergleich zu anderen Künsten beides zusammen. Die Bedingungen künstlerischen Schaffens sowie Konzepte der Künstlerschaft, der Probenprozesse und der biopolitischen Regulierung des Darstellerkörpers gehen in die Aufführung mit ein. Sowohl die Diskursproduzenten um 1900 als auch die untersuchten Arbeiten zeitgenössischer Theatermacherinnen und Theatermacher verweisen stets auf einen erweiterten Produktionszusammenhang, wenn sie über die Metapher der Prostitution Kritik an den Produktionsbedingungen des Theaters üben. Die kapitalistische Produktion von Mehrwert, übersättigte Arbeitsmärkte für Schauspielerinnen und Schauspieler sowie geforderte Selbstinszenierung als Verkaufsstrategie für die eigene Arbeitskraft werden im Prostitutionsdiskurs durch die Diskursproduzentinnen und Diskursproduzenten kritisiert. Doch durch Arbeitsverträge und neoliberale Marktökonomien steht nicht nur die finanzielle Existenz des Schauspielers und der Schauspielerin auf dem Spiel. Es werden zugleich Produktionsbedingungen von Geschlechtsidentitäten, Künstler-Images und die biopolitische Regulierung des Sexualkörpers für die Subjekte geschaffen. Die Zuschreibung der Prostitution macht damit auf den sexuellen Aufwand aufmerksam, den Schauspielerinnen und Schauspieler zu leisten haben, um in der erotisch-ökonomischen Blickkonstellation des Theaters Anerkennung zu erfahren und ihre prekäre Arbeitsexistenz zu überwinden. Der Prostitutionsdiskurs seit den 1990er Jahren bei She She Pop und Jochen Roller verweist auf einen prekären Status des Darstellers und der Darstellerin im ökonomischen Gefüge, der im Abgleich zu anderen Dienstleistungen wie jenen von Verkäuferinnen und Verkäufern sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern neu befragt werden muss, um sich selbst zu finden und zu legitimieren. Mit der
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Zuschreibung der Prostitution werden somit Erfahrungen ökonomischer Krisen sowie veränderter Produktionsbedingungen am Theater problematisiert und verhandelt. Eine Ökonomie des Begehrens plädiert damit auch für einen erweiterten Blickwinkel auf Produktionsverhältnisse am Theater im Ineinanderwirken von Kunstproduktion, gesellschaftlich formierten Begehren an Subjekten, ihrer Körperlichkeit, Sexualität und Geschlechtsidentität sowie sozioökonomischer Verhältnisse.
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Schwedes, Hermann: Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. Die Lebensformen der Theaterleute und das Problem ihrer bürgerlichen Akzeptanz. Bonn: Verlag für systematische Musikwissenschaft 1993. Seelig, Ludwig: Geschäftstheater oder Kulturtheater? Berlin: Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehörigen 1914. Seeßlen, Georg: »Hurengeschichten«, in: Ders.: Erotik. Ästhetik des erotischen Films. Marburg: Schüren 1996, S. 252-261. Seidler, Ulrich: »Der Chor der Professionellen«, in: Berliner Zeitung vom 15.12.2010. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M.: Fischer 1995. –, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Siedler 2000. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript 2006. –, »›Un-Fug‹: Gespenster und das Wahrnehmungsdispositiv des Theaters«, in: Ders./Petra Bolte-Picker: Subjekt: Theater. Beiträge zur analytischen Theatralität. Festschrift für Helga Finter zum 65. Geburtstag. Frankfurt. a. M. [u.a.]: Peter Lang 2011, S. 31-45. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Berlin: Duncker und Humblot 1958. –, »Zur Psychologie des Geldes (1889)«, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 267-281. Springer, Peter: Voyeurismus in der Kunst. Berlin: Reimer 2008. Stein, Roger: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006. Stelzer, Tanja: »Die neuen Nackten«, in: Die Zeit vom 29.03.2012. Stephan, Inge: »Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ›ersten Geschlechts‹ durch men’s studies und Männlichkeitsforschung«, in: Dies./Claudia Benthien (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau 2003, S. 11-35. Stümcke, Heinrich: Die Frau als Schauspielerin. Leipzig: Rothbarth 1905. Sucher, C. Bernd (Hg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. München: dtv 1999. Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele. Lateinisch/deutsch. Stuttgart: Reclam 1988. Thurner, Christina: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld: transcript 2009. Trappmann, Vera: »Widerspenstige Körper. Kapitalismuskritik im Tanz«, in: Karina Becker/Lars Gertenbach/Henning Laux/Tillmann Reitz (Hg.): Grenz-
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verschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands. Frankfurt/New York: Campus 2010, S. 339-358. Traub, Ulrike: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld: transcript 2009. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes 2011. Wagner, Hedwig: Die Prostituierte im Film. Zum Verhältnis von Gender und Medium. Bielefeld: transcript 2007. Wahl, Christine: »Würstchen, Brutalos und neckische Sexarbeiterinnen«, in: Spiegel Online vom 12.12.2010. Wartemann, Geesche: Theater der Erfahrung. Authentizität als Forderung und Darstellungsform. Hildesheim: MuTh 2002. Watzka, Stefanie: Verborgene Vermittler. Ansätze zu einer Historie der Theateragenten und -verleger. Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft. Marburg: Tectum 2006. Wild, Christopher J.: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. 1. Aufl. Freiburg i. Br.: Rombach 2003. Williams, Linda: »Pornografische Bilder und die ›Körperliche Dichte des Sehens‹«, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Id-Verlag 1997, S. 65-97. Zola, Émile: Nana. Frankfurt a. M.: Fischer 2009.
L INKLISTE 01 http//www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article &id=4800%3Avolker-loesch–inszeniert-lulu-die-nuttenrepublik&catid =126%3Ameldungen&Itemid=1 vom 24.10.2010. 02 http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article &id=5030%3Alulu-&catid=34%3Aschaubuehne-berlin&Itemid=105# comment-17873 vom 04.01.2010. 03 http://nuttenrepublik.wordpress.com/2010/10/04/sexworker-spielen-theater/ vom 18.10.2010. 04 http://de.wikipedia.org/wiki/Prostitution vom 09.09.2011. 05 http://www.duden.de/rechtschreibung/Begehren vom 24.03.2012. 06 http://www.duden.de/rechtschreibung/vorspielen vom 30.05.2012. 07 http://www.krone.at/Stars-Society/Karina_Sarkissova_Mit_nackter_Haut_ zum_Promi_getanzt-Ueber_Nackt_beruehmt-Story-269403 vom 18.04.2012.
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08 http://www.oe24.at/leute/oesterreich/Eklat-um-nackte-Staatsoper/4455843 vom 18.04.2012. 09 http://www.theregister.co.uk/2010/10/11/ ballerina_canned/vom 14.04.2012. 10 http://diestandard.at/1285200621285/Zu-viel-Haut-fuer-das-Haus-am-Ring vom 18.04.2012. 11 http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,722161,00.html vom 18.04. 2012. 12 http://cujah.com/publications/volume-vi/reading-marina-abramovicsperformance-art-feminist/ vom 29.04.2012. 13 http://bodytracks.org/2012/02/marina-abramovic-role-exchange-2/ vom 29. 04.2012. 14 http://www.transeuropa-festival.de/2006/ansehen.php?menu=programm vom 04.05.2012. 15 http://vntheatre.com/en/projects/performances-2002-2008/incasso/about/ vom 04.05.2012. 16 http://www.sheshepop.de/produktionen/archiv/trust.html vom 02.05.2012. 17 http://www.uni-giessen.de/fb03/vinci/labore/lounge/rz_hh.htm vom 02.05. 2012. 18 http://www.berliner-zeitung.de/archiv/wenn-ideen-zu-projekten-werdenhebbel-am-ufer-was-tun-die-ungleichen-brueder-theater-und-wirtschaftmiteinander-,10810590,10548114.html vom 01.05.2012. 19 www.jochenroller.de vom 06.05.2012.
Dank
Die vorliegende Arbeit ist aus einer biographisch motivierten Frage heraus entstanden, die mich als Performerin seit vielen Jahren umtreibt: In welche Diskursgeschichte des Theaters trete ich ein und mit welchen Blicken werde ich konfrontiert, wenn ich als ›Frau‹ die Bühne betrete. Aus diesem Willen zum Wissen formierte sich das Dissertationsprojekt zu den Verhandlungen über Theater und Prostitution, das eines ›Zimmers für mich allein‹ ebenso bedurfte wie all jener, die mich dabei mit Rat und Tat unterstützt haben. Annemarie Matzke war die fabelhafteste Doktormutter, die sich eine Doktorandin wünschen kann. Ihre kontinuierliche Förderung und ihr kritisches Feedback haben sehr produktiv und diskursiv meine Arbeit begleitet und geformt. Dafür bin ihr außerordentlich dankbar. Für ihre Gutachten und Anregungen danke ich Jens Roselt und Christina Thurner sehr. Dankbar bin ich Hajo Kurzenberger, dass er mich zur Promotion gefördert und die Verbindung von Theatertheorie und Theaterpraxis gelehrt hat. Dem Kollegium des Instituts für Medien, Theater und populäre Kultur der Universität Hildesheim danke ich herzlichst für den wissenschaftlichen Austausch in Kolloquien und auf Korridoren. Die Studierenden, besonders des Kurses »Theater und Sexualität« im WS 2010/11, haben mich durch ihre regen Diskussionen in meiner Arbeit sehr motiviert. Als studentische Hilfskräfte haben mir Mia Panther und Antonia Tittel bestens den Rücken frei gehalten. Silvie Marks und Silke Pohl bin ich sehr dankbar für das umsichtige Lektorat dieses Buches. Für ihre Unterstützung und Ermutigungen in den verschiedenen Lebenslagen, die eine solche Dissertation mit sich bringt, danke ich besonders Margrit Barthauer, Nora Graupner, Barbara Hornberger, Tatjana Kautsch, Sinje Kuhn, Lissa Lehmenkühler, Eva Rühlmann-Dippel, Tanja Schröder und Sylvia Sobottka. Für die künstlerische Praxis mit der Fräulein Wunder AG, Teilhabe und Freundschaft danke ich Anne Bonfert, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Malte Pfeiffer und Carmen Waack. Gewidmet ist die Dissertation meiner Mutter. Für ihren Rückhalt und ihre Fürsorge bin ich ihr ganz besonders dankbar.
Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2014, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2
Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Juni 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion (unter Mitarbeit von Nadine Peschke und Nikola Schellmann) 2012, 752 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Juli 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2392-5
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater entwickeln und planen Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste 2013, 320 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2572-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Mai 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse August 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9
Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2014, 416 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4
Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters Eine Soziologie der Regie 2013, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2342-0
Joy Kristin Kalu Ästhetik der Wiederholung Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2288-1
Gunter Lösel Das Spiel mit dem Chaos Zur Performativität des Improvisationstheaters
Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven 2013, 234 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2
Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9
Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8
Daniela A.M. Schulz Körper – Grenzen – Räume Die katalanische Theatergruppe »La Fura dels Baus« und ihre Performances 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2316-1
Nina Tecklenburg Performing Stories Erzählen in Theater und Performance April 2014, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2431-1
2013, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2398-7
Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.
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