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German Pages [527] Year 2020
Literatur- und Mediengeschichte der Moderne
Band 7
Herausgegeben von Ingo Stöckmann Reihe mitbegründet von Hermann Korte
Peter Berger
Das unrettbare Ich und die Bühne Zur Produktivität der Subjekt-Semantik im Drama und Theater um 1900
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Vincenzo Dragani, Ghost acton on theater stage, 2014, Alamy (Bild-ID: FA275B, https://www.alamy.com/stock-photo-ghost-acton-on-theater-stage-92247943.html) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5227 ISBN 978-3-7370-1227-0
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Hinführung: Subjekt, Drama, Subjekt im Drama um 1900 – Ermöglichungsbedingungen einer Relation 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vorstellung der leitenden These . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 14
2. Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode . 2.1 Dramen- und theaterwissenschaftliche Forschungsperspektiven 2.2 ›Subjekt‹: methodische Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . 2.3 Das ›Subjekt‹ in der Dramenforschung . . . . . . . . . . . . . .
17 17 25 28
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3. Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Forschung zum Subjekt – kursorischer Überblick und Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Wortgeschichte(n) des semantischen Feldes . . . . . . . . . . . . . 3.4 Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität vor Etablierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 ›Starke‹ Subjektivität in der theoretischen Subjektphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 ›Starke‹ Subjektivität in der praktischen Philosophie . . . . . 3.5 Problematisierungen des ›starken Subjekts‹ . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Depotenzierungen des ›starken‹ Subjekts . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Dezentrierungen des ›starken‹ Subjekts . . . . . . . . . . . .
35 35 41 46 53 55 66 90 107 109 127
6
Inhalt
3.6 Subjektsemantische Optionen um 1900: ein Panorama . . . . . . . 4. Subjekt im Drama um 1900: Zur Plausibilisierung des Untersuchungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Dramen- und theaterhistorische Ermöglichungsbedingungen 4.2 Subjekt im Drama um 1900: zeitgenössische Relationierungen 4.3 Erläuterung des Untersuchungszeitraums . . . . . . . . . . .
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5. Vorschau: Hinsichten der Bearbeitung der Subjekt-Semantik im Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Das Subjekt in Dramen um 1900: Analysen 1. Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters? Zur Produktivität von ›Theater‹ als Kunstform und Motiv für die Subjekt-Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einleitung: Theatermoderne und Subjekt-Semantik . . . . . . . . 1.2 Theatralisierung des Naturalismus: Strindberg Fräulein Julie / Fröken Julie (1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ich-Obsession als Diagnose und Theater als Heilung? Wedekinds König Nicolo (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Vertreibung des ›starken‹ Subjekts vom Theater. Döblins Lydia und Mäxchen (1905/06) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Wurstelspiel statt Welttheater: Schnitzlers Burleske Zum großen Wurstel (1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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217
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223
2. Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verräumlichung des Innerpsychischen oder: Das Ich als Bühnenraum und Raumkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Einleitung: Bewusstseinsvermittlung und Raum im Drama . . 2.1.2 Das petrifizierte Ich als Raumkunst: Die weiße Fürstin (2. Fassung, 1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Subvertierung des gespaltenen Ich: Evreinovs In den Kulissen der Seele / V kulisach dusˇi von 1912/1920 . . . . . . . . . . . 2.1.4 Sehnsucht (1895) – Dauthendeys panpsychistisches Gesamtkunstwerk des Bewusstseins oder: totalisiertes statt depotenziertes Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Schönbergs Die glückliche Hand (1911/1913) als Kunst-Vision und Vision des Subjekts . . . . . . . . . . . . .
231 232 232 243 252
261 270
Inhalt
2.2 Diskontinuierliche Szenenfolgen und ihre Leistungen für die Darstellung von Subjekt-Semantiken . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Einleitung: Die diskontinuierliche Szenenfolge als Begriff und in der Dramenhistorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Theatergeschichtlicher Exkurs I: Diskontinuität und Subjekt auf der Bühne. Die Aufführungsgeschichte von »Faust« und »Woyzeck« bis hin zur Theatermoderne . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Lückenhafte Boulevarddramatik: Schnitzlers Anatol (1893) . 2.2.4 Parodie der Stationendramatik als Kommentar zur Selbstfindung des Subjekts: Kaisers Von morgens bis mitternachts (1913/1917) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dezentrierung oder Rezentrierung? ›Masse‹ und ›Gemeinschaft‹ in ihrem Verhältnis zum ›starken‹ Subjekt im Drama . . . . . . . . . . . 3.1 Die Masse und ihre Führung. Zur Problematisierung des Individuums im ›Massen-Drama‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Einleitung: Historische Semantik der ›Masse‹ und ihre literarische Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Theatergeschichtlicher Exkurs II: Die Bühnengeschichte der ›Masse‹. Einige Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Masse ohne Führung: Hauptmanns Die Weber (1892) . . . . 3.1.4 Hypertropher Individualismus und perhorreszierte ›Masse‹: Samuel Lublinskis Peter von Rußland (1906) . . . . . . . . . . 3.1.5 Individualität durch ›Masse‹? Georg Kaisers Gas (1918) . . . . 3.1.6 Ich-Drama zur Erlösung der ›Masse‹? Tollers Masse Mensch (1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Zusammenfassender Überblick: Die Leistung der ›Massendramen‹ für die ›Frage nach dem Subjekt‹ . . . . . . 3.2 Communitas und Einzelfigur. Der ›Tod‹ des Subjekts als Ermöglichungsbedingung von Gemeinschaftsvisionen . . . . . . . 3.2.1 Einleitung: Gemeinschaft, Theatergemeinschaft, Communitas 3.2.2 Verlust des Zentrums: Maeterlincks Die Blinden / Les Aveugles (1890) als Metadrama und Drama des Subjektverlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Solipsismus versus »Menschenleben«: Hofmannsthals Der Tor und der Tod (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Communitas als Vor-Spiel: Rilkes Spiel (1898) . . . . . . . . .
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283 283
291 298
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317 318 318 333 343 360 368 383 395 398 398
404 420 433
8
Inhalt
C. Schlussbetrachtungen 1. Rückblick: Zugänge und Ergebnisse der Arbeit . . . . . . . . . . . . .
445
2. Ausblick: Die Tode des Subjekts und kein Ende? . . . . . . . . . . . .
449
D. Literaturverzeichnis 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
455
2. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Artikel aus Lexika, Enzyklopädien und Historischen Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Forschungstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523
463 466
Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Ende 2019 eingereichten Dissertation. Ihr Anspruch, die intrikate Verbindung zwischen Drama und Subjekt-Semantik um 1900 an möglichst vielen Texten und anhand verschiedener Aspekte aufzuweisen, hat die Arbeit stark anwachsen lassen und ihre Bearbeitungszeit entsprechend verlängert. Die Entstehung war nicht krisenfrei und hat mir sowie meinem Umfeld Einiges abverlangt. Dass sie in dieser Form erscheinen kann, verdanke ich der Unterstützung vieler Menschen, denen diese Danksagung gilt. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Ingo Stöckmann danken, dessen Empathie, Vertrauen und Loyalität mir viel bedeutet haben. In akademischer Hinsicht habe ich ihm nahezu alles zu verdanken. Weiterhin danke ich meinen Eltern Kathrin und Jens Berger für ihr großherziges und elterlich-aufmerksames Begleiten meines leicht größenwahnsinnigen Projekts. Und ich danke den vielen, vielen Menschen, die meinen langen und gewundenen Weg mit Sympathie und Nachsicht begleitet haben, sei es über die gesamte Strecke, sei es ein kleines Stück. Aus dieser großen Gruppe möchte ich meine langjährige Partnerin Anna herausgreifen, ohne die ich die Arbeit niemals hätte schreiben können, sowie repräsentativ meine lieben Freunde Annabel, Harry und Matthias nennen. Ich danke euch.
A. Hinführung: Subjekt, Drama, Subjekt im Drama um 1900 – Ermöglichungsbedingungen einer Relation
1.
Einleitung
1.1
Übersicht
Im ersten Teil der Arbeit (A.) seien zunächst – methodische, begriffliche, sachliche, historische – Klärungen unternommen, die nötig sind, um ihren Zuschnitt und ihre Reichweite sowie ihre Grenzen zu verdeutlichen. Der hier gewählte Begriff ›Hinführung‹ soll demnach präzise das sein: Indem die These dargestellt und plausibilisiert wird und ihre historischen Ermöglichungsbedingungen dargelegt werden, soll der erste Teil zum Analyseteil der Arbeit (B.) hinführen. Im Schlussteil (C.) werden die gewonnenen Ergebnisse zusammengefasst und eingeordnet. Außerdem soll abschließend ein Ausblick auf die abermaligen Toterklärungen des Subjekts im Poststrukturalismus und deren Haltbarkeit versucht werden. Die fünf Kapitel des ersten Teils umfassen eine kurze Vorstellung des Vorhabens samt seiner Implikationen (1.), die in drei umfangreichere Abschnitte überführt: Zunächst soll die spezifische Problematik der Dramenforschung vorgestellt und geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen es plausibel ist, die Problematisierungen der Subjekt-Semantik auf dramatische Texte zu beziehen (2.). Im Anschluss daran wird mit der unübersichtlichen Semantik des ›Subjekts‹ und seiner verwandten Termini in seiner historischen Entwicklung – wenn man so will: seinem Aufstieg und Fall – vertraut gemacht und die subjektsemantische Situation um 1900 skizziert (3.). Schließlich wird vor dem Hintergrund der Forschung, durch Aufweis der Ermöglichungsbedingungen und mit Verweis auf zeitgenössische Gewährsleute aufgezeigt, dass und wie Drama und Subjekt-Semantik um 1900 personell wie verfahrenstechnisch unterschiedlich aufeinander bezogen worden sind (4.). Eine knappe Übersicht über die in den folgenden Analyseteilen explizierten Hinsichten, in denen Subjektproblem und Dramatik um 1900 ›in Verhandlung‹ getreten sind, schließt die Hinführung ab (5.).
14
1.2
Einleitung
Vorstellung der leitenden These
Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, zu erweisen, dass die im 19. Jahrhundert und besonders zu dessen Ende hin erfolgten Problematisierungen der Semantik des ›Subjekts‹ in den dramatischen Texten um 1900 auf verschiedenen Ebenen produktiv gewirkt haben. Diese These besagt, dass sich an Dramen der Jahrhundertwende eine – dramenspezifische – Auseinandersetzung mit der kulturellen Verunsicherung über den Status eines ›starken‹ Subjektkonzepts anhand verschiedener Aspekte beobachten lässt, die bislang selten oder gar nicht in diesen Zusammenhang gestellt worden sind. Anhand eines ästhetisch disparaten Korpus’, das Dramentexte unterschiedlicher ästhetischer Programmierung und Kanonisiertheit von ca. 1890 bis 1920 versammelt, soll erwiesen werden, dass die hier behauptete Verbindung formative Leistungen für die moderne Dramatik erbracht hat. Demgegenüber besagt die These nicht, dass alle Dramen um 1900 einen solchen Zusammenhang erkennen lassen, noch besagt sie, dass die Auseinandersetzung mit der Subjektproblematik die einzige oder alles entscheidende Produktivkraft für die um 1900 zu beobachtende Proliferation dramatischer Formoptionen oder gar der literarischen Programme gewesen ist. Ebenso wenig impliziert die These eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der ›Frage nach dem Subjekt‹ und ihren Theoretikern: Diese Frage, die vor 1900 und auch besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts virulent gewesen ist, wird hier ausschließlich als historisches Phänomen behandelt. Dadurch wird die Arbeit davon entlastet, zu dem Für und Wider der subjektzentrierten Theorien des späten 20. Jahrhunderts Stellung zu beziehen. Der gewählte Zugang ist ein konsequent historischer, in diesem Fall semantikgeschichtlicher bzw. konzeptgeschichtlicher, womit sich die Überzeugung verbindet, dass man auf diese Weise angemessen auf den Untersuchungsgegenstand – Dramentexte um 1900 – reagiert. Wenn die hier vertretene These zutrifft, handelt es sich bei der ›Frage nach dem Subjekt‹ also um eine Semantik, die die Produzenten dramatischer Texte so stark irritiert hat, dass sie in den Formen und Figurationen ihrer Dramen darauf reagiert haben. Die Chance dieser These besteht erstens darin, die formalen und inhaltlichen Neuerungen im Drama ab ca. 1890 entgegen dem bis heute wirkmächtigen Narrativ einer Krise des modernen Dramas1 und insbesondere seiner Form als 1 Locus classicus dieses Narrativs ist: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas 1880–1950. Frankfurt a.M. 1963, bes. S. 20f. u. S. 74–82. Die Wirkmächtigkeit seines Ansatzes lässt sich schon damit belegen, dass Szondis immerhin über 60 Jahre alten Bestimmungen in einem neueren Handbuch zum Drama und einem Band der Monatshefte zu Relektüren literaturwissenschaftlicher Klassiker mit eigenen Artikeln gewürdigt werden und darin für eine Beschäftigung mit ihm geworben wird (vgl. Boenisch, Peter M.: Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell. In: Marx, Peter W. (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Ana-
Vorstellung der leitenden These
15
eine produktive Reaktion auf Aspekte der zu dieser Zeit viel diskutierten Kulturkrise2 lesbar werden zu lassen. Auf diese Weise wäre es möglich, auf die geschichtsphilosophischen Implikationen des Narrativs verzichten zu können und dennoch die damit verbundene Historisierung dramatischer Formgebung analytisch nutzbar zu machen. Ferner wird durch die These möglich, ein heterogenes Korpus von Texten zu untersuchen, ohne Kriterien wie deren Kanonizität oder ›Programmierung‹ über ihre Zugehörigkeit entscheiden zu lassen. Drittens lässt die These hoffen, dass die in anderen Hinsichten und für andere Gattungen bereits nachgewiesene literarische Produktivität kultureller Krisenphänomene3 sich auch in der diesbezüglich aus noch zu klärenden Gründen unterrepräsentierten Gattung des Dramas aufzeigen lässt. Mit der Arbeit verbindet sich somit die Hoffnung, der Dramenforschung und insbesondere der scheinbar überforschten Dramenforschung um 1900 neue Impulse geben zu können – ohne aber den sich verbrauchenden revolutionären Gestus kulturlyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2012, S. 157–161, bes. S. 161 sowie Berghahn, Klaus L.: Peter Szondi, »Theorie des modernen Dramas« (1956). In: Monatshefte 101,3 (2009), S. 307–313, bes. S. 312). Dass dieses geschichtsphilosophische Krisennarrativ elegische Modernenarrative – hier: von Hegel ausgehend und an Georg Lukács anschließend – aufgreift und literaturanalytisch wiederholt, ist eine für die literaturwissenschaftliche Moderneforschung insgesamt bezeichnende Interferenz (vgl. Stöckmann, Ingo: Erkenntnislogik und Narrativik der Moderne. Einige Bemerkungen zu Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz »Was ist eigentlich modern?« und Thomas Anz’ Kritik. In: IASL 34,1 (2009), S. 224–231, bes. S. 227). Über die Implikationen dieser Interferenz für die Dramenforschung wird unten noch zu reden sein. Drei Anmerkungen zu Formalia: 1. Einmal im Fußnotenapparat vollständig bibliographisch erfasste Texte werden in der Folge mit im Literaturverzeichnis aufzuschlüsselnden Kurztiteln zitiert, wobei der Einfachheit halber auf die Angabe a. a. O. verzichtet wird. Bei einschlägigen begriffsgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken bzw. Zeitschriften wird auf die vollständige bibliographische Angabe im Fußnotenapparat zugunsten der geläufigen Abkürzung – etwa: ÄG 3 für Ästhetische Grundbegriffe, Band 3 – verzichtet und entsprechend im Literaturverzeichnis nachgereicht. 2. Hervorhebungen in zitierten Texten werden unterschiedslos als Kursivierungen wiedergegeben. Alle Kursivierungen in Zitaten entstammen, sofern nicht ausdrücklich anders angegeben, den zitierten Stellen. Literarische Texte werden im Fließtext nur dann kursiv angegeben, wenn sie in der Arbeit Gegenstand einer Analyse sind. 3. Wenn zwischen den erstmaligen Veröffentlichung eines Textes bzw. seiner Entstehung und dem Veröffentlichungsjahr der benutzten Auflage ein beträchtlicher Unterschied besteht, wird, sofern möglich, nach Nennung des Haupttitels in eckigen Klammern das Jahr der Erstveröffentlichung bzw. Entstehung angegeben. 2 Vgl. dazu nur: Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt a.M. 1996, bes. S. 13–76; Bruch, Rüdiger vom / Graf, Friedrich Wilhelm / Hübinger Gangolf (Hg,): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Stuttgart 1989, bes. dies: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, S. 9–24 sowie ebd. Hübinger, Gangolf: Krise und Kultur. Ergebnisse der Schlußdiskussion, S. 197–202. 3 Vgl. z. B. Göttsche, Dirk: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a.M. 1987.
16
Einleitung
wissenschaftlicher ›turns‹ heranziehen zu müssen. Zu erweisen hat sich der etwaige Gewinn der Arbeit nicht am Nachweis von Kongruenzen mit theoretischen Gewährsleuten, sondern an der Plausibilität der in dieser Perspektive durchgeführten Textanalysen. Die im Titel aufgerufene Bezugnahme auf das Theater um 1900 ist als ergänzende Perspektive auf den Zusammenhang von Drama und Subjekt zu verstehen. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Produktivität der SubjektSemantik für Dramentexte nicht zuletzt einem intensiven und fruchtbaren Austausch mit der Theaterpraxis und -theorie des Untersuchungszeitraums verdankt. Diesem Sonderstatus des Theaters für den hier behandelten Bezug wird erstens durch ein eigenes Analysekapitel Rechnung getragen, in dem die Bezugnahme auf Theater und Theatralität in Dramentexten vor dem Hintergrund der subjektkritischen Theatermodernisten als Auseinandersetzungen mit der Subjekt-Semantik lesbar gemacht werden, und zweitens, indem gelegentlich in Form von theatergeschichtlichen Exkursen und Hinweisen zur Aufführungsgeschichte der analysierten Texte die Theaterpraxis in Erinnerung gerufen wird. Die Aufnahme von »Theater« in den Titel der Arbeit bedeutet also nicht einen zweiten analytischen Schwerpunkt, sondern hat die Funktion, die zumal in diesem Zeitraum virulente Interdependenz der Geschwisterkünste Drama und Theater zu betonen. Obwohl sich diese Arbeit als literaturwissenschaftliche versteht und ihre Analysen mit literaturwissenschaftlichem Instrumentarium betrieben werden, soll dadurch die unhintergehbare Verwiesenheit der dramatischen Gattung auf eine außerliterarische Kunstform bewusst gehalten werden.
2.
Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
2.1
Dramen- und theaterwissenschaftliche Forschungsperspektiven
Der These dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass sich ›Drama‹ und ›Subjekt‹ sinnvoll und Gewinn bringend aufeinander beziehen lassen, mehr noch: dass diese Bezugnahme nicht allein inhaltlich, sondern insbesondere formal erfolgte. Um diese Annahme begründen zu können, muss geklärt werden, unter welchen methodischen Vorentscheidungen es sinnvoll erscheint, basale Konzepte wie ›das Subjekt‹ – bzw. ihre kritische Befragung – auf formale Innovationen der dramatischen Form zu beziehen. Für ein solches Erkenntnisinteresse hat die Dramenforschung allerdings weder genügend konkrete Untersuchungen noch ein Modell formgeschichtlicher Entwicklung1 anzubieten. Dieser Umstand hat in erster Linie forschungsgeschichtliche Gründe, die kurz skizziert werden müssen. Hinsichtlich des konzeptuellen Defizits der Dramenforschung ist zwischen dramentheoretischen und im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Momenten zu unterscheiden. Der dramentheoretische Grund hat dabei eine lange Vorgeschichte, die bis in die Frühe Neuzeit zurückzuverfolgen ist. So hat die Delegitimation der dramatischen Gattungsnormen im Laufe des 18. Jahrhunderts zu alternativen Ordnungsversuchen geführt, von denen sich zwei Traditionsstränge bis weit ins 20. Jahrhundert als dominant erwiesen haben: Die erste Linie betreibt den Versuch einer Relegimitation der tradierten Gattungspoetik, indem im Rekurs auf die Ontologisierung der Gattungen um 1800 (Goethes ›Naturformen‹) die Fülle dramatischer Texte auf ahistorische Formtypen reduziert wird – eine Tendenz, die sich innerhalb des Forschungsparadigmas der 1 Die seit dem Formalismus angemahnte Verfahrengeschichte der Literatur ist jüngst von Moritz Baßler geschrieben worden – bezeichnenderweise beschränkt sich diese jedoch auf die Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Baßler, Moritz: Deutsche Erzählprosa 1850– 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin 2015).
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Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
›Geistesgeschichte‹ im 20. Jahrhundert durch Übernahme kunsthistorischer Formmodelle2 (Walzel, Klotz) sowie anthropologischer bzw. existenzialontologischer Annahmen3 (Petsch, E. Staiger) gehalten hat und in Form von Typologien immer noch geläufiger Gegenstand dramenanalytischer Einführungsliteratur4 ist. Die zweite Linie historisiert das Drama zwar, doch wird es in ein spekulativgeschichtsphilosophisches Schema integriert, durch das die Gattung zugleich aufgewertet und als geschichtsphilosophisch in der Krise befindlich beschreibbar wird (A.W. Schlegel, Schelling, bes. Hegel u. Vischer5). Diese Linie der »Koppelung eines Formapriorismus mit einer geschichtsphilosophischen Interpretation des Formwandels«6 setzt sich im 20. Jahrhundert beim frühen Georg Lukács7 fort, auf den sich Peter Szondis berühmte »Theorie des modernen Dramas« bezieht. Die erstaunliche Langlebigkeit dieses Textes8 verdankt sich nicht zuletzt den luziden Textbeobachtungen, die das dialektische Modell – Divergenz von Formund Inhaltsaussage, die nach gescheiterten Formversuchen schließlich zur Konvergenz der beiden zurückfindet9 – als analytisch fruchtbarer erwiesen haben als jüngere, methodisch ›zeitgemäßere‹ Ansätze.10 Was Szondis Theorie für diese 2 Vgl. Haas, Claude: Tektonik. Architekturen der Malerei im Drama. In: Trajekte 24 (2012), S. 25–29. 3 Vgl. Klausnitzer, Ralf: Geistesgeschichtlich-anthropologische Gattungstheorie. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar 2010, S. 174–177. 4 Siehe Platz-Waury, Elke: Drama und Theater [1978]. Eine Einführung. 5., vollst. überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen 1999; Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse [1980]. 8., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2016; Scherer, Stefan: Einführung in die Dramen-Analyse. 2., erweitere Auflage. Darmstadt 2013; Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart 2017. 5 Vgl. Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie. 2 Bände. Frankfurt a.M. 1974. Vgl. bes. ebd., Band 2, ders.: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, S. 7–184. 6 Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 195. 7 Vgl. Soziologie des modernen Dramas, Theorie des Romans. 8 Auch wenn Szondis Arbeit neuerdings eher historisiert und dabei seine gegenüber der geistesgeschichtlichen Reaktion der 1950er Jahre innovative Leistung betont wird, zeigt sich ihre unverändert große Bedeutung etwa darin, dass seine Theorie in einschlägigen Handbüchern mit eigenen Artikeln gewürdigt wird (vgl. Scherer, Stefan: Philologische Modernisierung in der Restauration. Literaturwissenschaft in den 1950er Jahren: Peter Szondi. In: Schönert, Jörg (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Stuttgart/Weimar 2000, S. 292–316; Abel, Julia: Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1956). In: Hölter, Achim / Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorie, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart 2013, S. 324f.; Boenisch: Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell). Eine produktive Fortführung von Szondis Theorie findet sich bei Bremer, Kai: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956. Bielefeld 2017. 9 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880–1950, bes. S. 20f. u. 74–82, wobei Hegels Ästhetik die geschichtsphilosophische und dialektische Argumentationsstruktur vorgegeben hat (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik III. In: Ders.: Werke. Band 15. Hgg. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1970, S. 474–574). 10 Vgl. etwa: Andreotti, Mario: Traditionelles und modernes Drama. Eine Darstellung auf semiotisch-strukturaler Basis. Mit einer Einführung in die Textsemiotik. Bern [u. a.] 1996.
Dramen- und theaterwissenschaftliche Forschungsperspektiven
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Arbeit interessant macht, ist der Umstand, dass der von ihm beobachtete dramatische Formwandel anhand gewandelter anthropologischer Grundannahmen erläutert wird. Diese Annahmen werden mit Verweis auf Hegel und Lukács zum Fundament einer ontologisierend als ›das Drama‹ bezeichneten Idealform erklärt, wobei Wandlungen anthropologischer Vorstellungen mit Formwandlungen in Verbindung gesetzt werden – ein Gedanke, der als Ausgangsintuition dieser Arbeit gelten kann. Der Haupteinwand gegen Szondis Theorie ist seine Verpflichtung auf ein geschichtsphilosophisches Schema, was erstens zur Folge hat, dass im Rahmen des Narrativs für Ausnahmen kein Platz ist – wie die Exklusion von Shakespeares Historien belegt11 – sowie zweitens, dass das Schema eine dialektische Triade konstruiert, die den Formenpluralismus um 1900 als Krisenphänomen abqualifizieren und aufgrund der spekulativen Abstraktionshöhe einen historisch unspezifischen Begriff von Subjektivität und Objektivität annehmen muss. Im Hinblick auf den hier interessierenden Zusammenhang von Subjektsemantik und Dramenform ist die die Forschung lenkende Bedeutung von Szondis Text kaum zu überschätzen. Die Skepsis gegenüber solchen ›großen Erzählungen‹ und ihren ›weiträumigen‹ Argumentationsgängen hat dafür gesorgt, dass innerhalb des strukturalistischen Paradigmas formgeschichtliche Überlegungen zum Drama unterblieben sind: Während die textfunktionalistisch argumentierende strukturalistische Dramenforschung (Souriau, Greimas, Herta Schmid) am Aufweis von Korrelationen zwischen Dramenform und textexternen Daten wenig Interesse gehabt hat, hat sich die kommunikationstheoretisch informierte strukturalistische Dramentheorie eher der grundlegenden Erarbeitung eines dramenanalytischen Begriffskatalogs gewidmet (Pfister).12 Auch die an der Durchsetzung der Theatersemiotik13 ab 1980 und des performative turn um 200014 ablesbare Dominanz theaterwissenschaftlicher Forschung hat für die formgeschichtlich orientierte Dramenforschung eher hemmend gewirkt: Dramenhistorisch ausgelegte Arbeiten fokussieren sich so stark auf Impulse, die das Drama von der Theaterge11 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880–1950, S. 15. 12 Einen Überblick über die dramentheoretischen Tendenzen von den 1960er bis in die Mitte der 1990er Jahre mit Schwerpunkt auf kommunikationstheoretischen und theatersemiotischen Ansätzen bietet Krieger, Gottfried: Dramentheorie und Methoden der Dramenanalyse. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden [1995]. Eine Einführung. 4., erweiterte Auflage. Trier 2004, S. 69–92. Knapp informiert über die Tendenzen der Forschung seit dem 19. Jahrhundert: Scherer, Stefan: Einführung in die Dramen-Analyse. Darmstadt 2010, S. 19–23. 13 Vgl. Pavis, Patrice: Problèmes de sémiologie théâtrale. Montréal 1976; Elam, Keir: The semiotics of theatre and drama. London [u. a.] 1980; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. 3 Bände. Tübingen 1983, Esslin, Martin: The field of drama. How the signs of drama create meaning on stage and screen. London [u. a.] 1987; Carlson, Marvin: Theatre semiotics. Sign of life. Bloomington, IND 1990. 14 Allen voran: Fischer-Lichte; Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004.
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schichte erhalten hat15, dass die Erforschung außerästhetischer Impulse dahinter zurücksteht.16 Bezüge des Theaters und Dramas zum Subjekt werden in neueren Arbeiten dieses Forschungsfeldes mithilfe des Konzepts der praxeologischen Subjektivierung (Foucault, Reckwitz) einbezogen, bei dem sich noch zeigen muss, ob sie für Dramenforschung operationalisierbar zu machen ist.17 Die forschungspolitisch zu begründende Tendenz der Theaterwissenschaften, dramenhistorische Entwicklungen als Elemente einer übergeordneten Theatergeschichte zu perspektivieren18, zeigt sich besonders scharf in dem wirkmächtigen Ansatz, das geschichtsphilosophische Krisenschema von Szondi in die Gegenwart zu verlängern. Bei Hans-Thies Lehmann bildet nun nicht mehr die Episierung des Dramas, sondern dessen Deprivilegierung im Regime der Postdramatik den Schluss der dialektischen Triade – womit dann das ›Drama‹ als historisch spezifische Aberration westlicher Theaterkultur an sein Ende gekommen sein soll.19 Der Dominanz der Theatersemiotik korrespondieren seit den 1990er Jahren semiotische Ansätze, die etwa Theatralität in literarischen Texten sichtbar machen20 oder dramaturgische Grundsituationen wie die große Szene21, das 15 Vgl. Erika Fischer-Lichtes Geschichte des Dramas und die Arbeiten von Hans-Peter Bayerdörfer sowie von Christopher Balme. 16 Eine Ausnahme: In Fischer-Lichtes Dramengeschichte wird der Versuch unternommen, die Entwicklung der Gattung als Geschichte der Problematisierung von Identität zu lesen. Diese Arbeit hat ihrem Zugang wichtige Anregungen zu verdanken (Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Band 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen [u. a.] 1990, zur Leitthese: S. 1–12). 17 Ein Aufsatz der Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch deutet darauf hin, dass man, wenn man so beobachtet, theatrale Performativität gegenüber textuellen Quellen bevorzugt, womit der Ansatz für theaterwissenschaftliche Forschung vermutlich attraktiver ist (vgl. Kolesch, Doris: Austauschverhältnisse. Die Geburt des modernen Subjekts auf dem Theater. In: Kreuder, Friedemann (Hg. u. a.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012, S. 21–39). 18 Vgl. Andreas Kottes nach Rudolf Münz’ Vorschlag ausgearbeitete Theorie der Theatralitätsgefüge (s. u.). 19 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 2., veränderte Auflage. Frankfurt a.M. 2005, S. 43f. u. 76–93. Diese These vom Ende des Dramas und der Herrschaft des Theaters liegt auch einer neueren Monographie von ihm zugrunde, die das Tragische und das Drama historisch gegeneinander abzugrenzen versucht (Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2015). Sie ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben: Poschmann setzt dem ein differenziertes Bild des keineswegs mehrheitlich auf dramatische Spieltexte verzichtenden Gegenwartstheaters entgegen, während Korthals mittels des Kriteriums der Geschehensdarstellung narrative und dramatische Texte einander annähert und die große Bedeutung des ›literarischen Dramas‹ für die Theaterpraxis betont (vgl. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 20–37 sowie Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003, bes. 53–74). 20 Vgl. Matala deretz Mazza, Ethel / Pornschlegel, Clemens (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Freiburg 2003.
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Erblicken22, den Auftritt/Abtritt23 oder die Flucht24 beobachten. Diese Arbeiten deuten insgesamt auf eine Formgeschichte ›dramaturgischer Standardsituationen‹ hin, die ältere Untersuchungen zu den Grundelementen des Dramas25 präzisieren, ein Vorhaben, das neben dem neuerdings wieder erwachten Interesse an der Formgeschichte der Tragödie26 bzw. Benjamins Trauerspiel27 und ihren anthropologischen Implikationen für die Dramenforschung hoffen lässt.
21 Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg 2002. 22 Neumann, Gerhard: Proverb in Versen oder Schöpfungsmysterium? Hofmannsthals Einakter zwischen Sprach-Spiel und Augen-Blick. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 183–234 u. ders.: Pygmalion: Die Geburt des Subjekts aus dem Körper der Statue. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zweiter Band. Berlin / New York 1998, S. 782–810. 23 Vogel, Juliane: Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers »Don Carlos«. In: DVjs 86,4 (2012), S. 532–546; Haas, Claude / Polaschegg, Andrea (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Freiburg [u. a.] 2012; Vogel, Juliane / Wild, Christopher (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014; Bergmann, Franziska / Tonger-Erk, Lily (Hg.): Ein starker Abgang. Inszenierungen des Abtretens in Drama und Theater. Würzburg 2016 u. Vogel, Juliane: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle von Racine bis Nietzsche. Paderborn 2018. 24 Menke, Bettine / Vogel, Juliane (Hg.): Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters des Flüchtigen. Berlin 2018. 25 Zur Figur vgl. Greiner, Norbert: Figur. In: Ders. / Hasler, Jörg / Kurzenberger, Hajo / Pikulik, Lothar: Einführung ins Drama. Band 2: Figur, Szene, Zuschauer. München/Wien 1982, S. 11– 67 sowie den Abschnitt in Pfister, Manfred: Das Drama [1977]. Theorie und Analyse. 11. Auflage. Köln [u. a.] 2011, S. 220–264. Zur Handlung vgl. Pikulik, Lothar: Handlung. In: Ders. / Greiner, Norbert / Hasler, Jörg / Kurzenberger, Hajo: Einführung ins Drama. Band 1: Handlung. München/Wien 1982; Werling, Susanne: Handlung im Drama. Versuch einer Neubestimmung des Handlungsbegriffs als Beitrag zur Dramen-Analyse. Frankfurt a.M. [u. a.] 1989 sowie in Auseinandersetzung mit der Figur Schmid, Herta: Ist die Handlung die Konstruktionsdominante des Dramas? In: Poetica 8 (1976), S. 177–207. Zu Dialog und dramatischer Kommunikation vgl. Pfister: Das Drama, S. 149–219; Zimmer, Reinhold: Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext. Dialogformen in deutschen Dramen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Göttingen 1982 sowie Kiel, Ewald: Dialog und Handlung im Drama. Untersuchungen zu Theorie und Praxis einer sprachwissenschaftlichen Analyse literarischer Texte. Frankfurt a.M. 1992. Zu Zeit und Raum vgl. Pütz, Peter: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970; Pfister: Das Drama, S. 327–381 sowie Hasler, Jörg: Szene. In: Ders. / Greiner, Norbert / Kurzenberger, Hajo / Pikulik, Lothar: Einführung ins Drama. Band 2: Figur, Szene, Zuschauer. München/Wien 1982, S. 69–122; Matala de Mazza, Ethel / Retzlaff, Stefanie: Einheit der Zeit. Überlegungen zu einem anachronistischen Dogma. In: Gamper, Michael (Hg. u. a.): Zeit der Form – Formen der Zeit. Hannover 2016, S. 19–36. – Vgl. auch die Überblicksartikel von Kretz und Boenisch in einem neueren Handbuch zum Drama: Kretz, Nicolette: Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog). In: Marx, Peter W.: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2012, S. 105–121 sowie Boenisch, Peter M. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition. In: ebd., S. 122–144. 26 Vgl. Menke, Bettine / Menke, Christoph (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Berlin 2007; Greiner, Bernhard: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges.
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Trotz dieser jüngeren Entwicklungen ist doch dem kürzlich geäußerten Befund, dass die Dramenforschung im Vergleich zur Erzählforschung weniger vital ist28, noch immer zuzustimmen. Gründe dafür lassen sich in der literaturwissenschaftlichen Methoden- und Theorieentwicklung seit den 1960er Jahren finden. Die weit ausgearbeitete Narratologie des französischen Strukturalismus (Barthes, Genette, Ricœur) hat ein »narratologische[s] Paradigma« entstehen lassen, dem die kaum geringere Textfixierung poststrukturalistischer Ansätze korrespondierte und Erzähltexte zum »selbstverständlichen Gegenstand literaturwissenschaftlichen Arbeitens«29 werden ließ. Eine konstitutiv auf theatrale Aufführung bezogene literarische Gattung muss diesem Paradigma ein weniger naheliegender Forschungsgegenstand sein – es sei denn, ihre Theatralität wird ignoriert oder sie wird mit den Begriffen der Narratologie beobachtet.30 Da die seit der Kulturalisierung der Literaturwissenschaften schwelende Legimitationskrise philologischer Fächer neuerdings mittels einer die narrative Verfasstheit der Kultur belegenden allgemeinen Erzähltheorie31 begegnet wird, ist nicht zu erwarten, dass sich diese gattungsspezifische ›Schlagseite‹ der Aufmerksamkeit in den Literaturwissenschaften in nächster Zeit wesentlich verändern wird. Insgesamt ist also zu konstatieren, dass die genuin literaturwissenschaftliche Dramenforschung zwischen Theaterwissenschaft und kulturwissenschaftlicher sowie poststrukturalistischer Narratologie in den letzten Jahrzehnten nachgerade marginalisiert worden ist. Das mag auch der Hauptgrund dafür sein, dass für den Konnex von Drama und Subjektsemantik wegweisende Arbeiten32 sehr verzögert wieder aufgegriffen worden sind.
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Grundlagen und Interpretationen. Stuttgart 2012; Ette, Wolfram: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung. Weilerswist 2011. Vgl. nur Menke, Bettine: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – Das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen. Bielefeld 2010; Haas, Claude / Weidner, Daniel (Hg.): Benjamins Trauerspiel. Theorien – Lektüren – Nachleben. Berlin 2014; Geisenhanslüke, Achim: TrauerSpiele. Walter Benjamin und das europäische Barockdrama. Paderborn 2016. Vgl. Haas, Claude / Polaschegg, Andrea: Der Einsatz des Dramas. Erste Schritte zu einer Dramenpoetik des Anfangs. In: Dies. (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Freiburg [u. a.] 2012, S. 7–36, S. 13. Zwar beziehen sich die Autoren explizit auf die systematische Dramenforschung, doch gilt ihr Befund für die theoretisch anspruchsvolle historische Dramenforschung nicht minder. Beide Zitate ebd., S. 10. Vgl. nur Nünning, Ansgar / Sommer, Roy: Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse. In: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 105–128. Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarbeitete und erweitere Auflage. Wien [u. a.] 2008 sowie insbesondere: Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012. Vgl. Hinck, Walter: Individuum und Gesellschaft im expressionistischen Drama. In: Catholy, Eckehard / Hellmann, Winfried (Hg.): Festschrift für Klaus Ziegler. 1968, S. 343–359 sowie
Dramen- und theaterwissenschaftliche Forschungsperspektiven
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Für diese Untersuchung besonders folgenreich ist die Präferenz für Erzähltexte im etwa seit den 1990er Jahren sehr dynamischen Beziehungsgefüge von Literatur und Wissen33 – wobei hier insbesondere Wissen um den Menschen interessiert. Das gattungsspezifische Ungleichgewicht der behandelten Texte34 lässt sich bereits bei dem Konzept der literarischen Anthropologie35 beobachten, deren Exponenten sich intensiv mit dem anthropologischen Wissen des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben.36 Nicht allein, dass mit dem Forschungskonzept der »Poetologien des Wissens«37 das narratologische Paradigma
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bes. Kesting, Marianne: Der Abbau der Persönlichkeit. Zur Theorie der Figur im modernen Drama. In: Keller, Werner (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas. Darmstadt 1976, S. 211–235. Vgl. dazu die einführenden Forschungsberichte von Pethes, Nicolas: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28,1 (2003), S. 181–231, Wübben, Yvonne: Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945. In: Dies. / Borgards, Roland / Neumeyer, Harald / Pethes, Nicolas / (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 5–16 sowie die instruktiven Aufsätze eines neueren Bandes zu Literatur und Wissen (Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/New York 2011). Vgl. ferner Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, Richter, Karl / Schönert, Jörg / Titzmann, Michael: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Dies. (Hg,): Die Literatur und die Wissenschaften (1770–1930). Stuttgart 1997, S. 9–48 sowie Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin/New York 2008. Als ein Beleg unter vielen mag gelten, dass in dem in der vorigen Fußnote angegebenen und unter Anderem von Borgards herausgegebenen Handbuch zur Verbindung von Literatur und Wissen 23 Beispielanalysen angeboten werden, von denen ganze zwei Theatertexte sind – wobei Becketts »Acte sans Paroles I« seine programmatische Textferne bereits im Titel trägt und mithin ostentativ kein Drama im geläufigen Sinn darstellen will. Vgl. Riedel, Wolfgang: Art. Literarische Anthropologie. In: RLW II, S. 432–434. Vgl. Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der Selbstbiographie. Hagen 1986, Barkhoff, Jürgen / Sagarra, Eda (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, Schings, Hans-Jürgen (Hg.): Der ganze Mensch, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, Kosˇenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. Das gilt auch für eine Sammlung von Aufsätzen Wolfgang Riedels zur »Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit«, die, obwohl im Titel auf Schiller angespielt wird, von 22 Aufsätzen gerade einmal fünf Dramentexte thematisieren (vgl. Hien, Markus / Storch, Michael (Hg.): Um Schiller: Studien zur Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit. Festgabe zum 65. Geburtstag Wolfgang Riedels. Würzburg 2017). Für die Forschung zum späten 19. Jahrhunderts gilt das gezeichnete Bild nicht minder: Zwar finden sich in Riedels Studie zur ›natürlichen‹ Anthropologie um 1900 wie auch Stöckmanns Arbeit zur Wissensgeschichte und Poetologie des Willens im ausgehenden 19. Jahrhundert zwar auch dramatische Texte, doch dominieren Erzähltexte bei weitem (vgl. Riedel, Wolfgang: »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin [u. a.] 1996 sowie Stöckmann, Ingo: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880– 1900. Berlin [u. a.] 2009). Vgl. Vogl, Joseph: »Für eine Poetologie des Wissens«. In: Richter, Karl / Schönert, Jörg / Titzmann, Michael (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften (1770–1930). Stuttgart 1997, S. 107–127 sowie ders.: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002.
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auf Wissen darstellende, also diskursive Texte appliziert wird, sondern auch, dass die Forschung zur Verarbeitung zeitgenössischer Wissensbestände in literarischen Texten überwiegend auf Erzähltexte rekurriert, belegt den Eindruck, dass methodisch avancierte Text-Kontext-Theorien eher selten dramatische Forschungen angeregt haben. Die so überaus einflussreiche Diskurstheorie Foucaults, die sich bekanntlich mit dem Auftauchen und Verschwinden des hier Subjekt genannten Konzepts sowie der Herstellung und Reglementierung von Subjektivitäten, aber auch deren Selbstgestaltung und -reglementierung beschäftigt hat, bezieht sich auf ästhetische Artefakte eher als Zeugnisse von Dispositiven und ist weniger an der Semantik, sondern schlechthin an diskursiver Erzeugung von Subjektivität interessiert – wie auch die auf Foucault aufbauenden soziologischen und historischen Arbeiten belegen.38 Differenzierter fällt das Bild für diskurstheoretische Arbeiten in den Literaturwissenschaften aus. Zwar überwiegt auch hier die Beschäftigung mit narrativen Texten, doch finden sich auch wichtige Arbeiten zu dramatischen Texten, deren thematische und epochale Schwerpunkte nicht zufällig die lange Zeit ›apokryphen‹ Dramen Kleists und Büchner sind.39 Das an Foucault anschließende Konzept des Interdiskurses hat wiederum in überwältigender Zahl Untersuchungen zu narrativen und diskursiven Texten hervorgebracht.40 Die große Ausnahme unter den Fortentwicklungen der Diskursanalyse stellt zweifellos der New Historicism dar, den Greenblatt durch Studien zur britischen Renaissancezeit, besonders aber zu Shakespeare
38 Vgl. nur die für den Untersuchungsgegenstand ›Subjektivierung‹ einschlägigen Arbeiten von Sarrasin und Reckwitz (Sarasin, Philip: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a.M. 2001; Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006; ders.: Subjekt. 2., unveränderte Auflage. Bielefeld 2010) und die einschlägigen Sammelbände (Keller, Reiner (Hg. u. a.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012; Elberfeld, Jens / Otto, Marcus (Hg.): Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik. Bielefeld 2009). 39 Es ist natürlich nicht möglich, das im Einzelnen nachzuweisen. Ein Hinweis darauf ist aber der Umstand, dass Modellanalysen zur Einführung in die Diskursanalyse in der Regel narrative Texte heranziehen. Auf diesen Umstand wurde im Hinblick auf die allgemeine theoretische ›Unterversorgung‹ der Dramenforschung bereits hingewiesen (Haas / Polaschegg: Erste Schritte zu einer Dramenpoetik des Anfangs, S. 10f., FN 19). Zum Übergewicht an Analysen zu Erzähltexten sei summarisch noch an die Arbeiten von Rüdiger Campe, Achim Geisenhanslüke, Klaus-Michael Bogdal und Friedrich Kittler sowie die kultursemiotischen Arbeiten von Albrecht Koschorke erinnert, ohne dass dabei bes. Campes Arbeiten zu Dramen unterschlagen werden sollen. 40 Vgl. nur Ernst, Thomas / Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. Eine Festschrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag. München 2016. Vgl. neben denen von Rolf Parr auch die Arbeiten von Jürgen Link.
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erprobt hat.41 Den Grundintuitionen des New Historicism bezüglich Wissenszirkulation verdankt auch diese Arbeit viel, ohne dass sie sich diesem Ansatz konsequent verschreibt.
2.2
›Subjekt‹: methodische Vorentscheidungen
Angesichts der aufgeführten Forschungsbeiträge mag es verwundern, dass dennoch an der These festgehalten wird, dass sich diese Arbeit kaum auf eingespielte Methoden stützen kann. Das liegt an bestimmten Vorentscheidungen im Hinblick auf die Bearbeitung der Verbindung von Drama und Subjekt. Es wird hier die Überzeugung vertreten, dass die Infragestellung ›des‹ Subjekts nicht allein an vereinzelten Autoren oder Strömungen, sondern seit etwa 1890 auf breiter Fläche an höchst heterogenen Dramentexten zu beobachten ist. Da die Krise ›des‹ Subjekts nicht einem einzigen Spezialdiskurs entstammt42, erscheinen wissensgeschichtliche Zugänge, die etwa konkrete Lesefrüchte oder Wissenstransfers an einzelnen literarischen Texten untersuchen, als methodisch nicht zielführend.43 Konzeptuell wird stattdessen von einem dynamischen, offenen Kulturbegriff im Sinne von Geertz und besonders Greenblatt ausgegangen, in dem Wissensbestände als ›soziale Energie‹ zirkulieren, als »a subtle, elusive set of exchanges, a network of trades and trade-offs, a jostling of competing representations, a negotiation between joint-stock companies«44, ohne dass es sinnvoll wäre, nach Einflusszusammenhängen zu fragen.45 Auch Greenblatts Skepsis gegenüber autonom schaffenden Akteuren und starken Kollektivsubjekten sowie sein Bewusstsein der angesichts des Uferlosigkeit des Materials unumgänglichen Kontingenz der Selektion aus diesen Materialbeständen sind für diese Arbeit anschlussfähig.46 Allerdings erscheint für eine nicht zuletzt formgeschichtlich
41 Vgl. Greenblatt, Stephen: Renaissance self-fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, IL 1980 sowie bes. ders.: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley, CA 1989. 42 Vgl. dazu die Informationen zum Aufstieg und Fall dieser Vorstellung ›starker‹ Subjektivität in Kapitel 3 dieses Teils. 43 Vgl. Titzmann, Michael: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in der Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438, S. 409. 44 Vgl. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 6 et passim. 45 Siehe dazu auch den Überblick bei Krämer, Olav: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/ New York 2011, S. 77–115. 46 Vgl. dazu Baßler, Moritz: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: Ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit
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Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
orientierte Arbeit das von Greenblatt praktizierte ›wide reading‹ problematisch: Anstatt die texttypologischen Unterschiede von literarischen und nichtliterarischen Texten bei der Beobachtung der Verhandlung ihrer ›Warenzirkulation‹ zu verwischen, versucht diese Arbeit gerade, zu klären, welche dramentextspezifischen Verfahren der Bearbeitung des Subjektproblems entwickelt worden sind. Auch der bei Greenblatt betriebene Aufweis analoger Redeweisen in literarischen und nicht-literarischen Texten hat sich aufgrund des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit, die die diskursiv vielfach vermittelte Subjekt-Krise als eine der »kulturellen Beunruhigungen«47 dieser Zeit liest, als nicht angemessen erwiesen. Da es in der Arbeit nicht um den Aufweis diskursiver Regularien geht, sondern um die Untersuchung der dramenspezifischen Bearbeitungen einer ästhetisch produktiv wirkenden ›kulturellen Beunruhigung‹, wird ›Subjekt‹ in dieser Arbeit konsequent als Semantik analysiert. Die Option für Semantik gründet in der Annahme, dass mit der definitorischen Offenheit dieses Konzepts die Polymorphie des Zusammenhangs der ›Subjekt-Krise‹ weit adäquater beschrieben werden kann als mit dem voraussetzungsreichen und implikationsstarken Diskurskonzept. ›Subjekt‹ als Semantik – und mit den Werkzeugen der historischen Semantik48 – zu analysieren, ermöglicht die synkretistische Integration von Theorieelementen der Koselleck’schen Begriffsgeschichte49, der systemtheoretisch grundierten Untersuchung ›gepflegter Semantik‹50 sowie von Elementen des ›Deutungsmusters‹ im Sinne Bollenbecks51, ohne dass damit alle Annahmen dieser Ansätze übernommen werden müssen.52 Ein genuin diskursanalytischer Zugang müsste hier schon deshalb scheitern, weil dessen Funktionalisierung von literarischen Texten als Exponate von Diskursen die Literarizität der dramati-
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Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u. a. 2., aktualisierte Auflage. Tübingen 2001, S. 7–28. Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar 2011, S. 104. Die Analogie zu der von Stöckmann so bezeichneten Semantik der ›Masse‹ ist kein Zufall und wird im entsprechenden Kapitel zum Verhältnis von ›Masse‹ und ›Subjekt‹ weiter beleuchtet. Vgl. dazu erschöpfend: Müller, Ernst / Schmieder, Falko: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin 2016. Das gilt besonders für Kosellecks Ansatz einer eigenständigen Begriffsgeschichte neben und im Austausch mit der Sozialgeschichte (vgl. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte [1972]. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 107–129). Vgl. Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 9–71, S. 13. Vgl. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. / Leipzig ²1994, bes. S. 15–20. So ist es zum Beispiel fraglich, ob angesichts der Polyonymie der Subjekt-Semantik wirklich von einer an spezifischen Begriffen gebundenen ›gepflegten‹ Semantik gesprochen werden kann. Gleichwohl ist die Kopplung von Semantik mit gesellschaftsstrukturellem Wandel für diese Arbeit anschlussfähig.
›Subjekt‹: methodische Vorentscheidungen
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schen Texte zu verdecken tendiert, der Fokus aber gerade auf den Bearbeitungen in Dramentexten liegt. Das ›Subjekt‹ als Diskurs zu beschreiben, hieße, die foucaultianische Perspektive einzunehmen und an der erwähnten Weiterführung seiner Überlegungen unter praxeologischen Auspizien zu partizipieren; es hieße, einem spezifischen Subjektkonzept zu folgen, einem, das sich durch Aussageformationen und Verhaltensregeln konstituiert und ins Zentrum einer Episteme gestellt wird, eines, dessen Dezentrierung konstatiert und dessen subversive Kraft beschrieben und beschworen wird – kurz, es hieße, selbst einer sehr einflussreichen Semantik des Subjekts zu folgen, die kulturhistorisch nicht weniger ortsgebunden ist als die des 19. Jahrhunderts.53 Der hier geübte Verzicht auf das von der Diskursanalyse konstruierte ›Subjekt‹ und seiner politischen Schlagseite ermöglicht es, den Blick auf die Eigenleistung der Dramentexte zu lenken. Damit sollte deutlich geworden sein, was der Schwerpunkt der Arbeit ist: Er ist weder der Kontext, also das Material, das für Literatur nutzbar gemacht wird, noch die Zirkulation, also der Prozess der Austausches, sondern der Text selbst, also die Untersuchung von Verfahren, mittels derer in Texte diffundiertes Material bearbeitet und zur Darstellung gebracht worden ist. Die Arbeit begnügt sich daher in der Beschreibung der Zirkulation der Problematisierung der Subjektsemantik auf den Aufweis von Plausibilitäten und verzichtet auf »Positivismen wie Empirie, Herleitbarkeit, kausale Verknüpfung oder vollständige Beschreibbarkeit«54, in dem Bewusstsein, dass in derart komplexen Textwelten die Herstellung der Bezüge auch anders ausfallen könnte. Das hier vertretene eher weiche, man könnte auch sagen: »idiosynkratische«55 Konzept des Transfers von Semantiken wird dem so schwer greifbaren, sich unter vielen Namen und Diskursen versteckenden und nicht selten gewissermaßen als ›blinder Passagier‹ reisenden ›Subjekt‹ eher gerecht als eine Rezeptionsgeschichte, wie sie etwa für den Darwinismus56 oder die Psychologie57 oder neuerdings die Psychiatrie58 53 Selbstverständlich sind die für eine Semantikgeschichte des ›Subjekts‹ einschlägigen Ergebnisse von Foucaults von dieser methodischen Entscheidung nicht betroffen und sind entsprechend einbezogen worden. 54 Baßler: Einleitung, S. 13. 55 Vgl. Vogl, Joseph: Robuste und idiosynkratische Theorie. In: KulturPoetik 7,2 (2007), S. 249– 258. 56 Vgl. Sprengel, Peter: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1988; Die Rezeption der Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Hgg. eingeleitet und mit einer Auswahlbibiliographie versehen v. Eve-Marie Engels. Frankfurt a.M. 1995; Michler, Werner: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859–1914. Wien [u. a.] 1999; Engels, Eve-Marie (Hg.): Charles Darwin und seine Wirkung. Frankfurt a.M. 2009 sowie allgemein: Sarasin, Philip / Sommer, Marianne (Hg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart [u. a.] 2010, bes. S. 89–140 u. 203–414. 57 Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1983, Thomé, Horst: Autonomes Ich und inneres Ausland. Studien
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Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
unternommen werden konnte, oder eine auf begriffliche Schärfe angewiesene Text-Kontext-Theorie.59 Diesem Diffusitätsproblem des Gegenstands korrespondiert ein Quantitätsproblem: Schon die bloße Kartographie des ›starken Subjekts‹ und seiner Infragestellung, die unten versucht wird, hat kaum zu bewältigende Mengen an Material zu bearbeiten. Eine auf positive Belastbarkeit oder gar Vollständigkeit ausgerichtete Studie zum Subjekt allgemein oder zu diesem um 1900 im Besonderen wäre – einmal abgesehen von ihren methodischen Schwierigkeiten – mit dem hier verfolgten Interesse an literarischen Formentwicklungen auch quantitativ unvereinbar und muss der Forschung als Aufgabe gestellt werden. Zugespitzt könnte man sagen, dass der hier beschrittene Weg eines close-readings dramatischer Texte vor dem Hintergrund einer ›kulturellen Beunruhigung‹ methodisch eine bewusst gewählte Verlegenheitslösung darstellt: Ihr Hauptaugenmerk auf den Text basiert auf begründeten Vermutungen hinsichtlich des Kontextes, deren minutiöse Ausarbeitung noch aussteht und zu der hier nur Ansätze beigetragen werden können.
2.3
Das ›Subjekt‹ in der Dramenforschung
Bevor die ›Subjekt‹-Semantik und ihre Befragung näher beleuchtet wird, ist noch zu klären, in welcher Form das Subjekt im Drama überhaupt in Erscheinung treten kann. Überblickt man die diesbezügliche Dramenforschung, lassen sich bezeichnende Beobachtungen anstellen.
über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993 u. Schwarz, Olaf: Das Wirkliche und das Wahre. Probleme der Wahrnehmung in Literatur und Psychologie um 1900. Kiel 2001 sowie allgemein: Lohmann, Hans-Martin / Pfeiffer, Joachim: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart [u. a.] 2013, bes. S. 277–430. 58 Vgl. Bühler-Dietrich, Annette: Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Tübingen 2012. 59 Daher wird davon abgesehen, dem von Baßler unterbreiteten – aber erkennbar an der Textualität narrativer Texte orientierten – Vorschlag zu folgen, Kultur als synchrones Korpus von Texten zu konzeptualisieren und anhand von ›Suchbefehlen‹ im synchronen intertextuellen Feld Analogien, Äquivalenzen, Entsprechungen aufzuweisen (vgl. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005). Da die Subjekt-Semantik in den Künsten stets polymorph verhandelt wird, müsste für jeden einzelnen Text geprüft werden, welche subjekttheoretischen Grundannahmen auf welche Weise behandelt werden, was im Hinblick auf das ›In-der-Luft-Liegen‹ dieser Beunruhigung nicht selten unter der positiven Nachweisgrenze liegt. Ein sozusagen ›defensives‹ Aufweisen von Plausibilitäten ermöglicht hingegen, ein breiteres Korpus literarischer Texte heranzuziehen – und dennoch sorgfältige Textanalysen anbieten zu können.
Das ›Subjekt‹ in der Dramenforschung
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So ist festzuhalten, dass die Forschung das Subjekt im Drama vor allem anhand der Beobachtung dramatischer Figuren untersucht hat.60 Das ist naheliegend, da, so die verbreitete Annahme, dramatischen Figuren historisch variante Vorstellungen über menschliche Individuen, mithin auch über Subjektivität, zu Grunde liegen.61 Allerdings ist gerade dieser Konnex von der Figurenforschung problematisiert worden. Wenn man Figuren streng werkästhetisch auf ihre Funktion für das Textganze hin liest, ist es unplausibel, ihren subjektkonzeptuellen Grundlegungen nachzuspüren. So handelt es sich nach strukturalistischem62 Verständnis bei einer Figur um ein Bündel von Merkmalen, das in Kontrast oder Korrespondenz zu anderen Merkmalsbündeln als Aktantenrollen bestimmte Funktionen für das Handlungsschema einnimmt.63 Dieses Verständnis hat den Vorzug, die ontologische Differenz zwischen Figuren und realen 60 Vgl. nur die folgende Auswahl wichtiger Arbeiten: Kersting: Der Abbau der Persönlichkeit, bes. S. 215–225 u. 228–232; Fuchs, Elinor: The death of character. Perspectives on theater after modernism. Bloomington [u. a.] (IN) 1996, vgl. bes. S. 21–35; Lukas, Wolfgang: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, Methodik in nuce S. 16f.; Grugger, Helmut: Dramaturgie des Subjekts bei Heinrich von Kleist. Die Familie Schroffenstein, Der zerbrochne Krug, Amphitryon, Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn, Prinz Friedrich von Homburg. Würzburg 2010, zur Methode bes. die Einleitung und das erste Kapitel, S. 13–46. 61 Ein Beleg dafür mag sein, dass Autoren mit Interesse an möglichst individueller und auf programmatischer Nähe zur Anthropologie der Rezipienten beruhenden Figurendarstellung von diesen als Menschen gesprochen haben: Man denke an Lessings Hamburgische Dramaturgie, Goethes Rede von »Schäkespears Menschen« oder an Strindbergs Vorwort zu »Fräulein Julie«, in dem er gleichfalls von Menschen spricht (vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie [1767–69]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Band 9. Hgg. v. Karl Lachmann. 3., aufs Neue durchgesehene und vermehrte Auflage besorgt von Franz Muncker. Leipzig [u. a.] 1886, S. 192 et passim; Goethe, Johann Wolfgang v.: Zum Schäkespears Tag. In: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe. Band 17: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. 1. Band. Berlin 1960, S. 184–188, S. 187; Strindberg, August: Fröken Julie. In: Ders.: Samlade verk. Band 27: Fadren, Fröken Julie, Fordringsägare. Hgg. v. Gunnar Ollén. Stockholm 1984, S. 99–190, S. 105). Dieses Ineinander von Menschen- und Figurenbegriff gilt auch noch für die Forschung: So weist Käte Hamburger auf das »Fragmentarische der dramatischen Menschengestaltung« hin und wird in einem amerikanischen Beitrag formuliert, Figuren seien »an intensified simplification of human nature«, dann wird damit neben der ontologischen Differenz auch die Verwiesenheit auf Annahmen über den Menschen betont (Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart ²1968, S. 165f.; States, Bert O.: The Anatomy of Dramatic Character. In: Theatre Journal 37,1 (1985), S. 86–101, S. 91). 62 Präziser müsste von bestimmten strukturalistischen Positionen gesprochen werden, weil sich die Ansätze innerhalb der strukturalistischen Schulen stark unterscheiden (vgl. Jappe, Lilith / Krämer, Olav / Lampart, Fabian: Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen. In: Dies. (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin [u. a.] 2012, S. 1–35, hier S. 4). Vgl. auch den zeitgenössischen Beitrag von Mukarˇovský, Jan: Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters. In: Van Kesteren, Aloysius / Schmid, Herta (Hg.): Moderne Dramentheorien. Kronberg/Ts. 1975, S. 76–95. 63 Vgl. Souriau, Etienne: Les deux cent mille situations dramatiques. Paris 1950; Algirdas Julien: Strukturale Semantik [1966]. Braunschweig 1971; Ubersfeld, Anne: Lire le Théâtre. Paris 1978.
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Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
Personen scharf fassbar zu machen und zur Typologisierung unterschiedlicher Figurentypen nicht auf unscharfe Metaphern wie ›Offenheit‹, ›Weite‹ oder ›Tiefe‹ rekurrieren zu müssen.64 Figuren bestehen in dieser Sicht aus einem finiten Set an Informationen und unterscheiden sich durch die Menge an Informationen, die über sie vermittelt werden sowie ihre Position im Ensemble der Figuren. Sie existieren nicht außerhalb der Szenen, in denen sie vorkommen, was bedeutet, dass sie, anders als reale Personen, an ihre Kontexte gebunden und von diesen unablösbar sind.65 Einem derart funktionalistischen Figurenbegriff wurde allerdings entgegengehalten, dass er die »Illusionsmächtigkeit literarischer Figuren«66 nicht zu erklären vermag, also den Umstand, dass Rezipienten unterschiedlicher Zeiten bereit gewesen sind, sie Menschen gleich zu setzen (– was besonders bei dramatischen Figuren gilt und damit erklärt wird, dass sie in der Regel von menschlichen Schauspielern dargestellt werden67 und seit dem 18. Jahrhundert Menschendarstellung als Ziel der Schauspielkunst ausgegeben wurde68). Dieses Defizit hat in der neueren Forschung unter anderem dazu geführt, die Rezeption literarischer Figuren mit Hilfe kognitionswissenschaftlicher Theorien zu rekonstruieren.69 Das erlaubt es einerseits, die Bedeutung mentaler Modelle bei der Konstruktion literarischer Figuren durch die Rezipienten herauszuarbeiten. Andererseits ermöglicht diese Erweiterung des funktionalistischen Figurenbegriffs die Reflektion anthropologischer Aspekte von Figuren auf der Grundlage der Beobachtung, dass auch Weltwissen über reale Personen in literarische Figuren inferiert wird. Anhand dieses Verständnisses von Figuren hat 64 Dazu besonders einschlägig ist Bentley, der sich kritisch auf E.M. Forsters für die Romananalyse geschaffene Typologie von ›flat‹ und ›round‹ characters bezieht und vorschlägt, stattdessen von geschlossenen und offenen Figuren zu sprechen (vgl. Bentley Eric: Das lebendige Drama [1964]. Eine elementare Dramaturgie. Velber 1967, S. 40–46 u. 68f.). Vgl. auch die Unterscheidung zwischen Weite, Länge und Tiefe bei Beckerman, Bernhard: Dynamics of Drama. Theory and Method of Analysis. New York 1970, S. 241. 65 Vgl. Pfister: Das Drama, S. 221f. 66 Grabes, Herbert: Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 (1978), S. 405–428, S. 405. 67 Vgl. Greiner, Norbert: Figur. In: Ders. / Hasler, Jörg / Kurzenberger, Hajo / Pikulik, Lothar: Einführung ins Drama. Band 2: Figur, Szene, Zuschauer. München/Wien 1982, S. 11–67, S. 14f. 68 Vgl. dazu Kurzenberger, Hajo: Die ›Verkörperung‹ der dramatischen Figur durch den Schauspieler. In: Berg, Jan / Hügel, Hans-Otto / ders. (Hg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim 1997, S. 106–121. 69 Vgl. Schneider, Ralf: Grundriss zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000; Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin [u. a.] 2004; Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008. Vgl. bes. auch den von diesen gemeinsam herausgegebenen Sammelband: Eder, Jens / Jannidis, Fotis / Schneider, Ralf: Characters in Fictional Worlds. Interdisciplinary Perspectives. Understanding imaginary beings in literature, film, and other media. Berlin [u. a.] 2010, bes. die Einleitung, S. 3–64, sowie die umfangreiche Bibliographie, S. 572–596.
Das ›Subjekt‹ in der Dramenforschung
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Jannidis einen interkulturell gültigen »Basistypus« als »Informationsstruktur« literarischer Figuren gewonnen: Er umfasst die Merkmale Intentionalität, Trennung von inneren Zuständen und äußeren Wahrnehmungen sowie die Differenz zwischen stabilen inneren Merkmalen und vorübergehenden inneren Zuständen.70 Es zeigt sich also, dass eine für die prätextuellen Grundlagen literarischer Figuren sensible Forschung die strukturalistische Reduktion der Figur fragwürdig gemacht hat. Angesichts dieser Entwicklung sehen die Autoren eines jüngeren Bandes zum Figurenwissen die kulturelle Codiertheit literarischer Figuren in der Erzählliteratur für in der Forschung »allgemein anerkannt« an, und konstatieren, literarische Autoren beziehen sich in der Konzeption ihrer literarischen Figuren in aller Regel auf psychologisches und anthropologisches sowie literarisches Wissen, das heißt auf psychologische und anthropologische Annahmen, die in ihrer Zeit und ihrem kulturellen Umfeld geläufig sind, sowie gegebenenfalls auf in der literarischen Tradition vorgeprägte Figurentypen.71
Der Wissensbegriff, der hier gebraucht wird, orientiert sich an Michael Titzmanns pragmatischen Vorschlag, alle Annahmen und Konzepte als kulturelles Wissen zu bezeichnen, die in einer bestimmten Zeit in einer Kultur oder von Teilen einer solchen als wahr akzeptiert worden sind.72 Auf der Basis dieses weiten Wissensbegriffs und seiner Applikation auf literarische Figuren scheint es methodisch legitim, auch historische Konzepte des Subjekts in dramatischen Figuren rekonstruieren zu können. Eine solche historisch spezifische anthropologische Substruktur dramatischer Figuren ist bereits bei strukturalistisch und semiotisch orientierten Dramenforschern angenommen worden73, hat sich dort jedoch bislang nur sehr begrenzt in Forschungsaktivität übersetzt.74 Innerhalb dieser Gruppe, die Subjektivität 70 Jannidis, Fotis: Zu anthropologischen Aspekten der Figur. In: Engel, Manfred / Zymner Rüdiger (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004, S. 155–172, bes. S. 169–172. 71 Jappe / Krämer / Lampart: Einleitung, S. 1. 72 Vgl. Titzmann, Michael: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zs. f. französische Sprache und Literatur 99,1 (1989), S. 47–61, hier: S. 48–50. 73 Vgl. Pfister, Das Drama, S. 220–264, bes. S. 240 sowie Greiner: Figur, S. 11–67, bes. S. 18f. 74 In Wolfgang Lukas’ Arbeit zu Schnitzler wird ein textübergreifender Code zur Überwindung traditioneller Subjektivität und der Desillusionierung dieser Überwindungssemantiken angenommen, dessen Entwicklung in unterschiedlichen Werkphasen sowie zugleich in narrativen und dramatischen Texten nachvollzogen wird. Die Figuren erscheinen somit werkbiographisch als Variationen eines übergeordneten Textverfahrens, das jedoch auf der Ebene semantischer Oppositionen verbleibt und dadurch weder Ergebnisse strukturalistischer Figurenforschung noch die Eigenleistungen der bezeichnenderweise kaum voneinander unterschiedenen literarischen Gattungen reflektiert (vgl. Lukas: Das Selbst und das Fremde, bes. S. 11–20).
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Das Drama und sein Subjektbezug: zur Forschung und Methode
anhand dramatischer Figuren behandelt, muss eine Unterabteilung erwähnt werden, die sich dadurch auszeichnet, Subjektivität an Figuren semiotisch, d. h. in diesem Falle, über nicht-sprachliche Zeichensysteme vermittelt, zu beobachten. Besonders Gerhard Neumanns Verfahren, Innovationen der dramatischen Blickregie mit Einschnitten der Subjektgeschichte, die aus neuem Wissen über menschliche Wahrnehmung erklärt werden, zu korrelieren, sind hierfür einschlägig.75 Auch an der dramatischen Figur orientiert, aber im Gegensatz zu den semiotischen Ansatz eher ›inhaltistisch‹ verfahren Arbeiten, in denen versucht wird, Subjektivität im Drama über Motive76 oder über die Aneignung antiker und barocker Stoffe77 zu untersuchen. Anspruchsvoller argumentieren Beiträge, die ›Leben‹ und ›Tat‹ für die Literatur um 1900 als strukturbildende Kompensationsbegriffe für krisenhafte Subjektivität lesen.78 Indem diese von den dramatischen Figuren abstrahieren, wird es möglich, zu fragen, ob Subjektivität bzw. ihre Verunsicherung in der Tiefenstruktur der Texte nachweisbar ist. So argumentieren etwa Arbeiten, die dramatische Topoi wie das ›Theatrum mundi‹ oder dramaturgische Konventionen wie das Spiel-im-Spiel oder das Stationendrama 75 Vgl. Neumann, Gerhard: »Rede, damit ich Dich sehe«. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick. In: Engel, Manfred / Fülleborn, Ulrich (Hg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. München 1988, S. 71–108; ders.: Pygmalion: Die Geburt des Subjekts aus dem Körper der Statue. In: . In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zweiter Band. Berlin / New York 1998, S. 782–810. Vgl. auch den Ansatz, die gestische Dimension der Figur auf ihren Aussagegehalt hinsichtlich des Subjekts zu untersuchen, etwa: Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Gesten der Selbsterfahrung in Hofmannsthals »Der weiße Fächer«. In: Engel, Manfred / Fülleborn, Ulrich (Hg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. München 1988, S. 249–270. 76 Naumann, Walter: Auflösung und Neugeburt in Goethes »Faust«. In: Engel, Manfred / Fülleborn, Ulrich (Hg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. München 1988, S. 155–167; Stephens, Anthony: »Wie bei dem Eintritt in ein andres Leben«. Geburtsmetapher und Individualität bei Kleist. In: ebd., S. 195–214. Vgl. auch Fischer-Lichtes Interpretation des Motivs der verstümmelten Hand in Goethes ›Götz‹: Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Band 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen [u. a.] 1990, S. 329–338. 77 Vgl. Kolb, Anne: »Wer ist das: ich? Wo hats ein End?« Zur »Infragestellung des Subjekts« in der Wiener Moderne am Beispiel Hugo von Hofmannsthals. Ein Forschungsüberblick. Hamburg 2010. Eher kursorisch sind die Bezüge zum Drama bei Wunberg, Gotthart: Chiffrierung und Selbstversicherung des Ich: Antikefiguration um 1900. In: Pfister, Manfred (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau 1989, S. 190–202. 78 Vgl. bes. Rasch, Wolfrietrich: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967]. In: Zˇmegacˇ, Viktor (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981, S. 18–48, zum Subjektbezug des Lebensbegriffs v. a. S. 23 u. 42f. sowie Thomé, Horst: Das Ich und seine Tat. Überlegungen zum Verhältnis von Psychologie, Ästhetik und Gesellschaft im Drama der Jahrhundertwende. In: Richter, Karl / Schönert, Jörg / Titzmann, Michael (Hrsg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 323–353.
Das ›Subjekt‹ in der Dramenforschung
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mit Subjektivität in Verbindung bringen79, oder solche, die den Zusammenhang der Großgattungen Tragödie und Komödie mit Wandlungen der Subjektivität relationieren.80 Diese Arbeit wird an Versuche anschließen, die Problematisierung von ›Subjektivität‹ in der Tiefenstruktur dramatischer Texte aufzufinden. Sie verzichtet mithin auf strikt ›inhaltistische‹ motivgeschichtliche Zugriffe, sondern bemüht sich unter anderem, um 1900 virulente Motive, die sich subjekttheoretisch lesen lassen, auf ihre Konsequenzen für die Form der Texte hin zu befragen. Darüber hinaus gilt das Erkenntnisinteresse den dramatischen Ordnungskategorien Raum und Zeit, deren formale Innovationen in diesem Zeitraum ebenfalls vor dem Hintergrund des krisenhaften ›Subjekts‹ gelesen werden. Die methodische Innovation der Arbeit besteht also darin, die Konsequenzen problematischer ›Subjektivität‹ nicht über figurale Subjektkonzeptionen oder Thematisierungen im Haupttext der Dramen ausfindig zu machen, sondern sie auf disparaten Ebenen ›unterhalb‹ der Bedeutungsebene aufzusuchen. Die Abstraktheit des Subjektproblems erscheint hierbei als Ermöglichungsgrundlage, »abstrakte Modellbildungen«81 im Drama auf ihre semantischen Grundlagen hin zu befragen. Insofern könnte man den hier unternommenen Versuch als Komplementärunternehmen zu der von Thomé an Dramen um 1900 beobachteten »›therapeutische[n] Hinwendung‹ zum Subjekt«82 lesen. Damit wäre ein weiterer Beleg dafür gefunden, dass die Proliferation der Formen im Drama um 1900 hinsichtlich des Subjekts von verschiedenen semantischen Perspektiven Impulse erhalten hat.
79 Vgl. Karnick, Manfred: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderóns, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980; Oehm, Heidemarie: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus. München 1993; Greiner, Bernhard: The Birth of the Subject out of the Spirit of the Play within the Play: The Hamlet Paradigm. In: Ders. / Fischer, Gerhard (Hg.): The Play within the Play. The Performance of Meta-Theatre and Self-Reflection. Amsterdam/New York 2007, S. 3–14. 80 Vgl. v. a. Greiner, Bernhard: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges. Grundlagen und Interpretationen. Stuttgart 2012. Vgl. zur Anverwandlung der antiken Tragödie auch: Anglet, Andreas: Die ästhetischen Aporien der mythischen Maske auf der Bühne des Fin de siècle. Zur hysterischen Antike in Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ »Elektra«. In: Recherches germaniques 50 (2009), S. 47–70. Zur Komödie vgl.: Endres, Johannes: Das »depotenzierte« Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist. Würzburg 1996, bes. S. 82–196. 81 Thomé: Das Ich und seine Tat, S. 328. 82 Ebd.
3.
Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters1
3.1
Vorüberlegungen
Das Vorhaben, die historische Entwicklung der Extension des ›Subjekt‹-Begriffs zu rekonstruieren, dessen Problematisierung Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlage der Arbeit darstellt, steht vor einer Reihe von Schwierigkeiten. Eine wesentliche und viel beklagte Schwierigkeit, die mit dem Begriff ›Subjekt‹ einhergeht, ist zweifellos seine mangelnde Schärfe. Vorschläge zu seiner Profilierung leiden aber unter aus je spezifischen Erkenntnisinteressen herrührenden Reduktionen seiner Extension, die zumeist mit seiner Enthistorisierung einhergehen.2 Die Schwierigkeit ist also, präziser formuliert, dass jede Autorin, jeder Autor den Begriff entsprechend der eigenen theoretischen Vorannahmen und 1 Dass ›Subjekt‹ in dieser Arbeit nicht konsequent als ›Deutungsmuster‹ bezeichnet wird, hat den Grund, dass der Ausdruck von Bollenbeck eher als Hilfsausdruck verwendet worden und mithin theoretisch unterversorgt ist. Das hat er mit dem Begriff der ›Denkfigur‹ gemeinsam, die aus einem vergleichbaren »Bedürfnis nach einer alternativen Beschreibungsbegrifflichkeit« entstanden und ebensowenig »terminologisiert[] oder lexikalisiert[]« ist (Müller, Ernst: Denkfigur. In: Borgards, Roland [u. a.] (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 28–32, Zitate S. 29 u. 28). Dass der eingespielte Begriff der Historischen Semantik jedoch ebensowenig zutreffend ist, liegt daran, dass sich das hier beschriebene Deutungsmuster des ›starken Subjekts‹ in historisch verschiedenen Semantiken artikuliert hat, diese aber nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen sollen: Um die synthetisierende Darstellung der historischen Artikulationen dieses Deutungsmusters sowie dessen Infragestellung geht es in diesem Kapitel, nicht um eine konsequent durchgehaltene Semantikgeschichte der relevanten Begriffe. Um die ›Sache‹ des ›starken Subjekts‹ angemessen erfassen zu können, ist also eine gewisse terminologische Unschärfe so unvermeidlich wie bezeichnend. 2 Vgl. etwa Baumgartner, Hans Michael: Welches Subjekt ist verschwunden? Einige Distinktionen im Begriff der Subjektivität. In: Schrödter, Hermann (Hg.): Das Verschwinden des Subjekts. Würzburg 1994, S. 19–28; Ollig, Hans-Ludwig: Person und Subjekt. In: Ders. / Krieger, Gerhard (Hg.): Fluchtpunkt Subjekt – Facetten und Chancen des Subjektgedankens. Paderborn [u. a.] 2001, S. 151–166; Fetz, Reto Luzius: Personbegriff und Identitätstheorie. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 35 (1988), S. 69–106 sowie Frank, Manfred: Subjekt und Subjektivität. In: Braungart, Wolfgang / Köhler, Helena (Hg.): Subjekt und Subjektivität 1800–1900. München 2015, S. 14–35, bes. S. 29–34.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Erkenntnisinteressen semantisiert hat und er sich somit durch eine extrem uneinheitliche Verwendungsweise auszeichnet, was bereits eine rein an philosophiegeschichtlichen Höhepunkten orientierte Begriffsgeschichte ›des‹ Subjekts enorm erschwert. Darüber hinaus haben sich im semantischen Feld, in dem ›das‹ Subjekt zu verorten ist, Begriffe entwickelt, deren Semantik sich zu bestimmten Zeiten mit dem ›Subjekt‹-Begriff überlappt haben oder ihn zu ersetzen scheinen – was wiederum zu Versuchen Anlass gegeben hat, diese Überlappungen analytisch zu revidieren.3 Roland Hagenbüchle, der eine »historisch-systematische Hinführung« zu diesem Komplex versucht hat4, zählt die in Frage kommenden Begriffe auf: Der Terminus ›Subjekt‹ ist seinerseits eng verknüpft mit Begriffen wie ›Geist‹, ›Seele‹, ›Vernunft‹, ›Gemüt‹, ›Bewußtsein‹, ›Selbstbewußtsein‹, ›Identität‹, ›Individuum‹, ›Individualität‹, ›Ich‹ (Rollen-Ich, autonomes Ich, authentisches Ich, privates Ich, öffentliches Ich, soziales Mich, Zufalls-Ich, »Patchwork«-Ich), ›Selbst‹ (geistiges, privates, soziales, gespaltenes, serielles, multiples Selbst), ›Charakter‹, ›Person‹, ›Personalität‹ und – besonders bei Kierkegaard – ›Existenz‹.5
Diese extensive Liste versammelt Begriffe, die ihrerseits sehr voraussetzungsreiche und breit diskutierte Begriffe mit kulturellem Grundlagencharakter sind. Deshalb stellt der genannte Autor resigniert fest, dass ein »geschichtlicher Aufriß des philosophischen Subjektbegriffs […] nahezu identisch mit einer Geschichte der Philosophie«6 wäre. Diese Resignation verstärken dürfte die Einsicht, dass eine rein philosophiegeschichtliche Darstellung des Subjektgedankens diesem nicht ansatzweise gerecht würde und man stattdessen nach den begrifflichen Evolutionen dieses und verwandter Begriffe in anderen Disziplinen zu fragen hätte, die auf das semantische Feld von Subjektivität zurückgewirkt haben, besonders innerhalb der Anthropologie, der Psychologie und der Soziologie.7 Doch selbst dann wäre das Feld nicht vollständig vermessen, da bei einer solchermaßen mit der Lebenswelt und kulturelle Artefakten, etwa Kunstwerken, korrelierenden Semantik jenseits der Begriffsgeschichte auch dessen Beziehung »zu den jeweilig
3 Vgl. z. B. Pannenberg, Wolfhart: Person und Subjekt. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität [1979] (= Poetik und Hermeneutik VIII). München ²1996, S. 407–422. 4 Vgl. Hagenbüchle, Roland: Subjektivität. Eine historisch-systematische Hinführung. In: Ders. / Fetz, Reto Luzius / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 1–88. 5 Ebd., S. 6. 6 Ebd., S. 4. 7 So auch Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen ³2010, S. 3. Dieser betont auch analog zu Hagenbüchle, dass »eine vollständige Wiedergabe der Diskussion [des Subjektbegriffs. PB] auf eine Gesamtdarstellung des antiken, mittelalterlichen und modernen Denkens hinausliefe« (ebd., S. 30).
Vorüberlegungen
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epochalen Kultur- und Zivilisationsformen«8 zu klären wäre. Dies alles reflektiert noch nicht den methodischen Paradigmenwechsel im Anschluss an den frühen und mittleren Foucault, der die diskursive Konstruiertheit von Subjekten fokussiert und mithin abermals neue Quellen erschließt9, deren Relation zum Begriffsfeld zumindest der Klärung bedarf. Nicht minder hängt es vom jeweils operationalisierten Wissensbegriff ab, ob man ›Subjekt‹ als Wissen markiert und er damit im Rahmen der Wissensforschung zu untersuchen wäre.10 Die Uferlosigkeit der Subjektproblematik hat mindestens zwei Dimensionen, die voneinander zu unterscheiden sind: erstens die angedeutete »faktische Unüberschaubarkeit«11 einer extrem großen Menge an relevanten Quellen und Forschung zum Thema sowie zweitens seine »(erkenntnis-)theoretische Unübersehbarkeit«12, also die Unmöglichkeit eines übergeordneten Beobachterstandpunktes als Ausgangspunkt einer Befragung des Problems. Was hingegen nicht zwangsläufig der Fall ist, ist die existenzielle Unhintergehbarkeit der Frage selbst, sein Geftragt-Werden-Müssen: Sofern man die Semantik konsequent historisiert, ist es möglich, ihre Entwicklung in groben Zügen nachzuzeichnen, ohne sich in der Frage nach ihrem Seinsstatus positionieren zu müssen. Eine solche historische Rekonstruktion der Semantik stellt das Ziel dieses Abschnitts dar, muss aber aufgrund der genannten Schwierigkeiten und im Rahmen des Beobachtungsinteresses der Arbeit überblickshaft bleiben. Das Schicksal der Partialität und des Generalisierungszwangs teilt die folgende Darstellung mit der längst unüberschaubaren Subjektforschung – und es scheint zweifelhaft, ob die ›titanische‹ Aufgabe einer annähernd vollständigen und detailgenauen Rekonstruktion des Begriffsfeldes jemals bewältigt werden kann. Eine sich rein auf
8 So das Eingeständnis eigener Defizite im Vorwort eines früheren, rein philosophiehistorischen Klärungsversuchs (Riedel, Christoph A.: Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffes. Darmstadt 1989, S. VIIf.). 9 Foucaults Arbeiten können, aus den im vorigen Kapitel angegebenen methodischen Gründen nur da gestreift werden, wo sie die Geschichte der Subjekt-Semantik informiert haben. 10 Das ›Subjekt‹ mit Foucaults sehr weitem Wissensbegriff in der »Archäologie des Wissens« als Wissen zu markieren, wäre in dieser Hinsicht recht unstrittig (vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [frz. 1969]. Frankfurt a.M. 1973, bes S. 258–265). Schwieriger wäre eine solche Einordnung, wenn ein an wissenschaftliche Erkenntnis orientierter Wissensbegriff (vgl. Pethes, Nicolas: Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Brandstetter, Gabriele / Neumann, Gerhard (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 341–372) herangezogen würde, da die spezifische Wirksamkeit der Semantik nicht von seinem Wissensstatus abhängig gewesen ist. Vielmehr hat gerade ihr Infrage-gestellt-Werden durch Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Beharrungs- oder Restitutionsunternehmungen Anlass gegeben. 11 Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs. Würzburg 1999, S. 23. 12 Ebd.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
philosophiehistorische ›Lichtgestalten‹ konzentrierende Darstellung13 unterschreitet jedenfalls die Komplexität des Gegenstands in unvertretbarer Weise. Um die geradezu konstitutive Polysemie und ›Polyonymie‹ des bislang bewusst vage als semantisches Feld im Umkreis des ›Subjekt‹-Begriffs konturierten Zusammenhangs nicht nur zu konstatieren, sondern auch analytisch nutzbar machen zu können, sind einige Vorentscheidungen nötig. Das betrifft nicht zuletzt eine methodische Entscheidung hinsichtlich des Begriffsgebrauchs. Konkret bedeutet das die Entscheidung, ob man auf ›Subjekt‹ als objekt- oder als metasprachlichen Begriff rekurriert.14 In fast allen philosophie- bzw. begriffsgeschichtlichen Darstellungen zum ›Subjekt‹ ist diese Unterscheidung nicht explizit thematisiert worden. Dennoch ist angesichts der begrifflichen Varianz in diesen Texten deutlich, dass ›Subjekt‹ metasprachlich verwendet wird und insofern bereits dem oben beschriebenen Umstand eines polymorphen Begriffsfeldes Rechnung trägt.15 Dass diese Darstellungen philosophische Positionen unter ›Subjektphilosophie‹ subsumieren, die selbst andere Begrifflichkeiten verwenden16, verweist zudem darauf, dass sich hier eine ›klassische‹ Begriffsgeschichte17 nicht anbietet, da ›Subjekt‹ – anders als bspw. ›Nation‹, ›Demokratie‹ oder ›Bürger‹ – nicht lange genug den Status eines fachübergreifend ›semantisch gepflegten‹ Terminus besessen hat. Hingegen wäre es erforderlich, die Extension des metasprachlichen ›Subjekt‹-Begriffs zu dem objektsprachlichen Begriffsfeld um das ›Subjekt‹ ins Verhältnis zu setzen, also zum Beispiel zu klären, welcher Begriff wann und in welchem Fach die Semantik von ›Subjekt‹ bestimmt hat. Es spricht jedenfalls viel dafür, bei der Rede vom Subjekt nicht auf den philoso13 Vgl. die neuere Dissertation von Weitzel, Nadine: Subjekt. Bausteine zu einer Geschichte des Subjektbegriffs. Berlin 2015. 14 An dieser Unterscheidung sollte trotz der Einwände von Schüttpelz (vgl. Schüttpelz, Erhard: Objekt- und Metasprache. In: Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hg.): Literaturwissenschaft. München 1995, S. 179–216) festgehalten werden, da sie bei aller sprachlicher und logischer Interferenzen beider Bereiche wenigstens analytisch fruchtbar bleibt. Es macht schließlich einen beträchtlichen Unterschied, ob man auf ›Subjekt‹ als in historischen Texten gebrauchten Terminus verweist oder unter ›Subjekt‹ eine Semantik subsumiert, deren Extremposition in den Subjektphilosophien um 1800 erreicht worden ist. In dieser zugegeben hemdsärmeligen Weise sei auch hier Objekt- und Metasprache des ›Subjekts‹ voneinander unterschieden. 15 Vgl. Riedel: Subjekt und Individuum; Hagenbüchle: Subjektivität; Menke, Christoph: Art. Subjektivität. In: ÄG 5, S. 734–786; Zima: Theorie des Subjekts; Schmidt, Andreas: Art. Subjekt. In: Enzyklopädie Philosophie 3, S. 2632–2637. Zur Ausnahme, die Luhmanns Begriffsgeschichte des ›Subjekts‹ darstellt, siehe unten. 16 Vgl. nur den entscheidenden Einsatzpunkt bei Descartes (siehe unten). 17 Gemeint ist damit die in den meisten Artikels der »Geschichtlichen Grundbegriffe« erkennbare Tendenz einer Orientierung an der ›gepflegten Semantik‹ der Elitenkommunikation unter Vernachlässigung sozialhistorischer, diskursgeschichtlicher und medienhistorischer Interdependenzen (vgl. dazu Müller / Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 905–928).
Vorüberlegungen
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phischen Terminus, sondern auf eine metasprachliche Kategorie zu rekurrieren, deren Semantik innerhalb eines breiten Begriffsfeldes in Verbindung mit ›außerphilosophischen‹ Elementen evoluiert hat.18 So wird es auch hier geschehen. Zunächst ist aber noch die Frage zu klären, wie mit der mangelnden sprachlichen Präzision von ›Subjekt‹ als Begriff und als Wort umgegangen werden kann. Eine Interferenz von Objekt- und Metasprache ist angesichts der begrifflichen Identität im ›Subjekt‹-Begriff kaum zu vermeiden. Um diesem Problem zu entgehen, ist der Begriff durch vermeintlich präzisere ersetzt worden. Besonders die Begriffe ›Person‹19, ›Subjektivität‹20 und ›Individuum‹21 sind als Alternativen in Stellung gebracht worden, leiden aber nicht minder an der Interferenzproblematik. Es ist auffällig, dass mit letzterem wie auch mit dessen Prozessbegriff ›Individualisierung‹22 der Blick stärker auf kulturhistorische und soziologische Dimensionen der Semantik gelenkt wird, dabei aber begriffliche Schwierigkeiten eher ausgeklammert bleiben. Das wird etwa in zwei Bänden von Richard van Dülmen ersichtlich, in deren Titeln einmal von einer »Entdeckung des Individuums« und ein anderes Mal von einer »Entdeckung des Ich« und von »Individualisierung« die Rede ist, ohne dass sich die Arbeiten sachlich unterscheiden oder diese Begriffsunschärfe problematisiert wird.23 Dagegen hat es gelegentlich Versuche gegeben, spezifischer qualifizierte Subjekt-Begriffe einzuführen, die erstens erkennbar machen, dass sie sich von der objektsprachlichen Ebene unterscheiden, und zweitens die Möglichkeit bieten, genauer benennen zu können, was mit einem so verstandenen ›Subjekt‹ gemeint ist (– auch wenn sie sich dem Vorwurf aussetzen, mit ihrem Attribut eine Extension des Substantivs lediglich pleonastisch zu verdoppeln). So ist von einer ›reinen‹ Subjektivität gesprochen worden, um die Substantialisierung von Subjektivität (und deren Kritik) zu fokussieren.24 Auch wurde ein ›autonomes
18 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände. 2. Teilband. Frankfurt a.M. 1998, S. 1019. 19 Vgl. bes. die Arbeiten von Dieter Sturma, der versucht hat, mittels des Personenbegriffs »epistemische und moralische Selbstverhältnisse konzeptionell wie praktisch zu rehabilitieren« (Sturma, Dieter: Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. Paderborn [u. a.] 1997, S. 11). 20 Vgl. die beiden umfänglichen Sammelbände: Hagenbüchle, Roland / Fetz, Reto Luzius / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zwei Bände. Berlin/New York 1998. 21 Vgl. Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums. 1500–1800. Frankfurt a.M. 1997. 22 Vgl. Dülmen, Richard van (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln [u. a.] 2001. 23 Vgl. die Titel und Vorworte der in den beiden vorigen Fußnoten angeführten Texte. 24 Vgl. Pieper, Hans-Joachim: Ecce Homo. Aufstieg und Fall der ›reinen‹ Subjektivität. In: Moser, Christian / Nelles, Jürgen (Hg.): AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie. Bielefeld 2006, S. 21–36.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Subjekt‹ als erkenntnistheoretisches »Angelprinzip der Moderne«25 postuliert. Ein weiterer aktueller Vorschlag spricht von ›starker Subjektivität‹26 und befasst sich unter diesem Rubrum mit denjenigen Positionen, die ein intentionales, konsistentes, sich selbst wissendes und selbstbestimmtes Individuum27 ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Dieser Vorschlag wird hier aufgegriffen. Es wird sich zeigen, dass eine ›starke‹ Subjekt-Position im Laufe des 19. Jahrhunderts Stück für Stück problematisch geworden ist, was um 1900 in der Rede vom ›unrettbaren‹ oder gar vom ›Tod‹ des Ich kulminierte. Um also deutlich zu machen, dass zentrale und offensiv verfochtene Eigenschaften ›starker Subjektivität‹ den Kern des Interesses an diesem semantischen Feld bilden, sei betont, dass der hier verwendete metasprachliche ›Subjekt‹-Begriff die positive Bezugnahme auf die erwähnten Eigenschaften (Intentionalität, Konsistenz, Selbstwissen, Selbstbestimmung) meint, ganz gleich, welcher Begriff objektsprachlich dafür gebraucht wird. Es ist somit auch konstatiert, dass es sich hierbei, auch wenn sie durch historische Befunde gedeckt ist, um eine heuristische Konstruktion handelt, mit deren Hilfe die Evolution des semantischen Feldes beobachtet werden und dieses für literaturwissenschaftliche Analyse nutzbar gemacht werden kann. Obwohl diese methodische Vorüberlegungen deutlich gemacht haben dürften, dass eine ›klassische‹ Begriffsgeschichte an dem ›starken Subjekt‹ nur scheitern kann28, sind, wie oben angedeutet, die Errungenschaften der historischen Semantik hier unverzichtbar. Die analytische Trennung von Wort-, Sach- und 25 Viertbauer, Klaus: Am Abstellgleis der Wirklichkeit? Eine Skizze über »das autonome Subjekt« als Prinzip der Moderne und dessen subversive Unterwanderung. In: Ders. / Kögerler, Reinhart (Hg.): Das autonome Subjekt? Eine Denkform in Bedrängnis, Regensburg 2014, S. 13–39, Zitat S. 27. 26 Vgl. den Sammelband zu »Figuren starker Subjektivität« (2017), besonders die Einleitung sowie die Beiträge von V. Gerhardt und Scheier (Breuninger, Renate / Oesterreich, Peter L.: Einleitung: Figuren starker Subjektivität. In: Dies. (Hg.): Figuren starker Subjektivität. Würzburg 2017, S. 9–12; Gerhardt, Volker: Kant und Nietzsche. Formen starker Subjektivität. In: Ebd., S. 13–28; Scheier, Claus-Arthur: Glanz und Elend der Subjektivität – von Hegel zu Luhmann. In: Ebd., S. 75–88). Die Unterscheidung von ›starker‹ und ›schwacher‹ Subjektivität findet sich bereits bei Dünne, der sie an Foucault entwickelt und deren postcartesianische Ausprägungen an der ›literarischen Selbstpraxis‹ von Rousseau und Flaubert belegt (vgl. Dünne, Jörg: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne. Tübingen 2003). 27 Vgl. die bündige Definition von ›Subjekt‹ als »etwas, dem mentale und insbes. intentionale Eigenschaften […] zukommen und das über Selbstwissen sowie über die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügt« (Schmidt, Andreas: Art. Subjekt. In: Enzyklopädie Philosophie 3, S. 2632–2637, hier S. 2632). 28 Als ein Beleg für ein solches Scheitern seien die Ausführungen zu Kant und dem deutschen Idealismus im »Subjekt«-Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie genannt: Durch völlige Konzentration auf den Subjekt-Begriff der jeweils behandelten Autoren bleibt deren Relation zu ebenso verwendeten Termini wie ›Person‹ und ›Ich‹ unklar, was die Extension der Subjekt-Semantiken der Autoren undeutlich macht (vgl. Kible, Brigitte (u. a.): Art. Subjekt. In: HWPh 10, Sp. 373–400, hier: Sp. 381–386).
Forschung zum Subjekt – kursorischer Überblick und Positionierung
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Forschungsgeschichte wird zwar beibehalten, aber doch angesichts der Masse an Material durch Schwerpunktsetzung und Bündelung aufgeweicht. Das bedeutet, dass sich die wortgeschichtlichen Angaben auf den antiken und mittelalterlichen Gebrauch zentraler Begriffe konzentrieren werden, da in der Frühen Neuzeit die Begriffe sich dem hier interessierenden Gebrauch annähern, weshalb die wortgeschichtlichen Veränderungen von da an in der Darstellung der Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität mitbehandelt werden können. Die vorausgeschickte Skizze zur Subjektforschung soll einen knappe Orientierung über die Forschungslandschaft bieten und hat zudem die Funktion, das eigene Vorgehen vor dem Hintergrund der bereitstehenden methodischen Optionen weiter zu plausibilisieren.
3.2
Forschung zum Subjekt – kursorischer Überblick und Positionierung
In der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre lassen sich weder in Philosophie noch in Soziologie oder Psychologie bemerkenswertes Interesse am ›Subjekt‹ als Kategorie ausmachen, was sich dann in der veränderten theoretischen und politischen Gemengelage der 1960er Jahre radikal ändert. Davor bestimmten die dem ›Subjekt‹ benachbarten Begriffe der Zwischenkriegszeit weiterhin die Debatte, in der Philosophie etwa ›Mensch‹ und ›Existenz‹ im Rahmen der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) bzw. des Existenzialismus (Heidegger, Hartmann, Sartre)29, während in der Soziologie ›Individuum‹ (Elias, Adorno, Parsons)30 und in der Psychologie ›Identität‹ (Erikson)31 theoretisch produktiv gemacht wurden.32 Dass ›Subjekt‹ in den 1960er Jahren als Kategorie wieder von Bedeutung wurde, dürfte dagegen daran gelegen haben, dass er aus einer bestimmten Theorieperspektive als politisch unverzichtbar angesehen 29 Vgl. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a.M. 1983, S. 248–263. 30 Vgl. Schroer, Markus: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt a.M. 2001, zu den Autoren vgl. S. 42–81, 185–223, 339–371, zusammenfassender Vergleich S. 371–381. 31 Vgl. Siep, Ludwig: Identität. Basel 1983; Abels, Heinz: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und Kompetenzen, Identität in einer riskanten Moderne zu finden und zu wahren. Wiesbaden 2006, bes. S. 271–288. 32 Als ein weiterer Beleg dafür dürfte der Umstand gelten, dass die in der Beobachtung wie Katalysation zeitgenössischer intellektueller Debatten so erfolgreiche Gruppe »Poetik und Hermeneutik« zwar Tagungen zu ›Identität‹ und zu ›Individuum‹ abgehalten hat, nicht aber zum ›Subjekt‹.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
wurde.33 Sofern sich Theorien der 1960er Jahre auf geschichtsphilosophische Modelle oder auf aufklärerische Emanzipationsansprüche beriefen – wie etwa im Neomarxismus oder der Kritischen Theorie –, konnten sie nicht auf die Figur des Subjekts zumindest als kulturkritischen Bezugspunkt34 verzichten, da sie als geschichtliches oder revolutionäres Subjekt potentiell Träger politischer Umwälzungen zu sein hatte.35 Auch wenn ein solcher Subjektbegriff – analog zu dem des Rechtssubjekts – nicht mehr ausschließlich einzelne Akteure, sondern soziale Gruppen oder gar ganze Klassen bezeichnete, orientierte er sich erkennbar an der Semantik ›starker‹ Subjektivität, insofern er potentiell in der Lage dazu war, als einheitlicher und handlungsmächtiger Aktant autonom auf politische Systeme einzuwirken und mittels dieser Eigenschaften eine revolutionäre Dynamik zu entfachen. Aus diesem Grund restituierten solche Theorien ›das‹ Subjekt als ein irreduzibles Element innerhalb des historischen Prozesses. Es war gerade ein solches gewissermaßen taktisches Festhalten am ›Subjekt‹, gegen das die Foucaultsche Diskursgeschichte opponierte und gegen die sich dessen konsequente Historisierung richtete. Foucaults Arbeiten kreisten sowohl um die Rede vom ›Subjekt‹ wie um dessen Herstellung. So zeigte er Mitte der 1960er Jahre, dass die Vorstellung von ›Subjekt‹ an diskursive Entstehungsbedingungen, namentlich an einen Umbruch hin zu einer modernen Episteme gebunden und dass dessen Verschwinden durch neue Wissenschaften – Linguistik, Ethnologie, Psychoanalyse – vorbereitet worden ist.36 Daneben etablierten Foucaults historische
33 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1027. 34 Vgl. dazu die Ausführungen zur Kritischen Theorie bei Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 263–269. 35 So zeigt etwa die erregte Diskussion im fünften Band der Reihe Poetik und Hermeneutik zu »Ereignis und Erzählung« in der Geschichte deutlich, als wie theorierelevant der Begriff des ›Subjekts der Geschichte‹ gegolten hat und wie eng seine Befürwortung mit einer Befürwortung der Geschichtsphilosophie verbunden worden ist (vgl. Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichte, Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik V. München 1973, S. 463–518). Vgl. auch die Arbeiten im Umkreis der neomarxistischen »Kritischen Psychologie«, die eine »Subjektwissenschaft« zu inaugurieren versucht hat, worunter eine psychologische Beschäftigung mit dem Einzelnen als intentional verstandenes ›Subjekt‹ im Rahmen seiner materiellen und ideologischen Verhältnisse zu verstehen ist. In explizitem Rekurs auf Marx und marxistische Denker wird die Figur des Subjekts gegen eine bürgerliche Objektifikation des Individuums restituiert und in Theorie wie Praxis als »unentbehrlich für eine kritische Analyse der ideologischen Mächte« konturiert (Haug, Wolfgang Fritz: Die Subjektivität aus dem Banne des großen SUBJEKTS befreien. In: Braun, Karl-Heinz (Hg.): Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongress Kritische Psychologie, Marburg 1984. Frankfurt [u. a.] 1985, S. 60–81, hier: S: 75). Jüngster und wirkmächtigster Beleg für ein Persistieren dieser politisch motivierten Restitution des Subjekts dürfte das Werk von Ernesto Laclau sein (vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt. 2., unveränderte Auflage. Bielefeld 2010, S. 68–81). 36 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge [frz. 1966]. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1971, in dem Foucault die Durchsetzung des cartesianischen,
Forschung zum Subjekt – kursorischer Überblick und Positionierung
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Studien Althussers Begriff der ›Subjektivierung‹, durch den die Herstellung von Subjekten vermittels Dispositiven und diskursiver Praktiken gezeigt wurde37 und die etwa bei Judith Butler gendertheoretisch fortgeführt worden ist.38 Die Relektüre und Kombination betont subjektkritischer Denker wie Marx, Nietzsche und Freud vor dem Hintergrund des zeitgenössischen strukturalistischen Paradigmas sorgte auch bei Derrida, Lacan und Deleuze für Postulate einer Dezentrierung ›des‹ Subjekts.39 Ansätze der Medien- und Akteur-Netzwerk-Theorie haben an dieser Dezentrierung anschließen können.40 In der deutschsprachigen Soziologie entwickelte sich nahezu zeitgleich eine makrosoziologische Theorie, die zugunsten der Verarbeitung von Konzepten wie ›Struktur‹, ›Information‹ und ›System‹ auf das Individuum als Grundelement von Gesellschaft verzichtete, wogegen Kritische Theorie, mikrosoziologische Handlungstheorien41 oder die Münchener Subjektorientierte Soziologie42 an einem theoretisch ›starken‹ Begriff von Individualität festhielten. An den neostrukturalistischen wie systemtheoretischen ›Toterklärungen‹ des Subjekts hat sich nun der Großteil der jüngeren Subjektforschung abgearbeitet, sei es durch die erwähnten subjekttheoretischen Fortentwicklungen oder durch disziplinär vielfältige Auseinandersetzungen43 mit den Genannten, worunter auch Foucaults Modifizierungen der eigenen Machtanalysen über die Subjekti-
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hier als ›transzendental‹ qualifizierten Subjekts an die Entwicklung der genannten Wissenschaften vom Menschen koppelt. Zu denken wäre da an Foucaults Arbeiten zur Entwicklung der Klinik, des Wahnsinns oder des Gefängnisses. Vgl. die Darstellung bei Reckwitz: Subjekt, S. 81–94. Vgl. nur Zichy, Michael (über Derrida und Lacan) u. Rambeau, Frédéric: Les secondes vies du sujet. Deleuze Foucault, Lacan. Paris 2016. Man denke nur an die Arbeiten von Kittler und von Latour. Miebach, Bernhard: Handlungssoziologie [1991]. Eine Einführung. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2014. Bolte, Karl Michael: Subjektorientierte Soziologie – Plädoyer für eine Forschungsperspektive. In: Ders. / Treutner, Erhard (Hg.): Subjektorientierte Arbeits- und Berufssoziologie, Frankfurt a.M../New York 1983, S. 12–36. In diesen Zusammenhang gehören auch die eine Individualisierung der Gesellschaft in der ›reflexiven Moderne‹ postulierenden Arbeiten von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (vgl. bes. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986; ders. / Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Dieselben (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1994, S. 10–40. u. Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse? In: ebd. S. 43–60; dieselben: Individualization. institutionalized individualism and its social and political consequences. London [u. a.] 2002). Vgl. Cadava, Eduardo / Connor, Peter / Nancy, Jean-Luc (Hg. u. a.): Who comes after the subject? New York 1991; Schrödter, Hermann (Hg.): Das Verschwinden des Subjekts. Würzburg 1994; Viertbauer: Am Abstellgleis der Wirklichkeit?; Bürger, Peter / Bürger, Christa: Das Verschwinden des Subjekts. Das Denken des Lebens. Fragmente einer Geschichte der Subjektivität. Frankfurt a.M. 2001; Zima: Theorie des Subjekts.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
vität rezentrierenden Konzepte der ›Selbsttechnik‹ und ›Selbstregierung‹44 zu zählen sind. Aus fachphilosophischer Perspektive haben die Toterklärungen zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit dem philosophischen Subjektbegriff geführt, was besonders in Bezug auf den deutschen Idealismus45, den Personenbegriff 46 und in Bezug zu neurowissenschaftlichen Bewusstseinsvorstellungen47 geschehen ist. So ist seit Mitte der 1980er Jahre eine Konjunktur zu beobachten, die ihren quantitativen Höhepunkt um die Jahrtausendwende hatte und bis heute forschungspolitisch48 nachwirkt, ohne noch die selbe ideologische Sprengkraft zu besitzen. Eine der erfolgreichsten Subjekttheorien des 21. Jahrhunderts verdient besondere Erwähnung, nicht zuletzt, weil sie die Subjektforschung des letzten Jahrzehnts methodisch bestimmt hat: Die Rede ist von der praxeologischen Subjekttheorie, die Andreas Reckwitz im Anschluss an den späten Foucault und den ›practical turn‹ in der Soziologie (Schütz, Bourdieu, Garfinkel, Goffman) in einer Reihe von Studien angeboten hat.49 Nach Reckwitz lassen sich historisch variante Subjektkulturen rekonstruieren, die Vorstellungen von Handlungsoptionen und Selbstmodellierungen der Subjekte regulieren. Hegemonien dieser Subjektkulturen erweisen sich als repräsentativ für spezifische soziokulturelle Entwicklungen, und Wechsel der Hegemonien lassen dabei Rückschlüsse auf entsprechende Wandlungsprozesse zu. Wie oben angedeutet, ist es fraglich, ob mit einer solchen ›Praxeologie des Subjekts‹ für die Analyse literarischer Texte 44 Vgl. die neuerdings vier Bände zu Sexualität und Wahrheit. 45 Vgl. Vgl. die Arbeiten von Manfred Frank (z. B. Frank, Manfred: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person u. Individuum aus Anlass ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung. Frankfurt a.M. 1986) und Dieter Henrich (z. B. Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt a.M. 2007) sowie neuerdings Ehrmann, Wibke: Paradoxien des Selbst. Fichte, Hegel und die Gegenwart. Würzburg 2014; Kaehler, Klaus Erich: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg i.Br. 2010 und der Sammelband von Kern, Andrea / Kietzmann, Christian (Hg.): Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin 2017. 46 Vgl. insbesondere Robert Spaemann: Personen u. Dieter Sturma: Philosophie der Person. 47 Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin 2009 u. S¸ahinol, Melike: Das techno-zerebrale Subjekt. Zur Symbiose von Mensch und Maschine in den Neurowissenschaften. Bielefeld 2016 sowie die Sammelbände: Asmuth, Christoph / Grüneberg, Patrick (Hg,): Subjekt und Gehirn – Mensch und Natur. Würzbirg 2011 bzw. Reichert, Jo / Zaboura, Nadia: Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts. Eine Kontroverse. Wiesbaden 2006. 48 Vgl. etwa das Graduiertenkolleg 568 in Marburg: Subjekt und Person in der Philosophie der Neuzeit (1999–2002) und das Graduiertenkolleg 1608/1–2 in Oldenburg: Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive (2010–2020). 49 Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt; ders.: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012; ders.: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Vgl. auch Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. 2007.
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vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Beobachtung einer ›kulturellen Beunruhigung‹ analytische Gewinne erzielt werden können. Viel eher lässt sich vermuten, dass man mit dieser Subjektivitätstheorie an literarischen Texten nicht mehr sieht als das, was die Theorie über Subjekte bereits weiß. Durch den engen Bezug auf Foucaults Subjektkonzept lässt sich die Vermutung, dass man sich die auch politischen Implikationen dieses Konzepts gleichsam ›mit einkauft‹, wenn man Subjekte diskurstheoretisch beobachtet, für Reckwitz’ Ansatz wiederholen. Neben den Subjektforschungen in der Nachfolge Foucaults und der Poststrukturalisten nehmen sich die Versuche, die Semantik des Begriffs bzw. seines Begriffsfeldes zu vermessen, weniger prominent aus, haben aber für diese Untersuchung wichtige Informationen geliefert. Neben den meist philosophiegeschichtlich orientierten Semantikgeschichten in den einschlägigen Kompendien der Begriffsgeschichte sowie den breit ausgreifenden, begrifflich wie erwähnt aber eher unbedarften Überblicksdarstellungen zur Subjektivität und verwandten Begriffen50 sind die semantikgeschichtlichen Arbeiten Niklas Luhmanns51, die vereinzelt fortgesetzt worden sind52, besonders zu erwähnen, weil sie für die Untersuchung wichtige Informationen und soziostrukturelle Grundlagen geliefert haben. Problematisch an Luhmanns Texten zu diesen Semantiken ist ihre soziologiehistorische Perspektivierung: ›Individuum‹ wie ›Subjekt‹ werden vor dem Hintergrund einer sistierten Entwicklung von Gesellschaftstheorie untersucht und als wesentliche Hindernisse auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis von Gesellschaft ausgemacht. Eine eng an systemtheoretischen Grundentscheidungen orientierte Sachgeschichte liefe Gefahr, die im Rahmen einer funktional-strukturellen Theorie nachgerade unvermeidliche Verurteilung der Subjektsemantik als semantikgeschichtlicher Verirrung, an deren Verabschiedung entsprechend beobachtende semantische Studien mitzuarbeiten haben, die eigene Betrachtungsweise bestimmen zu lassen.53 Im Bewusstsein dieser Gefahr kann auf die erhellenden Kontextualisierungen der Semantiken von Individuum und Subjekt vor dem Hintergrund der sozialstrukturellen Umstellung der Gesellschaft zurückgegriffen werden. Doch zeigt sich auch für den Bereich der Forschung zum Subjekt, dass die um methodischer Präzision willen wünschenswerte Orientierung an einem einzigen Forschungsparadigma mit der hier 50 Siehe dazu die beiden folgenden Abschnitte dieses Kapitels (3.3–3.4). 51 Vgl. bes. Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 149–258; sowie Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, bes. S. 1016–1036. 52 Vgl. dazu bes. Otto, Marcus: Der Wille zum Subjekt: Zur Genealogie politischer Inklusion in Frankreich (16.–20. Jahrhundert). Bielefeld 2014. 53 Dass man auch davon absehen kann, die literaturwissenschaftlichen Applikationsversuche der Systemtheorie für die Arbeit aufzugreifen, wird unten noch erläutert werden müssen.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
vorgeschlagenen Konzeptualisierung des Gegenstandes sowie dem angedachten Bezug zu literarischen Texten nicht kompatibel ist. In Bezug auf die Subjektforschung wird also auch ein tendenziell synkretistischer Zugang dominieren müssen, dessen Schwerpunktsetzung in der historischen Semantik bedeutet, dass die Forschung in erster Linie im Hinblick auf diesbezügliche Informationen zur Kenntnis genommen worden ist.
3.3
Wortgeschichte(n) des semantischen Feldes
Die folgende Skizze versteht sich, um das abermals deutlich zu machen, als ein Versuch, die Subjektsemantik denkgeschichtlich zu verorten, mithin ihre Historizität wie Korrelation mit anderen Denkrichtungen und gesellschaftlichen Strukturen anzudeuten. Sie kann zudem nicht umhin, einige wichtige Zusammenhänge stark verkürzt54 darzustellen sowie andere – etwa eine präzise Relationierung zu nicht-westlichen Semantiken55 – ganz auszusparen. Auffällig an den drei hier besonders interessierenden Termini ›Subjekt‹, ›Person‹ und ›Individuum‹ – ›Ich‹ und ›Selbstbewusstsein‹ werden erst mit Descartes bzw. Leibniz begrifflich und sachlich relevant56 – ist, dass ihre etymologische Herkunft wie ihre Verwendungsweise in Antike und Mittelalter zunächst mit Subjektivität im modernen Verständnis nichts gemein hat und sich ihre Extensionen erst langsam in diese Richtung entwickeln. 54 So wird die Semantikgeschichte der ›Seele‹, über die etwa Luhmann (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, S. 1019) gemutmaßt hat, dass sie eine wichtige Vorbereitung des neuzeitlichen Subjektbegriffs sei, nicht eigens entfaltet, sondern punktuell mitreflektiert. Hinweise zur Begriffsgeschichte bieten Scheerer, Eckart: Art. Seele. In: HWPh 9, Sp. 1–89 sowie Bremmer, Jan N.: Die Karriere der Seele. Vom antiken Griechenland ins moderne Europa. In: Janowski, Bernd (Hg.): Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Berlin 2012, S. 173–198. 55 Klassisch: Mauss, Marcel: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ›Ich‹. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Band 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person. München/Wien 1975, S. 223–253. Vgl. zudem die Beiträge in Lukes, Steven (Hg. u. a.): The Category of the Person. Anthropology, Philosophy, History. Cambridge 1987 sowie Kwan, Tze-wan: Subjekt und Person. Zwei Selbst-Bilder des modernen Menschen in kulturübergreifender Perspektive. In: Ders. / Feger, Hans: Idealismus und Idealismuskritik. Subjekt, Person und Zeit. Würzburg 2009. S. 280–302. 56 Vgl. Herring, Herbert (u. a.): Art. Ich. In: HWPh 4, Sp. 1–18, hier Sp. 1 sowie Jaeschke, Walter (u. a.): Art. Selbstbewußtsein. In: HWPh 9, Sp. 350–379, hier Sp. 352. Zwar hat es auch in der Antike philosophische Beiträge zur Frage der Selbstzuwendung gegeben, doch waren diese, wie Gloy betont, noch nicht-egologisch, d. h., sie nahmen ein »ichloses, subjektloses, anonymes, a-personales Bewusstsein« als Grundlage des Selbstbezugs an – was sich erst mit Descartes änderte (Gloy, Karen: Art. Selbstbewusstsein. In: Enzyklopädie Philosophie 3, S. 2413–2426, hier S. 2414).
Wortgeschichte(n) des semantischen Feldes
47
›Subjekt‹ als ›subiectum‹ hat sich aus dem griech. ὑποκείμενον (hypokeímenon) entwickelt57, das etwas Zugrundeliegendes meint, zugleich aber auch eine Wurzel in subiectus (Unterworfenes) besitzt – woraus die Spannbreite des philosophischen ›Subjekts‹ in der Moderne hergeleitet werden kann.58 Es gilt aber zu bedenken, dass hypokeímenon / subiectum in Antike und Mittelalter gerade nicht »das erkennende Ich«59 des deutschen Idealismus meint, sondern drei Bedeutungen hatte, von der erstere die wichtigste war: Es war erstens in der Ontologie im Sinne einer ›ontologischen Grundlage‹ eingeführt worden, also als »Träger von Akzidenzien, Eigenschaften, Handlungen oder Habitus«60 konzeptualisiert, womit es in den Zusammenhang der aristotelischen Kategorienlehre und später in der Nähe des Substanz-Begriffs einzuordnen ist.61 Zweitens ist er in der Logik als terminus technicus für ›Satzgegenstand‹ benutzt worden, also das, »von dem das Prädikat ausgesagt wird«62 – eine Bedeutungsdimension, die sich bekanntlich in der Grammatik bis heute gehalten hat. Drittens hat der Begriff den »Gegenstand einer Wissenschaft oder allgemein einer Beschäftigung«63 umfasst, was noch im englischen ›subject‹ bzw. ›subject matter‹ erhalten ist. Die Umstellung der ontologischen Extension von ›subiectum‹ als »passives Substrat, das von wechselnden Zuständen affiziert ist«64, auf einen erkenntnistheoretischen Begriff, wie er in der Neuzeit wichtig sein wird, erfolgt bei Thomas v. Aquin, und zwar über die Bestimmung der Intellektseele durch den Akt des Sich-intellektivErkennens.65 In Abgrenzung dazu wird im Spätmittelalter (bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm v. Ockham) Subjektivität in der Selbstbestimmung durch den Willen anstelle des Vermögens zu intellektueller Selbsterkenntnis und Erkenntnis der ›ordo naturae‹ gesehen.66 Durch Duns Scotus’ Hypostase eines »indeterminierten, der Selbstbestimmung fähigen Willen[s]«67 bei Gott wie beim Menschen wird die Voraussetzung dafür gelegt, dass die Einzelperson als sich nominalistisch die Welt ›fassbar machendes‹ Subjekt konzipiert werden kann,
57 58 59 60 61 62 63 64
65 66 67
Kible, Brigitte (u. a.): Art. Subjekt. In: HWPh 10, Sp. 373–400, hier Sp. 373. Vgl. Zima: Theorie des Subjekts, S. 3. Kible (u. a.): Art. Subjekt, Sp. 373. Ebd. Vgl. Pätzold, Detlev: Art. Substanz/Akzidenz. In: Enzyklopädie Philosophie 3, S. 2640–2652, S. 2640. Kible (u. a.):. Art. Subjekt, Sp. 373. Ebd. Mensching, Günther: Der Primat des Willens über den Intellekt. Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Wolfgang / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 487–507, hier S. 488. Vgl. ebd., S. 489–492. Vgl. ebd., S. 493–495. Ebd., S. 494.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
wie Wilhelm v. Ockham es tut.68 Dieser ist es auch, bei dem ein dem neuzeitlichen naher Subjekt-Begriff als erkenntnistheoretische Grundlage des Weltbezugs nachweisbar ist (– wenngleich ›subiectum‹ in seinem Werk uneinheitlich gebraucht wird69). Nachzutragen ist noch, dass als Reaktion auf den Nominalismus in der Ekklesiologie der Kurie im Spätmittelalter ›subiectum‹ zu ›Untertan‹ umgewidmet wird, wonach dann allein die Unterwerfung des freien Willens des Einzelnen unter die päpstliche Autorität Subjektivität garantiert.70 In der Neuzeit wird ›Subjekt‹ dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge im Sinne von ›Untertan‹ im 17. und im hier besonders interessierenden späteren Sinn als Person nicht-pejorativ erst im 18. Jahrhundert verwendet71, während sein Gebrauch »im psychologisch-erkenntnistheoretischen verstande«72 sogar erst bei Kant nachgewiesen ist. Auch der als Pejorativbegriff für die Kantische Transzendentalphilosophie eingeführte Ausdruck »Subjektivität« ist im deutschsprachigen Raum erst in dieser Zeit in Gebrauch.73 Der Begriff ›Person‹ geht vermutlich auf das latein. ›persona‹ zurück, was ›Maske‹ bedeutete und vom ›Hindurchtönen‹ (lat. personare) der Stimme des Schauspielers durch die Maske, die er trug, abgeleitet worden ist (diese seit der Antike tradierte Etymologie ist jedoch ebenso umstritten wie die sprachgeschichtliche Verwandtschaft des Ausdrucks mit dem griech. Wort für Maske, πρόσωπον (prósopon) 74).75 Die entscheidende Begriffserweiterung erfolgte in der römischen Antike, in der sich vier Bedeutungsschichten für ›persona‹ nachweisen lassen.76 Neben der frühen Bezeichnung für die Maske des Schauspielers (1.) lassen Quellen auch dessen metonymische Übertragung (2.) auf die ›Rolle‹, den ›Charakter‹, den der Schauspieler spielte, erkennen: Die Bedeutung von ›persona‹ als charakterliche ›Maske‹ findet sich etwa bei Plautus und Terenz – in einem Prolog einer Komödie des Letzteren auch die Bedeutung als (theatrale) ›Rolle‹.77 68 69 70 71 72 73 74 75
76 77
Vgl. S. 497–499. Vgl. ebd., S. 488f. Vgl. ebd., S. 507. Vgl. Art. Subject. In: DWB 20, Sp. 811–814, hier Sp. 813. Ebd. Vgl. Homann, Karl: Zum Begriff »Subjektivität« bis 1802. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 184–205, bes. S. 186. Vgl. Konersmann, Ralf: Person. Ein bedeutungsgeschichtliches Panorama. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1,2 (1993), S. 199–227, S. 202f. sowie ebd. die Literaturhinweise zur diesbezüglichen sprachgeschichtlichen Debatte in FN 8 (S. 203). Vgl. Sturma, Dieter: Art. Person/Persönlichkeit. In: Enzyklopädie Philosophie 2, S. 1922– 1925, hier S. 1922. Vgl. auch den Artikel im Hist. Wörterbuch der Philosophie, bei dem die etymologische Unsicherheit stärker betont wird (Fuhrmann, Manfred (u. a.).: Art. Person. In: HWPh 7, Sp. 269–338, hier Sp. 269. Vgl. Fuhrmann, Manfred: Persona. Ein römischer Rollenbegriff. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.) Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. München 1979, S. 83–106. Vgl. Fuhrmann (u. a.).: Art. Person, Sp. 269f.
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Neben der wichtigen Herkunft des Begriffs aus dem Bereich des Theatralen ist er als metaphorische Übertragung (3.) z. B. in das Gerichtswesen eingegangen, wo ›personae‹ die einzelnen ›sozialen Rollen‹ bei Gericht – etwa Ankläger, Richter, Verteidiger – bezeichneten.78 Von da an ist ›persona‹ dort verwendet worden, wo die Stellung und Funktion eines Einzelnen im Sozialgefüge fokussiert wurde, »nicht aber die absolute P[erson], das Individuum«.79 ›Persona‹ wies in dieser Verwendungsweise eine große Ähnlichkeit zum »von allem ›Persönlichen‹ und ›Individuellen‹ abstrahierten Bilde [auf], das die moderne Soziologie von den modernen Rollen zu vermitteln versucht«80 und konnte auch eine den Handelnden unterstellte – und mithin die Erwartungen an ihn bestimmende – Konstante meinen, also etwas, das man heute ›Image‹ nennen würde.81 Es zeigt sich, dass ›persona‹ in der Antike insgesamt im Bereich des Praktischen bzw. der praktischen Philosophie anzusiedeln ist82 und damit der einzelne Aktant aus der Perspektive des Sozialen erfasst wurde. Nachzureichen ist noch die vierte Bedeutungsdimension des Begriffs in der Antike: In der Grammatik (4.) ist er als terminus technicus für die drei Sprecherrollen des Pronomens und des Verbs verwendet worden.83 Im Römischen Recht ersetzt der Begriff recht spät ›caput‹ als Ausdruck für den einzelnen Menschen, eine Verwendungsweise, die sich dann mitunter auch in nichtjuristischer Literatur zeigt, auch dort aber im Zusammenhang mit rechtlichen Angelegenheiten gebraucht wird.84 In der spätantiken Differenzierung der Rechtsgebiete wird zwar eine Systematik des Personenrechts vorgelegt, die aber nur zu den Einschränkungen des persönlichen Rechts von Freigelassenen, Gewaltunterworfenen und nicht Geschäftsfähigen Aussagen trifft, eine ›positive‹ Aussage zur ›persona‹ aber vermeidet.85 Von besonderer Wichtigkeit ist der ›persona‹-Begriff zudem in der christlichen Metaphysik gewesen, wo er dazu dienen sollte, die Trinitätslehre ontologisch mit dem Monotheismus-Postulat zu verquicken – etwa in Tertullians berühmter
78 Vgl. ebd., Sp. 270. 79 Ebd., Sp. 271. Vgl. etwa auch die von Cicero skizzierte Rollentheorie des Stoikers Panaitios von Rhodos, die vier ›personae‹ in jedem Einzelnen unterscheidet, darunter Person »als Wesen aller Menschen« und als »Eigenart des Individuums« (Sturma, Dieter: Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. Paderborn 1997, S. 47). Diese Rollentheorie kommt, wie Fuhrmann formuliert, »dem von allem ›Persönlichen‹ und ›Individuellen‹ abstrahierenden Bilde nahe [kommt], das die moderne Soziologie von den sozialen Rollen zu vermitteln sucht« (Vgl. Fuhrmann (u. a.): Art. Person, Sp. 271). 80 Fuhrmann: Persona. Ein römischer Rollenbegriff, S. 100. 81 Vgl. Konersmann: Person, S. 205. 82 Vgl. ebd., S. 208. 83 Vgl. ebd., S. 204f. 84 Vgl. Fuhrmann (u. a.): Art. Person, Sp. 273. 85 Vgl. ebd., Sp. 274.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Formel: »tres personae – una substantia«.86 Als besonders folgenreich für den Sprachgebrauch von ›persona‹ hat sich Boëthius’ Definition der ›Person‹ als »die individuelle Substanz einer rationalen Natur« (Persona est naturae rationabilis individua substantia.)87 erwiesen, wodurch der Begriff als Bezeichnung einzelner, vernunftbegabter Wesen – also: menschlicher Individuen in Abgrenzung zu allen anderen – etabliert wurde.88 Die patristische und scholastische Philosophie hat dann ›persona‹ vor allem in Trinitäts- und Christologiefragen verwendet, wo er meist als Bezeichnung für ein menschliches Individuum anstelle des Menschen im Allgemeinen diente.89 Vereinzelt ist er dabei bereits, ausgehend von Boëthius, durch die Integration der Semantik von ›animal rationale‹90 sowie durch Bemühungen zur Bestimmung von Individualität als Substanz bestimmt worden. Boëthius’ Vorbehalt, dass damit in erster Linie Gottes Personalität bestimmt sei, ist jedoch Voraussetzung gewesen für die »Überwindung der herkömmlichen Metaphorik und insofern auch für die langfristige Erweiterung und Aufwertung des Personbegriffs.«91 Dies darf aber nicht als einsträngige oder gar teleologische Begriffsentwicklung missverstanden werden: Neben dieser wirkmächtigen Substantialisierung des Begriffs steht ›Person‹ im Mittelalter auch für den vom Amt (officium) unterschiedenen Inhaber einer Position, wird daneben auch für die Einheit von beiden sowie als nur für Kleriker bestimmte Bezeichnung verwandt und meint bei Abaelard »die Eigentümlichkeiten (proprietates) und wechselseitigen Beziehungen (relationes) der Positionen innerhalb der Trinität, nicht aber deren gemeinsame Substanz.«92 Keine dieser Dimensionen hat im Mittelalter erkennbar Übergewicht gehabt. In der Neuzeit wird der ›Person‹-Begriff – neben wichtigen Begriffsentwicklungen in Reformation, Humanismus und europäischer Moralistik93 – seit dem 16. Jahrhundert im naturrechtlichen Diskurs neu konturiert und erhält, als ›persona moralis‹, bei Pufendorf rechtlichen Status im Rahmen der Ständeordnung und wird bei Christian Wolff zur ›Rechtsperson‹ jenseits ständischer Ak-
86 Vgl. Sturma: Art. Person/Persönlichkeit, S. 1922. Bekanntlich hat der Versuch nicht zu einer völligen Klärung des Paradoxes beitragen können – und noch Mitte des 16. Jahrhunderts dazu geführt, dass Michael Servetus aufgrund seines Versuchs, die antike Bedeutung von ›persona‹ als ›Rolle‹ für die Trinitätslehre nutzbar zu machen, auf Betreiben Calvins als Ketzer verbrannt worden ist (vgl. Sturma: Philosophie der Person, S. 47f.). 87 Zit n. Fuhrmann (u. a.).: Art. Person, Sp. 280. 88 Vgl. Ohlig, Karl-Heinz: Christentum – Individuum – Kirche. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln [u. a.] 2001, S. 11–40, hier: S. 20. 89 Vgl. Fuhrmann (u. a.).: Art. Person, Sp. 281. 90 Vgl. Sturma: Art. Person/Persönlichkeit, S. 1922. 91 Konersmann: Person, S. 210. 92 Ebd., S. 213. Vgl. zu den Extensionen des Begriffs im Mittelalter ebd., S. 212–214. 93 Ebd., S. 216–220 u. 224f.
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zidentien.94 So wird die Person bei Wolff definiert als »ein ding, das sich bewust ist, es sei eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem verstande gewesen«, und bei Kant in der »Metaphysik der Sitten« schließlich explizit subjektphilosophisch: »person ist dasjenige subject, dessen handlungen einer zurechnung fähig sind.«95 Kants dezidierte Trennung zwischen Person und Sache über die Frage der Zurechenbarkeit von Handlungen nach Maßgabe von Vernunftbefähigung kann so als schlussendliche Loslösung des Begriffs von sozialen und ontologischen Dependenzen gesehen werden – womit er eine Extension erreicht hat, an die die Semantik ›starker Subjektivität‹ unmittelbar anschließt. Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass sich im Personenbegriff zwischen Antike und Neuzeit eine »Bedeutungsverkehrung«96 erkennen lässt: Wo er dort noch den »Menschen in der stabilen Ordnung der Institutionen«97 bezeichnete, rückt hier die Dimension der Handlungskompetenz und der Selbstständigkeit ins semantische Zentrum. Der Terminus ›Individuum‹ ist zunächst im gemeinsamen Problembereich von Logik und Metaphysik konturiert worden, ist also wiederum ein philosophischer Fachbegriff. In seiner griech. Urform (άτομο, átomo) gilt er bei Aristoteles als erste Substanz, d. h. als ein »logische[s] Subjekt, das nicht Prädikat irgendeines anderen Subjekts ist.«98 Als ein substantielles Wesen des Einzelnen wird ›Individuum‹ / ›átomo‹ jedoch aufgrund der Kontingenz bzw. Akzidenz des sinnlich-konkreten einzelnen Seienden als nicht weiter definierbar und nicht beweisbar bezeichnet.99 Diese Bestimmung bleibt auch im scholastischen Mittelalter Ausgangspunkt der Überlegungen100, wobei noch die einflussreichen Definition des Plotin-Schülers Porphyrios dazukommt: Wesen können als Individuen bezeichnet werden, »weil jedes aus Eigentümlichkeiten besteht, deren Gesamtheit bei keinem anderen jemals dieselbe wird«.101 Erst in der Hochscholastik lässt sich die Trennung einer logischen von einer ontologischen Bestimmung des Begriffs ausmachen. In der Logik setzt sich mit Wilhelm v. Ockham und im Anschluss an Porphyrios folgende Bedeutung durch: Individuum gilt hier als »unterster Terminus in einer Klassifikation […], der keinerlei logische Un94 Vgl. dazu Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Freiburg (u. a.) 1993, S. 87–94. 95 Beide Stellen zit. n. Art. Person. In: DWB 13, Sp. 1561–1565, hier Sp. 1563. 96 Konersmann: Person, S. 202. 97 Ebd., S. 204. 98 Art. Sève, Lucien: Art. Individuum. In: Enzyklopädie Philosophie 2, S. 1094–1097, hier: S. 1094. 99 Vgl. Kobusch, Theo (u. a.): Art. Individuum/Individualität. In: HWPh 4, Sp. 300–323, hier Sp. 300f. 100 Vgl. allgemein die Darstellung von Mensching, Günther: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart 1992. 101 Ebd., Sp. 301.
52
Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
tergliederung mehr zulässt und deshalb nicht mit einem Allgemeinbegriff, sondern mit einem Eigennamen belegt werden muss«.102 Ontologisch stellt sich für den Begriff des ›Individuums‹ für die Scholastiker das Problem, ob nicht auch Akzidenzien statt ausschließlich erste Substanzen individuell sind – was dadurch gelöst wird, verschiedene »Grade und Stufen der Individualität anzunehmen«103, wodurch geistige Wesen wie Engel und insbesondere Gott als ›individueller‹104 als Menschen gedacht werden. Diese Differenzierung beschwört jedoch angesichts der Tripersonalität Gottes wiederum Schwierigkeiten herauf.105 Eine Neugestaltung dieser metaphysisch-theologischen Probleme mithilfe des ›Individuum‹Begriffs erfolgt erst bei Leibniz mit seiner Monadologie, wodurch dieser Begriff aber noch lange im Rahmen der Ontologie verbleibt.106 Eine semantische Verschiebung hin zum Individuum als Kennzeichnung menschlicher Eigenart lässt sich im deutschen Sprachraum erst bei Herder und Goethe nachweisen107 und dürfte seine Karriere in den Sozialwissenschaften durch dessen Verwendung in den Schriften von Marx und Engels begonnen haben. In der Zusammenschau der drei Begriffe fällt ihre wortgeschichtliche Herkunft aus bzw. (spätestens im Mittelalter erfolgende) Verwendung in der abendländischen Metaphysik auf. Dass sich das gesamte Wortfeld im Laufe der Neuzeit – genauer: beginnend bei Descartes und abgeschlossen um 1800 – in den Bereich der ›Subjektivität‹ im modernen Sinne verschiebt und dazu dient, spezifische Fakultäten und Potentiale des individuellen oder allgemeinen Menschen zu beschreiben, deutet darauf hin, dass sich der Aufstieg und Fall des Konzeptes ›starker‹ Subjektivität zumindest zum Teil als ein Strang der Geschichte der Metaphysik seit dem Spätmittelalter beschreiben lässt.108
102 Sève: Art. Individuum, S. 1094. Vgl. auch Kobusch (u. a.).: Art. Individuum/Individualität, Sp. 304f. 103 Kobusch (u. a.).: Art. Individuum, Individualität, Sp 307. 104 Die Annahme der Steigerbarkeit von Individualität ist also nicht erst, wie Luhmann meinte, eine Paradoxie, die sich eine am Begriff des Individuums festhaltende Soziologie einhandelt, sondern bereits ein mittelalterlicher Versuch, den problematischen Begriff theoretisch zu ›retten‹ (vgl. Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 149–258, hier: S. 154). 105 Vgl. Kobusch (u. a.).: Art. Individuum, Individualität, Sp. 307f. 106 Vgl. etwa Kaehler, Klaus Erich: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg i.Br. 2010, S. 95–151. 107 Vgl. Kobusch (u. a.).: Art. Individuum, Individualität, Sp. 312. 108 Vgl. auch Ricken, der die Zentralstellung des Subjektbegriffs in Neuzeit und Moderne explizit mit der der ›Substanz‹ im Mittelalter vergleicht (vgl. Ricken: Subjektivität und Kontingenz, S. 19).
Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität
3.4
53
Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität
Nach diesen eher exemplarisch gewählten drei Wortgeschichten aus dem semantischen Umfeld des ›Subjekts‹ stellt die nun anstehende Sachgeschichte des (heuristisch so bezeichneten) ›starken‹ Subjekts einen methodologischen ›Sprung ins Ungewisse‹ dar: Schon aufgrund seiner kaum mehr fassbaren diachronen Virulenz muss im Folgenden die Anlehnung an eingespielte Methoden der Begriffsgeschichte einem eher summarischen und kursorischen Blick weichen, dessen Hauptziel es ist, zu verdeutlichen, wie sich das ›starke Subjekt‹ bis zu seiner Höchststellung um 1800109 entwickelt hat und wodurch es im folgenden Jahrhundert unter Druck geraten ist. Die verschiedenen Ansatzpunkte des Abschnitts haben außerdem die Funktion, die Ubiquität dieser Semantik aufzuzeigen. Erkenntnisleitend soll im Folgenden die Annahme sein, dass die besondere Schwierigkeit einer Sachgeschichte des ›Subjekts‹ darin besteht, dass sich diese nicht auf ein philosophisches Bezugsproblem reduzieren lässt. Das bedeutet auch, dass es schwierig ist, wichtige Positionen innerhalb dieser Sachgeschichte nur einem Problem zuzurechnen, und dass etwa die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen und die erkenntnistheoretische nach den Bedingungen menschlicher Erfahrungs- und Wissensaneignung die Frage nach der Relation des Einzelnen zum Sozialen informiert haben. Da im Zusammenhang mit der hier interessierenden dramatischen Darstellung von Sozialität (bzw. Soziabilität) gerade letzterer Frage große Bedeutung zukommt, sei diese besonders betont. Aus dieser Perspektive lässt sich postulieren110, dass ›das starke Subjekt‹ in die Geschichte der Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zu den Anderen (Welt, Gesellschaft) einzuordnen ist, einer Geschichte, die man im Westen ›Geschichte der Individualität‹ (nicht: des Individuums) nennen könnte. In Anlehnung an Luhmann wird zu zeigen sein, dass sich die Semantiken um ›Subjekt‹, ›Person‹ und ›Individuum‹ als positive Antworten auf die Frage nach den Chancen für den Einzelnen in der Gesellschaft entwickelt haben.111 Damit ist dieses Feld aber noch nicht erschöpfend vermessen. Es griffe zu kurz, die Bedeutung des ›Denkens des Individuums‹ für die abendländische Kultur allein durch Rekonstruktionen historisch spezifischer Semantiken klären zu wollen, wie es ebenso zu kurz greift, ›Subjektivität‹ auf seine erkenntnistheoretische 109 Vgl Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1066. 110 Diese Formulierung soll hervorheben, dass auch andere Akzentsetzungen sinnvoll sein können – auch wenn fraglich ist, ob eine rein an der Erkenntnistheorie orientierte Rekonstruktion des Subjektbegriffs dessen Komplexität und Wirkmächtigkeit angemessen erfassen kann (so in der neueren Dissertation von Weitzel, Nadine: Subjekt. Bausteine zu einer Geschichte des Subjektbegriffs. Berlin 2015). 111 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 765f.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Modellierung von Descartes bis Kant und Fichte zu reduzieren, die dennoch unbestritten das theoretische Fundament der Semantik ›starker‹ Subjektivität geliefert hat. Bereits die schiere kulturgeschichtliche Persistenz des Nachdenkens über den Einzelmenschen und seine Position in Sozialgefügen sollte diese Reduktionismen unplausibel erscheinen lassen – zumal beide Deutungsangebote die unbestreitbare Wirkmächtigkeit dieses Denkens nur unzureichend erklären können. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Karriere der Semantik ›starker‹ Subjektivität vor dem Hintergrund einer (Sach-)Geschichte der Individualität darzustellen ist, welche soziologisch und diskurs- wie kulturhistorisch orientiert ist. Der Kulminationspunkt dieser Karriere ist, wie gesagt, um 1800 anzusetzen. Dass diese im deutschen Idealismus erreicht wurde, ist sicherlich kein Zufall: Obwohl, wie zu zeigen sein wird, von disziplinär wie kulturräumlich verschiedenen Quellen semantisch vorbereitet, ist die Apotheose des Ich um 1800 ein genuin deutsches Phänomen und hat gerade in diesem Sprachraum seine Wirkung entfaltet, die es ebenfalls zu skizzieren gilt. Über die Gründe des großen Erfolgs der Rede vom ›starken Subjekt‹ gerade im deutschen Sprachraum soll hier nicht spekuliert werden. Sie zu klären bedürfte sicherlich weiterer Untersuchungen. Wichtig zu betonen ist, dass dieser Höchststand des ›Subjekts‹ um 1800 zugleich die Problematisierungen der Semantik im 19. Jahrhundert vorbereitete. Da diese die Ermöglichungsgrundlage der hier interessierenden Dramentexte darstellen, werden sie im Anschluss ausführlicher thematisiert. Abermals müssen die Grenzen dieser ›Hinführung‹ markiert werden: Gerade eine solche weite ›Subjekt‹-Geschichte kann (und muss) auf viele Vorarbeiten zurückgreifen und ist gezwungen, Detailfragen an diese zu weiterzureichen. Das heißt: Die Darstellung muss sehr knapp und abstrakt zu bleiben, um sich nicht in dieser sehr materialreichen und an Korrelationen und schwer durchschaubaren Interdependenzen reichen Geschichte zu verlieren. Mit einer Sachgeschichte des ›starken‹ Subjekts ist also eine Perspektivierung des historischen Materials auf »Perioden starker Subjektformationen«112 (inklusive ihrer Kritik) gemeint.
112 Hagenbüchle: Subjektivität, S. 18 (Hervorh. v. mir, PB).
Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität
55
3.4.1 Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität vor Etablierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs Anthropologisches Fragen dürfte zum zentralen Horizont menschlichen und besonders philosophischen Denkens gehören.113 Nun wäre diesbezüglich allerdings systematisch zwischen der allgemeinen Frage nach Möglichkeiten, Grenzen und Pflichten ›des‹ Menschen als Gattungswesen bzw. als Kollektivsingular und der Frage nach der Bedeutung des einzelnen Menschen in der sozialen wie naturalen Umwelt zu unterscheiden. Allerdings hat sich am Material gezeigt, dass diese analytische Unterscheidung ideengeschichtlich nicht durchgehalten worden ist und vielmehr anthropologische Theorien und anthropologisches Wissen vielfach auf Vorstellungen von ›Individualität‹ eingewirkt haben (und vice versa), so dass es z. B. nicht immer wünschenswert klar zu sagen ist, ob mit ›Subjekt‹ der Mensch im Allgemeinen oder im Besonderen gemeint ist (– wenn möglich, wird diese Frage im einzelnen Fall beantwortet werden müssen). Gerade hier zeigt sich die Verflochtenheit des zu Beobachtenden mit einer Vielzahl von Konzepten und Prozessen, mit denen es nach Art einer ›Familienähnlichkeit‹ (Wittgenstein) verbunden ist. ›Individualität‹ – im weitesten, vorterminologischen Sinne – ist als eine für das westliche Denken charakteristische Präferenz des Einzelmenschen gegenüber seiner sozialen Gruppe zu denken, ein Denken, dessen Geschichte so reich und deren Bedeutung so weitreichend ist, dass man seine Entwicklung »kaum im Zeitverlauf fixieren«114 zu können meint. Doch hat ihre »grundbegriffliche[] Aura«115 immer wieder zu ›grands récits‹ verführt, die verschiedene historische Einsatzpunkte dieses Denkens angeboten haben. Bekanntlich hat die für ›Individualität‹ entscheidende Herausbildung ›selbst-bewusster‹ Reflexion Einzelner schon früh den Kern geschichtsphilosophischer Modellierungen gebildet, mithilfe dessen in der archaischen und klassischen Zeit des antiken Griechenland eine Entwicklung »Vom Mythos zum Logos«116 oder eine menschheitsge113 Volker Gerhardt geht gar so weit, »die selbstbewusste Individualität« vom »frühen dritten vorchristlichen Jahrtausend an« als »historische[n] Tatbestand« zu postulieren (Gerhardt, Volker: Kant und Nietzsche. Formen starker Subjektivität. In: Breuniner, Renate / Oesterreich, Peter L. (Hg.): Figuren starker Subjektivität. Würzburg 2017, S. 13–28, hier S. 16). Vgl. auch ders.: Individualität. Individuum/Individualisierung/Institution/Universalität. In: Gräb, Wilhelm (Hg.): Handbuch praktische Theologie. Gütersloh 2007, S. 64–76. 114 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 1281. 115 Eibl, Karl / Willems, Marianne: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Individualität (= Aufklärung 9,2 (1996)). Hamburg 1996, S. 3–6, hier S. 3. 116 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos [1940]. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Nachdruck der 2. Auflage Stuttgart 1942. Aalen 1966.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
schichtliche »Achsenzeit«117 behauptet worden ist. Ohne diese geschichtsphilosophischen Narrative zu übernehmen, lassen sich in dieser Zeit jedoch tatsächlich Belege für einen erste »Profilierung von Individualität«118 finden.119 Allerdings muss diese konstatierte Profilierung von Individualität vor dem Hintergrund einer bis weit in die Neuzeit gültigen Primordialisierung des Sozialen gesehen werden: In vormodernen Gesellschaftsstrukturen herrscht allgemein noch ein semantisch abgesicherter Primat der ›Gesellschaft‹ (bzw. des Stammes, des Clans, der Herrscherschicht usw.) sowie der allgemeinen, mythologisch bis theistisch gestützten Weltordnung gegenüber den Individuen und ihren Idiosynkrasien vor. Dieses Denken wird flankiert von zwei anthropologischen Grundüberzeugungen der Antike: Erstens steht die Reflexion des Allgemeingültigen und Typischen der Menschen im Vordergrund, was sich etwa in der aristotelischen Ontologie oder in den Charakteristiken des Theophrast zeigt und bis in die Neuzeit fortwirkt120, und zweitens ist die Vorstellung leitend, dass die Individualität eines freien Mannes – unfreie Männer und die Frauen waren bekanntlich ausgeschlossen – ausschließlich im Rahmen von Sozialität denkbar ist und auch nur innerhalb des Sozialen und nicht in Radikalopposition dazu ausgebildet werden kann.121 Das Wissen um diese Hintergründe erlaubt es, auch eher unbegriffliche und tentative Thematisierungen als Belege für eine die Antike begleitende Tendenz zur Diskursivierung von Individualität zu behandeln, ohne dabei dem Narrativ einer ›antiken Individualisierung‹ folgen zu müssen, dessen Geltung hier offen bleiben muss. Erste Belege für ein Bewusstsein von Individualität sind in Homers Epen ausgemacht worden, insofern die homerischen Figuren – zumindest in der
117 Vgl. Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. 118 Gerhardt, Volker: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 26 (Hervorhebung im Original). 119 Vgl. Hagenbüchle: Subjektivität, S. 20. Zwar erwähnt Hagenbüchle verschiedene Seelenteile im Alten Ägypten, doch ist daraus nicht zu schließen, dass von individueller Einzigartigkeit in einem der Neuzeit vergleichbaren Sinn gesprochen werden kann (vgl. Assmann, Jan: Tod und Jenseits im Alten Ägypten. München 2001, S. 156–159 sowie ders.: Konstellative Anthropologie. Zum Bild des Menschen im Alten Ägypten. In: Janowski, Bernd (Hg.): Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Berlin 2012, S. 35–57). 120 Vgl. Jauß, Hans Robert: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums. In: Frank, Manfred / Haverkamp, Anselm (Hg.): Individualität (= Poetik und Hermeneutik XIII). München 1988, S. 237–269, bes. S. 239–242. 121 Vgl. Feichtinger, Barbara: Individuum/Familie/Gesellschaft: Antike. In: Dinzelbacher, Peter: Europäische Mentalitätsgeschichte. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, S. 1–20, bes. S. 11–15. Zum sozialstrukturellen Grundlage dieser Annahme vgl. unten im Fließtext die an Luhmann orientierte These einer Umstellung der Relation von Individuum und Gesellschaft von Inklusion zu Exklusion durch den Wandel zur funktional differenzierten Gesellschaft.
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»Odyssee«122 – bereits über eine von den Göttern respektierte Selbstbestimmung verfügen.123 Auch die griechische Tragödie stellt durch die figural vermittelte Differenz zwischen göttlichem Willen bzw. allgemeinem Gesetz und individuellem Streben die Frage nach individueller Wahlfreiheit und beantwortet diese nicht grundsätzlich negativ.124 So ist bezeichnend, dass sich der erste nachweisbare Gebrauch von αυτονόμος (autonómos) im Sinne innerer, individueller Freiheit (anstelle von Selbstgesetzgebung von Staatsgebilden) in der »Antigone« des Sophokles findet125: Der Chor der Thebaner sieht den Grund für die Verhängung der Todesstrafe gegenüber Antigone darin, dass diese ein Leben »nach eignem Gesetz« (›autonomos zosa‹) führt.126 Von besonderer Bedeutung für die ›Geschichte der Individualität‹ sind philosophische Konzepte, die die Wahl des eigenen (richtigen) Weges ins Zentrum stellen, etwa Sokrates’ Aufforderung in Platons »Apologie«, sich um seine eigene Seele zu sorgen127 und, in dessen »Alkibiades I«, die Diskussion des rechten Verfahrens der Selbsterkenntnis.128 Platons Seelenkonzept, das die souveräne Verfügung über eine denkerische Innenwelt und den eigenen Körper durch den Intellektanteil der Seele postuliert, sieht das individuelle Denkvermögen als Grundlage des Erkennens des Absoluten an, was als früher Leib-Seele-Dualismus auf die Zentrierung des Ichs als Erkenntnissubjekt in der Neuzeit vorausweist.129 Dazu tritt insbesondere die stoische Philosophie. Neben Ciceros Differenzierung vierer ›personae‹, deren vierte eine durch eigene Wahl und Entscheidung gestaltete, wenn auch stets am sozialen wie naturgemäßen decorum gemessene130 ist, wird bei Epiktet der Begriff der προαίρεσις (›prohairesis‹) bedeutsam, den er als Zentrierung auf den eigenen Willen als Einzigem, was ganz in unserer Macht
122 Vgl. Schmitz, Hermann: Leib und Seele in der abendländischen Philosophie [1977]. In: Ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. 3., erweiterte Aufl. Bielefeld/Locarno 2008, S. 289–316, hier S. 295f. 123 Vgl. dazu bes.: Schmitt, Arbogast: Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Stuttgart 1990. 124 Vgl. Schmitt, Arbogast: Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie? In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 91–118. 125 Vgl. Dietz, Karl-Martin: Die Entdeckung der Autonomie bei den Griechen. In: Forum Classicum 4 (2013), S. 256–262, hier: S: 256. 126 Sophokles: Antigone. Tragödie. Übers. von Wilhelm Willige, überarb. von Karl Bayer. Mit einem neuen Anh. hgg. von Bernhard Zimmermann. Düsseldorf [u. a.] 1999, V. 821. 127 Vgl. Hagenbüchle: Subjektivität, S. 22f. 128 Vgl. Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006, hier: S. 79–124. 129 Vgl. Schmitz: Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, zu Platons Seelenbegriff bes. S. 294f. 130 Vgl. Konersmann: Person, S. 207.
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steht, konturiert.131 Auch im Ausdruck der οι᾿κείωσις (›oikeiosis‹) scheint in der Stoa das individuell Eigene auf, dessen Selbstvergegenwärtigung uns hilft, eigene Kriterien für unser Handeln zu bilden.132 Daneben ist der griechische Bildungsbegriff der παιδεία (›paideia‹) zu erwähnen, der zwar zunächst darauf abgezielt hatte, das Individuum in die Ordnung der Polis einzugliedern, aber bereits bei Isokrates auf individuelle Entfaltung abzielt.133 Jenseits der dominanten Funktion als Exemplum für künftige Generationen offenbaren überdies die Herrscheranalysen des Herodot sowie Plutarchs Biographistik, nicht zuletzt auch die griechische und römische Plastik, Interesse am Individuellen.134 In der römischen Literatur wird, bei Cicero und Seneca auf stoischer Grundlage135, mittels autobiografischen Briefen literarische Selbstvergewisserung betrieben und individualisierter Ausdruck in Elegien suggeriert (Catull, Plutarch, Ovid).136 Demgegenüber muss betont werden, dass in der Anthropologie der römischen Antike im Vergleich zur griechischen die »Wir-« gegenüber der »Ich-Identität«137 wieder an Dominanz gewinnt, was nicht zuletzt die verschiedenen Extensionen des ›Person‹-Begriff belegen, die, wie im begriffsgeschichtlichen Abschnitt gezeigt, die soziale Dimension individuellen Handelns betont haben. Es kann also, um das erneut zu bekräftigen, von einer Teleologie der Individualität kulturhistorisch keine Rede sein. Von größter Bedeutung für das westliche Individualitätsdenken dürften die individualisierenden Tendenzen in der Theologie der beiden monotheistischen Religionen Judentum und Christentum, besonders aber letzterer gewesen sein, die einschlägig untersucht worden sind.138 Von den Kirchenvätern sind in diesem Zusammenhang Augustinus’ »Confessiones« als bedeutendste spätantike Anthropologie und nachgerade als »Paradigma der christlichen Selbsthermeneu-
131 Vgl. Forschner, Maximilian: Der Begriff der Person in der Stoa. In: Sturma, Dieter (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Paderbor 2001, S. 37–57. 132 Vgl. Forschner, Maximilan: Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung. In: Neumeyr, Barbara / Schmidt, Jochen / Zimmermann, Bernhard (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Bd. 1. Berlin / New York 2008, S. 169–192. 133 Vgl. Christes, Johannes: Art. Paideia. In: Der Neue Pauly, Bd. 9, Sp. 150–152, Sp. 151. 134 Vgl. Hagenbüchle: Subjektivität, S. 24. 135 Vgl. ebd. 136 Vgl. Tschiedel, Hans-Jürgen: Erwachendes, aufbegehrendes und verstörtes Ich: Manifestationen des Subjektiven in der römischen Literatur. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 255–284. 137 Vgl. Elias, Norbert: Wandlungen der Wir-Ich-Balance [1987]. In: Ders.: Die Gesellschaft der Individuen. Neuauflage. Frankfurt a.M. 2001, S. 207–315, bes. S. 210–213. 138 Vgl. Hahn, Alois / Willems, Herbert: Wurzeln moderner Subjektivität und Individualität. In: Aufklärung 9,2 (1996), S. 7–37.
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tik«139 zu erwähnen: Besonders im introspektiven zehnten Buch wird die Frage nach dem Wesen des eigenen Selbst gestellt und dieses als suchendes (»cor inquietum«) konzipiert, dessen Ziel gerade die Suche und nicht die (unerreichbare) Selbsterkenntnis ist. Allein der Glaube gilt Augustinus als Möglichkeit der Lösung des Problems der Selbsterkenntnis. In der Vermittlung durch den Mensch gewordenen Gott Jesus Christus sei eine Versöhnung mit Gott möglich und scheine die Perspektive einer Erlösung des Selbst auf, das existenziellen Halt durch völlige Gerichtetheit auf Gott und unter Verneinung weltlicher Anfechtungen erlange.140 Diese Andeutungen sollten gezeigt haben, dass eine ›Geschichte der Individualität‹ nicht, wie Jacob Burckhardt folgenreich gemeint hat, mit der im Anschluss an die Antike erfolgten ›Entdeckung des Individuums‹ in der italienischen Renaissance einsetzt.141 Bekanntlich geht diese Bestimmung bei Burckhardt einher mit einer (auch individualitätshistorischen) Abwertung des Mittelalters als ›dunkler Zeit‹, in der der Mensch unter einem »aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn« gewobenen »Schleier« verborgen gewesen sei und sich ausschließlich in »Formen des Allgemeinen«142 begriffen habe, eine Vorstellung, die schon vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Begriffsanstrengungen um ›subiectum‹ und ›persona‹ sowie generell des Nominalismus zumindest für das Hoch- und Spätmittelalter differenzierungsbedürftig wirkt. Es lassen sich beispielsweise wiederum in literarischen Texten, etwa dem Höfischen Roman143 oder Dantes »Divina Commedia«144, Auseinandersetzungen mit individueller Einzigartigkeit erkennen – während in Petrarcas Lyrik der »Versuch der Selbsterkenntnis« zu einer »fortschreitende[n] Verstrickung in Ungewißheit« über deren ontologische Grundannahmen führt, mithin also die augustinische Anthropologie soweit radikalisiert wird, dass weder das Individuelle noch das
139 So der Kapiteltitel zu den »Confessiones« bei Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 421. 140 Vgl. Fischer, Norbert: Unsicherheit und Zweideutigkeit der Selbsterkenntnis: Augustins Antwort auf die Frage »quid ipse intus sim« im zehnten Buch der Confessiones. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 340–366. 141 Vgl. Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien [1860]. Große illustrierte Phaidon-Ausgabe. Wien 1930, S. 76. Zu Burckhardts Buch und die um 1900 darüber geführte Debatte vgl. die Darstellung von Muhlack, Ulrich: Renaissance und Humanismus. Berlin/ Boston 2017, S. 21–75. 142 Burckhardt: Kultur der Renaissance in Italien, S. 76. 143 Vgl. Kasten, Ingrid: Subjektivität im höfischen Roman. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Wolfgang / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 394–413. 144 Geyer, Paul: Subjektivität in Dantes »Divina Commedia«. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 434–459.
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Allgemeine noch Halt bieten.145 Allgemein ist auffällig, dass im Spätmittelalter Schriften entstehen, die Individualität nicht mehr von der Partizipation am Kollektiven abhängig macht, sondern, wie bei Wilhelm v. Ockham, gerade der Unterschied zum Allgemeinen die individuelle Substanz bestimmt – eine Opposition des Einzelnen zur Gesellschaft, die für die abendländische Entwicklung höchst bedeutsam ist.146 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Selbstzentrierung und Weltabschottung der Mystik, etwa bei Meister Eckhart, zu denken, dessen Vision einer Entindividualisierung in der ›unio mystica‹ mit Gott zumindest implizit ein Konzept von Individualität voraussetzt.147 Der Befund eines Interesses ›des‹ Mittelalters an Individualität gilt auch jenseits textueller Elitenkommunikation, wenn man die praxeologische Dimension des Christentums auf seine Effekte für ›Individualität‹ hin liest. So ist die nach langem Vorlauf 1215 im Vierten Lateralkonzil einmal jährlich vorgeschrieben Ohrenbeichte als Institution zu werten, die infolge des Bekennens individueller Schuld auch das Bewusstsein individuellen Handelns und damit individuelle Selbstreflexion gefördert hat.148 Generell gilt, dass der Beitrag christlicher Institutionen und Gruppierungen – etwa das kirchenrechtlich eingeforderte und eingeübte Sündenbewusstsein149, die protestantische Gewissensbildung und -erforschung150 sowie die radikal individualistischen reformierten Sekten des 17. und 18. Jahrhunderts151 – in seiner Bedeutung für die Herausbildung von ›Individualität‹ im modernen Sinne kaum zu überschätzen ist. Insofern erscheint der Vorschlag plausibel, die Praktiken des Christentums mit Ohrenbeichte und Sündenbewusstsein und die reformatorischen Strömungen mit ihrer Betonung
145 Vgl. Kablitz, Andreas: Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 567–611, bes. S. 608–610. 146 Vgl. Mensching: Primat des Willens über den Intellekt, S. 496. 147 Vgl. Largier, Niklaus: Intellekttheorie, Hermeneutik und Allegorie. Subjekt und Subjektivität bei Meister Eckhart. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 460–486. 148 Vgl. Dinzelbacher, Peter: Das erzwungene Individuum. Sündenbewußtsein und Pflichtbeichte. In: Dülmen, Richard v. (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2001, S. 41–60. 149 Vgl. ebd sowie Sabean, David Warren: Selbsterkundung. Beichte und Abendmahl. In: Dülmen, Richard v. (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2001, S. 145–162 und Dülmen, v.: Die Entdeckung des Individuums, S. 41–46. 150 Vgl. ebd., S. 46–53. 151 Vgl. Mauss, Marcel: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des »Ich«. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Band 2: Gabentausch, Soziologe und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person. München / Wien 1975, S. 223–253, hier S. 249.
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von Eigenverantwortung und Gewissensfreiheit152 als zwei »Individualisierungsschübe« zu charakterisieren, die den »Beginn der sozialen Bedeutsamkeit des Individuums und der Individualität für die Entstehung und Entwicklung moderner Gesellschaften«153 markieren. Trotz dieser notwendigen Differenzierungen gilt das 15. und 16. Jahrhundert nach wie vor als Durchbruchszeit für die (westliche) Individualität, als dessen Überführung in Subjektphilosophie sui generis die Schriften des noch im 16. Jahrhundert geborenen René Descartes gelten. Dass dieser Durchbruch in diesem Zeitraum anzusetzen ist, hat zweifellos mit dem ersten Säkularisierungsschub des Abendlandes durch die Antikenrezeption von Renaissance und Humanismus zu tun, dank dem die Grenzen für das Denken von Individualität, die durch die Geltung des mittelalterlichen ›ordo‹-Gedankens gesetzt waren, zumindest verschoben worden sind. In dieser Hinsicht lässt sich Giambattista Vicos Perspektivierung der Universalgeschichte auf den Menschen hin als signifikante Säkularisierung der Heilsgeschichte durch die Geschichtsphilosophie lesen, durch die die Bedeutung des Menschen eine deutliche Aufwertung erfahren hat.154 Ein weiterer Beleg hierfür ist bereits bei Jacob Burckhardt die Rede »De hominis dignitate« des Pico della Mirandola gewesen.155 In dieser wird der Mensch als dasjenige Wesen inauguriert, das von Gott mit vollkommener Freiheit zur Selbstgestaltung ausgestattet worden ist (– wobei jedoch daran erinnert werden muss, dass Pico diese Rede nie gehalten hat und sie erst posthum erschienen ist).156 Auch die Selbstbetrachtungen, die Montaigne in seinen »Essais« (entstanden 1572–1592) angestellt hat, zeugen bei allem Bewusstsein der eigenen Unbeständigkeit von im Schreiben hergestellter Selbsttransparenz und einem durch theologische Bedenken unbeeindruckten Selbstbezug, der deutlich auf spätere Konzepte ›starker Subjektivität‹ – etwa bei Nietzsche – vorausweist.157 Komplementär zu dessen Fokussierung auf das individuelle Subjekt hat Descartes über sein Postulat einer »reine[n] Ich-Substanz«158 als erkenntnistheoretischer Grundlage des Wissens einen ›allgemeinen‹ Subjekt-Begriff entwickelt, 152 Vgl. dazu ausführlich Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M. 1996. 153 Junge, Matthias: Individualisierung. Frankfurt a.M. 2002, S. 37f., Zitate S. 38. 154 Zu Vico vgl. Gans, Michael: Das Subjekt der Geschichte. Studien zu Vico, Hegel und Foucault. Hildesheim 1993, bes. S. 44–51. Zur These der Geschichtsphilosophie als säkularisierter Version der Heilsgeschichte vgl. Marquard, Odo: Lob des Polytheismus [1978]. Über Monomythie und Polymythie. In: Ders.: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. 2., erweiterte Auflage. Stuttgart 2015, S. 46–71. Vgl. auch den bei Marquard im Hintergrund stehenden Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit [1966]. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1996. 155 Vgl. Burckhardt: Kultur der Renaissance, S. 203f. 156 Vgl. Hagenbüchle: Subjektivität, S. 36. 157 Vgl. Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, S. 38–43. 158 Pieper: Aufstieg und Fall der ›reinen‹ Subjektivität, S. 28.
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der der Substantialisierung des Subjekts und dessen scharfe Dichotomisierung gegenüber sich nicht selbst transparenten ›res extensa‹ (also gegen die ›Objektwelt‹) Vorschub geleistet hat.159 Neben solchen philosophisch-diskursiven Zeugnissen ist die neue Stellung des sich seiner selbst bewussten Einzelnen in den Jahrhunderten um 1500 besonders deutlich an der Tendenz zur Säkularisierung und Narrativierung der Textgattung Autobiografie zu erkennen, die etwa in Cellinis Künstlerautobiografie nichts weniger als eine »Souveränität des Selbstgefühls«160 offenbart.161 Darüber hinaus hat gerade die Bildende Kunst eine Fülle von Zeugnissen einer neuartigen Thematisierung des Individuums zu bieten. So kommt der Porträtmalerei in diesem Zeitraum eine nie dagewesene quantitative wie bildkünstlerische Bedeutung zu, und lassen bei aller noch vorhandenen Typenhaftigkeit162 doch bereits eine »sekundäre[] Individualisierung des Typischen«163 erkennen. Es sind insbesondere die Selbstbildnisse, die ein gewachsenes Selbstbewusstsein individueller Künstlerschaft offenbaren – man denke nur an Dürers »Selbstbildnis im Pelzrock« von 1500.164 Daneben kann auch die Entwicklung der Zentralperspektive als Aufwertung einer subjektiven Betrachtungsperspektive gesehen werden.165 Nicht zu vergessen ist überdies die Erfindung und Verbreitung des venezianischen Spiegels166, der nicht minder als Hinweis auf gesteigerte Selbstreflexion deutbar ist wie eine gegenüber der augustinischen Leibfeindlichkeit einsetzen-
159 Zu den Beiträgen von Montaigne und Descartes zur Entstehung des modernen SubjektBegriffs vgl. auch: Otto: Der Wille zum Subjekt, S. 134–147. Inwieweit Foucaults These zu folgen ist, mit Descartes methodischem Rigorismus habe eine Totalitarisierung der abendländischen ratio eingesetzt, ist hier nicht zu klären (vgl. Foucault: Wahnsinn u. Gesellschaft [1961]. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M. 1969, S. 68–71.; kritisch dazu Geyer, Paul: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, S. 6–12 u. 46–58). 160 Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. Bd. 4, zit. n. Dülmen, v.: Die Entdeckung des Individuums, S. 89. 161 Zur Autobiographik im genannten Zeitraum vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autopbiographie. Stuttgart [u. a.] 2000, S. 127–140. 162 Vgl. Boehm, Gottfried: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Portraitmalerei in der italienischen Renaissance. München 1986. 163 Jauß, Hans Robert: Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei. In: Frank, Manfred / Haverkamp, Anselm (Hg.): Individualität (= Poetik und Hermeneutik XIII). München 1988,, S. 599–605, hier: S. 600. 164 Vgl. Wenger, Pierre: Die Anfänge der Subjektivität in der bildenden Kunst Italiens. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Band 1. Berlin/New York 1998, S. 511–566, hier: S. 542–551 und Wagner, Christoph: Porträt und Selbstbildnis. In: Dülmen, Richard v. (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2001, S. 79–106, zu Dürer S. 98. 165 Vgl. Hagenbüchle: Subjektivität, S. 33. 166 Vgl. ebd.
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den Neubewertung des Körpers angesichts neu gewonnenen Wissens über die menschliche Physiologie.167 Das Fundament dieser für eine Geschichte von Individualität unverzichtbaren Zeugnisse168 ist jedoch der sozialstrukturelle Wandel innerhalb der west- und mitteleuropäischen Gesellschaft, der besonders für die sog. Frühe Neuzeit charakteristisch ist. Durch die langsam einsetzende Umstellung des gesellschaftlichen Differenzierungstyps von Stratifikation auf funktionale Differenzierung änderte sich die Relation des Einzelnen zur Gesellschaft grundlegend: Aus einem Individuum, das durch von Geburt feststehende und weitestgehend unveränderbare Zugehörigkeit zu einem – und nur einem – sozialen Stand in Gesellschaft immer schon integriert war, wurde ein Exklusionsindividuum, insofern es in der funktional differenzierten Gesellschaft nur mehr Teilnehmer an der Kommunikation von Funktionssystemen war, keinem aber vollständig angehörte und mithin nicht mehr als soziales Wesen sozialstrukturell festgelegt war.169 Dieser – freilich erst langsam anlaufende und zunächst von Wenigen beobachtete170 – fundamentale Wandel machte den Einzelnen auf neue Weise zum Problem, also ›frag-würdig‹, woraus sich die »kompensatorische Funktion«171 des semantischen Feldes um Individuum und Subjekt entwickelte und sozialtheoretisch besonders als Frage nach der Inklusion und Repräsentativität des Individuums in ›Gesellschaft‹ virulent wurde. Erst durch den sozialstrukturellen Wandel hin zur modernen Gesellschaft wird verständlich, wie sich die Semantik des ›starken Subjekts‹ zu einer »Erlösungsformel für die Umstellung des Inklusionsmodus auf moderne, funktionssystemspezifische Bedingungen«172 entwickeln konnte. Nur auf Basis dieser sozialstrukturellen Entwicklungen ist die Ubiquität der ›Frage nach dem Subjekt‹ in der abendländischen Kulturgeschichte seit der Neuzeit verstehbar. Zugleich, und das muss stets mitgedacht werden, ist dieses Postulat einer Zentralstellung des ›starken Subjekts‹ zur selben Zeit auch zurückgewiesen 167 Vgl. zum Zusammenhang von Körperwissen und Körperpraktiken mit frühneuzeitlichen Individualisierungsschüben Labouvie, Eva: Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung mit »Haut und Haar«. In: Dülmen, Richard v. (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2001, S. 163–196. 168 Luhmanns Konzentration auf die ›Flughöhe‹ der gepflegten Semantik läuft Gefahr, die ›unterhalb‹ dieser Kommunikation liegenden kulturhistorischen und praxeologischen Kontexte der Subjektsemantik zu ignorieren, die aber als deren Ermöglichungsbedingungen unabdingbar sind. 169 Vgl. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, S. 155–160. 170 Marcus Otto hat diese allmähliche ›Demokratisierung‹ der Beobachtung von Exklusionsindividualität auf systemtheoretischer Grundlage und im Hinblick auf politische Inklusion am Beispiel Frankreichs von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet (Otto: Der Wille zum Subjekt). 171 Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, S. 160. 172 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1027, Hervorhebung von mir, PB.
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worden, was bedeutet, dass sich mit der Entwicklung eines Potenzierung auch die Heraufkunft des Gedankens seiner Depotenzierung beobachten lässt. Angesichts der heftigen Subjektkritik von Pascal und La Rochefoucauld173 – um von Hume und den französischen Materialisten ganz zu schweigen – wäre es verfehlt, diese Depotenzierung als Innovation des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die diskursiven Optionen bezüglich des Subjekts bereits im Frankreich des 17. Jahrhunderts vorliegen und in den folgenden Jahrhunderten lediglich unterschiedliche Konjunkturphasen und semantische Ausgestaltungen erleben, dabei aber der agonale Charakter zwischen ihnen besonders um 1900 zutage tritt. Die nun einsetzenden beiden Phasen der Zentrierung und Potenzierung ›des‹ Subjekts bis 1800 und dessen Problematisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert müssen ausführlicher beleuchtet werden, da sie den hier interessierenden Zeitraum unmittelbar tangieren. Erst jetzt ist es sinnvoll, diese bislang an einem sehr ›niederschwelligen‹ Begriff von Individualität orientierte Sachgeschichte insoweit zu schärfen, als dass nun die Semantik ›starker Subjektivität‹ von der viel beschworenen Individualisierung zu unterscheiden ist – ganz einfach, weil es diese Semantik vorher nicht gegeben hat und sich benachbarte Semantiken nun ebenfalls ausdifferenzieren. Davon unbenommen ist natürlich, dass der Zugewinn an Gestaltungsoptionen der eigenen Biographie für zunehmend größere Teile der modernen Gesellschaft, der spätestens im 20. Jahrhundert als »Demokratisierung von Individualisierungsprozessen«174 beschreibbar ist, unmittelbar auf die Konjunktur der Subjektsemantik gewirkt haben dürfte, wie auch der Eindruck des Verlusts an Individualität diese negativ beeinflusst haben mag. Nicht zuletzt wird man mit Luhmann betonen müssen, dass die Beschreibung aller Menschen als gleiche und freie Individuen zunächst alles andere als evident ist.175 Umso mehr Bedeutung kommt einer philosophischen Plausibilisierung dieses Umstands zu – deren Extremposition das ›starke‹ Subjekt war. Ein wesentlicher Schauplatz der Entwicklung der Semantik ›starker‹ Subjektivität ist fraglos die Philosophie gewesen, weshalb eine Konzentration auf den philosophischen Beitrag zu dieser Entwicklung in den nächsten beiden Abschnitten (im Wissen um seine Problematik) unvermeidbar ist. Einem Vorschlag von Reckwitz zufolge hat sie sich auf drei Gebieten herausgebildet: Erstens verbindet sich mit dem Begriff eine Philosophie des Bewusstseins, die ein autonomes, selbsttransparentes ›Subjekt‹ erkenntnistheoretisch sowie moralphiloso173 Vgl. Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, S. 50–57 sowie, zu La Rochefoucauld, vgl. Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S. 62–68. 174 Beck / Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, S. 21. 175 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1016–1018.
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phisch etabliert hat, zweitens entstehen in Verbindung damit in der Sozialphilosophie individualistischer und kontraktualistischer Orientierung analoge Vorstellungen, die durch Begriffe wie ›Person‹ oder ›Citoyen‹ die politisch-soziale Seite der Subjektsemantik darstellen, und drittens ist im 18. Jahrhundert die Inaugurierung eines ›ästhetischen Subjekts‹ im Rahmen der philosophischen Ästhetik zu verzeichnen.176 Diese Unterscheidung läuft erkennbar quer zu der allgemein eingeführten Taxonomie philosophischer Disziplinen unter dem Binarismus theoretisch/praktisch. So zutreffend es ist, dass sich im Hinblick auf das Subjekt die Grenzen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie nicht sauber ziehen lassen, so ist es m. E. dennoch sinnvoll, auch in diesem Fall die Sachgeschichte des Subjekts daran auszurichten. Dies hat den Vorzug, zwei Bezugsprobleme voneinander unterscheiden zu können, für die die ›Subjekt-Semantik‹ relevant wurde – und die jeweils unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen informiert haben.177 Das ›Subjekt‹ der theoretischen Philosophie bezieht sich auf ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen, an die im Laufe der Neuzeit bzw. im 19. Jahrhundert die Physiologie, Psychophysik und experimentelle Psychologie sowie die biologische Anthropologie, die Statistik und die (philosophische) Ästhetik anschließen. Die praktische Philosophie hingegen ist am ›Subjekt‹ interessiert, insofern ein spezifisches anthropologisches Konzept unverzichtbare Grundlage jeder Sozial- und Moralphilosophie ist und deren Ausrichtung bestimmt.178 Mithin wird hier nach dem ›Subjekt‹ im Rahmen sozialer Relationen gefragt und weniger nach epistemologischen Bedingungen von Erkenntnis und Erfahrung. In diesem Zusammenhang gehören die sich aus der Sozialphilosophie ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen des Rechts, der Ökonomie, der Pädagogik sowie – im späten 19. Jahrhundert – der hermeneutischen Psychologie und der Soziologie. An der vorgeschlagenen Unterscheidung wird sich die folgende Darstellung der Positionen orientieren.
176 Vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums. In: Moebius, Stephan / ders. (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M. 2008, S. 75–92, hier S. 75f. 177 Dies nimmt den Vorschlag von Kersting auf: Kersting, Wolfgang: Der große Mensch und das kleine Gemeinwesen. Der Begriff der Person in der politischen Philosophie. In: Sturma, Dieter (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 401–443, hier S. 409f. 178 Vgl. ebd, S. 407f.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
3.4.2 ›Starke‹ Subjektivität in der theoretischen Subjektphilosophie und Ästhetik Die erkenntnistheoretische Modellierung des ›Subjekts‹ bildet wie gesagt die Grundlage der Vorstellung ›starker‹ Subjektivität. Allerdings stellt der hier zweifellos zuerst zu nennende René Descartes im Hinblick auf die Genese des ›starken Subjekts‹ sogleich einen differenzierungsbedürftigen Fall dar. Unumstritten ist sein Ruf als enorm folgenreicher Begründer des neuzeitlichen Rationalismus auf Basis eines scharfen, antithetischen Dualismus von Leib und Seele mit starker Asymmetrie zugunsten letzterer.179 Wichtig ist hierbei seine Reduktion der nach Aristoteles in verschiedene Seelenvermögen geteilten Seele auf die Vernunftseele (νοῦς, nous), wodurch Seele und Ratio nahezu identisch werden.180 Die ›res cogitans‹ wird bei Descartes als real existierende Substanz analog zu materiellen Substanzen gedacht, die aber spezifisch qualifiziert ist als immateriell, unteilbar und ewig.181 Sie wird zum archimedischen Punkt der Erkenntnisgewissheit erklärt. Das bedeutet, so die verbreitete Ansicht, eine subjekttheoretische Wende der Erkenntnistheorie: Nach dem radikalen Zweifel an der Realität aller Erscheinungen ist lediglich das zweifelnde Einzelsubjekt (»Moy«) unbezweifelbar real und wird somit zur Grundlage des menschlichen Wissens überhaupt erhoben (»Meditationes«, 1641), während die sinnlich erfassbare Welt grundsätzlich dem Verdacht der Täuschbarkeit unterliegt. Das damit als irreduzibel postulierte Selbstbewusstsein lässt sich definieren als »erlebende und reflektierende Bewusstseinsperspektive von Personen […], die sich in ›ich‹-Sätzen über psychische Zustände und Einstellungen manifestiert.«182 Jedoch ist diskutiert worden, ob diese Bestimmung von ›Selbstbewusstsein‹ wirklich gleichbedeutend mit der Inauguration eines ›starken‹, also autonomen und selbsttransparenten Ich ist. Dafür spricht, dass die starke Position der ›res cogitans‹ für Descartes eine Freiheit des Willens impliziert, die den Menschen in die Nähe der überlegenen Willensfreiheit Gottes hebt und Grundlage der mittels 179 Zur abendländischen Geschichte dieser Vorstellung in Gnosis und Manichäismus vgl. Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela: Der Leib als Widersacher der Seele. Ursprünge dualistischer Seinskonzepte im Abendland. In: Jüttemann, Gerd (Hg. u. a.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Unveränderter Nachdruck. Göttingen 2005, S. 75–93. 180 Das gilt, obwohl Descartes die Zweiheit der Seele aus Leib und Ratio postuliert. Schon aus Konsistenzgründen wird die res cogitans als Residuum der Seele bestimmt, deren räumliche Verortung im menschlichen Körper sie wiederum in die kausal-mechanistische Ordnung der res extensa zwingt. Hierin zeigt sich die Aporetik des cartesianischen Denkens aufs Klarste (vgl. Mensching, Günther: Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung. In: Jüttemann, Gerd (Hg. u. a.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Unveränderter Nachdruck. Göttingen 2005, S. 219–235, hier: S. S. 220–223. 181 Vgl. Gloy: Art. Selbstbewusstsein, S. 2415. 182 Sturma, Dieter: Philosophie des Geistes. Leipzig 2005, S. 53.
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rationaler Lebensführung und wissenschaftlicher Naturbeherrschung zu steigernden Handlungsfreiheit ist.183 Die Einwände dagegen lassen sich in zwei Argumentationssträngen zusammenfassen: So wird erstens in Zweifel gezogen, ob Descartes’ Hypostase einer ›res cogitans‹ wirklich einem autonomen, rationalen Subjekt gleichkommt, da diese Instanz schließlich von Gott eingesetzt worden sei und mithin ihre Freiheit nur in der freiwilligen Einsicht in die Richtigkeit der determinierten göttlichen Ordnung beruht (– so in seinem »Discours de la méthode« von 1637).184 Der zweite Einwand steht in Bezug zu dem in Descartes’ Spätschrift »Les passions des l’âme« (1649) unternommenen Versuch, die Emotionen innerhalb des strengen Dualismus einer mechanistisch operierenden empirischen Welt und einer selbsttransparenten Welt des Geistes zu verorten. Sein Ansatz, eine Wechselwirkung von ›res cogitans‹ und ›res extensa‹ als Grundlage der Emotionen anzunehmen, führt angesichts der Vorannahmen dieser beiden Bereiche in Widersprüche: Auf der einen Seite werden die Emotionen als die Ordnung der ›res cogitans‹ störend beschrieben, sollen diesen aber entstammen, und am Ende des Textes wird sogar angedeutet, dass sie analog zum Denken individuelle Existenz verbürgen.185 Es ist deutlich, dass die Emotionen nur sehr schwer in die streng dualistische Anthropologie des cartesianischen Denkens integrierbar sind und das Potential besitzen, diesen Dualismus und damit den gesamten Rationalismus zu unterlaufen. Dies hätte natürlich verheerende Konsequenzen für das Autonomiepostulat der res cogitans, weswegen Descartes bei diesbezüglichen Vermutungen Halt macht. Festzuhalten ist angesichts dieser Einwände, dass von einem Postulat eines ›starken‹ Subjekts bei Descartes nur eingeschränkt die Rede sein kann. Vielmehr abstrahiert sein ›Subjekt‹-Konzept von individuellem Denkvermögen und legt das allgemeine Vermögen, zu zweifeln, als Beleg individuellen Selbstwissens sowie Ermöglichungsbedingung allgemeiner Wissensaneignung fest. In diesem Sinne wäre es verfehlt, bei Descartes bereits die um 1800 kulminierende ›starke‹ Variante der Subjektivität ausmachen zu wollen; sie ist stark, insofern sie zur substanziellen Grundlage von Erkenntnis wird und somit die Ontologie auf das Subjekt – und erst nachträglich auf Gott – ausrichtet, sie ist aber schwach, insofern damit keine Handlungs-Autonomie gegenüber dem göttlichen Willen sowie völlige Souveränität gegenüber emotionalen Zuständen verbunden ist.186 Die erkenntnistheoretische Modellierung von Subjektivität ist im Anschluss an Descartes hinsichtlich der Frage betrieben worden, was die Identität des er183 Vgl. Steinvorth, Ulrich: Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt 1987, S. 34–65, bes. S. 42f. u. 62–65. 184 Vgl. etwa: Zima: Theorie des Subjekts, S. 94–98. 185 Vgl. Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S. 58f. 186 Vgl. Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, hier: S. 43–47 sowie Zima: Theorie des Subjekts, S. 94f.
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kennenden Ich gewährleistet. Eine solche Frage tritt als Problem erst bei denjenigen Philosophen auf, die eine solche Identität nicht mehr durch die Annahme einer primordialen Ich-Substanz erklären können, wie es noch bei Leibniz der Fall ist.187 Dessen Beitrag zur ›Subjekt‹-Geschichte erfolgte stärker über den Begriff der ›Apperzeption‹, durch den verschiedene Formen der Selbstreferenz begrifflich unterscheidbar wurden.188 Entscheidend und enorm wirkmächtig war John Lockes Bestimmung der ›Person‹, die als Bewusstsein eines Zusammenhangs zwischen vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen gefasst wurde, wie es das nachgetragene Kapitel »Of Identity and Diversity« der 2. Auflage des »Essay Concerning Human Understanding« (1694) expliziert. Seine Unterscheidung zwischen ›Person‹ und ›Mensch‹ verläuft über die Unterscheidung dessen, was Identität stiftet: Wo die ›Person‹ durch Bewusstsein Identität herstelle, sei die Identität des ›Menschen‹ lediglich über physische Kontinuität verbürgt.189 Daran ist nicht die Differenzierung zweier das Individuum bezeichnenden Begriffe neu: Auch bei Leibniz sowie zuvor in staats- und rechtsphilosophischer Hinsicht bei Hobbes und Pufendorf war ein ›Ich‹ als moralische Identität von der primordialen Ich-Substanz (Leibniz), der mechanistischen Determiniertheit (Hobbes) oder dem dualistischen Wesen (Pufendorf) des Menschen unterschieden worden.190 Neu und folgenreich war die Bestimmung des aposteriorischen Bewusstseins als Grundlage des moralischen und rechtlichen Handelns als ›Person‹. Dadurch verband diese Bestimmung die erkenntnistheoretische Grundlegung der Identität des wahrnehmenden Individuums mit der staats- und rechtsphilosophische Frage nach dem Wesen des Menschen als Grundlage sozialer bzw. rechtlicher Ordnung. Durch Lockes Verzicht auf bzw. Indifferenz gegenüber191 einer das Wesen des Ich bestimmenden Substanz ist es einem skeptischen Empiristen wie Hume sogar möglich gewesen, die Frage der Identität vom ›Wie‹ zum ›Ob‹ zu verschieben und negativ zu beantworten: Das Bewusstsein sei nichts anderes als Bündel von Perzeptionen, deren Annahme als konsistentes ›Ich‹ lediglich eine in der Einbildungskraft aufgrund der Annahme kausaler Relation in der Erinnerung entstandene Fiktion sei.192 Mit anderen Worten ist durch die Freisetzung der Frage nach der Identität des Subjekts von apriorischen Wesensbestimmungen sowohl seine Verneinung möglich geworden 187 Vgl. Thiel, Udo: Person und Persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Sturma, Dieter (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 79–101, S. 90f. 188 Vgl. Sturma: Philosophie des Geistes, S. 55f. 189 Vgl. Thiel: Person und Persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 82–85. 190 Vgl. allg. ebd., S. 82, FN 9 sowie zu Pufendorf Kobusch: Die Entdeckung der Person, S. 67–82. 191 Vgl. Thiel: Person und Persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 81. 192 Vgl. ebd., S. 90–93.
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– als auch die kopernikanische Wende einer Modellierung von Erkenntnis durch die transzendentale Struktur des Erkennenden (Kant), die dann zur Primordialisierung des Subjekts durch ›Selbstsetzung des Ich‹ (Fichte) radikalisiert werden konnte. Eine andere Auseinandersetzung mit Descartes’ Cogito leistet die Erkenntnistheorie des Begründers der philosophischen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, die dieser in seiner »Metaphysica« (1739) vorgelegt hat. Nach Menke ist hier der Ort, an dem das Subjekt im modernen Sinne erst inauguriert wird – und zwar in Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung, die dadurch eine entscheidende Aufwertung erfährt.193 Bei Baumgarten ist ›Subjekt‹ erstens die Instanz, die Sinnlichkeit und Verstand miteinander verknüpft. Dies ist möglich, weil erstere nicht mehr, wie bei Descartes, als passive Aufnahme von Sinnesdaten, sondern als Tätigkeit gesehen wird, womit sie als strukturanalog zum Verstand erscheint. Zweitens bestimmt er das Subjekt nicht mehr im klassischen Sinne als Träger von Prädikaten, sondern »als einen Akteur, der durch seine Kräfte etwas verwirklicht.«194 Daraus folgert er, dass ein spezifisches Subjekt jeweils Kräfte unterschiedlicher Art und Stärke hat, wodurch es als individuelles Subjekt ausgezeichnet ist. Diese Individualisierung des Subjektbegriffs hat freilich weniger in der Erkenntnistheorie als im Bereich der Ästhetik gewirkt, wie weiter unten gezeigt werden wird. Als Immanuel Kants Beitrag zur Geschichte der Subjektivität wird man gemeinhin sein transzendentales Subjekt vermuten. Jedoch wird hier der These gefolgt, dass entgegen dem ersten Anschein die Transzendentalphilosophie für das hier interessierende ›starke Subjekt‹ weniger bedeutsam ist als Kants Modellierung des Subjekts der Freiheit und der Person im Rahmen der praktischen Philosophie und der Ästhetik (– dies lässt sich an der Entwicklung der Verwendung des Personenbegriffs besonders gut beobachten).195 Gleichwohl ist sein Konzept so wirkmächtig gewesen und hat namentlich den deutschen Idealisten als Ausgangspunkt ihrer egologischen Spekulationen gedient, dass es auch in diesem Zusammenhang zu skizzieren ist. In dem übergeordneten Ziel der »Kritik der reinen Vernunft« (1781/1787)196, die erkenntnistheoretischen Grundlagen – und Grenzen – des menschlichen 193 Vgl. Menke, Christoph: Art. Subjektivität. In: ÄG 5, S. 734–786, hier: S. 749–751. 194 Ebd., S. 750. 195 Damit folge ich dem Vorschlag von Vgl. Mohr, Georg: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel. In: Sturma, Dieter (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 103–141. 196 Nachgewiesen werden die beiden Auflagen der ersten »Kritik« wie üblich als ›KrV‹ mit den Siglen ›A‹ u. ›B‹ und den Seitenzahlen. Zitiert wird nach: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1998.
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Erkennens jenseits einer Parteinahme für Rationalismus oder Empirismus zu klären, nimmt die Frage nach dem Subjekt eine gewichtige Stellung ein. Im Rahmen von Kants Transzendentalphilosophie, die die a priori vorhandenen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis herausarbeitet, ergibt sich die Chance, das bisher als Substanzbegriff gebrauchte ›Subjekt‹ transzendentalphilosophisch zu deontologisieren und seine Leistung für die menschliche Erkenntnis neu zu bestimmen.197 Den positiven Gehalt des Subjekts fasst Kant in der Formel des »Ich denke« (KrV B 131f.) und mittels des Begriffs der »transzendentalen Apperzeption« (KrV A 106f.), was bereits begrifflich auf Descartes bzw. Leibniz zurückverweist. Die Chance der Deontologisierung wird in der Erstfassung nur andeutungsweise genutzt, und zwar im Rahmen der Zurückweisung der rationalistischen Beweise einer Existenz der ›Seele‹, die als »Paralogismen der reinen Vernunft« (KrV A 341/B 399) abqualifiziert werden, während die in der Fassung von 1787 hinzugefügten Passagen die Entsubstantialisierung und Neufassung des ›Subjekts‹ konsequent und vor allem explizit betreiben. Dies zeigt sich in der nun vorgenommenen Unterscheidung von »transzendentaler Apperzeption« und »innerem Sinn« (KrV B 152–156) sowie über die verschärfte Kritik an Versuchen der wolffianischen rationalen (d. h. spekulativen) Psychologie198, die ›Seele‹ a priori beweisen zu können (KrV B 410–419). Zur Frage der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis postuliert Kant: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (KrV B 131), und sieht dies als »notwendige Bedingung aller möglichen Erfahrungszustände.«199 Zugleich jedoch geht mit der Verdeutschung von Descartes’ Cogito eine Distanzierung von dessen Annahme einher, dass dem Cogito bereits die Wahrnehmung der eigenen Existenz inhärent ist (vgl. KrV A 347/B 505), im ›ich denke‹ das ›ich bin‹ also bereits analytisch enthalten sei (KrV A 355). Kant folgt Descartes allerdings in der Annahme, dass das ›Ich denke‹ a priori gegeben sein muss und nicht, wie Locke und Hume meinten, erst aus der Erfahrung stamme, da nur so auch wirklich alle Vorstellungen durch ein »Bewußtsein (meiner selbst)« (KrV A 117, Anm.) begleitet werden können, wozu für Kant auch die Möglichkeit zählt, überhaupt Vorstellungen als eigene synthetisieren zu können. Es ist in der Forschung umstritten, wie nahe das ›Ich denke‹ in der Zweitfassung der »Kritik der reinen Vernunft« an das cartesianische Cogito herangerückt
197 Vgl. dazu einschlägig: Klemme, Heiner F.: Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg 1996. Klemme verfolgt die Wandlungen des kantischen Subjektbegriffs von der Dissertation bis zur Zweitfassung der »Kritik der reinen Vernunft«. 198 Vgl. dazu Wunderlich, Falk: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin 2005, hier: S. 18–46. 199 Sturma, Dieter: Art. Subjekt. In: Kant-Lexikon. Studienausgabe, S. 566–570, hier S. 567.
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worden ist (etwa in KrV B 422f. Anm.).200 Für diesen Zusammenhang ist wichtiger, dass das ›Ich denke‹ als notwendige Bedingung allen Erkennens – auf der Ebene der Kategorien, aber kein Teil von diesen – angesehen wird, darüber aber a priori nichts weiter ausgesagt werden kann. Was Kant zufolge feststeht, ist die erkenntnislogische Unbestreitbarkeit eines ›transzendental‹ verstandenen Subjekts als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Dieses ›transzendentale Subjekt‹ entwirft Kant in der ›Transzendentalen Analytik‹ in enger Auseinandersetzung mit Positionen der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie und unter Konsultation der Impulse von Locke, Hume und Condillac, die hier im Einzelnen nicht ausgebreitet oder gar untersucht werden können.201 Bereits in der Schulphilosophie changiert der Gebrauch des von Leibniz eingeführten Begriffs »Apperzeption« zwischen dem als Gegenstandsbewusstsein und dem als »Erkenntnis- und Seinsbegriff von Selbstbewusstsein«.202 Kant übernimmt diese Bedeutungsbreite und wendet sie transzendentalphilosophisch, indem er die für alle Erkenntnisse notwendige vereinheitlichende Leistung der Vorstellungen im Bewusstsein als »transcendentale Apperception« (KrV A 106f.) bezeichnet. Mit diesem Begriff ist eine formallogische Einheit des Bewusstseins geschaffen, die jedem Gegenstandsbezug zugrunde liegt, aber nicht selbst schon Bewusstsein seiner selbst ist, sondern »die subjektive Ermöglichungsstruktur für Bewusstsein wie Selbstbewusstsein«203 darstellt. ›Transzendentale Apperzeption‹ ist mithin empirischem wie Selbstbewusstsein vorgängig: Durch sie ist die »durchgängige und notwendige Identität« (KrV A 112) der zerstreuten Bewusstseinsakte in »einem einigen Selbstbewußtsein« (KrV A 117, Anm.) möglich, ohne die gar nicht vom Bewusstsein ein und desselben Subjekts gesprochen werden könnte.204 Diese Form der Apperzeption unterscheidet Kant von der empirischen Apperzeption, die auch ›innerer Sinn‹ genannt wird und das Vermögen meint, »vermittelst dessen das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet« (KrV A 22/B 37) – der aber anders als die ›transzendentale Apperzeption‹ dem Bereich der ›Sinnlichkeit‹, also der Empirie angehört. So ist der ›innere Sinn‹ nämlich eng auf den »äußeren 200 Vgl. Kitcher, die Kants Argumentation in der Zweitfassung als »ziemlich komplex, wenn nicht gar inkonsistent« charakterisiert (Kitcher, Patricia: Art. Ich denke. In: Kant-Lexikon. Studienausgabe, S. 235–239, hier S. 235). Dort findet sich auch die einschlägige Literatur zu den Kontroversen. 201 Vgl. dazu Klemme, Heiner F.: Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg 1996, bes.: S. 13–75 sowie Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, bes. S. 7–127. 202 Zöller, Günter: Art. Apperzeption. In: Kant-Kant Lexikon, Studienausgabe, S. 30–33, S. 32 sowie Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, S. 18–40. 203 Ebd., S. 34. 204 Vgl. ebd.
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Sinn« bezogen: Während dieser ein Bewusstsein von Gegenständen im Raum fasst, stellt jener entsprechend zeitlich gedachte »empirische Selbstanschauung«205 dar. Beide Sinn-Begriffe bedingen einander, insofern die mit dem inneren Sinn einhergehende Zeit »eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen« ist – und insofern das »Bewußtsein meines Daseins in der Zeit […] mit dem Bewußtseins eines Verhältnisses außer mir identisch verbunden« ist (KrV A 34/B 50 bzw. KrV B XL). Es gilt also zugleich, dass »innere Erfahrung überhaupt nur mittelbar durch äußere Erfahrung«206 möglich ist, die durch den äußeren Sinn vermittelt wird, während dieser äußere Sinn selbst, da er Wahrnehmung von räumlichen Gegenständen bedeutet, ohne die zeitliche Wahrnehmung des inneren Sinns als »den Inbegriff aller Vorstellungen« (KrV A 177/B 220) ebenso unmöglich ist. Diese Korrelation hat wichtige Konsequenzen: So bestimmt Kant zwar als Gegenstand des inneren Sinnes die »Seele«, macht aber – gegen die Rationalisten – geltend, dass der innere ohne den äußeren Sinn keine Erkenntnisse über sie bieten kann.207 Es zeigt sich somit, dass der innere Sinn anders als die transzendentale Apperzeption keine denklogisch notwendige und mithin objektive Einheit ist, sondern »eine empirische und subjektive Einheit des Bewusstseins aufweist, die durch die Assoziation der Vorstellungen in der Mannigfaltigkeit der Anschauungen hergestellt wird und daher ganz zufällig ist«.208 Die Unterscheidung von transzendentaler Apperzeption und innerem Sinn markiert, so Kant in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, die Unterscheidung zwischen dem Ich als »Subject des Denkens« und dem Ich als »Object der Wahrnehmung«209 – ersteres ist eine rein formale Ermöglichungsbedingung von Erkenntnis, letzteres eine Möglichkeit der Selbstanschauung, die durch ihre Angewiesenheit auf empirische Daten keinerlei apriorische Erkenntnis liefern kann. Schon an diesen beiden Begriffen lässt sich zeigen, dass Kants Versuch, die Leistungen des ›Subjekts‹ für den Erkenntnisprozess herauszuarbeiten, einher geht mit dem Aufweis seiner Grenzen. So liegt das denkende bzw. »absolute Subject« (KrV A 348) zumal in der ersten Fassung der »Kritik der reinen Vernunft« als Substrat allen transzen-
205 Lau, Chong-Fuk: Art, Sinn, innerer. In Kant-Lexikon. Studienausgabe, S. 548–551, S. 548. 206 Ebd., S. 549. 207 Vgl. Ameriks, Karl: Kant’s Theory of Mind. An analysis of the paralogisms of pure reason. Oxford [u. a.] 1982, S. 243f. 208 Lau: Art. Sinn, innerer, S. 551. 209 Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Ders. Werke: Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Bd. 7: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Berlin 1968, S. 117–334, hier S. 134, Anm.
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dentalen Kategorien und Bewusstseinsprozessen zu Grunde, doch kann darüber hinaus über dieses nichts ausgesagt werden (vgl. KrV A 346/B 404). Diesen Umstand der simultanen Primordialisierung und Begrenzung des Subjekts erweist Kant besonders bei der – in der 2. Fassung detaillierter ausgearbeiteten210 – Auseinandersetzung mit dem wolffianischen Seelenbegriff. Kant weist die Versuche der ›rationalen‹ (d. h. spekulativen) Psychologie, die apriorische und mithin unsterbliche Existenz des ›Seele‹ bezeichneten Kerns des Menschen mittels der Kriterien Substanzialität, Identität, Einfachheit und Erkennbarkeit beweisen zu können, entschieden zurück.211 Diese Verurteilung der Beweise einer Existenz der ›Seele‹ als »Paralogismen der reinen Vernunft« (KrV A 341/ B 399) laufen darauf hinaus, apriorische Erkenntnis der Seele insgesamt für begrenzt anzusehen: Zwar sei die Annahme einer der Seele analogen Erkenntnisinstanz – eben der transzendentalen Apperzeption – als Grundlage des Erkennens denklogisch zwingend, doch sagt dies »schlechterdings nichts über die Art meines Daseins« aus (KrV B 142).212 Eine inhaltliche, nicht bloß formale Bestimmung von Subjektivität ist laut Kant somit nicht a priori, wie die Rationalisten und Wolffianer angenommen haben, möglich. Ebenso wenig ist aber ein völliger Verzicht auf die apriorische Syntheseleistung einer subjektiven Instanz möglich, da ohne diese die ›Bündel von Perzeptionen‹ gar nicht als Perzeptionen eines Beobachters zurechenbar und in dessen Bewusstsein verarbeitbar wären, was anders gesagt heißt, dass die über die Sinne gegebene ›Materie‹ ohne die apriorisch im Bewusstsein gegebene ›Form‹ überhaupt nicht erkennbar wäre (vgl. KrV B 118) – wogegen sich Kant gegen die Sensualisten, besonders Hume, wendet. Diese synthetisierende Instanz, die zugleich nicht als Substanz bestimmbar ist, bildet den Ausgangspunkt der ihm nachfolgenden idealistischen Theorien des Selbstbewusstseins. Das Ergebnis der transzendentalphilosophischen Wendung des Subjektproblems bei Kant selbst ist, dass ein ›starker Begriff‹ von Subjektivität innerhalb der theoretischen Philosophie gar nicht erreichbar ist: Über das Ich als Subjekt kann gehaltlich nichts ausgesagt werden, das Ich als Objekt wiederum bietet keine allgemeingültigen und keine apriorischen synthetischen Urteile. Die Funktion des Aufweises ›starker Subjektivität‹ wird bei Kant die praktische Philosophie einnehmen – und dort der Begriff der ›Person‹.
210 Vgl. Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 104–110. 211 So schon Kant selbst in KrV B 421. 212 So argumentiert auch Frank, der die »aporetische Struktur« eines Ich nachzeichnet, das zugleich als unverzichtbar und erkennbar gedacht werden muss, dem aber »keine Erkenntnis je adäquat« ist (Frank, Manfred: Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre. In: Ders. (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt a.M. 1991, S. 413–599, bes. S. 416–432, Zitate S. 430).
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Bekanntlich hat Kants Bestimmung der Ermöglichungsbedingungen von Erkenntnis auf zeitgenössische Philosophen stark gewirkt – nicht zuletzt auf den deutschen Idealismus, der in diesem Zusammenhang besondere Beachtung verdient, weil er »den Höhepunkt und das Ende der von den Griechen überkommenen ontologischen Metaphysik«213 markiert und mithin auch die seit Descartes virulente metaphysische Begründung von Subjektivität an ihr Ende bringt. Diese Subjektivitätstheorien sind als letzte vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wissen entstanden, was in der Neuzeit bedeutet: als Auseinandersetzung mit idealistischen und empiristischen Positionen. Mit guten Gründen ist das Jahr 1787 als Ausgangsjahr der von Kant neu konturierten Diskussion um die Relation von Realismus und Idealismus bestimmt worden, da in diesem Jahr sowohl die Neuauflage der Kritik der reinen Vernunft als auch Jacobis »David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus«214 erschienen sind, dessen scharfe Kantkritik aus sensualistischer Perspektive die folgenden Philosophen zur Schärfung ihrer Positionen genötigt hat. Neben Jacobi ist noch Carl Leonhard Reinhold als wichtiges Bindeglied zwischen Kant und dem deutschen Idealismus hervorzuheben, und das nicht allein deshalb, weil er sich um die Vermittlung kantischer Philosophie verdient gemacht hat.215 So war er es, der postuliert hat, dass sich eine Philosophie, die Grundlage aller Wissenschaften sein wolle, aus einem einzigen Lehrsatz entwickeln lassen müsse216 – eine Überzeugung, ohne die die Ich-Philosophie Fichtes, Schellings Identitätsphilosophie sowie Hegels Geistes-Metaphysik nicht verständlich sind. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Reinholds Philosophie muss hier aus Raumgründen unterbleiben. Fichtes frühe Transzendentalphilosophie wird auch heute noch mitunter als ›weltlose‹ Kopfgeburt verurteilt, als eine direkt in den Solipsismus mündende Überschätzung des subjektiven Erkenntnisvermögens.217 Dagegen lässt sich einwenden, dass der späte Fichte mit seinem Eintreten für die Leiblichkeit und Interpersonalität von Personen im Rahmen der praktischen Philosophie gerade an der Überwindung einer solchen Gefahr mitgearbeitet hat.218 Darüber hinaus verkennt dieser Vorwurf, dass Fichtes berühmte ›Selbstsetzung des Ich als Tathandlung‹ buchstäblich die erkenntnistheoretische Voraussetzung für die Frei213 Gamm, Gerhard: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997, S. 12. 214 Vgl. Jaeschke, Walter /Arndt, Andreas: Die Philosophie der Neuzeit 3. Teil 2: Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel. München 2013, S 15. 215 Vgl. Röd, Wolfgang: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer. München 2006, S. 150–156. 216 Vgl. Duque, Félix: Art. Reinholds »Elementarphilosophie«. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Handbuch deutscher Idealismus.Stuttgart [u. a.] 2005, S. 62f. 217 Vgl. Zima: Theorie des Subjekts, S. 102f. 218 Vgl. Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 121f. u. S. 125–129.
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heit der Subjekte ist – und mithin unmittelbar in praktische Lebensverhältnisse einmündet. Für das Interesse an Figuren starker Subjektivität ist Fichtes Transzendentalphilosophie, wiederum analog zu Kant, zugleich wenig Gewinn bringend wie grundlegend. Das Ziel seiner »Grundlegung der gesamten Wissenschaftslehre« von 1794 ist eine »Neubegründung der Philosophie« als »Prinzipientheorie des Wissens, die es gestattet, die Gesamtheit der Erkenntnis- und Handlungsregeln des menschlichen Weltumgangs systematisch vollständig und in einem unbedingten Grundsatz letztbegründet abzuleiten.«219 Kandidat für einen solchen Grundsatz ist das Selbstbewusstsein, das einer genauen Analyse zu unterziehen ist. Beides steht erkennbar in der Tradition Kants, ist aber »a systematically radicalized Kantian transcendental idealism«220, weil dessen »Kritiken« von Fichte als – im Falles des Selbstbewusstseins lückenhafte221 – Vorarbeiten für ein zu entwickelndes System der Philosophie betrachtet werden. Fichtes Ziel ist es, einen Grundsatz zu finden, der es ermöglicht, das problematische »Ding an sich« der kantischen Transzendentalphilosophie zu tilgen. Die dadurch noch immer präsente Dualität von Denken und objektiver Welt wird bei Fichte überführt in einen Monismus, in dem Sein und Denken zusammenfallen.222 Die Formel, die er für diesen höchsten Grundsatz wählt, lautet ›Selbstsetzung des Ich‹: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.«223 Durch die »Thathandlung«224, einer Tätigkeit, die analog zur systemtheoretischen Autopoiesis225 ihren Gegenstand selbst hervorbringt und mithin die »prozessuale Identität von Tat und Handlung, Produkt und Produzierendem«226 anzeigt, setzt sich das Ich selbst als »absolutes Subjekt«.227 Die Dynamizität und ›Autopoiezität‹ der Tathandlung hat den Vorteil, Subjektivität von jeglicher Substanzontologie freizuhalten. Zugleich bringt sie neben dem Ich auch das Nicht-Ich als ein das Ich Begrenzendes hervor228, wobei beide als einander wechselseitig bedingend und untrennbar aufeinander 219 Gamm: Der deutsche Idealismus, S. 46. 220 Zöller, Günter: Original Duplicity. The Ideal and the Real in Fichte’s Transcendental Theory of the Subject. In: Ameriks, Karl / Sturma, Dieter (Hg.): The Modern Subject. Conceptions of the Self in Classical German Philosophy. Albany, NY 1995, S. 115–130, S. 115. 221 Vgl. Frank: Fragmente, S. 433. 222 Vgl. Sandkühler, Hans Jörg: Art. Philosophie der Erkenntnis und des Wissens nach Kant. In: Ders. (Hg.): Handbuch deutscher Idealismus. Stuttgart [u. a.] 2005, S. 93–120, hier S. 94. 223 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer [1794]. Hgg. v. Fritz Medicus. Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage mit neuer Einleitung, Registern und Bibliographie von Wilhelm G. Jacobs. Hamburg 1970, S. 18. 224 Ebd., S. 16. 225 Vgl. Gamm: Der deutsche Idealismus, S. 49. 226 Ebd., S. 50. 227 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], S. 17. 228 Vgl. ebd., S. 30.
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bezogen gedacht werden. Durch die Hervorbringung von Ich und Nicht-Ich umgreift das absolute Subjekt Denken und Sein, autonomes Subjekt und von Naturgesetzen determinierte Objekte der empirischen Welt, so dass Fichte sagen kann: »Alles was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts.«229 Das absolute Subjekt ist transzendentale Grundlage allen Denkens und allen Seins – und in genau diesem Sinne ist es absolut.230 Jedoch wäre es ein Missverständnis, das absolute Subjekt als reales Bewusstsein eines empirischen Individuums aufzufassen. Eher ist es angemessen, den Ausdruck als »eine Art Strukturbegriff« aufzufassen, »der das Ensemble notwendiger Bedingungen menschlichen Selbstseins überhaupt umfaßt.«231 Analog zu Kants ›Ich denke‹ ist Fichtes ›Ich bin‹ eine transzendentale Struktur, die eine für menschliche Erkenntnis unverzichtbare Instanz des Selbstbewusstseins bezeichnet.232 Als Figuration starker Subjektivität kann Fichtes absolutes Subjekt hingegen insofern gelten, als dass es mittels der Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich die ontologische Grundlage für menschliche Freiheit schlechthin liefert: Da das Ich als vom determinierten Nicht-Ich der empirischen Welt getrennt konzeptualisiert wird, ist die Hypostase subjektiver Autonomie, die Grundlage der praktischen Philosophie Fichtes ist, legitimiert. Die Frage, wie sich dieses Ich in konkreten Subjekten realisiert, hat Fichte in seiner Spätphilosophie zu beantworten versucht und wird im Zusammenhang mit dessen praktischer Philosophie behandelt. Die philosophisch gewichtige Kritik der Frühromantiker – besonders von Hölderlin und Novalis – an Fichtes absolutem Subjekt muss hier ausgespart bleiben.233 Manfred Frank folgend sollte diese Kritik jedoch nicht zu einer Präfiguration des ›unrettbaren Ich‹ stilisiert werden – dafür ist sie zu eng an spezifische philosophische Detailprobleme geknüpft und vermeidet dezisionistische Abdankungsgesten.234 Schellings Bedeutung für die starke Subjektivität ist im Vergleich zu Fichte enger gefasst und bezieht sich auf seine in Auseinandersetzung mit diesem bis 1800 entwickelte Relationierung der Transzendentalphilosophie mit einer Na-
229 Ebd., S. 19. 230 Zu Fichtes Transzendentalphilosophie vgl. Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a.M. 1967 sowie Baumanns, Peter: J.G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie. Freiburg/München 1990. 231 Gamm: Der deutsche Idealismus, S. 48. 232 Zur Relation zwischen beiden Figuren vgl. Cramer, Konrad: Kants ›Ich denke‹ und Fichtes ›Ich bin‹. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 1 (2003), S. 57–92. 233 Vgl. zu Novalis Jaeschke, Walter /Arndt, Andreas: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012, bes. S. 191– 214 sowie zu Hölderlin und Novalis Frank: Fragmente, S. 456–476. 234 Vgl. Frank: Fragmente, S. 476.
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turphilosophie235, die seit der Jahrhundertwende immer mehr ins Zentrum seines Denkens rückt. Wichtig ist, dass Schelling das absolute Ich bzw. das Absolute als εν και παν (hen kai pan)236, also Einheitsprinzip im Sinne der spinozistischen Gottesidee bestimmt, welches aber »außer aller Sphäre objektiver Beweisbarkeit«237 liege. Diese All-Einheit des absoluten Ich ist Grund einer »Harmonie« zwischen erkennenden Subjekten und erkannten Objekten, weil beide »ihre Realität nur der unendlichen Realität des absoluten Ich verdanken«238, einem absoluten Ich, das Schelling mit »Gott«239 identifiziert. Nach Wetz liegt in der Gleichberechtigung von Natur und Ich durch die gemeinsame Wurzel aus dem absoluten Ich der entscheidende Unterschied zu Fichte, bei dem das menschliche Ich mit dem absoluten identisch ist.240 Bekanntlich hat Schelling die Natur – wiederum in Anlehnung an Spinoza – ontologisch unterschieden: »Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir die Natur als Objekt (auf diese geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir die Natur als Subjekt (auf diese geht alle Theorie).«241 Die systematische Bedeutung dieser Bestimmung einer Subjektseite der Natur liegt erstens darin, dass Natur damit bereits vor der Syntheseleistung der Apperzeption ein Ganzes darstellt und mithin aufgewertet wird, sowie zweitens darin, dass die Analogie zum Geist auch ontologisch abgesichert ist. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung ist hingegen entscheidend, dass dadurch der Status der Subjektivität keine menschliche Eigenheit mehr ist bzw. sich nicht mehr im menschlichen Selbstbewusstsein realisiert, sondern als formales Einheitsprinzip funktionalisiert wird. Damit hat sich die bei Kant einsetzende und sich bei Fichte radikalisierende Tendenz in der Erkenntnistheorie durchgesetzt, Subjektivität als invariantes Erkenntnisvermögen zu konzeptualisieren, womit ihre systematische Bedeutung so groß wird, dass sie zugleich das Fundament von Natur und Geist sein kann, sie aber zu abstrakt und formal ist, um sie als starke Subjektivität im hier interessierenden Sinn operationalisierbar zu machen. Die eingangs erwähnten Schwierigkeiten bezüglich der Klärung der Begriffsverwendung des semantischen Feldes des Subjekts potenzieren sich bei Hegel 235 Zum Streit um Schellings Identitätsphilosophie mit Fichte vgl. Jaeschke/Arndt: Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel, S. 160–178 sowie Sandkühler: Art. Philosophie der Erkenntnis und des Wissens nach Kant, S. 101–110. 236 Vgl. Jaeschke/Arndt: Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel, S. 38f. 237 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph v.: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen [1795]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Erster Band. Stuttgart/Augsburg 1856, S. 149–244, S. 167. 238 Ebd., S. 240. 239 Ebd., S. 201. 240 Vgl. Wetz, Franz Josef: Friedrich W.J. Schelling zur Einführung. Hamburg 1996, S. 29. 241 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph v.: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). In: Sämtliche Werke. Dritter Band. Stuttgart/Augsburg 1858, S. 284.
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und seinem höchst idiosynkratischen Sprachgebrauch. Besonders der Gebrauch der hier interessierenden Begriffe Subjekt(-ivität), Selbstbewusstsein, Ich, Seele, Individuum, Individualität und Person, der nur kursorisch nachgezeichnet werden kann (und in der Forschung umstritten ist), bietet erhebliche Schwierigkeiten, nicht zuletzt, weil er zwischen den einzelnen Werkphasen teils stark variiert.242 Für den Zusammenhang der theoretischen Philosophie lässt sich festhalten, dass die seit Kant beobachtbare Tendenz zur Formalisierung des Subjektbegriffs auch auf Hegel zutrifft. Hegels rätselhaftes Diktum aus der Einleitung der »Phänomenologie des Geistes« (1807), dass es darauf ankomme, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«243, wird etwas durch die Bestimmung erhellt, dass Subjekt-Sein bedeute, »die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens«244 zu vollziehen – eine Formulierung, die in ihrem ersten Teil auf Hegels Semantisierung von Selbstbewusstsein als Selbst-Reflexion des Wissens sowie im zweiten auf die spekulative Logik verweist. Durch diese Verwendung wird ›Subjekt‹ mithin zu einer erkenntnislogischen Basisstruktur der prozessualen Selbstexplikation des Wahren (auch: des Absoluten bzw. des Geistes), was ja der eigentliche Gegenstand der »Phänomenologie des Geistes« ist.245 Zugleich leistet dieser Subjektbegriff eine Abwehr empiristisch, transzendental oder idealistisch verstandener Subjektivität: »[S]ie ist nicht mehr oberster Grundsatz einer selbstbewußten Tätigkeit[,] aus der alle Kategorien des Denkens und Handelns abgeleitet werden.«246 Terminologisch wird das seit Kant systematisch so prominente ›Subjekt‹ (im Einklang mit dem naturphilosophischen Schelling) gewissermaßen ›eingehegt‹ und in dieser Hinsicht dezentriert. Die radikale Wende der »Phänomenologie des Geistes« besteht vom Standpunkt der Subjektivität aus gesprochen also in einer Rücknahme seiner transzendental oder idealistisch begründeten systematischen Zentralstellung zugunsten der sich über 242 Vgl. dazu Kible [u. a.]: Art. Subjekt, Sp. 385f. sowie allgemein zur Genese des Subjektivitätsbegriffs der Hegelschen Logik Düsing, Klaus: Das Problem des Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. 3., um ein Nachwort erweiterte Auflage. Bonn 1995. 243 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes [1807]. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 23. 244 Ebd. 245 Vgl. die konzise Zusammenfassung des Programms der »Phänomenologie« von Helferich, der sie als »dialektischen Erfahrungsprozeß des Bewußtseins im Durchgang durch verschiedene Bewußtseinsformen bis hin zum ›absoluten Wissen‹« beschreibt (Helferich, Christoph: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Stuttgart 1979, S. 41). 246 Gamm: Der deutsche Idealismus, S. 106. Es ist daher missverständlich, Subjekt als »systemkonstitutiven Begriff« (Kible [u. a.]: Art. Subjekt, Sp. 386) zu markieren, wenn man nicht zugleich betont, dass er als logisches Prinzip nicht mehr dieselbe Dignität besitzt wie seit Kant und im Idealismus eingeführt.
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die Stufen Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Geist zum absoluten Wissen hin selbst explizierenden Formen des Bewusstseins. Das bedeutet auch, dass nicht das einzelne empirische Individuum bzw. das einzelne transzendentale Subjekt diese Entwicklung des Denkens trägt, sondern vielmehr »der Anteil, der an dem gesamten Werke des Geistes auf die Tätigkeit des Individuums fällt, nur sehr gering sein kann« – wie Hegel es im Schlusssatz der Vorrede mit Verweis auf die historische Gegenwart ausdrückt, in der »die Allgemeinheit des Geistes so erstarkt« sei.247 Der Anteil von Individuen an der Allgemeinheit des Geistes wird in Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (1817, dritte, stark umgearbeitete Auflage 1830) präzisiert. In dem – nach der Logik und der Naturphilosophie – dritten und abschließenden Teil mit dem Titel »Philosophie des Geistes«, bietet Hegel eine dreistufige Entwicklungsgeschichte des Geistes von subjektivem über den objektiven hin zum absoluten Geist, der nach Kunst und Religion die Philosophie, namentlich seine eigene, umfasst. Bemerkenswert ist, dass im Übergang von subjektivem zu objektivem Geist auch von theoretischer auf praktische Philosophie umgestellt wird, namentlich von Bestimmungen zur Freiheit des subjektiven Geistes zur Rechts- und Staatstheorie des objektiven Geistes.248 Damit leistet der Selbsterkenntnisprozess des Geistes auch in ›philosophiesystematischer‹ Hinsicht jene Integration aller kulturellen Elemente in einen (historisch-systematischen) Zusammenhang, die man als das globale Ziel des Hegelschen Denkens beschreiben kann. An der Stellung innerhalb der Entwicklungsfolge lässt sich bereits erahnen, dass der subjektive Geist, um den es hier geht, als eine zwar grundlegende, aber gleichfalls zu überwindende Stufe konzipiert ist. Die Aufgabe der Lehre vom subjektiven Geist ist die Nachzeichnung der idealisierenden Tätigkeit des Geistes, die Verfolgung des Aufhebens des Andersseins der Idee, die Begleitung der Arbeit ihrer Heimholung. Die Philosophie des subjektiven Geistes ist also keine Lehre von subjektiven Kräften oder psychischen Funktionen, sondern ein Abschnitt in der Darstellung der Theorie über die Entwicklung des Geistes.249
Hegel lässt die ›Bewusstwerdungsarbeit‹ des Geistes mit dem Begriff der ›Seele‹ beginnen. Um den cartesianischen Dualismus aus Leib und Seele zu entgehen, konzipiert er letztere als vorbewusste Energie, die in Leiblichkeit konkretisiert ist, mit dieser also einhergeht und mithin an individuelle Körper, menschliche und 247 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 67. 248 Vgl. Emundts, Dina / Horstmann, Rolf-Peter: G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Stuttgart 2002, S. 95–98. 249 Drüe, Hermann: Die Philosophie des Geistes (§§ 377–577). Kapitel IV.0-IV.2.4. In: Ders. [u. a.]: Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß. Frankfurt a.M. 2000, S. 206–289, S. 215.
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tierische, gebunden ist. Die Seele als »Entelechie eines lebendigen Leibes«250 hat sich nun von der sie unterwerfenden Natur abzulösen, was über die Schritte natürliche – fühlende – wirkliche Seele geschieht.251 Am Ende der in dieser anthropologischen Rekonstruktion geleisteten Entwicklung der Seele wird nach Hegel ›Bewusstsein‹ und darin als Gegenstand von ›Selbstbewusstsein‹252 das ›Ich‹ als »ein Stadium des Geistes«253 erreicht: Indem sich die Seele reflektiert, ist sie von der Natur unterschieden, hat Bewusstsein und ist zum allgemeinen Begriff geworden, und damit hat sie »ihre Subjektivität hin zur Allgemeinheit überwunden, wodurch sie zum Ich wird.«254 Hegels Ichbegriff ist höchst idiosynkratisch: »[D]as Ich ist dies Allgemeine, dies Einfache, das in Wahrheit erst existiert, wenn es sich selbst zum Gegenstande hat, wenn es zum Fürsichsein des Einfachen im Einfachen, zur Beziehung des Allgemeinen auf das Allgemeine geworden ist.«255 Wenn Hegel das Ich als »Subjekt des Bewußtseins«256 bestimmt, so zeigt er an, dass das Ich als ein Allgemeines, das sich zugleich als Einzelnes setzt, Grundlage des nun an die Stelle der Seele tretenden ›Bewusstseins‹ ist. Indem ›Ich‹ sich über sein Verhältnis zum Objekt weiter bestimmt, macht es als ›Bewusstsein‹ sich selbst zum Objekt und wird damit ›Selbstbewusstsein‹.257 Dieses Selbstbewusstsein ist sich selbst aber noch nicht bewusst, sondern wird dies erst, indem es im Konflikt mit anderen Anerkennung findet (– Bestimmungen, die an die wesentlich umfangreichere »Phänomenologie des Geistes« unmittelbar anschließen258). Wenn statt Unterwerfung und Kampf wechselseitige Anerkennung der individuellen Selbstbewusstseine als frei gelungen ist, dann hat der Geist die Stufe des »allgemeinen Selbstbewusstseins« erreicht.259 Allgemein meint hier, dass sich die individuellen Geister vermittels der Anerkennung anderer zugleich als allgemein begreifen. Diese Idee einer Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit des Selbstbewusstseins inauguriert bei Hegel ›Vernunft‹.260 Durch Erreichen dieser Entwicklungsstufe geht die Betrachtungsweise von einzelnen Individuen zu einer der Vermitteltheit von Subjektivem und Objektivem
250 Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003, S. 186. 251 Vgl. Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 216–251. 252 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [1830]. Teil III. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 10. Frankfurt a.M., S. 204. 253 Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 251. 254 Riedel: Subjekt und Individuum, S. 117. 255 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III [1830], S. 198. 256 Ebd., S. 202. 257 Vgl. Riedel: Subjekt und Individuum, S. 118. 258 Vgl. Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 262f. Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III [1830], S. 219–226. 259 Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III [1830], S. 226f. 260 Vgl. Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 257f.
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über, einem Aufweis der Korrelation des Besonderen und Allgemeinen.261 Wenn Hegel diesen dritten Teil der Entwicklung des subjektiven Geistes mit unterschiedlichen Stufen von Geist – theoretisch, praktisch, frei – als »Psychologie« bezeichnet, so ist damit in Abgrenzung zur sich etablierenden wissenschaftlichen Disziplin ganz systemintern eine »Selbstuntersuchung der eigenen Tätigkeit des Geistes in seiner von ihm betriebenen Entwicklung«262 gemeint. Entscheidend ist, dass Hegel in der finalen Stufe, dem freien Geist, die Einseitigkeiten des theoretischen und des praktischen Geistes als vermittelt und überwunden markiert263, indem er sich als frei weiß. Frei nach Hegels Terminologie bedeutet, dass sich Geist selbst bestimmt – nicht mehr von Natur und äußerlichen Eudämonievorstellungen bestimmt wird.264 In dieser Stufe erlebt sich Geist als an und für sich frei, das heißt, dass er sich bewusst ist, dass seine individuelle Selbstbestimmtheit gerade das ist, was ihn mit anderen Subjekten gleich macht. Diese Vorstellung bezeichnet Hegel als »Individualismus« und lässt sie historisch erstmals mit dem protestantischen Christentum auftreten.265 Der sich als frei wissende Geist ist nun für Hegel die Grundlage von Staatlichkeit und Moralität, die er als objektiver Geist begreift – womit die Entwicklung des Geistes endgültig von der Sphäre des Individuellen auf die des Allgemeinen übergegangen ist. – Die Frage schließlich, ob Hegels Bestimmungen von Subjektivität dessen Dezentrierung implizieren, muss hinsichtlich des subjektiven Geistes differenziert beantwortet werden. Für die Entwicklungsstufen des Geistes ist sein Beginn im Subjektiven – in der konkreten Leibseele, dem sich selbst wissenden Bewusstsein und schließlich im sich als frei wissenden Geist – unumgängliche Grundlage aller darüber hinaus weisenden Objektivationen des Geistes: Ohne die konkrete Verortung in Individuen wäre Geist auf dieser Stufe inhaltslos. Jedoch kommt er erst dann zu sich selbst, wenn er die auch als solche markierten Grenzen des Individuellen – Gebundenheit der Seele an Natur, des Bewusstseins an Gegenstände und Vereinseitigungen der Intelligenz und des Willens im Geist – auf das Allgemeine hin übersteigt und sich bewusst wird, dass erst der von diesen Grenzen ›gereinigte‹, also freie Geist in der Lage ist, sich fortzuentwickeln. In vollkommen anderer Weise, aber durchaus vergleichbar mit Kant erscheint das Subjekt in Hegels Philosophie des Geistes als zugleich stark, weil grundlegend, und schwach, weil in seinem Wirkbereich beschränkt.
261 Vgl. Plumpe, Gerhard: Das Reale und die Kunst. Ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert. In: McInnes, Edward / ders. (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München/Wien 1996, S. 242–307, S. 247f. 262 Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 264. 263 Vgl. nur Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III [1830], S. 300. 264 Vgl. Drüe: Die Philosophie des Geistes, S. 281. 265 Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III [1830], S. 301f.
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Entgegen diesen für die Sachgeschichte des ›starken‹ Subjekts nur begrenzt ergiebigen Theorien stellt das ästhetische Subjekt einen überaus aussichtsreichen Kandidaten für ein Modell starker Subjektivität dar. Gemeint ist das Subjekt, das Vorgängerdiskurse im 17. Jahrhundert vorbereitet haben und die philosophische Ästhetik im 18. Jahrhundert modelliert hat.266 Ausgangspunkt für seine Entwicklung war die rationalistische Abwertung des sinnlichen Erkenntnisvermögens als nur passiv und rein subjektiv, also nicht wahrheitsfähig267, die in einem Vernunft-Subjekt resultierte. Dagegen entwickelte die ästhetische Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts den Begriff des ›Geschmacks‹.268 Mit diesem Begriff wurde die Frage bearbeitet, inwiefern es für ästhetische Urteile überindividuelle Regeln geben kann. Zugleich fungierte er seit der »Querelle des Anciens et des Modernes« als Übergangssemantik, mithilfe derer die Berufung auf antike Autoritäten überwunden werden konnte.269 Der Geschmacksbegriff sorgte insofern für eine Aufwertung ästhetischer Subjektivität, als dass durch ihn die Bedeutung von Kunst in ihrer Wirkungsmacht auf das konkrete Subjekt gesehen und mithin das ästhetische Interesse vom Kunstwerk zum Betrachter des Kunstwerk und dessen Urteilsvermögen verschoben wurde.270 So konstituierte sich ein ästhetisch rezeptives Subjekt in den »Réflexions critiques« des Abbé Du Bos (1719): Ein ›sentiment‹ genanntes unmittelbares Empfindungsvermögen wird als unhintergehbarer Bestandteil der menschlichen Natur bestimmt und somit Moment ästhetischer Subjektivität, selbst wenn der Geschmack des Publikums über die Güte eines Werks urteilt.271 Ergänzt werden diese Überlegungen von sensualistischen Theoremen in Großbritannien, wo ›Geschmack‹ im 18. Jahrhundert die viel diskutierte Frage, wie etwas sinnliche Wahrgenommenes objektiv wahr sein soll, behandelt hat. Shaftesbury löst die Frage, indem er ›taste‹ als Urteilsvermögen bestimmt, mit dem das Wahre als Schönheit wahrgenommen werden könne.272 Bei Hume wird ein natürlich gegebener von einem kultivierten, professionellen Geschmack unterschieden, der allein »institutionalistisch«273 über die Geltung des künstlerischen Urteils wache. Dies verweist auf Hutchesons Idee eines für spezifische intellektuelle Aktivitäten – etwa moralische Urteile und ethisches Handeln – verantwortlichen Sinnes, dem ›moral sense‹: Analog zu diesem wurde ›Geschmack‹ konzipiert, was wiederum auf die deutsche Diskus266 Vgl. Menke, Chr.: Art. Subjektivität. 267 Vgl. ebd., S. 743f. 268 Vgl. Lüthe, Rudolf / Fontius, Martin: Art. Geschmack/Geschmacksurteil. In ÄG 2, S. 792–819 sowie Stierle, Karlheinz (u. a.): Art. Geschmack. In HWPh 3, Sp. 444–456. 269 Vgl. Stierle (u. a.): Art. Geschmack, Sp. 446. 270 Vgl. Menke: Art. Subjektivität, S. 746. 271 Vgl. Lüthe/Fontius: Art. Geschmack, S. 797. 272 Vgl. Stierle (u. a.): Art. Geschmack, Sp. 449. 273 Lüthe/Fontius: Art. Geschmack, S. 801.
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sion gewirkt hat. Hier wird, nachdem ›Geschmack‹ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in rationalistischer Tradition als Urteilsfähigkeit unterhalb rationaler Begrifflichkeit gesehen wurde, der Begriff seit Baumgarten und Sulzer auf unterschiedliche Weisen nutzbar gemacht. Während ihn Baumgarten in seine philosophische Ästhetik als Instanz der Beobachtung von Schönheit integriert, aber dem »angeborenen schönen Geist« unterordnet, bestimmt Sulzer ihn als Erkenntnisvermögen des Schönen, durch den Verstand und Genie in die Lage versetzt werden, das Gute, Wahre und Schöne eines Kunstwerks zu integrieren.274 Bei Kant ist schließlich erkennbar, wie ›Geschmack‹ seine Funktion einer Ermöglichungsgrundlage ästhetischer Subjektivität zum Ende des 18. Jahrhunderts eingebüßt hat. In der »Kritik der Urteilskraft« (1790) wird das Intersubjektive der Schönheit hervorgehoben – und ›Urteilskraft‹ als Geschmacksurteil erhält die Aufgabe, zu klären, ob ein ästhetisches Objekt dem Ziel ästhetischer Betrachtung – die Aktivierung des »freie[n] Spiel[s] der Einbildungskraft« als ein »Geschäft des Verstandes«275 – adäquat ist, einem Ziel, das gleichwohl auf die Aktivierung allgemein-menschlicher Vermögen des Subjekts hinwirkt.276 Der »zunehmende[n] Verlagerung der ästhetischen Autorität auf das einzelne Individuum«277, der Kants Ästhetik entgegenarbeitet, kommt ein weiterer Begriff entgegen – der des ›Genies‹. Dieser ist auch insofern hoch bedeutsam, als dass er ein zentrales Exemplar der im 18. und 19. Jahrhundert nicht zuletzt dramatisch virulenten Figurationen starker Subjektivität ist. An dieser Stelle wird er zunächst nur in seiner Doppelfunktion als Übergangssemantik zwischen Regelpoetik und Kunstautonomie sowie als produzierende Seite des ästhetischen Subjekts thematisiert, wodurch er »einer der Grundbegriffe [darstellt. PB], unter denen in der Neuzeit ästhetische Subjektivität entfaltet wurde.«278 Im 17. und in weiten Teilen des 18. Jahrhunderts, in dem es insgesamt »mit den höchsten Ansprüchen befrachtet wurde«279, steht die Diskussion um ›Genie‹ in der Spannung zwischen ›Genie haben‹ und ›Genie sein‹, und, nach der Durchsetzung des letzteren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, die Frage nach dem Verhältnis von ›Genie‹ und Mensch. Wort- und bedeutungsgeschichtlich hat ›Genie‹ eine lange und breite Vorgeschichte, die in der Antike unter anderem Begriffe wie ›Genius‹, ›Inspiration‹ oder, besonders wichtig, dem ›Ingenium‹ der antiken Rhetorik umfasst. In der Renaissance bezeichnet es nicht mehr ausschließlich eine Eigenschaft, sondern 274 Vgl. Stierle (u. a.): Art. Geschmack, Sp. 451f. 275 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. In: Ders.: Werkausgabe. Band 10. Hgg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, S. 285. 276 Vgl. Lüthe/Fontius: Art. Geschmack, S. 804f. 277 Lüthe/Fontius: Art. Geschmack, S. 806. 278 Ortland, Eberhard: Art. Genie. In: ÄG 2, S. 661–708, S. 661. 279 Ebd., S. 681.
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wird gelegentlich auf herausragende, weil originelle Künstler in toto bezogen, die dann eine Apotheose als »alter deus« (Scaliger) erfahren. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts nimmt der Begriff des ›génie‹ die Extension von Ingenium auf und wird so im Rahmen der »Querelle des Anciens et des Modernes« zum Austragungsort der Frage nach der Gewichtung von ›studium‹ und ›ingenium‹, von Tradition und Originalität, exemplarisch im Streit zwischen Boileaus Eingrenzung des ›génie‹ durch ›raison‹ und ›bon sens‹ gegenüber Perraults Eintreten für die produktiven Potentiale des genialen Individuums, die dieser nur aktualisieren kann, sofern er von Regeln nicht eingeengt wird. Perraults ›génie‹Konzept wird bei Du Bos aufgenommen, der ihn naturwissenschaftlich zu erklären sucht als physiologische Fähigkeit zur mühelosen Perfektionierung einer spezifischen Kunst, wodurch die produktionsästhetische Perspektive auf den Genie-Begriff mit physiologischen sowie psychologischen Überlegungen verknüpft wird. Der nicht minder viel gelesene späte Klassizist Charles Batteux wiederum versucht, der Geniemode entgegenzuwirken, indem er ›Genie‹ als spezifisches Wahrnehmungsvermögen beschreibt, mit dessen Hilfe bislang nicht entdeckte Aspekte an und Verbindungen in der Natur wahrgenommen werden. Erst Rousseau und die Enzyklopädisten spielen das letztlich unerklärliche Naturgenie gegen die es erdrückenden Kunstregeln aus, ohne deren Bedeutung ganz in Abrede zu stellen.280 Wie in Frankreich, so setzt die Diskussion um das Genie auch in Großbritannien im späten 17. Jahrhundert ein und bestimmt dann die ästhetischen Diskussionen im 18. Jahrhundert. In der englischen Restaurationsperiode des 17. Jahrhunderts wird der Begriff stärker über den der Rhetorik entlehnten der ›invention‹ hergeleitet. Große Künstler, etwa Shakespeare, zeichneten sich gerade durch poetische ›invention‹ aus, die deren Schöpfungen naturnah machten281; analog liege die Leistung genialer Wissenschaftler (Paradigma: Newton) in der heroischen ›invention‹, was hier meint: Entdeckung des Neuen.282 Diese Parallelisierung findet sich etwa bei Addison in einem Artikel von 1711, an dem sich der Übergang von ›Genie haben‹ zu ›Genie sein‹ bereits ausmachen lässt. In der für die Folgezeit entscheidenden Differenz von Natur- und Bildungsgenie besteht er auf deren Gleichrangigkeit, wobei er ebenso wie Edward Young in seinen einflussreichen »Conjectures on original composition« (1759) den Akzent auf ersterem legt, den Young mit vegetativer Metaphorik als »original« bezeichnet und damit dessen Naturnähe und Entelechie betont.283 Young sieht das Genie als 280 Vgl. ebd., S. 663–688. 281 Vgl. Hubig, Christoph: ›Genie‹ – Typus oder Original? Vom Paradigma der Kreativität zum Kult des Individuums. In: Wischer, Erika (Hg.): Propyläen-Geschichte der Literatur. Band 4: Aufklärung und Romantik 1700–1830. Frankfurt a.M. [u. a.] 1983, S. 187–210, S. 194. 282 Vgl. Warning, Rainer / Ritter, Joachim: Art. Genie. In: HWPh 3, Sp. 279–309, Sp. 283. 283 Vgl. ebd.
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Himmelsgeschenk und beschreibt es als »God within«284, das in allen Individuen ruhe, entdeckt und entfaltet werden müsse. Besonders der Erfolg der Schriften von Addison und Young im Ausland ist es zu verdanken, dass als englischer Beitrag zur Geniedebatte die Abweisung von Normen unter Berufung auf die Originalität des Naturgenies kraft Invention und Inspiration gegolten hat.285 Die Rezeption der französischen und britischen Genietheorien im deutschsprachigen Raum286 hat dann zur finalen Entwicklung des Begriffs geführt, »durch den die sich bildende Subjektivität als Ursprung und Grund aller künstlerischen Hervorbringung und der in ihr vermittelten ästhetischen Wahrheit begriffen und aufgefaßt wird.«287 Nachdem bereits ›die Schweizer‹ Bodmer und Breitinger über den Begriff des Wunderbaren bei Milton die Kraft des herausragenden Künstlers betont hatten, das eigene Werk nach bis dahin unbekannten Regeln zu gestalten, nimmt um die Mitte des 18. Jahrhunderts Gellert diese Wendung gegen die klassizistische Regelpoetik nach Gottsched auf und verbindet sie mit einem emphatischen Genie-Begriff.288 Diese Vorstellung des Genies als Sich-selbst-Regeln-Gebenden hat auf die »Genieperiode« bzw. den »Sturm und Drang« viel stärker gewirkt als die Versuche Baumgartens, den Begriff in seine »Aesthetica« einzubauen und durch Verweis auf die Unverzichtbarkeit der ästhetischen Kunstlehre (ars aesthetica) sowie der auszubildenden Fähigkeit zur Sinneserkenntnis (aesthetica artificialis) einzugrenzen.289 Im »Sturm und Drang« wird dann die Autonomie des Genies gegenüber tradierten Regeln immer aufs Neue postuliert290 – ohne dass, wie gelegentlich gemeint wird, in der Kunst völliger Regellosigkeit das Wort geredet wird.291 Vielmehr wird im Anschluss an die englische Begriffstradition das Vermögen, sich selbst Regeln zu geben, als Spezifikum des Genies erfasst. So radikalisiert Lavater im vierten Band der »Physiognomischen Fragmente« (1778) Youngs Geniekonzept so weit, dass das ›Genie‹ als »propior Deus« erscheint und geniale In-
284 Young, Edward: Conjectures on Original Composition, in a Letter to the Author of Sir Charles Grandison. London 1759, S. 36, zit. n. Ortland: Art. Genie, S. 691. 285 Vgl. Ortland: Art. Genie, S. 679. 286 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. 287 Vgl. Warning/Ritter: Art. Genie, Sp. 285. 288 Vgl. Ortland: Art. Genie, S. 683f. 289 Vgl. ebd., S. 685f. 290 Vgl. Sauder, Gerhard: Geniekult im Sturm und Drang. In: Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Band 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. München 1980, S. 327–340. 291 Vgl. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 2003, S. 69.
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dividuen als »Substantife in der Grammatik der Menschheit«292 bezeichnet werden können. Neben diese Vergöttlichung des genialen Individuums, das sich etwa auch beim frühen Goethe293 zeigt, tritt Herders Kulturalisierung und Historisierung des Genie-Begriffs, die aber nicht als Relativierung verstanden wird, sondern explizit den Umstand einschließt, dass das Genie in jeder neuen Generation wieder die Möglichkeit hat, sich zu exponieren.294 Bei Karl Philipp Moritz erscheint das Genie als ›heroische‹ Kompensationsfigur gegenüber der im Sozialen zu beklagenden Fragmentierung durch Arbeitsteilung und Marktlogik. Ihm ist es möglich, im Schaffensprozess eines Werks die verlorene Einheit in der Welt rückzuerlangen, was ihn weit über die übrigen Menschen, insbesondere die Rezipienten des Werks, hinaushebt.295 Gegen die Hochstellung des ›Genies‹ versucht Kants Ästhetik wieder, es an Regeln und intersubjektive Urteile (Geschmack) rückzubinden und seinen Gebrauch auf die ›schönen Künste‹ einzuschränken. Seine berühmte Formulierung, nach der ›Genie‹ eine »angeborne Gemütslage (ingenium) [sei. PB], durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt«296, offenbart die Insistenz auf regelgeleitete Verbindlichkeit. Diese Regel findet das Genie kraft seiner »Natur im Subjekte«, wobei Natur in diesem Fall »das übersinnliche Substrat aller seiner Vermögen«297 meint, was begrifflich ebenso wenig bestimmbar ist wie daraus entstehenden Kunstregeln.298 Was Kant hier einführt, ist für den Zusammenhang von Ästhetik und starker Subjektivität von großer Bedeutung: Durch seine Bindung des ›Naturgenies‹ an die Produktion von Kunstwerken und den Nachweis ihrer begrifflichen Unbestimmbarkeit weist er dem Bereich der ›schönen Künste‹ einen doppelten Sonderstatus zu, nämlich als von theoretischer und praktischer Vernunft unterschiedene Sphäre der ›Urteilskraft‹, und zugleich als der Ort, wo sich ›Genie‹ zeigt. Darauf baut die spekulative Kunstphilosophie Schellings auf, in der Genie als »das inwohnende Göttliche im Menschen«299 bestimmt wird, durch das die Kunst – als »das einzige 292 Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 4 Bde. [1775–1778]. Eine Auswahl. Hgg. v. Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, S. 294 bzw. S. 297. 293 Goethes Wahl des Prometheus-Stoffs ist dabei höchst signifikant, gilt doch die PrometheusFigur seit der Renaissance als bevorzugte Figuration des genialen, sich heroisch über Verbote hinwegsetzenden Schöpfers (vgl. Ortland: Art. Genie, S. 670, Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens, Band 1, S. 255–261 sowie Sauder: Geniekult im Sturm und Drang, S. 332f.). 294 Vgl. Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens, Band 1, S. 170f. 295 Vgl. das Kapitel zu Moritz in: Scheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern 1984, S. 190–222, bes. S. 212–215. 296 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 241f. 297 Ebd., S. 242 bzw. S. 286. 298 Vgl. Ortland: Art. Genie, S. 692–694. 299 Schelling, Wilhelm Joseph Friedrich: Philosophie der Kunst [1803]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Fünfter Band. Stuttgart/Augsburg 1859, S. 459.
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und wahre Organon zugleich und Document der Philosophie«300 – das Absolute darstellbar macht. Durch das Genie wird bei Schelling die Kunst zur Sphäre der Darstellung des philosophisch Höchsten, womit die parallele Apotheose von Kunst und Genie einen Höchststand erreicht, der bis ins 20. Jahrhundert hinein genie- und kunstreligiöse Überlegungen befeuern wird.301 War bis um 1800 ›Genie‹ als Individuum gegenüber den ›Normalmenschen‹ durch naturgegebene oder erworbene Exzeptionalität ausgezeichnet, verändert sich das bei Herder und besonders bei den Jenaer Romantikern und den ihnen assoziierten deutschen Idealisten. Herder weitet den Begriff schon auf »jeden Menschen von edeln lebendigen Kräften«302 aus – und relativiert ihn damit. Doch erst bei Novalis, Friedrich Schlegel und Schleiermacher radikalisiert sich diese Universalisierung so weit, dass ›Genie‹ und ›Mensch‹ bzw. ›Geist‹ letztlich identisch werden.303 Damit ist gemeint, dass die mit ›Genie‹ gekennzeichneten Potentiale jeden Menschen exzeptionell werden lassen können. Friedrich Schlegel formuliert: »Gottwerden, Menschsein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.«304 Auch Schleiermachers Diktum, dass alle Menschen Künstler seien, belegt die Tendenz zur Identifikation von Menschsein und (als künstlerischen Produzent gedachtem) Genie. Neben dem Geniebegriff, der erkennbar ein produzierendes starkes Subjekt entwickelt, wird aber in der eigentlichen philosophischen Ästhetik insbesondere ein durch ästhetische Rezeption gewonnenes Subjekt diskutiert. Dieses wird, als Komplement zu seinem Genie-Konzept, von Kant in der »Kritik der Urteilskraft« etabliert. Nach Kant zeichnet sich das ästhetisch rezipierende Subjekt durch eine Lust am Schönen aus. Diese spezifische Lustempfindung wird gedeutet als eine »Lust an dem spezifisch ästhetischen Zustand, in dem das Subjekt sich in der Erfahrung des Schönen befindet.«305 Die Aufgabe besteht nun darin, nachzuweisen, dass diese Lust nicht, wie die Rationalisten behauptet haben, Ausdruck persönlicher Vorlieben und somit ›nur-subjektiv‹ ist, sondern dass auch für sie ein Allgemeinheitsanspruch besteht. Dies wird damit gelöst, dass ästhetische Lust als eine Form von Selbstreflexion gedeutet wird. Die ästhetische Lust erlaubt 300 Schelling, Wilhelm Joseph Friedrich: System des transscendentalen Idealismus [1800]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Dritter Band. a. a. O., S. 627. 301 Vgl. Ortland: Art. Genie, S. 695. 302 Herder, Johann Gottfried: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [1778]. Bemerkungen und Träume. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hgg. v. Günter Arnold (u. a.): Band 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hgg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 327–393, zum ›Genie‹ S. 380–392, Zitat S. 381. 303 Vgl. Warning/Ritter: Art. Genie, Sp. 302. 304 Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, zit. n. Hubig: ›Genie‹ – Typus oder Original?, S. 204. 305 Menke: Art. Subjektivität, S. 759. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 155.
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damit die – nicht intellektuelle, sondern empfindende – Selbsterfahrung des Subjekts.306 Lustvoll ist sie, weil sich das Subjekt im Spiel des Ästhetischen seiner selbst als erkennendem Subjekt versichern kann.307 Allgemeinheit erreicht das ästhetische Subjekt in der Reflexion auf den »gemeinschaftlichen«, also allen Menschen gemeinen Sinn, einem sensus communis, den Kant mit ›Geschmack‹ assoziiert. Indem Kant die Bedeutung der ästhetischen Lust für das Subjekt sowie die Möglichkeit der Allgemeinheit ästhetischer Urteile begründet, hat er ein ästhetisches Subjekt konturiert. Diese Leistung bildet den Ausgangspunkt für eine genuin idealistische Ästhetik, wie sie zuerst von Friedrich Schiller unternommen wurde. In »Kallias oder über die Schönheit« (1793) transformiert Schiller Diderots Konzept, dass die »Einheit des Subjekts [] das Modell der Einheit des gelungenen Kunstwerks«308 ist, dahingehend, dass nun in der Rezeption des Kunstwerks Subjektivität selbst verobjektiviert ist. Der schöne Gegenstand als freier und selbstbestimmter ist Darstellung der Bestimmung von Subjektivität als frei und selbstbestimmt.309 In den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) radikalisiert Schiller sodann Kants Modell der Selbsterfahrung des Subjekts durch ästhetische Lust, so dass diese Selbsterfahrung nicht mehr bloß bestärkende Funktion für die Erkenntnis des Subjekts hat, sondern ihre Ermöglichungsbedingung wird.310 Durch die im Spieltrieb geleistete Versöhnung von Stoff- und Formtrieb ist es möglich, die von Schiller perhorreszierte Einseitigkeit von Sinnlichkeit oder Vernunft, die er für die politische Radikalität seiner Zeit verantwortlich gemacht hat, zu umgehen und beide miteinander zu vermitteln. Man könnte also, wiederum mit Menke, so weit gehen, das ästhetische Subjekt bei Schiller als »Instanz der Ermöglichung von Erkennen und Handeln«311, also von Subjektivität schlechthin zu bezeichnen. Damit ist Schillers ästhetisches Subjekt ein nachgerade potenziert starkes Subjekt: Es leistet durch den ästhetischen Zustand zugleich die Möglichkeit von Subjektivität und ihre Darstellung, durch die sein Gehalt erst sinnfällig wird. In der Romantik wiederum wird diese Hochschätzung des ästhetischen Subjekts bereits einer Kritik unterzogen: Während Novalis das Subjekt als Begrenztes vom ›absoluten Ich‹ als Totalität unterscheidet und beides in ein Abhängigkeitsverhältnis setzt, sieht Friedrich Schlegel es als gegenüber der primordial gedachten ›Mythologie‹ 306 Vgl. dazu Kern, Andrea: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a.M. 2000, bes. S. 302–310. 307 Vgl. Menke: Art. Subjektivität, S. 760f. 308 Ebd., S. 763. 309 Vgl. Düsing, Wolfgang: Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. Zur Rezeption Kantischer Begriffe in Schillers Ästhetik. In: Bolten, Jürgen: Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Frankfurt a.M. 1984, S. 185–228. 310 Vgl. Menke: Art. Subjektivität, S. 764–766. 311 Ebd., S. 766.
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Nachträgliches an, wodurch es seine grundlegende Funktion für das Schöne sowie die Subjektkonstitution und seine ›starke‹ Stellung im ästhetischen Diskurs einbüßt.312 Hegels geschichtsphilosophisches Entwicklungsmodell der Kunst historisiert deren Bezug zur Subjektivität – nicht zum ästhetischen Subjekt –, und schränkt damit ebenso wie die Romantiker die Bedeutung dieser Relation ein. Besonders im ersten Teil der »Vorlesungen über Ästhetik«313 bezieht er die Bestimmung der Kunst eng auf seinen Subjektbegriff. Das Schöne als das »sinnliche Scheinen der Idee«314 verhilft Subjektivität zur Darstellung, da die Idee gerade die sich verwirklichende Einheit des Begriffs der Subjektivität ist315 – ein Gedanke, der an Diderot und Schiller erinnert. Jedoch sieht Hegel diese Bestimmung historisch erst verwirklicht, wenn die Idee der Subjektivität gefasst worden ist, was in der zweiten Phase, der klassischen Kunst, der Fall war. In der dritten Phase, der romantischen Kunst indes, gelangt die Fähigkeit der Kunst, Subjektivität sinnlich zu verobjektivieren, an Grenzen, die darauf verweisen, dass sich eine höhere Art der Subjektivität entwickelt hat, deren Darstellung die romantische Kunst zwar versucht, dabei aber notwendig scheitern muss.316 Mit dem Ausweis der begrenzten Darstellungskapazität von Kunst in Bezug auf Subjektivität endet die Hochphase der Korrelationsbemühungen der beiden Begriffe innerhalb der Ästhetik. Zum Abschluss der Frage nach dem Anteil der theoretischen Philosophie an einem ›starken‹ Subjektkonzept sei an eine Reihe von Befunde erinnert. So ist zu konstatieren, dass der in der Forschung als »Subjektphilosophie« firmierende Problemzusammenhang nur sehr beschränkten Anteil an ›starker Subjektivität‹ hat. Ihre Subjektkonzepte werden als stark angesehen, da sie das ›Subjekt‹ »in die Stellung eines Fundaments der Objektivität«317 bringen. Doch ist wichtiger, welche Funktion die Bestimmungen zu Person bzw. Subjekt bei Locke, Kant und Fichte für die praktische Philosophie einnimmt: Sie fungieren als Ermöglichungsbedingung für ›starke‹ Subjektivität – was von diesen auch so ausgewiesen wird. Grenzen zeigen sich indes in der Anlage der Subjektkonzepte. Seit Kant ist die Tendenz zu beobachten, den Begriff zu formalisieren, seit Fichte tritt dazu eine spekulative Entgrenzung, die in Schellings Frühphilosophie gipfelt. Hegel setzt beide Tendenzen auf eigenwillige Weise fort und radikalisiert sie hin zur Depotenzierung des Subjektkonzepts, indem er ›Subjekt‹ einerseits als dynamische, 312 Vgl. ebd., S. 769–771. 313 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I (1835–1838). In: Ders.: Werke. Band 13. Hgg. v. Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1970. 314 Ebd., S. 151. 315 Vgl. ebd., S. 148. 316 Vgl. dazu Menke: Art. Subjektivität, S. 771–773. 317 Gerhardt, Volker: Kant und Nietzsche. Formen starker Subjektivität. S. 13–28, S. 24.
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denklogische Struktur konzipiert und andererseits ›subjektiven Geist‹ durch Eingliederung in einen spekulativen Entwicklungsprozess als zum Allgemeinen hin zu überwindendes Konzept bestimmt. Die Leistung der philosophischen Ästhetik und der ihr zuarbeitenden Diskurse besteht in der Individualisierung des Ästhetisches rezipierenden wie produzierenden Subjekts, was zu einer Aufwertung des Erkenntnispotentials ästhetischer Subjektivität für Kunst führt und, bei Schiller, zur Vorstellung der Subjektwerdung des Menschen durch Kunst.
3.4.3 ›Starke‹ Subjektivität in der praktischen Philosophie Die Erfolgsgeschichte der Semantik ›starker Subjektivität‹ wäre nicht adäquat zu verstehen, wenn man diese einzig als Resultat von Grundlagendiskussionen der theoretischen Philosophie auffassen würde. Ihre soziale Funktion als Übergangssemantik, die den Umbau zur modernen, funktional-differenzierten Gesellschaftsstruktur begleitet hat318, wird vielmehr dort sichtbar, wo sie instrumentell für Disziplinen der praktischen Philosophie – und den sich daraus ausdifferenzierenden Wissenschaften – geworden ist. Unter verschiedenen Namen, darunter Person, Individuum, Mensch oder Citoyen sowie unter verschiedenen Trägerdiskursen wie Freiheit, Gleichheit, Naturrecht oder Bildung hat sich diese Vorstellung bis ins 18. Jahrhundert herausgebildet, kulminierte um 1800 und wirkt bis in die Gegenwart als Ideal der Aufklärung, mithin als Regulativ zu Werterelativismus oder -verlust nach. Dass die praktische Philosophie als tendenziell unterrepräsentierter319 Ort genuin ›starker‹ Subjektkonzepte beschrieben werden kann320, mag zunächst verwundern. So wäre ja anzunehmen, dass der Einbettung des Subjekts in soziale oder institutionelle Gefüge Subjektkonzepte zugrunde liegen, die der Heteronomisierungstendenz solcher Gefüge Rechnung tragen und eher dependente oder doch zumindest in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschränkte Subjekte konturieren. Dagegen interessieren im Folgenden gerade jene Konzepte, die die Grundlagen dafür schaffen, dass aus Individuen überhaupt ›starke‹ Subjekte 318 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1024–1027. Ähnlich argumentiert Luhmann im Bezug auf die Semantik der ›Individualität‹ (vgl. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, S. 160). 319 Der im vorhergehenden Abschnitt erwähnte Umstand, dass sich in der praktischen Philosophie die Semantik ›starker Subjekte‹ in anderen Begriffen und Diskursen vermittelt, dürfte der Hauptgrund dafür sein – neben dem eingangs erwähnten Materialüberfluss, der eine Verknappung aus Gründen der Bewältigbarkeit naheliegend macht. 320 Vgl. dazu Wolfgang Kersting, der ex negativo aus der Perspektive der praktischen Philosophie konstatiert: »[O]hne ein hinlänglich konturenscharfes Subjekt- und Personenkonzept gibt es keine praktische Philosophie« (Kersting: Der große Mensch und das kleine Gemeinwesen, S. 423).
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werden können. Dies kann historisch bzw. geschichtsphilosophisch erfolgen, indem diese als Telos imaginiert werden, aber auch systematisch-prinzipiell durch die Feststellung rechtlicher, politischer oder ökonomischer Voraussetzungen. Damit kann ›starke‹ Subjektivität auch dort als Horizont erscheinen, wo Gegenwarts- und Modernediagnosen kulturkritischen oder gar ›sentimentalischen‹ Schemata folgen. Die präzise Ausarbeitung der hier zu skizzierenden Zusammenhänge muss aufgrund ihres schieren Umfangs Gegenstand einer noch zu leistenden Arbeit bleiben. Was hier angeboten werden kann, ist ein philosophie- und in Ansätzen wissenschaftsgeschichtliches Panorama, das sich auf einschlägige Forschungen stützt, aber keine eigene Quellenarbeit. Positionen ›starker‹ Subjektivität sind in der praktischen Philosophie und den ihnen verwandten Wissenschaften bis ins 19. Jahrhundert hinein erstens in Bezug auf das Handeln und die Entwicklung des Menschen und zweitens in Bezug auf dessen Stellung im Sozialen entwickelt und vertreten worden. Ersteres hat insbesondere die philosophische Ethik, die Pädagogik sowie der Anthropologiediskurs des 18. Jahrhunderts behandelt, wobei neben der Frage nach der Freiheit des Einzelnen die Differenz zwischen Individuum und Menschheit erkenntnisleitend war. Der zweite Zusammenhang ging von der Sozialphilosophie – besonders rechtsphilosophischen, ökonomischen und sozialtheoretischen Debatten – aus und diskutierte die Beziehung des Individuums zum Sozialen. Dass diese idealtypische Differenzierung eine Reihe von Querverbindungen aufweist und Vereinfachungen und Zuspitzungen vornehmen muss, dürfte selbst erklärend sein. Doch verspricht diese Differenzierung, die unterschiedlichen Bezugsprobleme sowie die spezifischen praktischen Konsequenzen der Idee eines ›starken Subjekts‹ deutlicher sichtbar machen zu können. Die philosophische Ethik ist hier in erster Linie im Hinblick auf Grundlagendiskussionen gefragt, deren Klärungsversuche die deskriptive und normative Bearbeitung menschlichen Handelns tangiert hat. Das betrifft für diesen Zusammenhang besonders die Frage nach der Freiheit von Willen und Handeln sowie nach den allgemeinen Prinzipien des Handelns. Die Diskussion um Reichweite und Begrenzungen der Willensfreiheit hat sich aus der spätantiken bis mittelalterlichen Theologie entwickelt und ist bis ins 18. Jahrhundert an theologischen Positionen orientiert geblieben.321 Mittelalterliche Bestimmungen aufnehmend, ist diese Frage im 16. und frühen 17. Jahrhundert im theologischen Diskurs – Calvin und Jansenius als Deterministen gegen die Indeterministen Molina und Suárez322 – beheimatet gewesen. Das überlappt sich mit der Dis321 Vgl. dazu Ramelow, Tilman Anselm: Der Begriff des Willens in seiner Entwicklung von Boethius bis Kant. In: Archiv für Begriffsgeschichte 46 (2004), S. 29–67 sowie ders. (u. a.): Art. Wille. In: HWPh 12, Sp. 763–796, bes. Sp. 769–783. 322 Vgl. Spaemann (u. a.): Art. Freiheit, Sp. 1088f.
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kussion von Willensfreiheit im Umkreis von Humanismus sowie von Reformation und Gegenreformation, wobei sich Erasmus, Melanchthon und später Molina für die Konzeption einer Freiheit des Willens, den Weg der Seligkeit zu bestreiten, aussprechen, und Luther, Calvin sowie Jansenius die alleinige Willensfreiheit Gottes betonen323 – also quer zu konfessionellen Parteinahmen ›starke‹ und ›schwache‹ Positionen des handelnden Subjekts bezogen wurden, wobei eher letzteres politisch wirksam wurde (in Frankreich, Genf und den Niederlanden).324 In der betont säkularen Tradition der humanistischen Bejahung menschlicher Handlungsmacht steht Montaigne und die europäische Moralistik, deren Unterscheidung einer – aus Weltklugheit zu verbergenden – Persönlichkeit und einer sozialen Persona das Denken ethischer Souveränität in der Neuzeit fortgeführt haben.325 Dagegen hat sich im Anschluss an Jansenius die Vorstellung einer psychologisch-physiologischen Determiniertheit des Handelns entwickelt, an die in Anlehnung an Hobbes die empiristische und besonders die materialistische Philosophie festgehalten hat.326 Einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer von theologischen – besonders scholastischen – Diskursen unabhängigen Behandlung des Freiheitsproblems macht Pufendorf, da er durch das Postulat eines moralischen Seins (›entia moralia‹) das Handeln des Menschen von physischen wie moralgesetzlichen Zwängen des natürlichen Seins unabhängig machte – was zugleich die Grundlage der vernunftrechlichen Bestimmung des Menschen als ›Person‹ darstellt.327 Die Konzeptualisierung menschlicher Autonomie ist in der Aufklärung zu verorten, wobei der deutsche Beitrag in der Aufklärungstheologie wurzelt – die Entwicklungsfähigkeit des Gläubigen ist nur auf Basis der moralischen Freiheit des Individuums denkbar328 –, während die englische und große Teile der französischen Aufklärungsphilosophie Freiheit eher in sozialphilosophischen Zusammenhängen thematisiert haben (moral- und common-sense-Philosophie sowie Kontraktualismus).329 Gerade die ›deutschen‹ Ideen von Menschheit bzw. Humanität330 sowie von Bildung331 sind für die Herausbildung ›starker‹ Subjektivität im 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Die Aufwertung des Begriffs der ›Menschheit‹ 323 Vgl. Rohls, Jan: Geschichte der Ethik. Tübingen 1991, S. 176–194. 324 Vgl. ebd., S. 200–204. 325 Vgl. Balmer, Hans-Peter: Philosophie der menschlichen Dinge. Die europäische Moralistik. Bern/München 1981. 326 Vgl. Spaemann (u. a.): Art. Freiheit, Sp. 1090f. 327 Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person, S. 67–82. 328 Vgl. Rohls: Geschichte der Ethik, S. 254–257. 329 Vgl. ebd., S. 258–265. 330 Vgl. Bödeker, Hans Erich: Art. Menschheit, Menschengeschlecht. In: HWPh 5, Sp. 1127– 1137. 331 Vgl. dazu Bollenbeck: Bildung und Kultur, bes. S. 96–225.
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sowie seine Relationierung zum einzelnen Menschen lässt sich bei Herder beobachten. ›Menschheit‹ beschreibt bei Herder die menschliche Natur als dynamische Potentialität, der Begriff »interpretiert den Menschen als Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruchs, als individuelle Verwirklichung des Menschseins durch und als Folge von Weltorientierung, Selbstbestimmung und Selbstgestaltung.«332 ›Menschheit‹ als »inneres Freyheitsgefühl«333 (F.H. Jacobi) lässt den Menschen als »Schöpfer seiner selbst«334 erscheinen und macht ihn zugleich Teil einer geschichtsphilosophischen Entwicklung menschlicher Selbstverwirklichung, durch die der Begriff kollektiven Charakter annimmt: Menschheit ist auf der Basis der Gleichheit der Menschennatur Begriff für das Fortschreiten aller Menschen im historischen Prozess. Der an Rousseau orientierte Gedanke der Perfektibilität des Menschen wird nun vor dem Hintergrund des Kollektivbegriffs ›Menschheit‹ diskutiert als Frage, ob damit die Vervollkommnung einzelner oder die Gesamtheit aller Individuen intendiert ist. Eine Präferenz des Kollektivs gegenüber dem einzelnen Menschen, die geschichtsphilosophische Modelle wie Grundlegungen von Menschenrechten tangiert hat, wird einerseits von Rousseau kritisiert, der die Korrelation zivilisatorischen Fortschritts und individueller Depravation betont, und andererseits von Herder, dessen Vorstellung einer Individualität der Völker auf eine Betonung des Partikularen gegenüber dem Kollektiven hinausläuft. Kant löst diese Diskussion, indem er die Autonomie des einzelnen, als ›Person‹ zu bezeichnenden Menschen zur Grundlage einer Entwicklung der Menschheit macht, die das eigentliche Ziel der Aufklärung darstellt.335 Kant beschreibt also die Beziehung von Individuum und Menschheit als wechselseitiges Steigerungsverhältnis: Nur auf Basis der »Personalität«336 des Einzelnen, der auf Autonomie des Handelns beruht, ist ein Fortschritt der Menschheit insgesamt denkbar. Seine Bestimmungen individueller Autonomie sind allerdings hinsichtlich der ›Stärke‹ seiner Subjektposition ambivalent: Die Autonomie des Einzelnen ist insofern eingeschränkt, als dass sie als Freiheit zum Handeln nach Vernunftprinzipien gedacht ist, Freiheit mithin als Freiheit von subjektiven Handlungsbestimmungen konzeptualisiert wird.337 Gleichwohl ist die Bestimmung des kategorischen Imperativs, den Menschen niemals nur als Mittel zu behandeln, Voraussetzung für die legalistische Potenzierung des Subjekts. Bei Kant erscheint die Präferenz für Kollektivbegriffe wie Menschheit und Rechtsstaat zwar auf der Grundlage individueller Autonomie, doch wird diese durch Bindung ans Allgemeine stets in ihrer Reichweite be332 333 334 335 336 337
Bödeker: Art. Menschheit, Sp. 1130. Zit n. ebd. Ebd. Vgl. Konersmann, Ralf (u. a.): Art. Mensch. In: HWPh 5, Sp. 1059–1106, Sp. 1076–1079. Vgl. Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 110–114. Spaemann, Robert (u. a.): Art. Freiheit. In: HWPh 2, Sp. 1064–1098, Sp. 1091f.
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schränkt. Die Verschränkung von Moral- und Rechtsphilosophie gibt der Kantischen Subjektposition ihr Doppelgesicht aus formaler Begründung ihrer Würde und Autonomie und pflichtenethischer Bindung an Vernunftgesetze, durch die sich die Würde und Autonomie des Individuums erst erweist.338 Wie schon in der theoretischen Philosophie erweist sich die Kantische Subjektphilosophie auch im Bereich der praktischen Vernunft als zu stark an überindividuellen Perspektiven orientiert, um im hier skizzierten Sinne unbestreitbar als ›stark‹ zu gelten – das haben an ihn anschließende Subjektphilosophien übernommen. Und ebenso analog zur theoretischen Philosophie ist zu beobachten, dass der deutsche Idealismus Kants Bestimmungen zum Ausgang einer Entgrenzungsbewegung nimmt, nach der bei Fichte und Schelling Philosophie in toto als Analyse der Freiheit und bei Hegel Geschichte als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«339 gelesen wird. Die idealistischen Freiheitsanalytiken sind allerdings eher im Bereich der Sozialphilosophie praktisch geworden und werden weiter unten aufgegriffen. Auch J. S. Mills Freiheitsbegriff, einem der weniger ›positiven‹ in der nachidealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, ist sozialphilosophisch akzentuiert, wie auch spätere Problematisierungen des Begriffs – bei Lotze, Gomperz und auch bei Bergson – ihn nicht mehr zur Grundlage ethischer Überlegungen machen.340 Deutlicher als Beitrag zu ›starken‹ Subjektpositionen rekonstruieren lässt sich der für die Aufklärung so entscheidende Begriff der Bildung. Dessen Semantisierung als »zielbestimmter und teleologischer Prozeß« ist Ende des 18. Jahrhunderts dort zu beobachten, wo er »in Verbindung mit dem Individualitäts- und Entwicklungsbegriff«341 tritt. Zwar ist auch davor – etwa bei Comenius342 oder bei Locke343 – hoher Anspruch mit großem Optimismus hinsichtlich der Erziehung des Individuums verbunden worden und haben Leibniz wie Shaftesbury das Moment der Selbstbildung für die individuelle Entwicklung stark gemacht344, doch sind es Rousseaus pädagogische Schriften, die den Bildungsoptimismus von Herder bis Wilhelm von Humboldt345 erst ermöglicht haben. Rousseaus »Émile« von 1762 vertritt das weitreichende Konzept einer Selbstentfaltung des 338 339 340 341 342
Rohls: Geschichte der Ethik, S. 290–296. Zit. n. Spaemann (u. a.): Art. Freiheit, Sp. 1093. Vgl. ebd., Sp. 1094f. Vierhaus, Rudolf: Art. Bildung. In: GG 1, S. 508–551, S. 515. Vgl. Reble, Albert: Geschichte der Pädagogik [1951]. 19., durchgesehene Auflage. Stuttgart 1999, S. 114–121. 343 Vgl. Böhm, Winfried: Geschichte der Pädagogik [2004]. Von Platon bis zur Gegenwart. 4., durchgesehene Auflage. München 2013, S. 59–61. 344 Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 114–116. 345 Zur Bedeutung von Humboldts Bildungsbegriff und Sprachtheorie für die individuelle Selbstverwirklichung vgl. Schiller, Hans-Ernst: Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus. Berlin 2006, S. 129–142.
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Menschen vor dem Hintergrund der Freiheit als anthropologischer Grundbestimmung und einer allgemeinen, guten Menschennatur. Eine ›natürliche Erziehung‹ habe die menschliche Natur so wenig wie die individuellen Anlagen zu behindern, damit der ›natürliche Mensch‹ sich nicht von seiner Natur entfremdet.346 Die ab der Geschlechtsreife einsetzende Selbstbildung des ›natürlichen‹ zu einem soziablen und ›moralischen‹ Menschen sei Voraussetzung für gesamtgesellschaftliche Besserung.347 Die ›perfectibilité‹ des Menschen348 impliziert mithin die These, dass es bei entsprechender Erziehung möglich ist, die kulturellen Deformationen des real existierenden Menschen ebenso zu korrigieren wie das Unglück bringende Selbstverhältnis der Eigenliebe (›amour propre‹) zu einer soziablen, weil zu Mitleid führenden Selbstsorge (›amour de soi‹) verbessert werden kann. Man könnte daher sagen, dass Rousseaus Ideal eines ›vollkommenen‹ Menschen349, der zugleich mit seiner Natur und der Zivilisation im Einklang lebt, eine ›starke‹ Subjektposition als teleologischen Endzweck der Pädagogik ausgibt, die als Menschheitsaufgabe begriffen wird. Auch daran konnte Herder anschließen, dessen Bildungsbegriff über die bereits erwähnte Idee der ›Humanität‹ nicht minder an der Entwicklung der Menschheit in der Geschichte orientiert war.350 Für die Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität ist der individualistische Bildungsbegriff wichtiger. Im Umkreis des Idealismus – etwa bei Schiller oder Friedrich Schlegel – wird ›Bildung‹ vom aufklärerischen Bedeutungsgehalt praktischer Erziehung entlastet und somit frei, »Individualitätsansprüche«351 auszudrücken, was sich auch in Goethes Bildungsromanen zeigt, die von Zeitgenossen als Werbung für individuelle Bildung – und nicht allein praktische Ausbildung – auch von Bürgerlichen gedeutet worden sind.352 Zum Instrument der Bildung ›ganzer‹, autonomer Individuen wird bei Schiller wie bei Wilhelm von Humboldt die Kunst erklärt.353 Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution sollen vermittels ›Bildung‹ »zunächst die Individuen und dann die Verhältnisse«354 geändert werden. Humboldt sieht in der Auseinandersetzung 346 Vgl. Reble: Geschichte der Pädagogik, S. 154–160. 347 Vgl. Böhm: Geschichte der Pädagogik, S. 72–74. 348 Vgl. Reitmeyer, Ursula: Perfektibilität gegen Perfektion. Rousseaus Theorie gesellschaftlicher Praxis. Münster 1996. 349 Zur Geschichte der Vorstellung des ›vollkommenen Menschen‹ vgl. Passmore, John: Der vollkommene Mensch [engl. 1970]. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden. Stuttgart 1975. 350 Vgl. Vierhaus: Art. Bildung, S. 515–517. 351 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 127. 352 Vgl. ebd., S. 132. 353 Vgl. Franke, Ursula: Art. Bildung/Erziehung, ästhetische. In: ÄG 1, S. 696–727, bes. S. 710– 718. 354 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 143.
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mit Kunst den Menschen in Freiheit gesetzt, sich selber Grundsätze zu geben und seine Zukunft selbst zu gestalten.355 Die Welt hat hier primär die Funktion, die harmonische Selbstentfaltung des Individuums zu gewährleisten, indem ihre Objektivationen – Kunst, Philosophie, Sprache – geistig interpretiert werden und »nur das Bedeutung erlangt, was der Steigerung der Individualität zur Idealität dient.«356 Bei Humboldt wird ›Kultur‹ zum Medium der individuellen Bildung, die den Einzelnen in den Stand setzt, autonomes, ›starkes‹ Subjekt zu werden – eine Verknüpfung von Bildung und Kultur, die im deutschsprachigen Gebiet eine bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Tradition gegründet hat.357 In der anthropologischen Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben weniger medizinische, psychiatrische oder physiologische Wissensbestände, sondern vielmehr jene Redefiguren und Diskurse Anteil an der Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität gehabt, die die ›Individualität‹ und ›Ganzheit‹ des Menschen gegenüber seiner disziplinären Partikularisierung oder seiner Universalisierung als Teil der Menschheit betont haben. So geht die seit Mitte des Jahrhunderts zu beobachtende Aufwertung sinnlicher Erkenntnisvermögen im Rahmen der philosophischen Ästhetik einher mit einer Aufwertung der Gefühle, wie sie von englischer und französischer Theorie (Edward Young, Rousseau) und pietistischer Gesinnungspräferenz vorbereitet wird.358 Diese Aufwertung läuft über Semantiken, die, wie bereits erwähnt, die Primordialisierung und Steigerbarkeit von Individualität359 mittransportieren, etwa denen der ›passionierten Liebe‹360, der ›Zärtlichkeit‹ oder der ›Empfindsamkeit‹.361 Die literaturwissenschaftliche Anthropologieforschung hat dabei hervorgehoben, wie groß die Bedeutung des durch Alphabetisierung gestiegenen Briefverkehrs für die Kultur der ›Innerlichkeit‹ war362 – und zwar so groß, dass »die für die bürgerliche Gesell355 356 357 358 359 360 361
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Vgl. Franke: Art. Bildung/Erziehung, ästhetische, S. 717f. Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 145f. Vgl. ebd., S. 148–159. Vgl. nur die konzisen Informationen in Kaiser, Gerhard: Aufklärung – Empfindsamkeit – Sturm und Drang [1979]. Sechste Auflage mit einer Vorrede: der Germanist in eigener Sache. Tübingen 2007, S. 30–38. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1016–1018. Zum Zusammenhang von Individualität und Liebessemantik des 18. Jahrhunderts vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982, S. 15–18 u. 167–173. Vgl. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Stuttgart 1988. Dass Wegmann aus systemtheoretischer Perspektive die gesellschaftliche Funktion der Empfindsamkeitsdiskurse aufwertet, steht m. E. ihrer Bedeutung als Förderer von Semantiken ›starker‹ Subjektivität nicht entgegen. Vgl. zur Bedeutung des Briefeschreibens für ›Innerlichkeit‹ Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 73–80. Vgl. ferner bes. den Aufsatz von Koschorke, der nachweist, dass sich die Entwicklung der Innerlichkeit als »Begleitphänomen des Alphabetisationsprozesses« vollzieht (Koschorke, Albrecht: Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Schings, Hans-
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schaften grundlegenden Affektmodellierungen und Subjektdefinitionen sich im Medium der Schriftlichkeit vollziehen«.363 Dementsprechend hat die Forschung zeigen können, dass die erwähnten Semantiken insbesondere in literarischen Texten verarbeitet worden sind: Autobiographien364, Sturm und Drang-Dramen365 sowie empfindsame366 und Bildungsromane367 – um nur die wichtigsten Genres zu nennen – haben einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Vorstellung von der Wichtigkeit des Ausdrucks der eigenen Individualität geleistet. Diese Vorstellung der Primordialisierung des ›Ich‹ hat Anteil an einer Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität, auch wenn jeweils konkret geprüft werden müsste, inwieweit die literarische Modellierungen dieser Primordialisierung ›starke‹ Subjektivität wieder als problematisch gestalten (– eine Prüfung, die hier nicht erfolgen kann). Besondere Wichtigkeit kommen dabei Drama und Theater zu, was nicht zuletzt durch die vielfältigen und umfassend beforschten Reformprogramme unterstützt wurde, die etwa den zeitgenössischen Zuschauern angenäherten ›Charakter‹368 in den Mittelpunkt des Dramas stellen oder den
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Jügen (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 605–628, S. 606). Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 627. Vgl. nur Pfotenhauer: Literarische Anthropologie im 18. Jahrhundert. Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980; Fechner, Jörg-Ulrich: Leidenschafts- und Charakterdarstellung im Drama (Gerstenberg, Leisewitz, Klinger, Wagner). In: Hinck, Walter (Hg.): Sturm und Drang [1978]. Ein literaturwissenschaftlichtes Studienbuch. Durchgesehene Neuauflage. Frankfurt a.M. 1989, S. 175–191; Schröder, Jürgen: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe. In: ebd., S. 192–212; Willems, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes »Brief des Pastors zu an den neuen Pastor zu«, »Götz von Berlichingen« und »Clavigo«. Trier 1995. Vgl. Sauder, Gerhard: Subjektivität und Empfindsamkeit im Roman. In: Hinck, Walter (Hg.): Sturm und Drang [1978]. Ein literaturwissenschaftlichtes Studienbuch. Durchgesehene Neuauflage. Frankfurt a.M. 1989, S. 163–174; Ehrich-Haefeli, Verena: Individualität als narrative Leistung. Zum Wandel der Personendarstellung in Romanen um 1770 – Sophie LaRoche und Goethe. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zweiter Band. Berlin/New York 1998, S. 811–843; Jannidis, Fotis: ›Individuum ist ineffabile‹.Zur Veränderung der Individualitätssemantik im 18. Jahrhundert und ihrer Auswirkung auf die Figurenkonzeption im Roman. In: Aufklärung 9,2 (1996), S. 77–110. Zur Individualität im empfindsamen Roman Samuel Richardsons vgl. Latimer, Bonnie: Making gender, culture, and the self in the fiction of Samuel Richardson. The novel individual. Farnham, Surrey [u. a.] 2013. Vgl. Jacobs, Jürgen / Krause, Markus: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München 1989. Zu denken wäre da zunächst an Lessings programmatisch auf Ähnlichkeit zwischen Figuren und Rezipienten basierendes Figurenmodell der Mitleidsästhetik in der »Hamburgischen Dramaturgie« sowie an die an Shakespeare orientierte Abkehr vom aristotelischen Handlungsprimat etwa in Lenz’ »Anmerkungen übers Theater« (vgl. Luserke, Matthias: LenzStudien. Literaturgeschichte, Werke, Themen. St. Ingbert 2001, S. 83–91 u. Steimer, Carolin: »Der Mensch! Die Welt! Alles«. Die Bedeutung Shakespeares für die Dramaturgie und das
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Ausdruck ›authentischer‹ Gefühle in der Schauspielkunst propagieren.369 Dass in den literarischen Strömungen um 1800 gattungsübergreifend Individualität sowie ›starke‹ Subjektivität propagiert, problematisiert und desavouiert worden ist – etwa anhand der Frage nach ›Einzigartigkeit‹ und Soziabilität370 –, ist in unübersehbarer Fülle nachgewiesen worden und kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. ›Ganzheit‹ wird nach physiognomischen Vorarbeiten um 1800371 besonders in der holistischen romantischen Anthropologie (Steffens, Carus) die Formel, mit der der Aufweis der Eigenmächtigkeit der Natur nicht wie im Materialismus zu einer Heteronomisierung des Selbst führt. Sie liefert »den Versuch, das Selbst des Menschen durch eine ›freie‹ Natur zu deuten, um seine Abhängigkeit und Endlichkeit in dem gefühlten Sein der Erscheinungswirklichkeit aufzuheben.«372 Indem sich Selbst und Natur nicht als Fremdes gegenüber stehen, sondern aneinander gebunden sind, erhält sich ›starke‹ Subjektivität, ohne dass, wie der
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Drama des Sturm und Drang. Frankfurt a.M. 2012). Darauf, dass die Alternative Charakterund Handlungsdrama eine Scheinalternative ist, weil Figuren und Handlung interdependent sind, hat Pfister hingewiesen (vgl. Pfister: Das Drama, S. 220f). Dem folgend lässt sich für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung vermuten, dass deren Interdependenz auch ex negativo signifikant ist, also das Ausbleiben von Handlung auf Figurenkonzepte rückwirkt. Ob Lessings und Lenz’ Ablehnung des funktionalistischen Figurenkonzepts der typisierten Figur der formalen Bearbeitung der Frage nach dem Subjekt im Drama zuträglich waren oder nicht, wäre weiter zu untersuchen – ihre aus Gründen der Einfühlung propagierte Engführung von Figurenkonzept und aktuellem anthropologischen Wissen deutet aber darauf hin. Produktiver dürfte die mit den neuen Dramaturgien ab Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Delegitimation frühneuzeitlicher Normpoetiken und Standesklauseln gewirkt haben. Vgl. bes. Kosˇenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995 sowie Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. / Basel 2000 sowie für den Zusammenhang von Charakterdramaturgien und Schauspiellehren Ruppert, Rainer: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 58–79. Basis dieser Umstellung von ›äußerlicher‹, formaler Schauspieltechnik (eloquentia corporis) zu einer, die die Innerlichkeit (eloquentia cordis) betont, war die bürgerliche Verurteilung der Verstellung (simulatio und dissimulatio), die zentral für höfische Klugheitslehren des 16./17. Jahrhunderts war, unter den Auspizien der Gefühlsaufwertung im 18. Jahrhundert aber als Zeichen mangelnder Aufrichtigkeit gedeutet wurde (vgl. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Zum Verhältnis von Mensch und Schauspieler vgl. bes. ebd., S. 284–343). Vgl. z. B. Eberlein, Undine: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt a.M. [u. a.] 2000, bes. S. 17–62. Vgl. Saltzwedel, Johannes: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit. München 1993. Sachs-Hombach, Klaus: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Freiburg/München 1993, S. 120.
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Vorwurf an die Aufklärungsanthropologie lautet, die Bedeutung der Natur ignoriert werden muss.373 Im im weitesten Sinne sozialphilosophischen Bereich der praktischen Philosophie und der sich daran anschließenden Wissenschaften ist ›starke‹ Subjektivität insbesondere unter dem Begriff der Person entwickelt worden. Sie hat ihren Ort im neuzeitlichen Kontraktualismus374 und der Naturrechtslehre, besonders in seiner Säkularisierung als Vernunftrecht375, das für die Entwicklung der Idee der Menschenrechte376 und für die theoretische Grundierung der Revolutionsszeit377 entscheidende Bedeutung hat. Diese miteinander verzahnten sozialtheoretisch-juristischen Bereiche machen ersichtlich, dass die Konzeption eines ›starken‹ Subjekts eine begründungstheoretische Funktion besitzt.378 Entscheidend sind dafür die Kontraktualisten: Um erklären zu können, wie »politische[] Heteronomie auf Autonomie«379 zurückgeführt werden kann, müssen mündige, autonome Individuen konzipiert werden, die dann freiwillig auf ihre Autonomie zugunsten herrscherlichen bzw. staatlichen Schutzes verzichten. Die Fiktion des aus dem Naturzustand führenden Sozialvertrags380 hat von Hobbes über Locke bis Rousseau sehr unterschiedliche Subjektkonzeptionen hervorgerufen. Während Hobbes’ streng materialistisches und deterministisches Menschenbild im Naturzustand in erster Linie zur Verhinderung sozialen Friedens führt, ist Lockes liberalistischer Kontraktualismus381 stärker am Aufweis natürlich gegebener Rechte und Vermögen interessiert. In Lockes Naturzustand ist der Mensch normativ gesehen frei, gleich und unabhängig vom Willen anderer; dazu ist er frei, selbst Recht zu sprechen und zu vollstrecken, was die Durchsetzung
373 Vgl. ebd., S. 118–122. 374 Vgl. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994 sowie ders.: Kersting: Der große Mensch und das kleine Gemeinwesen. 375 Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person. 376 Vgl. Kühnhardt, Ludger: Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs. München 1987; Göller, Thomas: Die Philosophie der Menschenrechte in der europäischen Aufklärung. Locke, Rousseau, Kant. In: Ders. (Hg.): Philosophie der Menschenrechte. Methodologie, Geschichte, kultureller Kontext. Göttingen 1999, S. 150–167; Menke, Christoph / Pollmann, Arnd: Philosophie der Menschenrechte zur Einführung. Hamburg 2007. 377 Vgl. dazu nur den umfassenden Sammelband von Dann, Otto / Klippel, Diethelm (Hg.): Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hamburg 1995. 378 Vgl. Kersting: Der große Mensch und das kleine Gemeinwesen, S. 404f. 379 Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 31. 380 Zur Poetik des kontraktualistischen Narrativs vgl. Koschorke, Albrecht: Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart [u. a.] 2004, S. 174–185 sowie Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004, S. 153–180. 381 Vgl. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 109–139.
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seiner Privatrechte wie des ›natürlichen‹ Gesetzes einschließt.382 Da dieser normative Naturzustand realiter nicht stabil und sicher genug ist, bedarf es des Staates zur »Sicherung und Verwirklichung der vorstaatlichen, individualrechtlich konstituierten gesellschaftlichen Ordnung freier und gleicher Individuen.«383 Was durch die Einführung eines normativen Naturzustandes aber erreicht worden ist, ist nichts weniger als die Grundlegung von allgemeinen Menschenrechten384, die starke Subjektivität rechtlich verankert. Anders als der Hobbessche Leviathan ist Lockes Staatskonzept kein faktisch unbeschränkt mächtiger politischer Körper, sondern ein durch Vertrag geschaffenes Rechtssubjekt, der allein als Mittel zum Zweck der Durchsetzung der Rechte der Staatspersonen existiert und in dem die Staatsvertreter treuhänderisch für die Ausübung dieser Interessen zuständig sind.385 Anstatt dass der Souverän alle Autonomiepotenzen seiner Subjekte gewissermaßen aufsaugt und damit zum fast allmächtigen Subjekt (im Sinne von: Grundlage) des Leviathan wird, wird bei Locke die Macht der Regierung zugunsten der einzelnen Staatssubjekte depotenziert. Mithilfe dieser Vertragstheorie, die einen liberalen Staat inauguriert, der aus autonomen Individuen besteht, legitimiert sich repräsentative, demokratische Herrschaft zugleich mit der Schaffung rechtlicher Garantien individueller Potenzen. Auf diese Weise wird kontraktuell legitimierte Staatlichkeit an ›starke‹ Subjektivität gebunden. Das gilt auch für Rousseaus »demokratischen Absolutismus«386, da er auf einem anspruchsvollen Begriff unbedingter Freiheit als Grundlage der Menschenrechte aufbaut387, wahre – bei ihm: »sittliche« – Freiheit jedoch erst erreicht sieht, wenn die Individuen in einer staatlichen Ordnung nach selbst gegebenen Gesetzen handeln.388 Auf dessen Fundierung politischer Ordnung auf Freiheit als Schutz vor Heteronomie beruht auch die bemerkenswerte Bedeutungserweiterung des Ausdrucks ›citoyen‹, der im Frankreich der Revolutionszeit mit dem ›Menschen‹, dessen Rechte 1789 und 1793 erklärt worden sind, identisch wurde.389 In den Menschenrechtserklärungen und Kodifizie-
382 Vgl. ebd., S. 109–116. 383 Ebd., S. 125. 384 Vgl. Göller: Die Philosophie der Menschenrechte in der europäischen Aufklärung, S. 153– 158. Zur Bedeutung Lockes für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung vgl. Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, S. 81–86. 385 Vgl. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 132–134. 386 Ebd., S. 167. 387 Ob Lockes Depotenzierung der Staatssouveränität in Rousseaus Kontraktualismus (also der Unterwerfung aller Subjekte unter die Herrschaft der volonté générale zugunsten einer Utopie der Identität des persönlichen mit dem allgemeinen Willen) wieder rückgängig gemacht wird, kann hier nicht diskutiert, nur vermutet werden (vgl. ebd., S. 140–179). 388 Vgl. Göller: Die Philosophie der Menschenrechte in der europäischen Aufklärung, S. 160f. 389 Vgl. Riedel, Manfred: Art. Bürger. In: GG 1, S. 672–725, S. 689f.
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rungsprojekten des späten 18. Jahrhunderts390 hat die Vorstellung ›starker‹ Subjektivität als Grundlage einer auf Freiheit und Gleichheit basierenden sozialen Ordnung ihre sichtbarste Geltung gefunden und in Frankreich als »politische Erlösungsformel« auf dem Weg einer »Selbsterlösung der Nation«391 gedient. Einmal mehr ist es Kant, dessen Staats- und Rechtsphilosophie die hier angedeuteten Diskussionen synthetisiert und zu einem Abschluss gebracht hat. In Auseinandersetzung mit Lockes und Rousseaus Naturrechtsmodellen postuliert Kant ein apriorisches Vernunftrecht, das allerdings erst durch rechtsstaatliche Ordnung positiv gültig wird.392 Maßstab legitimer Staatlichkeit ist die von einem Rechtsstaat zu garantierende und durchzusetzende Wahrung des apriorisch geltenden Menschenrechts auf Freiheit vor fremdem Zwang, womit auch aus streng legalistischer Perspektive der Staat an menschliche Autonomie gebunden ist.393 Diese Autonomie leitet Kant über eine »Metaphysik der Freiheit«394 her, die für das Subjektkonzept des deutschen Idealismus grundlegend gewesen ist. Er differenziert dafür zwischen »kosmologischer« und »praktischer« Freiheit.395 In ersterem Begriff reagiert er auf die Frage nach der Handlungs- und Willensfreiheit, deren materialistische, auf neuzeitlichem Kausalitätsdenken fußende Behandlung Kant mit einem auf Leibniz aufbauendem Verständnis des Willens als einem verstandesmäßig begründeten Tun konfrontiert.396 Dass die Freiheit im kosmologischen Verstande möglich, der Mensch also nicht durch Bindung an Empirie determiniert ist, erreicht Kant durch die Differenzierung, dass das handelnde Subjekt als intelligibles nicht Teil der Sinnenwelt ist und Handlungen somit nicht Kausalgesetzen unterworfen, sondern autonom sind: Willensfreiheit als »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«397, wird bei Kant mit Freiheit synonym gefasst.398 Als praktische Freiheit wird darauf aufbauend die Fähigkeit bestimmt, sich selbst nach allgemeinen Vernunftprinzipien verhalten zu können, was bedeutet, dass nicht idiosynkratische ›Wollungen‹, sondern
390 Vgl. dazu den Überblick von Kobusch, der den Anteil von Vernunftrechtlern wie Grotius und Pufendorf an den Revolutionen wie Kodifizierungen betont (Kobusch: Die Entdeckung der Person, S. 101–116). 391 Beide Zitate Otto, Marcus: Der Wille zum Subjekt, S. 279 [Kapiteltitel]. 392 Vgl. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 189–192. 393 Vgl. Göller: Die Philosophie der Menschenrechte in der europäischen Aufklärung, S. 163f. 394 Kobusch: Die Entdeckung der Person, S. 139. 395 Vgl. Mittelstraß, Jürgen: Der arme Wille. Zur Leidensgeschichte des Willens in der Philosophie. In: Heckhausen, Heinz / Gollwitzer, Peter M. / Weinert, Franz E. (Hg.): Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften. Berlin [u. a.] 1987, S. 33–48, hier S. 39–42. 396 Vgl. Mittelstraß: Zur Leidensgeschichte des Willens in der Philosophie, S. 37. 397 Ebd., S. 41. 398 Vgl. ebd.
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Einsicht in praktische Vernunftgesetze Freiheit markieren.399 Das lässt erneut erkennen, dass Kant ähnlich wie in der theoretischen auch in der praktischen Philosophie ›starker‹ Subjektivität zugleich die Grundlagen verschafft und sie einschränkt. Zwar wird über die Analyse des Freiheitsbegriffs Handlungsautonomie hergeleitet und im daraus entwickelten Personenbegriff die kategoriale Unterscheidung von Person und Sache möglich, doch ist diese Autonomie als praktische Freiheit durch die Bestimmung des Willens als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln, begrenzt, weil Freiheit ja gerade keine individuellen Willensakte meint. Die Leistung, Willen, Vernunft und Freiheit synthetisiert zu haben, wird dann der Ansatzpunkt des deutschen Idealismus sein. Fichtes Personenbegriff, der Grundlage seiner Sozialphilosophie der Sittlichkeit und des Rechts ist, ergänzt Kants Bestimmungen um zwei Dimensionen: Erstens analysiert Fichte ›Leiblichkeit‹ als transzendentale Voraussetzung jedes personalen Selbstbezugs und zweitens weist er nach, dass »die Unablösbarkeit des Menschen aus interpersonalen Bezügen nicht nur als empirisches Faktum, sondern als apriorische Struktur«400 gilt. Indem er die »konstitutive Funktion von Leiblichkeit und Interpersonalität für die Existenz von Personen als selbstbewußter und selbstbestimmter Wesen«401 aufweist, löst sich die Gefahr des Solipsismus, die sich aufgrund der apriorischen Selbstsetzung des Ich eröffnet hat, in praktischen Verhältnissen auf, die das Subjekt als Person konstitutiv mit anderen Personen verbindet, da er sich erst durch wechselseitige Anerkennung als vernünftiges und freies Wesen erfahren kann. Daran ist signifikant, dass in dieser personentheoretischen Fassung Interpersonalität nicht, wie anzunehmen wäre, als Beschränkung von Subjektivität gedacht wird, sondern als ihre Ermöglichungsgrundlage.402 An Fichtes Bestimmung einer unhintergehbaren Interpersonalität der Person, die wechselseitige Anerkennung als Grundlage von Sittlichkeit impliziert, schließt auch Hegels Rechtsphilosophie an, die eine eigenständige und wirkmächtige Form ›starker‹ Subjektivität formuliert. Für Hegel konstituiert sich Individualität durch Handeln des Willens, dessen Freiheit Voraussetzung für Sozialität ist. Er unterscheidet einen ›wirklichen Willen‹, der Willkür ist, da er nach individuellen Neigungen handelt, von einem ›freien Willen‹, was ein Wollen des Vernünftigen meint und sich über die Freiheit aller definiert. Freiheit wird also auch von Hegel als etwas aufgefasst, das konstitutiv mit Sozialität verbunden 399 Kersting spricht in Bezug auf Kants Kontraktualismus von dessen »Antivoluntarismus« – eine Formulierung, die sich auf den kantischen Freiheitsbegriff schlechthin übertragen lässt (Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 194). 400 Fuhrmann (u. a.): Art. Person, Sp. 309f. 401 Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 129. 402 Vgl. ebd., S. 125–131.
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ist. Zu formulieren, die Freiheit anderer würde die eigene Freiheit einschränken, verfehlte somit die per se intersubjektive Verfasstheit von Freiheit.403 Freier Wille ist somit Ermöglichungsgrundlage des Sozialen, dessen Objektivationen soziale Institutionen sind: bürgerliche Gesellschaft wie Familie, Staat wie Recht. In ihnen entwickelt sich subjektiver Geist zum objektiven fort. Die subjekttheoretische Pointe dieser geschichtsphilosophischen Sozialphilosophie ist, dass Gesellschaft und Staatlichkeit, die zuvor (und später) als Hemmnisse für die Entfaltung des Individuums gedacht werden, bei Hegel die Freiheit des Individuums erst möglich machen, da diese als »Manifestation des sozialen Ganzen«404 erscheint. ›Starke‹ Subjektivität wird also nicht etwa begrenzt durch das soziale Ganze, sondern erweist sich durch Übereinstimmung mit dem an und für sich Vernünftigen, das sich in Institutionen objektiviert. Diese geschichtsphilosophische Versöhnung von Individuum und Gesellschaft ist in ihrer Bedeutung für den hier zu untersuchenden Zusammenhang nicht zu unterschätzen, schließlich hat sie Hegels Dramenästhetik zur Grundlage gedient, deren Annahmen im 19. Jahrhundert405 vielfältig tradiert worden sind und bis frühe 20. Jahrhundert hinein Fürsprecher besessen hat.406 Hegels Dramentheorie sieht in der Versöhnung handelnder Subjekte mit den Kräften der sie umgebenden Welt in der antiken Tragödie den Höchststand der Kunst erreicht und bewertet diese deshalb so hoch, weil durch sie das Wesen der Geschichte schlechthin, das ja Versöhnung von Individuum und Welt sei, repräsentiere.407 Das Drama der Neuzeit hingegen erreiche diese objektive Versöhnung nicht mehr, sondern gestalte sie als Sieg oder Untergang eines ›festen Charakters‹ (bei Shakespeare) oder scheitere durch Darstellung der inneren Dissonanz des Charakters, womit die Dialektik von Ich und Welt aufgegeben und das Drama sozusagen ›weltlos‹ werde.408 Für die Frage nach dem Subjekt war daran die Überzeugung bedeutsam, dass Dramatik, sofern sie ihren hohen Rang bewahren wollte, auf ›schwache‹ – nicht handlungsmächtige, zerrissene – Charaktere zu verzichten habe, da sonst die Versöhnung zwischen lyrischer Subjektivität und
403 Vgl. Kobusch, S. 158–164. 404 Rohls: Geschichte der Ethik, S. 333. 405 Vgl. zu hegelianisierenden Dramentheoretikern wie Vischer, Hettner oder auch Gustav Freytag noch immer Schanze, Helmut: Drama im bürgerlichen Realismus (1850–1890). Theorie und Praxis. Frankfurt a.M. 1973, S. 59–67 u. 74–77. 406 Vgl. die neuidealistische Grundierung des Dramas um 1900 etwa bei Diebold: (Diebold, Bernhard: Anarchie im Drama. Frankfurt a.M. 1921). Vgl. auch die Dramentheorie des frühen Georg Lukács (s. o.). Nicht zuletzt muss abermals an Szondis »Theorie des modernen Dramas« erinnert werden, die noch Mitte des 20. Jahrhunderts explizit an Hegel anknüpft. 407 Vgl. Galle, Roland: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung, in: Hinck, Walter (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 259–272. 408 Vgl. ebd., S. 267f.
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epischer Objektivität – des dramatischen ›Charakters‹ mit der ›Welt‹409 – nicht möglich wäre. Der von Schelling bereits 1802/03 vertretene Gedanke, dass die Versöhnung des Einzelnen mit den Verhältnissen aufgrund der Kontingenzen der Wirklichkeit nur in einem inneren, idealen Drama möglich ist, führt in der hegelianischen Dramentheorie ab 1850 zur Trennung einer idealen von einer realen Sphäre, bei der die ideale als die dem Drama angemessene erscheint.410 Die »Idealität« des Dramas besteht bei diesen Dramentheorien neben der Ausschaltung alles Zufälligen411 insbesondere im Festhalten an einem Figurenmodell, das ihre Wurzeln in Vorstellungen ›starker‹ Subjektivität hat. Insofern kann die hegelianische Dramenästhetik des 19. Jahrhunderts als ein Beispiel für Residuen ›starker‹ Subjektivität gelten, die entgegen des spürbaren allgemeinen Geltungsverlustes dieser Position an ihrer Bewahrung teilhaben. In der dramatischen wie theatralen Theaterpraxis wurde diese Dramenästhetik von kompensatorischen Sozialtypen wie dem ›großen Mann‹412, dem ›Helden‹413 oder auch dem ›großen Schauspieler‹414 ergänzt. Neben der Geschichtsschreibung und
409 Vgl. nur Vischer, Friedrich Theodor v.: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Band 3: Die Kunstlehre. Suttgart 1857, S. 1376–1378. Dort wird der »dramatische Mensch« im Kontrast zu dem der lyrischen und epischen Gattung als einer definiert, der so spricht, »daß daraus eine Veränderung der Außenwelt, eine Handlung sich ergibt« und der »sich die Objecte und sich selbst mit hellem Bewußtsein ergreifen und sich frei als Wille aus sich entscheiden« muss (ebd., S. 1377). 410 Vgl. Schanze, Helmut: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche »Schwäche« [1971]. In: Müller, Klaus-Detlef (Hg.): Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpretationen. Königstein/Ts. 1981, S. 229–237, S. 231f. 411 So bei Hermann Hettner, vgl. Schanze: Drama im bürgerlichen Realismus (1850–1890), S. 59–63. 412 Vgl. Baumgartner, Stephan: Weltbezwinger. Der »große Mann« im Drama 1820–1850. Bielefeld 2015 u. Gamper, Michael: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas. Göttingen 2016. 413 Vgl. Kaufmann, Kai: Größe der Leidenschaft. Zur Transformation des Heroischen in Dramen vom Sturm und Drang bis zum Fin de Siècle. In: Geisenhanslüke, Achim / Mein, Georg / Schößler, Franziska (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal. Heidelberg 2008, S. 111–136; Reiling, Jesko (Hg.): Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Bielefeld 2011; Immer, Nikolas / Marwyck, Mareen v.: Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen. In: Dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld 2013, S. 11–28. 414 Vgl. nur Sennetts Ausführungen zum »Theater als eigentlichen Schauplatz des Lebens« (Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens [engl 1977]. Die Tyrannei der Intimität. 14., ungekürzte Auflage. Frankfurt a.M. 2008, S. 225–229) sowie Hickethier, Knut: Vom Theaterstar zum Filmstar. Merkmale des Starwesens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Faulstich, Werner / Korte, Helmut (Hg.): Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung. München 1997, S. 29–47.
Sachgeschichte ›starker‹ Subjektivität
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-politik415 dürfte das Drama im 19. Jahrhundert also zu den wichtigsten Institutionen der Tradierung von fraglich gewordenen Subjektpositionen zählen. Dass diese dominante dramentheoretische Strömung die dramatische Auseinandersetzung mit Subjektkritik bis zum ausgehenden 19. Jahrhunderts erheblich erschwert hat, ist leicht nachzuvollziehen. Auch in der posthegelianischen Philosophie des 19. Jahrhunderts416 lässt sich diese veränderte Diskursposition ›starker‹ Subjektivität ausmachen. Fortgeführt wird ›starke‹ Subjektivität einerseits von Autoren, deren Denken unmittelbar an Theorien anschließt, die diese vertreten haben, und andererseits von solchen, die in kulturkritischer Stoßrichtung gegen gesellschaftlichen Egalitarismus eine hypertrophe Subjektivität exponierter Individuen profilieren. Zur ersteren Gruppe gehört etwa John Stuart Mill, dessen sozialliberale Staatstheorie auf der Staatsidee der englischen politischen Philosophie aufbaut und deshalb auf die Vorstellung autonomer, selbstwirksamer Individuen als Basiselemente staatlicher Zusammenschlüsse nicht verzichten kann, für deren Schutz und Entwicklung ein liberaler Staat Sorge zu tragen habe.417 Auch das bei Adam Smith vorbereitete Subjektkonzept418 des ›homo oeconomicus‹, also der Annahme eines seinen Präferenzen entsprechend rational und auf Nutzenmaximierung ausgerichteten Marktteilnehmers, ist von Mill weitergedacht, um 1900 in der Neoklassik (Pareto) mit dieser Bezeichnung belegt und profiliert worden und hat bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung als ökonomisches Basiskonzept behauptet.419 Zur zweiten Gruppe, bei der ›starke‹ Subjektivität in der Theoriebildung noch im 19. Jahrhundert noch von Bedeutung ist, zählen solche, die die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft betonen und dabei den ›heroischen‹ 415 Vgl. Gamper: Der große Mann sowie Nordalm, Jens: Der gegängelte Held. »Heroenkult« im 19. Jahrhundert am Beispiel Thomas Carlyles und Heinrich von Treitschkes. In: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 647–676. 416 Vgl. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, bes. S. 17–24 u. 58–61. 417 Vgl. Gräfrath, Bernd: Das Fundament der Bürgerrechte. John Stuart Mill über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Leben freier Individuen. In: Ulrich, Peter (Hg.): Joh Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph. Bern [u. a.] 2006, S. 125– 154; Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010, bes. S. 125–166. 418 Vgl. dazu Manstetten, Rainer: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith. Freiburg [u. a.] 2000. 419 Vgl. aus wirtschaftswissenschaftlicher, tendenziell apologetischer Perspektive Kirchgässner, Gebhard: Homo oeoconomicus [1991]. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 2., ergänzte und erweiterte Auflage. Tübingen 2000. Aus wirtschaftsethischer Perspektive, die die theoretische Vorgeschichte des Modells mitreflektiert, vgl. Dietz, Alexander: Der homo oeconomicus – Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein ökonomisches Modell. Gütersloh 2005.
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Widerstand des Individuums vor den Egalisierungs- und Mediokrisierungstendenzen der Sozialwelt hervorheben. Dazu zählen Autoren wie Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Die entscheidende Innovation dieser Position ›starker‹ Subjektivität ist der Verzicht auf jede metaphysische Grundierung.420 Waren die ›starken‹ Subjektphilosophien des deutschen Idealismus noch metaphysisch legitimiert und in sittliche oder geschichtsphilosophische Zusammenhänge unlösbar eingebunden, da sie ohne diese gar nicht im eigentlichen Sinne als Subjekte gelten konnten, lösen die genannten Autoren den Einzelnen aus solchen Interdependenzen und setzen seine Handlungspotentiale dadurch vollkommen frei. Bei Stirner übernimmt »der Einzige« die Funktionsstelle, die bereits Feuerbach dem Menschen zuerkannt hat: die Stelle Gottes.421 Feuerbach radikalisierend sieht Stirner alle »überindividuellen Entitäten, Ideen und Wesenheiten […] als Produkte und Projektionen des empirischen Ichs«422 an und bekämpft deren Herrschaft über diejenigen, die noch an ihre außerindividuelle Existenz glauben. Da es keine verbindlichen außerindividuellen moralischen und ethischen Kriterien gibt, ist das Ziel des Einzigen nunmehr Machtgewinn, durch den sein Selbstgenuss gesteigert werden kann. Stirners Apotheose des Egoisten ist nach anfänglicher, oft polemischer Kritik von Seiten der Jung- und Linkshegelianer – etwa Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie« – bis Ende des 19. Jahrhunderts nahezu in Vergessenheit geraten, ehe um 1900 eine »›StirnerRenaissance‹«423 stattgefunden hat, zu der sein hypertropher Individualismus entweder in sozialwissenschaftlicher Perspektive als Exponent des Anarchismus diskutiert424 oder, eher ethisch-weltanschaulich in die Nähe des zu dieser Zeit nicht minder modischen nietzscheanischen »Übermenschen«425 gestellt wurde.426 Nietzsche und Stirner werden um 1900 in der intellektuellen Öffentlichkeit somit 420 Das Folgende stützt sich auf die enorm umfangreiche Darstellung von Stirners Werk und seiner Nietzsche einschließenden Rezeptionsgeschichte von Stulpe (Stulpe, Alexander: Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. Berlin 2010). Dieser liest Stirners Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« (1844) im Rahmen luhmannianischer Wissenssoziologie als »exemplarische[n] Aspekt der semantischen Konstruktion moderner Individualität«, dessen »individualitätssemantisches Potential«, sich in dessen Rezeptionsgeschichte verschiedentlich manifestiert hat (ebd., S. 42 bzw. 38). 421 Vgl. ebd., S. 20. 422 Ebd. 423 Ebd., S. 25. 424 Vgl. ebd., S. 356–469. 425 Zur frühen Nietzsche-Rezeption vgl. Aschheim, Steven A.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 1996 sowie allgemein die nach rezeptionsästhetischen ›Tonlagen‹ differenzierte Skizze zu »Nietzsches Nachwelt« bei Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Folgen. Stuttgart 2017, S. 93–190. Vgl. auch die Angaben zur Nietzsche-Rezeption im ersten Band von Krummel (s. u., FN 709). 426 Vgl. Stulpe: Gesichter des Einzigen, S. 470–485 sowie zum Streit um das Verhältnis von Nietzsche zu Stirner um 1900 S. 570–651.
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Gewährsleute für individualitätssemantische Fragen, die sich nach Taylor als Fragen nach dem Gehalt eines ›normativen Individualismus‹ beschreiben lassen.427 Nicht gemeint ist also ein ›deskriptiver Individualismus‹ als Diagnose sozialer Gegebenheiten, wie sie die frühe Soziologie – besonders Durkheim, Weber, Simmel – betrieben und theoretisch bearbeitet hat428, sondern solche Positionen, die die Präferenz des Einzelnen gegenüber dem Sozialen mit einer valorisierenden Differenzierung der Einzelnen kombinieren und radikale Individualität somit nur exzeptionellen Individuen zuerkennen.429 Als exemplarisch für diese ›aristokratische‹ Form des normativen Individualismus der Jahrhundertwende gelten jene Texte Friedrich Nietzsches, die die Höherwertigkeit außergewöhnlicher Individuen kulturkritisch gegen die dem ›Leben‹ und der ›Größe‹ feindlichen Tendenzen der modernen Kultur in Stellung bringen.430 Diese semantischen Bemühungen um eine Renaissance ›starker‹ Subjektivität, bei Nietzsche etwa in Form des »Gedankenexperiment[s] des ›Übermenschen‹«431, erscheinen um 1900 als Reaktionen auf eine veränderte Subjektivitätssemantik, ohne deren Kenntnis diese Restitutionsbemühungen unverständlich bleiben. Diese Veränderung lässt sich insgesamt als Tendenz zur Problematisierung des ›starken‹ Subjekts beschreiben und soll im folgenden Abschnitt skizziert werden, damit die subjektsemantisch komplexe Situation, in der die hier zu analysierenden Texte um 1900 stehen, angemessen verstanden werden kann.
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Problematisierungen des ›starken Subjekts‹
Die Semantik eines hier so genannten ›starken‹ Subjekts, d. h. eines selbst- und handlungsmächtigen Individuums, das konsistent als mit sich selbst identisch erkennbar ist, souverän über seine psychischen und physischen Fakultäten verfügt und im Sozialen als souveräner Akteur erscheint – diese Semantik gerät
427 Taylor führt den Begriff in die Debatte um Liberalismus und Kommunitarismus ein und bezeichnet damit eine Position, die das Individuum auf normativer Ebene gegenüber dem Kollektiv präferiert (vgl. Taylor, Charles: Aneinander vorbei [1989]. Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M. / New York 1993, S. 103–130). 428 Vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft. 429 Stulpe nennt dies ›partikularen Individualismus‹ und unterscheidet davon einen ›universalistischen‹, der Individualität jedem Individuum gleichermaßen zuspricht (vgl. Stulpe: Gesichter des Einzigen, S. 652–676). 430 Vgl. dazu Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 155–198. 431 Ebd., S. 193.
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im Laufe des ›langen‹ 19. Jahrhunderts432 immer stärker unter Druck, was um 1900 zu der angesprochenen ›kulturellen Beunruhigung‹ hinsichtlich seines ontologischen Status’ und seiner Extension führt. Einwände gegen sie sind bereits in den Jahrhunderten davor geäußert worden, ja, man kann sagen, dass sie die Genese der Semantik ›starker‹ Subjektivität begleitet haben, so wie diese im 19. Jahrhundert nicht einfach aufgegeben, sondern, wie oben angedeutet, auf vielfältige Weise tradiert worden ist – nicht zuletzt im Drama und Theater der Zeit. Im Folgenden ist knapp zu erläutern, in welchen Wissenschaften und sozialen Zusammenhängen und aus welchen Gründen die so wirkmächtige Übergangssemantik ›starker‹ Subjektivität bis zur Wende zum 20. Jahrhundert an Plausibilität eingebüßt hat. Da der Entstehungsprozess ›starker‹ Subjektivität in der Neuzeit entscheidend von theoretischer wie praktischer Philosophie betrieben wurde, hat der Geltungsverlust der Philosophie als eine für die Integration disparaten Wissens in ein übergreifendes System zuständige Disziplin, die sie in eine »Identitätskrise«433 gestürzt hat, auch für ›das Subjekt‹ Konsequenzen gehabt. Nachdem im deutschen Idealismus ein letztes Mal der Versuch unternommen wurde, das gesamte Denken der Welt in ein universales metaphysisches System zu integrieren, setzte sich in den sich weiter ausdifferenzierenden Wissenschaften spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Abkehr von idealistischen Deutungsmustern durch434, was ›das Subjekt‹ als eines der zentralen Konzepte idealistischen Denkens nicht unberührt gelassen hat. Knapp gesagt: Da die idealistischen Basisannahmen nicht mehr geteilt werden, erscheint die metaphysisch abgesicherte ›starke‹ Subjektivität als verzichtbare Heuristik, die zugunsten komplexerer und weniger auf spekulativen Setzungen angewiesene Konzepte aufgegeben werden kann. Da ›starke‹ Subjektivität vor dem Hintergrund der abendländischen Metaphysik entstanden ist, verwundert es kaum, dass deren Problematisierung im 19. Jahrhundert als Bestandteil von in verschiedenen Fachzusammenhängen geübter Metaphysikkritik aufgetreten ist. Zugleich lässt sich beobachten, wie konkurrierende Integrationssemantiken – etwa Kollektivbegriffe wie Nation, Volk, Gesellschaft oder auch Leben, Entwicklung und das Unbewusste – die philosophisch voraussetzungsreiche Semantik ›starker‹ Subjektivität verdrängen – was wiederum zu den erwähnten Restitutionsversuchen der Semantik beigetragen hat.
432 Zur Periodisierung des 19. Jahrhunderts als ›langes‹, von 1789 bis 1914/18 reichendes Jahrhundert vgl. den Überblick von Bauer, Franz J.: Das ›lange‹ 19. Jahrhundert [2004]. 3., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2010 sowie Kocka, Jürgen: Das lange 19. Jahrhundert. Stuttgart 2001, bes. S. 138–154. 433 Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 18. 434 Vgl. ebd., S. 89–138.
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Wie der Plural im Titel dieses Abschnitts schon anzeigt, ist es sinnvoll, verschiedene Arten der Problematisierung ›starker‹ Subjektivität zu unterscheiden, die in Analogie zur Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Subjektphilosophie einerseits das Subjekt als solches, andererseits das Subjekt als in soziale, institutionelle und evolutive Zusammenhänge eingebunden voneinander unterscheidet. Ersteres läuft auf eine Depotenzierung des ›starken‹ Subjekts hinaus, die, neben philosophischen Überlegungen, insbesondere in der Psychologie und ihren verwandten Disziplinen betrieben wurde. Davon abzugrenzen ist eine weitreichende Tendenz zur Dezentrierung des Subjekts, die insbesondere in den Lebens- und Sozialwissenschaften stattgefunden hat. Dem könnte man entgegenhalten, dass eine Dezentrierung stets mit einer Depotenzierung des Subjekts einhergeht und dass die fachlichen Depotenzierungsunternehmungen nicht zuletzt über begriffliche Dezentrierungen des ›belasteten‹ Subjektbegriffs vonstattengegangen sind. Das ist zwar zutreffend, doch leistet die Unterscheidung von Depotenzierung und Dezentrierung des Subjekts die Abgrenzung von Modellen, die den Einzelnen, das Individuum und sein Bewusstsein, als Untersuchungsgegenstand bewahren, von solchen, die in der programmatischen Abkehr von diesem ihr Profil gewinnen. Dabei bleibt präsent, dass beide Anteil an der Problematisierung ›starker‹ Subjektivität haben. Um die weiträumigen Rekonstruktionen der Subjektsemantik und ihrer Problematisierung an den Untersuchungszeitraum rückzubinden, werden diesen beiden Abschnitten einige Überlegungen und Beispiele zur komplexen Gemengelage subjektsemantischer Optionen um 1900 folgen.
3.5.1 Depotenzierungen des ›starken‹ Subjekts Unter Depotenzierung sollen im Folgenden diejenigen Subjektkonzepte gefasst werden, bei denen das metaphysisch legitimierte und als praktische Notwendigkeit plausibilisierte ›starke‹ Subjekt in Zweifel gezogen wird. Diese Konzepte lassen sich besonders dort aufweisen, wo die Theorien der philosophischen Tradition in Bezug zu menschlicher Erkenntnis nicht mehr geteilt werden. Dies geschieht im Umkreis des langen Prozesses der Entstehung der Psychologie als Wissenschaft in Abgrenzung zur Philosophie sowie philosophieintern als Kritik an der philosophischen – genauer: metaphysischen – Tradition zugunsten alternativer Beobachtungsweisen. Zu unterscheiden sind dabei Konzepte, die zu einer Differenzierung der Vorstellung von Subjektivität beigetragen haben und aus dieser Perspektive ›starke‹ Subjektivität implizit depotenzieren, und solche, die diese Vorstellung explizit bekämpfen. Auf letztere werden sich die folgenden Ausführungen konzentrieren, auch wenn anzunehmen ist, dass diese nicht ohne jene Differenzierungsleistungen möglich gewesen wären. Dass auf die Darstel-
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lung dieser Wissensbestände verzichtet werden kann, liegt auch darin begründet, dass in dieser Arbeit nicht der Transfer konkreter Wissensbestände oder Dispositive auf dramatische Texte beobachtet wird, sondern die Konsequenz der Zirkulation einer ›Rede‹, die generalisierteren Gehalts gewesen ist. Erwähnt seien zunächst Wissensordnungen, deren Differenzierung des Subjekts als Depotenzierung gelesen werden können. Für den Bereich, der sich mit der Erforschung des Körpers und der ›Seele‹ und ihren Krankheiten beschäftigt hat, gilt das etwa für die Geschichte der Psychiatrie und des Wahnsinns: Hier wurde von der Forschung gezeigt, dass mit der diskursiven Konstruktion ›wahnsinniger‹ bzw. ›kranker‹ Subjekte eine Disziplinierung und Entmächtigung von Individuen korreliert.435 Darüber hinaus hat der hygienische Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts die Herausbildung einer kulturell spezifischen Körperlichkeit geprägt, die auf das Selbstverständnis der Individuen als moderne Subjekte rückgewirkt hat.436 Die aus der Charakterologie, Phrenologie und Physiognomik437 der Aufklärung weiterentwickelten Methoden der differentiellen und Persönlichkeitspsychologie gehören ebenso in den Zusammenhang einer Differenzierung des Subjektkonzepts wie Differenzierungen anhand von Geschlecht, Alter sowie von Volks- oder Klassenzugehörigkeit.438 Ethologische Forschungen der Biologie sowie Übernahmen aus dem Darwinismus haben den seit dem frühen 20. Jahrhundert für die experimentelle Psychologie paradigmatischen Behaviorismus informiert439, deren Beobachtung von Reiz-ReaktionsVorgängen menschlichen Verhaltens ein mechanistisches Subjekt als Gegenstand psychologischer Forschung konstruiert.440 Besonders weitreichend war wohl das 435 Vgl. die erwähnten Schriften von Foucault zu Wahnsinn und Gesellschaft sowie Geburt der Klinik; Benzenhöfer, Udo: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1993. 436 Vgl. Sarasin, Philip: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a.M. 2001. Freilich liest Sarasin diese Körperordnung nicht allein unter den Auspizien der Gouvernmentalisierung, sondern stellt die Möglichkeit einer Aneignung des eigenen Körpers als Ausdruck autonomer Selbstsorge anheim (vgl. S. 25–31). 437 Vgl. Gerabek, Werner E.: Physiognomik und Phrenologie – Formen der populären Medizinischen Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Groß, Dominik / Reininger, Monika (Hg.): Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf Keil. Würzburg 2003, S. 35–49. 438 Vgl. dazu den Überblick bei Schönpflug, Wolfgang: Geschichte und Systematik der Psychologie. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim 2013, S. 194–234. Schönpflug verweist auf die Vorgeschichten dieser Vorstellungen im Denken besonders des 17. u. 18. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 103–183). Es wäre wünschenswert, wenn die Forschung die genaue Relationierung spezifizierter und generalisierter Subjektkonzepte in diesem Zeitraum untersuchen würde, die hier nicht geleistet werden kann. 439 Vgl. bes. Boakes, Robert Alan: From Darwin to behaviourism. Psychology and the minds of animals. Cambridge [u. a.] 1984. 440 Vgl. Bruder, Klaus-Jürgen: Psychologie ohne Bewußtsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt a.M. 1982 sowie Danziger, der zeigt, dass diese Art der Sub-
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Aufkommen der Neurasthenie als repräsentativer psychischer Erkrankung um 1900: Die Selbsterfahrung der Patienten als Nervöse sorgte für eine von der Psychologie und Psychiatrie begleitete Verunsicherung des eigenen Subjektstatus’.441 Der seit Wundt psychologisch gedeutete Begriff des Willens hat im Hinblick auf dessen Schwächung die Vorstellung souveräner Subjektivität zweifelhaft werden lassen.442 Die quantitative Steigerung und Differenzierung des Wissens um die menschliche Psyche dürfte für einen Zeitgeist günstig gewesen sein, der Vorstellungen ›starker‹ Subjektivität skeptisch gegenüber stand. Explizit postuliert wurde die Depotenzierung des ›starken‹ Subjekts in der Psychologie des ›langen‹ 19. Jahrhunderts bei Ernst Mach und Sigmund Freud. Die beiden entsprechenden Theorien, Empiriokritizismus und Psychoanalyse, stehen in distinkten Forschungstraditionen, die jeweils skizziert werden müssen, um ersichtlich zu machen, welche Funktion die Depotenzierung jeweils besessen hat. Machs Postulat des ›unrettbaren Ich‹ findet sich in den »Antimetaphysischen Vorbemerkungen« seiner »Beiträge zur Analyse der Empfindungen« von 1886.443 In diesen Vorbemerkungen nimmt Mach eine wissenschaftstheoretische Position ein, die die psychologische Wissenschaft von den Einflüssen der Philosophie zu reinigen versucht, indem sie jene auf sinnesphysiologische Forschung und mithin auf Physik als Grundlagenwissenschaft gründet.444 Diese Position steht im Kontext der seit dem späten 18. Jahrhundert (K.Ph. Moritz, Tetens) unternommenen Versuche, die Psychologie als Wissenschaft auf Basis empirischer Beobachtung zu konstituieren.445 Bekanntlich hat Kant die Möglichkeit, dass Psychologie eine »wirkliche Wissenschaft« werden könne, mit dem Argument bestritten, dass sie nicht mathematisierbar sei, da die introspektive Methode, also Erkenntnis durch Selbst-Beobachtung des ›inneren Sinnes‹ zu erlangen, das Beobachtete durch Identität von Beobachtungssubjekt und -objekt bereits verändern und damit nie die Präzision apriorischer Erkenntnisse erreichen würde. Aus diesem Grund könne Psychologie bestenfalls einen praktisch nutzbaren Satz an Verhaltensregeln auf Basis der Beobachtung äußeren Verhaltens erreichen, wie er selbst es in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798)
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jektkonstitution die gesamte, experimentell orientierte Psychologie seit Wundt betrifft (Danziger, Kurt: Constructing the Subject. Historical Origins of Psychological Research. Cambridge [u. a.] 1990). Vgl. dazu die Studie von Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München [u. a.] 1998. Vgl. zum Diskurs Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 21–32. Vgl. Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, S. 1–24. Von der ›Unrettbarkeit‹ des Ich ist in einer längeren Fußnote die Rede (ebd., S. 18, FN 12). Vgl. ebd., bes. S. 13. Vgl. Sachs-Holmbach, Klaus: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte. Freiburg/München 1993, S. 34–43.
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ausgeführt hat.446 Die wissenschaftstheoretischen Überlegungen der Psychologen des 19. Jahrhunderts lassen sich als Auseinandersetzungen mit diesem Verdikt lesen. Das zeigt sich schon bei Kants Nachfolger in Königsberg, Johann Friedrich Herbart, der den Nachweis der Mathematisierbarkeit und damit Wissenschaftstauglichkeit der Psychologie zu bringen versucht, diese Formeln allerdings axiomatisch setzt und nicht etwa induktiv gewinnt.447 Herbart nimmt eine charakteristische Mittelposition ein: Zwar vertritt er eine mechanistische Vorstellung psychischer Vorgänge, die zu einem »System von Ursache-WirkungsRelationen [führt], deren kausale Gesetzlichkeit mathematisch konstruiert werden kann«448, doch beharrt er auf der Existenz der Seele als Substanz, in der durch Reaktion auf äußere Eindrücke Selbstbewusstsein erst entstehen kann.449 Herbart begegnet Kant’scher Kritik mit einer Theorie, die theoretische Anleihen aus der Physik mit einer Aneignung von Fichtes Subjektmetaphysik auf eigentümliche Weise kombiniert, womit die Frage nach der begrifflichen Fassung von Ich und Selbstbewusstsein eine Wendung ins Empirische nimmt: »Von den Objecten aus, und durch sie selbst geleitet, müssen wir zu Uns kommen; denn ohne sie ist das Selbstbewußtseyn eine Ungereimtheit; und eine Sache der Freyheit ist es ganz und gar nicht.«450 Selbstbewusstsein erscheint bei Herbart als Erzeugnis einer passiven Reizverarbeitung, nicht wie bei Fichte als Aktivität. Das soll ermöglichen, durch Beobachtung der Reaktion äußerer Reize Bewusstsein wissenschaftlich erforschen zu können. Dass Herbart nicht auf die Integration dieser Theorie in ein spekulatives System verzichtet, offenbart die Nähe der frühen mechanistischen, physiologisch orientierten Psychologen des 19. Jahrhunderts zur idealistischen Philosophie, die sich auch bei Gustav Theodor Fechner ab 1850 beobachten lässt. Ausgehend von Schellings Naturphilosophie, die eine Identität von Natur und Geist supponiert, klärt Fechner die Beziehung zwischen Physischem und Psychischem als funktionale Wechselbeziehung: Physische Reize lassen sich in psychische Empfindungen umsetzen, da beide auf derselben ›lebendigen‹ Kraft beruhen.451 Dieser »psychophysische Monismus« bedeutet, dass Empfindungen empirisch (physiologisch) nachweisbar werden, und zugleich profiliert er den Begriff des Unbewussten, der nun für Empfindungen genutzt wird, die unterhalb der Reizschwelle liegen.452 Hier setzt Fechner 446 Vgl. ebd., S. 78–80 u. 113–118 sowie Benetka, Gerhard: Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert. Wien 2002, S. 34f. 447 Vgl. Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 43–55. 448 Ebd., S. 69. 449 Vgl. ebd., S. 126–134. 450 Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft [1824], zit n. Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 130f. 451 Vgl. Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 43–47. 452 Vgl. Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 263–266.
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an, um in betont nicht-naturwissenschaftlichen Schriften die Schau einer – unterhalb des durch Reize Wahrnehmbaren – mystischen Verbindung aller Wesen zu vermuten, die vermittels eines ›neuen Sehens‹ ein wissenschaftlich nicht mehr herstellbares allgemeines Erklärungssystem der Welt bilden helfen könnte.453 Die Persistenz metaphysischer Elemente in der psychologischen Forschung liegt darin begründet, dass die Eigenqualität seelischer Vorgänge gegen materialistische Positionen verteidigt werden soll, die seelische Vorgänge als bloße Epiphänomene physischer Akte abqualifizieren und mithin deren Eigenständigkeit bestreiten, was wiederum die Notwendigkeit, eine eigenständige psychologische Wissenschaft zu begründen, fragwürdig macht. Zugleich ist schon bei Fechner zu sehen, dass sich eine Psychologie, die Wissenschaft zu sein beansprucht, auf Physiologie gründen muss, da nur so auf die wissenschaftlich zweifelhafte Methode der Introspektion verzichtet werden kann. An dieser Orientierung an physiologischen Verfahren anstelle von monistischer Spekulation, knüpfen Forscher an, die das Verhältnis des Physischen zum Psychischen als Parallelismus beschrieben haben. Der ›psychophysische Parallelismus‹ gestattet im 19. Jahrhundert den Anschluss der Erkenntnistheorie an naturwissenschaftliche Erkenntnisse, ohne auf metaphysischen Idealismus Verzicht leisten zu müssen.454 Friedrich Albert Lange etwa hat alle Psychologie als auf Beobachtung physiologischer Reize gegründet beschrieben und, wie die Physiologen Du Bois-Reymond und Helmholtz vor ihm455, die Beantwortung ›letzter Fragen‹ als wissenschaftlich unerreichbar ausgeschlossen. Lange orientiert sich an Kants Erkenntnistheorie, verlegt aber »die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, die Kant als Leistungen eines reinen Verstandes und einer reinen Sinnlichkeit [begriffen hat. PB], in die Struktur der Sinnesorgane.«456 Dass das nicht zu einem reinen Materialismus führt, liegt daran, dass er zugleich darlegt, dass es eine geistige Organisation geben müsse, die die Sinnesdaten synthetisiert, eine Synthetisierungsinstanz, die die Mechanik übersteigt und in der sich Subjektivität verorten lässt: »Erfassen wir aber das Ganze als Einheit, so bringen wir
453 Vgl. besonders Fick, die auch die Rezeption dieser ›induktiven Metaphysik‹ in der Literatur der Jahrhundertwende untersucht hat (Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwernde. Tübingen 1993, bes. S. 49– 104). 454 Vgl. Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 279f. 455 Vgl. zum berühmten Ignorabimus-Streit, der die Grenzen des Naturerkennens zum Gegenstand hatte, die Aufsätze des Sammelbandes: Bayertz, Kurt / Gerhard, Myriam / Jaeschke, Walter (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2007. 456 Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 276.
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in dem Akt der Synthesis unser eigenes Wesen in das Objekt hinein.«457 Mit der Annahme einer solchen Instanz behauptet sich bei Lange das Bewusstsein als erkenntnistheoretische Basiskategorie. Wilhelm Wundt, dessen Bedeutung für die Institutionalisierung der experimentellen Psychologie und dessen ausgefeilte Konzeption der Psychologie in Bezug und Abgrenzung zu Physiologie und Philosophie hier nicht dargestellt werden kann, sorgt dann durch sein Bewusstseinsmodell für die Möglichkeit, sowohl auf die mechanistische Reduktion des Bewusstseins als auch auf die Annahme einer apriorischen Instanz als Sitz von Selbstbewusstsein verzichten zu können. Ersteres wird durch Wundts Variante eines psychophysischen Parallelismus’ gewährleistet, der die Unrückführbarkeit psychischer auf physische Vorgänge betont und mittels der Vorstellung eines eigenen Kausalsystems der Psyche ihre Eigenständigkeit plausibel macht. Der Verzicht auf metaphysische Begriffe wird möglich, weil sich Wundts Konzeption von Bewusstsein von der seit Descartes schon supponierten und bei Locke und Hume auch metaphorisch ausgeführten Verräumlichung des Bewusstseins abwendet und es vielmehr dynamisch als ›Strom‹ fasst, womit er an Fechners noch zentralistisch argumentierende Fließmetaphorik anschließt und Herbarts räumliches Verdrängungsmodell abweist.458 Indem Bewusstsein nicht mehr an einen Punkt gebunden ist, in dem Gegenstände einander verdrängen, sondern als »Verlauf« verstanden wird, »aus dem durch Aufmerksamkeit spezifische Inhalte herausgehoben werden«459, wird die Vorstellung einer substanziellen Instanz ersetzbar durch eine Aktualitätstheorie, in der Bewusstsein als kontinuierliche, aktive Bewusstseinstätigkeit (Apperzeption) konzipiert wird, bei der in Verbindung stehende einzelne psychische Elemente (›reine Empfindungen‹) erfasst und mit Gefühlselementen synthetisiert werden. Das kann nicht mittels physiologischer Forschungen, sondern allein durch methodisch kontrollierte Introspektion experimentell nachgewiesen werden, womit Wundt neben dem Forschungsgegenstand auch die Methodik der empirischen Psychologie gegenüber der Physiologie abgrenzt.460 Wundts Kollegen (Ebbinghaus, G.E. Müller) sowie Schüler (Külpe) haben diese Auffassung der Psychologie als Wissenschaft, die die kantische Frage nach der Struktur des Bewusstseins und den Verfahren des Erkennens auf Basis empiri457 Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart [1866]. Band 2. Zit n. Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 277f. 458 Sachs-Holmbach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 278–286. 459 Ebd., S. 285. 460 Vgl. zur Bedeutung von Wundts experimenteller Forschung die Hinweise bei Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 79–88 sowie Mandler, George: A History of Modern Experimental Psychology. From James and Wundt to Cognitive Science. Cambridge, MA 2007, S. 51–61.
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scher Forschung bearbeitet, fortgesetzt und gegen Wundts Zweiteilung der Psychologie – in eine naturwissenschaftliche Individual- und geisteswissenschaftliche Völkerpsychologie – die Institutionalisierung der Psychologie als Naturwissenschaft betrieben.461 Die besondere Mittelposition des Faches zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ist indes in der intellektuellen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts mit Wundts völkerpsychologischem Spätwerk, Diltheys Eintreten für eine Verstehende Psychologie sowie insbesondere mit dem fachübergreifenden Erfolg der Tiefenpsychologie bestehen geblieben. Ernst Machs wissenschaftstheoretische Position ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklung der Psychologie zu lesen und stellt sich als sehr entschiedene Abwehr aller metaphysischen oder spekulativen Elemente dar, auf die frühere Forscher nicht verzichten zu können meinten. Er hat nicht danach getrachtet, »eine neue Philosophie in die Naturwissenschaft einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen.«462 Jedoch hat sein Interesse der Synthetisierung spezialisierter Forschung gegolten, für die er »Anleihen beim philosophischen Denken«463 für unvermeidlich gehalten hat. In der Tat bewegt sich seine Forschung im Grenzgebiet von Physik, Physiologie und Psychologie464, setzt diese aber in den allgemein gehaltenen Vor- und Nachbemerkungen seiner Schriften465 konsequent mit der Philosophie in Bezug.466 Seine Abgrenzungsbewegung gilt, darin Lange und Wundt nahestehend, sowohl dem metaphysischen Bewusstseinskonzept als auch dem reduktionistischen Materialismus (L. Büch461 462 463 464
Vgl. Schönpflug: Geschichte und Systematik der Psychologie, S. 271–282. Mach, Ernst: Erkenntnis und Irrtum, S. VIII. Ebd., S. 4. Diese fachliche ›Schwellenidentität‹ zeigt sich bereits in seiner wissenschaftlichen Karriere sowie insbesondere in den Denotationen seiner Lehrstühle: seit 1855 studierte er Physik und Mathematik, promovierte 1860 und habilitierte sich im Jahr darauf mit einer Arbeit über die Helmholtzsche Lehre von den Tonempfindungen und forschte dann über Psychophysik. 1864 folgte er einem Ruf nach Graz auf den Lehrstuhl für angewandte Mathematik, wurde 1867 in Prag Professor für Experimentalphysik. 1895 erfolgte ein Ruf nach Wien auf einen Lehrstuhl für Philosophie, der aber auf seinen Wunsch in einen Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften umgewidmet wurde (vgl. Diersch, Manfred: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin 1973, S. 19f). 465 Einen Hinweis auf diese funktionale Trennung der Abschnitte gibt Mach im Vorwort der ersten Auflage der »Analyse der Empfindungen«, in dem er Lesern, die sich »für allgemeinere Erörterungen« nicht interessieren, empfiehlt, »das erste und letzte Kapitel zu überschlagen« (Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. VI). 466 Seine Antimetaphysik führte dazu, dass die Mitglieder des Wiener Kreises ihn als Wegbereiter ansahen und den 1928 gegründeten Verein, der sich der »Popularisierung der wissenschaftlichen Weltauffassung« widmen sollte, »Verein Ernst Mach« nannten (vgl. Stadler, Friedrich: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des logischen Empirismus im Kontext. Frankfurt a.M. 1997, S. 188–209 u. 379–388; zur Mach-Rezeption vgl. auch ders.: Vom Positivismus zur »wissenschaftlichen Weltauffassung«. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich 1895–1934. Wien/München 1982).
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ner, Moleschott), dem der ›Empiriokritizismus‹ einen betont positivistischen, atomistischen Monismus entgegenstellt, der auf Fechnersche Spekulationen über eine Physisches und Psychisches verbindende Substanz verzichten kann.467 Der Empiriokritizismus, der seit den 1870er Jahren parallel und unabhängig voneinander von Mach und Richard Avenarius entwickelt worden ist, postuliert einen Atomismus kleinster Elemente, deren Verbindung zu erforschen Gegenstand aller empirischer Wissenschaften zu sein habe. Ob sie als physische oder psychische Elemente betrachtet werden, sei nur davon abhängig, in welcher Beziehung zu anderen Elementen sie aufgefasst werden.468 Subjekttheoretische Konsequenzen bekommt diese Theorie in den erwähnten »Antimetaphysischen Vorbemerkungen« der »Beiträge zur Analyse der Empfindungen«. Auch wissenschaftspoetisch sind Machs »Vorbemerkungen« aufschlussreich: Anders als Avenarius ist er bereit gewesen, seine Positionen in einem für ein Laienpublikum anschlussfähigen Stil zu halten und in derselben Publikation Wissenschaftspopularisierung469 mit fachspezifischer Forschung zu kombinieren, was in dem angesprochenen Abschnitt ›niederschwellige‹ Darstellungsmittel wie graphische Veranschaulichungen oder autobiografische Exkurse einschließt. Insofern könnte man die Wahl der Frage nach dem ›Ich‹ in den »Vorbemerkungen« als Strategie deuten, seine empiriokritizistische Position an einer für seine nichtfachlichen Leser anschaulichen Fragestellung zu verdeutlichen. Zugleich verweist die Insistenz, mit der die ›starke‹ Vorstellung des Ich angegriffen wird, auf die programmatische Bedeutung dieser Ablehnung: Anders als etwa bei Helmholtz oder Fechner »erhielt sich im Empiriokritizismus die Frage nach der Einheit des Subjekts als Problem«470 nicht zuletzt, weil von dieser Frage aus die eigene fachliche wie wissenschaftstheoretische Position profiliert worden ist. ›Ich‹ erscheint bei Mach als Beispiel für einen Komplex von Elementen, dessen relative Beständigkeit dazu führt, dass ihm aus denkökonomischen Gründen ein eigener Begriff zuerkannt worden ist. Dieser habe sich aufgrund seiner »praktische[n] Bedeutung nicht nur für das Individuum, sondern für die ganze Art«471 ontolo467 Vgl. dazu Hüppauf, Bernd: Das Ich und die Gewalt der Sinne. Döblin – Musil – Mach. In: Lämmert, Eberhart / Naumann, Barbara (Hg.): Wer sind wir? Europäische Phänotypen im Roman des zwanzigsten Jahrhundert. München 1996, S. 115–152, hier S. 118f. 468 Vgl. Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 141–145. 469 Präziser muss bei Machs Texten, seien sie Forschungsbeiträge oder Lehrbücher, von einer »öffentlichkeitswirksamen Präsentation naturwissenschaftlicher Bildung« eines arrivierten Wissenschaftlers gesprochen werden, was von der im 19. Jahrhundert stark expandierenden außeruniversitären Wissenschaftspopularisierung, die institutionell wie personell anders besetzt war, zu unterscheiden ist (vgl. Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München 1998, bes. S. 422–449, Zitat S. 436). 470 Hüppauf: Das Ich und die Gewalt der Sinne, S. 120. 471 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 17.
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gisiert, was den leib-seelischen Dualismus hervorgebracht habe, den der Empiriokritizismus ja ausdrücklich bekämpft. Mach betont, dass der Eindruck der Beständigkeit des ›Ich‹, der durch seine leibliche wie psychische »Continuität«472 entstehen soll, fraglich sei, wodurch die Vorstellung eines kohärenten Ich als distinkter Instanz »unrettbar«473 sei. Die Einsicht, dass das ›Ich‹ kein metaphysisches Substrat ist, sondern nur ein Ausdruck für eine bestimmte Verbindung von Elementen, lässt die scharfe Trennung zwischen Physis und Psyche fraglich werden: »Das Ich ist nicht scharf abgegrenzt, die Grenze ist ziemlich unbestimmt und willkührlich verschiebbar. Nur indem man das verkennt […], entstehen im Widerstreit der Standpunkte die metaphysischen Schwierigkeiten.«474 Mit diesem Monismus erscheint die Vorstellung eines erkenntnistheoretisch ›starken‹ Subjekts, das die Empfindungen in einer Instanz bündelt und verarbeitet, als empirisch unhaltbar und mithin verzichtbar: ›Ich‹ wird als »eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit«475 bezeichnet und damit deontologisiert. Machs Versicherung, dass damit über den praktischen Wert des ›Ich‹-Begriffs nichts ausgesagt sei476, verweist bereits auf die bei William James und Hans Vaihinger aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive betriebenen Pragmatisierungen des ›Ich‹477, die man als anders akzentuierte, aber identisch argumentierende Aktualisierungen von Kants Position hinsichtlich der menschlichen Freiheit oder der Existenz Gottes verstehen kann: Zwar sei die Realexistenz dieser Vorstellungen nicht beweisbar, doch seien sie in praktischer Perspektive ›nützliche Fiktionen‹, weshalb auf sie nicht verzichtet werden sollte. Bei Mach bedeutet das, dass das ›starke Subjekt‹ in seiner Residualform ›Ich‹ in theoretischer Hinsicht als überholt erscheint. Dies stellt eine mit physiologischer Forschung untermauerte Depotenzierung des Subjekts dar, die trotz aller pragmatischen Einschränkungen um 1900 erheblich verunsichernd gewirkt hat, wie die Hinweise zur Rezeptionsgeschichte der »Beiträge zur Analyse der Empfindungen« um 1900 unten nahelegen werden. Während das ›unrettbare Ich‹ als Formulierung bereits vor Beginn des Untersuchungszeitraums auftrat, ist Sigmund Freuds berühmtes Diktum vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist, gewissermaßen ein Nachzügler: 1917 als ein 472 473 474 475 476 477
Ebd., S. 3, FN 1. Ebd., S. 18, FN 12. Ebd., S. 9. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 23f. Zu James vgl. die knappen Angaben in Ryan, Judith: The vanishing subject. Early psychology and literary modernism, Chicago, IL [u. a.] 1991, S. 12–15 sowie allgemein und im philosophiehistorischen Kontext Pape, Helmut: Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James. Weilerswist 2002. Zu Vaihinger vgl. Ceynowa, Klaus: Zwischen Pragmatismus und Fiktionalismus. Hans Vaihingers »Philosophie des Als Ob«. Würzburg 1993.
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Eingangstext in seiner Zeitschrift »Imago« erschienen, ist der kleine Aufsatz »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«478 eher wissenschaftspolitisch als Versuch zu lesen, die Widerstände gegen das psychoanalytische Paradigma mit den Kategorien der Psychoanalyse zu deuten und zu relativieren. Für diesen Zusammenhang bemerkenswert ist sein retrospektiver Charakter: Aus strategischen Gründen stellt er die Etablierung psychoanalytischen Wissens als abgeschlossen dar und wertet sie durch die wissenshistorische Einordnung als letzte der »drei schwere[n] Kränkungen«, die die »Eigenliebe der Menschheit«479 erfahren hat, auf. Nachdem die zentrale Stellung des Menschen im Kosmos durch das heliozentrische Weltbild und in der Schöpfung durch den Darwinismus fraglich geworden sei, habe die Psychoanalyse den menschlichen Narzissmus »[a]m empfindlichsten«480 gekränkt. Freud imaginiert dazu ein Zwiegespräch zwischen Psychoanalyse und Ich, in dessen Verlauf die Illusionen des Ich über die eigene Souveränität zerstört werden: »Das Seelische in dir fällt nicht mit dem dir Bewußten zusammen; es ist etwas anderes, ob etwas in deiner Seele vorgeht, und ob du es auch erfährst.«481 Neben der Libidotheorie wird die Theorie des Unbewussten als größte »Kränkung der Eigenliebe« bezeichnet und mit der berühmten Metapher verdeutlicht, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.«482 Modernetheoretisch aufschlussreich wird die Vorstellung des ›starken‹ Subjekts mit einem alten Souverän verglichen, der den Kontakt zu seinen Untertanen verloren hat und sie ohne Wissen über diese regiert.483 Man könnte also formulieren, dass die monarchische Vorstellung des ›Ich‹ vor dem Hintergrund moderner Tiefenpsychologie als in der Moderne untauglicher Anachronismus erscheint, an dem wider besseren Wissens festgehalten wird. Angesichts dieser Kränkung verwundert es Freud nicht, »daß das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert.«484 Dass der Text nicht bei dieser Feststellung endet, sondert betont, dass bereits »namhafte Philosophen«485 wie Schopenhauer die Existenz des Unbewussten erkannt hätten, verweist erneut auf die Textstrategie der Etablierung der psychoanalytischen Lehre durch Integration in kanonisierte Traditionslinien. Diese Zugehörigkeit ist überdies präzise das, was hier an Freuds psychoanalytischer Theorie interessieren soll – und damit soll der retrospektive Modus des Textes gegen seine wis478 Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917]. In: Ders.: Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband. Hgg. v. Anna Freud (u. a.). Band 12: Werke aus den Jahren 1917–1920. Frankfurt a.M. 1999, S. 3–12. 479 Ebd., S. 6f. bzw. 6. 480 Ebd., S. 8. 481 Ebd., S. 10f. 482 Beide Zitate ebd., S. 11. 483 Vgl. ebd. 484 Ebd. 485 Ebd., S. 12.
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senschaftspolitische Intention ernst genommen werden. Weder die spezifischen Aspekte und Theoreme seines Analyseverfahrens und seiner Psychologie, deren subjekttheoretisch interessantestes Modell ohnehin erst 1923 publiziert worden ist486, noch die hinlänglich beforschten wie problematisierten Wissenstransfers zwischen Psychoanalyse und Literatur487 sind für die Depotenzierung des Subjekts von Bedeutung, sondern der Umstand, dass sich Freuds Theorie des Unbewussten in eine lange Tradition einordnen lässt, als deren wirkungsgeschichtlich wichtigster Proponent er im 20. Jahrhundert gelten kann. Die Wichtigkeit der Entdeckung des ›Unbewussten‹ für die Semantik ›starker‹ Subjektivität dürfte auf der Hand liegen: Dort, wo es Bewusstseins- oder metaphysische Konzepte tangiert hat, sind Vorstellungen von Selbsttransparenz, Autonomie und Kontinuität des Subjekts fragwürdig geworden. Man hat angegeben, dass die Frühgeschichte »über diverse Zwischenstufen: Kepler, Paracelsus, die Mystik, den Neuplatonismus, Platon, zumindest bei Heraklit, im außereuropäischen Bereich bei den Upanishaden« ansetzen müsste und dass zur engeren Entstehungsgeschichte »wenigstens deutsche (aber auch englische, französische, italienische) Philosophie, französische (aber auch angloamerikanische und deutsche) Psychiatrie und die schon gar nicht mehr national einzugrenzende Literatur und Kunst«488 zu zählen wäre – eine weit verzweigte Genealogie also, die durch begriffliche Varianz und allgegenwärtige Metaphorisierung – des Dunklen, Tiefen, Verborgenen – weiter verkompliziert wird. Da diese Entstehungsgeschichte gut aufgearbeitet ist489, können Hinweise genügen. Nachdem das Un486 Gemeint ist natürlich Freuds Differenzierung des Bewusstseins in ›Ich‹, ›Es‹ und ›Über-Ich‹, wie sie 1923 vorgeschlagen wurde (vgl. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es [1923]. In: Ders.: Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband. Hgg. v. Anna Freud (u. a.). Band 13: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse/ Das Ich und das Es. Frankfurt a.M. 1972, S. 235–289. 487 Vgl. nur für den Untersuchungszeitraum die einschlägigen Arbeiten von Urban, Bernd: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Quellenkundliche Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1978; Worbs: Nervenkunst, Thomé: Autonomes Ich und inneres Ausland u. Schwarz: Das Wirkliche und das Wahre sowie den Sammelband von Anz (Anz, Thomas (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Würzburg 1999. Vgl. ebd. bes. Titzmann, Michael: Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unbewußten in der Frühen Moderne, S. 183–218). 488 Lütkehaus, Ludger: Einleitung. In: Ders. (Hg.): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt a.M. 1989, S. 7–45, hier S. 10f. u. 11. 489 Neben der in der vorigen Fußnote angeführten Einleitung sei auf die Arbeiten von Ellenberger, Carroy und Gödde, die Sammelbände von Buchholz und Gödde sowie die instruktiven Artikel von Wegener und Mies hingewiesen (Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten [engl. 1970]. 2 Bände. Bern [u. a.] 1973; Carroy, Jacqueline: Hypnose, suggestion et psychologie. L’invention des sujets. Paris 1991; Gödde, Günter: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Überarbeitete Neuauflage der Ausgabe von 1999. Gießen 2009; Buchholz, Michael B. / Gödde, Günter (Hg.): Das Unbewusste. Ein Projekt in drei Bänden. Gießen 2005–2006; Wegener, Mai: Art. Unbewußt/das
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bewusste von Descartes durch Gleichsetzung des Seelischen mit Bewusstheit aus der philosophischen Erkenntnistheorie ausgeschlossen worden ist, erfolgte die erkenntnistheoretische Inauguration der »Tiefenphilosophie«490 erst bei Leibniz. Nach ihm gibt es eine nie unterbrochene Kontinuität der Perzeptionen, die dadurch gewährleistet wird, dass darunter nicht nur klare und deutliche, sondern auch ›petites perceptiones‹ fallen, die dem Bewusstsein entgehende Vorstellungen bezeichnen, zu der die Erkenntnisform der ›cognitio obscura‹ gehört.491 Diese wird von seinen Popularisierern Wolff und Platner verdeutscht, wobei letzterer den Begriff »Unbewußtseyn« prägt. Diese Begrifflichkeit tangiert die philosophische Ästhetik wie die Aufklärungspsychologie, bei der das Unbewusste als ›dunkle Erkenntnis‹ zur Grundlage der Seele erklärt wird, ohne die klare Erkenntnis gar nicht möglich wäre.492 Schon bei K.Ph. Moritz lässt sich der zumal in der romantischen Literatur und Psychologie um 1800 deutliche Bedeutungszugewinn des Unbewussten beobachten, der eine deutlich affirmative Tendenz besitzt.493 Beginnend mit der Romantik und dem deutschen Idealismus ist es notwendig, zwei Formen des Unbewussten voneinander zu unterscheiden, die im 19. Jahrhundert unterschiedliche Traditionslinien gebildet haben. Die erste Form könnte man als das ›erkenntnistheoretisch Unbewusste‹ bezeichnen und umfasst physiologische und psychologische Forschungen, in deren Verlauf der Terminus ›unbewusst‹ »erstmals einen wissenschaftlich-empirischen Status beansprucht.«494 Dieses ›erkenntnistheoretisch Unbewusste‹ ist auch deshalb besonders wichtig, weil sich hier die »Entdeckung des Unbewußten […] als Kritik der neuzeitlichen Subjektphilosophie«495 vollzieht, wie sie um 1900 unter anderen bei Nietzsche und Freud explizit gemacht wird. Bis zur Mitte des Jahrhunderts haben Herbart wie Fechner über die Dynamisierung psychischer Prozesse sowie die Annahme von Bewusstseinsschwellen die innerpsychische Divergenz von bewussten und nichtbewussten Vorstellungen thematisiert.496 In der deutschsprachigen akademischen Psychologie ist das ›Unbewusste‹ allerdings am Ende des Jahrhunderts umstritten gewesen: Für Wundt lag es außerhalb der empirisch überprüfbaren Erfahrung, während es Theodor Lipps auch für die empirische Psychologie für unverzichtbar erachtete.497 Entscheidende Bedeutung hatten
490 491 492 493 494 495 496 497
Unbewußte. In: ÄG 6, S. 202–240; Mies, Thomas: Art. Unbewusste, das. In: Enzyklopädie Philosophie 3, S. 2820–2828). Lütkehaus: Einleitung, S. 9. Vgl. Wegener: Art. Unbewußt/das Unbewußte, S. 205f. Vgl. ebd., S. 207f. Vgl. ebd., S. 209f. Ebd., S. 215. Lütkehaus: Einleitung, S. 13. Vgl. ebd., S. 30–33. Vgl. Wegener: Art. Unbewußt/das Unbewußte, S. 220.
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Vorstellungen des ›Unbewussten‹ hingegen als Grundlage der frankophonen Psychiatrie und Psychologie. Vermittelt über magnetistische und spiritistische Konzepte (Mesmer u. a.)498 wurden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Konzepten und Therapieverfahren entwickelt, die die Souveränität des Bewusstseins und damit ›starke‹ Subjektivität in Zweifel zogen.499 Dies geschah etwa durch Annahme eines physiologischen (Ribot) oder vererbten Unbewussten (Le Bon)500, aber auch durch psychiatrische Forschungen, die der in Frankreich verbreiteten Auffassung entsprachen, dass die »Analyse pathologischer Veränderungen der psychischen Leistungen Aufschlüsse über die normale, gesunde Funktionsweise dieser Leistungen liefern konnte«501: Dazu zählten die Behandlung der Hysterie mittels Hypnose (Charcot, Bernheim) wie auch Arbeiten zur Genese und Behandlung von Neurosen (Janet)502 oder zu Psychopathologien des Gedächtnisses, des Willens und der Persönlichkeit (Binet, Ribot). Um 1900 wird in Frankreich der Begriff der »Depersonalisation« eingeführt (Ludovic Degas)503 und eine Reihe von Theorien zu der damit bezeichneten Desintegration des Selbst aufgestellt, die auch im deutschsprachigen Raum rezipiert worden sind.504 Die zweite Form, zu der sich das Unbewusste um 1800 entwickelt, kann man das ›metaphysisch Unbewusste‹ nennen. Seine Grundlagen hat diese Form in romantischen Entwürfen eines ›vitalen Unbewussten‹ und durch die Übertragung von Elementen des im 18. Jahrhundert aufkommenden Begriffs der ›Le-
498 Vgl. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Band 1, S. 89–137 sowie Schott, Heinz: Die »Strahlen« des Unbewußten – von Mesmer zu Freud. In: Wolters, Gereon (Hg.): Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Wissenschaft, Scharlatanerie, Poesie. Konstanz 1988, S. 55–70. 499 Vgl. Carroy: L’invention des sujets, S. 5–31. 500 Vgl. Wegener: Art. Unbewußt/das Unbewußte, S. 222. 501 Krämer, Olav: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin 2009, S. 42, weitere Verweise auf die Verbreitung dieser Überzeugung ebd, FN 72. Darauf, dass in Frankreich die Psychopathologie Vorreiterin in der Entwicklung von Persönlichkeitstheorien war, verweisen auch Lombardo, Giovanni Pietro / Foschi, Renato: The concept of personality in 19th-century French and 20th century American psychology. In: History of Psychology 6,2 (2003), S. 123–142. 502 Vgl. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Band 1, S. 137–161 u. 485–538. 503 Vgl. Wolfradt, Uwe; Pierre Janet und die Depersonalisation. In: Fiedler, Peter (Hg.): Trauma, Dissoziation, Persönlichkeit. Pierre Janets Beiträge zur modernen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Internationales Symposium über die Bedeutung von Pierre Janet für die Moderne Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie in Freiburg i. Br., 4.,5. und 6. Juni 2005. Lengerich [u. a.] 2006, S. 180–193, hier S. 180f. 504 Vgl. ebd., S. 183–191 sowie Wolfradt, Uwe: Die Ich-Theorie Traugott Konstantin Oesterreichs vor dem Hintergrund der Psychologie Pierre Janets. In: Fiedler, Peter (Hg.): Psychotherapie: Vom Automatismus zur Selbstkontrolle. Pierre Janets Beiträge zur modernen Psychiatrie und Psychologie. Band 2. Lengerich [u. a.] 2010, S. 112–125.
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benskraft‹505 (Reil, Carus) erhalten, durch das es bei Schelling zu einem dynamischen, metaphysischen Prinzip entgrenzt wurde.506 Bei diesem findet sich der neu gefasste Willensbegriff als ›blinder Eigenwille‹507, der besonders in den Metaphysiken von Schopenhauer und Eduard v. Hartmann enorm wirkmächtig geworden ist, was der Verbreitung des Begriffs des Unbewussten enorm förderlich war.508 Das dergestalt metaphysisch konzipierte Unbewusste ist um 1900 besonders in den vitalistischen und lebensphilosophischen Konzepten der Lebensemphase präsent geworden, in der das partikulare Individuum gegenüber dem übergreifenden, dynamisch fließenden All-›Leben‹ abgewertet worden ist.509 Friedrich Nietzsche, der einer der, wenn nicht der wichtigste Kritiker des ›starken‹ Subjekts überhaupt ist, lässt sich, wie bei einem so wenig systematischen und stilistisch wie thematisch variantenreichen Denker510 zu erwarten, schwer in ein derart grobes Schema einordnen und ist subjekttheoretisch nicht allein durch Thematisierung und Aufwertung des Unbewussten anzuführen. Vielmehr komplettiert er das subjektkritische Triumvirat neben Mach511 und Freud512, mit denen er vor allem die antimetaphysische Stoßrichtung teilt, und verbindet die beiden Genannten miteinander. Als Verbindungsglied zwischen beiden kann er insofern gelten, als dass er Machs naturwissenschaftlich fun505 Vgl. Goldmann, Stefan: Von der Lebenskraft zum Unbewußten. Konzeptwandel in der Anthropologie um 1800. In: Appell, Rainer G. (Hg.): Homöopathie und Philosophie & Philosophie der Homöopathie. Eisenach 1998, S. 149–174. 506 Vgl. Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«, S. 35–54. 507 Vgl. Ramelow (u. a.): Art. Wille, Sp. 784f. 508 Vgl. Lütkehaus: Einleitung, S. 39. 509 Vgl. zu diesem Zusammenhang nur Albert, Karl: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács. Freiburg [u. a.] 1995; Fellmann, Ferdinand: Lebensphilosophie. In: Ders. (Hg.): Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie. Reinbek 1996, S. 269–350; Kozljanicˇ, Robert Josef: Lebensphilosophie. Eine Einführung. Stuttgart 2004. 510 Aus diesem Grund stellt es auch keinen Widerspruch dar, dass er in Abschnitt 3.4.3 dieses Teils auch als Propagator hypertropher Individualität vor dem Hintergrund der Kritik an der Mediokrität seiner Zeit vorgestellt worden ist: Das multiperspektivische Denken Nietzsches hat beide Positionen ermöglicht. Während die Nietzsche-Rezeption bis 1900 stark auf den Nietzsche des Übermenschen fokussiert war – freilich nicht ohne dass informierte Leser den anderen kennen konnten, wie die Briefwechsel mit Georg Brandes und August Strindberg unten belegen werden –, ist es der das Subjekt unterminierende Theoriecluster, der für die Denker des 20. Jahrhunderts anschlussfähig sein wird. 511 In einem aktuellen Kommentar zur »Götzen-Dämmerung« wird vermutet, dass Nietzsche Machs »Beiträge zur Analyse der Empfindungen« wohl nur oberflächlich gekannt hat (vgl. Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner – Götzen-Dämmerung. Berlin/Boston 2012, S. 339. Dort wird auch verwiesen auf die Dissertation von Gori, Pietro: La proposta antimesafisica di Nietzsche e Mach. Neapel 2007). 512 Zum Verhältnis von Nietzsche zu Freud vgl. die sehr umfangreiche Studie von Gasser, Reinhard: Nietzsche und Freud. Berlin [u. a.] 1997 sowie Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«, S. 466–570.
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dierte513 Erkenntniskritik mit einer entlarvenden Tiefenpsychologie514 verbindet, die von der Annahme ausgeht, dass das dem Bewusstsein Verborgene das philosophisch wie handlungspraktisch Entscheidende ausmacht. Nietzsches subjektkritische Position erklärt sich aus seiner Kritik an den seinsmetaphysischen Grundlagen der westlichen Philosophie515, deren Grundbegriffe er zugunsten ihrer Gegenbegriffe abwertet: So präferiert er Werden statt Sein, Leib statt Vernunft, Individuum statt Gattung. Das ›starke‹ Subjekt ist dabei auch deshalb ein in allen Werkphasen angegriffenes Konzept, weil es zwar mindestens seit Descartes »eines der grundlegenden Glaubensartikel der abendländischen Metaphysik«516 ist, aber aufgrund seines Grundlagencharakters auch nicht ohne Alternativkonzept aufgegeben werden kann. Es wird auch deshalb so hartnäckig befehdet, weil sich an ihm ein Kernaspekt nietzscheanischer Erkenntniskritik explizieren lässt: die Determiniertheit des Denkens durch Sprache. Bekanntlich hat Nietzsche diese bereits in der frühen, erst aus dem Nachlass veröffentlichten Schrift »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« (1873) ausgeführt. Sie muss auch deshalb erwähnt werden, weil hier die sprachkritischen These, nach der die ›Wahrheit‹ und ›Adäquatheit‹ von Begriffen als vergessene Konventionen und Anthropomorphismen517 erscheint, mit der Beobachtung verbunden wird, dass im Vergessen dieser Konventionalität eine »Unbewusst513 Vgl. zu Nietzsches Kenntnis naturwissenschaftlicher, besonders physiologischer und psychiatrischer Forschung den Überblick von Brobjer sowie die Studien von Lampl und der von diesem herausgegebene Sammelband (Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Reading and Knowledge of Natural Science. An Overview. In: Ders. / Moore, Gregory (Hg.): Nietzsche and Science. Aldershot/Burlington, VT 2004, S. 21–50; Lampl, Hans Erich: Ex oblivione: Das Féré-Palimpsest. Noten zur Beziehung Friedrich Nietzsche – Charles Féré (1857–1907). In: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 225–264; ders.: Flair du livre. Friedrich Nietzsche und Théodule Ribot. Eine Trouvaille. Zürich 1988; ders. (Hg.): Zweistimmigkeit – Einstimmigkeit? Friedrich Nietzsche und Jean-Marie Guyau. Cuxhaven 1990). 514 Zur psychologischen Rhetorik und freudianischen Präfigurationen vgl. Neymeyr, Barbara: »Psychologie ist der Weg zu den Grundproblemen«. Nietzsche als Aufklärer. In: Dies. / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche als Philosoph der Moderne. Heidelberg 2012, S. 73– 98. 515 Vgl. dazu den Aufsatz von Giegel, der die relevanten Textstellen aus Nietzsches veröffentlichtem wie nachgelassenen Werk versammelt und nachweist, dass Nietzsche der Gegenwart einen angesichts des Geltungsverlusts christlicher Metaphysik zwar eingeleiteten, aber »inkonsequenten Nihilismus« vorwirft, der durch eine radikale Umwertung der Werte zu vollenden sei (Giegel, Hans-Joachim: Der Mensch – eine nicht enden wollende Selbsttäuschung. Nietzsches Kritik der Moderne. In: Corsten, Michael / Kauppert, Michael (Hg.): Der Mensch – nach Rücksprache mit der Soziologie. Frankfurt a.M. 2013, S. 243–302, Zitat S. 289). 516 Schlimgen, Erwin: Nietzsches Theorie des Bewußtseins. Berlin 1998, S. 43, vgl. auch S. 25–32. 517 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873]. In: KSA 1, S. 873–890, S. 877f. u. 880f. In den Fußnoten werden die Bände der Studienausgabe wie üblich mit der Sigle KSA und der Bandzahl angegeben, die vollständige bibliographische Angabe wird im Literaturverzeichnis nachgereicht.
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heit«518 zum Ausdruck kommt, die auf die Unkenntnis des Menschen über sein Bewusstsein hindeutet: »Was weiss der Mensch schon von sich selbst! […] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn […] in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen!«519 Schon dieser frühe Text zeigt, wie eng verbunden bei Nietzsche Sprachlichkeit, Bewusstsein und Unbewusstes sind und dass ihm zufolge die (philosophie-) historische Überschätzung der Wirklichkeitsadäquatheit von Sprache unser Bild von Bewusstsein verformt und das Unbewusste verborgen hat. So heißt es im 115. Text der »Morgenröthe« (1881) unter der Überschrift »Das sogenannte Ich«: »Wir sind alle nicht Das, als wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte […] haben; […] wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst.«520 Diese Sprachkritik wird in »Jenseits von Gut und Böse« (1886) und der »Götzen-Dämmerung« (1889) gegen das Subjekt der philosophischen »Dogmatiker«521 gerichtet, so dass der »Subjektund Ich-Aberglaube«522 als bloßes »Wortspiel«523 erscheint, als eine »Fiktion«524, die nur insofern Existenzberechtigung besitzt, als sie der Erhaltung und Förderung des Lebens dienlich ist.525 Die Hartnäckigkeit des Subjekt-Gedankens führt Nietzsche auf die Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur der Sprache zurück526: Es liege an der »Verführung der Sprache […], welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ›Subjekt‹ versteht und missversteht«527, indem zur Tätigkeit ein »›Thäter‹ […] bloss hinzugedichtet«528 wird.529 Gegen das aufgrund der Struktur von Sprache für Realität behauptete Kausalitätsdenken eines »Ich als Gedanken-Ursache«530 postuliert Nietzsche die Passivität des Bewusstseins eines handelnden Menschen: »[D]u wirst gethan! […] Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger gramma-
518 Ebd., S. 881. 519 Ebd., S. 877. 520 Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe [1881]. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. In: KSA 3, S. 9–331, S. 107f. 521 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse [1886]. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: KSA 5, S. 9–243, S. 11. 522 Ebd. 523 Ebd. u. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1889]: In: KSA 6, S. 55–161, S. 91. 524 Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 91, vgl. auch ebd, S. 76–78. 525 Vgl. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 18 u. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral [1887]. Eine Streitschrift. In: KSA 5, S. 245–412, S. 280f. 526 Vgl. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 54. 527 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 279. 528 Ebd. 529 Vgl. auch Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 77. 530 Ebd., S. 30.
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tikalischer Schnitzer.«531 Gegen die philosophische Tradition von Descartes bis Kant, die auf diese sprachstrukturell determinierte ›starke‹ Subjektvorstellung Vorstellungen von Erkenntnis, Bewusstsein und ethischer Autonomie532 aufbaut, entwickelt Nietzsche eine Theorie des Bewusstseins533, dessen im Nachlass entworfenes »organologische[s] Bewußtseins-Modell«534 hier nicht rekonstruiert werden muss. Wichtiger für den Zusammenhang der Depotenzierung des Subjekts ist seine Insistenz auf das sprachlich unerreichbare Nicht-Bewusste, das entscheidende Handlungsimpulse gibt – eine Aufwertung des Unbewussten, die in der Thematisierung von Verdrängung und Trieb-Sublimierung proto-freudianische Züge trägt.535 Nietzsche beschreibt die Überzeugung, die Motive des eigenen wie fremden Handelns zu kennen, als illusionär.536 Das dafür in Anschlag gebrachte Bewusstsein wird in seiner Bedeutung überschätzt537 – an seiner Statt ist ein »Verband der Instincte« als »Regulator«538 vonnöten, die Fehlurteile des Bewusstseins korrigieren muss, damit der Mensch lebensfähig ist. Anstelle des Bewusstseins ist es eine unbewusst wirkende Vielheit von physiologischen Reizen, Trieben, Tugenden und ererbten Eigenschaften539, die unser Handeln bestimmen, während Bewusstsein als Selbstreflexion des Handelnden lediglich »ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist«.540 Da das so ist, sind wir für unser Handeln eben so wenig verantwortlich wie für unsere Träume.541 Wie das letzte Zitat andeutet, steht Bewusstsein bei Nietzsche in Verbindung mit Sprachlichkeit, bzw. allgemeiner, mit Zeichengebrauch. In der »Fröhlichen Wissenschaft« (1882) wird die Funktion von Bewusstsein in menschlichem Selbsterhalt gesehen, der nur durch die Kommunizierbarkeit eigener Bedürfnisse gewährleistet ist542, woraus ein korrelatives Verhältnis zwischen ihnen entsteht: »[D]ie Entwicklung 531 Nietzsche: Morgenröthe, S. 115. 532 Zur anti-kantianischen Stoßrichtung von Nietzsches späten Subjektüberlegungen vgl. Brusotti, Marco: Die Autonomie des »souveränen Individuums« in Nietzsches »Genealogie der Moral«. In: Nietzsche-Studien 48 (2019), S. 26–48. 533 Vgl. Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewußtseins, S. 43–87 sowie Striet, Magnus: Das Ich im Sturz der Realität. Philosophisch-theologische Studien zu einer Theorie des Subjekts in Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Friedrich Nietzsches. Regensburg 1998. 534 Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewußtseins, S. 51. 535 Vgl.dazu die Hinweise bei Neymeyr: »Psychologie ist der Weg zu den Grundproblemen«, S. 94–98. 536 Vgl. Nietzsche: Morgenröthe, S. 108f. 537 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (»La gaya scienza«) [1882]. In: KSA 2, S. 343–651, S. 383. 538 Ebd., S. 382. 539 Vgl. bes. Nietzsche: Morgenröthe, S. 111f. u. 118f. sowie ders.: Die fröhliche Wissenschaft, S. 380f. 540 Nietzsche: Morgenröthe, S. 113. 541 Vgl. ebd. 542 Vgl. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 590f.
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der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand.«543 Aus dieser anthropologischen Funktionalisierung des Bewusstseins folgt für Nietzsche, dass »das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist«.544 Die bewusste Welt wird hier also als »eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt«545 abgewertet, die das Erkennen verfälscht und aufgrund Zeichengebrauchs oberflächlich macht, was bedeutet, dass das Erkennen der ›Wahrheit‹ gerade nicht über das Bewusstsein als anthropologischer Universalie möglich546 und ›allgemein gültig‹ sein kann, sondern lediglich ein perspektivisch gebundenes Erkennen möglich ist.547 Das Subjekt als »›reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss‹«548 wird mithin sowohl aus sprach- wie bewusstseinsphilosophischer Perspektive als Fiktion entlarvt. An die Stelle einer monadologischen Vorstellung des Subjekts setzt Nietzsche die Pluralisierung des Ich bzw. der »›Seele als Subjekts-Vielheit‹«549 und entlarvt Vorstellungen von der Kausalität menschlichen Handelns550 und des freien Willens551 als naive Vereinfachungen komplexer, unbewusster Vorgänge, die das Souveränitätsgefühl des Menschen geschaffen hat. Seine die philosophisch unhaltbar gewordene Subjekt-Vorstellung ersetzenden Konzepte – besonders der großen Vernunft des Leibes, des ›Willens zur Macht‹ und der Selbstüberschreitung des Menschen als ›Übermenschen‹ – haben eine betont individualistische, inegalitäre Dimension, deren Rezeption die frühe Wirkungsgeschichte Nietzsches zwar dominiert, aber, wie unten zu zeigen sein wird, die Subjektkritik nicht vollständig überlagert hat. Ebenso wenig ist Nietzsches Selbststilisierung als Solitär zu glauben: Weder ist seine Bewusstseinskritik ohne Vorläufer oder Zeitgenossen552, noch sind nicht etwa in Mauthners Sprachkritik, Wittgensteins Metaphysikver543 544 545 546 547 548 549 550 551 552
Ebd., S. 592. Ebd. Ebd., S. 593. Vgl. ebd. Vgl. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 365. Ebd. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 27. Vgl. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 90f. Vgl. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 33f. Vgl. nur die extensive, über drei Dutzend Titel aufführende Liste der Quellen für Nietzsches »Götzen-Dämmerung« in einem neueren Nietzsche-Kommentar: Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner und Götzen-Dämmerung. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Band 6/1. Berlin/Boston 2012, S. 202. Vgl. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Reading and Private Library 1885–1889. In: Journal of the History of Ideas 58 (1997), S. 663–693 sowie ders.: Nietzsche’s Reading and Knowledge of Natural Science. An Overview. In: Ders. / Moore, Gregory (Hg.): Nietzsche and Science. Aldershot/Burlington, VT 2004, S. 21–50.
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zicht wie in Freuds Tiefenpsychologie analoge Verfahren der Subjektkritik um 1900 virulent geworden.553 Nietzsches Philosophie, besonders sein Angriff auf metaphysische Traditionsbestände wie dem ›starken‹ Subjekt, ist auch um 1900 keine isolierte Position gewesen – das sollten die obigen Ausführungen verdeutlicht haben.
3.5.2 Dezentrierungen des ›starken‹ Subjekts Ein Überblick über die Problematisierungen des ›starken‹ Subjekts wäre unvollständig, wenn er nicht diejenigen Theoriebestände einbezöge, die die hervorgehobene Position eines souveränen, selbstmächtigen und kohärenten Subjekts zugunsten anderer Konzepte aufgegeben hätten. Sie unterscheiden sich von den skizzierten ›Depotenzierungen‹ darin, dass bei ihnen Subjektivität nur noch als Epiphänomen oder in Abhängigkeit zu einem nicht diesem semantischen Feld angehörenden Zentralbegriff behandelt wird. Die Verunsicherung, die Ende des 19. Jahrhunderts um das ›starke‹ Subjekt entsteht, steht, so die mit diesem Abschnitt verbundene These, auch in Bezug zu impliziten Verabschiedungen dieser Semantik. Diese Verabschiedungen erfolgten in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind oder dann ihre Institutionalisierung erfahren haben. Wenn Foucault für das 20. Jahrhundert Linguistik, Ethnologie und Psychoanalyse als Disziplinen nennt, die ›den Menschen‹ dezentrieren, dann ist dem zuzustimmen.554 Aus der Perspektive der Problematisierung ›starker Subjektivität‹, die mit der wissenschaftlichen Behandlung ›des Menschen‹ nicht identisch ist, muss aber darauf verwiesen werden, dass Dezentrierungstendenzen in anderen Disziplinen früher eingesetzt haben. Fasst man die verschiedenen in Frage kommenden Disziplinen bzw. kulturellen Phänomene zu Tendenzen zusammen, ergeben sich drei, in denen die Dezentrierung des Subjekts besonders virulent war: Erstens gilt das für alle Tendenzen, das Subjekt zu quantifizieren, wodurch es zu einer statistischen Größe wird (Statistik, Experimentalpsychologie, ›Normalismus‹), zweitens für das Paradigma der biologischen Genealogie, in der der Mensch nicht als Einzelner, sondern in phylogenetischer Perspektive vorkommt (biologische An553 Zu Wittgenstein vgl. Gabriel, Gottfried: Solipsismus: Wittgenstein, Weininger und die Wiener Moderne. In: Bachmaier, Helmut (Hg.): Paradigmen der Moderne. Amsterdam [u. a.] 1990, S. 29–48 sowie Birk, Andrea: Vom Verschwinden des Subjekts. Eine historischsystematische Untersuchung zur Solipsismusproblematik bei Wittgenstein. Paderborn 2006. Zu den beiden anderen Autoren vgl. die Literaturhinweise oben (Freud) und unten (Mauthner). 554 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge.
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thropologie, Vererbungslehre, ›Sozialdarwinismus‹) und drittens für Tendenzen, in denen soziale Gefüge bis hin zu ›Gesellschaft‹ gegenüber Subjekten privilegiert werden, in denen das Subjekt also als abhängiger Teil sozialer Verhältnisse erscheint (politische wie Nationalökonomie, Soziologie, Massenpsychologie). Um in den erwähnten Disziplinen auch nur oberflächlich die Bezüge zur Subjektdezentrierung aufzuweisen, wären allerdings umfangreiche Rekonstruktionen nötig, die hier nicht geleistet werden können. Was in der Folge geleistet werden kann, sind erste Hinweise, die den behaupteten Umstand der Subjektdezentrierung wenigstens hinreichend plausibel machen sollen. Dass die Dezentrierungstendenzen um 1900 für die Frage nach dem Subjekt literarisch virulent geworden sind, soll im Analyseteil u. a. am konkreten Beispiel der aus der Psychologie in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Semantik der ›Masse‹ gezeigt werden: Da ›Masse‹ die Dezentrierung ›starker‹ Subjektivität implizierte, können gerade Momente dramatischer ›Rezentrierungen‹ des Subjekts Belege für das Irritationspotential derart das Subjekt dezentrierender Semantiken wie der ›Masse‹ bieten. Da die Massensemantik der Jahrhundertwende zu Beginn des es betreffenden Analysekapitels rekonstruiert wird, wird an dieser Stelle auf eine Darstellung verzichtet. Von großer Wichtigkeit für die Zurückdrängung des ›starken‹ Subjekts bzw. des Individuums als zentraler Bezugsgröße für Sozial- und Lebenswissenschaften dürfte die im 17. und 18. Jahrhundert durch die Durchsetzung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Bayes, Jakob Bernoulli, Laplace)555 vorbereitete Sozialstatistik sein, die als Bevölkerungsstatistik (Malthus) und insbesondere als Anthropometrie (Quetelet) mittels quantifizierender Verfahren eine makrologische Perspektive auf soziale Verhältnisse eingenommen hat. Quetelets Konstruktion des Durchschnittsmenschen (l’homme moyen) als statistischer Bezugsgröße hat im frühen 19. Jahrhundert nach Jürgen Link556 dem »Normalismus« zum Durchbruch verholfen, einem Geflecht von Diskursen und Dispositiven, das verschiedentlich umfangreiche Bereiche des Normalen gegen Nicht-Normales abgrenzt und als »historisch spezifische, von der westlichen Moderne nicht ablösbare Emergenz seit dem 18. Jahrhundert«557 zu beschreiben ist. Normalismus hat die Funktion, die beschleunigte Dynamik der Moderne mittels eines versichernden Mittelbereichs des Normalen verarbeitbar zu machen, was im 19. Jahrhundert im Wesentlichen über die »protonormalistische
555 Vgl. Hacking, Ian: The emergence of probability. A philosophical study of early ideas about probability, induction and statistical inference. London [u. a.] 1975; ders.: The taming of chance. Cambridge [u. a.] 1990. 556 Vgl. für das Folgende: Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage. Göttingen 2006. 557 Ebd., S. 39.
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Strategie«558 erfolgt, die einen engen, unflexiblen Bereich des Normalen mit der Sanktionierung des nicht Normalen verbindet.559 Ihre letztlich kompensatorische Funktion hinsichtlich der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer spürbarer werdenden Folgelasten der Modernisierung steht in subjektsemantischer Perspektive zu den erwähnten kompensatorischen Sozialfiguren des Genies, des ›großen Mannes‹ oder des Helden in einem komplementären Verhältnis, insofern die protonormalistische Strategie gerade nicht die Exzeptionalität des Einzelnen betont und mithin ›starke‹ Subjektivität residual bewahrt, sondern durch die Schaffung eines Normalbereichs eine individuellem Handeln vorgelagerte Orientierungsgröße des ›Mittleren‹ konstruiert wird, die ohne Bezug auf Subjektsemantik auskommt. Insofern ist ›Normalismus‹ eine für Subjektdezentrierung bezeichnende Diskursstrategie. Ihre empirische Grundlage, die statistische ›Verdatung‹ des Menschen, impliziert eine globale Perspektivierung des Sozialen, die für die frühe Soziologie anschlussfähig war. Die zweite Tendenz, den Menschen in phylogenetischer Perspektive zu betrachten, nimmt seinen Ausgang in den Deszendenztheorien Lamarcks und besonders Darwins560, aus denen sich in den 1860er Jahren – und damit vor Darwins eigener Schrift »The descent of man« (1871) – die biologische Anthropologie entwickelt, die Darwins Evolutionslehre auf den Menschen anwendet (Haeckel, Th. Huxley) und Beiträge zur ersten Popularisierung der These von der Abstammung des Menschen vom Affen leistet (L. Büchner, Vogt).561 Sie weist mit der Kraniologie eine bis zur Jahrhundertwende unumstrittene fachspezifische, empirisch gedeutete Methode auf, die belegt, dass nicht individuelle, sondern gattungsmäßige bzw. später ›rassische‹ Unterschiede nachgewiesen werden sollten.562 Neben diesen im engeren Sinne fachspezifischen Verarbeitungen des Darwinismus entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eugenik und Sozialdarwinismus, deren Gemeinsamkeit die »Darwinsche Theorie und ihre Anwendung auf die menschliche Gesellschaft«563 war. Beide Ansätze blieben nicht bei theoretischen Überlegungen zur Bedeutung der darwinistischen 558 Ebd., S. 54. 559 Vgl. ebd., bes. das Schema auf S. 57f. 560 Zur komplexen Rezeptionsgeschichte der Darwinschen Theorie, die bekanntlich auch eine der missdeutenden Verschlagwortung ist, vgl. nur die Überblicksartikel von Bowler und Solies, die zudem die einschlägige Forschung anführen (Bowler, Peter J.: Evolution: Ein öffentlicher Streitfall seit 1859. In: Schwarz, Angela (Hg.): Streitfall Evolution. Eine Kulturgeschichte. Köln [u. a.] 2017, S. 62–75 sowie Solies, Dirk: Darwinismus als Kampf aller gegen alle? Ursprung und Konsequenzen eines Missverständnisses. In: ebd., S. 88–102). 561 Vgl. Hoßfeld, Uwe: Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2016, bes. S. 101–146. 562 Vgl. ebd., S. 180–184. 563 Weingart, Peter / Kroll, Jürgen / Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a.M. 1988, S. 114.
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Lehre für die Phylogenese stehen, sondern zielten auf die praktische sozialhygienische Korrektur evolutionärer Fehlentwicklungen ab. Diese unter dem Rubrum ›Degeneration‹ seit dem 18. Jahrhundert geäußerte Befürchtung wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als intergenerationell fortschreitender Verfall des Erbguts durch Vererbung krankhafter Abweichungen einflussreich (Morel, Krafft-Ebing, Lombroso).564 Während in der Eugenik (Galton, Schallmayer) bzw. in Deutschland »Rassenhygiene« (Ploetz) die »Hebung des durchschnittlichen generativen Niveaus ganzer Völker«565 durch Geburtenregulierung propagiert wurde, war der Sozialdarwinismus566 in seiner wirkungsmächtigsten Form (Ammon, Tille) gegen die Gleichheitspostulate des Sozialismus und der Demokratie als soziale Entwicklungstheorie gerichtet, die durch eine »›aristokratische‹ Umdeutung des Darwinismus«567 den sozialen Status Quo als Resultat biologischer Selektion legitimieren und nationalpolitisch die Führerschaft eines (germanischen) »Volk[es] der Sozialaristokratie«568 hervorheben sollte. Subjekttheoretisch zeigt sich in der zweiten dezentrierenden Tendenz also die Präferenz für eine globale Perspektive, bei der Individuen als Resultate von Vererbungsprozessen erscheinen, denen sie ausgeliefert sind. Der mit dieser genetischen Determiniertheit einhergehende Verlust an Exzeptionalität des einzelnen Menschen wird durch die Vorstellungen der Züchtung oder des evolutionären Durchsetzens ›höherwertiger‹ Individuen subjekttheoretisch nur insoweit kompensiert, als dass mit diesen Vorstellungen explizit an Nietzsches hypertrophen Individualismus angeschlossen wurde.569 Sofern etwa die Eugenik als wissenschaftliche Theorie etablieren werden sollte, so verblieb sie methodologisch in der Empirie und der Statistik, mit den skizzierten dezentrierenden Konsequenzen für den Primat des Subjekts.
564 Vgl., ebd., S. 42–50. Zur Schwierigkeit, die Degenerationsthese empirisch-statistisch zu verifizieren, vgl. ebd., S. 73–77. Zum Beitrag der Kriminologie an der Degereszenzforschung vgl. Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002. 565 Ebd., S. 91. 566 Zur Entwicklung des Sozialdarwinismus in Europa und den USA vgl. Hawkins, Mike: Social Darwinism in European and American thought. 1860–1945. Nature als model and nature as threat. Cambridge 1997, S. 61–148. 567 Bayertz, Kurt: Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900. In: Engels, Eve-Marie (Hg.): Charles Darwin und seine Wirkung. Frankfurt a.M. 2009, S. 194. Der Aufsatz ist die stark gekürzte Fassung des Artikels von Bayertz, Kurt: Darwinismus als Politik. Zur Genese des Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900. In: Aescht, Erna (Hg.): Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel – Werk, Wirkung und Folgen. Linz 1998, S. 229–288. 568 Tille, Alexander: Volksdienst [1893]. Zit n. Bayertz: Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900, S. 198. 569 Vgl. ebd., S. 70–73.
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Im literarischen Bereich sind die evolutionistischen Theorien französischer Literaturkritiker bekanntlich am wirkmächtigsten gewesen.570 Gerade Hippolyte Taines deterministische Entwicklungstheorie ist aufgrund ihrer eigentümlichen Mischung aus Szientismus und Historismus571 von den naturalistischen Autoren französischer wie deutscher Provenienz begeistert aufgenommen worden und hat die Figurenkonzeptionen der naturalistischen Texte beeinflusst, ohne die Figuren damit vollkommen determiniert erscheinen zu lassen.572 Sie muss daher nicht weiter verfolgt werden. Für den Zusammenhang von Drama und Subjektproblematik hat die dritte subjektdezentrierende Tendenz auf bemerkenswerte Weise Bedeutung. Diese Tendenz zeigte sich in Beschreibungen des Sozialen, wie sie die Sozialwissenschaften und darin insbesondere die im 19. Jahrhundert entstehende und sich Ende des Jahrhunderts akademisch etablierende Soziologie gemacht haben. Allerdings hat sie nicht unmittelbar Einzug in die Dramenproduktion um 1900 gefunden, sondern indirekt, über Semantiken, die das von der Soziologie adressierte Problem der Vermittlung moderner Sozialgefüge mit Individuen aufgegriffen haben. Da diese Vermittlungsleistung unten anhand zweier Analysekapitel expliziert wird, können die entsprechenden Semantiken von ›Gemeinschaft‹ und ›Masse‹ hier ausgespart bleiben. An dieser Stelle genügen kursorische Hinweise auf die subjektdezentrierenden Aspekte der Soziologie, die die genannten sozialen Semantiken zu kontextualisieren helfen und zu klären suchen, warum sich die deutschen soziologischen ›Klassiker‹ um 1900 nicht auf Subjektdezentrierung festlegen lassen und daher für den hier interessierenden Zusammenhang lediglich kontrastive Bedeutung haben. Liest man die frühe Soziologie gewissermaßen gegen den makrologischen Strich, so lässt sie sich bis Durkheim als implizite Dezentrierung des Subjekts rekonstruieren.573 Waren die Sozialtheorien der Spätaufklärung, Teile des deutschen Idealismus und des britischen Liberalismus von der Souveränität und Soziabilität von Individuen ausgegangen oder hatten mittels der Konstruktion von Rechtssubjekten auf Staatsverfassungen abgezielt, präferierten es die Wegbereiter der Soziologie – Saint-Simon, Comte, Marx und Herbert Spencer –, die Entwicklung sozialer Ordnungen ›oberhalb‹ individueller ›agency‹ zu beobachten.574 Saint-Simon und seine Schüler haben im Gesellschaftsbegriff ein über die 570 Vgl. Hoeges, Dirk: Literatur und Evolution. Studien zur französischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Taine – Brunetière – Hennequin – Guyau. Heidelberg 1980. 571 Vgl. ebd., S. 15–29. 572 Vgl. Möbius, Hanno: Der Naturalismus. Epochendarstellung und Werkanalyse. Heidelberg 1982, S. 91–108. 573 Für Simmel und Weber muss das differenziert werden (s. u.). 574 Vgl. nur Korte, Hermann: Einführung in die Geschichte der Soziologie. 7., erweiterte Auflage. Opladen 2004, S. 30–41.
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Verbindung von Individuen hinausgehendes, auf sozialplanerische Vollendung in der Zukunft fokussiertes »Sozialparadigma [konstruiert. PB], das die ganze Menschheit umfassen und die alten institutionellen Dauerordnungen des menschlichen Zusammenlebens überwinden soll.«575 Mit Rückgriff auf die geschichtsoptimistischen Phasenmodelle der Physiokraten (Turgot, Condorcet) hat dann sein Mitarbeiter Comte, orientiert am Totalitätsdenken der zeitgenössischen Lebenswissenschaften576 sowie an positivistischen Rationalitätsstandards, die Bestimmung von Naturgesetzen für die Entwicklung sozialer Zusammenhänge unternommen.577 Comtes Entwicklungsgesetze orientieren sich an der Entwicklung der Menschheit, nicht an der einzelner Individuen (– sein Hinweis, die phylogenetische Phasenentwicklung wiederhole sich ontogenetisch in den Individuen, bleibt unausgearbeitet und illustriert lediglich die universelle Gültigkeit des Dreiphasengesetzes578). Comtes makrologische Beobachtungsweise, das teleologische Denken sowie der Import von Theorieimpulsen etablierter Fächer verbinden ihn mit den genannten Wegbereitern der Soziologie und bilden auch bei diesen die Voraussetzung für ein Denken, das sozialen Wandel nicht von ›starken‹ Subjekten her denkt.579 Marxens ökonomistisch akzuentierte, auf Produktion, Konsumtion und Tausch fokussierte Anthropologie sorgt in Verbindung mit der Grundintuition des historischen Materialismus einerseits für eine heteronome Strukturierung individuellen Verhaltens entlang ihrer ökonomischen Rolle580 und andererseits für eine Historisierung ›starker‹ 575 Riedel, Manfred: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft. In: GG 2, S. 801–862, S. 841. 576 Vgl. Lepenies, Wolf: Normalität und Anormalität. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 169–196. 577 Vgl. Wagner, Gerhard: Eine Geschichte der Soziologie. Konstanz 2007, S. 122–153. 578 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner: Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk. Opladen 1998, S. 123f. Das unbedingte Primat von Comtes Dreistadiengesetz als gesetzmäßiger Entwicklung des Sozialen erweist sich an der Verlegenheit, in die Comte gekommen ist, als deren letztes (positivistisches) Stadium, das die ordnungspolitische Herrschaft der Soziologie einläuten sollte, im 19. Jahrhundert auf sich warten gelassen hat. Zur Rettung der Geltung des Gesetzes entwickelte Comte das Konzept der ›grande crise finale‹, durch die der lange Übergang zum dritten Stadium als Pathologie der zeitgenössischen Gesellschaft gedeutet werden konnte (vgl. Repplinger, Roger: Auguste Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise. Frankfurt a.M / New York 1999, bes. S. 107–118). 579 Ähnlich argumentiert Junge, der bei den drei genannten Autoren im Vergleich zu den Gründervätern der Soziologie um 1900 Vergleichbarkeiten in methodischer Hinsicht, in den Vorstellungen zur gesellschaftlichen Entwicklung sowie in den Grundannahmen zur Erzeugung sozialer Ordnung ausmacht (Vgl. Junge, Matthias: Übergang II: Von den Wegbereitern zu den Gründungsvätern der Soziologie. In: Brock, Ditmar / ders. / Krähnke, Uwe: Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons. Einführung. 3., aktualisierte Auflage. München 2012, S. 99–106). 580 Zur ökonomistischen Anthropologie, ihrer Verbindung zum historischen Materialismus und Marxens Bild von den ökonomischen »Charaktermasken« vgl. nur Iorio, Marco: Karl
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Subjektivität, genauer für eine Projizierung in zukünftige Verhältnisse: Auch wenn die vergangenen wie aktuellen Produktionsverhältnisse die autonome Entfaltung der Anlagen und Interessen eines Großteils der Individuen verunmöglichen, gilt eine solche Emanzipation des Menschen von ihm Beschränkendem als normatives Entwicklungsziel, das in künftigen Produktionsverhältnissen erreichbar sein soll.581 Gewiss finden sich in Marxens Schriften sehr unterschiedliche Angaben darüber, wie teleologisch die Entwicklung des Klassenkampfes abläuft, wer die Subjekte dieser Entwicklung sind – Menschen, Klassen oder Produktivkräfte – und wie ›stark‹ ihr Bewusstsein als historische Subjekte sein muss, um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen.582 Insofern das Bewusstsein der Individuen aber stets von ihrer materiellen Basis bestimmt ist und damit nur die Veränderung der allgemeinen Produktionsverhältnisse, also eine makrologische Entwicklung die Individuen in die Möglichkeit versetzt, eigenmächtige Subjekte zu werden, kann auch hier von einer Dezentrierung des Subjekts gesprochen werden – unabhängig davon, ob Marx einen methodologischen Holismus oder Individualismus verfolgt hat.583 Zuletzt ist auch Herbert Spencers evolutionistisches und organizistisches Modell gesellschaftlicher Entwicklung darauf angelegt, die Entstehung sozialer Gebilde makrologisch zu erklären. Wie bei Comte und Marx ist die Reichweite seiner Theorie so groß, dass mit ihr gleichermaßen historische Transformationsprozesse, soziale Großgruppen und Individuen sowie insbesondere ihre vielgestaltigen Wechselwirkungen verstehbar werden sollen.584 Spencer postuliert die mikro- wie makrologisch erfolgende zunehmende Ausdifferenzierung aller Entitäten als universales Naturgesetz sozialer Evolution, deren sozialdarwinistische Note und deren Präfiguration sozialer Systeme hier nicht interessieren. Seine Insistenz darauf, dass Gesellschaft nichts anderes sei als das Handeln von Individuen, führt, ganz wie bei Marx, nicht dazu, auf die Darlegung makrologischer Entwicklungsgesetze zu verzichten, an die jene gebunden bleiben.585
581 582
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Marx – Geschichte, Gesellschaft, Politik. Eine Ein- und Weiterführung. Berlin 2003, S. 9–22 u. 76–81. Vgl. ebd., S. 283–289 sowie Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 851. Vgl. ebd., S. 18–20. Zur Schwierigkeit, aus Marxens Denk- und Schreibprozess Angaben zu erkenntnistheoretischen und ontologischen Basisannahmen zu extrapolieren, vgl. auch Vieth, Andreas: Art. Philosophische Grundbegriffe. In: Quante, Michael / Schweikard, David P. (Hg.): Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 145–172, bes. S. 145– 147. Zu dieser kontrovers diskutierten Fragestellung, die hier nicht verfolgt werden kann, vgl. Iorio, Marco: Einführung in die Theorien von Karl Marx. Berlin / Boston 2012, S. 99–106 u. 163–174. Vgl. Kunczik, Michael: Herbert Spencer (1820–1903) [1999]. In: Kaesler, Dirk: Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. 6., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2012, S. 92–111, bes S. 98f. Vgl. Wagner: Eine Geschichte der Soziologie, S. 153–175.
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Aus dieser Globalperspektive auf die Theorien lassen sie sich also bei allen Unterschieden als analog operierende Versuche rekonstruieren, mittels Theorieimporten Entwicklungsprinzipien sozialen Wandels zu beschreiben, deren Ablauf als unumgänglich wahrgenommen wird. Dies spricht etwaigen realhistorischen Subjekten allenfalls die Rolle der Realisatoren dieser Vorgänge zu – ein Denken, das dem individualitätsverliebten Festhalten an der Handlungsmacht ›großer Männer‹ (Carlyle, Burckhardt) genau entgegengesetzt ist und mithin im langen 19. Jahrhundert stark umstritten blieb. Eine weitere Einschränkung muss wohl hinsichtlich der Wirkmacht der genannten Wegbereiter gemacht werden – gerade Comtes und Spencers Denken hat im deutschsprachigen Gebiet bis um 1900 nahezu gar keine Wirkung gehabt, Marx erst über den Umweg seiner Rezeption in Großbritannien.586 Der gesellschaftstheoretische Sonderweg, den Deutschland um 1900 mit Tönnies, Weber und Georg Simmel genommen hat, steht nicht zuletzt mit der Distanz zu den genannten subjektdezentrierenden Soziologien in Verbindung. Betrachtet man die methodischen und semantischen Traditionen, auf Basis derer die soziologischen ›Klassiker‹ um 1900 ihre Konzeptionen entworfen haben, so ist auffällig, dass Durkheim dem von Comte angeregten szientifischen Holismus und der Hypostasierung von Gesellschaft als Handlungssubjekt viel weiter gefolgt ist als Simmel oder Max Weber.587 Durkheim übernimmt auch den sozialplanerischen Anspruch seiner Vorläufer und versucht, die Soziabilität von Individuen entgegen anomischer Tendenzen vermittels sozialtherapeutischer Programme zu gewährleisten.588 Er lässt sich insofern den das Subjekt dezentrierenden Sozialwissenschaftlern589 zurechnen, als dass soziale Tatbestände für ihn ebenso wie das Kollektivbewusstsein von Individuen unabhängig existieren und auf deren Denken und Handeln einwirken, und als dass auch in seinen prospektiven Arbeiten Gesellschaft der Primat gegenüber Individuen zugesprochen wird.590 Keineswegs ist es so, dass bei Durkheim das Individuum durch 586 Vgl. Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen. Graz [u. a.] 1984, S. 117f. u. Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie, S. 78f. 587 Zu den methodischen wie programmatischen Optionen in den Sozialwissenschaften um 1900 vgl. den Überblick von Acham, Karl: Die ›kulturelle‹ Krise der Gesellschaft um 1900 und die Genese der Sozialwissenschaften. In: Drehsen, Volker / Sparn, Walter (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Berlin 1996, S. 39–67, bes S. 46–58. 588 Vgl. hier und für das Folgende Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, zu Durkheim vgl. S. 137–184. 589 Auch die methodische wie sachliche Opposition zu Tardes ›individualistischer‹ Sozialpsychologie macht diese Zugehörigkeit deutlich (vgl. Delitz, Heike: Émile Durkheim zur Einführung. Hamburg 2013, S. 76–80). 590 Vgl. nur die knappen Hinweise bei Kruse, Volker: Geschichte der Soziologie. Konstanz 2008, S. 78–81.
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die Übermacht der sozialen Tatbestände und des Kollektivbewusstseins gleichsam aufgelöst wird. Vielmehr wird (soziable) Individualität erst durch die Beschränkungen, die das Soziale bietet, möglich, ein gegenüber der Gesellschaft autonomes Subjekt erscheint als gar nicht wünschenswert.591 Dass es für Durkheim eine Sphäre des Sozialen gibt, die nicht in individuellen Handlungen auflösbar ist, verweist auf einen primordialen Begriff von Gesellschaft, der von den deutschen soziologischen ›Klassikern‹ Georg Simmel und Max Weber gerade bestritten wird.592 Der semantische wie methodische Sonderweg der deutschen Soziologen, der ihre von den bislang skizzierten Konzeptionen abweichende Relationierung von Individuum und Sozialem vermittelt hat, liegt in einer das gesamte 19. Jahrhundert durchziehenden Skepsis gegenüber dem Gesellschaftsbegriff in Abgrenzung zu ›Staat‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Individuum‹ einerseits und in der Verfechtung einer historistisch begründeten ›kulturwissenschaftlichen‹ Methodik soziologischer Forschung andererseits begründet. In der ›Sattelzeit‹ ist es im deutschsprachigen Gebiet zunächst der Staatsbegriff, der zum »autonome[n] Handlungssubjekt«593 erhoben und in die geschichtsphilosophischen Modelle der Zeit, von Fichte über Schiller bis Hegel eingebunden wird, während ›Gesellschaft‹ allenfalls als romantisches Ideal »zweckfreier Wechselwirkung zwischen Individuen«594 (Novalis, Schleiermacher) aufscheint. Vor diesem Hintergrund wird der auf dem ökonomischen Handeln der Individuen basierende Gesellschaftsbegriff der klassischen Nationalökonomie erst verspätet, bei Hegel, als eigenständiger Handlungszusammenhang rezipiert – und zu einem Moment der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ herabgesetzt.595 An Hegels Bestimmungen wie auch an Kants Zuordnung des Rechts auf Gesellschaft im Rahmen des Rechtsstaates schließen dann die ab den 1840er Jahren aufkommenden staatsrechtlichen Gesellschaftstheorien (v. Stein, v. Mohl) an, deren Versuche, Gesellschaft als eigenständige Entität neben bzw. gegen den Staat zu konzeptualisieren, von den Zeitgenossen stark kritisiert worden ist, besonders einflussreich von Treitschke.596 Die Sakralisierung und Ontologisierung des Staates597, die mächtige historiographische Orientierung an Ereignisgeschichte und Taten ›großer Männer‹598, die historische Schule der National591 Vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 170–175. 592 Tönnies kann hier weitestgehend ausgespart bleiben, weil seine Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Einleitung des Kapitel zur ›Communio‹ im Drama thematisiert werden wird. 593 Koselleck, Reinhart (u. a.): Art. Staat und Souveränität. In: GG 6, S. 1–154, S. 27. 594 Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 832. 595 Vgl. ebd., S. 836–839. 596 Vgl. ebd., S. 843–848. 597 Vgl. Koselleck (u. a.): Art. Staat und Souveränität, S. 44–47 u. 63. 598 Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 848 u. 853. Der ›Methodenstreit‹ der 1890er Jahre, in dem Ansätze zu einer sozial- und kulturwissenschaftlichen, nomologischen Ge-
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ökonomie599, die politische Einfärbung des Gesellschaftsbegriffs im Zuge des und in Auseinandersetzung mit dem Marxismus600 sowie schließlich Diltheys Konzept der verstehenden Geisteswissenschaft601 haben die Entwicklung eines Verständnisses von Gesellschaft als gegenüber individuellem Handeln autonomer sozialer Sphäre um 1900 erheblich erschwert.602 Aus dieser Perspektive erscheint es folgerichtig, dass die deutschsprachigen soziologischen Klassiker Simmel und Max Weber dem Gesellschaftsbegriff skeptisch gegenüber stehen, stattdessen den Prozessbegriff ›Vergesellschaftung‹603 präferieren und ihre soziologischen Untersuchungen vom – sozial eingebundenen – Individuum aus entwickeln. Damit ist aber nicht gemeint, dass diese subjekttheoretisch ›starke‹ Positionen vertreten und mithin in gesellschaftstheoretischer Hinsicht das dezentrierte Subjekt ausschließlich ein französischer und englischer Import sei. Die Sachlage erscheint komplexer, wenn man die sich im Laufe ihrer Werkbiographien wandelnden Positionen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mitreflektiert. Es wird dann auch deutlich, welchen Anteil diese Autoren an der komplexen Sachlage der Subjektsemantik um 1900 haben. Aufgrund ökonomischer, sozialer und kultureller Krisenphänomene verzichten sie – wie Durkheim – auf die Fortschrittsperspektive und darüber hinaus auf planerische Ambitionen des neuen Faches.604 Stattdessen wird das »Verhältnis zwischen individuellem Ver-
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schichtsschreibung (Karl Lamprecht) heftig angegriffen worden sind und das Fach bis in die 1960er Jahre an die historistischen Konzepte der ›preußischen‹ Historiker Treitschke und Ranke gebunden (vgl. dazu Jaeger, Friedrich: Geschichte des Historismus. München 1992, bes. 73–95 u. 141–146 sowie Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. 2., durchges. Aufl. München 2010). Besonders der sog. Ältere Methodenstreit (Schmoller, Menger) macht deutlich, dass die historistische ökonomische Theorie mit ihrer Ablehnung von Makrotheorie sich um 1900 auf einen fachübergreifenden methodologischen Konsens stützen konnte, dem mindestens eine Familienähnlichkeit mit dem Unbehagen über das dezentrierte Subjekt eigen ist (vgl. Priddat, Birger P.: Produktive Kraft, sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert. Marburg 1998, bes. die Abschnitte S. 283–328 u. 357–390). Vgl. nur Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 842 u. 849–852. Zu Diltheys Konzept und dessen grundlegender Bedeutung für die deutsche Soziologie um 1900 vgl. Lichtblau, Klaus: Soziologie und Anti-Soziologie um 1900. Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber. In: Merz-Benz, Peter-Ulrich / Wagner, Gehard (Hg.): Soziologie und Anti-Soziologie. Ein Diskurs und seine Rekonstruktion. Konstanz 2001, S. 17–35. Die von Luhmann als »Ideologie« des Individualismus bezeichnete Hochschätzung des Individuums im 19. Jahrhundert bietet, wie oben angedeutet, eine weitere Grundlage dieses von ihm selbst als theoriehemmend beklagten, auf individuellem Handeln basierenden Gesellschaftsverständnisses (Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, Zitat S. 216). Vgl. Lichtblau, Klaus: Art. Vergesellschaftung. In: HWbPh 11, Sp. 666–671. Vgl. Rammstedt, Otthein: Die Attitüden der Klassiker als unsere soziologischen Selbstverständlichkeiten. Durkheim, Simmel, Weber und die Konstitution der modernen Soziologie.
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halten und gesellschaftlichen Strukturen«605 zum Gegenstand ihrer soziologischen Forschung. Auf die Frage nach dem Subjekt bezogen sehen sie in modernen Gesellschaften eine komplexe Gemengelage aus förderlichen und hinderlichen Aspekten und verweisen auf unterschiedliche Möglichkeiten, wie Individuen darauf reagieren können. Im Hinblick auf Ersteres mag der Hinweis genügen606, dass Max Weber moderne Gesellschaft als ein dem ändernden Zugriff des Individuums entzogenes ›fait accompli‹ konzipiert, als ein durch getrennte Wertsphären, Rationalisierung und Bürokratisierung gekennzeichnetes Sozialgefüge. Angesichts dieser Übermacht erscheint das Individuum bei Weber als »Objekt gesellschaftlicher Kräfte«.607 Demgegenüber stimmt Georg Simmel Weber zwar zu, dass diese Kräfte in der Moderne im Wachsen begriffen sind und erkennt an, dass Arbeitsteilung und Abstraktion individuelle Handlungsmöglichkeiten bestimmen, doch denkt er, wie schon Durkheim, das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum stärker als wechselseitiges Steigerungsverhältnis, sieht moderne Vergesellschaftung mithin als Bedingung für die sich darin entwickelnden Formen von Individualismus an.608 Erst in seinen späten Schriften zur »Tragödie der Kultur« (ab 1909) überwiegt die Sorge, dass Individuen von der Sachwelt einer übermächtigen ›objektiven Kultur‹ »zerrieben«609 werden könnten. Auf der Seite der Individuen konzentriert sich Max Weber auf die Analyse von Lebensstilen und fragt, inwieweit sie den modernen Verhältnissen angemessen sind. Er verurteilt die Verabsolutierung einer Wertsphäre zum Prinzip einer bestimmten Lebensführung und sieht es als Aufgabe des Individuums an, die Anforderungen der unterschiedlichen Wertsphären auszubalancieren.610 Gleichwohl hat man seine Präferenz für ein asketisches Ideal als »aristokratische[n] Individualismus«611 bezeichnet, da er nach Weber nur für Wenige lebbar ist. Subjekttheoretisch gewendet ist es also grundsätzlich möglich, sich gegenüber den Zurichtungen der modernen Gesellschaft souverän zu behaupten – aber nur für eine Elite. Auch Simmel kennt solche Residuen ›starker‹ Subjektivität, etwa in Form von herausragenden Künstlern, aber sie stehen nicht im Zentrum seiner
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In: Ders. (Hg.): Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber. Frankfurt a.M. 1988, S. 275–307, bes. S. 279–282 u. 288–290. Ebd., S. 290. Methodologische Fragen, etwa, wie Webers Konzept einer handlungstheoretischen »verstehenden« und Simmels Konzept einer grundlegende Formen des Sozialen abstrahierenden »formalen« Soziologie den Gesellschaftsbegriff der Soziologen bestimmt haben, können hier nur angedeutet, aber nicht behandelt werden. Rammstedt: Die Attitüden der Klassiker als unsere soziologischen Selbstverständlichkeiten, S. 286. Vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 330–332. Ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 29–32. Mommsen, Wolfgang J.: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte. Frankfurt a.M. 1974, S. 42.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Überlegungen zu Individualität. Diese fokussieren sich auf die idealtypische Unterscheidung von ›quantitativem‹ und ›qualitativem‹ Individualismus, wobei ersteres eine mit dem 18. Jahrhundert verbundene, auf allgemeiner Gleichheit und Freiheit beruhende Individualität und letzteres die Unterscheidung Einzelner voneinander betont, die das 19. Jahrhundert geprägt habe.612 Diese Formen vergesellschafteten Individualismus’ untersucht Simmel wie Weber anhand von Lebensstilen und dazu anhand einer soziologischen Analyse der Mode. Seine Arbeiten gehen insofern weit über die Alternative von starker oder schwacher Subjektivität hinaus, als dass sie eher nach dem komplexen Wechselverhältnis von sozialen und kulturellen Heteronomien und individualistischer ›Distinktion‹ fragen. Dadurch werden Autonomie und Individualität als Selbstbeschreibungen sozialer Akteure vor dem Hintergrund moderner Vergesellschaftungsprozesse verstehbar – und sind durch die beiden Typen des Individualismus’ Ansätze zu einer Historisierung ›starker‹ Subjektivität erkennbar. Zusammenfassend betrachtet wäre es also ungenau, hinsichtlich einer Dezentrierung des Subjekts die deutschen, hermeneutischen Soziologen gegen die makrologischen Soziologen französischer und englischer Provenienz auszuspielen oder sie gar den Restitutionsversuchen ›starker‹ Subjektivität zuzurechnen. Vielmehr hat die Soziologisierung ihrer Gegenstände, die vor allem Weber zur Profilierung des entstehenden Fachs explizit betrieben hat, insgesamt zur Folge, dass Simmel und Weber – wie auch Durkheim – »von der Vorstellung des Individuums als Totalität Abstand«613 nehmen und es in kleinteiligere soziale Bezüge aufteilen, womit es als abstrakter Gegenstand kein Erkenntnisobjekt mehr ist. Auch diese Preisgabe des Individuums philosophisch-allgemeinen Zuschnitts kann man als eine Dezentrierung des Subjekts rekonstruieren. Will man laut den soziologischen Klassikern etwas über das Subjekt erfahren, dann muss man es als sozialen Akteur rekonzipieren. Die Beschäftigung mit den sozialen Wechselwirkungen zwischen den Individuen und zwischen Individuen und gesellschaftlichen Kräften geben sie dadurch nicht auf, sie bestimmen aber die Sphäre des Sozialen als Ausgangspunkt der Untersuchungen.
3.6
Subjektsemantische Optionen um 1900: ein Panorama
Nach den bislang geleisteten Überblicken über die Entwicklung der Subjektsemantik bis ins späte 19. Jahrhundert hinein dürfte deutlich geworden sein, dass die Vorstellung, die Rede vom ›Verschwinden‹ des Subjekts sei allgemein ak612 Vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 311–319. 613 Rammstedt: Die Attitüden der Klassiker als unsere soziologischen Selbstverständlichkeiten, S. 295.
Subjektsemantische Optionen um 1900: ein Panorama
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zeptiert gewesen, ebenso reduktionistisch wäre wie die Vorstellung, dass diese nur in expliziter Form behandelt worden ist. Gerade um 1900 zeigt sich das subjektsemantische Feld höchst dynamisch und polymorph. Die Frage nach dem Subjekt wird in einer Vielzahl zeitgenössischer Debatten unterschiedlichen Spezialisiertheitsgrades mitbehandelt. Es ist für die folgenden Analysen weder notwendig noch könnte es geleistet werden, allen Verbindungen im kulturellen Wissen der Zeit nachzugehen und die präzise Gewichtung der einzelnen Elemente für die Subjektsemantik zu bestimmen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die subjektsemantisch relevanten Debatten ein Klima erzeugt haben, in dem das ›Subjekt‹ ›frag-würdig‹ erscheint, als ein offenes, nicht endgültig geklärtes Problem. Es zirkuliert sozusagen ›unerlöst‹ in unterschiedlichen Formen – ein Signum der kulturell so lebhaften Epochenzäsur ›um 1900‹.614 Diese Offenheit, ob sie als dynamischer Möglichkeitsraum oder als ›kulturelle Beunruhigung‹ erfahren worden ist, stellt die soziale Energie dar, mittels derer dramatische Bearbeitungen der Subjektsemantik angeregt wurden. Die Spezialdiskurse in Philosophie, Psychologie, Soziologie und anderen Fächern, die dieser Virulenz den Boden bereitet haben oder sie um 1900 begleiten, sind in den vorigen Kapiteln bereits vorgestellt worden – ohne dass sich diesbezüglich Vollständigkeit erreichen ließe. Dass darüber hinaus etwa Mauthners Sprachkritik und Vaihingers Fiktionstheorie im Anschluss an Nietzsche und andere die Ontologisierung des Subjekts als Metaphysik zurückweisen615, dass die evangelische Theologie eine Entindividualisierung durch den modernen 614 Neben den zu Beginn des Abschnitts angeführten Arbeiten zur ›Kulturkrise um 1900‹ sei noch auch Paul Nolte hingewiesen, der die Jahrhundertwende nicht allein in kulturgeschichtlicher Hinsicht – als Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein der Modernität der Gegenwart sowie in der Durchsetzung der Massengesellschaft (293–297) –, sondern auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht – aufgrund der Diffusion der Klassenunterschiede (285–289) – als »markante Epochenscheide« zu verstehen vorschlägt (Nolte, Paul: 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5/6 (1996), S. 281–300, Zitat S. 283). Zum soziokulturellen Hintergrund der Jahrhundertwende vgl. die Arbeiten von Nipperdey und Wolfgang J. Mommsen, bes.: Nipperdey, Thomas: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Berlin 1988 u. Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Berlin 1994. 615 Vgl. zu Mauthner bes: Lütkehaus, Ludger: Einleitung des Herausgebers. In: Mauthner, Fritz: Das Philosophische Werk. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Band II,1: Beiträge zu einer Kritik der Sprache [1901]. Band 1: Zur Sprache und Psychologie. Wien [u. a.] 1999, S. IX–XLI, bes. S. XXVIIIf. u. XXXVII sowie Janik, Allan / Toulmin, Stephen: Wittgensteins Wien. München 1987, S. 171–180 sowie Hartung, Gerald: Radikaler Individualismus – Fritz Mauthner liest Max Stirner und Friedrich Nietzsche. In: Ders. (Hg.): An den Grenzen der Sprachkritik. Frith Mauthners Beiträge zur Sprach- und Kulturtheorie. Würzburg 2013, S. 67–84. Zu Vaihinger vgl Gabriel, Gottfried: Fiktion und Fiktionalismus. Zur Problemgeschichte des ›Als Ob‹. In: Neuber, Matthias (Hg.): Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers ›Philosophie des Als Ob‹. Würzburg 2014, S. 65–87.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
Kapitalismus diagnostiziert und als Antwort darauf ein christlich fundiertes ›starkes Subjekt‹ imaginiert (Troeltsch)616 oder dass Husserls Phänomenologie eine Ontologie anbietet, die die klassische Subjektphilosophie zu überwindend versucht617 und dann in den Existenzphilosophien Heideggers und Sartres zur dominanten Beschreibung von Subjektivität in der Zeit nach Ende des Untersuchungszeitraums fortentwickelt wird618 – diese Beispiele können als Beleg dafür gelten, wie polymorph die Auseinandersetzung mit den überkommenen Semantiken des Subjekts und seiner verwandten Termini in den Spezialdiskursen um 1900 ist. In den fachspezifisch nicht zurechenbaren Interdiskursen der Zeit finden sich in unterschiedlicher Explizitheit ebenfalls Belege für eine Auseinandersetzung mit der Subjektsemantik. Zu denken wäre da etwa an den um 1900 in Weltanschauungsliteratur und Künsten virulenten, teils naturwissenschaftlich grundierten Monismus, bei dem es gerade darum ging, die exklusive Opposition von Subjekt und Objekt zu überwinden.619 Die explizite Relationierung von SubjektKrise und Drama wird im Abschnitt 4.2 dargelegt. An dieser Stelle soll auf einen anderen Interdiskurs hingewiesen werden, der die Frage nach ›Stärke‹ oder ›Schwäche‹ von Subjektivität explizit thematisiert: Es geht um die »Diagnose eines unaufhaltsamen Aufstiegs des Individualismus«.620 Am Interdiskurs des 616 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums. In: Ders. / Bruch, Rüdiger vom / Hübinger, Gangolf (Hg,): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Stuttgart 1989, S. 103–131, bes. 127f. 617 Vgl. Artl, Gerhard: Subjektivität und Wissenschaft. Zur Psychologie des Subjekts bei Natorp und Husserl. Würzburg 1985 Zu Husserls vornehmlich im Spätwerk vorgenommenen Versuchen, eine Theorie der Intersubjektivität zu entwickeln, die dem Problem des Solipsismus begegnet, vgl. Zahavi, Dan: Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik. Dordrecht [u. a.] 1996. 618 Vgl. Zima: Theorie des Subjekts, S. 161–364. Daran schließt sich bei Zima die im Titel angekündigte Theorie des Subjekts an, die in Auseinandersetzung mit der Subjekttheorie des 20. Jahrhunderts entwickelt wird (S. 365–430). Vgl. überdies eine neuere Studie, die sich mit Heideggers Subjektkritik auseinandersetzt: Eldracher, Martin: Heteronome Subjektivität. Dekonstruktive und hermeneutische Anschlüsse an die Subjektkritik Heideggers. Bielefeld 2018. 619 Vgl. den Überblick von Mueller, Volker: Philosophischer Monismus und Naturwissenschaften. Zu Entwicklungen monistischer Weltanschauung in Deutschland. In: Ders. / Lenz, Arnher E. (Hg.): Darwin, Haeckel und die Folgen. Monismus in Vergangenheit und Gegenwart. Neustadt am Rübenberge 2006, S. 33–46; Fick, Sinnenwelt und Weltseele; Brücker, Adrian: Die monistische Naturphilosophie im deutschsprachigen Raum um 1900 und ihre Folgen. Rekonstruktion und kritische Würdigung naturwissenschaftlicher Hegemonialansprüche in Philosophie und Wissenschaft. Berlin 2011. 620 Le Rider, Jacques: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990, S. 40. Darauf, dass um 1900 »die großen Ich-Entwürfe florieren«, die mit einer allgemeinen »Verunsicherung« einher gehen, haben auch Fähnders und Asholt in ihrem Nachwort zu einer Fin de siècle-Anthologie hingewiesen (Asholt, Wolfgang / Fähnders,
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›Individualismus‹ lassen sich die Irritationspotentiale der Subjektsemantik um 1900 verdeutlichen. Um 1890 häufen sich feuilletonistische Kommentare, die die Virulenz eines ›modernen‹ Individualismus diskutieren. So definiert Hermann Bahr in seinem Aufsatz »Die Weltanschauung des Individualismus« (1890)621 diese mit marxistischen Obertönen: »Der moderne Individualismus ist die Weltanschauung der Auflehnung des unbefriedigten Individuums wider die abgelebte, den Produktionsthatsachen durchaus nicht länger genügende […] Gesellschaftsordnung des Feudalismus«.622 In Bezug auf diese Auflehnung verweist Bahr auf Georg Brandes’ schon 1872 in Berlin auf Deutsch erschienenen ersten Band seiner Vorlesungsreihe »Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts«, in dem dieser die »Emancipation des Individuums« als eines der Anfang des Jahrhunderts etablierten Geisteszustand beschreibt, der »zugleich kräftig[] und ungesund[]« ist, da er Unabhängigkeit von überkommenen Autoritäten sowie hybride Allmachtsfantasien signalisiere. Bahr folgt dieser Argumentation in seiner Zeitdiagnose des späten 19. Jahrhunderts und verurteilt den Individualismus als antisozial.623 So sieht er diese Weltanschauung von zwei Seiten bedroht: Einerseits beschreibt er den mit Schopenhauer und Eduard v. Hartmann verbundenen bürgerlichen Pessimismus als klasseninternen Versuch der Überwindung des Individualismus, während der Marxismus ihn als bürgerliche Institution und mithin Ausdruck einer zu überwindenden Gesellschaftsordnung ablehnt.624 Auch Bahrs Aufsatz »Henrik Ibsen«625 argumentiert entlang der hier aufgerufenen Dichotomie von ›Individualismus‹ und ›Sozialismus‹, wobei die besondere Leistung des norwegischen Dramatikers gerade darin bestehe, als »Synthese des Individualistischen und Sozialistischen«626 zu erscheinen. In einem Beitrag für die kurz zuvor gegründete, für die Autoren der Wiener Moderne wegbereitenden Zeitschrift »Moderne Dichtung« stellt sich ihr Herausgeber Eduard Michael Kafka gegen die Heraufkunft eines »neuindividualistischen Zukunftszeitalter[s]«627 und stellt die Vermutung an, »daß diese gegenwärtige Neuverkündi-
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Walter: Nachwort. In: Fin de siècle. Erzählungen, Gedichte, Essays. Hgg. v. denselben. Stuttgart 1993, S. 417–436, Zitate S. 421 u. 422). Bahr, Hermann: Die Weltanschauung des Individualismus [1890]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 1: Zur Kritik der Moderne. Hgg. v. Claus Pias. Weimar 2004, S. 45–60. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 49f. Vgl. ebd., S. 59f. Bahr, Hermann: Henrik Ibsen [1890]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 1: Zur Kritik der Moderne. Hgg. v. Claus Pias. Weimar 2004, S. 70–90. Ebd., S. 90. Kafka, Eduard Michael: Vom modernen Individualismus [1890]. In: Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. Ausgewählt, eingeleitet und her-
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
gung des Individualismus am Ende bloß den letzten Fechterausfall bezeichnet des unterliegenden Princips.«628 Als Gewährsleute für die Virulenz eines solchen – so der Titel seines Aufsatzes – »modernen Individualismus« erwähnt Kafka neben dem kürzlich verstorbenen Hermann Conradi, dessen individualistische Psychologie er im zweiten, nachgelieferten Teil des Textes ausführlich kritisiert, noch Nietzsche, Ola Hansson und den noch anonymen ›Rembrandtdeutschen‹ (also Julius Langbehn). Diese Auflistung ist bedeutsam, weil sie verdeutlicht, dass die Diagnose und die Diskussion eines modernen Individualismus in Auseinandersetzung mit der Rezeption bzw. Verschlagwortung von Autoren wie Max Stirner und Friedrich Nietzsche in Verbindung steht. Ola Hansson hingegen gilt wie Georg Brandes als wichtige frühe Vermittlerfigur, deren Interpretation des nietzscheanischen Werkes als »aristokratischer Radicalismus«629 lange rezeptionslenkend gewirkt hat.630 Auch die um 1890 einsetzende »Stirner-Renaissance«631 erklärt sich aus dem neu entfachten Interesse für radikal individualistische Konzepte, die den Autonomie und Individualität nivellierenden Tendenzen der zirkulierenden sozialwissenschaftlichen oder deszendenztheoretischen Wissenselemente mit entschiedenem Festhalten am ›starken‹ Subjekt begegneten. Gerade die sich programmatisch632 vom wissenschaftlichen Ethos des Berliner Naturalismus abgrenzende Wiener literarische Szene forcierte die Auseinandersetzung mit ›individualistischen‹ Autoren633 und war durch die
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ausgegeben v. Gotthart Wunberg. Band 1: 1887–1896. Tübingen 1976, S. 85–87 u. 107–110, hier S. 85. Ebd., S. 87. Vgl. dazu die Informationen bei Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Band 1: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1900. Unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel. Zweite, verbesserte und ergänzte Auflage. Berlin / New York 1998, S. 176f. u. 187f. Vgl. zu Brandes’ und Hanssons Nietzscherezeption nur die beiden Aufsätze von Dahl, Per: Die guten Nordwinde aus Kopenhagen. Georg Brandes und die Einführung Nietzsches in Skandinavien. In: Schirmer, Andreas / Schmidt, Rüdiger (Hg.). Widersprüche.Zur frühen Nietzsche-Rezeption. Weimar 2000, S. 11–22 sowie Agthe, Kai: »Der Nomade setzt seine Wanderung fort«. Ola Hansson als Nietzsche-Vermittler und Publizist zwischen Brandes und Strindberg. In: ebd., S. 52–64. Stulpe: Gesichter des Einzigen, S. 25. Zum Anteil Stirners an der Individualismus-Debatte vgl. ebd., S. 470–676. Besonders Bahrs Publizistik als früher »Kulturmanager« hat zu dieser Frontstellung beigetragen (Vgl. Streim, Gregor: Identitätsbewußtsein und Krisenbewußtsein. Hermann Bahrs Konstruktion einer österreichischen Moderne. In: Senarclens de Grancy, Antje / Uhl, Heidemarie (Hg.): Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900. Wien 2001, S. 71–85, Zitat S. 72). Vgl. auch Niefanger, Dirk: Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne. In: Valk, Thorsten (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin [u. a.] 2009, S. 41–54.
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Austauschfreude des kulturellen Feldes im Wien dieser Zeit ein Nährboden für die Zirkulation und Diskussion solcher Positionen.634 Die etwas später einsetzende Rezeption der Schriften von Ernst Mach muss vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung mit der Frage nach dem ›Individualismus‹ gelesen werden. Die Rezeption von Mach ist auch insofern bemerkenswert, als dass in der Forschung Zweifel darüber aufgekommen sind, ob sie überhaupt in der immer wieder behaupteten Breite stattgefunden habe, weil die wenigen dafür angeführten Hinweise das eher fraglich erscheinen lassen. Diese Forschungsdiskussion kann helfen, zu verdeutlichen, dass die Zirkulation von Wissen um 1900 zu den Bedingungen großstädtischen Kulturlebens als Zirkulation disparater Wissenselemente rekonstruierbar ist. Machs Theorie hat erst seit 1895, seit Antritt seiner Professur in Wien, nachweisbare Wirkung gehabt. 1897 erfolgt die englische Übersetzung der »Analyse der Empfindungen«, ab 1900 bis 1906 vier Neuauflagen mit Vorworten, die die allmähliche Etablierung der Theorie reflektieren, indem auf Übereinstimmung mit anderen Forschern hingewiesen wird.635 Bei einigen Forschern wird daraus eine grundlegende Bedeutung Machs für die Jungwiener abgeleitet, die sich besonders auf Bahr stützt.636 In kritischer Perspektive wurde betont, dass Bahrs Texte Machs Ich-Absage pragmatistisch relativieren und die Bezüge zu Schnitzler, Hofmannsthal und Musil weniger deutlich sind als behauptet.637 So 634 Die personellen, institutionellen und politischen Ermöglichungsbedingungen der Wiener Moderne sind gut beforscht und müssen hier nicht erneut entfaltet werden. Vgl. Wunberg, Gotthard: Einführung des Herausgebers. In: Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. Ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben v. demselben. Band 1: 1887–1896. Tübingen 1976, S. XXXVII–XC; Schorske, Carl E. Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture. New York/NY 1981, bes. S. 3–23; Rieckmann, Jens: Aufbruch in die Moderne: Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de siècle. Königstein/Ts. 1985; Mitterbauer, Helga: Dynamik – Transfer – Macht. Kulturelle Transfers »am besonderen Beispiel« der Wiener Moderne. In: Dies. / Scherke, Katharina (Hg.): Entgrenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005, S. 109–130. 635 Monti, Claudia: Mach und die oesterreichische [!] Literatur. Bahr, Hofmannsthal, Musil. In: Farese, Guiseppe (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums ›Arthur Schnutzler und seine Zeit‹. Bern [u. a.] 1985, S. 263–283, hier S. 264f. 636 Vgl. Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus, S. 13–44; Günther, Klaus: »Es ist wirklich, wie wenn die Leute wahnsinnig geworden wären.« Bemerkungen zu Arthur Schnitzler und Ernst Mach. In: Scheibe, Hartmut (Hg.): Arthur Schnitzler in neuer Sicht. München 1981, S. 99–116; Diersch, Manfred: Draußen, Drinnen und Ich. Ernst Machs Spiegel der Erkenntnis als Anregung für die österreichische Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. In: Strutz, Josef / Kiss, Endre (Hg.): Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. München 1990, S. 29–42; Ryan: The vanishing Subject, S. 11– 13; dies.: Ernst Mach. In: Daviau, Donald G. (Hg.): Major figures of turn-of-the-century Austrian literature. Riverside, CA 1991, S. 211–232. 637 Vgl. Berlage, der Bahrs Mach-Rezeption in dessen Denkbiographie einordnet: Berlage, Andreas: Empfindung, Ich und Sprache um 1900. Ernst Mach, Hermann Bahr und Fritz Mauthner im Zusammenhang. Frankfurt a.M. [u. a.] 1994, S. 77–120. Vgl. außerdem Fliedl,
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
zeigt sich Fliedl skeptisch gegenüber eher ›weichen‹ Transfermodellen, da man damit Gefahr läuft, »daß praktisch jeder erkenntniskritische Impuls in Texten österreichischer Autoren auf Mach zurückgeführt werden kann.«638 Diese Kritik ist hinsichtlich behaupteter ›Wahlverwandtschaften‹ nicht von der Hand zu weisen, verweist aber auch auf die Schwäche des Einflussmodells, die sich in kulturellen Szenen wie dem Wien um 1900 besonders deutlich zeigt: Da die Zirkulation kulturellen Wissens einerseits stark auf informellem Austausch und feuilletonistischen Katalyseeffekten beruhte und andererseits die Autoren ein Interesse daran hatten, etwaige Einflüsse zugunsten der eigenen Innovationsleistung herunterzuspielen639, wäre es naiv zu glauben, dass von Mach nur gehört haben kann, der ihn auch gelesen hat. Anstelle also den Einfluss eines einzelnen Autors dadurch zu überschätzen, dass man einsträngige und isolierte Lektüren und intertextuelle Bezüge erwartet, ist eher eine Atmosphäre anzunehmen, in der für gewisse kulturelle Wissenselemente eine Bereitschaft zur Irritation bestand. Insofern die ältere Mach-Forschung eine solche Atmosphäre behauptet hat, muss der Vorwurf methodischer Naivität mindestens relativiert werden.640 Und dass Delegitimationen ›des Ich‹ zu diesen irritierenden Beständen gehören, erweist sich nicht zuletzt an den soteriologisch funktionalisierten Semantiken, die in den Jahren vor 1914 auch bei Bahr oder Hofmannsthal immer präsenter werden: Gott und Volk.641 An Machs indirekter und im Zusammenhang mit als verwandt markierten Autoren stehenden Rezeption642 zeigt sich am deutlichsten, dass die Subjektkrise um 1900 nicht über direkte Wissenstransfers beobachtet werden kann, sondern anzunehmen ist, dass die der Beunruhigung zugrunde liegende ›soziale Energie‹ aufgrund vielfältiger Vorbereitung zu dieser Zeit an verschie-
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Konstanze. Ich bin ich. Ernst Mach und die Folgen. In: Beutner, Eduard / Tanzer, Ulrike (Hg.): Literatur als Geschichte des Ich. Würzburg 2000, S. 173–184, S. 174f., und auch Monti: Mach und die oesterreichische Literatur, S. 265 u. 268f. Fliedl: Ernst Mach und die Folgen, S. 183, FN 16. Vgl. dazu Rohrwasser, der diese Argumente in Bezug auf den immer wieder behaupteten Einfluss der Psychoanalyse auf die Wiener Moderne anführt (Rohrwasser, Michael: Der Gemeinplatz von Psychoanalyse und Wiener Moderne. Eine Kritik des Einfluss-Modells. In: Fliedl, Konstanze (Hg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien 2003, S. 67–90, bes. S. 74–83). Das gilt etwa für Günther: Bemerkungen zu Arthur Schnitzler und Ernst Mach, vgl. S. 99f. Vgl. Fliedl: Ernst Mach und die Folgen, S. 178–180, zu Bahr vgl. auch Streim: Hermann Bahrs Konstruktion einer österreichischen Moderne, S. 77–80. Im zweiten Band von Krummels Schriftverzeichnis zur Nietzsche-Rezeption, das die Jahre von 1901 bis 1918 bearbeitet, wird Mach im Zusammenhang mit Nietzsche immerhin elfmal erwähnt (vgl. Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Band 2: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901–1918. Unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel. Zweite, verbesserte und ergänzte Auflage. Berlin / New York 1998, S. 838).
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denen Orten und unter verschiedenen Auspizien aufgetreten ist.643 Verweise auf theoretische Gewährsleute wie Mach oder Nietzsche fungieren da nur als theoretische Legitimationen eines Unbehagens, das nicht erst durch deren Kenntnisnahme entstanden ist. Als Beispiel für die Amalgamierung zeitgenössischen kulturellen Wissens vor dem Hintergrund eines hypertrophen Individualismus lässt sich auch Otto Weiningers Abwehr des Mach’schen ›unrettbaren Ich‹ anführen. Weiningers enorm erfolgreiches Buch »Geschlecht und Charakter« (1903, bis 1920 21 Auflagen644) kann gelesen werden als Versuch, die Integrität des Subjekts zu restituieren – allerdings residual, indem das ›männliche Prinzip‹ als ›starkes‹, d. h. »Kantisch-einsames und autonomes«645 Subjekt erscheint, während für das weibliche alle kurrenten wissenschaftlichen Depotenzierungen des Subjekts gültig bleiben.646 Dem Versuch, »das männliche Ich mit einem neuen philosophischen Fundament der Ganzheit und Geschlossenheit zu versehen«647, steht natürlich Machs These von der Unrettbarkeit des Ich entgegen. Darum verhöhnt Weininger Machs Ich-Konzept als »bloße[n] Wartesaal der Empfindungen«648 – mit einer für diesen Autor charakteristisch polemischen Formulierung, die aber erkennen lässt, dass Machs These an die Vorstellung von der Souveränität und Konsistenz des Subjekts rührt, die doch die Grundlage des Weininger’schen ›starken‹ »männliche[n] Ich«649 ist. Dass sich das Unbehagen über das ›Ich‹ nicht allein auf ›Jung-Wien‹ beschränkt hat, legen neben den breit beforschten Austauschprozessen zwischen Wien und Berlin650 auch Beiträge zur Ibsen-Rezeption im Naturalismus nahe – für die Bahrs oben angeführter Ibsen-Aufsatz bereits ein Beleg ist. Des Weiteren
643 Ein weiteres Beispiel bildet die moderne Liebessemantik, deren Beziehung zum Individualitätsproblem in einer neueren Studie untersucht worden ist (vgl. Klein, Uta: Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900. Hofmannsthal – Schnitzler – Musil. Aachen 2018). 644 Vgl. Rohrwasser: Der Gemeinplatz von Psychoanalyse und Wiener Moderne, S. 78. 645 Dahlke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln [u. a.] 2006, S. 164. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ihre These, die sie auf den Seiten 157–180 entwickelt. 646 Vgl. Le Rider, Jacques: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Wien / München 1985, S. 104–106. 647 Dahlke: Jünglinge der Moderne, S. 165. 648 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter [1903]. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien 22 1921, S. 192. 649 Dahlke: Jünglinge der Moderne, S. 164. 650 Vgl. nur Sprengel, Peter / Streim, Gregor: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater und Publizistik. Wien [u. a.] 1998 sowie Wunberg, Gotthard: Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900. In: Bachmaier, Helmut (Hg.): Paradigmen der Moderne. Amsterdam [u. a.] 1990, S. 105–130.
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beschreibt Paul Ernst Ibsen als Erlöser des »hervorragende[n] Individuum[s]«651, wogegen der Sozialismus die Menge erlösen wolle. Auch Max Nordau sieht im Mittelpunkt von Ibsens Werk die Verkündigung eines »anarchistischen Individualismus«652, nicht ohne anzufügen, dass die Vorstellung des »freie[n] Individuum[s]«653 längst wissenschaftlich widerlegt sei.654 Und zuletzt bringt Emil Reich in seinen 1894 veröffentlichten Vorlesungen zu »Ibsens Dramen«655 diesen mit Nietzsche in Verbindung, insofern beide »das Evangelium der freien Einzelpersönlichkeit«656 predigen würden, eine Vorstellung, die für ihn ein »ebenso lockender als gefährlicher Irrtum«657 ist. Diese Hinweise deuten schon an, dass die allseits geteilte Diagnose eines Individualismus keineswegs gleichbedeutend mit ihrer kritiklosen Akzeptanz ist, sondern ihre Geltung aus politischen, ethischen und wissenschaftlichen Gründen in Zweifel gezogen wird – gleich, ob es sich um naturalistisch oder anti-naturalistisch eingestellte Kommentatoren handelt. Dass der Individualismus als Episode in der Auseinandersetzung um das ›starke Subjekt‹ erscheint, ist schon um 1900 vereinzelt aufgefallen. So stellt der in Basel lehrende Philosoph Karl Joël 1902 in einem weit ausgreifenden, programmatischen Aufsatz in der »Neuen deutschen Rundschau« »Die kommende Frage«658, womit die nach der menschlichen Freiheit gemeint ist. Sein Postulat, das 19. Jahrhundert habe »den Menschen verloren«659, untermauert er, indem er auf die »Vertierung« der Menschen durch Schopenhauer und Darwin hinweist und Nietzsches Preisung der »blonde[n] Bestie«660 lediglich als Gegenbild zum »entarteten Neurastheniker und Décadent« begreift.661 Die Idealisten und die 651 Ernst, Paul: Ibsen und Björnson [1889]. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Hgg. v. Manfred Brauneck u. Christine Müller. Stuttgart 1987, S. 616–622, S. 619. 652 Nordau, Max: Der Ibsenismus [1893]. In: In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Hgg. v. Manfred Brauneck u. Christine Müller. Stuttgart 1987, S. 627–632, S. 628. 653 Ebd. 654 Vgl. ebd., S. 629f. 655 Vgl. Reich, Emil: Ibsens Dramen [1894]. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Hgg. v. Manfred Brauneck u. Christine Müller. Stuttgart 1987, S. 634–639. 656 Ebd., S. 638. 657 Ebd., S. 639. 658 Vgl. Joël, Karl: Die kommende Frage. Eine philosophische Einleitung. In: Neue deutsche Rundschau 13 (1902), S. 27–55. 659 Ebd., S. 30. 660 Beide Zitate ebd., S. 31. 661 Joël gilt jedoch als früher Nietzsche-Adept und hat diesem eine Reihe von Arbeiten gewidmet, die diesen als späten Romantiker auszuweisen versuchen (vgl. Landmann, Michael: Art. Joël, Karl. In: NDB 10, S. 455f., hier: S. 455 sowie die Hinweise bei Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Band 1, S. 518f. sowie Band 2, S. 218–220).
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Positivisten des 19. Jahrhunderts hätten den Menschen verloren, weshalb den Kommenden »die Aufgabe vermacht [worden ist. PB], den verlorenen Menschen wiederzugewinnen.«662 Die Primordialisierung des Objekts gegenüber dem Subjekt sei in einer Parallelaktion betrieben worden, und zwar zugleich von Positivisten – Joël erwähnt noch die Soziologie, die Milieutheorie und Machs »Zersetzung des Ichs«, das »wie das Schlußwort der Arbeit des ganzen Jahrhunderts«663 erscheine – und von Idealisten: »Bei Hegel begann die Abtötung des Subjekts, die Erstickung des Eigenen im Allgemeinen und im Zwang der Funktion.«664 Das »lebendige Subjekt« müsse daher »wieder erlöst werden aus dem Bann des Objekts«665, was durch Preisgabe des passivischen Entwicklungskonzepts zugunsten eines des Lebens und des Schöpfertums geschehen solle. Joël sieht in den zeitgenössischen Wissenschaften wie auch in der Philosophie der Jahrhundertwende Anzeichen dafür, dass das »Allgemeine […] wieder sich zu vergeistigen, sich zurück zu individualisieren« beginnt. Die Frage der Zeit sei also, ob es gelinge, »die verlorene Seele« und menschliche Freiheit »aus den Eisenkrallen des Mechanismus« zu retten, wofür er – ähnlich wie der mit ihm befreundete Georg Simmel666 – einen ›qualitativen‹, nicht-egalitären Individualismus propagiert, der auch bei Joël erkennbar mit der zeitgenössischen Lebensemphase als Rettung aus der Kulturkrise verbunden wird. Übersetzt in die hier vorgeschlagene Heuristik erscheint die von Joël postulierte Frage der Zeit als die nach der Wiedergewinnung des vom 19. Jahrhundert desavouierten ›starken‹ Subjekts, dessen Unterhöhlung er – sachlich erstaunlich zutreffend – auf beiden Seiten der ›zwei Kulturen‹ verortet. Da die Geschichte der Individualismus-Debatte um 1900 noch zu schreiben ist, ist noch nicht klar, in welcher Form dessen Semantiken im ›expressionistischen Jahrzehnt‹ aufscheinen. Zu vermuten ist, dass die unter anderem auf Stirner rekurrierenden anarchistischen Tendenzen (Landauer, Mühsam), die auf den Dadaismus und den Expressionismus gewirkt haben667, ebenso Elemente übernommen haben wie die politisierende Vermittlung der Persönlichkeitstheorie Freuds (Otto Gross)668 oder wie die Proklamationen des ›neuen Menschen‹, die ja gerade die Überwindung des zivilisatorisch und massenmoder662 663 664 665 666
Joël: Die kommende Frage, S. 32. Beide Zitate ebd., S. 46. Ebd., S. 43. Beide Zitate ebd., S. 36. Vgl. nur Simmel, Georg: Der Individualismus der modernen Zeit [1910]. In: Ders.: Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M. 2008, S. 346–354, bes. S. 350– 353. 667 Vgl. dazu Berg, Hubert van den: Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zürich und Berlin. Heidelberg 1999, zum Konnex Anarchismus und Expressionismus vgl. bes. S. 100–107. 668 Vgl. ebd., S. 129–146.
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Das ›starke Subjekt‹: Genese und Problematisierung eines Deutungsmusters
nistisch deformierten Subjekts der Gegenwart eingefordert haben.669 Auch die seit etwa 1910 in verschiedenen Disziplinen – darunter Soziologie, Pädagogik und Theologie – einsetzende Propagierung der ›Persönlichkeit‹670 (Eucken, Simmel, Misch) als Chiffre für die »Geschlossenheit« und »Einheitlichkeit«671 des Selbst gegenüber materialistischen und zivilisatorischen Reduktionismen kann als Fortsetzung der Individualismus-Emphase angesehen werden. Jedenfalls deuten neben diesen Vermutungen auch die unverändert intensiven Verarbeitungen der Texte und Gedanken von Stirner und Nietzsche672 darauf hin, dass ›Individualismus‹ bis in die 1920er Jahre hinein eine kontrovers bewertete Semantik geblieben ist. Mit den hier versammelten Belegen sollte hinreichend plausibel gemacht worden sein, dass die Subjektsemantik um 1900 so ›frag-würdig‹ war, dass in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Erkenntnisinteressen disparate Positionen dazu in den mitteleuropäischen Metropolen zirkuliert haben, ohne dass die am kulturellen Leben Teilhabenden zwingend Nietzsches oder Machs einschlägige Passagen gelesen haben mussten. Es mag Argwohn erzeugen oder unbefriedigend wirken, doch ist die Annahme einer einigermaßen diffusen ›sozialen Energie‹, die sich in Austauschprozessen unaufhörlich transformiert hat, ohne in festen sprachlichen Wendungen tradiert zu werden, dem Gegenstand angemessener als der Nachweis konkreter Einflussrelationen. Die Polymorphie des semantischen Feldes, die die oben versuchte Geschichte der Subjekt-Semantik in der westlichen Kultur von der Antike bis etwa 1920 offen gelegt hat, sollte deutlich gemacht haben, dass die methodisch so problematische Diffusität dieser Semantik gerade ihre wesentliche Eigenschaft ist, die ihren Verbreitungsgrad mit erklärt. Die Frage nach dem Subjekt, könnte man formulieren, ist auch deshalb so grundlegend für die westliche Kultur gewesen, weil sie an unterschiedlichen Stellen zu unterschiedlichen Zwecken gestellt worden ist. Dass sie auch im Drama und Theater um 1900 gestellt worden ist, dafür versammelt das folgende Kapitel Belege und Argumente.
669 Vgl. nur Küenzlen, Gottfried: Der neue Mensch. Untersuchungen zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994 sowie Stark, Michael: Manifeste des ›neuen Menschen‹. Die Avantgarde und das Utopische. In: Berg, Hubert van den / Grüttemeier, Ralf (Hg.): Manifeste: Intentionalität. Amsterdam [u. a.] 1998, S. 91–118. 670 Vgl. Dierse, Uwe (u. a.): Art. Persönlichkeit. In: HWPh 7, Sp. 345–354, Sp. 351f. 671 Beide Zitate zit. n. ebd., Sp. 351. 672 Vgl. Stulpe: Gesichter des Einzigen, S. 25–27 sowie Martens, Gunter: Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: Hillebrand, Bruno (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Band 2: Forschungsergebnisse. Mit einer weiterführenden Bibliographie. Tübingen 1978, S. 35–82.
4.
Subjekt im Drama um 1900: Zur Plausibilisierung des Untersuchungszeitraums
Der vorige Abschnitt dürfte erwiesen haben, dass die seit Ende des 19. Jahrhunderts konstatierte Krise des starken Subjekts eine lange Vorgeschichte besitzt, ja, dass mit der in der Frühen Neuzeit aus politisch-ideologischen sowie erkenntnistheoretischen Gründen einsetzenden Potenzierung des Subjekts seine Depotenzierung koinzidiert sowie dass um 1900 neben depotenzierten auch hypertrophe Subjektsemantiken zirkulieren. Das lässt fragen, warum die folgenden Analysen sich gerade mit der Dramatik1 um 1900 befassen und die These vertreten wird, dass zu dieser Zeit eine quantitativ wie qualitativ besonders ›heiße Phase‹ der dramatischen Beschäftigung mit Subjektivität zu beobachten ist. In diesem Kapitel wird die Möglichkeit der Verbindung von Subjekt-Semantik und Drama sowie Theater um 1900 zunächst weiter plausibilisiert, indem erstens gezeigt wird, welche dramen- und theaterhistorischen Ermöglichungsbedingungen für diese Verbindung gegolten haben und zweitens zeitgenössische Belege für die These versammelt werden, dass es um 1900 als ›denkmöglich‹ angesehen worden ist, Subjekt auf dramatische Form zu beziehen. Dadurch dürfte deutlicher geworden sein, was für der Untersuchungszeitraum um 1900 spricht. Drittens kann dann erläutert werden, warum er nicht davor beginnt und um 1920 und nicht etwa 1933 endet.
1 Für den Bezug der anderen beiden literarischen Großgattungen zur ›Frage nach dem Subjekt‹ um 1900 gibt es bereits eine Fülle von Studien (zur Orientierung vgl. nur die Aufsätze in Pfister, Manfred (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau 1989; Ryan: The vanishing subject; Broich, Ulrich: Kult und Zerfall des Subjekts als Thema der englischen Literatur am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zweiter Band. Berlin/New York 1998, S. 1020–1038; Grabher, Gudrun M.: Formen des lyrischen Ich im Modernismus. Subjekt-Kult und Subjekt-Absage durch die Sprachskepsis. In: ebd., S. 1096–1110; Schwarz: Das Wirkliche und das Wahre; Petersdorff, Dirk v.: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Tübingen 2005).
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Subjekt im Drama um 1900: Zur Plausibilisierung des Untersuchungszeitraums
4.1
Dramen- und theaterhistorische Ermöglichungsbedingungen
Die Gründe dafür, dass in der Dramatik des späten 19. Jahrhunderts wieder eine ›heiße Phase‹ der Verarbeitung der Frage nach dem Subjekt einsetzen konnte, finden sich in erster Linie in dem Paradigmenwechsel der Gattung um 1890, dem eine Phase mit eher innovationsunfreundlichen Entwicklungen im Theater und der Dramatik vorausging, von dem sich die moderne Dramatik abgrenzte.2 Zur dramen- und theaterhistorischen Vorgeschichte der Arbeit (also vor 1890) genügen Stichworte. Die Grundlage für die Innovationsarmut der dramatischen Form vor 1890 bildeten sozial- wie theatergeschichtliche Entwicklungen, aufgrund derer sich die Funktion von Theater gesamteuropäisch3 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark verengte.4 Dieser Funktionswandel wurde in den deutschen Gebieten durch eine Welle von Gründungen kommerzieller Theater augenfällig, einer direkten Folge der Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit in Preußen 1869 (und daran anschließend auch andernorts).5 Diese Bühnen setzten die repräsentativen Hof- und Stadttheater unter Druck: Das bisherige Spannungsverhältnis zwischen einer repräsentativen Hoch- und einer stark regional geprägten Breitenkultur des Theaters verschob sich zugunsten der quantitativen Dominanz eines Unterhaltungstheaters von ausgesprochen internationaler Prägung und mit neuartigen musikalischen Darbietungsformen.6
2 Vgl. dazu Schanze: Drama im bürgerlichen Realismus (1850–1890). 3 Vgl. den Überblick bei Erken, der sich zwar gegen die Vorstellung des 19. Jahrhunderts als konsistenter Theaterepoche stellt, aber doch die Überschneidungen in den Theaterkulturen der Großstädte London und Paris herausarbeitet (vgl. Erken: Theatergeschichte, S. 171–189). Auch das vergleichsweise eigenständige Wiener Volkstheater war eher literaturfernes Unterhaltungstheater, »ein weitverzweigtes Privattheater-System, organisatorisch und technisch gerüstet für den Massenbetrieb«, mithin eine »großstädtische Sehenswürdigkeit« (ebd., S. 167) – weshalb es bei aller theatralen Idiosynkrasie den hier skizzierten Funktionswandel mitträgt. 4 Vgl. Balme, Christopher: Die Bühne des 19. Jahrhunderts: Zur Entstehung eines Massenmediums. In: Mennemeier, Franz Norbert / Reitz, Bernhard (Hg.): Amüsement und Schrecken. Studien zum Drama und Theater des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 11–27 u. Marx, Peter W.: Zur Proliferation des bürgerlichen Theaters im 19. Jahrhundert. In: Kreuder, Friedemann (Hg.): Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis. Tübingen 2007, S. 133–149. 5 Vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Band 3: Theater im 19. Jahrhundert: Von der Romantik zum Beginn der Moderne. Vom Naturalismus bis zum Aufkommen der Avantgarde-Bewegung um 1910. Stuttgart/Weimar 1999, S. 625–638. 6 Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 426. Vgl. auch Daniel, Ute: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 359– 397.
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Das Publikum der rasch wachsenden Großstädte wünschte leichtgängige Unterhaltung7, was den Siegeszug der Operette und der italienischen Oper8, aber auch den Import dramatischer Formen wie des Melodrams und der Gesellschaftskomödie sowie theatraler Mischformen wie Vaudeville, Varieté und Cabaret aus Frankreich und England erklärt.9 Die repräsentativen Bühnen begegneten diesen Tendenzen mit idealisierender Klassikerpflege10, der Entwicklung eines Starsystems internationaler Schauspielerinnen und Schauspieler11 oder durch ›Spektakularisierung‹ der Inszenierungspraxis, was sich etwa in bildkräftig-wirklichkeitsenthobener12, megalomaner »Piktorial-Dramaturgie«13 oder in der historistischen Akkuratesse des Meininger Hoftheaters14 niederschlug. Die Theaterkultur des 19. Jahrhunderts war größtenteils eine »konservative Institution«15, befasst mit Symbolpolitik, bürgerlich bzw. adliger Selbstrepräsentation oder mit Wirtschaftlichkeitsorientierung, weshalb den bis zur Jahrhundertmitte unternommenen gelegentlichen Versuchen, eingespielte Grundlagen dramati-
7 Vgl. den Überblick bei Lenger, Friedrich: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013, S. 205–227 sowie bes. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt a.M. 1997. 8 Vgl. dazu die neue Studie zum Populären in der Belle Époque: Matala de Mazza, Ethel: Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton. Frankfurt a.M. 2018. 9 Zur Zirkulation der populären Theaterformen vgl. Becker, Tobias: Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London. 1880–1930. Berlin 2014. 10 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: Theater und Bildungsbürgertum zwischen 48er Revolution und Jahrhundertwende. In: Conze, Werner (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 3: Lebensführung und ständische Gesellschaft. Stuttgart 1992, S. 41.64. 11 Vgl. Schmitt, Peter: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700–1900. Tübingen 1990; Hickethier: Vom Theaterstar zum Filmstar; Hentschel, Anja: »(…) ein ächter Künstler muß sich schämen, so große Einnahmen zu veröffentlichen!« Schauspieler und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. In: Brandstetter, Gabriele / Finter, Helga / Weßendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen 1998. S. 361–371. Detailstudien zu wichtigen Stars des späten 19. Jahrhunderts bieten Blank, Claudia: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler, Sarah Bernhardt, Eleonora Duse. Katalog zu drei Ausstellungen im Deutschen Theatermuseum München: »Jungfrau in Waffen« Clara Ziegler, 2.9. - 16. 10. 1994, »Femme fatale« Sarah Bernhardt, 23. 10. 1994–8. 1. 1995, »Femme fragile« Eleonora Duse, 20.1.-12. 3. 1995. Basel [u. a.] 1994 u. Eisermann, Judith: Josef Kainz – zwischen Tradition und Moderne. Der Weg eines epochalen Schauspielers. München 2010. 12 Vgl. Vogel, Juliane: Realismus und Drama. In: Begemann, Christian (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2007, S. 173–237. 13 Vgl. Leonhardt, Nic: Piktorial-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899). Bielefeld 2007 sowie zu ihrer emotionalisierenden Funktion Vogel: Die Furie und das Gesetz. 14 Vgl. Osborne, John: The Meininger Court Theatre 1866–1890. Cambridge [u. a.] 1988. 15 Trommler, Frank: Theatermoderne. In: Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8: Jahrhundertwende: vom Naturalismus zum Expressionismus. 1880– 1918. Reinbek 1982. S. 205–223, S. 205.
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scher Formgebung – wie etwa Subjektivität – zu befragen, nicht zu öffentlicher Wahrnehmbarkeit verholfen wurde. Dramaturgisch korrespondierte die Theaterpraxis mit einer Tendenz zu Komödien und Gesellschaftsstücken im Stile Eugène Scribes oder Victorien Sardous16 und historischen Dramen, die ab 1871 das politische ›nation building‹ durch ein kulturelles ergänzen wollten17 und mithin historische Stoffe als Modelle für zeitgenössische Vereinigungsideale heranzogen.18 Zwar blieb die seit Schelling und Hegel verbriefte normative Hochschätzung der Tragödie als wichtigste Form im System der Gattungen im gesamten 19. Jahrhundert bestehen – und wurde durch »Erscheinungsformen und Wirkungen eines postrevolutionären ›Klassizismus‹ in der Theorie des Dramas«19 bei Vischer, Hettner und Freytag20 bestätigt –, doch hemmte die Dominanz der idealistischen Kunstphilosophie im Drama die Integration zeitgenössischen Wissens wie die Entwicklung nichtklassischer dramatischer Formlösungen, so dass gerade die Hochschätzung der Gattung ihren ästhetischen Konservatismus bedingte. Das begann sich um 1890 zu ändern. Die Ermöglichungsbedingungen dafür überlagerten sich dabei mit denen, die das moderne Drama in toto Einzug halten ließen, weshalb sie ebenfalls stichwortartig abgehandelt werden können, bevor diejenigen Hinweise geliefert werden, die es plausibel machen, die Frage nach dem Subjekt im Speziellen auch für dramatische Texte für relevant zu halten. Systemtheoretisch formuliert sorgte eine veränderte Programmierung des Systems Drama – ›oberhalb‹ der geläufigen literarischen Strömungen – für eine Öffnung für seine Umwelt, was dazu führte, dass bisher als dramenfremd rezipierte Elemente als Medien für seine Formbildung nutzbar wurden.21 Erste Im16 Vgl. Kiefer, Sascha: Dramatik der Gründerzeit. Deutsches Drama und Theater 1870–1890. St. Ingbert 1997, bes. S. 27–100. 17 Vgl. Dann, Otto: Nationale Fragen in Deutschland. Kulturnation, Volksnation, Reichsnation. In: François, Étienne / Siegrist, Hannes / Vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. u. 20. Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 66–82. 18 Vgl. noch immer Sengle, Friedrich: Das historische Drama in Deutschland [1952]. Unveränderter Nachdruck der zweiten Aufl. v. 1969. Suttgart 1974, S. 189–203 u. 224–249 sowie allgemein: Hinck, Walter: Einleitung: Zur Poetik des Geschichtsdrama. In: Ders. (Hg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Frankfurt a.M. 1981, S. 7–21. 19 Schanze: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche »Schwäche«, S. 232. 20 Vgl. Schanze: Drama im bürgerlichen Realismus, S. 59–67 u. 74–77. 21 Zur Unterscheidung von Medium und Form vgl. Luhmann, Niklas: Das Medium der Kunst [1986]. In: Ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Frankfurt a.M. 2008, S. 123–138. Luhmanns Vorschläge hinsichtlich einer evolutions- und systemtheoretischen Beobachtungsweise der literarhistorischen Entwicklung sind indes nur sehr vereinzelt und m.W. punktuell (Schwanitz, s. u.) in Bezug auf die Dramenentwicklung angewendet worden. Plumpes Epocheneinteilung der modernen Literatur anhand der jeweilig ›programmierten‹ Präferenz der Unterscheidung von System und Umwelt lässt sich für das Drama allerdings nicht bestätigen
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pulse bot dabei Wagners Musiktheater, dessen Idee des Gesamtkunstwerks22 als Verbindung von Kunstformen hin zu einer höheren Totalität in verschiedener Hinsicht Sprengkraft besaß, nicht zuletzt dank der kulturphilosophischen Unterstützung durch Nietzsches Tragödienschrift: So wurde einerseits durch das Gesamtkunstwerkskonzept Gattungsmischung ästhetisch legitimiert und fand andererseits die Idee der Refunktionalisierung von Theater als Vermittler von kunstreligiösen23 Gemeinschaftserlebnissen Verbreitung. Diese Konzepte wurden von symbolistischen ›Theaterfeinden‹ wie Mallarmé aufgegriffen24 und sorgten für Dramenkonzepte, die unter weitestgehendem Verzicht auf Handlung die Vermittlung eines ›Dialogs zweiten Grades‹ und mithin einer nicht unmittelbar audiovisuell gegebenen Wirklichkeit versuchte.25 Diese besonders von den Jung-Wienern breit rezipierte ›statische‹ Dramenästhetik beförderte auch die Neubewertung von seit Gottsched als nicht-literarisch abqualifizierten Theaterformen wie Pantomime, Marionettenspiel, Ballett und Tanz26 – bei den beiden ersteren nicht zuletzt aufgrund der antirealistischen Qualität ihrer Figuren, wie
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(vgl. Plumpe, Gerhard: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995). Vgl. bes. Hiß: Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000, bes. S. 55–88. Vgl. zu Wagners Programm allgemein Dahlhaus, Carl: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas [1971]. München 1990 sowie Borchmeyer, Dieter: Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung. Stuttgart 1982; spezifischer zum Gesamtkunstwerk bei Wagner informiert Kunze, Stefan: Richard Wagners Theorie des Gesamtkunstwerks. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert. 2. Band. Frankfurt a.M. 1972, S. 196–229. Vgl. Erken: Theatergeschichte, S. 189. Vgl. Damblemont, Gerhard: Symbolistisches Theater im Gefolge Mallarmés. In: Kafitz, Dieter (Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 101–120 sowie Puchner: Theaterfeinde, bes. S. 91–122. Das gilt sowohl für Maeterlinck als auch für das intime Drama Johannes Schlafs (vgl. zu Maeterlinck: Kesting, Marianne: Maeterlincks Revolutionierung der Dramaturgie. In: Dies.: Die Vermessung des Labyrinths. Studien zur modernen Ästhetik. Frankfurt a.M. 1965, S. 107– 125; Bayerdörfer, Hans-Peter: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. Symbolistische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters. In: Jahrbuch d. dt. Schillergesellschaft 20 (1976), S. 504–538 u. ders.: Maeterlincks Impulse für die Entwicklung der Theatertheorie. In: Kafitz, Dieter: (Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 121–139; zu Schlaf: Kafitz, Dieter: Das intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Holtus, Günther (Hg.): Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters. Bern/München 1987, S. 309–329; Whitinger, Raleigh: Johannes Schlaf and German Naturalist Drama. Columbia (SC) 1997, S. 144–164; Stöckmann, Ingo: Das innere Jenseits des Dialogs. Zur Poetik der Willensschwäche im intimen Drama um 1900 (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf). In: DVjs 81,4 (2007), S. 584–617, bes S. 604–617). Vgl. Vollmer, Hartmut: Die literarische Pantomime. Studien zu einer Literaturgattung der Moderne; Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten; Purschke, Hans Richard: Die Entwicklung des Puppenspiels in den klassischen Ursprungsländern Europas. Frankfurt a.M. 1984; Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien. Reinbek 2002, bes S. 87–122 u. 154–197; Kolb, Alexandra: Performing femininity. Dance and literature in German Modernism. Oxford [u. a.] 2009.
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es unten noch bei Edward Gordon Craig zu sehen sein wird. Neben diesem eher symbolistisch-ästhetizistischen Strang ist der naturalistische von mindestens gleicher Wichtigkeit. Zolas Toterklärung des »metaphysischen Menschen«27, seine Polemik gegen die ›pièces bien faites‹ in »Le naturalisme au théâtre« (1881) und Bölsches auf Zola verweisende Identifikation des Dichters mit einem »Experimentator«28, besonders aber Strindbergs Übernahme des Experimentbegriffs29 haben innovationsfördernd gewirkt.30 Zwar ist es zutreffend, dass der Ausdruck ›Experiment‹ in Bezug auf künstlerische Erzeugnisse erhebliche Unschärfen produziert31, doch muss genauso seine strategische Funktion gesehen werden: Sie liegt einmal darin, die Integration zeitgenössischen Wissens in die Literatur zu legitimieren und einmal darin, die Verwendung neuer Formoptionen ›innerliterarisch‹ abzusichern.32 Die Metapher des Experiments bietet sich somit als Chiffre für die neue Offenheit der dramatischen Literatur an – selbst wenn man ihrer engeren Auslegung als Übertragung wissenschaftlicher Experimentalverfahren nicht folgt.33 Diese Öffnung wurde formal im Wesentlichen über 27 »Der metaphysische Mensch ist tot.« (Zola, Emile: Der Experimentalroman. Eine Studie. Leipzig 1904 (frz. Orig. 1879). Zit. n. Brauneck, Manfred / Müller, Christine (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1990. Stuttgart 1987, S. 87– 97, S. 95. 28 Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887]. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Hgg. v. Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1976, S. 7. 29 Die Bedeutung des Experimentbegriffs für den Kunstdiskurs des 19. Jahrhunderts erarbeitet Venus, Jochen: Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments. In: Krause, Marcus/ Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 19–40, in nuce auf S. 33f.: »Nachdem im 19. Jahrhundert die epistemologische Funktion der Kunst zunehmend problematisch wird, reicht die Beobachtung der Kunst in its own terms, nach Maßgabe der Idee des Schönen, nicht mehr aus, um ihre Funktion auffassen zu können. Die Kunst ist genötigt, mit ihrem Begriff zu experimentieren.« 30 Vgl. Müller-Wille, Klaus: Inszeniertes Wissen. Theater und Experiment. In: Gamper, Michael (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010, S. 40–68; Pethes, Nicolas: Literarische Vivsektionen. Das Experiment als Gattungsstruktur bei August Strindberg. In: Gamper, Michael / Wernli, Martina / Zimmer, Jörg (Hg.): »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II. 1790–1890. Göttingen 2010, S. 351–366. 31 Vgl. Pethes, Literarische Vivisektionen, S. 350. 32 Vgl. Kolkenbrock-Netz, Jutta: Fabrikation – Experiment – Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981. 33 Vgl. zu den zwei Ebenen des Experimentbegriffs für die Kunst Venus: Kontrolle und Entgrenzung, S. 34–38. Hincks These, dass die nachnaturalistischen literarischen Strömungen »dem experimentellen Theater nicht günstig« gewesen sei, ist nur in der engeren Auslegung haltbar – schon die abstrakte dramatischen Form-Experimente bei Max Dauthendey oder das experimentelle ›Theater der Maler‹ (Kandinsky, Kokoschka) widerlegen die Übertragung seiner These auf den metaphorischen, weiten Gebrauch des Experiment-Begriffs (Hinck, Walter: Theater im »wissenschaftlichen Zeitalter«. Kontroversen vom Naturalismus bis zur Gegenwart. In: Bayerdörfer, Hans-Peter / Conrady, Karl Otto / Schanze, Helmut (Hg.): Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978. S. 258–274, S. 265).
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die Aufwertung einer Dramenform erreicht, deren Bedeutung für die literarische Moderne präzise als »das theatrale Experiment par excellence«34 erfasst wurde: der moderne Einakter. Jahrhunderte lang eine auch poetologisch anspruchslose dramatische Kurzform, die oft in Form von Vor- oder Zwischenspielen dem höfischen bis privat-bürgerlichen ›divertissement‹ diente35, entwickelte sich der Einakter – nicht zuletzt durch Verarbeitung der französischen Tradition des ›drame lyrique‹ und des ›proverbe dramatique36 – Ende des 19. Jahrhunderts zu einem »Organ, das sich experimentell mit theatralischen Großformen, Illusionsproblemen der Bühne und Wirkungsmöglichkeiten der verschiedenen Medien künstlerischen Ausdrucks auseinandersetzt«.37 Die konstitutive Ausschnitthaftigkeit des Einakters ermöglichte es, frei von den dramaturgischen Zwängen mehraktiger Dramenformen neue Wege zu beschreiten und wurde von allen literarischen Strömungen der Jahrhundertwende adaptiert.38 Der Einakter als Experimentalform ist daneben auch deshalb für die moderne Dramatik so entscheidend geworden, weil sie mit einer institutionellen Innovation koinzidierte, die ihre Aufführungschancen enorm steigerte: ›die Freien Bühnen‹. Die Bedeutung der Freien Bühnen, deren Bedeutung aufgrund der (auch sozialen) Begrenztheit ihres Publikums mitunter in Zweifel gezogen worden ist39, ist weniger in ihrer Langlebigkeit oder ästhetischen Erfolgen40 zu sehen, sondern in 34 Bayerdörfer, Hans-Peter: Die neue Formel. Theatergeschichtliche Überlegungen zum Problem des Einakters. In: Kirsch, Werner / Schneider, Christiane (Hrsg.): Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters. Bericht über das Symposion vom 17. bis 20. Februar 1988 in Thurnau, Laaber 1991, S. 31–46, S. 46. 35 Vgl. Bayerdörfer, Hans Peter: Einakter mit Hilfe des Würfels? Zur Theatergeschichte der Kleinen Formen seit dem 18. Jahrhundert. In: Herget, Winfried / Schultze, Brigitte (Hrsg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte, Tübingen 1996, S. 31–57, bes. S. 32–40. 36 Vgl. Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Hgg. v. Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1975, bes. S. 15–30, 160–162 u. 271–293; Schels, Evelyn: Die Tradition des lyrischen Dramas von Musset bis Hofmannsthal, Frankfurt am Main 1990; Valentin, Jean-Marie: Vom Einakter zur Gesellschaftskomödie. Hofmannsthal und die Tradition des französischen »proverbe dramatique«. In: Turk, Horst / ders. (Hg.): Konvention und Konventionsbruch. Wechselwirkungen deutscher und französischer Dramatik. 17.–20. Jahrhundert. Bern [u. a.] 1992, S. 133–153. 37 Neumann, Gerhard: Einakter. In: Borchmeyer, Dieter / Zˇmegacˇ, Viktor (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2., neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1994, S. 102–109, S. 103. 38 Zur symbolistisch-ästhetizistischen lyrischen Dramatik vgl. Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle u. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, S. 449–456, zum naturalistischen Einakter, der weit weniger beforscht ist, die Hinweise bei Stöckmann: Naturalismus, S. 133–137. Da eine Geschichte des literarischen Einakters noch aussteht, vgl. zur Vielfalt der Form ab 1890 den typologischen Versuch bei Neumann: Einakter, S. 103–107. 39 Vgl. Schanze 1978, S. 275–291, bes. 287f. 40 Nicht wenige Vereinstheater waren eher kurzfristige und finanziell unerfolgreiche Unternehmungen, so etwa das Théâtre Libre des André Antoine oder das Théâtre de l’Art von Paul Fort (vgl. Erken: Theatergeschichte, S. 194 u. 197).
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ihrer Wirkung als Fanal für die einsetzende ›Theatermoderne‹, die die dramatische Moderne durchzusetzen half.41 In erster Linie leisteten die insbesondere in Paris, Berlin, London und Moskau entstehenden Vereinstheater42 nämlich Starthilfe für eine Tendenz innerhalb der europäischen Theaterkultur, die man als ›Avantgardisierung‹ beschreiben könnte: Indem die Theatermacher von unternehmerischen Rücksichten sowie Beschränkungen der Theaterzensur entlastet worden waren, erhielten sie die Freiheit, einerseits der modernistischen Dramatik den Weg auf die Bühne zu ebnen und andererseits theaterästhetisch das überkommene Ausstattungs- und Kulissentheater sowie den deklamatorischen Schauspielstil hinter sich zu lassen (– entweder über eine Radikalisierung des Realismus durch real gebaute Szenenräume bzw. psychologische Einfühlung oder durch antimimetisch abstrakte Raumgestaltung bzw. stilisiertes Spiel43). Die Internationalität dieses Vereinsbühnenwesens sorgte ferner für intensivierte Transfers zwischen den europäischen Theaterzentren, was dazu beitrug, die Theatermoderne zu einer paneuropäischen Tendenz werden zu lassen.44 Schon aus diesem Grunde wäre es widersinnig, sich in dieser Arbeit ausschließlich mit deutschsprachigen Texten zu befassen; Kriterium ist vielmehr, ob die Texte um 1900 im deutschsprachigen Raum zur Kenntnis genommen worden sind. Freilich existierte neben dem ästhetisch anspruchslosen Unterhaltungstheater45 das traditionelle Repräsentationstheater46 weiterhin, weshalb die neuen theatralen Organisationsformen für ein theatrales Schisma sorgten, das selten so extrem wie in den Jahrzehnten um 1900 war: Es entwickelte sich ein »Gegeneinander von öffentlicher Funktion des Theaters als Ort gesellschaftlicher Repräsentation einerseits und ästhetischer Funktion des Theaters als Forum gesamtkünstlerischer Innovation andererseits«47, das sich in Deutschland bis in die Nachkriegszeit hielt und, gestützt durch die traditionell großzügige Subventionierung der Bühnen sowie ermöglicht durch Legitimationsverluste bürgerlicher 41 Vgl. für Berlin: Jaron, Norbert / Möhrmann, Renate / Müller, Hedwig: Einleitung. In. Dies. (Hg.): Berlin – Theater der Jahrhundertwernde. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–1914). Tübingen 1986, S. 1–72. 42 Einen konzisen Überblick über diese gesamteuropäische Tendenz bietet Erken: Theatergeschichte, S. 191–200. 43 Vgl. dazu nur die Darstellung der Entwicklung der Theaterästhetik vom Naturalismus bis zum politischen Theater der Weimarer Repuplik bei Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen [u. a.] 1993, S. 236–372. 44 Beispielhaft für diese Austauschprozesse sind die Tourneen von Konstantin Stanislawskis Moskauer »Neuem Künstlerischen Theater«, das etwa 1906 in Berlin enorm gewirkt hat (vgl. Erken: Theatergeschichte, S. 200). 45 Vgl. Freydank, Ruth: Theater als Geschäft. Berlin und seine Theater um die Jahrhundertwende. Berlin 1995. 46 Vgl. Marx, Peter W.: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900. Tübingen [u. a.] 2008. 47 Trommler: Theatermoderne, S. 205.
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Repräsentanz in den 1960er Jahren, schließlich zur allgemeinen Durchsetzung der ›Avantgardisierung‹ führte, was den deutschen Bühnen Weltgeltung verschaffte, ihr Publikum aber sukzessive auf den Kreis eingeweihter Kenner reduzierte, womit auch noch die Problematik der aktuellen Theaterkultur umrissen werden kann.48 Diese Tendenz nahm ihren Anfang in der Etablierung von Freien Bühnen, die im Theater auch personell den Beginn von signifikanten Entwicklungen bedeutet haben. So entwickelte sich einer der Gründungsfiguren der 1889 gegründeten Berliner »Freien Bühne«, Otto Brahm, zunächst mittels der Durchsetzung eines naturalistischen Repertoires, dann mit der Propagierung eines ›realistischen‹, anti-deklamatorischen Schauspielstils zu einem führenden Theatermacher der Zeit, was ihm 1894 die Intendanz des erst 1883 gegründeten, aber schon durch die Betitelung selbstbewusst und in Opposition zur kaiserlichen Hofbühne als Nationalbühne auftretenden Berliner »Deutschen Theaters« einbrachte.49 In seinem Ensemble förderte er unter anderem den jungen Max Reinhardt, der als »epochemachende[r] Repräsentant des modernen Regietheaters«50 und theaterästhetisch als großer Eklektiker in die Theatergeschichte eingegangen ist.51 Reinhardt reagierte sowohl auf die veränderten medienhistorischen Bedingungen52 des Theaters im Zeitalter der Massenkultur53 als auch auf die theaterinstitutionellen wie -ästhetischen Entwicklungen um 1900 wirtschaftlich mit einem weit gespannten, privat geführten Theaterunternehmen und theaterästhetisch mit großem Formenreichtum, was intimes Theater ebenso umfasste wie weihevolle Festspiele sowie auf Wirkung bedachte Massenspektakel.54 Indem er neben der Förderung avantgardistischer Dramatik auch »alle Möglichkeiten zu einer festlichen und populären Theaterkultur ausschöpfte«55, ließ er die Möglichkeit einer Überwindung des bürgerlichen Repräsentations48 Vgl. zur Nachkriegsgeschichte des deutschsprachigen Raums Rühle, Günther: Theater in Deutschland 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt a.M. 2014 sowie zu aktuellen Entwicklungen Englhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart. München 2013. 49 Vgl. Hoffmeier, Dieter: Zur Nationalbedeutung der Gründung des Deutschen Theaters. In: Theater der Zeit 38,9 (1983), S. 15–17. 50 Borchmeyer, Dieter: Theater (und Literatur). In: Ders. / Zˇmegacˇ, Viktor (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2., neu bearbeitete Auflage. Tübingen 1994, S. 420–430, S. 423. 51 Vgl. Rühle, Günther: Theater in Deutschland 1889–1945. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt a.M. 2007, S. 86–89, 100–115, 125–134, 152–176, passim. 52 Nach Schanze verlor das Theater durch den Kinematographen und Phonographen nach langem Vorlauf seit der Jahrhundertwende sukzessive sein »Monopol der Mimesis«, was die mediale Konkurrenzsituation, in der sich die Kunstform befand, erheblich verschärfte (Schanze, Helmut: Integrale Mediengeschichte. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001, S. 207–280, S. 261). 53 Maase setzt dessen entgültige Durchsetzung im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges an (vgl. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 20). 54 Vgl. Marx, Peter W.: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen 2006. 55 Erken: Theatergeschichte, S. 200.
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theaters durch Verbindung von Massen- und Theaterkultur aufscheinen, die freilich seinen temporären persönlichen Rückzug aus Berlin 1920 sowie die zunehmende Politisierung der Weimarer Theaterkultur nicht überlebte.56 Seine Aufgeschlossenheit populären Unterhaltungsformen gegenüber ist der Grund, dass er Mitte der 1910er Jahre mit dem neuen Medium Film experimentierte und sein Wirken nicht nur im Theater, sondern auch im Stummfilm einer ganzen Generation von Künstlerinnen und Künstlern den Einstieg ermöglichte.57 Diese Vermittlungsleistung zwischen ästhetischen Welten markiert Max Reinhardt jedoch auch als Ausnahmeerscheinung, der der angesprochenen Avantgardisierung nicht dauerhaft zur Publikumswirksamkeit zu verhelfen vermochte. Die Funktionalisierung des Theaters als Forum ästhetischer Reflexion und Innovation, die Brahm und Reinhardt mit gefördert haben, stellte von theatraler Seite die Bedingung der Möglichkeit moderner Dramatik in Europa dar. Die von den geläufigen großräumigen Theaterhäusern stark verschiedenen Rezeptionsbedingungen der kleinen Kunsttheater und ›Stilbühnen‹ waren der Literarisierung von ›Kleinkunstformen‹ wie dem Kabarett58 und der Rezeption experimenteller kurzer Stücke und insbesondere minutiös psychologisierender, ›intimer‹59 Dramatik günstig. Als Beispiel für die vielschichtigen Korrelationen von neuen Bühnenverhältnissen, neuen Dramen und Theaterreformern sei die Aufnahme der frühen Stücke des so überaus einflussreichen flämischen Dramatikers und Philosophen Maurice Maeterlinck60 genannt. Die deutschsprachigen Erstaufführungen61 von »L’Intruse« in Wien (1892), München (1894), Leipzig (1896) und Berlin (1898) sind allesamt von Theatervereinen in gemieteten Theatern besorgt worden, krankten aber, soweit zeitgenössische Zeugnisse vorliegen62, an inadäquaten inszenatorischen und darstellerischen Mitteln. Erst ein 56 Vgl. Marx: Max Reinhardt, S. 211–218. 57 Vgl. die bibliographischen Angaben in Dahlke, Günther / Karl, Günter (Hg.): Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer. Berlin 1988, S. 322–381. 58 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: Überbrettl und Überdrama. Zum Verhältnis von literarischem Kabarett und Experimentierbühne. In: Ders. / Conrady, Karl Otto / Schanze, Helmut (Hg.): Literatur und Theater im wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978, S. 292–325. 59 Vgl. Delius, Annette: Intimes Theater. Untersuchungen zu Programmatik und Dramaturgie einer bevorzugten Theaterform der Jahrhundert-Wende. Kronberg i.Ts. 1976, Kafitz, Dieter: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Holtus, Günter (Hg.): Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters. Tübingen 1987, S. 309–330 sowie kulturgeschichtlich umfassend Streisand, Marianne: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der »Intimität« auf dem Theater um 1900. München 2001. 60 Vgl. zu dessen Bedeutung die entsprechenden Aufsätze von Bayerdörfer und Kesting sowie zur Rezeption bes. Strohmann, Dirk: Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891–1914). Bern [u. a.] 2006. 61 Zur Inszenierungsgeschichte von Maeterlincks Stücken bis 1914 vgl. Strohmann: Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891–1914), S. 273–321 sowie ebd. die tabellarische Übersicht zu deutschsprachigen Aufführungen, S. 792–796. 62 Vgl. die Theaterrezensionen ebd., S. 321–372.
Dramen- und theaterhistorische Ermöglichungsbedingungen
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1900 von einem ehemaligen Mitglied des Deutschen Theaters in Berlin gegründetes und programmatisch als »Secessionsbühne« betiteltes Avantgardetheater sorgte mit Versuchen, Maeterlincks eigenwillige Dramenästhetik schauspiel- und bühnentechnisch umzusetzen, für eine fruchtbare Theatralisierung und übte eine »wichtige Vorreiterrolle bei der Durchsetzung von Maeterlincks dramatischer Produktion«63 aus, an der im folgenden Jahrzehnt auch Max Reinhardt, ein Ensemblemitglied der Secessionsbühne, Anteil hatte.64 Dieses Fallbeispiel zeigt, dass bei der Durchsetzung für unspielbar geltender Stücke auf dem Theater die Vermittlung einer kleinen theatralen Avantgarde vonnöten war, von der aus, bei entsprechender publizistischer Unterstützung65, die Verbreitung und Theatralisierung der Stücke möglich war.66 Es macht ferner deutlich, dass die theaterwissenschaftliche These einer Emanzipation der modernen Theaterästhetik mittels »Entliterarisierung«67 die komplexen Austauschprozesse zwischen den beiden Künsten verfehlt. Namentlich die Produktivität der symbolistischen Antitheatralität für innovative Formlösungen im Drama und Theater lassen sich durch eine derart lineare, nachgerade geschichtsphilosophische Erzählung nicht fassen.68 Auch sollte deutlich geworden sein, dass die angesprochene Funktionalisierung des modernen Einakters als dramatisches Experimentierfeld sowie des modernen Theaters als Forum ästhetischer Innovation einen kleinen, kul63 Ebd., S. 314f. 64 Vgl. ebd., S. 312–315 u., zu Reinhardts Bedeutung für die Maeterlinck-Vermittlung, S. 319– 321. 65 Bei Maeterlinck geschah das durch den Eugen Diederichs-Verlag und in Person seines Übersetzers Friedrich von Oppeln-Bronikowski, der dessen Werk in den Kontext neumystisch-religiösen Denkens gestellt hat, was besonders die Rezeption von Maeterlincks philosophischen Texten bestimmt hat (vgl. ebd., S. 126–138 sowie thesenhaft zusammengefasst: S. 719f). 66 Analoges ließe sich über die theatrale Rezeption Strindbergs sagen, dessen Dramatik seine endgültige Durchsetzung auf den deutschsprachigen Bühnen nach Vorstößen auf Vereinsbühnen in den 1890ern erst in den 1910er Jahren im Umkreis des dramatischen Expressionismus erlebt hat (vgl. die Einleitung in Bayerdörfer, Hans-Peter / Horch, Hans-Otto: / Schulz, Georg-Michael (Hg.): Strindberg auf der deutschen Bühne. Eine exemplarische Rezeptionsgeschichte der Moderne in Dokumenten (1890 bis 1925), S. 9–67, bes. S. 33–55). 67 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas [1990]. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Band 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen 1999, S. 163. Lehmann behauptet analog, dass erst das Bewusstsein von den »der dramatischen Literatur sogar feindlichen Wurzeln und Voraussetzungen« des Theaters die Theatermoderne möglich gemacht habe (Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater [1999]. 3., veränderte Auflage. Frankfurt a.M. 2005, S. 79). 68 Plausibler erscheint die Ambiguitäten besser aushaltende Konzept historisch varianter Theatralitätsgefüge, die Andreas Kotte von Rudolf Münz’ Vorschlag fortentwickelt hat und die neben ›künstlerischer-‹, ritualhafter und volkstümlicher Theatralität auch Antitheatralität und theatrale Subversionskonzepte eines Zeitabschnitts beobachtbar macht (Kotte, Andreas: Theatergeschichte. Eine Einführung. Köln [u. a.] 2011), einführend zum Konzept S. 21f.).
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turell aber wirkmächtigen Rezipientenkreis besaß und neben den tradierten Funktionen der Kunstformen, die anderen Bedürfnissen des Publikums entsprachen, zu situieren sind. Auch hier erweist sich das Postulat einer einzigen transhistorischen sozialen Funktion des Dramas – wie Dietrich Schwanitz sie vorgeschlagen hat69 –, der Fülle und Vielfalt des Materials gegenüber als reduktionistisch. Es ist bemerkenswert, dass auch diese Makrothese in Bezug auf das Drama um 1900 eine Krisenerzählung produziert (nach der die Funktion des modernen Dramas nunmehr der Ausweis ihrer Funktionslosigkeit sei). Kontrastiert man dies mit einem neueren Versuch, die Pluralität der modernen Dramatik anhand der Unterscheidung von »vier Linien […] als rückwirkend konstruierte, provisorische Hilfsmittel« zu beschreiben, »ohne für sie den Anspruch auf Exklusivität zu erheben«70, wird deutlich, dass dieser Versuch auf Narrativierung und ganz explizit auf den Gebrauch einer Krisenstruktur Verzicht leistet71 und dass durch diese Zurückhaltung die starke Selektivität der behandelten Dramentexte und Normativität des eigenen Dramenkonzepts verhindert 69 Vgl. Schwanitz, Dietrich: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990, S. 99–129. Vgl. auch: Ders. / Schwalm, Helga / Weiszflog, Alexander: Art. Drama. Bauformen und Theorie. In: Das Fischer Lexikon. Literatur: Band 1. Hgg. v. Ulfert Ricklefs. Neuausgabe. Frankfurt a.M. 2002, S. 397–420. Hier werden einige Vermutungen des Ansatzes präzisiert, besonders in Bezug auf die Entwicklung hin zum modernen Drama. Der Ansatz verdient es, kurz nachgezeichnet zu werden: Aufgrund ihrer medial vorgegebenen Angewiesenheit auf soziale Interaktion sei in der Neuzeit die Differenz zwischen Gesellschaft und sozialem – besonders adligem – Interaktionssystem im Drama sinnfällig geworden, weshalb sich aus »theaterähnlichen Enklaven« der sozialen Welt dramatische Grundsituationen herausgebildet hätten – darunter Zeremonien und Rituale, Simulationen und Täuschungen, doppeldeutige Kommunikation und dialogischer Konflikt. Aus dieser Referenz des neuzeitlichen Dramas auf soziale Gefüge erkläre sich die Bedeutung der Gattung als Reflexionsinstanz des Sozialen und Ort der Repräsentation von Gesellschaft. Allerdings sei die Transformation des stratifizierten zum funktional differenzierten Gesellschaftstyp mit einem Verlust der Repräsentanz adliger sozialer Interaktion einher gegangen, was zunächst zu einer Verengung sozialer Bezüge auf den Bereich der Familie (im bürgerlichen Trauerspiel) geführt habe. Diese Funktionskrise des Dramas habe schließlich, im modernen Drama, dazu geführt, dass das Repräsentationsproblem selbstreferentiell bearbeitet worden sei, also nur noch Texte entstanden seien, die die Unmöglichkeit der Darstellbarkeit sozialer Bezüge als Interaktionssysteme selbst zur Darstellung gebracht haben. – Das Problem ist, dass diese Theorie zwar einen wesentlichen Zug der neuzeitlichen Dramatik wie ihrer Problematik in der Moderne erfasst, aber dafür den Preis zahlt, eine Pluralität von Funktionalisierungen der Gattung nicht denkbar werden zu lassen, wodurch etwa die nicht im Sozialen wurzelnden Repräsentationsverfahren allegorisierender Dramenformen wie das Jesuitendrama, die spanischen »Autos sacramentales« oder das protestantische Schuldrama ausgeschlossen bleiben – ganz analog zu Szondis dem eigenen Dramenbegriff geschuldeten Ausschluss ganzer dramatischer Traditionszusammenhänge. Auch die Persistenz von Konversationsdramatik im 20. Jahrhundert und die Wiederkehr eines nicht-repräsentationalen, auf Gemeinschaftsstiftung abzielenden Funktion von Theater, die auf entsprechende Dramatik wirkt, ist mit dieser Theorie nicht zu erklären bzw. allein als Krisensymptom deutbar. 70 Schalk, Axel: Das moderne Drama. Stuttgart 2004, S. 18. 71 Vgl. ebd., S. 8f.
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wird. Wie mehrfach angedeutet, soll die Disparatheit der analytischen Hinsichten, nach denen in den Analysekapiteln dieser Arbeit die formale Konsequenzen von Subjektivität untersucht werden, die polymorphe Innovativität moderner Dramatik quer durch die literarischen Strömungen und auch diesseits des kanonisierten ›Höhenkamms‹ erweisen. In dieser Hinsicht reflektiert der ›analytische Synkretismus‹ der Arbeit die These, dass der Vielfalt der Formlösungen im Drama um 1900 nicht mit der Beobachtung eines einzigen dramatischen Basiselements beizukommen ist. Zugespitzt formuliert werden die folgenden Kapitel in actu zeigen, dass, wer zur dramatischen Bearbeitung der Subjektproblematik etwa allein auf die dramatische Figur rekurriert, einen beträchtlichen Teil des relevanten Korpus’ nicht zur Kenntnis nimmt. Da die in den Kapiteln jeweils untersuchten Textphänomene – die im 5. Kapitel dieses Teils kurz vorgestellt werden – so disparat sind, werden im zweiten Teil den jeweiligen Dramenanalysen einleitende Abschnitte vorgeschaltet, die den Zugang jeweils erläutern und plausibilisieren sollen.
4.2
Subjekt im Drama um 1900: zeitgenössische Relationierungen
Dass die Depotenzierung des Subjektbegriffs auch für das Drama Konsequenzen hat, ist um 1900 in verschiedenen Zusammenhängen vermutet worden. Es seien einige Fälle angeführt, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen: In der ersten Kategorie wird Subjekt-Depotenzierung im Rahmen dramenästhetischer Kritik funktionalisiert, während sie in der zweiten als kulturelles Phänomen beschrieben wird, an dem hinreichend reflektierte Dramentexte gewissermaßen unvermeidlich partizipieren müssen. Insgesamt fällt auf, dass alle hier angeführten Reflexionen zum Subjekt im Drama im Hinblick auf die dramatische Figur behandelt werden. Darin bleiben die diskursiven Relationierungen von Drama und ›Subjekt‹ hinter den weitreichenderen Bezügen der literarischen Texte zurück. Zur ersten Kategorie: Sowohl bei Strindberg als auch bei Maeterlinck finden sich Überlegungen zum ›starken Subjekt‹ als nachträgliche Legitimationsverfahren ästhetischer Praxis. Dass diese beiden Autoren Gewährsleute für den Konnex von Subjekt und Drama sowie zugleich als Wegbereiter moderner Dramatik schlechthin kanonisiert sind, deutet auf die zentrale Bedeutung der Frage nach dem Subjekt für die Dramatik um 1900 hin. Strindbergs poetologische Einlassungen Ende der 1880er Jahre stehen in Bezug zu seiner Auseinandersetzung mit den Schriften Friedrich Nietzsches, die, vermittelt durch den dänischen
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Literaturkritiker Georg Brandes, zu einem kurzen Briefwechsel geführt hat.72 Dieser Briefwechsel koinzidierte mit Nietzsches Arbeit an der »Götzen-Dämmerung«, in der sich seine Formulierung vom Ich als »Wortspiel« findet, sowie mit Strindbergs Arbeit an »Fröken Julie«, was die Forschung zu der Vermutung geführt hat, dass die Verbindung nicht nur die Funktion besaß, einander Bewunderung zu versichern73, sondern das eigene Denken theoretisch zu legitimieren.74 Zeugnisse von Strindbergs Funktionalisierung von Nietzsches Ideen als »theoretischen Deckel für seinen dramaturgischen Topf«75 sind das berühmte, nachträglich verfasste Vorwort zu »Fräulein Julie« (1888) sowie die Schrift »Über modernes Drama und Theater« (1889). Letztere stützt sich auf Nietzsches Bemerkung aus dem »Fall Wagner«, dass der Ausdruck ›Drama‹ gar nicht Handlung, sondern Geschehen bzw. Ereignis bedeutet.76 Diese Beobachtung erwähnt Strindberg und bringt sie in Zusammenhang mit dem Einakter als dem »Suchen nach einer Form, die das neue Drama in eine andere Richtung zu führen scheint«77: Die Befreiung des Dramenbegriffs vom Primat der Handlung, die Verknappung des Geschehens auf eine einzige Szene ermöglicht die Abkehr von um der Intrige willen typisierten Figuren, die als ›Charaktere‹ nicht mehr ernst genommen werden können.78 Dass die »Reduktion von ›Handlung‹ auf ›Geschehen‹ […] gleichbedeutend mit der Reduktion handelnder Subjekte auf heteronome Aktanten«79 ist, erschließt sich in dieser Schrift und ihrem Nietzschebezug lediglich implizit. Deutlicher ist hierbei das Vorwort zu Fräulein Julie.80 Auch hier spricht sich Strindberg gegen die geläufige Figurenkonzeption 72 Das Folgende stützt sich auf Detering, Heinrich: »Das Ich wird zum Wortspiel«. Nietzsche, Ibsen, Strindberg und das Drama der Abstraktion. In: Schirmer, Andreas / Schmidt, Rüdiger (Hg.): Widersprüche. Zur frühen Nietzsche-Rezeption. Weimar 2000, S. 79–101, S. 92–95 (leicht veränderte Version von ders.: »Es geschieht«. Nietzsche, Ibsen, Strindberg und das Drama der Abstraktion. In: Deppermann, Maria (Hg. u. a.): Ibsen im europäischen Spannungsfeld zwischen Naturalismus und Symbolismus. Kongreßakten der 8. Internationalen Ibsen-Konferenz, Gossensaß, 23.-28. 6. 1997. Frankfurt a.M. 1998, S. 235–255) sowie auf Hoff, Karin: »… ein angenehmer Wind von Norden«. Nietzsche und Strindberg im Dialog. In: Arcadia 39,1 (2004), S. 55–69. 73 Vgl. Hoff: Nietzsche und Strindberg im Dialog, S. 57. 74 Vgl. Detering: »Das Ich wird zum Wortspiel«, S. 93. 75 Ebd. 76 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: KSA 6, S. 32, Anm. 77 Strindberg, August: Über modernes Drama und modernes Theater [schwed. 1889]. In: Ders.: Über Drama und Theater. Hgg. v. Marianne Kesting und Verner Ape. Köln 1966, S. 38–56, S. 51. 78 Vgl. ebd. S. 53f. 79 Detering: Das Ich wird zum Wortspiel«, S. 94. 80 Vgl. Strindberg, August: Fräulein Julie. In: Ders.: Werke in zeitlicher Folge. Frankfurter Ausgabe. Fünfter Band 1887–1888. Hgg. v. Wolfgang Butt. Frankfurt a.M. 1984, S. 757–817, Vorwort S. 759–773. Diese Ausgabe wurde herangezogen, weil das vom Herausgeber übersetzte Vorwort die von Strindbergs Verleger Seligmann vorgenommenen Kürzungen rück-
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des ›Charakters‹ aus, den er als »bürgerliche[n] Begriff von der Unbeweglichkeit der Seele«81 abqualifiziert. Vor dem Hintergrund einer naturalistischen, an zeitgenössischem psychologischen Wissen82 orientierten Anthropologie konstatiert er: »Ich glaube darum nicht an einfache Theatercharaktere. Und die summarischen Urteile über die Menschen […] müßten abgelehnt werden von Naturalisten, die wissen, wie reich der Seelenkomplex ist«.83 Daran schließen sich die berühmten Passagen an, in denen die Modernität der Figuren erläutert wird. »Als moderne Charaktere […] habe ich meine Figuren eher schwankend geschildert, zerrissen, aus Altem und Neuem gemischt«84, heißt es da, und auch: Meine Seelen (Charaktere) sind Konglomerate vergangener Kulturstufen und bestehender, Brocken aus Büchern und Zeitungen, Stücke von Menschen, abgerissene Fetzen von Sonntagskleidern, die zu Lumpen geworden sind, ganz, wie die Seele zusammengeflickt ist.85
Es ist deutlich, dass hier die Abkehr von ›starken Subjekten‹ zu den Bedingungen dramatischer Textproduktion behandelt wird: Da der moderne ›Charakter‹ nicht mehr zeitlich konstant und sprachlich bzw. intellektuell souverän ist, können auch die tradierten Figurenkonzepte nicht mehr verwendet werden. Wenn größtmögliche Realitätsnähe erreicht werden soll, dann, so Strindbergs Vorwort, hat sich im Drama neben der Zeitstruktur auch die Figur und ihre Sprachverwendung86 zu verändern. Dass Ibsen, der bereits vor Strindberg in seinen Gesellschaftsstücken heteronome Subjekte dargestellt hat, aus dieser Untersuchung ausgespart bleibt, liegt daran, dass dieser formal kaum Konsequenzen aus dieser Thematik zieht und stattdessen an einer analytischen und konversationslastigen Dramaturgie festhält.87 Erst Strindbergs formale Experimentierfreude sorgt für die um 1900 zu beobachtende Proliferation der dramatischen Formoptionen.88
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gängig gemacht hat (vgl. ebd., S. 874). Das schwedische Original wird im folgenden ersten Analyseteil, in dem ausführlich von Fröken Julie sowie seinem Vorwort die Rede sein wird, zum Vergleich in den Fußnoten angeführt. Ebd., S. 762f. Strindberg verfolgte neue Erkenntnisse der Hypnose und der Psychopathologie sehr genau (vgl. nur Fechner-Smarsly, Thomas: Nachwort. In: Strindberg, August: Verwirrte Sinneseindrücke. Schriften zu Malerei, Fotografie und Naturwissenschaften. Mit einem Nachw. hrsg. von Thomas Fechner-Smarsly. Aus d. Schwed. u. Franz. von Angelika Gundlach. Dresden 1998, S. 259–299). Strindberg: Fräulein Julie, S. 763. Ebd. Ebd., S. 764. Zur Gestaltung von Dialog und Monolog vgl. ebd., S. 768–770. Zwar betonen sowohl Detering als auch Bayerdörfer die Modernität der Ibsenschen Dramatik, doch scheinen mir die Spurenelemente formaler Repräsentation von Heteronomie etwa bei Noras Tanz oder in der »Radikalisierung der ›analytischen Technik‹« etwa in den »Gespenstern« im Vergleich mit Strindberg und dem symbolistischen Drama nicht von so »rückhaltlose[r] Modernität«, im Gegenteil: Ibsen integriert bereitliegende dramaturgische
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Während es für eine naturalistisch programmierte Dramatik naheliegt, zeitgenössisches Wissen zum Subjektproblem in die eigene Praxis zu integrieren89, so ist das bei der symbolistischen Dramenästhetik90 nicht zu erwarten. Die antimimetische Grundüberzeugung lässt das Argument größerer Realitätsnähe ausfallen. Vielmehr bietet die große Skepsis gegenüber dem zeitgenössischen Theater Anlass, über dramaturgische Alternativen nachzudenken. Dieses Nachdenken wurde von Reflexionen über die dramatische Figur begleitet. Mallarmé hat sich über die Schauspiele mokiert, in denen »lebende Marionetten vor uns ihre Dummheit«91 verkünden, und auch den mythischen Helden des Wagner’schen Musikdramas als ästhetischen Anachronismus abgelehnt.92 Knapp zwei Jahrzehnte später hat Camille Mauclair, Mitbegründer des »Théâtre de l’Œuvre«, in der symbolistischen Zeitschrift »Revue Indépendante« »Notes sur un essai de dramaturgie symbolique«93 vorgelegt. Darin unterscheidet er drei dramatische Paradigmen voneinander. Die erste, die er mit Henri Becque
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Formoptionen so gekonnt in seine handwerklich perfekten Dramen, dass sie nach anfänglicher Skandalisierung aufgrund ihres Inhalts recht schnell kanonisiert werden, da sie formal wenig Widerstände bieten (vgl. Detering: Nietzsche, Ibsen, Strindberg und das Drama der Abstraktion, S. 84–87 sowie Bayerdörfer, Hans-Peter: Dramatische Analyse und Ich-Dramatik. Ibsen und Strindberg. In: Grimminger, Rolf / Murasˇov, Jurij / Stückrath, Jörn (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995, S. 112–138, Zitate S. 118 u. 120). Belegt werden kann diese Sonderstellung in Bezug auf Dramatik wie Subjektbezug mit Diebolds berühmter Darstellung zum zeitgenössischen – das meint besonders: expressionistischen – Drama, die in den dramatischen Neuansätzen aus neoidealistischer Perspektive primär »formale[] und ethische[] Anarchie« (35) erkennt. Entscheidender Exponent dieser von Diebold beklagten Abkehr von der klassischen Dramaturgie und ihrer idealistischen Grundierung (7f.) ist für Diebold neben Wedekind kein anderer als Strindberg, wie Diebold in der Einleitung deutlich macht (27) und dem er in seiner gut 450 Seiten fassenden Schrift mit fast 100 Seiten bei weitem den meisten Platz einräumt (vgl. Diebold, Bernhard: Anarchie im Drama. Frankfurt a.M. 1921, S. 155–249). Vgl. Hinck, Walter: Theater im »wissenschaftlichen Zeitalter«. Kontroversen vom Naturalismus bis zur Gegenwart. In: Bayerdörfer, Hans-Peter / Conrady, Karl Otto / Schanze, Helmut (Hg.): Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978, S. 258–273. Vgl. dazu Damblemont, Gerhard: Symbolistisches Theater im Gefolge Mallarmés. In: Kafitz, Dieter (Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 101–120. Mallarmé, Stéphane: Pariser Chronik [1874]. Theater, Bücher, Kunst; Echos aus den Salons und vom Strand. In: Ders.: Kritische Schriften. Hgg. v. Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Übersetzt von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Christine Le Gal. Mit einer Einleitung und Erläuterungen von Bettina Rommel. Gerlingen 1998, S. 41–49, S. 43 (frz. S: 42). Vgl. Mallarmé, Stéphane: Richard Wagner [1888]. Träumerei eines französischen Poeten. In: Ders.: Kritische Schriften. Hgg. v. Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Übersetzt von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Christine Le Gal. Mit einer Einleitung und Erläuterungen von Bettina Rommel. Gerlingen 1998, S. 149–157, S. 151 u. 153 (frz. S. 152 u. 154). Mauclair, Camille: Notes sur un essai de dramaturgie symbolique. In: La Revue Indépendante. März 1892, S. 305–317. Vgl. zu Mauclairs Ästhetik Valenti, Simonetta: Camille Mauclair, homme de lettres fin-de-siècle. Critique littéraire, œuvre narrative, création poétique et théâtrale. Mailand 2003, S. 114–207.
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und Jean Jullien identifiziert, sei das naturalistische Drama, das zweite, für das ausschließlich Maeterlinck stehe, sei eine dialogtechnisch an Platon und Fichte geschulte Schicksalsdramatik, während das dritte eine symbolische Ideendramatik darstelle, für die unter anderem Racine, Wagner und Mallarmé [!] stehen94 und die die beiden vorigen synthetisch zu verbinden trachtet. Diese zeichnet sich durch den Anspruch auf Überzeitlichkeit aus, was sie vom Zwang der Darstellung von Zeitgenossenschaft befreit: weder die Raumstruktur – und die Kulissen – noch die der figuralen Entwicklung zugrunde liegende Psychologie sind an moderne Verhältnisse und Mimesis gebunden.95 Hinsichtlich der Figurenkonzeption soll dabei differenziert werden zwischen Helden, die »incarnant Idée, Sentiment ou Passion« und deshalb derart gegenüber Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit hinausgehoben werden, dass man sie »surhumain« nennen muss, während die Nebenrollen so an ihre Körperlichkeit gebunden bleiben, dass sie als »êtres secondaires«96 für niedere dramaturgische Funktionen wie Handlung und Gestik Verwendung haben und wie ein antiker Chor97 zwischen den übermenschlichen Helden und dem Publikum vermitteln. Dieser dramaturgische Synkretismus bedeutet für die Figuren eine bemerkenswerte Dichotomie zwischen – Körperlichem und Funktionalem gegenüber – souveränen und deshalb überzeitlich gültigen allegorischen Figuren und solchen, die als Kontrastfiguren in ihrer Beschränktheit der heteronomen Subjektivität des Publikums entsprechen. Doch auch die ›übermenschlichen‹ Figuren, von denen Mauclair spricht, sind als allegorische Figuren nicht mehr mit einem Figurenkonzept starker Subjekte fassbar, da sie – darin den Protagonisten von Mallarmés Lesedramen vergleichbar98 – als Abstraktionen jegliche Subjektivität ablehnen. Maurice Maeterlinck erläutert die Desubjektivierung seiner Dramenfiguren schließlich bemerkenswerterweise in größerer Nähe zu Strindbergs Argumenten als zu denen Mauclairs – doch gilt das erst für seine retrospektive Essayistik ab Mitte der 1890er Jahre und weniger für den berühmten Text über das »Androidentheater«.99 Dieser Text übernimmt die theaterskeptische Haltung der Symbolisten und verschärft sie im Hinblick auf den Schauspieler: Dieser stehe dem
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Vgl. Mauclair: Notes sur un essai de dramaturgie symbolique, S. 307–309. Vgl. ebd., S. 310. Alle Zitate ebd., S. 313. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. Puchner, Martin: Theaterfeinde. Die anti-theatralischen Dramatiker der Moderne. Freiburg i.Br. 2006,, S. 91–102. 99 Maurice Maeterlinck: Menus Propos. Le théâtre. In: La Jeune Belgique 9 (1890), S. 331–336. Dt. Übersetzung: Ders.: Androidentheater (Ein paar Überlegungen I: Das Theater). In: Ders.: Prosa und kritische Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Stefan Gross. Bad Wörishofen 1983, S. 51–56.
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vollkommenen Kunstwerk durch seine »subjectivité accidentelle et accessoire«100 im Weg und solle daher von der Bühne verbannt werden. Er könne auf der Bühne ersetzt werden durch »un ombre, un reflet, par un être qui aurait des allures de la vie sans avoir la vie«.101 Diese radikale Kritik an Schauspielern verbunden mit Vorschlägen ihrer Ersetzung ist besonders von E.G. Craig aufgenommen worden102 und bildet den Ausgang für dessen theatrale Verabschiedung von Subjektivität, die im Kapitel über Theatralität und Subjektivität im Drama um 1900 zur Sprache kommen wird. In seiner 1896 veröffentlichten Essaysammlung »Le Trésor des humbles« (»Der Schatz der Armen«, 1898)103 postuliert Maeterlinck »Le tragique quotidien« (»Tragik des Alltags«) und setzt dabei auch Drama und Subjekt miteinander in Beziehung. Wie Strindberg wird die dramatische Literatur dafür gerügt, zu sehr auf den dramatischen Konflikt äußerer Handlung gesetzt zu haben, weshalb sie wie ein Anachronismus wirke. Statt Handlung und Konflikt soll die Existenz »d’un âme en elle-même, au milieu d’un immensité qui n’est jamais inactive«104 dramatisch dargestellt werden, da »le véritable tragique de la vie, le tragique normal, profond et général« erst sichtbar werden könne, wenn die so genannten »aventures, les douleurs et les dangers«105 vorüber sind. Diese metaphysischen Situierung des Einzelnen im ›Unendlichen‹ als Zentrum des Dramas müsste nach Maeterlinck für die dramatische Figur Konsequenzen haben, was einerseits am Beispiel von Shakespearefiguren illustriert wird, bei denen Hamlets »auguste vie quotidienne«106 anstelle des eifersüchtigen Othello vorbildhaft erscheine, andererseits an Figuren der ereignisarmen antiken Tragödien. Seine statische Dramatik bedarf Figuren, die nicht mehr ›souverän‹ in der Diegesis agieren, sondern als Behältnisse für das durch sie aufscheinende gewöhnliche Leben dienen, wie er am Beispiel des »Philoktet« formuliert.107 Der Verzicht auf Handlung setzt auch die Sprache frei, als Medium für Alles verbindende, subkutane Seelenbewegungen zu fungieren – und als ein »dialogue ›du 100 Maeterlinck: Menus Propos I, S. 334. Von Gross wird das als »nebensächliche, zufällige Subjektivität« übersetzt (Maeterlinck: Androidentheater, S. 54). 101 Maeterlinck: Menus Propos I, S. 335 (dt.: Maeterlinck: Androidentheater, S. 55). 102 Vgl. zum Zusammenhang von Symbolisten und Craig Hiß, Guido: Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000. München 2005, S. 128–133 u. Kralj, Lado: Le Théâtre d’Androïdes. Tendances de dissolution du matériel dans le théâtre de Maeterlinck, Mallarmé et Craig. In: Babel. Littératures plurielles 6 (2002), S. 243–263. 103 Maeterlinck, Maurice: Le Trésor des humbles [1896]. 54. Auflage. Paris 1908 (dt. ders.: Der Schatz der Armen [1898]. Autorisierte Ausgabe. In das Deutsche übertragen von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski. Mit Schmuckleisten und Initialen von Wilhelm Müller-Schoenefeld. Leipzig 1919). 104 Maeterlinck: Le Trésor des humbles, S. 162 (dt. Maeterlinck: Der Schatz der Armen, S. 94). 105 Beide Zitate Maeterlinck: Le Trésor des humbles, S. 163. 106 Maeterlinck: Le Trésor des humbles, S. 168 (dt. Maeterlinck: Der Schatz der Armen, S. 98). 107 Vgl. Maeterlinck: Le Trésor des humbles, S. 173 (dt. Maeterlinck: Der Schatz der Armen, S. 102).
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second degré‹«108 verweist er auf die abhängige Stellung der Figuren wie auf deren Zusammengehörigkeit in ihrer Abhängigkeit. Auf Basis einer lebensphilosophischen Überzeugung von der Gemeinschaft alles Lebendigen werden also die klassische, dem Handlungsprimat folgende Dramaturgie ebenso wie die ihnen zugehörigen Figurenkonzepte als unzeitgemäß verabschiedet. Aber anders als Mauclair imaginiert Maeterlinck die für das neue Drama notwendigen Figuren nicht als allegorische, sondern als Medien, als Träger von ›Leben‹. Sie werden als Medien nicht zu Abstrakta, sondern verhelfen durch ihre Statik, ihre semiotische ›Unterbestimmtheit‹, einer mit klassischer Dramaturgie unerkennbaren Wahrheit zur Anschaubarkeit – worin sie, von gänzlich anderen Voraussetzungen ausgehend, Strindbergs ›modernen‹ Figuren ähnlich sind. Die zweite Kategorie des Bezugs von Subjektsemantik und Drama zeigt sich bei Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal. Bahr, dessen Rolle als Vermittler und Katalysator literarischer und ästhetischer Strömungen in den deutschsprachigen Raum so bekannt wie in seiner Bedeutung umstritten ist109, hat sich schon zu Beginn seiner publizistischen Tätigkeit mit beiden Themen auseinandergesetzt – eine Verbindung geschah allerdings erst nachträglich und auf signifikante Weise. So kritisierte der frühe, eine ›Nervenkunst‹ gegenüber dem Naturalismus in Stellung bringende Bahr schon in seinem Ibsen-Aufsatz die Figurenzeichnung der Ibsen’schen Gesellschaftsstücke, da sie naturalistisch orientiert sei, die Figuren aber zugleich elaborierte Gedanken ausdrücken lasse, die zu ihrer Charakterisierung in Widerspruch stehe.110 Die Inkohärenz mancher Ibsen’scher Figuren, darunter Stockmann und Nora, liest Bahr in diesem frühen Text noch nicht als neues Verfahren der Figurendarstellung, sondern als Defizit eine Autors, dessen darstellerische »Kraft […] hinter seiner Absicht«111 hinterher 108 Maeterlinck: Le Trésor des humbles, S. 176 (dt. Maeterlinck: Der Schatz der Armen, S. 104). 109 Neben beinahe hagiographischen Arbeiten zu Bahr finden sich auch solche, die gerade aufgrund des Tempos, mit dem Bahrs ästhetische Positionen und Protegées proliferierten, seinen Einfluss auf das intellektuelle Wien für eher überschaubar halten (vgl. zu Ersterem nur Daviau, Donald G.: Der Mann von Übermorgen. Hermann Bahr 1863–1934. Wien 1984 sowie ders.: Hermann Bahr – Bahnbrecher der Moderne. In: Zeman, Herbert (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil seit der Jahrhundertwende. Bis zur Gegenwart (1880– 1980). 2. Bde. Band 1. Graz 1989, S. 685–707 bzw. Fliedl: Ernst Mach und die Folgen sowie Berlage: Empfindung, Ich und Sprache um 1900, S. 77–120. Diese Diskussion kann hier nicht näher beleuchtet werden. Fest steht, dass Bahr sehr gut vernetzt war und maßgebliche Akteure besonders des Jungen Wien gut kannte und er in einflussreichen Zeitschriften wie der »Modernen Dichung« und der »Freien Bühne« bzw. »Neuen deutschen Rundschau« publiziert hat (vgl. Wunberg: Einführung des Herausgebers, S. LXVI–LXXIV). Es ist also plausibel, dass Bahrs Texte in entsprechenden Kreisen bekannt waren, selbst wenn sein Publikum nicht allen Meinungsumschwüngen Bahrs gefolgt ist. 110 Vgl. Bahr, Hermann: Henrik Ibsen [1890]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 1: Zur Kritik der Moderne. Hgg. v. Claus Pias. Weimar 2004, S. 70– 90, S. 86f. 111 Ebd., S. 90.
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hinkt. Maurice Maeterlincks Figuren sieht Bahr vor dem Hintergrund einer »Nervensymbolik«112 ebenso ex negativo, als Verweigerung dramatischer Gestaltung: »Wer das große Leiden seiner Tragödie hinter sich hat, erinnert sich keines Charakters, der vor dem Gesichte bliebe, keines Schicksals, das am Gefühl klebe, sondern er wird […] nur eine Skala von Reizen wissen, die auf seine Nerven vollbracht sind«.113 Reflexe auf zeitgenössische Subjektthemen sieht er zunächst in anderen literarischen Gattungen, besonders im Roman: In Essays zum modernen Psychologismus im naturalistischen Roman führt Bahr besonders die Texte von Paul Bourget114 als exemplarisch für eine der neuen Psychologie entsprechenden, neuartigen Gestaltung von Figuren an. Unter den Auspizien dieser Psychologie lesen Bahr, Paul Schlenther und Otto Brahm übrigens auch bereits recht früh August Strindbergs naturalistische Texte.115 Die Befragungen des starken Subjekts in Philosophie, Psychophysik und Psychologie behandelt Bahr typischerweise oberflächlich und im Hinblick auf ihre allgemeine Bedeutung für Literatur und Kunst, ohne dass der Konnex zu dramatischen Texten konsequent verfolgt worden wäre. Das ändert sich erst mit dem Essayband »Dialog vom Tragischen« von 1904116, dessen titelgebender Text bereits im Jahr davor in der Neuen deutschen Rundschau erschienen ist.117 In der – um die Jahrhundertwende beliebten – Form des platonischen Dialogs versucht Bahr hier eine psychoanalytische Neudeutung der aristotelischen Poetik118 und problematisiert dabei die dramatische Form schlechthin119: Die wortführende Dialogfigur des »Meisters« behauptet, das Drama könne »die Fiktion nicht entbehren, 112 Bahr, Hermann: Maurice Maeterlinck [1891]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 2: Die Überwindung des Naturalismus. Hgg. v. Claus Pias. Weimar 2004, S. 158–164, S. 161. 113 Ebd., S. 162. 114 Bahr, Hermann: Die Krisis des Naturalismus [1891] sowie ders.: Die neue Psychologie [1891]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 2: Die Überwindung des Naturalismus. Hgg. v. Claus Pias. Weimar 2004, S. 61–66 bzw. S. 89–101, bes. S. 95–97. 115 Vgl. Hansen, Uffe: Strindberg und die dynamische Psychiatrie der 80er Jahre. Überlegungen zur frühen deutschen Strindbergrezeption. In: Bohnen, Klaus (Hg. u. a.): Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Kopenhagen 1984, S. 39–61. 116 Bahr, Hermann: Dialog vom Tragischen [1904]. In: Ders.: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hgg. v. Claus Pias. Band 9: Dialog vom Tragischen / Dialog vom Marsyas / Josef Kainz. Hgg. v. Gottfried Schnödl. Weimar 2010, S. 1–71. 117 Bahr, Hermann: Dialog vom Tragischen. In: Neue deutsche Rundschau 14,7 (1903), S. 716– 736. 118 Vgl. Luserke-Jaqui, Mathias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart 1995, S. 367–377 sowie Worbs, Michael: Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen. In: Hagestedt, Lutz (Hg.): Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Thomas Anz zum 60. Geburtstag. München 2008, S. 357– 364. 119 Vgl. Worbs: Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen, S. 363.
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daß ein Mensch immer derselbe bleibt«, weshalb er sich frage, »was es denn noch soll.«120 Aufgrund ihres Angewiesenseins auf ein Figurenkonzept, das mit explizitem Verweis auf Nietzsche und Mach, der »jetzt eben anfängt, Philosoph der Zeit zu werden«121, als anachronistisch gelten müsse, sei das Drama grundlegend in Frage gestellt. »Ich wenigstens«, so schließt der Monolog des Meisters, kann nicht begreifen, wie derselbe Mensch, der fähig ist, Rodin oder Klimt mitzufühlen, welchen [!] das einzelne (…) immer durch Metamorphose gleich ins All zerrinnt, wie ein solcher Mensch (…) noch mit den starren Puppen des Theaters spielen mag.122
Die radikale Infragestellung der dramatischen Gattung aufgrund ihres den Figuren zugrunde liegenden Subjektkonzepts wird als Nachvollzug eines mit den Namen Nietzsche und Mach legitimierten geltenden neuen Subjektkonzepts dargestellt, wie der im Essayband an den Dialog anschließende Text »Das unrettbare Ich«123 deutlich macht. Bemerkenswert ist hierbei nicht so sehr, dass Bahr die Bedeutung Ernst Machs für sein Ich-Verständnis benennt, sondern vielmehr, wie dies geschieht. Der Text skizziert nämlich eine intellektuelle Autobiografie, in der die Stationen einer erkenntnistheoretischen Verunsicherung aufgeführt werden: Kant, Ribot, schließlich Mach.124 Dieser wird als letzter Gewährsmann der Überzeugung gelesen, dass das Wort »Ich« nur ein »Behelf [ist], »den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen.«125 Gleichzeitig erscheint Mach, und das wurde oft überlesen126, als überwunden, sofern die Illusion des Ich noch immer praktischen Sinn hat: »Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Ich.«127 Entscheidend an dieser Skizze ist nun, wie sie die persönliche Subjektkrise erzählt, und das heißt insbesondere, dass sie mit der dramatischen Gattung verbunden wird. Dass sie retrospektiv als jugendliche Aberration erzählt wird, ließe sich leicht als die für Bahr typische Rhetorik des Überwunden-Seins erklären, die sich seit Beginn seiner publizistischen Karriere finden lässt. Doch daneben ist das Retrospektive insofern bedeutsam, als dass erst in der Rückschau die thematische Kohärenz der drei Autoren Kant, Ribot und Mach aufscheint: Während nach dieser Erzählung Bahrs Kant-Krise etwa Anfang der 1880er Jahre stattgefunden hat, erfolgten die Lektüren von Ribot und Mach um die Jahrhundertwende als Reaktion auf dramatische Texte von Euripides, als deren »eigentlicher Gedanke« ihm die Darstellung der »Unsicherheit 120 121 122 123 124 125 126 127
Bahr: Dialog vom Tragischen [1904], S. 26. Ebd. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 36–47. Vgl. ebd., S. 41–47. Ebd., S. 45. Vgl. Fliedl: Ernst Mach und die Folgen, S. 174f. Bahr: Dialog vom Tragischen [1904], S. 47.
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des Ich«128 erschienen war. Die dramatischen Texte erhalten hier die Funktion eines Katalysators für ein erkenntnistheoretisches Unbehagen, dessen kulturübergreifende Bedeutung erst durch diese Texte begriffen wird. So gesteht der Autor der Skizze, dass er vergeblich versucht habe, die völlige persönliche Inkonsistenz eines Menschen »dramatisch zu fassen«129 und vermutet, dass dies für ihn »nur ein wunderlicher Weg gewesen [sei], um reif zu werden, reif für Mach.«130 Der Text verbindet also die Stadien einer Subjektkrise mit der dramatischen Literatur, indem diese als ›Impulsgeber‹ für jene erscheint. Die theoretische Literatur wird erst mithilfe der dramatischen als thematisch kohärent beschreibbar und erscheint zugleich eingebettet in eine die dramatische Literatur übersteigende Problemlage, als allgemeines Kulturphänomen. Dieses wird bei Bahr, anders als bei Strindberg und Maeterlinck, nicht allein als Gegenstand dramaturgischer Überlegungen thematisch, sondern als »Philosophie des Impressionismus«131, als eine an der avancierten impressionistischen Malerei ablesbare neue »Anschauung der Welt«132, die »unser Gefühl der Welt […] auf das größte ausspricht«133 und ohne Heraklit, Kant und besonders Mach nicht zu denken ist. Dass Hugo von Hofmannsthal spätestens ab der Jahrhundertwende die Rede vom unrettbaren Ich zur »Grundlage seines poetischen Schreibens und dessen immanenter Reflexion«134 gemacht hat, ist von der neueren Forschung bereits ausgewiesen worden. Neben vereinzelten Verweisen in seinem lyrischen Werk135 hat insbesondere Hofmannsthals dramatische Produktion als Ort für diese Reflexion viel Aufmerksamkeit erhalten. Texte wie »Elektra«136, »Der Schwierige«137
128 129 130 131 132 133 134
Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Vgl. den so betitelten Abschnitt im Dialog vom Tragischen, ebd., S. 47–53. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Bergengruen, Maximilian: Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals Epistemologie des ›Nicht-mehr-Ich‹. Freiburg [u. a.] 2010, S. 7. 135 Vgl. etwa Ryan: The vanishing subject, S. 118–122. 136 Vgl. Worbs, Michael: Mythos und Psychoanalyse in Hugo v. Hofmannsthals ›Elektra‹. In: Anz, Thomas (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999, S. 3–16; Bergengruen: Mystik der Nerven, S. 35–82; Kolb: Zur »Infragestellung des Subjekts« in der Wiener Moderne am Beispiel Hugo von Hofmannsthals, S. 41–63. 137 Vgl. Fülleborn, Ulrich: »Zwei Antinomien wären zu lösen…« [1992]. Werden und Sein, Individuum und Gemeinschaft im Werk Hofmannsthals. In: Ders.: Besitz und Sprache. Offene Strukturen und nicht-possessives Denken in der deutschen Literatur. Ausgewählte Aufsätze. Hgg. v. Günther Blamberger, Manfred Engel u. Monika Ritzer. München 2000, S. 235–254, bes. S. 244–253; Bergengruen: Mystik der Nerven, S. 199–236.
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oder »Der Turm«138 lassen sich dabei unschwer als Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Subjektdiskursen lesen.139 Auch dass die epistemologische Krise in »Ein Brief« Gewissheiten wie die Kohärenz des Ich angreift, ist bereits gesehen worden.140 Darüber hinaus lassen sich auch anhand weiterer – diskursiver wie literarischer – Texte nachweisen, dass sich die Beschäftigung mit den Konsequenzen der Subjektproblematik für das Drama in allen Werkphasen findet. Drei repräsentative Texte seien erwähnt. Hofmannsthals früher Aufsatz über »Die Menschen in Ibsens Dramen«141 (1893) behandelt Fragen der Figurenkonzeption noch ohne explizites Ausgreifen auf allgemeine Zeitphänomene. In dem Aufsatz wird die These vertreten, dass Ibsens Figuren nur teilweise als »Menschen« – in heutiger Terminologie: als individualisierte Charaktere – erscheinen, und dass diese Figuren »Varianten eines sehr reichen, sehr modernen und sehr scharf geschauten Menschentypus«142 sind, die »ein schattenhaftes Leben« führen, das nahezu ausschließlich aus »Gedanken, Stimmungen und Verstimmungen«143 besteht. Diese Lesart Ibsen’scher Figuren steht erkennbar vor dem Hintergrund der eigenen ästhetizistischen Dramatik und sieht daher auch die in den eigenen Texten aufgegriffene Problematik, wie sich solcherlei undramatische Figuren »im Leben«144 verhalten, in Ibsens Werk behandelt. Allerdings registriert Hofmannsthal im letzten Teil des Aufsatzes, dass diese individualisierende Figurenkonzeption in Ibsens kürzlich erschienenem »Baumeister Solness« in Teilen zugunsten einer Allegorisierung der Figuren aufgegeben wurde, 138 Vgl. Bergengruen: Mystik der Nerven, S. 133–198; Kolb: Zur »Infragestellung des Subjekts« in der Wiener Moderne am Beispiel Hugo von Hofmannsthals, S. 64–84; Mionskowski, Alexander: Souveränität als Mythos. Hugo von Hofmannsthals Poetologie des Politischen und die Inszenierung moderner Herrschaftsformen in seinem Trauerspiel Der Turm (1924/ 25/26). Wien [u. a.] 2015, bes. S. 91–119 u. 341–376. 139 Weil der in dieser Dissertation zu leistende Nachweis der formalen Verarbeitung des Subjektdiskurses für »Elektra« bereits hinreichend geleistet worden ist und die – anders als beim »Schwierigen« – auch formal ergiebigen »Turm«-Fassungen allesamt außerhalb des Bearbeitungszeitraums liegen, wird hier auf eine Auseinandersetzung mit diesen Texten verzichtet. 140 Vgl. Wunberg, Gotthart: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965; Wiethölter, Waltraud: Hofmannsthal oder die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk. Tübingen 1990, S. S. 57– 85; Lönker, Fred: Das Verschwinden des Subjekts in der Literatur der Jahrhundertwende (Hofmannsthal, Rilke, Musil). In: Jacobsen, Dietmar (Hg.): Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Prophetie. Literatur an Jahrhundertschwellen. Frankfurt a.M. [u. a.] 2001, S. 137–160, bes S. 139–144; Bosse, Heinrich: Die Erlebnisse des Lord Chandos. In: Hofmannsthahl-Jahrbuch 11 (2003), S. 171–207, bes. S. 185–194. 141 Hofmannsthal, Hugo v.: Die Menschen in Ibsens Dramen [1893]. Eine kritische Studie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 32: Reden und Aufsätze 1. Hgg. v. Hans-Georg Dewitz (u. a.). Frankfurt a.M. 2015, S. 80–88. 142 Ebd., S. 80. 143 Beide Zitate ebd., S. 81. 144 Ebd., S. 86.
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weshalb sie wie »hohle, menschenähnliche Puppen«145 erscheinen. Indem diese Verschiebung als Intensivierung des »Lebensproblems«146 gedeutet wird, kann ihr Irritationspotential noch bewältigt werden. Die Texte nach der Jahrhundertwende halten die Problematik entindividualisierter Figuren hingegen aus und reflektieren diese. Dazu sei auf das 1902 veröffentlichte ›erfundene Gespräch‹147 »Über Charaktere im Roman und im Drama«148 verwiesen. Das imaginierte Gespräch zwischen Balzac und Joseph von Hammer-Purgstall behandelt nicht allein, wie der Titel nahelegt, gattungsspezifische Fragestellungen, sondern bettet besonders die Behandlung der dramatischen Figur in die Frage nach dem Subjektstatus von Menschen schlechthin ein.149 Gefragt, warum Balzac trotz seiner Leidenschaft für das elisabethanische Theater davon Abstand nimmt, Dramen zu schreiben, antwortet dieser: »Ich glaube vielleicht nicht, daß es Charaktere gibt. Shakespeare hat es geglaubt. Er war ein Dramatiker.«150 Er führt aus, dass dieser Zweifel einerseits mit der Gattung in Verbindung steht, da »der dramatische Charakter« lediglich »eine Verengerung des wirklichen«151, da er um der Konstruktion des Dramas willen nur das die Handlung Betreffende am Menschen erfassen kann. Andererseits geht der Zweifel an der dramatischen Figur über Gattungsfragen hinaus, indem auch die eigenen – Balzacs – Romanfiguren als defizitär bezeichnet werden: Sie sind nur das »Lackmuspapier, das rot oder blau reagiert. Das Lebende, Große, das Wirkliche sind die Säuren: die Mächte, die Schicksale.«152 Das Problem ist weniger die dramatische Gattung, sondern ist die Verfasstheit des Menschen vor dem Hintergrund des ›Lebens‹, die die figurale Darstellung notgedrungen als »Verengerung« erscheinen lässt. Den Begriff der Pathologie ablehnend erscheint Balzac das Innere aller Menschen als »ein sich selbst verzehrender Brand […], ein 145 Ebd., S. 87. 146 Ebd., S. 85. 147 Vgl. zu dieser Textform: Burdorf, Dieter: Gespräche über Kunst. Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900. In: Beyer, Andreas / ders. (Hg.): Jugendstil und Kunstkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg 1999, S. 29–50 u. Jander, Simon: Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner – Hugo v. Hofmannsthal – Gottfried Benn. Heidelberg 2008, bes. S. 185–278. 148 Hofmannsthal, Hugo v.: Über Charaktere im Roman und im Drama [1902]. Ein imaginäres Gespräch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hgg. v. Ellen Ritter. Frankfurt a.M. 1991, S. 27–39. 149 Vgl. dazu nur Rispoli, Marco: »Über Charaktere im Roman und im Drama« (1902). In: Mayer, Mathias / Werlitz, Julian (Hg.): Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 320–322. Rispoli verweist übrigens darauf, dass Hofmannsthal erwogen hat, das Gespräch mit »Charakter im Leben und im Drama« zu betiteln, womit der hier erwiesene Zusammenhang noch deutlicher erfasst wäre (vgl. ebd., S. 320). 150 Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama [1902], S. 30. 151 Beide Zitate ebd., S. 31. 152 Ebd.
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Glasofen, in welchem die Masse des Lebens ihre Formen erhält«.153 Dies ist ein Vorgang, der durch generationenweise sich steigernde Bewusstheit zu einer Art Entropie der geläufigen Illusionen über die Kohärenz der Wahrnehmungsakte führen wird, so »daß man um 1890 oder 1900 überhaupt nicht mehr verstehen wird, was wir mit dem Wort ›Erlebnis‹ haben sagen wollen.«154 Balzacs Zweifel an den literarischen Figuren erscheint somit als konsequente Umsetzung dieses dem »philosophische[n] Deutschland«155 entlehnten, prekär gewordenen Subjektstatus’ des Menschen. In dem 1904 veröffentlichten »Gespräch über Gedichte«156 wird dieser Zusammenhang verknappt wiederholt. Angesichts von den Einzelnen transzendierenden seelischen Bewegungen, durch die jeder mit dem All-Einen der Natur und der Mitmenschen verbunden ist, lehnt »Gabriel« die Vorstellung eines souveränen Verfügens über die eigene Person ab: »Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an«157, worauf »Clemens« zustimmt und bezweifelt, »daß es in der menschlichen Natur irgendeine Wesenheit gibt. Furchtbar ist es, die Gewalt der Äußerlichkeiten zu erwägen: es muß unendlich schwer sein, ein Drama zu schreiben, und unendlich hart, über einen Mörder zu Gericht zu sitzen.«158 Auch hier wird die Schwierigkeit, Dramen zu produzieren, als direkte Konsequenz eines Zweifels am ›starken Subjekt‹ dargestellt. In einem jenseits des Untersuchungszeitraums, 1926, verfassten dramatischen Prolog zur Eröffnung eines »Theaters des Neuen«159 in Wien lässt Hofmannsthal eine Figur pointiert Bilanz ziehen über das ›starke Subjekt‹, das hier den Namen »Individuum« trägt. Die Situation: Als Vorbereitung auf die anstehende Premiere von Brechts »Baal«160 diskutieren die Schauspieler des Stücks – die Figuren tragen die Namen der wirklichen Schauspieler des »Baal« – über die aktuelle Situation von Drama und Theater, wobei zwei von ihnen die Position konventioneller Ästhetik vertreten, zwei einer mystisch argumentierenden Auflösung der traditionellen Figur das Wort reden und eine fünfte, »Friedell«161, schließlich den Anachronismus des Individuums selbst verabschieden will. So müsse die jetzige Zeit erlöst werden vom »Individuum«: »Sie schleppt zu schwer an dieser Aus153 154 155 156 157 158 159 160 161
Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 36. Hofmannsthal, Hugo v.: Das Gespräch über Gedichte [1904]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hgg. v. Ellen Ritter. Frankfurt a.M. 1991, S. 74–86. Ebd., S. 76. Ebd. Hofmannsthal, Hugo v.: Das Theater des Neuen [1926]. Eine Ankündigung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 17: Dramen 15. Hgg. v. Gudrun Kotheimer u. Ingeborg Beyer-Ahlert. Frankfurt a.M. 2006, S. 323–339. Vgl. die Anmerkungen in: ebd, S. 1127–1183, bes. S. 1127–1130. Gemeint ist der bekannte Kulturhistoriker Egon Friedell, der zu dieser Zeit Schauspieler am Wiener »Theater des Neuen« war (vgl. ebd., S. 1128).
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geburt des sechzehnten Jahrhunderts, die das neunzehnte großgefüttert hat.«162 Gegen Widerspruch äußert er darüber hinaus die Vermutung, »daß alle die ominösen Vorgänge in Europa, denen wir seit zwölf Jahren beiwohnen, nichts sind als eine sehr umständliche Art, den lebensmüden Begriff des europäischen Individuums in das Grab zu legen, das er sich selbst geschaufelt hat.«163 Bemerkenswert an dieser Verabschiedung des »dogmatische[n] Ich[s]«164 ist nicht allein, dass es als Beleg für die Unmöglichkeit des traditionellen Figurenkonzepts angeführt wird, sondern insbesondere, dass es, wie schon bei Hermann Bahr, die Frage nach dem Subjekt als bereits – negativ – beantwortet darstellt. Hofmannsthals Texte lassen sich als Reflexion der Konsequenzen einer Subjektkrise für die Literatur lesen, dessen Grundlagencharakter in der werkbiografischen Entwicklung immer schärfer gesehen und schließlich als jahrhundertelang geltende europäische Sonderentwicklung bezeichnet wird. Zum Schluss erscheint das ›Ich‹ als eine intellektuell längst überwundene Zumutung, von der die Welt, das legt der Ort, an dem dies postuliert wird, nahe, nicht zuletzt von der Bühne aus, durch moderne Stücke wie den »Baal« zu erlösen ist.165
4.3
Erläuterung des Untersuchungszeitraums
Die Frage, ob mit der oben als ›heiße Phase‹ der Subjektbehandlung im Drama bezeichneten Zeit um 1900 nicht ein Untersuchungszeitraum gewählt worden ist, der relevante, früher verfasste dramatische Texte ausschließen muss, ist zunächst einmal ernst zu nehmen. Wenn Schwerpunkte der Forschung ein Indikator sind, gäbe es Gründe dafür, frühere ›heiße Phasen‹ – die Dramatik der griechischen Antike166, der Shakespeare-Zeit167, des 18.168 oder der ersten Hälfte des 19. Jahr162 163 164 165
Hofmannsthal: Das Theater des Neuen [1926], S. 333. Ebd. Ebd., S. 337. Analog lassen sich die frühen, eher lesedramatischen Stücke Gottfried Benns als ›intellektuelle Verkündigungsdramen‹ lesen, indem sie von der Bühne herunter für die endlich auch literarisch nachzuvollziehende Verabschiedung des ›starken Subjekts‹ eintreten (vgl. dazu: Dierick, Augustinus P.: »Das Ich ist ein Phantom«. The Crisis of Cartesianism and its Transcendence in Myth in Gottfried Benn’s Early Dramas. In: Henn, Marianne / Lorey, Christoph (Hg.): Analogon Rationis. Festschrift für Gerwin Marahrens zum 65. Geburtstag. Alberta 1994, S. 357–387). 166 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991; Schmitt: Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie? 167 Vgl. neben den erwähnten Arbeiten von Greenblatt Belsey, Catherine: The Subject of Tragedy. Identity and difference in Renaissance England. London/New York 1985, Henkel, Matthias H.: »Know thine own meaning«. Menschenbild und Selbstentwurf in Shakespeares Romanzen. Zur Idee der Autonomie des Individuums in der Literatur der Renaissance. Trier
Erläuterung des Untersuchungszeitraums
175
hunderts169 – für beforschenswerter zu halten. Folgt man der Forschung, so ist wahlweise die griechische Tragödie170 oder das frühneuzeitliche Drama seit Shakespeare mit der Konstitution von Subjektivität, die Dramatik von Kleist bis Grabbe mit ihrer Desavouierung und die von Hebbel mit ihrer Rettung171 befasst gewesen. Von dieser Perspektive aus scheint es zumindest erklärungsbedürftig, warum der relativ späte Zeitabschnitt gewählt worden ist. Nicht schon mit Lenz, Kleist oder Büchner zu beginnen, hat neben dem evidenten pragmatischen Grund, dass der damit zu untersuchende Abschnitt vollkommen unübersichtlich geworden wäre, vor allem sachliche Gründe. Einen
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1997; Hanson, Elizabeth: Discovering the Subject in Renaissance England. Cambridge [u. a.] 1998; Schwanitz, Dietrich: Das Subjekt und Hamlets Vaters Geist. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Erster Band. Berlin/New York 1998, S. 692–712; Greiner: The Birth of the Subject sowie wissensgeschichtlich der Band: Höfele, Andreas / Laqué, Stephan (Hg.): Humankinds. The Renaissance and its anthropologies. Berlin [u. a.] 2011. Die Forschung befasst sich hier vor allem mit den Konsequenzen der Integration anthropologischen Wissens, der neuen Schauspieltheorien oder Kantischer Subjektkonzeption für die Dramenproduktion (vgl. nur die Standardwerke: Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst; Löffler, Katrin: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730–1760. Leipzig 2005; Lukas, Wolfgang: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005; Immer, Nikolas: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008.). Vgl. Grugger: Dramaturgie des Subjekts bei Heinrich von Kleist; Fröhlich, Harry: Dramatik des Unbewußten. Zur Autonomieproblematik von Ich und Nation in Eichendorffs »historischen« Dramen. Tübingen 1998; Hohendahl, Peter Uwe: Nachromantische Subjektivität. Büchners Dramen. In: Zs. f. dt. Philologie 108 (1989), S. 496–511. Greiner, Bernhard: Wiederholung und gedrängte Zeit: Depotenzierung des geschichtsmächtigen Subjekts und Refigurierung zum Mythos in Grabbes »Napoleon oder die hundert Tage«, in: Fink, Wolfgang / Haag, Ingrid / Wimmer, Katja (Hg.): Frankreich-Deutschland: Transkulturelle Perspektiven. France-Allemagne: Perspectives transculturelles. Festschrift für Karl Heinz Götze. Frankfurt a.M. 2013, S. 139–154. Vgl. Lehmann: Theater und Mythos. Allerdings sind Lehmann und andere in neueren Arbeiten dazu übergegangen, die griechische Tragödie aus dem Geltungsbereich der Gattung Drama auszusondern und das Drama sui generis wie Szondi in der Neuzeit anzusetzen, was zur Konturierung eines spezifisch prädramatischen Subjekts der Tragödie führt (vgl. ders.: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2013, bes. S. 236–253 u. 301–310), während die Eheleute Menke das klassische Drama als »nur eine Möglichkeit des Theaters« sowie als »strukturell beschränkte Option« relativieren (Menke, Bettine / Menke, Christoph: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen. In: Dies. (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Berlin 2007, S. 6–15, S. 6). Vgl. Werner, Hans-Georg: Die ästhetische Rettung des Subjekts durch den Tragödiendichter Friedrich Hebbel. In: Koller-Andorf, Ida (Hg.): Hebbel – Mensch und Dichter im Werk. Wien 1995, S. 33–46. Andere Forschungsbeiträge betonen eher die Problematisierung des Subjektkonzepts bei Hebbel: Thomsen, Hargen: Grenzen des Individuums. Die Ich-Problematik im Werk Friedrich Hebbels. München 1992 sowie: Kaiser, Herbert: Subjektivität bei Hebbel und Grillparzer. In: Koller-Andorf, Ida (Hg.): Hebbel – Mensch und Dichter im Werk. Wien 1995, S. 197–209.
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Subjekt im Drama um 1900: Zur Plausibilisierung des Untersuchungszeitraums
zentralen Grund, nämlich die subjekttheoretische Dynamik um 1900, hat der Abschnitt 3.6 dieses Teils darzulegen versucht. Ein zweiter Grund steht hingegen damit in Verbindung, dass in den Jahrzehnten ab 1800 die Theaterpraxis in überwältigendem Maße an Unterhaltungsmaßstäben orientiert war172 und die meisten der oben angeführten Autoren deshalb noch lange eher als Lesedramatiker galten. Das ändert sich um 1900: In dieser Zeit sorgt eine Gemengelage aus semantischer Verunsicherung, dramatischer Experimentierfreude und theatraler Öffnung dafür, dass Drama und Subjekt auf personell breiterer Basis sowie theaterpraktisch unterstützt miteinander verbunden worden sind. Genau diese historisch spezifische Gemengelage ist es, die diese Jahre zur ›heißen Phase‹ der Verbindung von Drama und Subjekt-Semantik hat werden lassen. Weil in dieser Arbeit die subjekt-semantischen Interdependenzen von Drama und Theater stark gemacht werden sollen, müssen Texte, die bis um 1900 weitestgehend als Lesedramen angesehen worden sind, ausgeschlossen werden.173 Abschließend wäre noch zu klären, warum die Untersuchung des Zusammenhangs von Subjektsemantik und Dramatik mit dem Auslaufen des ›expressionistischen Jahrzehnts‹ Anfang der 1920er Jahre abbricht. Es lassen sich auch in der Zwischenkriegszeit gelegentlich Texte finden, die diesen Zusammenhang aufgreifen, etwa spätexpressionistische (Werfel) und surrealistische (Goll), oder solche, die die technische Zurichtung des Subjekts in Komödienform bearbeiten ˇ apek, Brechts »Mann ist Mann«).174 Institutionell und personell ist der größere (C Einschnitt in der Dramen- und Theatergeschichte fraglos um 1933 zu verzeichnen175, was ebenso für eine Verlängerung des Untersuchungszeitraums spräche. Gegen eine solche Ausweitung lassen sich zwei Argumente anführen. Zunächst steht auf sachlicher Ebene zu vermuten, dass besonders im Deutschland der Weimarer Republik durch neue Wissenskontexte – etwa die Verbreitung von
172 Vgl. Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Band 2 Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. München 1989, S. 562–591. 173 Ein theatergeschichtlicher Exkurs zur Aufführungsgeschichte von Goethes »Faust« und Büchners »Woyzeck« – in Abschnitt 2.2.2 des B-Teils dieser Arbeit – wird diese hier aus Klarheitsgründen etwas apodiktisch formulierte These wieder etwas differenzieren. 174 Vgl. dazu Bosse, Anke: Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung. Katalysatoren einer ˇ apek & Kiesler). In: Technifizierung des Theaters in der Moderne und den Avantgarden (C Kucher, Primus-Heinz (Hg.): Vergessene Avantgarde – verdrängte Moderne. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen 2015, S. 65–77 u. Wucherpfennig, Wolf: Überwindung des Individuums? Überlegungen zu ›Mann ist Mann‹. In: Ders. (Hg.): Bertolt Brecht – die Widersprüche sind die Hoffnungen. Vorträge des Internationalen Symposiums zum Dreissigsten Todesjahr Bertolt Brechts in Roskilde 1986. Kopenhagen [u. a.] 1988, S. 161–191. 175 Vgl. dazu Rühle, Günther: Theater in Deutschland 1889–1945, S. 682–724.
Erläuterung des Untersuchungszeitraums
177
Behaviorismus und Taylorismus176, die phänomenologische und Wissenssoziologie177, die Existenzphilosophie178 oder die philosophische Anthropologie179 – neue Subjektkonzepte Einzug erhalten haben, die mit der Dichotomie von ›starker‹ und ›schwacher‹ Subjektivität gebrochen haben180, was auch auf die dramatische Produktion der Zeit rückgewirkt hat.181 Dramenästhetisch fällt eine mit der Politisierung der Weimarer Gesellschaft einher gehende Tendenz zu themenfixierten Zeit- und Problemstücken sowie politischer Dramatik (Agitationsstücke, epische Dramatik, Totaltheater) auf, die der Bearbeitung subjektsemantischer Fragestellungen nicht mehr so günstig war wie die experimentierfreudigere Stimmung der Jahrzehnte um 1900.182 Da also – und das wäre das zweite, eher forschungspragmatische Argument – erhebliche Mengen an subjektsemantischem Material zu sichten gewesen wären, deren dramatische Bearbeitung aber, so legt es die Forschung nahe, nicht mehr den kulturellen Kern der Zeit tangiert hätte, erscheint es legitim, auf eine Ausweitung des Untersuchungszeitraums bis 1933 zu verzichten. 176 Vgl. Baum, William M.: Understanding behaviorism. Behavior, culture, and evolution. Chichester ³2017 sowie Hebeisen, Walter: F.W. Taylor und der Taylorismus. Über das Wirken und die Lehre Taylors und die Kritik am Taylorismus. Zürich 1999. 177 Zu denken wäre da an das Wirken von Karl Mannheim und Alfred Schütz (vgl. Kruse: Geschichte der Soziologie, S. 192–207 bzw. Schroer, Markus: Soziologische Theorien. Von den Klassikern bis zur Gegenwart. Paderborn 2017, S. 141–172). 178 Heideggers Existenzphilosophie hat bekanntlich in Nietzsche und Kierkegaard wichtige Vorläufer im 19. Jahrhundert. Während die existenzialistische Deutung Nietzsches eine Heideggersche Eigenleistung darstellt, setzt die Wirkung Kierkegaards im deutschsprachigen Raum nach frühen Versuchen von Georg Brandes erst in den 1910er Jahren ein und erweist sich dann insbesondere bei Heidegger und Jaspers (vgl. zu Heideggers Verbindungen zu Nietzsches und Kierkegaards Denken nur Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. Frankfurt a.M. 2001, S. 200–202 und zu Heideggers Subjektbegriff vgl. Köchler, Hans: Heideggers Konzeption des Subjekts auf [!] dem Hintergrund seiner Ontologie. In: Fetz, Reto Luzius / Hagenbüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Zweiter Band. Berlin/New York 1998, S. 1058–1072). 179 Vgl. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 263–278 sowie im denkgeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhundert bei Hartung, Gerald: Philosophische Anthropologie. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Ditzingen 2018. 180 Hinweise darauf bieten Reckwitz’ Ausführungen zum Angestelltensubjekt (in: Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 336–440) sowie Lethens Rekonstruktion der zeitgenössisch virulenten ›kalten persona‹ (vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994). 181 Vgl. Röber, Tatjana: »Die neuen Methoden der Betrachtung«. Subjektivitäts- und Wahrnehmungskonzepte in Kulturtheorie und ›sachlichem‹ Theater der 20er Jahre. 2 Bände. St. Ingbert 2001. 182 Vgl. Kiesel, Helmuth: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933. München 2017, S. 1069–1099. Zum theaterhistorischen Hintergrund vgl. Kreidt, Dietrich: Gesellschaftskritik auf dem Theater. In: Weyergraf, Bernd (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8). München [u. a.] 1995, S. 232–265.
5.
Vorschau: Hinsichten der Bearbeitung der Subjekt-Semantik im Drama
Diese Hinführung wird einen kurzen Überblick darüber abschließen, welche Arten der Bearbeitung der Subjekt-Semantik im Drama um 1900 in den Analyseteilen untersucht werden – und welche nicht. Verzichtet wurde nämlich auf die Analyse von Verbindungen, die in der Forschung bereits hinreichend bekannt sind oder auf die Analyse von Dramen, deren Bearbeitung der ›Frage nach dem Subjekt‹ allein auf der Diskursebene erfolgt. Zu ersterem gehört etwa der hinlänglich bearbeitete Zusammenhang von Hofmannsthals mittlerer Dramatik mit psychologischen Theorien1 sowie der Nachweis einer mit entsprechenden zeitgenössischen Wissenselementen korrespondierenden Poetik der Willensschwäche im Drama um 1900.2 Auch die Verbindung von Stationendramatik und Subjektivität ist längst gesehen worden und muss hier nicht erneut beleuchtet werden.3 Im Hinblick auf das Subjekt als Diskursgegenstand wird auf die Analyse von Benns frühen dramatischen Versuchen verzichtet, da diese das Subjekt-Problem allein konversationsdramatisch bearbeiten4, oder auf die Analyse von Auseinandersetzungen mit dem Subjekt im Rahmen des um 1900 höchst kurrenten Renaissance-Motivs.5 Auch dieser Verzicht ist verschmerzbar, insofern die Forschung dazu bereits wichtige Beiträge geleistet hat. Verzichtet werden muss darüber hinaus auf eine Analyse von 1 Vgl. die oben angeführte Literatur, bes.: Worbs: Nervenkunst, Kolb: Zur »Infragestellung des Subjekts« in der Wiener Moderne am Beispiel Hugo von Hofmannsthals; Bergengruen: Mystik der Nerven. 2 Vgl. Stöckmann: Das innere Jenseits des Dialogs u. ders.: Der Wille zum Willen, S. 406–439. 3 Vgl. Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus. 4 Vgl. Dierick, Augustinus P.: »Das Ich ist ein Phantom«. The Crisis of Cartesianism and Its Transcendence in Myth in Gottfried Benn’s Early Dramas. In: Henn, Marianne (Hg.): Analogon rationis. Festschrift für Gerwin Marahrens zum 65. Geburtstag. Edmonton, Alberta 1994, S. 357–387. 5 Vgl. Althaus, Thomas: Auslotung des modernen Subjekts. Das Krisenbewusstsein der Jahrhundertwende 1900 und der Renaissancismus. In: Ders. / Fauser, Markus (Hg.): Der Renaissancismus-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme. Bielefeld 2017, S. 225–275.
180
Vorschau: Hinsichten der Bearbeitung der Subjekt-Semantik im Drama
Dramen, die sich mit dem Phänomen der multiplen Persönlichkeit beschäftigen. Das ist insofern legitim, als dass wichtige Dramen dieser Reihe jenseits des Untersuchungszeitraums in den 1920er Jahren produziert worden sind (Y. Goll, Brecht), muss aber als Desiderat markiert werden. Die folgenden fünf Analyseteile werden anhand der oben vorgeschlagenen Unterscheidung von depotenziertem und dezentrierten Subjekt angeordnet und die jeweiligen Hinsichten, unter denen darin Subjekt und Drama in Verbindung gebracht wird, in knappen Einleitungen darlegen. Der Abschnitt zum Theatermotiv, mit dem der Analyseteil einsetzt, ist ein besonderer Fall: Die Desintegrationsaspekte des Subjekts werden hier anhand von Figuren im Theater- bzw. Schauspielermilieu thematisiert und mit der Subjektproblematik in den Schriften der ›Theatermodernisten‹ – besonders hinsichtlich der Funktion und produktionsästhetischen Stellung des Schauspielers – in Bezug gesetzt. Dabei soll erwiesen werden, dass deren vielbeschworene Rolle als Ermöglicher dramatischer Modernität einer Differenzierung bedarf. Es wird dabei zu zeigen sein, dass die Theatermotivik in den behandelten Texten auch formale Konsequenzen gezeitigt hat, die betreffenden Analysen also nicht einfach ›inhaltistisch‹ beobachten. Die darauf folgenden beiden Kapitel untersuchen die Konsequenzen der oben geschilderten Depotenzierung des Subjekts für dramatische Basiselemente, nämlich der Raumordnung sowie der Verbindung der Szenen, was den Sinn hat, zu erweisen, dass die ›Frage nach dem Subjekt‹ bis in die Tiefenstruktur der Texte formativ gewirkt hat. Die vor dem Hintergrund der Dezentrierung des Subjekts zu verstehenden Beobachtungsgegenstände der letzten beiden Kapitel des Analyseteils, werden erweisen, dass man soziale Semantiken neu lesen kann, wenn man sie auf ihre formalen Bearbeitungen hin befragt. Vor diesem Hintergrund wird die dramatische Verarbeitung der Semantik der ›Masse‹ als versteckte Auseinandersetzung mit ›starker‹ Subjektivität lesbar gemacht. Die ›Erlösung‹ vom Einzelsubjekt durch Formen der Gemeinschaftsbildung auf der Bühne um 1900 stellt die abschließende Behandlung der Dezentrierung des Subjekts im Drama dar.
B. Das Subjekt in Dramen um 1900: Analysen
1.
Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters? Zur Produktivität von ›Theater‹ als Kunstform und Motiv für die Subjekt-Semantik
Das erste Analysekapitel wird sich mit der Bedeutung des Komplexes ›Theater‹ für die Subjekt-Semantik beschäftigen. Dieser Komplex, worunter hier sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit den Grenzen und Möglichkeiten der Theaterpraxis als auch ein literarisches Motiv subsumiert werden, liegt erkennbar quer zu der oben vorgeschlagenen Unterscheidung von depotenziertem und dezentriertem Subjekt, die die folgenden Kapitel strukturieren wird. Die Positionierung des Kapitels am Anfang des Analyseteils reflektiert die besondere Stellung, die ›Theater‹ für diese Arbeit hat – gerade vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass sich moderne Dramatik und modernes Theater in Wechselwirkung entwickelt haben. Wie sich zeigen wird, bildet der Bezug von Drama und Theater zur Subjekt-Semantik einen weiteren Beleg dafür.
1.1
Einleitung: Theatermoderne und Subjekt-Semantik
Nach einer langen Zeit der theaterästhetische Innovationen sistierenden Entwicklung1 stellen die drei Jahrzehnte vor und nach 1900 für die Geschichte des Theaters eine entscheidende Wende dar. Eine Formulierung des Theaterreformers Georg Fuchs aufnehmend hat die Theaterhistoriographie in dieser Zeit eine »›Retheatralisierung‹«2 ausgemacht, deren Aspekte längst kanonisch sind: Sie beschreibt die von Wagner und Nietzsche ausgehende Einsicht in die Autonomie des Theaters als eigenständige Kunstform und umfasst die Aufwertung nichtliterarischer Theaterformen, die Relativierung der Herrschaft des Spieltextes, Reformbestrebungen hinsichtlich Bühnenformen, Schauspielkonzepten und der Rolle der Zuschauer sowie nicht zuletzt die Nobilitierung des Regisseurs zum 1 Vgl. dazu den Abschnitt 4.1 des Hinführungsteils (A) dieser Arbeit. 2 Fuchs, Georg: Die Revolution des Theaters [1908]. Ergebnisse aus dem Münchner KünstlerTheater. München / Leipzig 1909, S. 157.
184
Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters?
›Schöpfer‹ der Inszenierung.3 Die große Bedeutung, die diese ›Retheatralisierung‹ für die Theaterhistoriographie besitzt, steht in Verbindung mit der Genese der Theaterwissenschaften als von den Philologien und Kunstwissenschaften unterschiedene Disziplin, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einsetzte. Aus dem fachpolitischen Bedürfnis, sich von anderen Fächern abzugrenzen, entstand ein Narrativ, das bis in die Gegenwart hinein gültig geblieben ist: Es beschreibt ›Retheatralisierung‹ als Zu-sich-selbst-Kommen des Theaters, als Emanzipation von ihrer ausschließlich dienenden Funktion für das Drama, in das es durch die Literarisierungsbestrebungen der Frühen Neuzeit geraten sei. Das Drama sei um 1900 durch die theatralen Impulse aus seiner Krise befreit worden. Zugleich hätte eine Entwicklung eingesetzt, die über Artaud und die Theateravantgarde der 1960er zu einem vom Drama wesensverschiedenen ›postdramatischen‹ Theater geführt habe.4 Die in diesem Narrativ angelegten Konsequenzen einer Deprivilegierung des Dramas als Ort der szenischen Moderne sowie die Unterbelichtung der Rolle des Dramas für die Modernisierung der Bühne um 1900 haben zwar für die Dramenforschung lange Zeit bestimmend gewirkt, sind aber mit Verweis auf die Bedeutung der antitheatralen dramatischen Ansätze von den Symbolisten bis hin zu Gertrude Stein und Beckett längst relativiert worden.5 In diesem Kontext stehen auch die folgenden Überlegungen. Es kann nicht darum gehen, die Bedeutung der ›Retheatralisierung‹ für die Entwicklung von Theater und Drama um 1900 zu leugnen oder sie mit den Leistungen genuin literarischer Beiträge aufzurechnen. Vielmehr sehen sich die folgenden Analysen als Beiträge zur Korrektur dieses einseitigen theaterwissenschaftlichen Narrativs hin zum Nachweis, dass die Modernisierung von Drama und Theater um 1900 im Austausch zwischen beiden Künsten stattgefunden hat. Einer der beiden Künste als moderne Ästhetik ›spendende‹ und die andere als ›empfangende‹ zu markieren, ist schlicht und ergreifend undifferenziert. Die Korrektur des Narrativs wird in den folgenden Abschnitten durch die Beobachtung unternommen, dass Bearbeitungen von Desubjektivierung sowohl bei den Theaterreformern anzutreffen sind als auch in Dramen, die Theatralität –
3 Vgl. die Überblicke bei Borchmeyer: Theater (und Literatur); Balme, Christopher: Einleitung: Zur Ästhetik und Ideologie der Theatermoderne. In: Ders. (Hg.): Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform (1870–1920). Würzburg 1988, S. 11–29, bes. die Liste S. 12f. u. Bosse, Anke: Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne. Zum Spiel im Spiel. In: Anz, Thomas (Hg. u. a.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte. Beiträge zum Deutschen Germanistentags 2007. Berlin/New York 2009, S. 417– 430, bes. S. 417–420. 4 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, bes. S. 73–93. 5 Puchner: Theaterfeinde; Bayerdörfer: Maeterlincks Impulse für die Entwicklung der Theatertheorie; Damblemont: Symbolistisches Theater im Gefolge Mallarmés.
Einleitung: Theatermoderne und Subjekt-Semantik
185
im Sinne Roland Barthes’6 – als Sujet oder als Chiffre dafür verwenden – ohne dass Erstere als alleinige Urheber dieser Impulse zu sehen sind. Vielmehr ist in beiden Künsten gesehen und bearbeitet worden, dass sich Theater und Theatralität zur Subjekt-Semantik in Bezug setzen lassen. Für das Drama wird zu zeigen sein, dass die hier behandelten Dramen, die ihre Theatralität ausstellen, durch diese Markierung Darstellungsoptionen für die Subjektproblematik gewinnen. Der Nachweis dieses Bezugs erfolgt über eine heterogene Gruppe von Dramen: Strindbergs Fräulein Julie, Wedekinds König Nicolo, Döblins Lydia und Mäxchen und Schnitzlers Großer Wurstel.7 In der Theaterästhetik findet sich der Konnex von Theater und ›fragwürdigem‹ Subjekt bereits früh, etwa um 1890. Analog zu der Unterscheidung von depotenziertem und dezentriertem Subjekt lassen sich zwei Stränge ausmachen: Während erstens sowohl bei den Symbolisten als auch bei Strindberg – über dessen Bezugnahme zum Theatralen der Abschnitt zu Fräulein Julie Auskunft gibt – ›starke‹ Subjektivität in Bezug auf Theater, besonders im Hinblick auf die Subjektivität des Schauspielers und die von ihm verkörperte Figur problematisiert wird, imaginieren zweitens Georg Fuchs und die Ideologen eines völkischen Theaters (Ernst Wachler, Friedrich Lienhard) im Anschluss an Wagner eine theatrale Gemeinschaft, die das Einzelsubjekt der Darsteller und Zuschauer zugunsten einer alle Teilnehmenden umfassenden Einheit aufgibt. Da Letzteres in Dramen um 1900 über die Dramatisierung von Gemeinschaften aktualisiert worden ist, wird der zweite Strang im Abschnitt über dramatisch hergestellte theatrale ›Communitas‹ behandelt. Während im Symbolismus zeitgleich dramaturgische Vorstöße gemacht worden sind, auf der Bühne »personnages surhumain«8 zu zeigen, die nicht mehr menschlich erscheinen, sondern als Repräsentationen universeller Ideen gleich-
6 Barthes’ Theatralitätsbegriff wird gemeinhin auf die Formel: »Theater minus Text = Theatralität« gebracht, was die Eigenheit der theatralen Kunst gegenüber dem Text einerseits und lebensweltlicher Theatralität andererseits betont (vgl. dazu Warstat, Matthias: Art. Theatralität. In: Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 358–364, hier S. 360). Die Implikationen des Begriffs für die Textexegese und die Praxis der Lektüre, über die Neumann informiert, ist hingegen nicht gemeint (vgl. Neumann, Gerhard: Theatralität der Zeichen. Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik. In: Ders. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Freiburg i.Br. 2000, S. 65–112). 7 Auf die Bearbeitung russischer symbolistischer Dramolette, etwa Alexander Bloks 1905 uraufgeführten Stücks »Balagancˇik« (»Die Schaubude«), wird aufgrund mangelnder Bekanntheit im deutschsprachigen Raum verzichtet (vgl. dazu: Bayerdörfer: Maeterlincks Impulse für die Entwicklung der Theatertheorie, hier: S. 136–138). Anmerkung: Die Dramentexte der behandelten Autoren sowie ihre Epitexte sind im Text kursiv gesetzt. Nicht eigens behandelte Texte der Autoren oder andere Dramen werden wie gewöhnlich in Anführungszeichen angeführt. 8 Mauclair: Notes sur un essai de dramaturgie symboliste, S. 309.
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Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters?
sam über den niederen Handlungsverläufen schweben sollen9, war es bekanntlich Maeterlincks Vision eines »théâtre d’Androïdes«10, deren Abkehr von menschlichen Figuren im Theater sie in eine Reihe mit den antimimetischen Konzepten Mallarmés und Craigs stellt.11 Diese Abkehr ist nur vor dem Hintergrund des Anspruchs der Symbolisten zu verstehen, die »universale Erneuerung des abendländischen Theaters überhaupt« mit dem »metaphysischen Anspruch« der »Rettung des Menschen«12 zu verknüpfen. Bei Maeterlinck sorgte das für die theatrale Aktualisierung eines »metaphysische[n] Gesamthorizont[s] des Daseins«, in der es »um den Menschen als Menschen, nicht um die subjektive Psyche in ihrer aus Umwelt und Vorwelt ableitbaren Eigenart«13 geht. Die von Maeterlinck für sein Theater geforderten Marionetten oder Androiden lassen sich demnach als »Chiffren einer Entpersonalisierung, einer restlosen Determination«14 lesen, die die allgemeine Fatalität der Welt theatral erfahrbar machen sollte.15 Die Aufwertung von Puppen und Marionetten ist ein gesamteuropäisches Phänomen und findet sich auch in England und im deutschsprachigen Raum.16 Zugleich drückt sich darin ein Vorbehalt gegenüber der Möglichkeit aus, mit den kaum kontrollierbar eigenwilligen Schauspielersubjekten ›reine‹ Kunst erreichen zu können. Dass durch Schauspieler herbeigeführte Kontingenzen innerhalb der Aufführung – Texthänger, Improvisationen, Ungenauigkeiten – deren Kunstcharakter unterminieren und damit die Vision des ›Schöpfers‹ gefährden, ist ein seit den Symbolisten immer wieder geäußerter Vorwurf 17 – was etwa durch an Hypnosezustände angelehnte Depersonalisierung der Schau-
9 Vgl. ebd. 10 »Un théâtre d’Androïdes« war der Manuskripttitel des Aufsatzes »Menus propos: le théâtre«, den Maeterlinck in der wichtigen den Symbolismus und Jugendstil fördernde belgische Zeitschrift »La jeune Belgique« 1890 veröffentlicht hat – dort findet der Begriff auch explizit Erwähnung (vgl. Maeterlinck: Menus propos, S. 332). 11 Vgl. dazu Kralj: Le théâtre d’Androïdes. 12 Alle Zitate: Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten, S. 508. 13 Beide Zitate ebd., S. 510. 14 Ebd., S. 511. 15 Über die vielfältige Rezeption des heute nahezu vergessenen Maurice Maeterlinck im deutschsprachigen Gebiet gibt die Anthologie von Gross Auskunft (Gross, Stefan (Hg.): Maurice Maeterlinck und die deutschsprachige Literatur. Eine Dokumentation. Mindelheim 1985). 16 Vgl. Eynat-Confino, Irène: Beyond the Mask. Gordon Craig, Movement, and the Actor. Carbondale, IL 1987, S. 32f. u. 85–87 sowie ausführlich Segel, Harold B.: Pinocchio’s Progeny. Puppets, Marionettes, Automatons, and Robots in Modernist and Avant-Garde Drama. Baltimore, MD 1995. 17 Vgl. dazu Bosse, Anke: Depersonalisierung des Schauspielers. Zentrales Movens eines plurimedialen Theaters in Moderne und Avantgarden. In: Études Germaniques 66,4 (2011), S. 875–890.
Einleitung: Theatermoderne und Subjekt-Semantik
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spieler zu bekämpfen versucht wurde.18 Der Vorwurf findet sich nach Maeterlinck beispielsweise auch bei Alfred Jarry, der sie im Umkreis der Uraufführung seines »Ubu Roi« dazu ebenso wie die Marionette als Ideal angeführt hat. Jarry betonte, dass sein Stück »n’a jamais été écrite pour marionnettes, mais pour acteurs jouant en marionnettes«19 und hat diesen Anspruch durch überdimensionierte Masken und »groteskes, widerständiges Kostüm«20 umzusetzen versucht. Nicht zuletzt deutet sich in diesem Verbergen des Schauspielerkörpers der bezeichnende Versuch an, den phänomenalen Leib des Schauspielers zum Verschwinden zu bringen und diesen rein als semiotischen Körper zu behandeln.21 Die wirkmächtigste Depotenzierung des Subjekts in der Theaterästhetik ist zweifellos von dem vom Schauspieler zum Theateravantgardisten umgesattelten Edward Gordon Craig betrieben worden. Wie die obigen Hinweise andeuten, konnte er auf vielfältige Vorläufer aufbauen und berief sich etwa explizit auf die Symbolisten, als deren später Exponent er sich sah.22 Craigs mit breiter publizistischer Tätigkeit23 propagiertes Konzept sah eine kunstreligiöse Feier von »Schönheit« und wahrer »Kunst« jenseits zeitgenössischen Literatur- und Schauspielertheaters als Ideal der zu schaffenden Theaterästhetik an.24 Diese Ästhetik propagierte, dass ausschließlich der Regisseur ›Autor‹ der Inszenierung sei. Liest man den prominent als Leitaufsatz des zweiten Heftes seiner Zeitschrift »The Mask« 1908 erschienenen Text »The Actor and the Über-Marionette«25 18 Vgl. Martersteig, Max: Der Schauspieler [1893]. Ein künstlerisches Problem. Leipzig 1900. Martersteig verweist explizit auf zeitgenössische Forschungen zur Hypnose (28) und bestimmt in der »ästhetischen Hypnose« (36) den entscheidenen Schaffensmoment des von seiner Individualität befreiten Schauspielers. 19 Jarry, Alfred: Discours prononcé à la première représentation d’Ubu roi [1896], zit. n. Bosse: Derpersonalisierung des Schauspielers, S. 880. 20 Ebd. 21 Zur Differenz von phänomenalen Leib und semiotischen Körper in den Schauspieltheorien seit dem 18. Jahrhundert vgl. Roselt, Jens: Seelen mit Methode. Einführung. In: Ders. (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater. Berlin 2005, S. 8–73, hier: S. 65–73. 22 Vgl. Bayerdörfer: Maeterlincks Impulse für die Entwicklung der Theatertheorie, S. 130. 23 Unter anderem war er Herausgeber einer größtenteils von ihm selbst mit Aufsätzen versehenen theaterkritischen Zeitschrift »The Mask«, die mit wenigen Unterbrechungen von 1908 bis 1929 existierte und neben seiner Aufsatzsammlung »On the Art of the Theatre« (1911) seine Ausstrahlung auf die europäische Theaterschaffenden der Zeit begründete. Kollaborationen mit Regiegrößen wie Otto Brahm oder Konstantin Stanislavski sowie Versuche, eine Schauspielschule zur Verbreitung seiner Vorstellungen zu gründen, waren wenig erfolgreich (vgl. dazu Innes, Christopher: Edward Gordon Craig. Cambridge 1988, S. 208–217). 24 Vgl. bes. Eynat-Confino: Beyond the Mask, bes. S. 51–146; Spieckermann, Thomas: »The world lacks and needs a Belief«. Untersuchungen zur metaphysischen Ästhetik der Theaterprojekte Edward Gordon Craigs von 1905 bis 1918. Trier 1998; Wild, Katharina: Schönheit. Die Schauspieltheorie Edward Gordon Craig. Berlin 2011. 25 Craig, Edward Gordon: The Actor and the Über-Marionette. In: The Mask. A monthly journal on the art of the theatre 2 (1908), S. 3–15.
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Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters?
subjekttheoretisch, so lässt sich die darin enthaltene radikale Schauspieler-Kritik neu rekonstruieren. Darin wiederholt Craig: »Acting is not an art. It therefore is incorrect to speak of the actor as an artist.«26 Auch seine Begründung, dass Schauspieler nicht völlig berechenbares Material des Kunstwerks ›Inszenierung‹ seien, verweist auf geläufige Argumente der Symbolisten. Craig betont jedoch überdies, dass es am Schauspieler als ›schwachem‹ Subjekt liegt, dass er als Material ungeeignet ist, denn: »The actions of the actor’s body, the expression of his face, the sounds of his voice, are all at the mercy of the winds of his emotions«.27 Der Schauspieler ist ein heteronomes, ›schwaches‹ Subjekt: »emotion possesses him; it seizes upon his limbs whither it will.«28 Es ist einerseits diese Schwäche, das Unvermögen, souverän über sich und seinen Körper zu verfügen und sich völlig dem Schöpfer der Inszenierung zu unterwerfen, die Craig dazu veranlasst, anstelle des Schauspielers einen idealen Akteur zu imaginieren, der das vermag: die Über-Marionette. Andererseits ist es die Eitelkeit des Schauspielers, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen29, seine von den Zuschauern verehrte »personality«30, die verhindert, dass er sich in das Kunstwerk einfügen kann. Subjekttheoretisch erscheint die Kritik am Schauspieler bei Craig somit verdoppelt: Auf der einen Seite ist der Schauspieler aufgrund seiner unkontrollierbaren Emotionen heteronom, auf der anderen ist er von seiner Individualität und Bedeutsamkeit überzeugt und ›verstellt‹ damit die Figur. Das, was Craig mit der Über-Marionette evoziert, ist dagegen ein vollkommen beherrschbares Material für den Schöpfer, das transparentes Medium seiner Vision ist. Craig betont, dass damit nicht die zeitgenössisch geläufige Marionette gemeint sei, da diese nicht mehr als der Abglanz der früheren sei, die »a descendant of the stone images of the old Temples«31 bzw. »the descendants of a great and noble family of Images, Images which were made in the likeness of God«32 gewesen seien und im Theater bei allem Beifall oder allen Zufällen unbewegt geblieben wären. Der Nietzscheanismus »Über-«33 verweist darauf, dass er eine neue Art der Puppe meint, deren Überwindung der Emotionen und Lebendigkeit des Schauspielers Bedingung ist, die Vision des »Artist« unverändert umzusetzen: »Its ideal will not be the flesh and blood but rather the body in Trance – it will aim to clothe itself in a death-like Beauty while exhaling a living spirit.«34 ›Das 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., S. 3. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 8 et passim. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Vgl. dazu Wild: Schönheit, S. 128–140. Craig: The Actor and the Über-Marionette, S. 12.
Einleitung: Theatermoderne und Subjekt-Semantik
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Tote‹ der Über-Marionette ist für Craig die Bedingung dafür, echte, von Akzidenzen bereinigte Kunst zu erreichen.35 Zu fragen ist dagegen, ob nicht im Künstler genau jenes ›starke‹ Subjekt restituiert wird, dass Craig von der Bühne verbannen möchte. Seine Beschreibung der Souveränität des Malers in Bezug auf sein Material – insbesondere die auffälligen syntaktischen Parallelismen, die das ›Ich‹ des Malers sprachlich exponieren – deutet darauf hin: I can first choose that which is to make the lines; I can choose that on which I am to place the lines: I can consider this as long as I like; I can alter it; then in state which is both free from excitement, haste, trouble, nervousness, in fact in any state I choose (…), I can put these lines together…. so…. now they are in their place. Having my material nothing except my own will can move or alter these; (…) my own will is entirely under my control.36
Hier wird das Ideal eines Schöpfersubjekts angesprochen, das vollkommen autonom über sein Material verfügt. Bezüglich der Über-Marionette ist das mit der Hoffnung verbunden, dass »the Puppet shall […] once again become the faithful medium for the beautiful thoughts of the artist.«37 Allerdings verweist die von Craig ausgebreitete göttliche Herkunft und der rituelle Gebrauch der Marionette in verschiedenen nicht-westlichen Kulturen auf eine Inspirationspoetik, in der der Künstler selbst nur Medium einer transzendenten Schönheit ist, die ein guter Geist in die Welt gebracht habe – und »it was the spirit which chose the artist to chronicle its Beauty.«38 Auch in Bezug auf die mit Marionetten arbeitenden Künstler Afrikas zeigt sich diese mediale Funktion des Künstlers: There dwelt the great masters, not individuals obsessed with the idea of each asserting his personality as if it was valuable and mighty thing, but content because of a kind of holy patience to move their brains and their fingers only in that direction permitted by the law – in the service of the simple truths.39
Diese Spannung zwischen der Vorstellung eines autonom schaffenden Künstlers, dem sein Material untertan ist, und der eines Künstlers als Medium einer transzendenten Instanz der Schönheit ist von Craig weder hier noch in anderen Schriften gelöst worden.40 Auch, ob die Über-Marionette als ein konkretes Objekt 35 Dass diese Todes-Emphase im Umkreis der um 1900 virulenten Lebensphilosophie irritierend wirkt, war Craig offensichtlich bewusst, da er es im Text mehrfach thematisiert (vgl. ebd., S. 9 u. 11). Trotzdem hat die Zeitgenossen gerade dieser Aspekt seiner Ästhetik eher abgeschreckt (vgl. Eynat-Confino: Beyond the Mask, S. 95f.). 36 Craig: The Actor and the Über-Marionette, S. 7. 37 Ebd., S. 12. 38 Ebd., S. 13. 39 Ebs., S. 14. 40 Vgl. Eynat-Confino: Beyond the Mask, S. 192–196 u. Bosse: Depersonalisierung des Schauspielers, S. 881f.
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geplant war – dafür gibt es Hinweise41 – oder ob es als Metapher für depersonalisierte Schauspieler gemeint war – wofür es auch Belege gibt42 –, bleibt in seinen Schriften unentschieden. In dieser Unentschiedenheit liegt subjekttheoretisch die Bedeutung von Craigs metaphysischer Theaterästhetik: Sie schwankt zwischen Desubjektivierung und Resubjektivierung des theatralen Produktionsprozesses, zwischen völliger Aufgabe von Subjektivität zugunsten des metaphysisch aufgeladenen Kunstwerks und Einsetzung ›starker‹ Subjektivität an einer einzigen, aber nunmehr entscheidenden Funktionsstelle: der des »stage-director«.43 Darin ist Craig genuin ›theatermodern‹: Auch andere theaterreformatorische Schriften der Zeit werten die ›starke‹ Subjektivität des Regisseurs auf, teilweise so sehr, dass dessen Vision die kollaborative Kunst des Theaters in eine auktoriale verwandelt (Appia).44 Und auch in der Auseinandersetzung mit der Schauspielersubjektivität ist Craig bezeichnend für die Zeit. Belege für die Zurückdrängung der ›starken‹ Subjektivität des Schauspielers finden sich unter den Theaterreformern um 1900 viele, und selbst ihr wichtigster Verteidiger – Max Reinhardt45 – experimentierte später mit Massentheater, das den subjektiven Ausdruck der einzelnen Schauspieler auf andere Weise einschränkte.46 Ob Adolphe Appia und Lothar Schreyer diese Zurückdrängung zugunsten einer einheitlichen inszenatorischen Vision propagierten oder ob Wsewolod Meyerhold und Oskar Schlemmer in den 1920er Jahren die Desubjektivierung der Schauspieler zur Grundlage neuer, optimierter Schauspieltechnik machten47 – die Tendenz der Theatermoderne zu Abstraktion und Stilisierung sowie die seit der und mittels der Gesamtkunstwerksidee aufgewertete Stellung des Regisseurs als ›Autor‹ der Inszenierung stellen die Gründe für den Umstand dar, dass von den Symbolisten zu den Avantgardisten die Subjektproblematik als wesentlich für eine Reform der Bühne angesehen worden ist. Es wird zu zeigen sein, dass die hier behandelten Dramen diese Problematik sehr unterschiedlich und teils höchst idiosynkratisch behandeln.
41 Vgl. etwa Eynat-Confino: Beyond the Mask, S. 89–100 sowie Spieckermann: Untersuchungen zur metaphysischen Ästhetik der Theaterprojekte Edward Gordon Craigs von 1905 bis 1918, S. 167–174. 42 Vgl. die Hinweise bei Wild: Schönheit, S. 92–139. 43 Craig beschreibt das Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspieler als »precisely the same as that of the conductor to his orchestra, or of the publisher to his printer« (Craig, Edward Gordon: The Art of the Theatre [1905]. The First Dialogue. In: Ders.: On The Art of the Theatre [1911]. London 51957, S. 137–181, S. 147). 44 Vgl. Balme: Einleitung: Zur Ästhetik und Ideologie der Theatermoderne, bes. S. 15. 45 Vgl. Hiß: Syntethische Visionen, bes. S. 139–144. 46 Vgl. dazu unten die Einleitung zum Analyseteil über die ›Masse‹ im Drama. 47 Vgl. nur die Hinweise in Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert [1982]. Programmschriften, Stilperioden, Kommentare. Völlig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Reinbek 2009, bes. S. 231–243 u. 273–282.
Strindberg Fräulein Julie / Fröken Julie (1888)
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Theatralisierung des Naturalismus: Strindberg Fräulein Julie / Fröken Julie (1888)
Dass hier ausgerechnet August Strindbergs berühmte48 und stark beforschte49 Fräulein Julie50 (1888), dessen Untertitel das Stück als naturalistisches Trauerspiel51 ausweist, als erster Exponent einer Theatralisierung der Subjektproblematik im Drama um 1900 angeführt wird, dürfte Irritationen wecken. Getreu seiner Gattungsbezeichnung wird der Text bis heute Strindbergs naturalistischer Periode zugeschlagen, eine Entscheidung, die besonders mit dem berühmten Vorwort belegt wird.52 In der Tat scheint das Vorwort auf den ersten Blick geeignet, eine solche Lesart zu stützen: So wird den simplifizierenden »Theatercharaktere[n]« unter Verweis auf das größere Wissen der Naturalisten um den menschlichen Seelenkomplex eine Absage erteilt (FJH 10)53, so wird der Gültigkeit des Darwinismus’ das Wort geredet (ebd.)54 und werden schließlich dramaturgische Innovationen wie die Einaktigkeit des Stücks und theaterpraktische Forderungen wie etwa der Wegfall des Rampenlichts oder das natürlichere Schminken der Schauspieler (FJH 16, 19f., 21)55 mit dem Prärogativ der Illusi48 Angesichts dieser Berühmtheit sei in diesem Abschnitt auf eine Nacherzählung des Plots verzichtet. 49 Die kommentierte Bibliographie von Robinson, die die Forschung von 1870–2005 verzeichnet, führt zu Fröken Julie beinahe einhundert Seiten an Forschungsliteratur auf, womit es der mit Abstand meistbeforschte Text des Autors ist (vgl. Robinson, Michael (Hg.): An International Annotated Bibliography of Strindberg Studies 1870–2005. Compiled, annotated and edited by MR. Band 2: The Plays. London 2008, S. 848–943). 50 Die beiden gängigen deutschen Übersetzungen werden hier herangezogen, wobei der neueren Übersetzung von Christel Hildebrandt im Allgemeinen der von Peter Weiss angefertigten und leicht überarbeiteten der Frankfurter Ausgabe der Vorzug gegeben wurde (Strindberg, August: Fräulein Julie. Ein naturalistisches Trauerspiel. Mit Strindbergs Vorwort zur Erstausgabe. Übersetzt v. von Christel Hildebrandt. Nachwort von Ruprecht Volz. Stuttgart 2003 (Sigle FJH); Strindberg, August: Fräulein Julie. In: Ders.: Werke in zeitlicher Folge. Frankfurter Ausgabe. Fünfter Band 1887–1888. Hgg. v. Wolfgang Butt. Frankfurt a.M. 1984, S. 757– 817 (FJW)). Der schwedische Originaltext wird in den Fußnoten zu den jeweiligen im Fließtext angegebenen deutschsprachigen Stellen nachgeliefert. Zitiert wird unter der Sigle (FJS) nach: Strindberg, August: Fröken Julie. Ett naturalistiskt sorgespel [1888]. In: Ders.: Samlade Verk. Band 27: Fadren – Fröken Julie – Fordringsägare. Hgg. u. kommentiert v. Gunnar Ollén. Stockholm 1984, S. 99–190. 51 »Ett naturalistiskt sorgespel«. Stockenström hat darauf hingewiesen, dass der schwedische Begriff »sorgespel« eine Übersetzung des deutschen Begriffs »Trauerspiel« ist, weshalb dieser hier Verwendung findet (vgl. Stockenström, Göran: The Dilemma of Naturalistic Tragedy: Strindberg’s »Miss Julie«. In: Comparative Drama 38,1 (2004) S. 39–57, S. 44). 52 So heißt es über dieses noch 2004, es sei ein »important document in theater history that defines the aesthetic precepts of naturalism from the perspective of the theatrical staging« (Stockenström: The Dilemma of Naturalistic Tragedy, S. 40). 53 »teaterkaraktärer« (FJS 104). 54 FJS 105. 55 FJS 109, 112, 113.
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onsbildung legitimiert – so dass also wesentliche Aspekte naturalistischer Theorie und Theaterpraxis versammelt sind. Doch lässt das Vorwort, wie in der Forschung längst bekannt56, eine solche einsinnige Deutung nicht zu – ganz davon abgesehen, dass die unkritische Übertragung programmatischer Peritexte auf den Dramentext methodisch ohnehin problematisch ist. Besondere Aufmerksamkeit ist der Bezeichnung »Trauerspiel« zugekommen57, dessen paradoxe Kopplung mit dem Attribut »naturalistisch« das Vorwort reflektiert. So wird Julie der Spezies der »Halbfrau« (FJH 11)58 zugeschlagen, einer Spezies, die »tragisch« sei aufgrund »eines verzweifelten Kampfes gegen die Natur, tragisch als ein Erbe der Romantik, das jetzt vom Naturalismus betrogen wird, denn der will nur noch das Glück, und zu dem Glück gehören starke, gute Arten« (FJH 12).59 Der durch den Hinweis auf die Tragik der Romantik zu gewinnende Eindruck, dass hier kein antiker Tragödienbegriff gemeint ist, erhärtet sich durch die Bemerkung innerhalb derselben Passage, dass die Naturalisten eine der Grundbedingungen von Tragik, »die Schuld«, gestrichen hätten (ebd.)60. Als letzter Beleg sei noch auf Strindbergs Bemerkung zu Beginn des Vorworts verwiesen, in der er das Sujet der Mesalliance zwischen einer adliger Frau und einem ihrer Domestiken als für ein Trauerspiel geeignet qualifiziert, da es »schon einen traurigen Eindruck [macht], ein glückliches, besser gestelltes Individuum untergehen zu sehen« (FJH 6).61 Es ist deutlich, dass der Begriff des Trauerspiels und des Tragischen im Vorwort höchst idiosynkratisch verwendet wird, was dazu führen sollte, auch die vermeintliche Proklamation naturalistischer Positionen mit Vorsicht zu behandeln. Das gilt umso mehr, insofern längst bekannt ist, dass Strindberg sich zwar mit Émile Zolas naturalistischen Programmschriften und Texten intensiv beschäftigt hat, aber keineswegs als blinder Parteigänger des französischen Naturalismus gelten kann62, sondern einen »große[n] Naturalismus«63 anstrebte, der anstelle
56 Vgl. etwa Templeton, Alice: Miss Julie as »A Naturalist Tragedy«. In: Theatre Journal 42,4 (1990), S. 468–480, S. 469. 57 Vgl. Jacobs, Barry / Törnqvist, Egil: Strindberg’s Miss Julie. A play and its transpositions. Norwich 1988, S. 99–113; Templeton: Miss Julie as »A Naturalist Tragedy«, Stockenström: The Dilemma of Naturalistic Tragedy. 58 »Halvkvinnan« (FJS 106). 59 »Typen är tragisk, erbjudande skådespelet av en förtvivlad kamp mot naturen, tragisk såsom ett romantiskt arv som nu förskingras av naturalismen, vilken endast vill lycka; och till lycka hör starka och goda arter« (ebd.). 60 »Skulden« (ebd.). 61 »ty ännu gör det ett sorgligt intryck att se en lyckligt lottad individ gå under« (FJS 102). 62 Vgl. bereits Dahlström, Carl E.W.L.: Strindberg and Naturalistic Tragedy. In: Scandinavian Studies 30,1 (1958), S. 1–18 u. Madsen, Børge Gedsø: Strindberg’s Naturalistic Theatre. Its relation to French naturalism. Seattle, WA 1962. 63 Strindberg: Über modernes Drama und modernes Theater, S. 44 (Strindberg, August: Om Modernt Drama och Modern Teater [1889]. In: Ders.: Samlade Verk. Band 18: Kvarstadsresan,
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der ›fotografisch‹ exakten Wirklichkeitsnachahmung eines Henri Becque64 dem Autor die Freiheit gibt, signifikante Konflikte des modernen Lebens zugespitzt darzustellen.65 Bereits das Vorwort zu Fräulein Julie lässt bei genauerem Hinsehen erkennen, dass einige Passagen zur ›reinen Lehre‹ des französischen Naturalismus in Widerspruch stehen und das Paradigma der Illudierung nahezu unterlaufen. Beispielsweise ist es bemerkenswert, dass sich Strindberg im Vorwort im Hinblick auf das moderne Interesse an der Prozessualität seelischer Vorgänge des Bildbereiches des Marionettentheaters bedient – und dabei gerade die Gemachtheit dieser Theaterform markiert: »Wir wollen die Fäden sehen, die Maschinerie, den Kasten mit dem doppelten Boden untersuchen« (FJH 16).66 Und wenn er ausgerechnet Ballett und Pantomime – Spielformen des vormodernen theatralen divertissements67 – in sein Stück integriert, so kann seine (eigenwillige) Behauptung, dass sich diese Formen aus den Elementen der antiken Tragödie entwickelt hätten (FJH 17)68, nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier dezidiert nicht-illusionistische Spielformen zur Illudierung des Publikums verwendet werden sollen. Diese Widerspruch verstärkt sich noch, wenn er die Integration der Pantomime damit legitimiert, Schauspielern Gelegenheit zum Extemporieren geben zu wollen (FJH 17f.)69 – was wiederum ein Moment vormoderner Theatertradition ist, das von allen Theaterreformern seit Gottsched und Diderot abgelehnt wurde, die illusionistische Konzepte propagierten. Festzuhalten bleibt also, dass sich das Vorwort nicht darin erschöpft, ein Amalgam aus Übernahmen70 von naturalistischen u. Evolutions-Theoretikern, Theaterreformern und deutschen Kulturkritikern (Nordau, Nietzsche) zu sein. Vielmehr weist das Vorwort auf Fräulein Julie voraus, indem die erwähnten nicht-illusionistischen Spielformen (u. a.) mit naturalistischer Programmatik verbunden werden und der darin inhärente Widerspruch dadurch unterlaufen wird, Ersteres als Elemente eines naturalistischen Theaters zu reklassifizieren.
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Fabler och Societeten i Stockholm samt andra prosatexter 1880–1889. Hgg. u. kommentiert v. Conny Svenson. Stockholm 2007, S. 317–333, hier: S. 323). Vgl. Strindberg: Über modernes Drama und modernes Theater, S. 45f. u. Strindberg: Om Modernt Drama och Modern Teater [1889], S. 323f. Vgl. dazu: Sprinchorn, Evert: Strindberg as dramatist. New Haven, CT [u. a.] 1982, S. 22–33. »Vi vilja just se trådarna, se maskineriet, undersöka den dubbelbottnade asken« (FJS 109). Vgl. nur Bayerdörfer, Hans Peter: Einakter mit Hilfe des Würfels? Zur Theatergeschichte der Kleinen Formen seit dem 18. Jahrhundert. In: Herget, Winfried / Schultze, Brigitte (Hrsg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte, Tübingen 1996, S. 31–57, S. 34f. FSJ 110. Ebd. So Volz, Ruprecht: Nachwort. In: Strindberg, August: Fräulein Julie. Ein naturalistisches Trauerspiel. Mit Strindbergs Vorwort zur Erstausgabe. Übersetzt v. von Christel Hildebrandt. Nachwort von Ruprecht Volz. Stuttgart 2003, S. 83–91, hier: S. 86f.
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Das, was soeben bezüglich des Vorworts angedeutet wurde, soll auch für die Analyse des Stückes selbst erkenntnisleitend sein: Adäquat zu verstehen ist Strindbergs Fräulein Julie nur, wenn man seine textinternen Paradoxien nicht zu ›glätten‹ versucht, sondern analytisch zu nutzen versteht. Dies sei im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung der paradoxen Theatralität des Stückes verfolgt. Gezeigt werden soll, dass die forcierte Theatralität des Textes eine strukturierende Funktion für das zentrale Thema von Fräulein Julie einnimmt – und dieses zentrale Thema ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, der doppelte Kampf der Geschlechter und Klassen71, sondern vielmehr das Kernthema des naturalistischen Dramas, nämlich die Fragwürdigkeit individueller Autonomie vor dem Hintergrund deterministischer Wissenselemente. Darauf deuten bereits die zahlreichen Hinweise auf das Darstellungsproblem »moderner Charaktere« (FJH 10) 72 für das (naturalistische) Drama im Vorwort hin. Es stimmt zwar sicherlich – und ist der Textsorte ohnehin inhärent –, dass Strindberg mit seinem Vorwort strategische Absichten verfolgt hat – doch lässt besonders der Briefwechsel mit Nietzsche die Vermutung zu, dass das Problem moderner Subjektivität beiden unterschiedlich voneinander zu Bewusstsein gekommen ist.73 Wichtiger als der Umstand, dieses Problem erkannt zu haben, ist für diesen Zusammenhang, welches Verfahren Strindberg in Fräulein Julie entwickelt hat, es darstellbar zu machen. Es soll in der Folge plausibilisiert werden, dass dieses Verfahren als spezifische Funktionalisierung von Theatralität beschreibbar ist. – Vorauszuschicken ist zuletzt noch, dass der Forschung die Theatralität des Textes nicht vollends verborgen geblieben ist. Sie hat sie in dem Maße registriert, in dem sie Fräulein Julie nicht mehr als klassischen Fall naturalistischer Ästhetik wahrgenommen74, sondern die Modernität einer szenisch vermittelten Konstruktivität von Figuren exponiert wird.75 Dass diese Konstruktivität als szenisches Rollenspiel der Hauptfiguren dramatisiert wird, ist zwar zutreffend, erschöpft aber die Bedeutung des Theatralen beileibe nicht. Diese sei nun ausgefaltet. Theatralität ist im Stück in verschiedenen Zeichensystemen auszumachen, die jeweils verschiedene Aspekte des Theatralen betonen. So lässt Peter Weiss’ Übersetzung erkennen, dass die paralinguistischen Angaben im Nebentext mitunter auf die Gespieltheit einer Replik und somit auf das fortwährende Rollenspiel der Figuren verweisen. Zu sehen ist das etwa dann, wenn Jean be71 So etwa in Törnqvist, Egil: Strindbergian Drama. Themes and structures. Stockholm [u. a.] 1982, S. 50–63; Miss Julie as »A Naturalist Tragedy«. 72 »moderna karaktärer« (FJS 104). 73 Vgl. dazu Detering: »Das Ich wird zum Wortspiel«. 74 Vgl. Karnick: Rollenspiel und Welttheater, S. 122–126; Stockenström: The Dilemma of Naturalistic Tragedy. 75 Vgl. Jacobs/Törnqvist: Strindberg’s Miss Julie; Detering: »Das Ich wird zum Wortspiel«.
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greift, dass er Julie durch eine Schilderung seiner Kindheit für sich einnehmen kann und die fällige Geschichte »sehr schmerzvoll, stark übertrieben« (FJW 788) 76 erzählt (später wird er nonchalant zugeben, sie nur erfunden zu haben, FJW 796).77 Auch wenn Jean sich zu Beginn bei Kristin und Julie auf »galant[e]« Weise nach Geheimnissen erkundigt und ihm Julie kurz darauf »kokett« entgegnet (FJH 30 bzw. 31) 78 oder wenn Julies erste Replik nach dem Tanz mit Jean »mit erzwungener Fröhlichkeit« (FJH 33) 79 geäußert wird, ist offensichtlich, dass das Rollenspiel auch paralinguistisch vermittelt werden soll. Beim linguistischen Zeichensystem ist hingegen auffällig, dass über das Rollenspielmotiv hinaus mehrfach explizit von Theater die Rede ist.80 So suggeriert Julie, dass Jean angesichts seines weltmännischen Habitus’ oft im Theater gewesen sein muss (FJH 34)81, was er bejaht und wenig später noch einmal bekräftigt (FJH 43)82. Als Julie von einer Flucht träumt, die beide nach Hamburg bringen soll, imaginiert sie gemeinsame Theater- und Opernbesuche (FJH 70). Wenn Julie am Schluss Jean dazu bewegen will, ihr zu befehlen, sich zu töten, erinnert sie ihn an Hypnotiseure im Theater (FJH 76). Es sei hier zunächst nur bemerkt, dass es sich bei letzterem Theater erkennbar nicht um bürgerliches Sprechtheater (bzw. Musiktheater) handelt, worauf die zuerst erwähnten Repliken anspielen: Hypnotiseure dürften eher in Jahrmarktbuden oder Wandertheatern zu sehen gewesen sein. In engem Bezug zum Begriffsfeld des Theaters findet sich noch das des Spiels, das ebenfalls mehrfach Erwähnung findet. ›Spiel‹-Referenzen werden im Text auf die im Modus des Rollenspiels betriebene temporäre Suspendierung sozialer Schranken bezogen und kommentieren die Scheinbarkeit der Konsequenzlosigkeit83 ihres Spiels. So lockt Julie Jean so lange, bis er sie zu küssen versucht, was sie mit einer Ohrfeige quittiert. Daraufhin entwickelt sich folgender Wortwechsel:
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»med djup smärta, starkt chargeart«(FJS 141). FJS 155. »galant«, »kokett« (FJS 123). »med tvungen skämtsamhet« (FJS 127). Nicht zuletzt aufgrund der vom Naturalismus bevorzugten Sujets markiert ein solcher Befund bereits eine signifikante Differenz zum Gros seiner dramatischen Texte. Eine solche Thematisierung von Theater und Theatralität ist sonst nur in Hauptmanns spätnaturalistischem Stück »Die Ratten« (1911) zu beobachten, wo es allerdings als kontrastive Parallelhandlung zum tragischen Geschehen um Pauline Piperkarcka und Frau John fungiert, indem der Echtheit der dortigen sozialen Tragödie die Scheinprobleme einer klassizistisch-artifiziellen bürgerlichen Theaterästhetik entgegengehalten werden. 81 FJS 129. 82 FJS 142. 83 Callois’ Beobachtung, dass (relative) Konsequenzlosigkeit das neben der zeitlich-räumlichen Begrenztheit entscheidende Differenzmerkmal von Spiel gegenüber ›Nicht-Spiel-Realität‹ ist, wird in Fräulein Julie berührt und mittels des ›Theater‹-Begriffsfeldes differenziert (vgl.
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Jean. Ernst oder Scherz? Julie. Ernst. Jean. Dann war das vorhin auch Ernst! Sie spielen viel zu ernst, das ist das Gefährliche! (FJW 785f.)84
Nicht minder deutlich wird dies in Bezug auf das Datum gemacht, an dem das Stück spielt: Die Mittsommernacht wird von einem Fest begleitet, an dem die Bediensteten des gräflichen Anwesens ausgelassen feiern und an dem Julie als »Herrin der Hauses« mit dem Hinweis teilnimmt, heute »alle Rangordnungen beiseite lassen« zu wollen (FJH 32).85 Nachdem sie mit Jean geschlafen hat und sich der Implikationen dieses Vorgangs bewusst zu werden beginnt, bezeichnet sie das Mittsommernachtsfest ironisch als »Fest der unschuldigen Spiele« (FJH 51).86 Auch dann, wenn Julie in Bezug auf die schon erwähnte Forderung an Jean, ihr Hypnotiseur zu sein, anmerkt, dass er vorhin doch den Adligen auf den Knien so gut gespielt habe (FJH 76)87, ist die erotische Komponente des Rollenspiels unverkennbar. Während also in den Referenzen auf Theater und Spiel das Moment des Rollenspiels im Vordergrund steht, ist bei Ersterem auffällig, dass überdies heterogene Formen von Theater angesprochen werden, denen nur gemeinsam ist, nicht Theater naturalistischen Stils zu sein. Es wäre denkbar, dass sich die erwähnten Formen selbstreferentiell auf das Stück beziehen: als Extrempunkte in einem theatralen Koordinatensystem, in dem sich Fräulein Julie verorten muss. Jedenfalls wird durch die wiederholte Erwähnung Theater selbst präsent gehalten, ein Umstand, der sich auch in non-linguistischen Zeichensystemen beobachten lässt, auch wenn dort der Fokus auf dem Rollenspiel liegt. Die schiere Fülle solcher Zeichen untermauert den bezüglich der Sprachzeichen gewonnenen Eindruck, dass in Fräulein Julie mittels fortwährender Anspielung auf das Feld des Theatralischen ›Theater‹ als solches präsent gehalten werden soll. Das wird ganz besonders deutlich im Hinblick auf die visuellen Zeichensysteme. Das Theatrale daran, dass Julie Jean dazu bringt, seine Dienerlivree auszuziehen und gegen eine betont distinguierte Kleidung (»in schwarzem Gehrock und schwarzer Melone«, FJW 78188) einzutauschen, wird noch dadurch gesteigert, dass dieser Kostümwechsel so gestaltet wird, dass man seinen Arm sieht, als er
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Callois, Roger: Die Spiele und die Menschen [frz. 1958]. Maske und Rausch. Frankfurt a.M. [u. a.] 1982, S. 9–16). »Jean. Är det allvar eller skämt? Fröken. Allvar! Jean. Då var det också allvar nyst! Ni leker alldeles för allvarsamt och det är det farliga!« (FJS 138) »husets härskarinna« bzw. »lägga bort all rang« (FJS 124 u. 125). »De oskyldiga lekarnes fest« (FJS 154). FJS 188. »in i svart bonjour och svart melonhatt« (FJS 128).
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die Jacke wechselt, da sich Jean auf der Grenze zwischen Bühne und off stage umzieht (FJH 33)89 – so wird der Kleider- und Rollentausch auch szenisch präsent gehalten. Auch bei Jeans theatralischem Kniefall, mit dem er den Rollenkonflikt des zum Anstoßen mit seiner Herrin aufgeforderten Dieners »spaßhaft parodistisch« (FJH 35)90 mithilfe der Gestik galanten Liebeswerbens entschärft, wird durch die Anweisung im Nebentext präsent gehalten, dass sich in seinem Verhalten keine ›eloquentia cordis‹91 ausdrückt, sondern berechnendes Rollenspiel. So wird man auch den Kniefall zu deuten haben, durch den er Julie dazu bringt, vor den nahenden Tänzern mit ihm in seine Kammer zu fliehen (FJH 46).92 Er hat mit der Behauptung ›ritterlicher‹ Ehrenhaftigkeit bekanntlich Erfolg, sie fliehen gemeinsam von der Bühne und es kommt zum Sex, während »Bauersleute in Festtagskleidung« (ebd.)93 auf der Bühne ein Ballett aufführen. Dieses in Strindbergs Text explizit so bezeichnete und grafisch abgehobene Ballett94 sorgt für Irritationen. Schon strukturell zäsuriert das Ballett das Stück deutlich, so dass gerade nicht der laut Vorwort intendierte Eindruck eines kontinuierlichen szenischen Vorgangs ohne Pause (FJH 16) entsteht, sondern eher der eines stilistisch wie formal abgehobenenen Zwischenspiels. Es fällt hier wie schon bei dem ebenso explizit als Pantomime bezeichneten stummen Spiel Kristins (FJH 32)95 auf, dass Strindbergs Text geradezu insistent auf nichtsprachliche Theaterformen rekurriert und keinerlei Versuch macht, den offensichtlichen Widerspruch zwischen naturalistisch forciertem Illusionismus und der Verwendung solcher Formen zu kaschieren.96 Es wäre ja denkbar gewesen, beide Szenen nicht mit diesen Begriffen zu besetzen und auch im Vorwort weniger deutlich darauf zu bestehen, dadurch naturalistische Absichten zu verfolgen. Dass durch die offensive Verwendung des Balletts97 am zentralen ›plot point‹ des Stücks ausge89 90 91 92 93 94 95 96
Ebd. »skämtsamt parodiskt« (FJS 132). Vgl. dazu Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst. FJS 146. »Bondfolket in högtidsklädda« (FJS 147). FJH 46; FJS 147. FJS 126. FJS 109. Die Erklärung im Vorwort, ein Ballett zu verwenden, »weil Volksszenen immer schlecht gespielt werden« (FJH 18; FJS 111), kann nicht überzeugen – schließlich hätte man einfach im Nebentext fordern können, daraus keine derbe Volksszene zu machen, ohne dafür den Begriff ›Ballett‹ verwenden zu müssen. 97 Im Falle der Pantomime wird man Strindberg eher folgen können, dass Kristins Tätigkeiten, bei der sie so tun soll, als wären keine Zuschauer anwesend, illudierende Funktion haben – auch wenn die ja keineswegs ›unschuldige‹ Verwendung des Gattungsbegriffs auch in diesem Fall wenig motiviert wirkt. Davon unbenommen bleibt, dass die Pantomime mit literarischer Vorlage um 1900 zu einem wichtigen »Kunstgenre der Moderne« aufgestiegen ist, in ihrem Sprachverzicht somit ein Potential zu abstrakter Bühnenkunst gelegen hat (Vollmer, Die literarische Pantomime, S. 21 (Kapiteltitel)).
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rechnet eines nicht-illusionistische Theaterform auf die Bühne gebracht wird, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Theater im Stück präsent gehalten wird. Das gilt ebenso, wie die Forschung98 gezeigt hat, für die Reitstiefel des Grafen. Sie werden von Jean mitgebracht und gleich zu Beginn des Stücks »an einem sichtbaren Platz auf den Boden« (FJW 775)99 gestellt. Anschließend werden sie immer wieder angesprochen bzw. angespielt und fungieren als Dingsymbol für die Macht des Grafen. Wenn etwa Kristin im Schlaf verkündet, dass die Stiefel geputzt sind (FJH 36)100, Jean wünscht, dass der Graf seine Stiefel rechtzeitig erhält (FJH 40)101, wenn Jean nach dem Sex mit Julie wütend gegen die Stiefel tritt, weil sie ihn an seine Dienermentalität gemahnen (FJH 48)102 und er schließlich, nachdem der Graf ihm über das Hörrohr einen Auftrag erteilt hat, wiederum die Reitstiefel erwähnt (FJH 75)103, dann kann man ohne zu übertreiben davon sprechen, dass dieses Requisit »bis an die Grenze der komischen Aufdringlichkeit auf der Bühne sichtbar«104 bleibt. Die Frage, warum es im Stück neben dem Hörrohr und der Glocke noch eines weiteren Requisits mit der Funktion bedarf, auf den Grafen zu verweisen105, könnte zunächst sicherlich damit beantwortet werden, dass der Graf gegenüber den vor allem auditiv wirkenden anderen Requisiten dadurch auch visuell präsent gehalten wird. Im Rahmen der hier verfolgten Überlegungen ist jedoch zu ergänzen, dass damit auch Theatralität selbst präsent gehalten wird: Mit dem sichtbar gemachten Auf-die-Bühne-Stellen eines ›verräterischen Requisits‹ spielt Strindberg auf ein klassisches Motiv der Komödie an, wobei seine dramaturgische Funktion nicht mehr die blitzartige Aufdeckung des Verborgenen ist, sondern die kontinuierliche Zurschaustellung gräflicher Macht über seine Subjekte. Diese Technik der Kontrafaktur tradierter theatraler Elemente zeigt sich sogar bei der Figur des Dieners selbst. So hat die Strindberg-Forschung zeigen können, dass Jean auf eine im skandinavischen Theater populäre Dienerfigur anspielt, deren komödiantische Funktion aber ›tragisiert‹ wird.106 Aus dieser Perspektive ließe sich selbst die im Nebentext beschriebene Rahmung der bespielten Bühne semantisieren. Die Einrahmung des Spielorts, die der erste Satz der Bühnenbeschreibung explizit erwähnt, ist nämlich mit »Gardinen und Tüchern« (FJH 27) ungenau übersetzt. Weiss übersetzt »draperier och suffiter«107 98 Vgl. Ekman, Hans-Göran: Klädernas magi i Fröken Julie. In: Strindbergiana 4 (1985), S. 20– 36 sowie Detering: »Es geschieht«. 99 »på en synlig plats på golvet« (FJS 119). 100 FJS 133. 101 FJS 138. 102 FJS 150. 103 FJS 188. 104 Detering: »Es geschieht«, S. 247. 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. Myrdal, Jan: På tal om Ranskan Jussi. In: Folket i Bild / Kulturfront 3–4 (1996), S. 13–16. 107 FJS 117.
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wörtlicher mit »Draperien und Soffiten« (FJW 775), wodurch deutlicher wird, dass damit explizit Theatervorhänge angesprochen sind. Die visuelle Rahmung des naturalistischen Trauerspiels ist somit ganz wörtlich nichts Anderes als klassische Theaterverkleidung. Angesichts der auffälligen Fülle an Belegen ist die Frage, welche Funktion der Motivkomplex ›Theater‹ im Stück besitzt, für eine angemessene Interpretation des Stücks entscheidend. Dazu muss zunächst plausibel gemacht werden, dass im Zentrum von Fräulein Julie in der Tat die Fragwürdigkeit individueller Autonomie steht, die sich aus deterministischen Wissenselementen ableitet.108 Damit soll ergänzend zum im Text bereits ausführlich nachgewiesenen Kampf um Dominanz zwischen den Geschlechtern, der zu stetig wechselnden Herrschaftsverhältnissen zwischen den Hauptfiguren führt, die Bedeutung von Heteronomien für das Selbstverhältnis der Figuren stärker akzentuiert werden. Das Problem individueller Autonomie stellt sich im ersten Teil des Stückes in erster Linie in Bezug auf Julie. Als Tochter des Grafen werden an sie die Verhaltenserwartungen ihres sozialen Stands und ihres Geschlechts herangetragen, nicht zuletzt von Jean. Wenn er Julies Verhalten in der ersten Replik des Stückes als »verrückt, völlig verrückt« (FJH 27)109 verurteilt, dann markiert dies ihre Abweichung vom erwarteten Verhalten einer Grafentochter. Indem sie mit den Bediensteten die Mittsommernacht feiert und ihrem Verlobten gegenüber dominant auftritt (FJH 27f.)110, agiert sie bemerkenswert selbstbestimmt. Das lässt sich auch in ihrem sehr offensiven Flirten mit Jean beobachten, der sie dabei mehrfach erinnert, dadurch ihre soziale Position zu gefährden.111 Julies spielerisch-erotisches ›Herabsteigen‹ (FJH 37)112 zu Jean könnte zunächst als freiwillige, von sexueller Attraktion motivierte Handlung aufgefasst werden. Allerdings wird diese Perspektive von den Figuren selbst in Zweifel gezogen. So tritt Jean gegenüber Julie besonders im ersten Teil als Warnender auf, der die Grenzen ihrer Autonomie betont: Als sie auf seinen Hinweis, dass ihr Werben gefährlich sei, entgegnet, »versichert« (FJH 39)113 zu sein, bestreitet er das rundweg. Doch präzisiert er, dass nicht er als solcher für sie gefährlich ist, sondern er als »ein junger Mann« (FJH 39).114 Die damit angesprochene Heteronomie aufgrund 108 Mit deterministischem Denken wendet sich Strindberg gegen die Darwinsche Evolutionstheorie (vgl. Vogelweith, Guy: Strindberg et les lendemains de l’évolution. In: Europe 858 (2000), S. 178–189). 109 »galen igen; komplett galen!« (FJS 119). 110 FJS 119–121. 111 Dass von der Herrschaft erwartet wird, sich moralisch untadelig zu verhalten, artikuliert Kristin später ex negativo, indem sie ankündigt, kündigen zu wollen, weil sie nach Julies Mesalliance keinen Respekt mehr vor ihr haben könne (FJH 64, FJS 172f.). 112 FJS 134f. 113 »assuserard« (FJS 137). 114 »en ung man« (FJS 138).
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biologischer Determiniertheit wird besonders im zweiten Teil des Stücks eine prominente Rolle spielen. So wird in Julies Berichten über ihre Erziehung deutlich, dass ihre Eltern ihr durch die Behauptung der Gleichheit der Geschlechter jenes Bewusstsein von Handlungsfreiheit anerzogen haben (FJH 56, 75)115, das zur Mesalliance mit Jean und letztlich zu ihrem Tod führt. So wie sie die Geltung der Differenz der Geschlechter nicht anerkennen wollte, so hat sie in der Mittsommernacht die Geltung sozialer Schranken ignoriert – wie erwähnt in dem Glauben, vor Konsequenzen geschützt zu sein. Dieser vermeintliche Schutz bezieht sich m. E. nicht allein auf ihren sozialen Status und ihre sexuelle Souveränität aufgrund der Verachtung des männliches Geschlechts (FJH 58)116, sondern auch auf das Datum dieser Transgression: Mehrfach betont sie die Liminalität des Mittsommernachtfests, in dessen Rahmen die sozialen Differenzen aufgehoben sind (FJH 32, 33, 35)117 – und damit wiederum die Konsequenzlosigkeit ihres Tuns. Bemerkenswert ist, dass Julie ihr eigenes Verhalten nicht als autonom qualifiziert, sondern die Missachtung geltender Regeln vielmehr als Anomie im Sinne Durkheims charakterisiert. Darauf, dass Julies Verhalten anomischer Regellosigkeit zugrunde liegt, wird schon im bekannten Traumbericht angespielt. In dieser Replik erzählt sie Jean von ihren Traum, auf einem Pfahl zu sitzen und sich zu wünschen, hinunterzufallen bis zum Boden und »weiter hinunter in die Erde« (FJH 38).118 Bezieht man die Stelle ausschließlich auf den unmittelbar anschließenden Traum Jeans, einen Baum zu erklimmen, und interpretiert sie somit als kaum verschlüsselte Abstiegs- bzw. Aufstiegsfantasie, entgeht einem ihre anomische Dimension. So zeigt sich in der zu Beginn der Replik geäußerten Behauptung, dass das Leben und der Mensch »ein einziger Matsch« sei, »der auf dem Wasser immer weiter treibt, bis er versinkt« (FJH 37)119, die Abwesenheit einer gültigen Ordnung. In dieser Hinsicht bedeutet dann das Sinken hinab in die Erde, dass auch der Boden, der sonst als unterste soziale Grenze kodiert wäre, keine strukturierende Bedeutung besitzt. Dieses Bewusstsein der Anomie verschärft sich nach dem Sex mit Jean und gewinnt nun die Qualität eines existenziellen Problems. In einem Versuch, dem Geschlechtsverkehr Sinn zu unterstellen, fordert Julie Jean auf, sie seiner Liebe zu versichern, denn: »was wird sonst aus mir?« (FJH 48).120 Auch dass sie auf Kristins Nachfrage, ob sie an ihre
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FJS 160f., 187. FJS 163. FJS 125, 127f., 130f. »i jorden« (FJS 135). »en sörja«, »drivs fram på vattnet, tills det sjunker« (FJS 135). »vad är jag eljes?« (FJS 151). Karnick hat betont, dass Weiss die Stelle mit »was bleibt mir sonst noch?« fehlübersetzt hat, weil es nicht darum gehe, was ihr bleibe, sondern was sie ihrer
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Fluchtpläne wirklich glaube, antwortet, an »gar nichts mehr« zu glauben (FJH 72)121, macht das deutlich.122 In der sich gleich nach dem Akt bei Julie einstellenden Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit spiegelt sich somit die Einsicht, dass ihr voriges Handeln in dem ›falschen‹ Bewusstsein begangen worden ist, als Herrin und gleichberechtigte Frau souverän über sich selbst zu verfügen. Das, was Jean von Beginn an propagiert hat, dass ihr nämlich nichts übrig bleibt, als sich den Heteronomien zu fügen, das wird ihr nach der Mesalliance Stück für Stück bewusst gemacht. Das Bewusstwerden ihrer Heteronomie wird zunächst über die Reflexion der Konsequenzen ihres Handelns deutlich. Das lässt sich daran erkennen, dass sie einsehen muss, aufgrund ihres Verhaltens fliehen zu müssen (FJH 56)123, was ja bedeutet, dass sie die Geltung der moralischen Beobachtung ihres sozialen Standes nun akzeptiert hat. Sie muss ferner einsehen, dass sie den Respekt, der sich durch ihren sozialen Status legitimierte, nun eingebüßt hat – wie es Jeans brutale Beleidigungen und seine Einsicht in die moralische Gleichwertigkeit der sozialen Schichten offenbaren (FJH 52f.).124 In ihr reift nun das Bewusstsein, auch als Frau nicht Herrin ihres Verhaltens gewesen zu sein: Zwar hasse sie die Männer meistens, aber »ab und zu … wenn mich die Schwäche überfällt« (FJH 58)125, ist sie ihnen ausgeliefert. Auch die Überzeugung, dass eine sexuelle Beziehung zwischen Herrin und Diener äquivalent mit Sodomie ist, übernimmt sie auf Suggestion von Jean hin (FJH 58).126 Das Bewusstsein von Heteronomie geht schließlich so weit, dass sie angesichts des Einflusses ihrer Eltern annimmt, bislang stets heteronom gehandelt zu haben, was für sie darauf hinausläuft, nie über eine eigenständige Identität verfügt zu haben: »Ich selbst? Ich war ja gar nicht ich selbst! Ich besaß nicht einen einzigen Gedanken, den ich nicht von meinem Vater bekommen hatte, nicht eine Leidenschaft, die ich nicht von meiner Mutter gelernt hatte« (FJH 75).127 Angesichts
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ganzen Existenz nach ist (vgl. Karnick: Rollenspiel und Welttheater, S. 115, FN 12, Erläuterung auf S. 330). »på någonting mer« (FJS 182). In dieser Hinsicht ist es auch bedeutsam, dass Julie anders als Kristin nicht an Gott glaubt (FJH 73–75, FJS 184f.) – denn liegen im Christentum nicht allein die Grundlagen westlicher Moralvorstellungen, sondern bieten es ganz basal eine Ordnung der Welt. Indem Julie diese ablehnt, begibt sie sich auch dieser Ordnungsmöglichkeit, woraus folgt, dass sie entweder einer alternativen Ordnung als Orientierung bedarf – oder mit Anomie leben muss. FJS 159f. FJS 155–157. »Men ibland – när svagheten kommer« (FJS 164). FJS 164. Bemerkenswerterweise wird die selbe Parallelisierung später von Kristin vorgenommen, die Jeans und Julies Verhalten mit den Worten kritisiert, dass es »immer noch einen Unterschied zwischen Mensch und Tier« – »skillnad på folk och fä i alla fall« – gebe (FJH 64, FJS 173). »Mitt eget? Jag har ju intet eget? Jag har inte en tanke som jag inte fått av min far, inte en passion som jag inte fått av min mor« (FJS 187).
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noch ihres Verlobten, der ihr die Illusion der Gleichheit der Geschlechter eingepflanzt habe, fragt sie sich nun, was ihr eigener Fehler sei, um die Frage gleich zu entwerten: Nicht um ihren Fehler ginge es, sondern darum, dass sie die Schuld bekomme und die Folgen zu tragen habe (ebd.).128 Eindeutig wird damit von ihr einer auf eigener Schuld oder eigenem Charakterfehler – also im Sinne der aristotelischen ἁμαρτία (›hamartia‹) – beruhenden Tragik eine Absage erteilt. Julies Gefühl der Souveränität gegenüber sozialen Regeln ist im zweiten Teil des Stücks einem Bewusstsein totaler Heteronomie gewichen, das so weit reicht, dass sie ihren Diener mehrfach anfleht, ihr zu sagen, was sie tun soll (FJH 61, 62, 76).129 Gerade der letzte dieser Appelle ist hierbei signifikant. Sie fordert Jean auf, ihr zu befehlen, sich zu töten, doch Jean spürt einen Widerstand dagegen, der sich gerade auf seine eigene Heteronomie bezieht. Dominant ist bei Jean die Determiniertheit durch seine soziale Position. Seine ›Diener‹-Mentalität offenbart sich etwa in seiner Fluchtfantasie im Anschluss an den Sex mit Julie: So reicht seine mit der Flucht verbundene Fantasie sozialen Aufstiegs lediglich so weit, sich vorzustellen, ein Luxushotel zu eröffnen, in dem er hochgestellten Gästen dienen kann (FJH 47).130 Einen Grafentitel würde er sich, ganz Parvenü, eher kaufen, als ihn durch Einheirat anzunehmen, was betont, dass er äußerlich bliebe (FJH 48).131 Seine Servilität, die gegenüber Julie nachlässt, bleibt jedoch ungebrochen, wenn immer es um den Grafen selbst geht. So versetzt er den Stiefeln des Grafen einen Tritt, da sie ihn an seine Haltung gegenüber dem Herrn erinnern: (I)ch brauche nur seine Handschuhe auf einem Stuhl liegen sehen, schon fühle ich mich klein – ich brauche nur die Glocke von oben zu hören, so fahre ich wie ein scheues Pferd zusammen – und wenn ich seine Stiefel da stehen sehe, so aufrecht und keck, dann es mir eiskalt den Rücken herunter. (ebd.)132
Seine forsche Behauptung, dass diese Vorurteile »ebenso schnell wieder vergessen« (ebd.)133 werden können, wie sie seit der Kindheit internalisiert worden sind, wird desavouiert, als die Glocke zu hören ist und der Graf über das Hörrohr mit ihm spricht. Sofort wechselt Jean wieder in seine Dienerjacke und entgegnet den Anordnungen des Grafen mit servilen Phrasen (FJH 75).134 Es ist eben der Moment, in dem Julie von ihm verlangt, ihr den Selbstmord zu befehlen. Jeans Entgegnung zeigt, wie sehr er sich seiner Heteronomie bewusst ist: 128 129 130 131 132
FJS 187. FJS 167, 169, 188. FJS 149. FJS 150. »jag behöver bara se hans handskar ligga på en stol, så känner mag liten – jag behöver bara höra klockan darope så far jag ihop som en skygg häst – och när jag nu ser hans stövlar stå där så raka och kavata, så drar det i ryggen på mig!« (FJS 150). 133 »man kann glömma lika lätt« (ebd.). 134 FJS 187.
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Jean. Ich weiß nicht – jetzt kann ich es auch nicht mehr – ich begreife es nicht – es scheint fast, als ob diese Jacke das bewirkt hat – ich kann Ihnen nicht befehlen – und jetzt, nachdem der Graf mit mir geredet hat – da, ich kann es nicht so recht erklären, aber… es ist dieser verdammte Diener, der mir im Nacken sitzt! Ich glaube, würde der Graf jetzt herunterkommen und mit befehlen, ich solle mir die Kehle durchschneiden, so würde ich es auf der Stelle tun. (FJH 76)135
Gestützt wird diese Selbstbeschreibung als heteronomes Subjekt durch seine Reaktion auf die eine Replik im zweiten Teil, in der Julie die alte Souveränität kurzfristig – und entgegen der Dynamik des Stücks – zurückerlangt. Nachdem Jean den Zeisig, den Julie auf ihre Flucht mitnehmen will, mit einem Küchenbeil geköpft hat, nähert sie sich dem blutigen Hackklotz, »als würde sie gegen ihren Willen von ihm angezogen«, und steigert sich in eine Gewaltfantasie hinein, in deren Verlauf sie imaginiert, Jeans Schädel abzuhacken, daraus Blut zu trinken und sein Herz zu essen (FJH 68).136 Diese blutrünstige Vision geht in die Ankündigung über, doch nicht fliehen zu wollen, sondern den Untergang des Grafengeschlechts mit tapferer Schicksalsergebenheit (FJH 69)137 miterleben zu wollen. Bezeichnend ist, dass Jean darauf nicht etwa verstört reagiert oder bemüht ist, seine Dominanz über sie wiederzuerlangen. Stattdessen lobt er diesen Ausbruch und erspürt darin ihr »Königsblut« (FJH 69).138 Signifikant ist darüber hinaus, dass in der durch den Hackklotz verursachten, für kurze Zeit veränderten Haltung Julies der Schluss des Stückes vorweg genommen ist. Dieses Ende ist gerade im Hinblick auf die Frage nach Autonomie und Heteronomie so bedeutsam wie merkwürdig. Wie erwähnt fühlt sich Jean durch die mittels Glocke und Sprachrohr wieder präsent gewordene Existenz des Grafen nicht in der Lage, Julie zu befehlen, sie zu töten. Aus diesem Grund erinnert sie ihn an die Hypnotiseure im Theater und beginnt nun, sich selbst in einen hypnotischen Zustand zu bringen: Bevor sie sich in einen somnambulen Zustand versetzt, suggeriert sie ihm, was ein Hypnotiseur seinem Medium sagen würde – und in diesen Worten gibt Jean ihr schließlich den Befehl, den sie von ihm verlangt hat (FJH 76f.).139 Es ist somit eine bewusst eingeforderte Hypnose, mit der Julie den Auftrag zur Selbsttötung erhält – und diese merkwürdige autonom geforderte Heteronomisierung wiederholt sich dadurch, dass Julie ihn auffordert, ihr zu befehlen, zu gehen (um den Suizid zu vollziehen), was er nur zögerlich und im Bewusstsein 135 »Jean. Jag ven inte – men nu kann jag inte heller – jag förstår inte – det ät alldeles som om den här rocken gjorde att – jag inte kann befalla över er – och nu, sen greven talte till mig – så – jaf kann inte redogöra för det riktigt – men – ah det är den djövla drängen som sitter i ryggen på mig! – jag tror att om greven kom mer nu – och befallde mig skära halsen av mig, så skulle jag göra det på stället.« (FJS 188). 136 »liksom dragen dit mot sin vilja« (FJS 178). 137 FJS 179. 138 »kungablodet« (ebd.). 139 FJS 188–190.
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der aporetischen Situation schlussendlich tut (FJH 77).140 Es lässt sich am Ende des Stückes also ein merkwürdiger Chiasmus der Handlungsinitiativen ausmachen, der vor dem Hintergrund einer – im zweifachen Sinne – theatral vermittelten Hypnose abläuft. Gerade dieser Schluss wirft die abschließende, entscheidende Frage auf, inwieweit das Theater- und Spiel-Motiv das dynamisch wechselnde Heteronomiebewusstsein der Figuren strukturiert. Mit Blick auf das Rollenspiel-Moment in Fräulein Julie dürfte sich die Leistung der forcierten Theatralität für die Subjektproblematik unmittelbar aus dem Gesagten ergeben. Während in der Phase der Anbahnung des sexuellen Kontakts zwischen Jean und Julie Uneigentlichkeit des Verhaltens und Rollenwechsel als Theatralität thematisiert und visuell (gestisch bzw. proxemisch) präsentiert werden, verschiebt sich der Fokus nach dem Sex auf die Thematisierung von Heteronomie, die am Schluss bei Jean sowie, qua Hypnose, bei Julie ebenfalls szenischen Ausdruck findet. Es liegt daher die These nahe, dass das Als-Ob des Theatralen den Figuren die Illusion souveräner Handlungsmacht verschafft, die dann bei Julie und Jean zeitversetzt, und zwar umgekehrt reziprok zum Ausmaß ihrer Handlungsillusion zuvor, im Laufe des zweiten Teils zum Bewusstsein totaler Heteronomie führt, an dessen Ende die jeweilige Einsicht in die eigene Aporetik steht. Doch damit wäre die Komplexität des Zusammenhangs noch nicht ergründet, wofür schon der Befund spricht, dass Theatralität auch post actum Thema bleibt und das Problem der Handlungsmacht bereits davor angesprochen worden ist. Es wäre demnach ungenau, aus dieser Dominanzverschiebung abzuleiten, dass ›Theater‹ in Fräulein Julie als Ort lediglich illusionärer Handlungsmacht vorgeführt wird. Vielmehr sei daran erinnert, dass verschiedene Formen von Theater im Stück aufgerufen werden, und ebenso unterschiedliche Gründe für die Heteronomie der Figuren zur Sprache kommen. So bezieht sich Julies Hinweis auf den Hypnotiseur im Theater erkennbar nicht auf dieselbe Art des Rollenspiels, die Jean und Julie zunächst thematisiert und ausagiert haben. So gilt bei der theatralen Hypnose am Schluss auch, dass sie szenisch präsentiert und verbal verdoppelt wird, doch ist ihre Konsequenz nicht der Liebesakt, sondern der Tod. Offensichtlich hat sich im Laufe des Stücks in der Verschiebung von ›Galanterie-Theatralität‹, die noch den Habitus der französischen Salonkomödien des späten 19. Jahrhunderts bestimmte, zu eher volkstümlicher Hypnose-Vorführung der Referenzrahmen des Theater-Motivs – Liebe zu Handlungsmacht – gewandelt. Diese Verschiebung erklärt sich, wenn man diesen Aspekt der Theatralität im Stück als Meta-Theatralität auffasst. Es sei daran erinnert, dass Strindberg das Stück als naturalistisch gekennzeichnet hat und im Vorwort auf diesen Referenzrahmen ausführlich eingegangen ist. Wenn nun, wie oben schon einmal kurz angedeutet, die verschiedenen im Text aufge140 FJS 190.
Wedekinds König Nicolo (1902)
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rufenen Theaterformen ein Koordinatensystem des zeitgenössischen Theatralitätsgefüges bilden, in das sich Fräulein Julie einzufügen hat, erscheint die Verschiebung von einer verspielten, erotisch konnotierten Komödienhandlung im ersten zu einer blutig ernsten, alle Heteronomien und Aporien ausbuchstabierenden tragischen Handlung im zweiten Teil als metatheatralischer Kommentar über die Möglichkeiten naturalistischen Theaters. Die Bedeutung dieses Kommentars kann kaum überschätzt werden: Wenn diese These plausibel ist, so hat Strindberg in der Ausstellung theatraler Optionen ›Theater‹ für den BühnenNaturalismus dienstbar gemacht. Das würde wiederum sein Vorwort bestätigen, in dem, wie gezeigt, nicht-illusionistische Theaterelemente nonchalant als Mittel für naturalistische Illusionsbildung behandelt werden. Das bedeutet schließlich, dass ›Theater‹ für Fräulein Julie eine Doppelbedeutung annimmt: Es ist erstens ein Modus des Uneigentlichen, der Gefahr läuft, die für die Subjekte gültigen Heteronomien aus dem Blick geraten zu lassen, und zweitens wird durch Verschiebung des theatralischen Uneigentlichen ins Existenzielle die Möglichkeit eines Theaters szenisch vorgeführt, das ›Theater‹ dafür dienstbar macht, die Problematik »moderner Charaktere« (FJH 10)141 in naturalistischer Programmierung darzustellen.142
1.3
Ich-Obsession als Diagnose und Theater als Heilung? Wedekinds König Nicolo (1902)
Dass Wedekinds Schauspiel König Nicolo oder So ist das Leben143 (1902) in der Forschung trotz früher Einwände144 immer wieder autobiografisch gelesen wurde145, daran ist der Autor des Stückes bekanntlich nicht unschuldig.146 Indem 141 »moderna karaktärer« (FJS 104). 142 Dass Strindberg die Grenzen des mit einem so verstandenen Naturalismus einhergehenden Illusionsprimats später bewusst geworden sind, zeigen seine um 1900 verfassten Stücke. Die »Nach Damaskus«-Trilogie wie das »Traumspiel« sind nicht weniger mit der Problematik moderner Subjektivität befasst, bedürfen aber der forcierten Theatralität nicht, weil sie sich vom Dogma des Illusionismus gelöst haben. 143 Zitiert wird hier nach der in der Kritischen Studienausgabe verwendeten dritten Auflage von 1911, in der mit der Hinzufügung des Namens des Protagonisten im Titel und eines Prologs gewichtige Änderungen vorgenommen worden sind. Aus Gründen der Einfachheit wird im Text fortan der in der Forschung verbreitete Kurztitel König Nicolo gebraucht. Der Nachweis im Text erfolgt unter der Sigle (KöN) und der Seitenzahl, zit. n.: Wedekind, Frank: König Nicolo oder So ist das Leben. Schauspiel in drei Aufzügen und neun Bildern mit einem Prolog. In: Ders.: Werke. Kritische Studienausgabe. Band 4: Der Kammersänger. Ein Genußmensch. Ein gefallener Teufel. Der Marquis von Keith. König Nicolo. Dramatische Fragmente und Entwürfe. Hgg. v. Elke Austermühl. Darmstadt 1994, S. 229–297. Zur Textgenese vgl. den textkritischen Bericht ebd., S. 583–590.
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der weithin bekannte Darsteller des Münchener Kabaretts »Die Elf Scharfrichter« zur Durchsetzung seiner Bühnenstücke dazu überging, die Hauptrollen in seinen Stücken selbst zu übernehmen147, hat er dazu beigetragen, dass seine unkonventionelle Person und nicht sein Werk im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, was die Rezeption seiner Stücke als autobiografische Bekenntnisse von Beginn an geprägt hat.148 Es hat nicht geholfen, dass die Titelfigur im Stück wie der Autor selbst wegen Majestätsbeleidigung zu Festungshaft verurteilt wird.149 Auch dass er sich in späteren Briefen von der seiner damaligen Situation geschuldeten Larmoyanz im Text peinlich berührt erklärt hat, ist als Beleg für die autobiografische Dimension des Stückes gedeutet worden.150 Es mag – neben dem Mangel an Bühnenerfolg151 – diese vermeintlich unhintergehbare Autobiographik des König Nicolo eine der Hauptgründe dafür sein, dass sich zumal die neuere Forschung wenig um das Stück bemüht hat. Da es auch unmittelbar vor der – mit Wedekinds Durchbruch auf dem Theater – 1903 angesetzten späteren Werkphase entstanden ist, profitiert es nicht von neueren Bemühungen, diesen 144 Vgl. Maclean, Hector: The King and the Fool in Wedekind’s König Nicolo. In: Seminar 5 (1969), S. 21–35. 145 Dieses Diktum von 1987 (vgl. Vinçon, Hartmut: Frank Wedekind. Stuttgart 1987, S. 215) hat bei den sehr raren späteren Arbeiten zu diesem Text nach wie vor Bedeutung, wie etwa an einem Aufsatz über Wedekinds dramatisches Verfahren ersichtlich ist, wo zwar die Fruchtlosigkeit biografischer Lesarten betont wird, die autobiografischen Bezüge aber dennoch als wichtige Elemente des Verfahrens bezeichnet und entsprechend herausgestellt werden (vgl. Austermühl, Elke: Nachwort. Wedekinds dramatisches Verfahren. Ein Rekonstruktionsversuch. In: Kritische Studienausgabe. Band 4: Der Kammersänger. Ein Genußmensch. Ein gefallener Teufel. Der Marquis von Keith. König Nicolo. Dramatische Fragmente und Entwürfe. Hgg. v. Elke Austermühl. Darmstadt 1994, S. 713–737, hier S. 734f.). Auch der Umstand, dass in den letzten Jahren gleich zwei umfangreiche Biografien veröffentlich worden sind, deutet darauf hin, dass der schillernden Persönlichkeit Wedekinds nach wie vor mehr Interesse entgegengebracht wird als seine widerständigen, irritierenden Dramen nach dem »Marquis von Keith« (vgl. Regnier, Anatol. Frank Wedekind. Eine Männertragödie. München 2008 sowie Vinçon, Hartmut: »Am Ende war ich doch ein Poet…«. Frank Wedekind: Ein Klassiker der Literarischen Moderne. Werk und Person. Würzburg 2014, zu den Biografien vgl. ebd., S. 318). 146 Zu dieser Einschätzung kam bereits Maclean, dessen dezidierte Gegenposition zur biografischen Lesart jedoch nur selten übernommen worden ist (vgl. Maclean: The King and the Fool in Wedekind’s König Nicolo, S. 21). 147 Vgl. Vinçon: »Am Ende war ich doch ein Poet…«, S. 152. Auch in König Nicolo hat er ab 1909 die Hauptrolle selbst gespielt (vgl. Austermühl: Kommentar, S. 639). 148 Vgl. etwa nur das Kapitel »Wedekind der Narr« in Diebold: Anarchie im Drama, S. 37–74. 149 Die Haft fand zwischen September 1899 und Februar 1900 und die Niederschrift des Schauspiels zwischen Herbst 1901 und Januar 1902 statt (vgl. Vinçon: Frank Wedekind, S. 56f. sowie Austermühl, Elke: König Nicolo. Kommentar. In: Wedekind: Werke. Band 4, S. 563–649, S. 563f.). 150 Vgl. Vinçon: Frank Wedekind, S. 69 sowie Irmer, Hans-Jochen: Der Theaterdichter Frank Wedekind. Werk und Wirkung. Berlin 1975, S. 171. Auf diesen beiden Seiten finden sich auch die diesbezüglich einschlägigen Briefstellen. 151 Vgl. Austermühl. Kommentar, S. 632–634.
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stets eher unterbelichteten Werkabschnitt stärker ins Zentrum zu rücken.152 Aus diesem Grund wird die folgende Analyse fast ausschließlich auf ältere Forschung zurückgreifen, dabei aber den biografistischen Zugriff auf das Stück meiden, in dem Glauben, dass dadurch der Blick auf die Bedeutung der Theatralität für die Identitätsproblematik der Titelfigur geschärft wird, da er nicht von der Suche nach Rückbezügen auf die Biografie des Autors abgelenkt wird. Man wird dezidierte Artifizialität generell als Kern von Wedekinds dramatischem Konzept bezeichnen dürfen. Der forcierte Antiillusionismus der oft pathetisierten und mittels literarischer Anspielungen ›ent-authentisierten‹ Sprachverwendung, die irritierenden Stilbrüche und -zitate153 innerhalb der Stücke sowie generell ihr allegorisches Figurenkonzept154 verweisen in Verbindung mit seiner – sich in vielzähligen komischen und körperbetonten Passagen zeigenden – Nähe zur mitteleuropäischen Volkstheatertradition155 auf eine Dramatik, die auf die Infragestellung des gültigen Dramenverständnisses durch betonte Künstlichkeit hinausläuft. Die Theatralisierung des Geschehens ist mithin Teil einer generellen anti-illusionistischen und anti-identifikatorischen Textbewegung, indem durch stetiges Verweisen auf die Bühne selbst ihr Modellcharakter156 bewusst gehalten wird. Dieses gelegentlich auch als zirzensisch157 charakterisierte 152 Vgl. dazu Pankau, Johannes G.: Scham und Macht. Zu Frank Wedekinds Dramen »Simson« und »Schloß Wetterstein«. In: Text + Kritik. Bd. 131/132: Frank Wedekind. Hgg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1996, S. 129–146 sowie bes. der Tagungsband v. Dreiseitel, Sigrid / Vinçon, Hartmut (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität. Diskurse zu Frank Wedekinds literarischer Produktion (1903–1918). Tagungsband mit den Beiträgen zum internationalen Symposion der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der FH Darmstadt im Oktober 1999. Würzburg 2001. 153 Vgl. zu den sprachlichen Mitteln Jesch, Jörg: Stilhaltungen im Drama Frank Wedekinds, Marburg 1959 sowie allgemein Austermühl: Wedekinds dramatisches Verfahren, bes. S. 722– 727. 154 Vgl. Höger, Alfons: Frank Wedekind. Der Konstruktivismus als schöpferische Methode. Königstein/Ts. 1979. 155 Vgl. Forcht, Georg W.: Die Medialität des Theaters bei Frank Wedekind. Eine medientheoretische Untersuchung über den Einfluss des Bänkelsängers und Schauspielers Frank Wedekind. Herbolzheim 2005 sowie ders.: Frank Wedekind und die Volksstücktradition. Basis und Nachhaltigkeit seines Werks. Freiburg i.Br. 2012. 156 Wedekinds Stücke werden von der Forschung bisweilen als »dramatische[] Modelle« bezeichnet (Austermühl, Elke: Kontinuität oder Diskontinuität im Werk Frank Wedekinds? In: Dreiseitel, Sigrid / Vinçon, Hartmut (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität. Diskurse zu Frank Wedekinds literarischer Produktion (1903–1918). Tagungsband mit den Beiträgen zum internationalen Symposion der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der FH Darmstadt im Oktober 1999. Würzburg 2001 , S. 23–32, S. 24). 157 Vgl. die aus ideologiekritischer Perspektive stark abwertende Einschätzung dieses »Circus mundi« – so ein Untertitel des Abschnitts – bei Klotz, Volker: Dramaturgie des Publikums [1976]. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen, insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater. 2., durchgesehene Auflage. Würzburg 1998, S. 138–176.
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Konzept spiegelt sich in einer Vorliebe für Sujets, die im Theater- und Zirkusmilieu spielen oder dieses thematisieren. Eine solche direkte Thematisierung des Theatralen als wichtiges Element im Rahmen der allgemein ausgestellten Artifizialität und Parabelhaftigkeit des dramatischen Modells findet sich auch in König Nicolo, wie schon eine kurze Inhaltsangabe der neun Bilder158 erkennen lässt. So setzt das Stück dann ein, wenn die Titelfigur, Herrscher der umbrischen Provinz Perugia, als König zugunsten eines vom Volk akklamierten Schlachtermeisters abgesetzt und verbannt wird. Zwar entzieht er sich des Urteilsspruchs durch den Sprung in einen Fluss, doch ist er fortan gezwungen, sich und seine geliebte Tochter Alma inkognito als Schweinehirt und als Schneidergeselle zu verdingen, ehe er, von den neidischen Gesellenkollegen gereizt, den König verflucht, weswegen er der Majestätsbeleidigung angeklagt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wird. Wieder frei, zieht er mit Alma als Gaukler umher, ehe er auf einer Elendenkirchweih als Tragöde auftritt. Seine Darbietung wird vom Publikum und den anwesenden Theaterbesitzern als Parodie missverstanden, und letztere überbieten einander in dem Versuch, Nicolo für ihr Theater zu gewinnen. Er hat als Darsteller in einer Königsposse großen Erfolg und tritt schließlich auch in Perugia auf, wo ihn der neue König sieht, der als Einziger den ernsten Kern der Posse begreift und ihn als seinen Hofnarren einstellt. Stark gealtert und geschwächt eröffnet Nicolo dem neuen König schließlich, wer er ist, doch wird ihm kein Glauben geschenkt, so dass er unerkannt – und im Beharren auf seine Königlichkeit – stirbt. Allerdings verheiratet der neue König zum Schluss Alma mit seinem Sohn und verfügt dabei, dass Nicolo in der Königsgruft beigesetzt wird, aber nie jemand davon erfahren soll, wen er als Hofnarr angestellt hat. Das für Wedekind ungewöhnliche Genre des Königsdramas sowie das Renaissance-Setting verweist bereits auf seine oben skizzierte dramatische Technik. So folgt das Stück nicht etwa einem historischen Stoff, sondern verweist deutlich auf literarische Vorlagen. Prominent sind beispielsweise die Anspielungen auf plautinische Komödien, zum Beispiel in der Verwendung eines Chorus159, sowie Übernahmen shakespearescher Motive, besonders aus dem »Lear« – man denke an das Verhältnis zwischen dem vertriebenen König und seiner treuen Tochter oder an das Motiv des weisen Hofnarren. Auch dass Wedekind die zeitgenössische Renaissance-Mode sowie insbesondere die populären Renaissance-Dramen eines Wilhelm Weigand aufgegriffen und deren Kult des handlungsstarken Re-
158 Wedekind hat, wie oben erwähnt, die Zahl der Akte mit der dritten Auflage des Stückes von fünf auf drei verringert und dabei die Bilder weiterhin fortlaufend nummeriert. Da weder die eine noch die andere Akteinteilung erkennbare Ordnungsfunktion besitzt, werden im Text fortan allein die Bilder erwähnt. 159 Vgl. Austermühl: Kommentar, S. 612.
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naissancefürsten als Kontrastfolie für König Nicolo verwendet hat, liegt nahe.160 Während diese intertextuellen Verweise eher im Bereich des Dramatischen liegen, ist die womöglich wichtigste Vorlage für das Stück selbst ein forcierter Theatertext: Rudolf Lothars Maskenspiel »König Harlekin« (1900). Parallelen wurden darin gesehen, dass schon bei Lothar die Differenz zwischen Bühnenspiel und königlicher Rolle thematisiert wird, dass Wedekind zunächst den Titel »König Hofnarr« erwogen hatte – und, dass der Schlusssatz des Spiels bei Wedekind in leichter Abwandlung ebenfalls das Stück »König Harlekin« beschließt.161 Verbindet man dies mit den Anspielungen auf Leoncavallis Oper »Der Bajazzo«, die vor allem in Almas Rolle bei der von Nicolo dargestellten Königsposse deutlich wird162, so festigt sich der Eindruck, dass die konsultierten Texte ihrerseits erhebliche Anleihen bei nicht-dramatischen Theaterformen machen (worunter in dieser Hinsicht auch die ihrerseits traditionsreiche Narrenfigur des »Lear« zu zählen ist163). Die Ausstellung der Theatralität des Stückes beschränkt sich nicht auf solche Anleihen, sondern findet sich bereits im Nebentext, besonders in den dem Stück vorangestellten Bühnenanweisungen. Das zeigt sich im expliziten Bezug auf die Reliefbühne im »Münchener Künstler-Theater« (KöN 230) sowie in der Anweisung, für den Hintergrund der neun Bilder jeweils Theaterprospekte zu verwenden (KöN 231f.). Es ist dabei auffällig, dass bei den einzelnen Prospekten das Generische betont164 und das Interieur wiederum explizit »auf das absolute Notwendige« (KöN 231) reduziert wird. Der Eindruck, dass jeder Anflug von Illusionstheater zunichte gemacht, aber ›Theater‹ selbst präsent gehalten werden soll, setzt sich beim Personenverzeichnis fort, wo – ungewöhnlicherweise – darauf hingewiesen wird, dass nicht weniger als zwanzig Rollen doppelt besetzt und somit von zehn Darstellern übernommen werden können (KöN 233). Der Einwand, dass damit nur pragmatischen Schwierigkeiten der Rollenbesetzung begegnet wird, ist diskutabel, verfängt aber nicht bei der Anweisung, dass ein »Ein Edelknabe [] von einem jungen Mädchen dargestellt« (KöN 232) werden soll. Hier ließe sich eher an eine ironische Anspielung auf die noch zu Shakespeares Zeiten üblichen ›Hosenrollen‹ denken, also an von Männern gespielte Frauenrollen. Der versifizierte und gereimte Prolog – ein dramatischer Rahmen, der erkennbar der Rezeptionslenkung dient, indem er den Zuschauern rät, »in uns euch selber« (KöN 234) wiederzufinden, anstatt das Stück als historisches 160 161 162 163 164
Vgl. ebd., S. 590–592. Vgl. ebd, S. 593. Vgl. ebd., S. 593f. Vgl. Lukens, Nancy: Büchner’s Valerio and the Fool Tradition. Stuttgart 1977. Dafür spricht etwa, dass mit Ausnahme der Prospekte von Bild 7 und 8 alle mehrfach benutzt werden und beispielsweise »Waldprospekt« oder »Grauer Wandprospekt« betitelt werden (KöN 230f.).
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Spiel ohne Bedeutung für die eigene Lebenspraxis misszuverstehen – referiert dreifach auf das Stück als Spiel (KöN 235) und stellt somit seine Konstruiertheit auch textlich aus. Man könnte auch den Thronsaal des ersten und letzten sowie der – in derselben Dekoration wie diese präsentierte – Gerichtssaal im vierten Bild als Verweise auf Theatralität interpretieren, insofern die in beiden Situationen typische Wechselrede zwischen Urteilenden und Befragten vor dem Hintergrund schweigender Anwesender ebenso Resultat klarer Rollenzuweisungen und mithin selbst ›theatromorph‹ ist.165 Am deutlichsten erkennbar ist die Theaterreferenz dort, wo Nicolo als Königsdarsteller auftritt. Die beiden Bilder, in denen dies szenisch repräsentiert wird (Bild 7 u. 8), sind auch bühnentechnisch von den übrigen abgehoben, da nur hier die flache Reliefbühne nach hinten geöffnet ist und »möglichst tief« (KöN 230) sein soll. Diese Szenen sind von besonderem Interesse, weil sie mittels der Spiel-im-Spiel-Technik166 Nicolo eine Bühne auf der Bühne betreten lassen, auf der er die verlorengegangene Rolle des Königs nun ausspielen kann – und worin der Bezug von Theatralität und Subjektproblematik im Stück kulminiert. Während Theatralität im Stück bis dahin sozusagen mitläuft, wird sie nun explizit gemacht und gibt zugleich Nicolos Hadern mit seiner Königsidentität eine entscheidende Wendung. Bis zu den Bildern acht und neun ist Nicolos – anachronistisch formuliert – Identitätsproblem als Problem der Akzeptanz seiner neuen sozialen Rolle mittels fortwährender Selbstreflektion thematisiert worden. Der im ersten Bild als Gefangener zum neuen Herrscher Pietro Folchi geführte Nicolo adressiert sich in der ersten Replik im pluralis maiestatis, höhnt über Folchis Beruf des Schlachtermeisters und lehnt es schroff ab, auf sein Königtum zu verzichten: »Töten kann auch der Blitzstrahl; aber wer als König geboren ist, stirbt nicht als Mensch!« (KöN 239). Vor dem Hintergrund seines Gottesgnadentums erscheint ihm die Akklamation des neuen Königs als Sakrileg, das er nicht dadurch den Anstrich von Legitimität geben will, seine Tochter mit dem Sohn des neuen Herrschers vermählen zu lassen (KöN 241). Das enge Verhältnis zu seiner Tochter ist gerade im Hinblick auf Nicolos Identitätskrise bemerkenswert: Nur ihr ver165 Vgl. Schwanitz (u. a.): Art. Drama. Bauformen und Theorie, S. 413. 166 Vgl. Kiermeier-Debre, Joseph: Art. Spiel im Spiel. In: RLW III, S. 472–474. Vgl. zudem ders.: »Eine Komödie und auch keine«. Theater als Stoff und Thema des Theaters von Harsdörffer bis Handke. Stuttgart 1989. Vgl. zudem Voigt, Joachim: Das Spiel im Spiel. Versuch einer Formbestimmg an Beispielen aus dem dt., engl. u. span. Drama. Göttingen 1955, Pfister: Das Drama, S. 299–307, Schmeling, Manfred: Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur vergleichenden Literaturkritik. Gütersloh 1977 sowie Schöpflin, Karin: Theater im Theater. Formen und Funktionen eines dramatischen Phänomens im Wandel. Frankfurt a.M. 1993. Die erwähnten Titel lassen die »terminologische Streuung« der Technik in den Nationalsprachen nur erahnen, die schon Schmeling dargestellt hat (vgl. Schmeling: Das Spiel im Spiel, S. 10–17, Zitat S. 16).
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traut er, nur im Hinblick auf sie äußert er sich besorgt (KöN 240, 242f., 248–250, 263, 266, 270, 278, 292–296). Zugleich nährt Alma – wie der Name schon andeutet – als Einzige Nicolos Selbstbild als König (KöN 246, 248, 250, 295) auch angesichts der neuen Herrscher und in der Diaspora. Dramaturgisch dienen die Dialoge zwischen beiden in erster Linie dazu, Nicolos bedrohte Königsidentität thematisieren zu können. Die Behauptung, dass das geradezu symbiotische Verhältnis zwischen beiden und besonders die Alma-Figur auf die vitalistische Dimension von Nicolos Problematik hinweist167, verlagert die Lebensemphase von Wedekinds früheren Stücken allzu bruchlos in dieses Stück. Vermeintliche Hinweise darauf, etwa der zweite Teil des Titels oder der Umstand, dass sich Nicolo seiner Verbannung durch Sprung in einen Fluss – die Wassermotivik verweist zu dieser Zeit oft auf das ›Leben‹168 – rettet, verfangen nicht: Weder lernt Nicolo im Exil (bzw. im Stück) das ›Leben‹ im lebensphilosophischen, ›diesseitsmetaphysischen‹ Sinn des Wortes kennen, noch zielt die Wendung »So ist das Leben« auf eine derartige Erkenntnis des ›Lebens‹, sondern auf die Einsicht in den Lauf der Welt. Alma fungiert im Stück weniger als Allegorie des Lebens als als Kontrastfigur zu ihrem Vater, insofern sie sich und ihre Rolle nicht reflektiert und deshalb überall leicht Anschluss findet. Symptomatisch für Almas selbstvergessene Fixiertheit auf den Vater ist ihre Reaktion auf seine Frage, ob sie, um ihn im Gefängnis besuchen zu können, nicht Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen musste: »Redet nicht von mir, mein Vater! Die Zeit vergeht, und ich weiß nicht, wie ich Euch helfen kann!« (KöN 264) Nicolo dahingegen sorgt durch seinen Hochmut und seine permanente Selbstthematisierung stets für Schwierigkeiten – am deutlichsten wohl bei seinem Fluch auf den König, der erkennbar ein Fluch auf sich selbst ist (»O Fluch über den König, der mich hindert, ein Mensch zu sein, wie jeder andere!«, KöN 252), aber zu seiner Verhaftung führt. Nicolos Identitätsproblematik, die vor den Spiel-im-Spiel-Szenen ihren Höhepunkt im Fluch auf sich selbst hat, wird im Text wortreich ausgefaltet und hat seinen Kern in der Annahme der eigenen Einzigartigkeit. Der Erkenntnis allerdings, dass er angesichts seiner Situation sein Selbstbild zu korrigieren hätte, verweigert er sich über weite Strecken. So beschreibt Nicolo seine Absetzung als König zu Beginn als ein Fatum (KöN 240, 241, 243), wodurch seine eigene Verantwortung dafür als Missverstehen seiner Handlungsfreiheit erscheint. Sein hedonistischer und egomaner Lebensstil als König (KöN 239, 243, 244, 245) hat für seinen und den Bankrott des Staates gesorgt, aber keine Einsicht in eigenes Fehlverhalten nach sich gezogen. Vielmehr dient ihm sein Sturz zur Klage dar167 Vgl. Martens, Gunter: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart [u. a.] 1971, S. 110–116. 168 Zum lebensphilosophisch akzentuierten Bildbereich des Wassers vgl. Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900, S. 31f. u. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, S. 44–49.
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über, dass die Rolle des Königs wie alle übrigen sozialen Rollen der Stabilisierung durch Bestätigung der Mitwelt bedarf: »Ich vergaß, daß der König wie auch der Bauer und jeder andere Mensch nur der Wahrung seines Standes und der Verteidigung seines Besitzes leben darf, wenn er nicht beides verlieren will.« (KöN 243) Obwohl er als Schweinehirt und Schneidergeselle Anstellung in denkbar unköniglichen Berufen findet, wandelt sich sein Selbstverhältnis dadurch nicht: Auf den Stationen seiner Flucht äußert sich seine Egomanie vielmehr in der Verachtung gegenüber seinen Mitmenschen, die er nicht als seinesgleichen akzeptiert (KöN 246, 249, 251f., 256, 262f., 264). Besonders deutlich wird dieses Selbstbild der Einzigartigkeit bei seiner langen Verteidigungsrede im Gerichtssaal. Diese ist zweigeteilt und bringt zwei Argumente vor. Zunächst verweigert er dem Gericht die Zuständigkeit für das Verbrechen der Majestätsbeleidigung, da die »niedrige Menschheit« (neun Mal in KöN 255f.) die Herrlichkeit des Königs – analog zur Herrlichkeit Gottes – nicht erreichen könne, wodurch ein solches Verbrechen »für den König zu gleichgültig und zu geringfügig [ist], als daß er es je zu rächen bräuchte« (KöN 255). Im Anschluss daran erkennt Nicolo allerdings seine eigene Schuld gegenüber der Welt an: Sie besteht darin, den Menschen kein gutes Vorbild gewesen zu sein, indem er als König, wie es im Prolog heißt, seine eigene Majestät beleidigt hat (KöN 256 bzw. 235). Damit wird der Fluch auf den König als Selbstbezichtigung dadurch gespiegelt, dass Nicolo seine Schuld als eine gegenüber sich selbst begangene beschreibt. Sein absoluter Selbstbezug bleibt somit auch in der farcenhaften Gerichtsszene gewahrt. Selbst im Gefängnis beschreibt er sein Verhältnis zum Gefängniswärter als Versuch, ihn durch die eigene königlich-stoische Haltung, durch seine »königliche Majestät« (KöN 263) zum Menschen zu erziehen (KöN 262–264). Auch hier kann keine Rede davon sein, dass Nicolo von seinem Selbstbild als König abgerückt wäre – es ist stets der »Gang der Welt« (KöN 243), der seine Situation bestimmt, nicht sein eigenes Vergehen. Seine Identitätsproblematik ist in seiner Perspektive also lediglich ein Problem seiner Mitwelt, die seine Königlichkeit nicht (mehr) anerkennen will. Nicolos königliches Selbstbild erhält schließlich im 7. Bild, auf der Elendenkirchweih (KöN 268–275), einen Schlag, der die Art seiner Identitätsproblematik verändert. Ihre Deutlichkeit hat dabei eine die Titelfigur komisierende Funktion, weshalb es spätestens an dieser Stelle plausibel ist, das Missverhältnis zwischen Nicolos tragischem Selbst- und komischen Fremdbild der Tragikomödie169 zuzuordnen. In einer für das Stück generell charakteristischen Überdetermination – man denke etwa an Nicolos dreifache Verbannung aus seinem ehemaligen Königreich – wird die Metatheatralität der Situation in mehrfacher Weise hervorgehoben: So wird die Bühne selbst ein weiteres Mal gerahmt, indem ein 169 Vgl. Guthke, Karl S.: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie. Göttingen 1961, S. 332–338.
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Chorus die Bühnendarbietungen kommentierend begleitet (KöN 268f., 275), sie wird ferner dadurch herausgehoben, dass die Darsteller in gereimten Versen sprechen und drittens schließlich sind die Zuschauer, die die theatrale Wirkung des Dargebotenen kommentieren, selbst Theaterbesitzer. Nicolo versucht, mittels der Darstellung seiner Situation als tragisch verkannter König zu reüssieren: »Ich bin der Herrscher hier in diesem Land, / Von Gott ernannt, von niemand anerkannt! / Und wenn ich’s schrie, daß die Felsen dröhnen, / Daß ich in diesem Lande Herrscher bin, / Der Vögel Zwitschern würde mich verhöhnen!« (KöN 270f.) Sein Vortrag wird mit Lachen und Da-capo-Rufen quittiert und wächst sich bei seinen folgenden Monologen in »wildes Gelächter« aus: Der König (indem er mit allen Mitteln den Ernst seiner Rede hervorzuheben sucht). Ich bin der Herrscher! In die Knie mit euch! Was soll das ungebärdige Lachen! – (…) Ich bin der Herrscher! – Wer das hier nicht glaubt, Der trete vor! Er mag mich drauf erproben! Sonst liebt ich’s nicht, mein eignes Ich zu loben; Doch hat die Welt mit diesen Stolz geraubt. – (…) Ich bin der Herrscher! – Laßt zum Fest euch laden! Die Welt bleibt fern mit ihrer garst’gen Qual; Die Abendsonne leuchtet uns zum Mahl, Gesang ertönt aus luftigen Arkaden (.) (…) Ich bin der König! – Wo war je so schmal Ein Kind an Hand und Füßen in den Knöcheln: Verächtlich seh ich euch, ihr Hörer, lächeln: Die Füße tänzeln und die Hände fächeln; Was oben sich im Schädel birgt, ist schal! (KöN 272f.)
Erkennbar evoziert Nicolo hier seine königliche Vergangenheit, betont entsprechend ritterliche Kampf- und höfische Verführungskunst, ohne aber die erwartete Reaktion zu erhalten. Nicht minder offensichtlich ist, dass Nicolo hier nicht als Tragöde auftritt, selbst wenn er es mehrfach behauptet (KöN 271, 273, 274). Auch durch die Varianz und Quantität der Bezeichnungen, die die Zuschauer und Theaterbesitzer für seine Darbietung finden – »Posse«, »Parodien« (KöN 271), »Satiriker« (KöN 272), »Charakterkomiker« (KöN 273), »Karikatur« (KöN 274) –, wird deutlich gemacht, dass die Funktion dieser Szene gerade in der schroffen Darstellung des Missverhältnisses zwischen Nicolos Selbstbild und seiner Wirkung auf Andere liegt. Theater ist hier nicht als ein Modus des Als-Ob aufgerufen, sondern als Möglichkeit, das Rollenproblem der Titelfigur darstellbar zu machen – und es dieser bewusst werden zu lassen. Dies geschieht durch
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eine der wichtigsten Eigenschaften der Spiel-im-Spiel-Technik, nämlich die, durch Integration einer weiteren Spielebene (der Bühne auf der Bühne) das äußere Kommunikationssystem (die Zuschauer) fiktionalisieren und in der normalen Spielebene verdoppeln zu können, was dazu führt, dass die Reaktionen der zuschauenden Figuren auf das Bühnengeschehen auf der Bühne ins Zentrum gerückt werden.170 Während ein solches Verfahren gewöhnlich die Zuschauer der zweiten Spielebene als Repräsentationen wirklicher Zuschauer semantisiert171, verweisen ihre Reaktionen hier zurück auf das Rollenverhalten der Figuren der ersten Spielebene – besonders auf Nicolo. Indem Nicolo nicht als Tragöde, sondern als ›Charakterkomiker‹ wahrgenommen (und später als solcher eingestellt) wird, macht es die Diskrepanz seines Selbstverhältnisses mit der ›Realität‹ als divergent interpretierte Rolle sichtbar und konfrontiert ihn selbst damit. Auch der Umstand, dass ihm sein neuer Arbeitgeber einen Künstlernamen gibt, den vor ihm bereits ein anderer Komiker gehabt hat und er fortan als »Epaminondas Alexandrion der Zweite« (KöN 277) firmiert, erscheint in dieser Hinsicht als doppelter ironischer Kommentar auf adlige Dynastik und die behauptete Einzigartigkeit der Titelfigur. Dass diese Konfrontation von Nicolo als Identitätskrise erlebt wird, davon zeugt das folgende Bild, das in der Spielzeit des Stückes einige Zeit nach dem vorigen spielt. Hier hadert er mit dem Erfolg seiner Königsposse, die ihn bekannter und beliebter gemacht hat, als er als König je gewesen ist, ihn aber in seinem Stolz kränkt: »Vielleicht tauge ich aber trotzdem noch zu etwas Höherem in der Welt, als Tag für Tag die Erinnerungen an entschwundene Pracht dem kindlichen Pöbel als Abbild wirklicher Herrschergröße aufzutischen.« (KöN 277) Abermals wird Theater als Vehikel zur Selbstaussage funktionalisiert, als der Theaterbesitzer Nicolo davon berichtet, dass der König von Umbrien der Aufführung beiwohnen wird: Nicolo soll »heute einmal alles zutage [fördern], was die Abgründe [s]einer Seele an seltenen Kostbarkeiten bergen« (KöN 278f.), er soll so sein »Innerstes zu äußerst« kehren, wie der Theaterbesitzer einen Handschuh umstülpt (KöN 279). Nicolo, dem man dabei zusieht, wie er sich als König verkleidet, klagt über die Demütigung, die ihm bevorsteht und erleidet deshalb kurz einen »Herzkrampf«, nachdem er Alma mitgeteilt hat, wie er bislang seine Schauspielkarriere ertragen hat: Indem er sich einredet, »als König den Tod« gefunden zu haben (KöN 280). Seine Dissoziation von seiner Königsidentität mittels seines falschen Namens »bewahrte [ihn] vor einer allzu nahen beschämenden Berührung mit der Menschheit« (KöN 277).
170 Vgl. Pfister: Das Drama, S. 302f. u. Bosse: Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne, S. 420. 171 So bei Shakespeares Spiel-im-Spiel-Einlagen – und auch in Schnitzlers Zum großen Wurstel.
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Diese Dissoziation gerät nun durch die Darbietung der Königsposse im Angesicht seines Nachfolgers in die Krise. Wie schon im vorigen Bild besteht auch hier kein Zweifel darüber, dass es sich nicht um das handelt, als was es angekündigt wurde (zwar insinuiert König Pietro, dass sein Volk roh sei, wenn es über das Dargebotene lache (KöN 288), doch wird im Nebentext nicht ein einziges Mal Erheiterung des Volkes erwähnt, ganz anders als im Bild zuvor). Was Nicolo und Alma, verkleidet als Bajazzo und in verschiedenen Rollen seine Gegenspielerin, dem König präsentieren, ist erkennbar eine allegorisierte Darstellung königlichen Leidens an seiner Aufgabe. Doch ist es unrichtig, Nicolos eindeutige autobiographische Darbietung im vorigen Bild auch für das achte anzunehmen.172 Während Alma den König in verschiedenen Rollen mit den Anfechtungen eines Königs – Grausamkeit, Wollust, Kriegstreiberei (KöN 281–283) – konfrontiert, leidet er an der Schwere seiner Aufgabe, ist keusch und auf das Wohl und den Schutz seines Volkes bedacht (KöN 282–284); der König äußert also ein Verhalten, das Nicolo zu seiner Regierungszeit gerade nicht an den Tag gelegt hat. Dass vielmehr König Pietros Rollenproblem spielerisch adressiert wird, darauf verweisen nicht nur seine lebhafte Anteilnahme am Schicksal seines »Berufsgenosse[n]« (KöN 284) und die erschütterte Reaktion auf die Rohheit seiner Untertanen, sondern auch der Schluss der Spieleinlage. Zuletzt tritt Alma als »Verkörperung des bösen Gewissens« (KöN 286) des Königs auf und evoziert seine gewalttätigen und wollüstigen Fantasien, die ihn quälen: »Denn ich bin stark in dir und du bist schwach!« (KöN 287) Von der Allegorie seines Gewissens wird er schließlich aufgefordert, ein besserer Herrscher zu werden, indem er seine Fantasien hinter sich lässt (KöN 288). Den Anspruch, ein besserer Herrscher zu werden, hat Nicolo nie besessen – Pietro hingegen wird bald im Anschluss selbst von der Titelfigur bezeichnet als »der würdigste Fürst, der je einen Thron innehatte« (KöN 290). Alles das weist darauf hin, dass im achten Bild die Funktion des Theaters als Selbstbetrachung zwar beibehalten, aber nicht Nicolos, sondern Pietros Königsidentität thematisiert wird. Das ist auch insofern plausibel, als dass Nicolo durch die Annahme des Künstlernamens und der zu Beginn der Szene getroffenen Behauptung, König Nicolo sei längst gestorben, erstmals seine Differenz zur eigenen Königsidentität markiert. Insofern wird in der achten Szene die Spiel-im-Spiel-Technik eher in traditioneller Weise funktionalisiert, also als Möglichkeit, den zuschauenden Figuren bei der Reflexion des szenisch Dargebotenen zuzuschauen und somit deren Rollenreflexion zu reflektieren (man denke nur an die Spiel-im-Spiel-Szene des »Hamlet«). Dass Nicolos Identitätsproblem mit der achten Szene und seiner Verkörperung einer Allegorie des idealen Herrschers nicht gelöst ist, etwa indem er sich in seine neue Rolle fügt, das zeigt die Schlussszene, in der er »auffallend gealtert« 172 Vgl. Schöpflin: Theater im Theater, S. 433.
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(ebd.) bei König Pietro als Hofnarr angestellt ist. In einem langen Monolog zu Eingang der Szene wundert sich Nicolo, dass seine Kräfte in den Jahren der Wanderschaft stärker und stärker geworden sind und nun, da er ein gutes Auskommen hat, erlahmen. Ihm kommt es mittlerweile unwirklich vor, »einst in diesen Hallen geherrscht« zu haben (KöN 290) und er fragt sich schließlich: »Wer öffnet mir die Augen über mich?! Blind wie ich kam, soll ich gehen?!« (KöN 291) Angeblich, um seiner Tochter die Heirat mit Pietros Sohn zu ermöglichen, verkündet er ein letztes Mal, König Nicolo zu sein. Wie groß die Differenz zwischen dieser Aussage und seinem Anblick als altersschwacher Hofnarr ist, wird durch König Pietro markiert, indem er ihn für verrückt erklärt und dabei fragt, ob er ihm aus seinem »früheren Beruf eine tragische Szene aufführen« (KöN 293) wolle – keine komische Szene also. Nicolo selbst wird bewusst, dass nichts an ihm noch an einen König erinnert, und doch insistiert er wütend darauf, dass er König war (KöN 294f.). Pietro fasst die tragikomische Situation bündig zusammen: »Der Anblick deines Schmerzes ist herzerschütternd, Alexandrion! Aber deine Behauptung ist lächerlich!« (KöN 295) Noch in seiner letzten Replik besteht Nicolo auf seiner Identität als verkannter König: »Ich danke ab – aber nicht als König – sondern nur als Mensch… (er stirbt.)« (KöN 296) Vor dem Hintergrund seiner eigenen Unbeugsamkeit ist es fraglich, ob die anschließend verkündete Vermählung zwischen Alma und Pietro und das Begräbnis in der Fürstengruft als Resultat von Nicolos Handeln zu werten ist – vielmehr offenbart Pietro ein letztes Mal in Kontrast zu Nicolo den Großmut eines Königs. Abschließend mag der Kontrast zwischen beiden Königen erhellen, dass die Leistung der Theatralität für die Subjektproblematik in König Nicolo mehrere Ebenen berührt und relativ, also nicht unabhängig von den sie betreffenden – als Subjekte konzipierten – Figuren gilt. Zwar wird anhand der beiden Spiel-imSpiel-Szenen eine Konfrontation mit dem eigenen Selbstverhältnis möglich, doch führt sie bei Nicolo zur Vertiefung einer Krise, von der er sich seit seiner Absetzung, wie die obsessive Selbstthematisierung verrät, bedroht sieht. Weder ist er aufgrund seines Einzigartigkeitsphantasmas in der Lage, die unhintergehbare Sozialität der Königsrolle anzuerkennen, so dass ihm Pietro die Einsicht voraushat, dass königliches Handeln ›Königlichkeit‹ legitimiert, noch kann er sich mit einer anderen Rolle bescheiden und darin Frieden finden. Nicolo bleibt durch sein Beharren auf Königlichkeit bis zum Ende eine unerlöste Figur, während Pietro durch Erfüllung sozialer Rollenerwartungen und Alma durch Verzicht auf Rollenreflexion zu erfüllten Selbstkonzepten gelangt sind. Zwar ist Nicolo in der Lage, auf der Bühne, ›im Spiel‹, sein Selbstbild königlicher Exzeptionalität zu artikulieren, doch führt die Reaktion der Zuschauer darauf nicht dazu, dass sich diese theatrale Experimentierfläche stabilisierend oder Wandlung beschleunigend auf seine Existenz auswirkt. Der Königsschauspieler Nicolo zeigt sich gegenüber dem Potential der Bühne, auf seine Identität zu wirken, immun.
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Wie bei Fräulein Julie erweist sich auch bei König Nicolo die dramatisierte Theatralität im Hinblick auf die Bearbeitung von Subjektivitätsproblemen gerade nicht als produktiv. Anders gewendet: Das durch Gefangenschaft und mehrfache Verbannung geschwächte ›starke‹ Subjekt (König) Nicolo, das mittels des Theaters seine Souveränität wiederzuerlangen versucht, muss am Ende die Wirkungslosigkeit des Theaters und die Theatralität der Welt einsehen. Mit diesem pessimistischen Resultat weist das Stück, versteht man es anhand der Überdeterminiertheit des Geschehens und des historischen Settings als Parabelstück, über seine Diegese hinaus und markiert Versuche, die eigene Subjektivität mittels der Bühne zu bewahren, als tragikomisch verfehlt.
1.4
Vertreibung des ›starken‹ Subjekts vom Theater. Döblins Lydia und Mäxchen (1905/06)
Alfred Döblins erste, selbst finanzierte literarische Publikation ist – etwas überraschend – ein Dramentext, eine kleine, einaktige Groteske mit dem Titel Lydia und Mäxchen173, die noch im Jahr vor der Veröffentlichung im Saal von Herwarth Waldens Gesellschaft der Freunde des »Vereins für Kunst« in Berlin uraufgeführt wurde.174 Obwohl es sich auf den ersten Blick um eine ausgelassene, aber wenig substantielle kleine Arbeit handelt, hat sie von der Forschung im Vergleich zu den übrigen dramatischen Versuchen des Autors recht viel Aufmerksamkeit erhalten.175 Dass sie diese zu Recht erhalten hat und dass man darin auch Aspekte subjektsemantischer Art ausmachen kann, die der Forschung bislang entgangen ist, soll hier plausibel gemacht werden. Die neun Szenen des Einakters spielen, wie es im Nebentext heißt, »[w]ährend einer Vorstellung« auf einer »Bühne« (LuM 9). Die dort spielenden Schauspieler sind während des ersten Aktes geflohen, weshalb Regisseur und Dichter beraten, was zu tun ist. Allerdings geht das Stück, ein neuromantisches Märchenstück, weiter und wird von den Figuren des Stücks selbst gespielt, die sich aber nicht 173 Döblin, Alfred: Lydia und Mäxchen [1906]. Tiefe Verbeugung in einem Akt. In: Ders.: Drama – Hörspiel – Film. Hgg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg i.Br. 1983, S. 9–31. Zitate aus dem Text werden im Folgenden im Fließtext mit der Sigle (LuM) nachgewiesen. 174 Vgl. Kleinschmidt, Erich: Editorische Nachweise: In: Döblin, Alfred: Drama – Hörspiel – Film. Hgg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg i.Br. 1983, S. 535–577, hier S. 540–545. Kleinschmidt informiert auch darüber, dass die bei dem von Horst Denkler herausgegebenen Band zu findende Angabe, das Stück sei im Berliner Residenztheater uraufgeführt worden, eine Fehlinformation ist (vgl. ebd., S. 542). Eine zweite – und bislang letzte – Aufführung fand erst 1986 im Berliner Ballhaus statt (vgl. Büchel, Johanna / Sahner, Simon: Dramen und Lehrstücke. In: Becker, Sabina (Hg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 212–228, hier S. 212). 175 Vgl. Büchel / Sahner: Dramen und Lehrstücke, S. 213.
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mehr an die vom Dichter vorgegebenen Weisungen halten. Schließlich greifen einige verlebendigte Theaterrequisiten in den Streit zwischen dem Dichter und seinen Figuren ein und befördern ihn gewaltsam von der Bühne, ehe sie auch gegen diese eine Revolte anzetteln. Schließlich werden die beiden Figuren von dem aus einem Bild entstiegenen Klabautermann getötet, was den Dichter über seine unfolgsamen Geschöpfe klagen lässt, ehe er sich, anstatt wie angekündigt den Klabautermann zu erschießen, abschließend mit einem Taschentuch selbst den Mund stopft. Man sieht: Das Stück wird nicht zu Unrecht als Groteske bezeichnet. Die Forschung hat schon früh vermutet, dass der Text trotz des am Diminutiv des Titels, am Untertitel176 und metatheatralischen Schluss177 ablesbaren ironischen Gestus’ ernster gemeint sein könnte, als sein Darstellungsmodus annehmen lässt.178 So ist der Umstand, dass das von den Figuren verballhornte Stückim-Stück, in welchem Graf Maximilian Prinzessin Lydia erweckt, indem er sie aus ihren gläsernen Sarg befreit, die Märchendramen Maurice Maeterlincks parodiert179, als kritischer Kommentar auf die Körperlosigkeit symbolistischer Dramatik gelesen worden. Darauf weist die Gewalttätigkeit und der Anarchismus der verselbstständigten Figuren und Requisiten hin.180 Allgemeiner hat die Forschung deren Revolte als eine Absage an die auktoriale Macht des Dichters gegenüber den theatralen Zeichen181 bzw. umgekehrt als werkbiografisch bedeutsame Auseinandersetzung mit der »produktive[n] Autonomie des phantastischen Werks«182 oder noch allgemeiner als Spiel mit dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit verstanden.183 Dass auf die »formalästhetisch-pro-
176 Tiefe Verbeugung in einem Akt (LuM 9). 177 Der Text endet nicht mit dem Fallen des Vorhangs, sondern mit folgender Bemerkung: »Alle finden das Stück nun reizend, bis auf zwei Stellen, nämlich erstens –, zweitens – Schade, daß selbst den schönsten Sachen solche Mängel anhaften. –« (LuM 31). 178 Vgl. etwa Kleinschmidt, Erich: Nachwort. In: Döblin, Alfred: Drama – Hörspiel – Film. Hgg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg i.Br. 1983, S. 581–669, zu Lydia und Mäxchen S. 585– 593, hier: S. 592. 179 Vgl. Duytschaever, Joris: Alfred Döblins Lydia und Mäxchen. In: Ders. (Hg.): Texte und Kontexte. Festschrift für Norbert Fürst. München 1978, S. 49–58. 180 Vgl. Roßbach, Nikola: Theater über Theater. Parodie und Moderne. 1870–1914. Bielefeld 2006, S. 307–309, hier: S. 309. 181 Vgl. ebd. Ähnlich argumentieren bereits Denkler, Horst: Denkler, Horst: Drama des Expressionismus [1967]. Programm, Spieltext, Theater. 2., verb. u. erw. Aufl. München 1979, S. 38f., hier: S. 38 sowie Bayerdörfer, Hans-Peter: Monroedoktrin des Theaters? Auf der Suche nach Alfred Döblins Theaterästhetik. In: Stauffacher, Werner (Hg.): Internationales Alfred Döblin-Kolloquium. Marbach a.N. 1984 – Berlin 1985. Bern 1988, S. 150–167, hier: S. 165, FN 9. 182 Kleinschmidt: Nachwort, S. 587. 183 Vgl. Ehlers, Katrin: Mimesis und Theatralität. Dramatische Reflexionen des modernen Theatersim ›Theater im Theater‹. Berlin 1997, S. 209.
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grammatische Intention«184 des Stückes abgehoben wird, die ›Beseelung‹ der Requisiten als Verweis auf vitalistische Überlegungen des Autors185 interpretiert wird und das Stück insgesamt als Sammelstelle aller »thematischen, philosophischen und ästhetischen Probleme, die ihn zu der Zeit beschäftigten«186, macht deutlich, dass Lydia und Mäxchen lange in erster Linie als Text von Döblin und damit in dessen Werkkontext wahrgenommen worden ist, was den Blick auf den Text stark gelenkt hat. Der Versuch, die subjektsemantischen Implikationen dieser Auseinandersetzung mit der Eigenlogik von Theater zu beobachten, schließt demnach an die wenigen Arbeiten an, die diese auktoriale Perspektive zu vermeiden suchen.187 Betrachtet man zunächst die erste Szene, in der die Spielebene des Dichters und des Theaterregisseurs eingeführt wird, so fällt auf, dass sich deren Diskussion um Herrschaft dreht, und zwar im Sinne von Deutungshoheit über das Geschehen und im Sinne von Machtausübung. Gerade Letzteres auf der Bühne zu verhandeln, ist kurz nach der Jahrhundertwende alles andere als asemantisch: Es nimmt die in der Einleitung angedeuteten Überlegungen darüber, wer über die theatrale Aufführung verfügen soll – Literatur oder Theater –, auf und steht damit im Kontext der Theatermoderne. Es wird sich zeigen, dass es diese in seiner Radikalität sogar noch übertrifft. In der ersten Szene jedenfalls muss der aufgelöste Regisseur, der auf die Bühne tritt, feststellen, dass die beiden Schauspieler des Stückes, »die dicke Förster, die Lydia spielte, und Warnicke, der Max«, geflohen sind, »als ob der Teufel ihnen auf den Hacken säße« (LuM 13) und dass die Figuren nun ohne ihre Schauspieler weiter agieren, was ihn um den Verstand zu bringen droht (LuM 13, 14). Dabei betont er, welche Funktion ihm selbst bei der Aufführung zukommt: »Ich habe die Verantwortung für alles, was hier geschieht. Ich muß für jedes Unglück einstehen, und ich will wissen, ich muß wissen – ich werde verrückt –; wer hat gespielt?« (LuM 14) Der anaphorische Parallelismus mit der Häufung der ersten Person Singular, die sich in seinen Repliken in dieser Szene mehrfach findet (LuM 15), deutet wie die Betonung seiner Verantwortung für die Aufführung auf einen enttäuschten Herrschaftsanspruch, den der Dichter unterstreicht, wenn er ihm erklärt, wer hier statt der Schauspieler spielt: »Sie wissen es schon; den ganzen Akt starrten Sie auf die beiden, als ob Ihre Blicke Drähte wären, mit denen man Marionetten die Beine bewegt. […] Die 184 Denkler: Das Drama des Expressionismus, S. 39 (Hervorhebung von mir, PB). Vgl. auch Kleinschmidt: Nachwort, S. 590. 185 Vgl. Müller-Salget, Klaus: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung. Bonn 1972, S. 53–58, hier: S. 56. 186 Wilhelm, Uwe: Untersuchungen zu Alfred Döblins dramatischem Werk. Kingston 1993, S. 16. 187 Besonders gilt das für die angegebene Arbeit von Roßbach sowie für Kyora: Sabine: Eine Poetik der Moderne. Würzburg 2007, zu Lydia und Mäxchen: S. 90–92.
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Geister sind es […], mein fleischgeworden Wort, meine erlösten Gestalten.« (LuM 14, Hervorhebung v. mir, PB) Die Anspielung auf das Marionettentheater, das auf die Faszination der Theatermoderne mit dieser Spielform verweist, offenbart den Anspruch des Regisseurs, dass die auf der Bühne Spielenden – gleichgültig, welchen ontologischen Status sie besitzen – sich seinem Willen unterwerfen. Anstelle der Herrschaft des Regisseurs glaubt nun der Dichter, dass seine Geschöpfe kraft seines Talents zum Leben erweckt worden sind. Er vergleicht seinen Schöpfungsakt mit dem einer Mutter und äußert selbstbewusst: »Und mein aufgewühltes, berstendes Sehnen sollte nicht fähig sein, zu bändigen, zu schnüren in einen Leib, was mich durchwandelt! Bald kommen sie. Sehen Sie hin, ob es lebt, was ich geboren.« (ebd.) Dem Regisseur, der das Theater zu schließen droht, sagt er, was auf ihn selbst nicht zuzutreffen scheint: »Sie wissen ja selbst, Herr Regisseur, daß es nur Worte sind, was Sie sprechen.« (LuM 15) Der Dichter erlebt die Verlebendigung seiner Figuren als Triumph seines Herrschaftsanspruchs und unterstützt diese daher, artikuliert aber auch die Bedingung dafür: »[w]enn ich nur Herr bleibe« (LuM 15). Deshalb ringt er mit dem Regisseur, um die Klingel zum Pausenende zu läuten, damit die Aufführung fortgeführt wird, was ihm gelingt. Der Regisseur taumelt darauf mit einer outrierten theatralischen Geste »nach vorn, sinkt in die Kniee, einen Arm vor den Augen.« (LuM 16) Seine Geste, die der Spielebene des Stücks-im-Stück abgeschaut ist, verweist einerseits ironisch auf die Interferenz zwischen den Spielebenen und andererseits auf die Eigenlogik, die das Theater ausbildet und es damit dem Herrschaftsanspruch der vermeintlich ›starken‹ Subjekte Regisseur und Dichter entzieht. Da der Regisseur diesen Entzug durch seine Niederlage erkannt hat, kann er dem Dichter dessen drohende Niederlage gegenüber seinen »Kinder[n]« (LuM 25, 27, 30) prophezeien: »Sie können Sie nicht halten, Dichter, Sie können sie – ja – nicht – halten.« (LuM 16) Der in den folgenden Szenen sich entwickelnde Aufstand erst der Figuren und dann der Requisiten gegen den Dichter ist präzise seinem Herrschaftsanspruch geschuldet. So haben die Requisiten in der ersten Szene noch ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt: »[E]r hilft uns zu unserem Recht, der Dichter.« (LuM 11) – und die Figuren für seinen Unwillen verantwortlich gemacht (ebd.). Erst nachdem der Dichter den »zum Zeichen [ihrer] Gespensternatur« mit »Gazeschleier von Kopf bis zu den Füßen« (LuM 17) agierenden Figuren souffliert, da sie vom Text abweichen (LuM 22) und auf das boshafte Gelächter des Klabautermanns dem nächsten Störer mit Gewalt droht (LuM 24), ruft der Stuhl zur Revolte auf: »Das nenn ich Vergewaltigung, Notzucht. Brüder, besinnt euch; jetzt nicht länger zögern.« (ebd.) Wenig später, nach weiteren erfolglosen Versuchen des Dichters, seine Figuren durch Soufflage unter Kontrolle zu bringen (LuM 25, 26), kommen die Requisiten Max zu Hilfe und verscheuchen den Dichter von der Bühne (LuM 27). Als sich in der folgenden Szene die einstmaligen Kontrahenten, Dichter und
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Regisseur, verbünden und Waffen sowie die Feuerwehr – wohl grotesker Ausdruck ihrer Hilflosigkeit – zu holen verabreden, sorgt das unmittelbar für die völlige Entfesselung der Bühnendinge: »Alle Sachen bewegen sich neben- und gegeneinander. Das Tohuwabohu auf der Bühne ist groß« (LuM 29). Dass der Klabautermann als »parodierter Zeus«188 die beiden verselbstständigten Figuren mittels eines Donnersteins189 tötet, betont die Machtübernahme des Fiktiven auf der Bühne, da der Klabautermann »als Vorstellung wie Gestaltung [ein] doppelt fiktives Wesen«190 ist. Zugleich verweist die Zeusparodie ironisch auf den Elternschaftsanspruch – in der Beschreibung der Figuren als Kinder und der Erwartung, dass sie ihm gehorchen –, der ja in diesem Kontext ein Machtanspruch ist. Der Stuhl artikuliert den revolutionären Machtanspruch: »Auf, Freunde! Steckt alles in Brand! […] Wir gründen ein neues Königtum.« (LuM 29) Auf diese Proklamation folgt die Tötung der verselbstständigten Figuren. Das führt aber nicht zur Herrschaft der Requisiten, sondern bringt das chaotische Geschehen – für das Stück bezeichnend inkonsistent – schlagartig zum Erliegen: So rauschen am Anfang der folgenden (Schluss-)szene »die weißen Gespenster auf und verschwinden durch die Decke«, während die Requisiten nun wieder »starr und steif« (LuM 30) sind und bis zum Schluss auch bleiben. Von einer nun anbrechenden Herrschaft der Dinge auf der Bühne kann also keine Rede sein, auch ihr Herrschaftsanspruch implodiert angesichts des eigensinnig ablaufenden Geschehens. So ist es schließlich der Dichter, der das letzte Wort haben wird – freilich ohne dass damit ein abermaliger Machtwechsel dargestellt wird. Formal wird das Chaos, das der Machtkampf auf dem Theater erzeugt, durch die Interferenz der Spielebenen sowie die Inkonsistenz der Szenenfolge abgebildet: Wo eingangs noch klare Trennungen herrschen, löst sich die szenische Konsistenz spätestens mit dem Eingreifen der Requisiten in den Streit zwischen Figuren und Dichter völlig auf. Dass der durch die Gazeschleier markierte abweichende ontologische Status der Figuren für das Spiel keine Konsequenz besitzt, sondern eine der Figuren den Dichter sogar verwunden kann (LuM 27), offenbart, dass eine durch klar getrennte Spielebenen suggerierte auktoriale Herrschaft über das Bühnengeschehen durch ein ›Außen‹ gerade nicht besteht. Anders, als es die Theatermoderne dem Regisseur und der Symbolismus dem Dichter zuspricht, wird im Text auf groteske Weise ausgespielt, dass der Herrschaftsanspruch von Regisseur wie Dichter über die Bühne illusionär ist. In der Kontamination der Spielebenen wird also die Hybris derer mitbehandelt, die wie Puppenspieler oder wie Zeus über das Spielgeschehen zu herrschen meinen. 188 Kleinschmidt: Nachwort, S. 586. Dieser betont auch, dass das Blitzeschleudern des Klabautermanns eine Erfindung Döblins gewesen sei (vgl. ebd., S. 586, FN 13). 189 Der Donnerstein verweist in der Mythologie der mythologisch auf die »Vorstellung eines Steins oder Keils als Substanz des Blitzes« (ebd., S. 586, FN 13). 190 Ebd., S. 586.
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Gleichwohl bleibt produktionsästhetisch der Widerspruch bestehen, dass die »formale Präzision der Regiebemerkungen […] auf eine ganz autorbestimmte Dramaturgie [verweist], die dem Konzept spontaner Spielentwicklung entgegensteht.«191 Die Eigenlogik des Theaterspiels in einem Dramentext vorzuführen, ist hier nur zu dem Preis des Widerspruchs möglich, sich selbst von der Ablehnung auktorialen Dichtens ausnehmen zu müssen. Diese Volte vollzieht aber auch der Text. Der – dem Äußeren nach – als Selbstparodie angelegte Dichter muss am Ende einsehen, dass »Geilheit, Grausamkeit und Geschrei« (LuM 31) des Stückes nichts ihm Äußerliches sind, sondern Konsequenzen seines »fleischgeworden Wort« (ebd.): »Die Meute, die hier gebellt hat, – ich bin es. Der Kot, der alte Kot, – bin ich.« (ebd.) Ob das so zu deuten ist, dass der Dichter sich zwar entsetzt zeigt über die ›Niedrigkeit‹ seines Erzeugnisses, aber nun doch für das gesamte Bühnengeschehen Autorschaft beansprucht – und damit Autorschaft als eine Art Residuum von Herrschaft markiert –, die Anagnorisis die logischen Paradoxien offen legen soll, die den Autor des Textes wie gesagt auch betreffen oder in der Selbstkasteiung des Dichters die Körper- und daher Wirkungslosigkeit seines symbolistischen Schaffens192 anklingt, worauf die mittels Selbstknebelung erfolgende abschließende Selbstbestrafung durch Verstummen (ebd.) hindeutet, – zweifellos führt der Text bis zum Schluss vor, dass die Vorstellung souveränen Verfügens über die Bühne genau dasjenige anarchische, unverfügbare Moment des Theatralen unterschätzt, das man »Monroedoktrin des Theaters« genannt hat: »der Schauspieler dem Schauspieler, das Theater dem Theater.«193 Die in Lydia und Mäxchen dargestellte ›Monroedoktrin‹ geht insofern über das von der Theateravantgarde um 1900 Geforderte hinaus, als dass sie die Theaterschaffenden einschließt. Dadurch ist es auch plausibel, die im Text deutliche Ablehnung der Herrschaftsansprüche von Regisseur, Dichter oder auch den Schauspielern – die ja schon vor Beginn der Spielzeit von der Bühne geflohen sind – subjektsemantisch zu verstehen: Der theatrale Raum nimmt hier eine Eigenlogik an, die die verschiedenen Ansprüche, mittels Herrschaftsausübung ›starke‹ Subjektivität zu konstatieren, zum Scheitern bringt. ›Starke‹ Subjektivität wird somit im Gewand des Streits um die Bühnenherrschaft behandelt – und auf der Bühne verworfen. Dichter wie Regisseure müssen sich als abhängig von dem auf der Bühne für sie unverfügbar und unkontrollierbar Ablaufenden erkennen. Die Radikalität, mit der dieser Text Theater als Ort ›starker‹ Subjektivität ablehnt, verweist – in anderer Form als Strindberg, aber wie dieser – auf Nietzsches in der Tragödienschrift entworfenes Ideal eines de191 Ebd., S. 590. 192 Vgl. Roßbach: Theater über Theater, S. 309. 193 Döblin, Alfred: Theaterbericht (20. 12. 1921). Zit n. Bayerdörfer: Monroedoktrin des Theaters?, S. 154.
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personalisierten rituellen Theaters nach vermeintlich antikem Vorbild194, reichert dieses Ideal aber mit von Jarry und anderen avantgardistischen Dramatikern bekannten grotesken und komischen Elementen an. Die Theaterrevolte, die im Stück stattfindet, ist insofern programmatisch, als dass aus ihr die Vertreibung aller ›starken‹ Subjekte von der Bühne betrieben wird. Was bleibt, ist die Autonomie der Bühne.
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Wurstelspiel statt Welttheater: Schnitzlers Burleske Zum großen Wurstel (1906)
Zum großen Wurstel195 spielt bereits in seinem erklärungsbedürftigen Titel auf die präzise geographische und soziale Verortung des dramatischen Geschehens an: Es handelt sich um eine Szene, die in einem Marionettentheater im Wiener Wurstelprater vor einem zufällig vorbeikommenden, meinungsstarken und eher kleinbürgerlichen Publikum und dem um den Erfolg des Stücks besorgten Paar aus Dichter und Theaterdirektor aufgeführt wird. Das somit aufgerufene Spielim-Spiel, dessen Bühnengeschehen selbst bereits metatheatralisch ausgerichtet ist, wird durch die permanenten Kommentare des Publikums so lange gestört, bis die Marionettenfiguren beginnen, sich zu verselbstständigen. Das Geschehen eskaliert dann vollkommen, indem zuerst ein Mann aus dem wirklichen Publikum den fiktiven Zuschauern ihre Fiktivität vorwirft, um schließlich selbst zum Publikum auf der Bühne zu werden. Zum Schluss tritt ein »Unbekannter« auf, der mit einem Schwertstreich alle Marionetten zu Boden sinken lässt – um im Anschluss das gleiche mit dem Publikum auf der Bühne zu tun und den Zuschauern im Saal ein ähnliches Schicksal anzudrohen. Nachdem er abgegangen ist, stehen die Figuren wieder auf und beginnen das Stück von neuem. Man sieht: Auch dieses Stück trägt seine Genrebezeichnung – ›Burleske‹ – nicht zu Unrecht. Schnitzlers 1901 in einer früheren, »Marionetten« betitelten Fassung in Ernst v. Wolzogens Berliner »Überbrettl«-Kabarett uraufgeführter Einakter, der unter dem neuen Titel 1906 als Schlussstück eines ebenfalls unter »Marionetten« firmierenden Einakterzyklus’ veröffentlicht wurde196, ist werkbiografisch als eine Art Kulminationspunkt gelesen worden. In ihr finde, so der einflussreiche Bei194 Döblin hat sich in den theaterästhetischen Schriften dieser Zeit explizit auf die »Geburt der Tragödie« berufen (vgl. Kleinschmidt: Nachwort, S. 591, FN 27). 195 Im Folgenden zitiert unter der Sigle (GrW) aus: Schnitzler, Arthur: Zum großen Wurstel. Burleske in einem Akt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 1: Die dramatischen Werke – Erster Band. Frankfurt a.M. 1962, S. 871–894. 196 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: Marionetten. Drei Einakter (1906). In: Jürgensen, Christoph / Lukas, Wolfgang / Scheffel, Michael (Hg.): Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 119–123, bes. S. 120.
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trag von Bayerdörfer, Schnitzlers mittels des literarischen Einakters durchgeführte Problematisierung der Konversationsdramatik des 19. Jahrhunderts einen radikal anti-illusionistischen und den Eigenwert des theatralen Spiels betonenden Abschluss.197 Diese Position hat die – spärliche – Forschung zu dem kurzen Einakter bis heute bestimmt und wurde lediglich dahingehend ergänzt, dass Parallelen zu Tiecks metatheatralen Märchenkomödien198 und die intime Beziehung des Textes zur sogenannten »Retheatralisierung« des Theaters um 1900 nachgewiesen wurden.199 So wird man als Konsens formulieren können, dass die Forschung das Stück aufgrund seiner Metatheatralik ernster nimmt als der Titel und insbesondere seine Genrebezeichnung das nahelegen. Dass das Stück als kritischer Kommentar zum ›Problem‹ des Dramas im Gewand burlesken Divertissements gelesen werden kann, sollte aber nicht dazu führen, es darauf zu reduzieren. Sowohl die Komik des Geschehens als auch die mitlaufende Reflexion der Subjektproblematik sind bisher nicht angemessen gewürdigt worden. Das soll hier nachgeholt werden. Grundsätzlich lässt sich eine Dreiteilung des Einakters ausmachen. Während zu Beginn in die beiden rahmenden Spielebenen – die Zuschauer und die für das Stück Verantwortlichen agieren zunächst getrennt voneinander – eingeführt wird (GrW 873–875), verlagert sich das Geschehen im folgenden, weitaus umfangreichsten Teil auf die Bühne des Marionettentheaters, wo trotz der erwähnten Transgressionen der Rahmenfiguren rudimentäre Handlungselemente erkennbar sind (GrW 875–889). Erst mit dem Auftritt der Todesfigur und der ersten ironischen Distanzierung der Figur des ›Helden‹ von seinem Text (GrW 890) gewinnt das theatrale Geschehen die Eigendynamik, deren Metatheatralität im Zentrum der Beschäftigung mit dem Stück steht (GrW 890–894). Zwischen diesen Teilen verschieben sich auch die Schwerpunkte der zur Anwendung gelangenden komischen Mittel. So wird die Publikumssatire200 des ersten Teils, in dem die drei Zuschauertypen des ›Wohlwollenden‹, des ›Naiven‹ und des ›Bissigen‹ eingeführt werden, im zweiten Teil von Theater- und Dramenparodien auf der Marionettenbühne überlagert. Der Plural ist bewusst gewählt, lässt sich doch in dem Geschehen unschwer ein Amalgam unterschiedlicher Motive ausmachen, 197 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie. Zu Arthur Schnitzlers Einaktern. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 516–575. 198 Vgl. Surowska, Barbara: Sichtbare und unsichtbare Fäden. Über das Schnitzler’sche Marionettenspiel »Zum großen Wurstel« und seine Vorlage, den »Gestiefelten Kater« Ludwig Tiecks. In: Fliedl, Konstanze (Hg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien 2003, S. 330–350, S. 330. 199 Vgl. Weinberger, G.[?] J.: Arthur Schnitzler’s Puppet Plays. In: Lorenz, Dagmar C.G. (Hg.): A Companion to the Works of Arthur Schnitzlers. Rochester. NY 2003, S. 205–226; Bosse: Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne; Vorarbeiten bei Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. 200 Vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 568.
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deren Referenz von der Volkstheatertradition bis zu zeitgenössischen Stücken reicht.201 Strukturgebend ist für diesen Mittelteil die Reihenform des theatrum mundi, auf den ja auch durch den Auftritt des Todes am Ende angespielt wird.202 Hier tritt ein libertinärer ›Held‹ auf, der zu Stimmungen »und nicht zu Taten« (GrW 878) neigt, eine »dämonisch[e]« Frau und ein »süßes Mädel« (GrW 875) – also Figuren aus Schnitzlers eigenem Figurenarsenal, die bis in die Handlungsmomente hinein parodiert werden.203 Zudem werden mit dem Duell, das der ›Herzog‹ von ihm fordert, und der Dreiecksgeschichte mit wechselseitiger Untreue der Liebenden, bei der sich am Ende alles zum Guten wendet204, erkennbar triviale Motive der Gesellschaftskomödie aufgerufen. Der zwischendurch auftretende ›Ringkämpfer‹ indes, mit dem sich der Herzog auf der Bühne prügelt, erinnert wieder an das ganz Unterhaltungsgesichtspunkten unterworfene Volkstheater, das solche handfeste Einlagen ohne erkennbare dramaturgische Funktion realiter verwendet hat. Die Besonderheit dieses Spiels-im-Spiel ist jedoch, dass es selbst schon Metatheater ist und die Figuren bereits ›stückintern‹ fortwährend parabatisch ihre Rollen reflektieren.205 Der Dichter, der sein Stück angeblich dem Geschmack der »Bestien« (GrW 882, 885) im Publikum anpassen musste und mit dem Direktor angesichts weiterer Zugeständnisse ständig im Streit liegt, bietet ein Marionettenstück, dessen Figuren über ein Rollenbewusstsein verfügen, das über die übliche Illusionsdurchbrechung der Wiener Volkskomödie eines Raimund oder eines Nestroy weit hinausgeht. Auffällig ist, dass die Figuren besonders ihre dramaturgische Funktion sowie ihre Handlungsspielräume kommentieren. Das beginnt bereits mit der ersten Replik des Spiels-im-Spiel, dem Auftrittsmonolog des Helden:
201 Davon, dass im Großen Wurstel in erster Linie ›hohe‹ Dramatik parodiert wird, kann also keine Rede sein (so Vidal-Oberlé, Cécile: Pantomime, Marionettentheater und Singspiel im Theater Arthur Schnitzlers – eine Aueinandersetzung mit den höheren dramatischen Gattungen. In: Bourguignon, Annie (Hg. u. a.): Hohe und niedere Literatur. Tendenzen zur Ausgrenzung, Vereinnahmung und Mischung im deutschsprachigen Raum. Berlin 2015, S. 187–201, S. 189–191). 202 Weinberger: Arthur Schnitzler’s Puppet Plays, S. 215f.; Bosse: Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne, S. 424. 203 So lässt der zu Stimmungen neigende Held Ähnlichkeit zur Titelfigur des »Anatol« erkennen, der ja zwischenzeitlich wie hier mit einem süßen Mädel liiert ist. Dass sich der Held aufgrund einer dämonischen Herzogin duellieren muss, erinnert an »Liebelei«, wie das Motiv des gemeinsamen Selbstmordes, wie es im »Schleier der Beatrice« ausgeführt ist, immerhin anklingt (vgl. Perlmann, Michaela L.: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987, S. 55). 204 Schon durch dieses ›glückliche‹ Ende lässt sich zeigen, dass hier nicht ausschließlich Schnitzlersche Dramatik parodiert wird, da dieser doch bekannt ist, eben dieses Ende zu verweigern (vgl. Sabler, Wolfgang: Moderne und Boulevardtheater. Bemerkung zur Wirkung und zum dramatischen Werk Arthur Schnitzlers. In: Arnold, Heinz-Ludwig (Hg.): Arthur Schnitzler. Text + Kritik 138/139. München 1998, S. 89–101). 205 Vgl. Kiermeier-Debre: »Eine Komödie und auch keine«, hier: S. 196–205.
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Held (tritt vor und singt mit Klavierbegleitung folgenden Vers).Ich spiel’ in dem Stück mit Und die Hauptroll’ ist mein, Man heißt mich einen Helden, Ich muß ja keiner sein. (GrW 875)
Doch besitzt und artikuliert der Held nicht allein ein Bewusstsein für seine dramaturgische Funktion, sondern erwähnt auch sein Marionettendasein: Ich bin der Held des Stücks, sonst nichts. Und hab’ ich dieses Amt erledigt, So wird’ ich, möglichst unbeschädigt, In eine Schachtel grün gelackt Mit größter Sorgfalt eingepackt. Nicht neidenswert ist dieses Los, Doch hab’ ich einen Trost in meiner Truhe: Bin ich auch eine Marionette bloß – Neu ist die Schachtel doch, in der ich ruhe. (GrW 878)
Hier artikuliert der Held sowohl die Generik seiner Funktion als auch den Stolz darüber, sich aufgrund seiner Stimmungsabhängigkeit und Tatenarmut von der gängigen Heldenfigur abzusetzen. Die Innovation der Dramenfiguren des Wiener Fin de siècle, ihrer eigentlich dramenfeindlichen Handlungshemmung mittels fortwährender Artikulation von Stimmungen Dramatik abzutrotzen, wird auch dahingehend unterstrichen, dass sich der Held einem »Verhängnis« (GrW 880) bzw. »Schicksal« (GrW 884) unterworfen sieht, was dazu führt, dass er wegen der einen Frau, die er nicht verführt hat, die er nicht einmal kennt, zum Duell gefordert wird. Die sowohl selbstreferentielle als auch volkstheaterhafte Pointe dieser Konstellation ist dann, dass sich der ›stimmungshafte‹ Held dieser ›dämonischen‹ Frau, die nur einen Mann lieben kann, der kurz vor seinem Tode steht und ihn verführen will, mit den Worten entzieht, heute »nicht in der Stimmung« (GrW 883) zu sein. Gleiches gilt für den Herzog, der von sich sagt, das »solche schon da« waren (GrW 875), und in sich »alter Helden Saft« rinnen spürt (GrW 884). Wo der ›neue‹ Held handlungsgehemmt ist, da beweist der Herzog seine Handlungsmacht, indem er zunächst den Ringkämpfer besiegt und dann belegt, das die Bühne seinen Anweisungen folgt: So sieht er voraus, dass zwei Bilder hinunterfallen, schießt er wie vorhergesagt ein Ass in eine Spielkarte und wird, wie angekündigt, ein seinetwegen zu Tode gekommenes Mädchen hereingetragen (GrW 885). Selbst sein Abgang, in der er die rein dramaturgische Funktion der Figur verdeutlicht, dient noch dazu, seine Souveränität zu betonen. Gerade hat der Held begriffen, dass seine Geliebte mit dem Herzog ein Verhältnis hatte. Der Situation entzieht sich der Herzog folgendermaßen:
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Herzog. Da Sie ihr Schicksal nun verstehn, Sei mir gestattet abzugehn. Held. Verzeihung, Herzog, nicht so schnell! Jetzt fordre ich Sie zum Duell! Herzog. Es schlägt sich für seine Herzogin, Doch nicht ein Mädel der von Lawin! (Ab mit den zwei stummen Herren.) (GrW 886)
Wieder wird also eine Reflexion über die Funktion und die Handlungsmacht der Rollen dadurch entschärft, dass die Situation eine volkstheatrale Wendung bekommt. Das Verfahren dieses zweiten Teils des Großen Wurstel sollte damit deutlich geworden sein: Das sozial wie lokal konkretisierte Setting eines »auf das Unterhaltungsniveau des Wursteltheaters umgesetzten Welttheaters«206 ermöglicht die »Persiflage der ganzen Theaterwelt«207 auf Basis umfassender Metatheatralik, ohne durch die Illusionsbrüche jegliche ›außenweltliche‹ Referenz aufgeben zu müssen. Die der Technik des Spiels-im-Spiel inhärente Metatheatralisierung des Geschehens wird durch die Figuren der Rahmenhandlung noch gesteigert, da auch diese völlig typisiert sind. Wo sonst eine wichtige Funktion des Spiels-im-Spiel gerade in der Illusionsverstärkung der Rahmenhandlung liegt208, wird hier erstens mittels Typisierung der Figuren und zweitens mittels ihrer Parabasen jede Stärkung der Illusionsbildung der auf der Bühne präsenten Zuschauer unterbunden. Wenn der »Wohlwollende« dem »Bissigen« eine spitze Bemerkung zuwirft, fragt dieser: »Sind Sie der Bissige oder Ich!« (GrW 881). Dadurch, dass der Unbekannte am Ende in der Lage ist, neben den Marionetten auch die Rahmenfiguren zu Boden sinken zu lassen, wird die den Eigenwert des Theaters stärkende Funktion des Spiels-im-Spiel endgültig desavouiert und durch dessen Hinweis ins reale Publikum, dass auch dieses sich nicht sicher sein solle, auch die schlichte Verschiebung der ontologischen Grenze zwischen Theater und ›Wirklichkeit‹ explizit infrage gestellt. Diese Entfesselung der Metatheatralik gegen Ende der Szene ist zu Recht nicht mehr als unambitioniertes komisches Divertissement gesehen worden. Doch ist aufgrund der Schlussvolte fraglich, ob sich seine Funktion in der Entlastung des theatralen Spiels von dramatischen ›Erbkrankheiten‹ erschöpft.209
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Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 567. Ebd. Vgl. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 115–119. Vgl. abermals Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie; Perlmann: Arthur Schnitzler.
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Subjekt und Subjektivierung im Medium des Theaters?
Es sei noch einmal daran erinnert, dass die Rollenreflexion der Figuren des Spiels-im-Spiel, aber auch die Repliken des Dichters sowie noch die Monologe des Unbekannten primär die Thematisierung ihrer Handlungsspielräume zum Inhalt haben. So artikuliert der Held mehrfach – und besonders gegenüber den weiblichen Marionettenfiguren – ein Anspruchsdenken, das sich aus seiner dramaturgischen Funktion speist (GrW 875, 878, 887), und gibt der Dichter dem auf der Marionettenbühne agierenden Räsoneur die Anweisung, zu schweigen, was dieser nicht befolgt und auf die spätere Verselbstständigung aller Marionetten vorausweist (GrW 879 bzw. 890–893). Auch transgredieren diese Marionetten ihren Spielraum, indem sie hinter den Kulissen bzw. über den Rand des Theater hervorschauen (GrW 891, 892), ehe sie in einem chorischen Monolog verkünden: »[N]un tun wir, was wir wollen! / […] / Alles geht nach unsrer Wahl!« (GrW 893) – was wie gesagt sofort vom Unbekannten desavouiert wird. Dieser, durch den die Deus-ex-machina-Tradition zitiert wird, löst den Aufstand der Marionetten durch das Durchtrennen ihrer Drähte auf. Doch seine dramaturgische Funktion der (artifiziellen) Wiederherstellung einer ins Wanken geratenen dramatischen Ordnung wird gerade dadurch unterlaufen, dass er diese dramatische Ordnung, wie es sie zu Beginn gegeben hat, als eine scheinbare kenntlich macht: »Dies Schwert hier aber macht es offenbar, / Wer eine Puppe, wer ein Mensch nur war. Auch unsichtbaren Draht trennt diese Schneide / Zu manches stolzen Puppenspielers Leide!« (GrW 894) Indem diese Figur die Macht besitzt, auch die Figuren der Rahmenhandlung, deren Generik oben ja schon angesprochen worden ist, zu Boden sinken zu lassen, liegt es nahe, in ihr eine Instanz zu vermuten, die die unumschränkte Herrschaft über das Geschehen, das kurzzeitig die Marionetten und zuvor der Dichter beansprucht haben, tatsächlich besitzt. Das dem keineswegs so ist, davon zeugen bereits die Verse: »Bin ich ein Gott?… ein Narr?… bin euresgleichen? / Bin ich ich selber – oder nur ein Zeichen?« (ebd.).210 Die eigene Unkenntnis über seine Funktion und die verblüffenderweise eröffnete Möglichkeit, reiner Signifikant sein zu können, wird noch durch den Umstand ergänzt, dass die Tat des Unbekannten nicht von Dauer ist und die Figuren, nachdem er die Bühne verlassen hat, das Stück von Neuem beginnen. Letztlich lässt sich also auch an dieser Figur eine Überschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten ausmachen, die das Stück desavouiert. Entscheidend ist nun, dass die Frage, wer ein Mensch und wer eine Puppe ist, von ihm auch auf das reale Publikum ausgeweitet wird. Wendet man diese Frage subjekttheoretisch, so lässt sie sich reformulieren als die Frage, ob die so selbstbewusst Agierenden auf und vor der Bühne autonom handelnde oder heteronom – d. h., durch Rollen und Typik – bestimmte Akteure sind. Wenn die 210 Diese Figur hat in der Forschung zu einigen Diskussionen hinsichtlich seiner Bedeutung Anlass gegeben.
Schnitzlers Burleske Zum großen Wurstel (1906)
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letzte Replik im Stück den Unbekannten das Publikum angesichts der Macht seines Schwertes fragen lässt, »Wie’s zum Exempel euch da unten ginge?« (ebd.), so verweist die gewählte Formulierung nicht zufällig auf die Redensart, ein Exempel zu statuieren. So gelesen erscheint das theatrale Geschehen, das so harmlos als überdrehte metatheatrale Burleske begonnen hat, als ›cautionary tale‹ im Hinblick auf die Reichweite der so selbstbewusst behaupteten Handlungsautonomie zu enden: Während die Marionettenfiguren für alle erkennbar heteronom agieren, sind die Drähte, an denen das Publikum auf der Bühne hängt, unsichtbar und dennoch wirksam – und damit auch die, die das Handeln des realen Publikums bestimmen. So kann man die Funktion der Marionetten sehr wohl als »Symbol für die Machtlosigkeit des Willens bzw. die Fremdbestimmung des Menschen«211 bezeichnen – doch müsste das um die Pointe ergänzt werden, dass die übrigen Figuren und auch das reale Publikum diesen Marionetten am Ende ähnlicher erscheinen als sie glauben wollen. Das für den zweiten Teil der Szene herausgearbeitete Verfahren einer ›Erdung‹ des metatheatralisch-abstrahierenden Geschehens durch seine volkstheatrale Entschärfung und seine konkrete soziogeographische Verortung erweist sich somit am Schluss als Versuch, theatrales Spiel zu dem Zweck einzusetzen, dem durch vermeintlich harmlose Komik ›eingeladenen‹ Publikum die Frage der eigenen Handlungssouveränität vorzuführen bzw. dessen Problematik – durch das überraschende Hinsinken der Rahmenfiguren – zu verdeutlichen. Darin offenbart sich das für Schnitzler typische, doppelbödige dramaturgische Verfahren, spezifisch ›moderne‹, etwa theatertheoretische oder subjekttheoretische Fragestellungen dadurch goutierbar zu machen, dass sie im Gewand refunktionalisierter Theatermittel ›unterhalb‹ der Abstraktheit und des Voraussetzungsreichtums der modernen Dramatik präsentiert werden.212
211 Perlmann hat dies explizit verneint und die Marionetten ausschließlich als Ausdrucksmittel von Künstlichkeit gedeutet (Perlmann: Arthur Schnitzler, S. 56). 212 Vgl. Sabler: Moderne und Boulevardtheater; Urbach, Reinhard: Schnitzlers Anfänge. Was Anatol wollen soll. In: IASL 33,1 (2008), S. 101–154.
2.
Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
Wie die Belege im Hinführungsteil der Arbeit1 deutlich gemacht haben, hat die Infragestellung des ›starken Subjekts‹ um 1900 als Depotenzierung seine weitreichendste Wirkung erfahren. Wie die Diskussionen um den ›Individualismus‹, um den ontologischen Status des ›Ich‹ oder um die poetologische Frage nach ›modernen Charakteren‹ gezeigt haben, durchzieht die Verunsicherung hinsichtlich der ›Potenz‹ des Subjekts die intellektuellen Diskussionen um 1900 wie ein basso continuo. In den folgenden beiden Analysekapiteln soll die Reichweite dieser Verunsicherung daran erwiesen werden, dass ihre Konsequenzen für die zeitgenössische Dramatik in dramatischen Grundkategorien aufgezeigt werden. Einmal mehr geht es aber darum, deutlich zu machen, dass die weitreichende Depotenzierung des Subjekts für das Drama nicht als Krisenphänomen zu sehen ist, sondern als Produktivkraft: Durch die Fragwürdigkeit eines konsistenten und kohärenten Bewusstseins wird dessen dramatische Verräumlichung (2.1) eine plausible Formoption, ebenso wie die Diskontinuität von Szenenfolgen (2.2) als ›Lücken‹ der in den Texten problematisierten Subjektkonzepte semantisiert werden können. Der basso continuo der Subjekt-Depotenzierung bietet gleichsam die Grundlage für die im Folgenden analysierten dramatischen Formexperimente.
1 Vgl. insbesondere die Abschnitte 3.5.1, 3.6 sowie 4.2 des Hinführungsteils (A).
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2.1
Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
Verräumlichung des Innerpsychischen oder: Das Ich als Bühnenraum und Raumkunst
2.1.1 Einleitung: Bewusstseinsvermittlung und Raum im Drama Die um 1900 virulenten Bewusstseinstheorien, die auf eine Depotenzierung des Subjekts verweisen, intensivieren für die Literatur, die sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert mit der Infragestellung des ›starken‹ Subjekts auseinandergesetzt hat2, ein Darstellungsproblem. Es fragt sich also, wie das neue Wissen um die Komplexität des menschlichen Erkenntnisvermögens und Bewusstseins literarisch adäquat zu repräsentieren sei. In den erzählenden Gattungen etwa entstehen vom späten 19. Jahrhundert an Verfahren wie der monologue intérieure und der stream of consciousness, die sich als Reaktionen auf das geänderte Verständnis psychischer Vorgänge lesen lassen. Auch Robert Musils wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nietzsches und besonders Machs antimetaphysischen Theoremen führt zu dem Anspruch, dessen Erkenntnisse in literarische Produktion umzusetzen.3 Für die dramatische Gattung verschärft ein solcher Anspruch jedoch das literarische Darstellungsproblem erheblich. Das Drama scheint nur begrenzt in der Lage zu sein, die komplexen psychischen Dispositionen einzelner Figuren zur Darstellung zu bringen, ist sie doch, aufgrund ihrer Orientierung auf die theatrale Aufführung hin, an die szenische Repräsentation sozialer Interaktion gebunden und damit scheinbar weniger als etwa die erzählende Literatur in der Lage, präzise Einblicke in psychische Dispositionen und Bewusstseinslagen zu gewähren, zumal, wenn sich diese nicht verbal artikulieren (lassen). Trotz dieser Problemlage lassen sich um die Jahrhundertwende nicht wenige Versuche ausmachen, dramatische Verfahrensweisen zu entwickeln, die das problematisch gewordene ›Ich‹ darstellbar machen sollen. Im folgenden Kapitel soll es um eine Formation von Texten gehen, deren Konvergenzen bislang übersehen worden ist: Diese Texte lösen das genannte Darstellungsproblem, indem sie das ›Subjekt‹ sozusagen verräumlichen, also den Bühnenraum4 selbst 2 Vgl. u. a.: Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001. 3 Vgl. z. B.: Czaja, Johannes: Psychophysische Grundperspektive und Essayismus. Untersuchungen zu Robert Musils Werk mit besonderem Blick auf Gustav Theodor Fechner und Ernst Mach. Stuttgart 1993 u. Pieper, Hans-Joachim: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. 4 Mit dem Begriff ›Bühnenraum‹ sei der in einer (potentiellen) Aufführung konkret sichtbare Raum, zugleich aber auch die dramatische Raumsemantik gemeint, getreu Bentleys Diktum, »that the term ›the Stage‹ still suggests the inseparable union of theatre and drama« (Bentley, Eric: Preface [1968]. In: Ders. (Hg.): The Theory of the Modern Stage. From Artaud to Zola: An introduction to modern theatre and drama. Reprint. London 2008, S. 9–15, hier S. 9). ›Bühnenraum‹ umfasst also die engeren Termini ›szenischer‹ und ›dramatischer Raum‹ (vgl.
Verräumlichung des Innerpsychischen
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zum Ort des Innerpsychischen machen. Dass es dramatische Texte5 gibt, die so verfahren, ist im Grunde keine neue Erkenntnis. Schon Hintze hat in seiner Studie zum »Raumproblem im modernen Drama«6 auf eine im Drama seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beobachtbare »Subjektivierung des Raums«7 hingewiesen. Jedoch ist präziser als bisher zu klären, wie diese ›Verräumlichung‹ des Subjekts (wohlgemerkt nicht zwingend der dramatischen Figur) geleistet wird und welchen dramaturgischen Überlegungen sie zugrunde liegt. Um die verfahrenstechnischen und allgemein dramaturgischen Grundlagen dieses – von den vier hier zu behandelnden Texten8 sehr heterogen realisierten – Lösungsvorschlags darzulegen, sei zu Beginn kurz an die einschlägigen Verfahren erinnert, Einblick in die psychische Innenwelt der Figuren zu gewinnen – und zwar sowohl an die dramenhistorisch wichtigen als auch an die um 1900 besonders virulenten. Ferner wird von den dramaturgischen Konsequenzen einer derart radikalen Formoption zu reden sein. Die Einleitung abschließen wird der das Kapitel als Hypothese leitende Vorschlag, die Behandlung der Subjektproblematik in diesen Texten anhand gattungstechnischer und raumsemantischer Grenzüberschreitungen zu analysieren. Das klassische Mittel zur Vermittlung von Bewusstseinszuständen einzelner Figuren im Drama ist sicherlich der Monolog9, jedoch weniger in seiner Funktion
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Friedrich, Sabine: Raum und Theatralität. In: Dünne, Jörg: Handbuch Literatur & Raum. Berlin [u. a.] 2015, S. 105–114, hier: S. 105), um deutlich zu machen, dass diese besonders von den Theaterwissenschaften (vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin ²2003, hier: S. 136–146) betonte Unterscheidung auf eine – systematisch begründete – Trennung textuell hergestellter Semantiken und szenisch präsentierter Räume hinausläuft, durch die deren eigentlich selbstverständliche Interdependenz verdeckt wird. Soll in der Analyse allerdings die visuelle bzw. semantische Raumordnung für sich betrachtet werden, wird der jeweilige Begriff verwendet. Außerdem muss erwähnt werden, dass anhand von Hofmannsthals Prosatexten bereits gezeigt worden ist, dass um die Jahrhundertwende das Subjektproblem in literarischen Texten als Verräumlichung konstruiert wurde (vgl. Wiethölter: Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts, bes. S. 17–22). Hintze, Joachim: Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater. Marburg 1969. Ebd., S. 68 (Kapiteltitel). Es handelt sich um: Sehnsucht (Max Dauthendey, 1895); Die weiße Fürstin. Zweite Fassung (Rainer Maria Rilke, 1904); Die glückliche Hand (Arnold Schönberg, 1911) u. Die Kulissen der Seele (Nikolai Evreinov, 1913/1919). Die Angaben zu den jeweiligen Ausgaben und Siglen erfolgt im jeweiligen Abschnitt. Vgl. Mukarˇoský, Jan: Zwei Studien über den Dialog [tschech. 1937/1940]. In: Ders.: Kapitel aus der Poetik [tschech. 1948]. Übers. v. Walter Schamschula. Frankfurt a.M. 1967, S. 108–153; Pfister: Das Drama, S. 180–195; Matt, Peter v.: Der Monolog. In: Keller, Werner (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas. Darmstadt 1976, S. 71–90; Bayerdörfer, Hans-Peter: »Le partenaire«. Form- und problemgeschichtliche Beobachtungen zu Monolog und Monodrama im 20. Jahrhundert. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 529–563; Müller, Wolfgang G.: Das Ich im Dialog mit sich selbst. Bemer-
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Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
als selbstbezügliche Rede im Beisein anderer Figuren denn in der Funktion als ›Soliloquium‹. Frühe Beispiele der Dramenhistorie hat man als »innere[n] Dialog«10 gedeutet (– was ein Beleg für die Tendenz der Forschung ist, den Monolog als Variante des dramatischen Dialogs zu lesen11). Nach Müller ist es Shakespeare, der im letzten Monolog der Titelfigur in »Richard III.« das Soliloquium erstmals über die »allegorisch-dialogisch konzipierte Darstellung von Gewissenskonflikten« hinaus bringt und »[u]nterschiedliche Bewußtseinsschichten […] in Stimme und Gegenstimme«12 sich artikulieren lässt.13 Von da an vollziehe sich eine Entwicklung, die in Experimenten mit der Technik des Inneren Monologs (O’Neill: »Strange Interlude«, 1928)14 und mit technisch reproduzierten Soliloquien (Beckett: »Krapp’s Last Tape«, 1958)15 münde. In Zusammenhang mit den soeben erwähnten Texten liegt es nahe, die Gattung des Monodramas16 als aussichtsreichen Kandidaten für eine dramatische Darstellung psychischer Innenzustände heranzuziehen. Der Versuch, psychische Dispositionen durch die Konzentration auf eine Sprechrolle extensiver als im traditionell dialogisch fundierten Drama darzustellen, präfiguriert, was in diesem Kapitel beschrieben werden soll. Allerdings ist hier die historisch divergente Semantik des Gattungsbegriffs zu bedenken, die es erschwert, eine kontinuier-
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kungen zur Struktur des dramatischen Monologs von Shakespeare bis zu Samuel Beckett. In: DVjs 56 (1982), S. 314–333. Müller: Das Ich im Dialog mit sich selbst, S. 317, mit Verweis auf Mukarˇoský: Zwei Studien über den Dialog, S. 128f. So liest etwa v. Matt das Soliloquium als Vergegenwärtigung des gesellschaftlichen Ganzen in Abwesenheit anderer Figuren, mithin als Dialog mit der »zum Partner hypostasierte[n] Wirklichkeit als Ganzes« (80), und lehnt die Deutung des Monologs als Ausdruck der Individualität eines freien Subjekts strikt ab (vgl. Matt: Der Monolog, S. 81f. bzw. 89). Demmer sieht das Reüssieren des Monodramas im 20. Jahrhundert im Fragwürdig-Werden des Dialogs begründet, woran sich für sie das Paradox anschließt, dass der Monolog im Monodrama durch seine Dialektik von Sprechen und Schweigen selbst wiederum dialogisch strukturiert sei (vgl. Demmer, Sybille: Untersuchungen zu Form und Geschichte des Monodramas. Köln / Wien 1982, hier: S. 128f. bzw. S. 254). Müller: Das Ich im Dialog mit sich selbst, S. 321. Anders bei v. Matt, der das Soliloquium als Vergegenwärtigung des gesellschaftlichen Ganzen liest und dessen Deutung als Ausdruck eines freien Subjekts ablehnt (vgl. Matt: Der Monolog, S. 81f. u. 89). Vgl. Müller: Das Ich im Dialog mit sich selbst, S. 326–328. Vgl. ebd., S. 330–332. Vgl. Törnqvist, Egil: Monodrama. Term and Reality. In: Essays on drama and theatre. Liber amicorum Benjamin Hunningher. Presented to B. Hunningher on the occasion of his retirement from the chair of drama and theatre arts in the University of Amsterdam. Amsterdam 1973, S. 145–158; Bayerdörfer: Form- und problemgeschichtliche Beobachtungen zu Monolog und Monodrama im 20. Jahrhundert (s. o.); Demmer, Sybille: Form und Geschichte des Monodramas (s. o.); Bayerdörfer, Hans Peter: Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment. Grenzverschiebungen im Schauspieltheater der Moderne, in: FischerLichte, Erika (Hg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen/ Basel 1995, S. 242–290; Vöhler, Martin: Art. Monodrama. In: RLW II, S. 627–629.
Verräumlichung des Innerpsychischen
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liche Geschichte des Monodramas zu schreiben.17 Während ›Monodrama‹ im 18. Jahrhundert ein instrumentalmusikalisch begleitetes kurzes Sprechstück (Architext: Rousseaus »Pygmalion«, 177018) bezeichnet hat, hat sich die Form im Verlauf des 19. zu einem (musikfernen) Deklamationsstück für Amateur- und Privattheater19 und erst im 20. Jahrhundert zu einer dramatischen Form gewandelt, »in der der Monolog einer allein die Handlung tragenden Person das Drama konstituiert«.20 Ein bekanntes, in den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit fallendes Monodrama, August Strindbergs »Den starkare« (»Die Stärkere«, 1889), verlagert die Struktur des analytischen Dramas in den Monolog und sorgt für die Konfliktentfaltung einer Figur angesichts einer szenisch präsenten, aber schweigenden Antagonistin.21 Als »das erste prononciert modern sich gebende Monodrama«22 kann der Text deshalb gelten, weil er analog zu Charcots und Ribots Theorien die Mehrstimmigkeit des Einzelnen betont und sie zur Gestaltung eines dramatischen Konflikts nutzt.23 Durch die Anwesenheit der stummen Dialogpartnerin sowie durch den Naturalismus des Settings fällt er aber aus der Reihe der hier zu behandelnden Texte heraus. Jedoch sollte festgehalten werden, dass die Monodramatik im Allgemeinen mit den hier behandelten Texten im Hinblick auf ihre radikale Monoperspektivität konvergiert. Eine weitere in der Dramenhistorie gelegentlich genutzte Technik, psychische Dispositionen zur Darstellung zu bringen, ist die Spiegelung der »inneren Gestimmtheit« einer Figur mit dem »äußeren räumlichen Rahmen«.24 Das klassische Beispiel hierfür sind die Szenen in »King Lear«, in denen die Titelfigur auf der sturmumtosten Heide umherirrt (III, 2 u. 4) oder die Gartenszene der Liebenden im »Merchant of Venice« (V, 1), in der äußere und innere Harmonie koinzidieren.25 Diese Korrespondenz muss jedoch nicht, wie bei den genannten Beispielen, von den Figuren thematisiert werden. Entscheidend ist nur, dass der dramatische Raum Aufschluss über die ›Seelenlage‹ einer Figur geben kann und nicht allein als Kontext (bzw. Zeichen für die determinierenden Faktoren) ihres
17 Vgl. Demmer: Form und Geschichte des Monodramas, S. 1. 18 Vgl. Törnqvist: Monodrama, S. 146. 19 Vgl. Demmer: Form und Geschichte des Monodramas, S. 116–118. Ein auch von ihr erwähntes Beispiel aus dem späten 19. Jahrhundert ist das sog. »Psychodrama« Gustav von Meerheimbs [!], deren zeitgenössischer Erfolg aus heutiger Sicht schwer erklärlich ist (vgl. ebd., S. 118). 20 Demmer: Form und Geschichte des Monodramas, S. 6. 21 Vgl. Bayerdörfer: Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment, S. 259f. 22 Ebd., S. 257. Törnqvist hingegen klassifiziert den Text wegen der Präsenz einer zweiten Figur als »a combination of monologue and duodrama« (Törnqvist: Monodrama, S. 147). 23 Vgl. ebd., S. 259. 24 Pfister: Das Drama, S. 344. 25 Beide beruhen, wie Pfister bemerkt hat, auf dem in der europäischen Literatur weit verbreiteten und bei Shakespeare häufig anzutreffenden Topos der mitfühlenden Natur (Vgl. Pfister: Das Drama, S. 344).
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Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
Handelns oder als simple Spielfläche für sie dient.26 Den Raum als »Projektion von Bewußtseinszuständen«27 zu semantisieren, ist eine Option, die in der Dramatik seit der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert verstärkt genutzt wird. Neben den bereits erwähnten, historisch früher einsetzenden Verfahren sind in der Zeit um 1900 eine Reihe weiterer Formen und Konzepte entwickelt worden28, von denen die für diesen Zusammenhang wichtigste Dramenform und der wichtigste Einzeltext noch vorgestellt seien. Eine bemerkenswerte Form ist das Intime Drama bzw. Intime Theater, eine Gattung, die erst in den letzten Jahren von der Forschung schärfer profiliert worden ist.29 Bestreben dieser kurzdramatischen Gattung war »eine gesteigerte Psychologisierung der Figurenbeziehungen«30, was bei und im Anschluss an August Strindberg theatertheoretische und -praktische Konsequenzen gefunden hat.31 Dramaturgisch dürfte seine Leistung in einer »dialogtechnischen Innovation«32 zu sehen sein, wie sie besonders bei Johannes Schlaf zu beobachten ist. Es handelt sich um eine Kombination von an Maeterlinck geschulter Dialogizität ›zweiten Grades‹ mit der Dialogtechnik des ›konsequenten‹ Naturalismus, in dem die dort Konsequenz verbürgende Mimesis lebensweltlicher Kommunikation – inklusive der fragmentarischen und elliptischen Sprechakte, der Pausen und Ausdruckschwierigkeiten wie Stottern, Verhaspeln usw. – nun zum Träger eines versteckten Dialogs promoviert wird, der tiefere Einblicke in die psychologische Verfasstheit der Figuren zu geben vermag als das vordergründig Geäußerte.33 Gerade dieses Moment der Darstellung psychischer Zustände jenseits des Dialogs sowie der weitgehende Verzicht auf Handlung ist das, was es mit der hier behandelten Formation von Texten vergleichbar macht. Dass es sich bei Strindberg wie bei Schlaf aber um Vorgänge der »Intimisierung der Figurenbeziehungen«34 handelt, also letztlich um ein interaktionell fundiertes Verfahren, trennt die Dramatik des Intimen von den hier vorzustellenden Texten, deren Fokus ja so radikal auf einer Einzelfigur liegt, dass deren Bewusstsein selbst zum Schauplatz wird. 26 Vgl. ebd. S. 348f. 27 Ebd., S. 350. 28 Die bereits hinlänglich erwähnte grundlegende Bedeutung der Maeterlinckschen Dramatik und der Einakterform schlechthin muss hier nicht noch einmal expliziert werden. 29 So kann man es bezeichnend nennen, dass das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW) kein Lemma ›Intimes Drama‹ aufweist. Zur erwähnten Profilierung von Begriff und Gattung vgl. bes. Streisand: Intimität u. Stöckmann: Das innere Jenseits des Dialogs; In der älteren Forschung maßgeblich: Kafitz: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts; Delius: Intimes Theater. 30 Kafitz: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts, S. 309. 31 Vgl. Streisand: Intimität, bes. S. 133–176 u. S. 271–328. 32 Stöckmann: Naturalismus, S. 130. 33 Vgl. Stöckmann: Das innere Jenseits des Dialogs. 34 Kafitz: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts, S. 319 [Hervorh. v. mir, PB].
Verräumlichung des Innerpsychischen
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August Strindberg hat nicht nur als Vordenker des Intimen Dramas zu gelten, sondern auch als derjenige, der gewissermaßen den Phänotext zu der hier vorgestellten Formation von Texten geliefert hat35: Gemeint ist der erste Teil von »Till Damaskus« (»Nach Damaskus«, 1898), ein Text, der gemeinhin als protoexpressionistisches ›Ich-Drama‹ kategorisiert wird.36 Das für die hier behandelte Textformation Phänotypische sei kurz ausgeführt, damit deutlich wird, wie eine solche Totalisierung des Bühnenraums konkret aussehen kann. So hat die Strindberg-Forschung37 längst festgestellt, dass der intradiegetische ontologische Status des Protagonisten im ersten Teil von »Nach Damaskus« (»Der Unbekannte«) und der der übrigen Figuren kategorial verschieden ist, dass diese »more or less symbolic personifications of the conflicting forces, the various self-reproaches in the inner moral struggle of the main character«38 sind. Selbst die deutliche Tendenz zu einem »symbolic, universalized treatment of stage space«39 im ersten Teil hat bereits Erwähnung gefunden. Der Text thematisiert die Frage nach dem ontologischen Status des Geschehens explizit40 und realisiert die Ichsuche des »Unbekannten« mit einem hermeneutischen Lesen der Bühne.41 Dass dieses Drama in dieser Arbeit nicht eigens analysiert wird, hat den Grund darin, dass die Verräumlichung des Bewusstseins des Protagonisten, die
35 Das lässt sich behaupten, obwohl Dauthendeys Sehnsucht deutlich vor der Damaskus-Trilogie entstanden ist, da dieser Text in mancher Hinsicht ein Sonderfall ist. 36 Vgl. Bayerdörfer: Dramatische Analyse und Ich-Dramatik. 37 Angesichts des Reichtums der Strindberg-Forschung unverzichtbar: Robinson (Hg.): An International Annotated Bibliography of Strindberg Studies 1870–2005, Bd. 2; zu »Till Damaskus«: S. 1019–1060. 38 Söderström, Göran: To Damascus (I). A Dream Play? In: Stöckenström, Göran (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Stockholm 1988, S. 205–222, hier: S. 206f. 39 Fuchs, Elinor: Strindberg »Our Contemporary«. Constructing and Deconstructing To Damascus I. In: Stöckenström, Göran (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Stockholm 1988, S. 75–86, hier: S. 78. 40 Die Unklarheit, ob sich der Unbekannte in der ›Realität‹ oder in einem Traum befindet, und besonders Strindbergs nachträgliche Charakterisierung des Stücks als Traumspiel hat schon die frühe Forschung zu der Überzeugung geführt, es mindestens ab der Asylszene in der Mitte mit einem Traumstück zu tun zu haben (Lamm, Martin: August Strindberg. Bd. 2: Efter omvändelsen. Stockholm 1942, S. 41f.; dagegen bes. Söderström: To Damascus (I) u. Stöckenström, Göran: His Former Dream Play To Damascus. In: Bandle, Oskar / Baumgartner, Walter / Glauser, Jürg (Hg.): Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Basel / Frankfurt a.M. 1981, S. 211–234). Törnqvist hingegen sieht im Stück eine Halbrealität dargestellt, die unentscheidbar macht, inwieweit und in welchen Szenen die Figuren allein Realität im Bewusstsein des Unbekannten und in welchen sie ›objektive‹ Realität besitzen (vgl. Törnqvist, Egil: Strindberg and the Drama of Half-reality. An Analysis of To Damascus I. In: Smedmark, Carl Reinhold (Hg.): Strindberg and Modern Theatre. Stockholm 1976, S. 119– 150; und: Törnqvist: Strindbergian Drama, S. 71–95). 41 Vgl. Sandler, Natalie: To Damascus I. Reading the Set. In: Modern Drama 28,4 (1985), S. 563– 580.
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hier erwiesen werden soll, in der Forschung längst bekannt ist42 und sich durch die Kontextualisierung mit den hier analysierten Texten keine neuen Perspektiven auf den Text ergeben.43 Festzuhalten ist jedoch, dass Strindbergs »Nach Damaskus« als bekanntester Beleg für die Existenz der hier behaupteten Textformation gelten kann.44 Überdies sollten die Hinweise zu diesem Drama und den davor erwähnten Verfahren deutlich gemacht haben, dass die im Folgenden zu behandelnden vier Texte keineswegs ohne dramaturgische Grundlage sind. Vielmehr totalisiert sich in ihnen die in der Dramenhistorie gelegentlich anzutreffende Semantisierung des dramatischen Raums als Spiegel des Bewusstseins zum dominanten Formprinzip einer Reihe kurzdramatischer Texte. War diese Option bislang lediglich szenenweise gewählt worden, zeigt sie sich nun durch die Aufwertung des Einakters als genuin moderne dramatische Experimentalform45 und der damit einher gehenden Deprivilegierung der Handlung als besonders geeignet, den Anspruch einer differenzierten Darstellung von menschlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen zu erfüllen. Es ist wohl unmittelbar einsichtig, dass die hier behandelte Formation von Texten zum Darstellungsproblem menschlicher Bewusstseinsprozesse im Drama einen Lösungsvorschlag anbietet, welcher selbst wiederum Darstellungsprobleme nach sich zieht. So verweist das Drama generell durch seinen Darstellungsmodus – der szenischen Figurenrede – auf Sozialität und repräsentiert diese, indem durch die gleichzeitige Anwesenheit und Kommunikation der Figuren untereinander ein Interaktionssystem entsteht.46 Da nun aber das szenische Geschehen nicht mehr soziale Interaktion darstellt, sondern innerpsychische Prozesse repräsentiert, stellt sich die Frage, ob der Text damit nicht seine Dramatizität einbüßt. Wie sich zeigen wird, gibt es tatsächlich einen Text (Sehnsucht), der gänzlich auf figurale Interaktion verzichtet – und damit wissentlich die Grenze des dramatisch Darstellbaren berührt, womöglich sogar überschreitet. Die anderen drei Texte verzichten hingegen nicht auf figurale Wechselrede, legen aber nahe, die agierenden Figuren als Personifikationen widerstreitender psychischer Elemente des Protagonisten oder mentale Verkörperungen intradiegetisch faktualer Personen zu lesen. Sie reagieren also auf das drohende 42 Vgl. neben dem oben angedeuteten bereits Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880– 1950), S. 48f. 43 Das unterscheidet diesen Text etwa von Schnitzlers Anatol, dessen Strukturprinzip die Forschung längst erfasst hat, an den sich aber im Kapitel zu Diskontinuität der Szenenfolge einige eigenständige Beobachtungen anschließen lassen. 44 Strindbergs ›Unbekannter‹ macht auch insofern Schule, als er den Universalismus der expressionistischen Dramatik vorwegnimmt: Es werden keine Einzelnen mehr dargestellt, sondern Menschen im Allgemeinen. Diese Tendenz zeigt sich ebenfalls deutlich bei Dauthendey. 45 Vgl. Neumann: Einakter, S. 103. 46 Vgl. Schwanitz (u. a.): Art. Drama. Bauformen und Theorie, S. 215.
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Darstellungsproblem, indem sie das vormals soziale Geschehen als innerpsychisches semantisieren, ansonsten aber an Figuralität und Dialogizität als Grundbedingungen von Dramatik festhalten. Dies bedeutet aber nicht, dass die Dramen dadurch gewissermaßen extrasozietal wären, dass das nicht dargestellte ›Außen‹ keine Bedeutung mehr besitzen würde. Vielmehr gewinnt dadurch, dass der Bühnenraum ein – wie auch immer symbolisch dargestelltes – ›Inneres‹ darstellt, die Grenze zum ›off-stage‹ und dieses ›off-stage‹ selbst enorm an Bedeutung. Das verweist auf die zentrale Bedeutung des Raums für diese Textformation. Um die Implikationen der methodischen Zugänge zum Raum offenzulegen und die Notwendigkeit synkretistischen Vorgehens deutlich zu machen, muss kursorisch auf die Bedeutung der Raumdimension in der Dramen- und der Theaterforschung eingegangen werden. Seit Max Herrmann, einem der Begründer der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, die Theaterkunst bzw. »Bühnenkunst« als »Raumkunst«47 bezeichnet hat, gehört der spatiale Aspekt des Theaters zu einem der zentralen Untersuchungsgebiete dieser Disziplin48 und hat in der Theaterforschung, zumal im Rahmen der Theatersemiotik und den Raumtheorien der Theatermoderne um 1900, einige Aufmerksamkeit erhalten.49 Für die Dramenforschung gilt allerdings nicht dasselbe: Hier wird meist Zeitlichkeit als dramaturgisches
47 Herrmann, Max: Das theatralische Raumerlebnis [1931]. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 501–514, S. 501. Dieser wiederum hat es dem Bauhaus-Bühnenbildner Oskar Schlemmer entliehen, der die Formulierung in einem Aufsatz von 1928 geprägt hat (vgl. Schlemmer, Oskar: Die Bauhausbühne [1928]. In: Lazarowicz, Klaus / Balme, Christopher (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991, S. 442–447, hier: S. 444. 48 Vgl. Roselt, Jens: Art. Raum. In: Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 260–267, hier: S. 260. 49 Vgl. ebenda. Roselt bietet, wie im Metzler-Lexikon der Theatertheorie üblich, den Stand der Theaterforschung aus der Perspektive der poststrukturalistisch und semiotisch orientierten Berliner Theaterwissenschaft, wogegen die stärker historisch ausgerichteten Arbeiten zum Raum, etwa die von R. Münz und A. Kotte, in seinem Artikel keine Erwähnung finden (vgl. Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag v. Gerda Baumbach. Hg. v. Gisbert Amm. Berlin 1998; u. Kotte: Theatergeschichte. Allerdings sind die Artikel ›Norm‹ u. ›Theaterbegriffe‹ im Theaterlexikon von Kotte verfasst worden). Räumlichkeit findet sich in den einschlägigen theatersemiotischen Arbeiten etwa bei Elam: The Semiotics of Theatre and Drama, bes. S. 50–62 u. FischerLichte, Erika: Semiotik des Theaters. Band 1, bes. S. 132–144. Zu Raumkonzepten der Theatermoderne ab 1900 vgl. u. a.: Simhandl, Peter: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer. Berlin 1993; Koneffke, Silke: Theater-Raum. Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort. Berlin 1999; Grund, Uta: Zwischen den Künsten. Edward Gordon Craig und das Bildertheater um 1900. Berlin 2003. Zu aktuellen Versuchen, Theatralität und Räumlichkeit theoretisch zu verbinden vgl. den Sammelband: Kramer, Kirsten / Dünne, Jörg (Hg.): Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Würzburg 2009, besonders die Einleitung der Herausgeber (S. 15–32).
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Grundprinzip bestimmt50 und Raum (im Sinne Bachtins) in Relation zu Zeit gelesen.51 In der Dramenforschung lassen sich drei Zugänge zur Räumlichkeit des Dramas unterscheiden. Der erste ist das auf Dramen angewandte Lotmansche Modell der Topologie52, das die Semantisierung des dramatischen Raumes durch räumliche Relationierungen (oben/unten, links/rechts, onstage/offstage usw.) untersucht, der zweite die Analyse von sprachlichen und außersprachlichen Lokalisierungstechniken, die die Grundlage für die Aktualisierung des »Raumpotential[s]«53 der Figuren durch ihre Position und Bewegung im Raum darstellen.54 Der dritte Zugang schließlich unternimmt auf die Unterscheidung von Raumkonzeptionen im Rahmen eines Spektrums zwischen »abstrakter Neutralität und realistischer Konkretisierung«55, was auf eine funktionale Analyse des dramatischen Raums abzielt, die die beiden ersten jedoch zu integrieren in der Lage ist.56 Die Grundlage des Folgenden ist eine Überlegung zur Funktionalisierung des Raums, die an die dritte Option anschließt. Ähnlich, wie von Pfister bei »Warten auf Godot« aufgezeigt, erscheint der Raum nunmehr »als Projektion von Bewußtseinszuständen und nur noch rudimentär als Abbild eines realen Raumes«.57 Dabei ist die im Zitat angeklungene Relativität wichtig und schließt an Gedanken der Theatersemiotik an: Sowenig die Theateraufführung allein im
50 Vgl. nur Link, Franz: Dramaturgie der Zeit. Freiburg i.Br. 1977; u. Pütz: Die Zeit im Drama. 51 Vgl. Boenisch: Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition, bes. S. 127–133. Im gesamten Handbuch, das doch in seinem zweiten Abschnitt laut Vorwort »über zentrale Aspekte der Dramenanalyse« (S. VII) Auskunft geben will, findet sich keine eingehende Beschäftigung mit dem dramatischen Raum. Womöglich stellt dieses bemerkenswerte Desiderat einen Hinweis auf die primär textuelle Rezeption von Dramen dar – wenn sie, anders als bei Lessing, als Zeitkunst gelesen werden, ist es plausibel, die temporale Dimension zu privilegieren. Eine Ausnahme stellt aber Ralf Klausnitzer dar, der in seiner Einführung in die Literaturwissenschaft gerade den dramatischen Raum als Differenzkriterium zu den anderen literarischen Gattungen beschreibt (Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft. Begriffe – Verfahren – Arbeitstechniken. Berlin / Boston ²2012, S. 185). 52 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, wo dies als »Struktur des Topos« bezeichnet wird (S. 330). Zu Lotmans Raumkonzeption im Allgemeinen vgl. S. 311–340. In diese Gruppe gehört auch Mukarˇovský mit seiner relationalen Bestimmung des dramatischen Raums als eines »durch die aufeinanderfolgenden Veränderungen der räumlichen Beziehungen zwischen dem Schauspieler und der Szene und zwischen den Schauspielern untereinander« gekennzeichneten (Mukarˇovský: Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters, S. 88). 53 Pfister: Das Drama, S. 355. 54 Vgl. ebd., S. 350–359. Vgl. auch das Kapitel ›Die perspektivische Darstellung des Schauplatzes‹ in: Ders.: Studien zum Wandel der Perspektivenstruktur in elisabethanischen und jakobäischen Komödien. München 1974, S. 168–178. 55 Pfister: Das Drama, S. 345. 56 Vgl. ebd., S. 345–350. 57 Ebd., S. 350.
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ikonischen Zeichengebrauch aufgeht58, sowenig verliert die Raumsemiosis in den Texten alle Ikonizität. Zwar ist auf theatraler Seite sicherlich jeder Zeichengebrauch im »Rahmen dieser grundlegenden ikonischen Mimesis«59 zu sehen, doch ist (gerade vom textuellen Standpunkt her) im Gegenzug auch die Künstlichkeit und Symbolizität der theatralen wie dramatischen Zeichenbenutzung zu betonen – denn es gilt: »all icons and indices in the theatre necessarily have a conventional basis.«60 Bezogen auf die Raumkonzeptionen lässt sich für das Textkorpus des Kapitels eine Tendenz zur Stilisierung ausmachen, die aber nur in einem Fall ganz auf Ähnlichkeitsbeziehung verzichtet. Während der Raum im naturalistischen Drama die Figuren sozial einordnet oder gar ihre Determiniertheit durch die Umstände andeutet, und während in den stilisierten Räumen des französischen ›drame classique‹ allenfalls der soziale Status reflektiert wird, sorgt die Totalisierung der Bühne in den hier vorliegenden Texten für eine Konstellation, in der »der Mensch nicht mehr als Funktion des Raums, sondern der Raum als Funktion des Menschen dargestellt wird«.61 Dieser enge Bezug des Bühnenraums auf die Wahrnehmungsweise und Bewusstseinslage einer Figur sorgt nun dafür, dass die Grenzen zwischen ›onstage‹ und ›offstage‹ entscheidende Bedeutung erlangen. So wird der Vorschlag unterbreitet, die Semantisierung (oder Nicht-Semantisierung) der Grenze zwischen sichtbarem und unsichtbarem theatralen Raum als ein wichtiges Moment zu betrachten, an dem die Darstellungsproblematik innerpsychischer Prozesse in diesen Texten thematisch wird. Hierzu wird die Unterscheidung dreier fiktionaler Räume (»onstage fictional stage«, »neighbouring offstage fictional stage« und »distant offstage fictional stage«62) nützlich sein und ein besonderes Augenmerk auf die denkbare, aber nicht in allen Texten realisierte Überschreitung dieser Grenze durch Figuren oder Blicke legen, die als Grenzüberschreitung semantischer Räume lesbar werden63 (– womit ein Bezug zum ersten der drei erwähnten Raummodelle in der Dramenforschung hergestellt ist).
58 Vgl. Elam: Semiotics of Theatre and Drama, S. 18–24. 59 Esslin, Martin: Die Zeichen des Dramas. Theater, Film, Fernsehen. Reinbek 1989, hier: S. 43. Dass auch im Originaltitel (The Field of Drama) von Drama die Rede ist, wird man wohl dem angelsächsischen Begriffsgebrauch zurechnen müssen, der nicht streng zwischen Drama und Theater trennt. Darauf weist die Charakterisierung der im Untertitel angeführten Medienformen als »›Live‹-Formen des Dramas« (S. 93) deutlich hin. 60 Elam: Semiotics of Theatre and Drama, S. 24. 61 Hintze: Raumproblem in Drama und Theater, S. 68. 62 Wallis, Mick / Shepherd, Simon: Studying Plays. Second Edition. London 2002, S. 42. Die beiden letzteren fiktionalen Räumen unterscheiden sich darin, dass die »neighbouring offstage fictional stage« implizit in direkter Kontinuität zur Bühne steht und sich die »distant offstage fictional stage« auf einen ferneren Raum innerhalb der dramatischen Diegese bezieht (ebd.). 63 Vgl. wiederum Lotman: Struktur literarischer Texte, S. 327–332.
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Es ist nun aber nicht allein die intradramatische Transgression, die die Texte strukturiert und miteinander in Beziehung setzt. Diese überlagernd und in Wechselbeziehung mit dieser kann eine Tendenz zur Transgression der dramatischen Gattung selbst ausgemacht werden. Dass um die Jahrhundertwende neben Entgrenzungen auf der Textebene64 auch die Gattungstrias transzendierende Untergattungen wie etwa das lyrische Drama65 oder das Prosagedicht66 virulent werden, ist keine Neuigkeit – und darf wohl als ein bedeutendes Element literarischer Modernität angesehen werden. Und: Die angedeuteten darstellungstechnischen Konsequenzen der Verräumlichung des Subjekts lassen es umso plausibler erscheinen, dass die Texte die Frage aufwerfen, ob und inwieweit mit dieser Verräumlichung die Grenzen des Dramas erweitert bzw. überschritten werden (müssen). Es zeigt sich bei zwei dieser Texte eine noch radikalere Tendenz zur Transzendierung des Dramas durch das Aufgreifen von Impulsen des Gesamtkunstwerk-Konzepts, welches natürlich keineswegs auf Richard Wagner zu reduzieren ist und zumal im Bereich des Theatralischen unterschiedliche Modelle hervorgebracht hat.67 Im Aufgreifen sprachfremder Zeichensysteme, für die das Drama qua Plurimedialität ohnehin offen ist, werden in Sehnsucht und der Glücklichen Hand die Grenzen des Dramatischen tangiert und experimentell verschoben. Die Hypothese ist nun, dass die Texte anhand dieser doppelten – gattungstechnischen wie bühnenräumlichen – Transgression nicht allein die Frage der Darstellbarkeitsgrenzen des Dramas behandeln, sondern durch diese auch Subjektivität.68 Indem durch die Verräumlichung des Subjekts dessen Problematik universalisiert wird, überlagern sich die damit einher gehenden dramaturgischen und subjektspezifischen Fragen und interagieren miteinander. Die
64 Vgl. Koopmann, Helmut: Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900. In: Bauer, Roger (Hg. u. a.): Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1977, S. 73–92. 65 Vgl. Szondi: Das lyrische Drama des Fin de Siècle. 66 Vgl. Bunzel, Wolfgang: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne. Tübingen 2005. 67 Vgl. Finger, Anke: Das Gesamtkunstwerk der Moderne. Göttingen 2006. Als besonders wichtig für diesen Zusammenhang erweist sich das Konzept von Kandinsky (vgl. ebd., S. 65– 67 u. 76–78). 68 Das schließt die Überzeugung ein, dass um 1900 nicht allein Lyrik und lyrisches Drama für die Darstellung der Entgrenzung des Ich geeignet sind, sondern auch das – semiotisch entgrenzte – Kurzdrama (vgl. Koopmann, Helmut: Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900. In: Bauer, Roger (Hg. u. a.): Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1977, S. 73–92, hier: S. 82. Zur Korrelation von Raum, Synästhesie und Subjektivität in Prosatexten der Jahrhundertwende vgl. Hachenberg, Katja: Literarische Raumsynästhesien um 1900. Methodische und theoretische Aspekte einer Aisthetik der Subjektivität. Bielefeld 2005.
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Frage nach dem Subjekt wird somit gekoppelt an die Frage nach den Darstellungsmöglichkeiten von Drama und Theater. Es ist einsichtig, dass die Texte, die das sprachliche Zeichensystem im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu überschreiten versuchen, andere Darstellungsmöglichkeiten für die Verräumlichung des Subjekts finden als diejenigen, die die Grenzen des Dramas weitestgehend intraliterarisch thematisieren. So sollen im Folgenden zunächst die sich auf theatrale und literale Zeichen beschränkenden Texte von Rilke und Evreinov69 analysiert werden, um im Anschluss die semiotischen Entgrenzungsbewegungen bei Dauthendey und Schönberg nachzuvollziehen.
2.1.2 Das petrifizierte Ich als Raumkunst: Die weiße Fürstin (2. Fassung, 1904) Die in Rilkes zweiter und letzter – einige Jahre nach seiner 1898 abbrechenden – Phase dramatischer Textproduktion70 entstandene Fassung des Einakters Die weiße Fürstin71 ist von der Forschung72 als eine die Beschäftigung mit der Gattung abschließende »Kritik der Tradition des lyrischen Einakters ästhetizistischen Einschlags«73 gelesen worden. Die Zugehörigkeit des Textes zu dieser Gattung lässt sich durch die versifizierte und gereimte Sprache, das Renaissance-Setting74 69 Die weiße Fürstin. Zweite Fassung und Die Kulissen der Seele. 70 Vgl. Ritzer, Monika: Dramatische Dichtungen. In: Engel, Manfred (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach. Stuttgart 2004, S. 264– 282. 71 Die folgende Analyse bezieht sich nicht auf die Erstfassung von 1898, sondern ausschließlich auf die Zweitfassung und wird zitiert aus: Rilke. Rainer Maria: Die weiße Fürstin [1904]. Eine Szene am Meer. In: Ders. Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv in Zusammenarbeit mit Ruth Sieber-Rilke. Bd. 1: Gedichte. Erster Teil. Frankfurt a.M. 1962, S. 201–231. Zitate werden im Text mit der Sigle (WF) nachgewiesen. 72 Die beiden wichtigsten Arbeiten zu dem Text sind: Stephens, Anthony: Das Janusgesicht des Momentanen. Rilkes Einakter »Die weiße Fürstin«. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 263–286 (erneut abgedruckt in: Hauschild, Vera (Hg.): Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne. Frankfurt a.M. 1997, S. 115–139) und Neumann, Gerhard: Ankunft des Fremden. Zur Identitätsformel in Rilkes Einakter Die weiße Fürstin. In: Hansen-Löve, Aage A. (Hg.): Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900. Paderborn [u. a.] 2009, S. 173–187. Des Weiteren von Belang sind: Ritzer, Monika: Die weiße Fürstin (2. Fassung, 1904). In: Engel, Manfred (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach. Stuttgart 2004, S. 283–290 u. Blasberg, Cornelia: Ist die Klassische Moderne totalitär? Fragen an Rainer Maria Rilkes Texte um 1900. In: Hebekus, Uwe / Stöckmann, Ingo (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. München 2008, S. 395–413. 73 Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 276. 74 Vgl. in Bezug auf das dadurch transportierte Frauenbild: Weinhold, Ulrike: Die RenaissanceFrau der Jahrhundertwende am Beispiel von Rainer Maria Rilkes Die weiße Fürstin und Hugo von Hofmannsthals Die Frau im Fenster. In: Amsterdamer Beiträge 18 (1984), S. 235–271.
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sowie insbesondere durch die kairologische Zeitstruktur des Textes mühelos nachweisen.75 Jedoch sollte diese gattungsästhetische Perspektive nicht die Leistungen des Textes überlagern, die sich keineswegs darin erschöpfen, die Aporien der Gattung szenisch sinnfällig zu machen. Dass eine weitere Leistung der Weißen Fürstin darin besteht, Subjektivität über die räumliche Organisation des Textes zu versinnlichen und in einer Entscheidungssituation als aporetische zu markieren, ist seit Stephens’ wegweisender Arbeit unstrittig.76 Die folgenden Überlegungen nehmen diese These auf und radikalisieren sie, indem sie den Text als symbolisch verräumlichtes Bewusstsein analysieren. Das führt zu der These, dass die raumzeitliche Bewegungsunfähigkeit der Titelfigur als Petrifizierung von Subjektivität deutbar ist. Die innovative Leistung des Dramas bleibt damit also die »dramatische Entfaltung der Strukturen eines komplexen Subjekts«77 – doch ist sie in der Szene als räumlich universalisiert zu lesen. Es handelt sich mithin um einen Analysevorschlag, der die ästhetizistischen Implikationen des Textes anerkennt, aber zugunsten einer subjektspezifischen Lesart ausklammert. Da Die weiße Fürstin nach wie vor ein eher apokrypher Text ist, folgt hier zunächst eine knappe Inhaltsangabe. Im Grunde gestaltet der Text nichts anderes als eine Ankunftserwartung, die schließlich enttäuscht wird. Die weiße Fürstin, von ihrem Gemahl erstmalig allein gelassen (WF 204), erwartet die Ankunft eines Fremden, den sie einmal gesehen hat (WF 210) und der nun über das Meer kommen und an ihrer an der Küste gelegenen Villa anlanden soll, damit sich die Fürstin ihm – wohl auch sexuell (WF 222f.) – hingeben kann. Ihre jüngere Schwester Monna Lara, die sich ein solches biblisches Erkanntwerden auch ersehnt, ist von den von einem Boten dargebrachten Schilderungen einer tödlichen Epidemie stark erschüttert und fordert die Fürstin auf, zu helfen (WF 220f.), was diese auf ein ›Morgen‹ nach der Ankunft des Fremden verschiebt (WF 222). In dem Moment allerdings, in dem sich das Boot des Fremden durch Ruderschläge ankündigt, erscheinen, wie vom Boten erwähnt, zwei maskierte Mönche, so dass es der Fürstin nicht gelingt, das verabredete Zeichen zu geben und das Boot schließlich vorüberfährt (WF 230f.). Während sie auf der Terrasse zurückbleibt, 75 Die weiße Fürstin ist der lyrischen Dramatik von Maeterlinck und Hofmannsthal in seiner temporalen Struktur insofern verwandt, als dass hier wie dort eine statische Situation (das Warten) auf eine entscheidende »Zeitstelle« hin orientiert und in Bezug auf die Figuren »in einer Art dramatischen Synekdoche Lebensmoment und Lebensganzes auf einander [bezogen wird]« (Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 215). Die von Statik bedrohte dramaturgische Konstellation wird im ästhetizistischen Einakter durch diese kairologische Struktur dynamisiert. Bei Rilkes Weißer Fürstin allerdings wird dieser ›Kairos‹ als Augenblick funktionalisiert, der überhaupt erst Zeitlichkeit aktivieren kann und deren Verstreichen die in dieser Gattung immer drohende Statik gewissermaßen ratifiziert. 76 Vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 272. Vgl. auch Neumann: Ankunft des Fremden, S. 180 u. 185. 77 Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 272.
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zeigt sich oben in der Villa eine kindhafte Gestalt, die »erst rufend« und schließlich so winkt, »wie man zum Abschied winkt« (WF 231). Nimmt man den Gedanken ernst, dass sich die Szene als Verräumlichung eines Bewusstseins lesen lässt, so müssen alle Grundelemente des Dramas auf ihre Funktionalisierung für Bewusstseinsvorgänge hin befragt werden. In Bezug auf die Raumordnung bedeutet das, so die These, eine symbolische Aufladung des Raumes in Relation zu den Figuren. Die in allen drei Dimensionen stark gegliederte Bühne besteht aus Hinter-, Mittel- und Vorderbühne, wobei die hinten gelegenen Zonen (Villa und Terrasse) mit dem in der Mittelzone gelegenen Garten durch eine Treppe verbunden ist und diese Zone wiederum eine »Platanen-Allee« aufweist, die auf den im vorderen Bereich gelegenen Strand zuläuft, der mittels eines Landungsstegs in das »gegen die Szene wog[ende]« Meer hineinragt (WF 203). In der Breite ist die Bühne also durch die soeben beschriebene Mittelachse dreigeteilt, wobei die linke Seite des Gartens, auf der sich eine Bank befindet, stärker bespielt wird. Die unterschiedlichen Zonen werden szenisch differenziert eingebunden. So erscheint der Garten als Kontaktzone, insofern hier fast der gesamte Dialog spielt. Das Meer steht in engem Bezug zur weißen Fürstin, was sich schon darin zeigt, wie oft der Nebentext ihren Blick aufs Meer vermerkt (WF 206, 207, 215, 223, 228, 229, 230). Es ist aber von der Villa und dem Garten durch einen Strand getrennt, der als liminale Grenze78 dadurch besondere Bedeutung erhält, dass die Mönche am Schluss seitlich auf den Strand treten und den Blick der Fürstin vom Meer ablenken.79 Auch die Höhenunterschiede der Bühne sind nicht asemantisch – wenngleich sie nebentextlich weniger präsent sind. Die Villa besitzt über der Loggia ein »einfaches, geschlossenes Pilastergeschoß« (WF 203), verfügt also über zwei Stockwerke und sieht herab auf die Terrasse, von der die zum Garten führende Treppe hinunter zu einer dritten Ebene führt, die bis zum Meer ein Gefälle aufweist. Die Fürstin und ihre Schwester gehen vor der finalen Ankunftsszene die Allee hinauf zur Terrasse (WF 228f.). Die Fürstin befindet sich also weiter entfernt vom und deutlich oberhalb des Meeres, als sich die Ankunft durch Ruderschläge ankündigt. Die letzte Geste, das finale Winken der kindhaften Gestalt aus dem Fenster der Villa, ist also in der Tiefe und der Höhe am weitesten vom Meer entfernt. Es sollten schon diese Andeutungen deutlich gemacht haben, dass der Bühnenraum in Relation zum Standpunkt und der Bewegung bzw. Nichtbewegung der Figuren semantisiert wird. Entscheidend ist überdies die Figurenkonfiguration des Textes. Hierbei ist die enge Relation zwischen der weißen Fürstin und ihrer jüngeren Schwester, Monna Lara, unmittelbar auffällig. Diese ist als Komplementärfigur auf die weiße Fürstin 78 Vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 180. 79 Zur Bedeutung dieses Vorgangs und dieser Grenzzone siehe unten.
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bezogen.80 Das zeigt sich schon im Kostüm durch ihr »Kleid aus verblichenem Blau« (WF 207), dem also eine Tendenz zum Weiß der Fürstin hin inne ist. Dass die weiße Fürstin anfangs an ihre Kindheit erinnert wird (WF 204) und ihre Schwester wenig später als »Kind« (WF 207) apostrophiert, dass sie gemeinsam auf das Meer hinausblicken (WF 207), und nicht zuletzt, dass die Fürstin ihre Existenzweise in der Villa als »unser[en] Traum« (WF 211) markiert, belegen die These der Forschung, dass es sich bei Monna Lara und der Fürstin lediglich um andere Stadien desselben Wesens81 (bzw. Elemente desselben Bewusstseins) handelt, was ihren Dialog als »Selbstgespräch [erscheinen lässt], in dessen Verlauf Aspekte des einen Ich einander kommentieren und ergänzen.«82 Der stetige Bezug der Fürstin auf Kindheit und nicht zuletzt auf die durch die Ankunft des Fremden zu vollziehende Reife (WF 227) markiert den Status beider Figuren »im Grenzland zwischen Kindheit und Erwachsensein«.83 Es ist also die von der weißen Fürstin empfundene (und in traumhafter Vorausdeutung bestätigte) Reife, die sie von der eigenen wie der Kindhaftigkeit ihrer Schwester unterscheidet.84 Das Bewusstsein einer sie von allen anderen Figuren und gerade von ihrer Schwester unterscheidenden Wahrnehmungsweise wird mithin im Stück thematisiert. Auf der Figurenebene wird das durch eine Konfiguration gestaltet, in der alle Figuren kontrastiv oder komplementär auf die Titelfigur bezogen sind. Doch worin besteht die Welthaltung der weißen Fürstin? Mit ihrer weißen Kleidung wird bei der Fürstin eine Reinheit markiert, die nicht allein auf sexuelle Unberührtheit85 verweist, sondern auf Unberührtheit von Alterität insgesamt. Das verdeutlicht eine Replik der weißen Fürstin zu Beginn der Szene, die sich als ihr Credo lesen lässt: Wer hat denn Zeit – das Leben ist so viel –, an Not zu denken, an die kleinen Sachen, da doch in uns die großen Dinge wachen. Man soll nicht weinen und man soll nicht lachen; 80 81 82 83 84
Vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 280f. Vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 183. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 281. Blasberg: Fragen an Rainer Maria Rilkes Texte um 1900, S. 403. Zwar scheint es plausibel, den von der Fürstin dem Leben präferierten Traumzustand (WF 208f.) als Widerstand gegen den linearen Zeitablauf zu deuten (vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 278f.), doch widerspricht das eben der von ihr artikulierten Sehnsucht nach Reife und Erlösung, die sich in der kairologischen Ankunftserwartung verdeutlicht. Die Zeit scheint in der Villa still zu stehen, doch ist die Szene durch den ›kairos‹ auf eine Entscheidung hin perspektiviert. Diese Spannung aus interner Zeitenthobenheit und kairologischer Linearität wird erst am Schluss gelöst – durch die Petrifizierung der Fürstin, die eine Entzeitlichung bedeutet. 85 Anders Neumann, der den Text in ein um 1900 im Drama vielfach anzutreffenden Kampf des weiblichen Subjekts mit seinem Begehren einordnet (vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 179f.).
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hingleiten soll man wie ein sanfter Nachen und Horchen auf des eignen Kieles Spiel. (WF 206)86
Signifikant ist dabei die Bootsmetaphorik, die auf ein Die weiße Fürstin durchziehendes Motivnetz von Meer, Himmel und Traum vorausdeutet. Die symbolische Bedeutung des Meeres ist hier, anders als noch in Rilkes Spiel, nicht lebensphilosophisch als Ort der All-Verbundenheit aller Wesen aufzufassen, sondern stellt den Raum der Selbstbespiegelung des Ich dar: »Die Welt ist groß, doch in uns wird sie tief / wie Meeresgrund.« (WF 209). Die Verknüpfung von Meerund Traummotiv zeigt ein Schlüsselmonolog der Fürstin. Der Traum wird von der Titelfigur als das wahrere Leben imaginiert (WF 208), der sie von der Gegenwart ihres Ehemanns in die Einsamkeit erlöst (WF 223). Die so gewonnene Einsamkeit bildet während des Monologs die Grundlage dafür, aufs Meer hinauszublicken, wo die Fürstin ein Boot ausmacht, dessen Fahrt sie parallelisiert mit dem Mond, auf dass sich beide zu berühren scheinen: »Mit einem senkte sich der Himmel näher, / und durch das andre ward die Weite weit.« (WF 224) Signifikant ist nun, dass die Fürstin die Bootsfahrt auf dem Meer kausal an sich bindet und ins Traumhafte versetzt: »Mir war, als ginge dieses von mir aus, / was sich so traumhaft durch den Raum bewegte« (ebd.). Daran schließt sich im Monolog die erträumte Erfüllung ihres Erweckungswunsches durch den Fremden an. Die textuelle Nähe und die sprachliche Vernetzung von Meer, Himmel und Traum weisen darauf hin, dass mithilfe der Verflechtung dieser Motive die Wahrnehmungsweise der Fürstin reflektiert wird: In dem Motiv der Bootsfahrt auf dem Meer wird ein Zustand vollkommener Abgeschlossenheit vom Außen mit der Möglichkeit der Wunscherfüllung durch die eigene, grenzenlose Imagination verbunden – was die konkrete Ankunft eines Fremden mit einem Boot (WF 213) verunmöglicht.87 Wie stark diese Motivverbindung wiederum auf die Villa bezogen ist, zeigt erstens das zu Beginn angedeutete Spiegelverhältnis zwischen ihr und der Meereszone (»Die Villa spiegelt den Himmel und die Weite des Meeres.«, WF 203) und zweitens der Umstand, dass am Schluss die Villa durch die untergehende Sonne illuminiert wird (WF 230) und gerade dort der letzte Vorgang des Einakters (das Winken der kindhaften Figur aufs Meer hinaus) stattfindet, ehe völlige Dunkelheit hereinbricht. Das Verlangen der Fürstin nach Unberührtheit von Alterität wird schon zu Beginn der Szene deutlich, wo sie Amadeo nicht aus Güte bittet, zu seinen Enkeln zu reisen, sondern, um allein sein zu können. So fordert sie von ihm: »Sende alle 86 Anmerkung: In Rilkes Text werden die Versanfänge nicht groß geschrieben, sofern das grammatisch sonst nicht geschähe. 87 Vgl. ähnlich: Neumann: Ankunft des Fremden, S. 183. Zudem weist Stephens darauf hin, dass hier das Fin de Siècle-Phantasma einer narzisstischen Vollkommenheit im Traum aufgegriffen und desavouiert wird (vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 282).
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fort, mach mir die Säle leer, / daß keiner mir begegne in den Gängen« (WF 205). Ihr Verlangen ist so stark, dass sie auch ihre Schwester wegzuschicken versucht (ebd.). Das allerdings ist schon dramaturgisch unmöglich, weil durch diese Spiegelfigur die Verweigerungshaltung der Fürstin erst dramatisierbar ist. Denn: Die im Stück angelegte Tendenz zur Erstarrung der Titelfigur bleibt nicht ohne Herausforderung. Als diese Herausforderung fungieren nämlich die männlichen Figuren im Stück. Die weiß gekleidete Fürstin (WF 203), die sich die gesamte Spielzeit im Garten oder auf der Terrasse aufhält, wird konfrontiert mit vier männlichen Figuren, von denen der Haushofmeister Amadeo (ebd.) sowie die beiden Mönche explizit als schwarz gekleidet (WF 230) bezeichnet werden und deren Auf- und Abtritte eine Dynamik bedeuten, die die Fürstin und ihre Schwester nicht besitzen. An diesen Figuren zeigt sich zudem, dass die Behauptung, die Villa und ihre Umgebung (Terrasse und Garten) markiere einen »weißen hortus conclusus«88, zumindest ungenau ist. Zwar wird sie von der Fürstin nicht verlassen, doch transzendieren die männlichen Figuren die Grenzen der Villa. Überdies bemerkt der Bote explizit die Offenheit des Szenenraums: »Ihr seid so unbewacht. Das ist nicht recht. / Der Park ist offen wie des Herrgotts Land, / und hier am Strand kann ein jeder gehen.« (WF 218). Amadeo, den die Fürstin anweist, das Haus zu verlassen, der Bote, der von einer Epidemie im Land berichtet und die Mönche mit ihren Masken werden durch ihre (bühnenspezifische) Transzendierungsfähigkeit, ihre Kostümierung und ihr Geschlecht als Andere markiert. Es wäre aber verfehlt, die männlichen Figuren als vollgültige ›Charaktere‹ zu verstehen. Vielmehr fungieren sie als Informationsträger, man könnte sagen: als personifizierte Medien. In ihnen offenbart sich eine über die Vorführung misslingender Kommunikation89 hinausreichende medien- und kommunikations-, ja letztlich ›semiokritische‹ Dimension des Textes. Das wird durch die Boten-Figur am deutlichsten. Schon durch die Bezeichnung ›Bote‹ als Medium funktionalisiert, überbringt er einen Brief, den die Fürstin nicht liest. Sie behauptet, sie wisse schon, was in ihm stehe: Die Nachricht von der Ankunft des Fremden. Die briefliche Ankündigung wird von ihr angesichts ihrer eigenen Wahrnehmungssensibilität als überflüssig bezeichnet: Ist mein Blut denn blind? Und noch ein Bote. Hundert Boten habe ich heute schon empfangen. Duft und Wind, Gesang und Stille, fernes Wagenrollen, ein Vogelruf, und du, dein Bleibenwollen – was war nicht Bote? (WF 213) 88 Blasberg: Fragen an Rainer Maria Rilkes Texte um 1900, S. 407. 89 Vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 184.
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Ihre – wie gezeigt aus der Imagination geborene – Ausrichtung auf die Ankunftserwartung sorgt dafür, dass die Fürstin den Botenbericht von einer im Umland grassierenden Epidemie nicht wie ihre Schwester als ethischen Appell auffasst90 und ihre eigene Existenzweise nicht wie diese hinterfragt91, sondern die Referentialität der Worte durch Verweis auf seine Poetizität92 aufhebt und damit zugleich die Alterität des Todes unterläuft: Sie sagen: Tod, doch hör, wenn ich es sage: Tod – ist es dann nicht wie aus anderm Klang? Nur ausgelöst, vereinzelt macht es bang. Nimm sie im ganzen – alle, als das Deine die vielen Worte, nimm sie in Gebrauch: – nur wo sie alle bis ins Ungemeine und Große wachsen, wächst das eine auch. (WF 220f.)
Die Aneignungsbewegung, die die Fürstin hier unternimmt, ist unmittelbar einsichtig: Anstatt den Tod als eine fremde Realität anzuerkennen, wird das Wort in den eigenen Sprachraum ›eingemeindet‹ und verliert damit seine referentielle Wucht.93 Dies ist freilich ein Verfahren, das von Monna Lara erkannt und abgelehnt wird: »Doch nicht um Worte handelt sichs: sie sterben.« (WF 221). Scheinbar geht die Fürstin auf das Flehen ihrer Schwester, zu helfen, ein. Doch genau besehen vollzieht selbst ihre Ankündigung karitativer Tätigkeit eine Ästhetisierung, durch die fremden Dinge zu ihren eigenen gemacht werden (WF 222). Auch der Umstand, dass sie ihre Hilfe auf ein Morgen verschiebt, die Tätigkeit also nach der bevorstehenden Entscheidungssituation aufzunehmen beabsichtigt, lässt an der Aufrichtigkeit ihres Umdenkens zweifeln. Die Nachricht vom im Umland der Villa grassierenden Tod, die der Bote überbringt, fungiert lediglich als Aufweis der Weigerung der Fürstin, vom Primat ihrer Imagination abzulassen und einen permanenten Weltkontakt zu etablieren. Ein solcher Weltkontakt erscheint als gefährliche Selbstentäußerung, die von den Mönchen symbolisiert sind. Der Bote führt diese ein und beschreibt sie als ambig – sie dienen der Gemeinschaft, indem sie die Toten aus den Häusern holen und bestatten, doch fungieren sie gleichzeitig als Botschafter des Todes, von denen man 90 Vgl. Ritzer: Die weiße Fürstin, S. 283. 91 »[I]ch ahne jetzt, daß das Leben droht. / Daß das nicht Leben war, das sanfte Sein, / das sich mir bot« (WF 220). 92 Vgl. auch: »[I]ch ließ ihn immer weiter reden, / mir klangs von ferne wie ein Instrument.« (WF 217). 93 Vergleiche auch die etwas spätere Replik der weißen Fürstin, in dem sie Tod und Leben entdifferenziert: Sieh, so ist Tod im Leben. Beides läuft so durcheinander, wie in einem Teppich die Fäden laufen; und daraus entsteht für einen, der vorübergeht, ein Bild. (WF 225).
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sich freikaufen muss (WF 218f.).94 Ihr Auftreten am Schluss des Einakters dient also nicht der Übermittlung einer Botschaft – sie sind selber die Botschaft, oder präziser: Ihre Botschaft ist es, Botschaft zu sein. Um das zu verdeutlichen, muss man sich die räumliche Anordnung des Schlusses vergegenwärtigen: Während die Fürstin allein auf der Terrasse stehend auf die Ankunft des sich auditiv ankündigenden Bootes wartet, erscheinen die Mönche und gehen »den Strand entlang […] bis an den Anfang der Allee« (WF 230). Ihre bloße Anwesenheit sorgt dafür, dass die trichterförmige Mittelachse (breite Treppe, Allee, Landungssteg), die auf das Meer hinausweist, unterbrochen wird, woraufhin die Fürstin erstarrt. Die Mönche modifizieren die Schwellenzone des Strandes: War sie vor ihrem Auftritt die sichtbare Grenze zwischen dem ›onstage‹ der Villa und dem ›offstage‹ des Meeres (das ja nur als kleiner Küstenstreifen szenisch präsent ist und auf die undarstellbare Weite des Meeres verweist), ist sie nun eine undurchdringliche Barriere geworden. Die schwarz gekleideten Figuren versperren der weißen Fürstin somit den Zugang zum Meer, durch ihre Situierung am Anfang der Allee verstopfen sie gleichsam den Trichter, der räumlich von der Fürstin zum Meer führt. Der farbliche Kontrast der Figuren hat in der Forschung die Vermutung aufkommen lassen, dass mit dem Kontrast von schwarz und weiß der Kontrast des Schrifttextes aufgegriffen werde.95 Semiotisch gewendet würde das bedeuten, dass bereits die schiere Präsenz von Zeichen ›onstage‹ das »Horchen auf des eignen Kieles Spiel« (WF 206) der Fürstin verunmöglicht. Dieser Gedanke wird gestützt durch die oben erwähnte medienkritische Dimension des Textes. In der Ablehnung, den Brief zu lesen und in der Entreferentialisierung der vom Boten überbrachten Todesnachrichten zeigt sich die Abwehr einer spezifischen Form von Informationsübermittlung – nämlich einer auf Sprache gestützten. Von der Ankunft des Fremden hat die Fürstin bereits durch eine idiosynkratische Lektüre der natürlichen Zeichen um sie herum Kenntnis gewonnen. Die künstlichen Zeichen der Sprache, die Zeichen, die Zirkulation und Konventionalität bedeuten, lehnt sie hingegen ab, weil sie sie in einen die eigene Verschließung transzendierenden Weltkontakt zwingen. In dieser Hinsicht ist es auch nicht zufällig, dass der Bote von einer Epidemie und von einem davon ausgehenden kollektiven Erweckungserlebnis bei einer Messe (WF 216f.) berichtet: Bei beidem, Krankheit wie (kirchlichem) Glauben, handelt es sich im weiteren Sinne um Medien, insofern sie zwischen Individuen eine Verbindung herstellen; überdies stellen sie Kanäle dar, die etwas übertragen, was dem Zugriff und der Kontrolle des Einzelnen entzogen ist. Es ist diese Eigenschaft von konventionalisierten 94 Das durch die Tätigkeit der Mönche angedeutete altruistische Moment der Religion wird somit in ein semiotisches Problem überführt und problematisiert: Zwar ist ihr Verhalten »barmherzig« und »christlich gut«, doch impliziert ihre Anwesenheit gewissermaßen metonymisch die Präsenz dessen, worum sie sich kümmern: den Tod. 95 Vgl. Blasberg: Fragen an Rainer Maria Rilkes Texte um 1900, S. 405.
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Zeichen, die die Fürstin in Gestalt der Mönche perhorresziert. Und es sind präzise die Mönche als Zeichen einer Alterität, die die Fürstin von der absoluten Selbstbespiegelung einer narzisstischen Wunscherfüllung96 abhalten. Der Solipsismus der weißen Fürstin, der sich als selbstgenügsame Selbstbespiegelung dargestellt hat, wird durch die Ankunft von Zeichen – die immer schon fremde Zeichen sind – desavouiert. Sie ist damit nicht mehr in der Lage, selbst autonom gesetzte Zeichen zu geben: Das Winken misslingt ihr. Dass das kindhafte Wesen am Schluss eben das Zeichen gibt, das der Fürstin nicht mehr gelingt (WF 231), zeigt dann zweierlei: erstens, dass ein der Fürstin verwandtes jüngeres Wesen97 noch dazu in der Lage ist, dieses Zeichen zu geben; zweitens, dass in der explizit gemachten Ambiguität des Zeichens als Begrüßungs- und Abschiedswinken die Unkontrollierbarkeit der konventionalisierten Zeichenübertragung ein letztes Mal sinnfällig gemacht wird. Außerdem werden somit anstelle von sprachlichen Zeichen gestische verwendet, was dem Schluss pantomimischen Charakter verleiht und die Skepsis gegenüber Sprache als adäquatem Kommunikationsmittel szenisch realisiert. Dieser – wenn man so will semiokritische – Solipsismus der Fürstin wird schließlich durch das Motiv der Versteinerung sinnfällig gemacht – und verräumlicht. So fällt auf, dass sich sowohl auf der Terrasse, als auch im Garten neben der Steinbank, an der sie zu Beginn des Einakters steht, Statuen befinden (WF 203). Dass die Fürstin auf die der erträumten Vereinigung mit dem Fremden folgenden – wiederum imaginierten – Zudringlichkeit desselben mit Erstarrung reagiert (sie bezeichnet sich selbst einmal als »hart wie eine Steinfigur«, WF 224), und dass der Strand, über den die Mönche auftreten, von deren Anblick sie vom Winken abgehalten wird, explizit als »[s]teiniger Strand« (WF 203) bezeichnet wird, deuten weiter auf die Signifikanz der Petrifizierung hin. Am deutlichsten wird die szenische Realisierung der Versteinerungsmotivik jedoch am Schluss. Die Fürstin steht allein auf der Terrasse, und es gelingt ihr nicht zu winken, so dass die letzten sie betreffenden Worte lauten: »Die Fürstin rührt sich nicht mehr.« (WF 230). Sie hat sich somit den die Terrasse einfassenden Statuen angeglichen und ist, gleich ihnen, versteinert, womit ihre Versteinerung, die das Stück zum Thema hatte, veräußerlicht wurde. An ihrer Figur hat sich realisiert, was die Fürstin selbst dem Traum zugeschrieben wird: »Und die Zeit ist Raum.« (WF 211). Der Unwillen, Kontakt zur Welt aufzunehmen, ist mit Versteinerung, also ›Entlebendigung‹ bezahlt worden. An der Fürstin vollzieht sich also eine Verschließungsbewegung, die aber ihrerseits den Kontakt zum eigenen Imagi96 Vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 282. 97 Es ist offenkundig eine kindhafte Gestalt, die am Fenster steht. Außerdem ist es sehr plausibel, dass man in diesem Wesen Monna Lara zu denken hat – da sie die einzige Figur ist, die sich in der Villa aufhält (vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 185).
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nationsraum unterbindet.98 Die am Strand auftauchenden Mönche verkünden somit nicht einen fremden Tod, sondern das Ersterben eines Bewusstseins, das sich der Alterität verweigert. Ästhetisch bedeutet dies, dass das (sprachfixierte) Drama zum (theatralen) Tableau99 geworden ist – so dass am Schluss nicht die Homogenisierung von Raum und Zeit steht100, sondern Raumkunst. Die Entzeitlichung des Dramas ist damit zugleich ein Abschied von der mittels Kommunikation Alterität übermittelnden Sprache. Der radikale Solipsismus der Fürstin resultiert somit in einem eigenen Absterben, einer Petrifizierung, die die letzten Spurenelemente dramatischen Geschehens im Text verunmöglicht. Es ist keine Übertreibung, wenn man das Endes des Stückes als Parallelisierung subjektiven Sterbens mit der szenischen Realisierung des ›Sterbens‹ – der Verunmöglichung – der dramatischen Form beschreibt. Somit erweist sich einmal mehr, dass die symbolistisch programmierte Abstraktion im Drama diese Gattung nicht einfach zu ihrem Ende führt, sondern in der metadramatischen Problematisierung der Form auch davon unberührte Aspekte, etwa subjektsemantische, auf symbolische Weise darstellbar werden.
2.1.3 Subvertierung des gespaltenen Ich: Evreinovs In den Kulissen der Seele / V kulisach dusˇi von 1912/1920 Vor der Folie von Nikolai Evreinovs theatertheoretischen Schriften und theaterpraktischen (Regie- und Direktorial-) Arbeiten erscheint das 1912 entstandene und uraufgeführte Stück In den Kulissen der Seele101 als ein Ärgernis. 98 99 100 101
Vgl. Neumann: Ankunft des Fremden, S. 185. Vgl. ebd. Vgl. Stephens: Das Janusgesicht des Momentanen, S. 286. Ich folge hier dem von Lukanitschewa gemachten Vorschlag, den Titel, anders als Franz Theodor Csokor, nicht mit »Die Kulissen der Seele« zu übersetzen, sondern mit In den Kulissen der Seele (Lukanitschewa, Swetlana: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance. Tübingen 2013, hier: S. 148). Dennoch folgen die Zitate im Text der Übersetzung von Csokor, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie mit dem Autor abgesprochen war, sondern auch, weil sie die Vorlage für die deutschsprachige Erstaufführung am 27.4. 1920 an der Wiener Renaissancebühne geboten hat und hiermit ihre Inklusion in den Zusammenhang dieser Dissertation legitimiert (vgl. MüllerScholle, Christine: Das russische Drama der Moderne. Frankfurt a.M. 1992, S. 35). Mit der Sigle (KuS) werden die Zitatstellen im Text nachgewiesen nach: Evreinoff [!], Nikolaj Nikolajewitsch: Die Kulissen der Seele. Monodrama. Deutsch von Franz Theodor Csokor. Wien 1920. Auf die Anführung des russischen Originals in den Fußnoten wird verzichtet, was an der mangelnden Sprachkompetenz des Autors dieser Arbeit im Russischen liegt – aber auch daran, dass um 1900 der Text im deutschsprachigen Gebiet lediglich in Übersetzung rezipiert worden ist (der russische Text findet sich in Evreinov, N[ikolai] N[ikolaievicˇ]: V kulisach dusˇi. In: Ders.: Dramaticˇeskie socˇinenia. 3 Bände. Band 3. Petersburg 1923, S. 31–41. Zum Vergleich wird stattdessen unter der Sigle (TS) eine englischsprachige Übersetzung heran-
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Während der jenseits der Theaterwissenschaften102 nach wie vor kaum bekannte russische Theateravantgardist gerade in neuerer Zeit als einer der russischen Exponenten des Postulats einer Retheatralisierung des Theaters um 1900 Aufmerksamkeit erhalten hat103, sind seine Dramen jenseits der Slawistik104 bislang weitestgehend unberücksichtigt geblieben.105 Das von ihm in einer Reihe von Schriften von 1908 an vorgestellte und variierte Konzept der »Theatralität« (»teatral’nost«) erhebt das Theaterspielen zu einer »positiv besetzten anthropologischen Kategorie«106, dessen transformative Kraft den Einzelnen befähigt,
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gezogen, die Christopher Collins 2012 nach seiner Ausgabe von 1973 erneut herausgegeben hat: Evreinov, Nikolai: The Theatre of the Soul. A One-Act Monodrama as Prologue. In: Ders.: Theater as Life. Five Modern Plays. Translated from the Russian by Christopher Collins. New York 2012, S. 21–32. Bereits in den 1980er Jahren hat Carlson Evreinov als ersten wichtigen Theoretiker der »interpenetration of theatre and life« bezeichnet (Carlson, Marvin: Theories of the Theatre. A historical and critical survey from the Greeks to the present [1984]. Expanded edition. Ithaca, NY [u. a.] 1994, S. 481). Vgl. neuerdings auch das Nachwort von Sasse in einer Anthologie von Evreinovs theatertheoretischen Schriften: Sasse, Sylvia: Appetit auf Theater. In: Evreinov, Nikolaj: Theater für sich. Hgg. und mit einem Nachwort von Sylvia Sasse. Übersetzt aus dem Russischen und kommentiert von Regine Kühn. Zürich 2017, S. 467–492. Hierzu vgl. besonders die im Umkreis des von E. Fischer-Lichte geleiteten Instituts für Theaterwissenschaft der FU Berlin entstandenen Arbeiten von Swetlana Lukanitschewa: Lukanitschewa, Swetlana: Vom Sagbaren zum Sichtbaren. Das Monodrama-Konzept von Nikolai Evreinov im Kontext theatraler Wirkungsästhetik des frühen 20. Jahrhunderts. In: Röttger, Kati (Hg.): Welt – Bild – Theater. Band 2: Bildästhetik im Bühnenraum. Unter Mitarbeit von Anne Rieger. Tübingen 2012, S. 153–165 und Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov sowie das Evreinov-Kapitel in: Kossmann, Stephan: Die Stimme des Souveräns und die Schrift des Gesetzes. Zur Medialität dezisionistischer Gestimmtheit in Literatur, Recht und Theater. Paderborn 2012, hier: S. 232–254. Vgl. außerdem diese früheren Arbeiten: Golub, Spencer: Mysteries of the Self. The Visionary Theatre of Nikolai Evreinov. In: Theatre History Studies 2 (1982), S. 15–35 und Carnicke, Sharon Michael: The Theatrical Instinct. Nikolai Evreinov and the Russian Theatre of the Early Twentieth Century. New York 1989. Vgl. neuerdings auch das Nachwort von Sasse in einer Anthologie von Evreinovs theatertheoretischen Schriften: Sasse, Sylvia: Appetit auf Theater. In: Evreinov, Nikolaj: Theater für sich. Hgg. und mit einem Nachwort von Sylvia Sasse. Übersetzt aus dem Russischen und kommentiert von Regine Kühn. Zürich 2017, S. 467–492. Die zweite in dieser Fußnote aufgeführte Arbeit von Lukanitschewa führt im Literaturverzeichnis überdies russischsprachige Arbeiten zu Evreinov an, die aufgrund der Sprachkompetenzgrenzen des Verfassers jedoch leider unberücksichtigt bleiben mussten (vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 353–367). Die eingehende Beschäftigung Müller-Scholles mit dem Text lässt in ihrer Emphase allerdings darauf schließen, dass der Text auch in der Slawistik nur Spezialisten bekannt ist, was die Autorin damit begründet, dass Evreinov aufgrund seiner Emigration 1925 nach Paris für die sowjetische Forschung Anathema war (vgl. Müller-Scholle: Das russische Drama der Moderne, S. 35–42, bes S. 35 sowie die Literaturhinweise auf S. 185). Die Klage von Collins über die Vernachlässigung des Dramatikers Evreinov hat noch immer Bestand (vgl. Collins, Christopher: Nikolai Evreinov as a Playwright. In: Russian Literature Triquarterly 2 (1972), S. 373–398, hier: S. 373f., wiederabgedruckt in: Evreinov: Theater as Life, S. XI–XXVI). Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 341.
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durch permanente alltagsweltliche Selbstinszenierung zur Entgrenzung seiner Individualität zu gelangen. Evreinov war also an dem avantgardistischen Projekt einer Entdifferenzierung von Kunst und Leben beteiligt, was sich bei ihm in der Forderung nach einer Theatralisierung des Lebens niederschlug.107 Auch der 1908 im »Literarisch-Künstlerischen Zirkel« des Symbolisten Brjusov in Moskau gehaltene Vortrag »Die Einführung ins Monodrama«108 offenbart ein Konzept von Monodramatik, das in seinem engen Bezug auf aktuelle ästhetische und psychologische Forschung genuin modern anmutet. Mehr noch lässt sich der Vortrag als zeitgenössische Konzeptualisierung der in diesem Kapitel behandelten Verräumlichung des Ich bezeichnen. Evreinov polemisiert in dem Vortrag gegen das von Stanislawskij vertretene Literaturtheater und fordert auch hier die Entgrenzung von Schauspielern und Zuschauern sowie die Evokation einer besseren statt der Mimesis der gegebenen Wirklichkeit.109 Er argumentiert dabei wirkungsästhetisch und bezieht sich auf die Schrift des Philosophen Karl Groos. So beschreibt er als im Drama zu verwirklichenden Kern ästhetischen Erlebens, »wenn ich selber an dem Geschehen auf der Bühne quasi teilnehmen kann, d. h. mich in eine illusorisch handelnde Person […] verwandele.«110 Er imaginiert somit keine Abkehr vom identifikatorischen Rezeptionsmodus des Zuschauers, sondern radikalisiert ihn, indem er, im Rückgriff auf die Gefühlspsychologie Théodule Ribots, eine totale Identifikation des Zuschauers mit der auf der Bühne handelnden Person fordert.111 Da Evreinov aus wahrnehmungsökonomischen Gründen skeptisch ist, ob sich der Zuschauer in mehr als eine Person derart total einfühlen kann112, sieht er es als folgerichtig an, dass das neue Drama die Perzeptionen und Gefühle eines – und nur eines – Subjekts szenisch darzustellen habe. Die szenische Perspektivierung 107 Evreinov hat in seiner berühmten Re-Inszenierung des Sturms auf das Winterpalais 1920 versucht, die durch den Einsatz von Statisten-Massen (Golub spricht von »some ten thousand performers«) und durch starke Abstraktion ein Theaterereignis zu schaffen, das die Differenz von Akteuren und Zuschauern aufhebt (vgl. Golub: Mysteries of the Self, S. 28–31, Zitat S. 28). Diese Versuche, sich den sowjetischen Machthabern anzunähern, wurden freilich durch die Mitte der 1920er Jahre einsetzenden Verschärfung der ästhetischen Direktiven zunichte gemacht und sorgten 1925 für Evreinovs Exilierung nach Paris und für eine ›damnatio memoriae‹ der sowjetischen Forschung, die zumindest teilweise die Exklusion Evreinovs aus dem theateravantgardistischen Kanon zu erklären vermag (vgl. ebd., S. 15 u. Carnicke: The Theatrical Instinct, S. 1f.). 108 Evreinov, Nikolai: Vvedenije v monodramu [1909]. In: Ders.: Demon teatral’nosti. Moskau / St. Petersburg 2002, S. 99–112. Die deutschen Zitate beziehen sich auf die Übersetzungen von Lukanitschewa und werden danach zitiert. 109 Zum Bezug Evreinovs auf Konzepte des russischen Symbolismus vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 53–61 sowie bes. S. 137. 110 Zit. n.: Lukanitschewa: Vom Sagbaren zum Sichtbaren, S. 162 (Evreinov: Vvedenije v monodramu, S. 99). 111 Vgl. ebd., S. 162f. 112 Vgl. ebd., S. 163 (Evreinov: Vvedenije v monodramu, S. 101).
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auf ein handelndes Subjekt solle so weit gehen, dass in dem Falle, in dem das dargestellte Ich die Augen schließt, die Bühne dunkel werden soll.113 Lichtregie sowie Kostüme, Maske und Mimik der Schauspieler sollen die sich stets transformierende emotionale Verfassung des Subjekts sinnfällig machen.114 Das Monodrama im Sinne Evreinovs zielt also darauf, »dem Zuschauer in vollem Umfang die mentale Verfassung einer Person zu vermitteln«115, »den Zuschauer quasi auf die Bühne zu versetzen, es zu erreichen, dass er sich in der Tat als Handelnder fühlt.«116 Dass dieses Konzept bemerkenswerte Parallelen zu Edward Gordon Craigs in seiner Moskauer Hamlet-Inszenierung realisierten Verlagerung der Handlung ins Innerpsychische der Titelfigur besitzt117, ja, dass es eine personelle Nähe zwischen beiden gibt118, schürt für die um 1910 entstandenen Monodramen Evreinovs119 im Hinblick auf ihre theatrale Modernität große Erwartungen, zumal tatsächlich beide getreu des Monodrama-Konzepts den psychischen Innenraum eines Individuums dramatisieren. Jedoch: Die Enttäuschung ist Bayerdörfers Verweis auf das Monodrama deutlich anzumerken, wenn er die um ein in drei Figuren aufgesplittetes Ich kreisende Handlung ins Trivialdramatische verbannt. Es sei offensichtlich, daß die unmittelbare Umsetzung des psychoanalytischen Befunds in eine dramatische Devise hier zu einer trivialisierten Handlungsdramaturgie zurückführt. Die alte Dialogform samt ihren Implikationen wird den personifizierten Seelenteilen übergestülpt, psychische Prozesse verlieren ihre Besonderheit. Im konventionellen Kampfgespräch der abstrakten Seelenfiguren spricht die Seele nicht mehr, und die Identifikationsmöglichkeit des Zuschauers scheint gegenüber alter Personendramatik eher verringert zu sein.120 113 Vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 141 (Evreinov: Vvedenije v monodramu, S. 111). 114 Vgl. ebd. 115 Zit. n.: Lukanitschewa: Vom Sagbaren zum Sichtbaren, S. 164 (Evreinov: Vvedenije v monodramu, S. 102). 116 Zit. n.: ebd. (Evreinov: Vvedenije v monodramu, S. 110). 117 Vgl. ebd., S. 159–165. 118 So wurde In den Kulissen der Seele bereits 1915 und 1916 auf mehreren Londoner Bühnen von Edith Craig, der Schwester des Theateravantgardisten, inszeniert (vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 147, FN 432). 119 Neben dem hier analysierten Text handelt es sich dabei um »Die Vorstellung der Liebe« (»Predstavlenije ljubvi«, 1909 veröffentlicht), der eine unglückliche Liebe aus der Perspektive des Liebenden dramatisiert (vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 142–146). Auch dieses Stück wurde von Csokor ins Deutsche übersetzt und ist unter dem Titel »Phantasmagorie der Liebe« 1926 in Breslau uraufgeführt worden, wobei die von Lukanitschewa angeführten Rezensionen ein gewisses Interesse für das Konzept der Verräumlichung des Bewusstseins erkennen lassen (vgl. ebd., S. 145f., FN 427). 120 Bayerdörfer: Form- und problemgeschichtliche Beobachtungen zu Monolog und Monodrama im 20. Jahrhundert, S. 544.
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Die folgende Analyse will hingegen zeigen, dass eine Übertragung von Evreinovs Monodrama-Konzept auf In den Kulissen der Seele letzterem nicht gerecht wird und überdies übersehen lässt, worin der Text, alles Farcenhaften zum Trotz, durchaus eine gewisse Komplexität erreicht. Bereits der Prolog irritiert: In ihm tritt ein »Professor« auf die Bühne und versichert dem Publikum, dass es sich bei dem Stück nicht um einen der »theatermäßigen, leicht geschürzten Schwänke« (KuS 9, TS 25) handle, sondern »um eine streng wissenschaftliche Arbeit […], welche den modernsten Resultaten der empirischen Psycho-Analyse völlig gerecht wird« (ebd.). Er erwähnt explizit Freud, Wundt und Ribot121 sowie Fichte [!], um schließlich an einer Tafel zu erweisen, dass das Ich, von ihm mitunter auch als »Seele« oder »Individuum« bezeichnet, kein einzelnes, sondern ein »dreifaches ›Ich‹« sei, und zwar geteilt in ein vernünftiges, ein gefühlsmäßiges und ein unsterbliches Ich (ebd.). Schon diese Dreiteilung dürfte deutlich machen, dass hier keine freudianischen Theorien dramatisiert werden. Vielmehr handelt es sich um eine Satire auf Wissenschaftlichkeit, was in der komplizierten Herleitung und dem der Vorlesungsrhetorik entnommenen »Sie verstehen?« (das im Prolog immerhin sechsmal vorkommt, vgl. KuS 9–11, TS 25f.) deutlich wird. Ganz unmissverständlich ist die satirische Absicht des Prologs dann, wenn der Professor den Ort der »einzelnen Teile dieses ›Gesamt-Ichs‹« im menschlichen Körper lokalisiert und das im Stück dramatisierte Individuum identifiziert: Im Resumee des Ebenerläuterten stelle ich mir demnach die Kulissen folgendermaßen vor (Er zeichnet mit Farbenkreiden das Bild, welches er dann erklärt): Über dem aufgewölbtem Zwerchfellbogen hängt links an Aorta und Vene das große Herz, das zirka 60 bis 125 Mal pro Minute schlägt. Links und rechts von ihm arbeiten die Lungenflügel. Sie füllen sich 14 bis 18 Mal in der Minute. In der Mitte des Hintergrundes steigt die Wirbelsäule auf, von der die Rippen ausstrahlen. Unten sehen Sie an ihr ein Telephon in gelber Nervenfarbe; es führt in das Gehirn. Schräg nieder auf das Zwerchfell laufen wie Harfensaiten die fahlen Nervenfäden. Das ungefähr also, meine Damen und Herren, ist der Schauplatz der dreigeteilten Seele des großen mißgelaunten Individuums, um das es sich hier handelt, irgendeines Herrn Iwanow, der sich in einem für einen anständigen Charakter ungehörigen Milieu, beispielweise einem Tanzlokale oder ähnlichem befindet und betrinkt. Sie verstehen? (KuS 10, TS 25f.)
Die Szene wird dann exakt dasjenige darstellen, was der Professor aufgezeichnet hat. Bemerkenswert ist überdies die Bezeichnung des hier ironisch als großes Individuum eingeführten Subjekts als »irgendeines Herrn Iwanow« (ebd.) – was
121 Théodule Ribot ist in der deutschen Fassung als »Theophil Ribeau« aufgenommen, was bereits auf den uneigentlichen Charakter des Prologs hindeutet (vgl. KuS 9). Es ist denkbar, dass das eine Idee des Übersetzers Csokor war, da der Name in der englischen Übersetzung korrekt geschrieben ist (TS 25).
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in der Wahl des Namens (ein Allerweltsname) und der ausgestellten Unbestimmtheit auf die Schlusspointe des Textes vorausweist. Der Umstand, dass die Szene die Vorgänge im menschlichen Körper ›mimetisch‹ darstellt – so wird etwa auch das Schlagen des Herzens und das Arbeiten der Lungenflügel simuliert (KuS 11, TS 26) – und nicht zuletzt die exaltierten Kostüme der Widersacher »Verstandes-Ich« und »Gefühls-Ich« (das dritte, »unsterbliche Ich« nimmt als schläfriger Reisender kaum an ihrem Konflikt teil), belegen die These, dass es in diesem Monodrama stärker um die visuelle Komponente, den Schauwert einer Darstellung des menschlichen ›Innenraums‹ geht als um eine getreue Dramatisierung von Bewusstseins- oder eigener theaterästhetischer Theorien.122 Immerhin findet sich eine Idee aus dem MonodramaVortrag realisiert: Nachdem der Verstand dafür gesorgt hat, dass sich das Subjekt zur Beruhigung der Nerven Brom einflößt, reagieren darauf sowohl die Figuren wie die Szenenelemente: »Die nächsten Dialogstellen tragen einen durch das Brom merklich besänftigten Charakter; das Herz arbeitet normal und das dritte ›Ich‹ scheint noch tiefer zu schlafen.« (KuS 13123). Während der Szene streiten sich allegorisch Verstand und Gefühl um die Herrschaft über das Handeln des »Herrn Iwanow«. Herr Iwanow hat sich in eine Sängerin verliebt und schickt sich an, seine Frau und sein Kind zu verlassen. Auch dieser Konflikt wird figural repräsentiert124: Zunächst lässt das »Gefühl-Ich« eine idealisierte Version der Geliebten erscheinen, worauf »das Verstandes-Ich« mit einer »groteske[n] Karrikatur« [!] dieser Person kontert (KuS 14f., TS 29). Umgedreht imaginiert der Verstand die Ehefrau als »madonnenhaft schöne Erscheinung«, während das Gefühl sie als »arrogante, kleinbürgerliche Person« präsentiert (KuS 16, TS 30). Das in dieser Konstellation schon überaus deutliche burleske Element wird noch dadurch gesteigert, dass sich die Fantasiegestalten zu prügeln beginnen, was »unter dem lauten Schlagen des Herzens [geschieht], das wie im Todeskampf zuckt« (KuS 18, TS 31). Schließlich greift das »VerstandesIch« in den Kampf ein, indem er der Sängerin eine Ohrfeige gibt, woraufhin er vom »Gefühls-Ich« erwürgt wird (ebd.). Angesichts der marienhaften Ehefrau von Schuldgefühlen gepackt, fordert das »Gefühls-Ich« Iwanow dazu auf, sich zu erschießen, was auch geschieht und wonach das »Gefühls-Ich« folgendes Ende ereilt: »Im Herzen bildet sich ein großes klaffendes Kreisloch, aus dem rote Bänder 122 Vgl. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 148. Das Stück als didaktisches »Lehrstück« [!] zur Vermittlung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu interpretieren, ist dagegen, wie zu zeigen sein wird, abwegig (Müller-Scholle: Das russische Drama der Moderne, S. 36). 123 In der neueren englischen Übersetzung sind es Baldriantropfen, die Iwanow eingeflößt werden, und auf den Verweis auf die Nervenberuhigung im Nebentext wurde verzichtet (TS 27). 124 Vgl. ebd., S. 151.
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Blutes – breite Seidenserpentinen – auf das ›zweite Ich‹ herabfließen, das unter dem Herzen zusammengebrochen ist und sich sterbend in die Flut des Blutes windet« (KuS 19, TS 32). Die Pointe des Stücks besteht schließlich darin, dass nach dessen Ableben ein Schaffner auftritt, der das verschlafene, unsterbliche Ich zum Umsteigen »[i]n einen anderen Herrn Iwanow« auffordert (ebd.). Dieser kommt der Aufforderung mit folgenden Schlussworten nach: »Ein neuer Iwanow? Schon wieder? Na, probieren wir’s mit dem neuen Iwanow. Es ist ja ohnehin immer dasselbe.« (ebd.). Es sollte diese Inhaltsangabe deutlich gemacht haben, dass es abwegig ist, den Text als Versuch zu deuten, zeitgenössische psychologische Theorien zu dramatisieren. Wenn man so beobachtet, muss das Geschehen als geradezu grotesk unterkomplex erscheinen. Bayerdörfers Analyse ist durchaus zuzustimmen: Anstelle der räumlichen und figuralen Evokation von Bewusstseinsvorgängen wie bei Rilke verlagert Evreinovs Text eine überaus schlichte Konversationskomödie mit burleskem Ende einfach ins Innere eines Menschen. Aber darin erschöpft sich das Monodrama nicht. Zunächst muss man bemerken, dass dieser Text geradezu forciert theatral ist – was in seiner Körperlichkeit und Typenhaftigkeit auf Ähnlichkeiten von Evreinovs Verfahren mit denen der Commedia dell’arte verweist.125 Überdies darf der konkrete theaterpraktische Kontext nicht vergessen werden, in dem das Monodrama entstanden ist: Evreinov hat den Text für die Petersburger Kleinkunstbühne »Zerrspiegel« (»Krivoe zerkalo«) geschrieben, dessen Leitung er 1910 übernommen und bis zu dessen Ende 1917 beibehalten hat.126 Das zwischenzeitlich sehr bekannte und erfolgreiche Theater bot neben Pantomimen in erster Linie – oft von Evreinov selbst inszenierte – Parodien von Theaterformen und zeitgenössischen Theorien und Kunstbewegungen127, was einmal mehr dafür spricht, zu betonen, dass sich Evreinovs »Hauptinteresse […] auf die Erzeugung eines theatralen Ereignisses«128 gerichtet hat. In den Kulissen der Seele ist also als die Parodie eines ernsthaften Versuchs der Dramatisierung psychologischen Wissens zu verstehen – eine groteske Satire, die sich zum Beleg seiner Skepsis gegenüber diesem Wissen der Mittel des Volkstheaters bedient: also dezidiert anti-intellektuellen Mitteln. Nicht zuletzt weist der Titel selbst auf die Theatralität der Szene hin. Es ist angesichts dieses Befunds beinahe erstaunlich, dass der Text nicht darin aufgeht, selbst geschürte Erwartungen zu unterlaufen. Vielmehr zeigen sich in zwei Aspekten darüber hinausgehende Ansätze zur Problematisierung des ›Ich‹,
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Vgl. ähnlich: Carnicke: The Theatrical Instinct, S. 82 u. Golub: Mysteries of the Self, S. 16. Vgl. ebd., S. 14–20. Vgl. Golub: Mysteries of the Self, S. 27. Lukanitschewa: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov, S. 148.
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die, und das wäre zu zeigen, gerade das Reden über das ›Ich‹ problematisieren. Darin liegt auch der Grund für die ausgestellte Theatralität des Monodramas. Der erste Aspekt betrifft die Differenz zwischen ›onstage‹ und ›neighbouring offstage‹.129 Während der Professor im Prolog das ›große Ich‹ mit den im Folgenden szenisch präsenten drei Figuren identifiziert (KuS 9, TS 25), erwähnt er darüber hinaus eine Telefonleitung zum Gehirn, von der im Stück mehrfach Gebrauch gemacht wird, ohne dass seine Relation zu den drei ›Ichs‹ irgendeine Klärung findet. Vielmehr suggeriert der Professor, dass die Handlungen der IchFiguren das ›große Ich‹ in seine prekäre Lage gebracht haben (KuS 10, TS 25f.). Jedoch deutet schon die erste Replik des »Gefühls-Ich«, das ein Telefongespräch mit dem Gehirn wiedergibt, darauf hin, dass die im Zwerchfell beheimateten IchFiguren keineswegs handlungsmächtig sind: »Ach, die Ohren summen Dir? Das ist eine Nerventäuschung; das muß man übertäuben. Kognak! Fest Kognak; das rat ich Dir!« (KuS 11, TS 26). – Einen Rat muss nur der erteilen, der nicht selbst bestimmen kann. Zwar fordert das »Verstandes-Ich« das Gehirn auf, in der Folge nur ihm zu folgen, doch wird das bekanntlich nicht umgesetzt und ist bislang offenbar auch nicht geschehen (KuS 14, TS 28). Dass im Gehirn nicht einfach ein ausführendes Organ der Befehle der Ich-Figuren liegt, sondern eine Instanz eigenen Rechts, wird am deutlichsten an der Stelle, an der das »Verstandes-Ich« dem durch Brom beruhigten Gehirn ins Gewissen redet: »Eigentlich begreife ich nämlich die Ursache Ihrer Verstörung durchaus nicht, bester Herr. Zugegeben: dieses Weib hat Ihnen mit der Eigenart seines Talentes den Kopf verdreht […] – aber daß ein Mensch deshalb seine Gattin und sein Kind verläßt« (KuS 13, TS 27). Gerade die Apostrophe belegt, dass hier mit einer Instanz kommuniziert wird, die für sich personalen Charakter besitzt. In einem Stück, das – aus satirischen Gründen – vorgibt, das ›große Ich‹ in seiner Gespaltenheit szenisch darzustellen, ist es bemerkenswert, dass gerade die Instanz, die in der Außenwelt Handlungsmacht zu besitzen scheint, szenisch absent ist. Wenn man so will, kehrt somit indirekt die freudianische Dreiteilung des Subjekts wieder: Doch anstatt dass das ›Ich‹ wie das ›Es‹ und das ›Über-Ich‹ szenisch präsent ist, wird es zugunsten einer Figur ins ›off-stage‹ verbannt, durch die das einzelne Subjekt an alle anderen gebunden ist: einem mystischen Verbindungselement, das die betonte Wissenschaftlichkeit des Freudianismus konterkariert. Während also der im Gehirn befindliche Teil des Ich dem benachbarten, weil mittels des Telefons unmittelbar mit der Bühne verbundenen ›off-stage‹ zugeordnet wird, ist die Außenwelt auf eine der Bühne unzugänglichen ›distant offstage‹ verwiesen. Die ›Handlungen‹ auf der Bühne haben also nur insofern für die Außenwelt Bedeutung, wenn die szenisch absente Instanz im Gehirn dem Drängen der Ich-Figuren im Zwerchfell nachgibt. Dass die Außenwelt damit in 129 Vgl. Wallis / Shepherd: Studying Plays, S. 42.
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eine weite Distanz zum Bühnengeschehen rückt, könnte man als Hinweis darauf lesen, dass die obsessive Beschäftigung mit den innerpsychischen Kämpfen als zeittypisches Problem kritisiert wird. Belegen lässt sich dieser zweite Aspekt einer im Text mitlaufenden Individualitätskritik zunächst damit, dass es das »GefühlsIch« ist, welches durch den Verweis auf die eigene Einzigartigkeit das destabilisierende Element des Subjekts darstellt: »Ich bin ein Dichter! Ich bin die Liebe! Flamme! Revolution!« (KuS 12, TS 26). Auf die Vorwürfe des »Verstandes-Ich« antwortet er: »Denn wenn sich unsere Nerven nur nach Ihren Wünschen verhielten, so müßte ich einfach verblöden. Dazu habe ich aber keine Lust! Ich will in meine Nerven greifen und ich werde es tun!« (KuS 12, TS 27). Sein In-die-NervenGreifen führt allerdings dazu, dass das Herz »sehr heftig« arbeitet und durch Brom beruhigt werden muss (KuS 13, TS 27). Schon im Prolog hat der Professor davor gewarnt, dass ein Ausfall des »Verstandes-Ichs« Gefahr bringen müsste – wobei er die Gefahr eines Primats des Gefühls sofort generalisiert: »Und das kommt in unserer überspannten Zeit leider allzuoft vor, meine Damen und Herren.« (KuS 10, TS 25). Wenn man sich nun noch an seine ironische Ankündigung erinnert, auf der Szene die »dreigeteilte[] Seele des großen, mißgelaunten Individuums« (ebd.130) zu präsentieren, und dies mit der Schlussreplik des dritten Ich (»Na, probieren wir’s mit dem neuen Iwanow. Es ist ja ohnehin immer dasselbe.«, KuS 19, TS 32) verbindet, so ist es plausibel anzunehmen, dass im Bühnengeschehen das Bewusstsein eines Subjekts karikiert wird, das weniger an Liebeskummer leidet als an einer Individualitäts-Obsession, die den Umstand verdeckt, dass er anderen Subjekten gleicht und mit ihnen in mystischer Verbindung steht. Demnach wäre In den Kulissen der Seele nicht allein eine Parodie auf die Versuche, Psychologie zu dramatisieren, sondern auch eine Satire auf die obsessive Selbstbespiegelung. Das hieße, dass das Wissen der Psychologie nicht als solches aufgegriffen wird, sondern als Epiphänomen einer zeitgenössisch grassierenden Individualitätsmode, die sich in permanenter Selbst-Bespiegelung äußert. Durch die parodistische Ausstellung der Rede vom gespaltenen Ich hat, wenn man dem folgt, Evreinov somit geradezu subversiv auf das zugrunde liegende Faktum einer Omnipräsenz des Nachdenkens über das eigene Ich verwiesen. In dieser Hinsicht ist es eine bemerkenswerte Pointe, dass Evreinov ausgerechnet als Vordenker des ich-obsessiven Expressionismus bezeichnet wurde.131 Dass der Expressionist Csokor ihn aus diesem Grund ins Deutsche übertragen hat132, wäre somit das Ergebnis eines (produktiven) Missverständnisses – und 130 Herv. v. mir, PB. 131 Vgl. Carnicke: The Theatrical Instinct, S. 2f. 132 Vgl. Csokors Nachwort zu seiner Übersetzung, in dem er Evreinov als »Vorkämpfer des Expressionismus im russischen Drama« bezeichnet (Csokor, Franz Theodor: Nikolaj Ni-
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Evreinovs Text eher den subversiven Ich-Destruktionen des absurden Theaters zuzurechnen.133
2.1.4 Sehnsucht (1895) – Dauthendeys panpsychistisches Gesamtkunstwerk des Bewusstseins oder: totalisiertes statt depotenziertes Subjekt Zu behaupten, dass Max Dauthendeys Dramolett Sehnsucht134 von der Forschung wenig beachtet worden ist, wäre eine starke Untertreibung. Dauthendey, der nach seinem Tod bald entkanonisiert wurde, hat – von regionalgeschichtlichen Arbeiten135 abgesehen – erst in den letzten beiden Jahrzehnten mit seinem exotistischen Spätwerk ein wenig Forschungsaktivität herausgefordert.136 Ansonsten ist die weltanschauliche Grundlage seines frühen, von den Zeitgenossen verrissenen137, aber von Stefan George138 und Richard Dehmel begrüßten139 experimentellen Gedichtbandes »Ultra Violett« (1893) gelegentlich auf Interesse gestoßen.140 Indes: Sehnsucht hat seit seiner knappen Behandlung in einer Handvoll
133 134 135
136 137 138 139 140
kolajewitsch Evreinoff und sein Werk. In: Evreinov: Die Kulissen der Seele. S. 21f., hier: S. 20). Angesichts dieses Zeugnisses und der beiden Übersetzungen muss es einem neuen Band zur Rezeptionsgeschichte russischer Literatur im deutschsprachigen Raum als Versäumnis angelastet werden, Evreinov nicht einmal zu erwähnen (vgl. Lehmann, Jürgen: Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller und Kritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 2015). Vgl. Esslin, Martin: The Theatre of the Absurd. Revised edition. New York 1969, S. 43f. sowie Müller-Scholle: Das russische Drama der Moderne, S. 42. Unter der Sigle (Se) im Text zitiert nach: Dauthendey, Max. Sehnsucht. Drama. In: Ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Sechster Band: Dramen. München 1925, S. 39–50. Vgl. nur den Sammelband von Gerstner, Hermann (Hg.): Sieben Meere nahmen mich auf. Lebensbild Max Dauthendeys mit Dokumenten aus dem Nachlaß. Berlin 1990 und Geibig, Gabriele: Der Würzburger Dichter Max Dauthendey (1876–1918). Sein Nachlaß als Spiegel von Leben und Werk. Würzburg 1992. Das Interesse an Dauthendey als lokalem Dichter hält offensichtlich bis heute an – vgl. Heidler, Irmgard: Max Dauthendey. Ein Geisterverwandter Jack Londons, ein Seelenbruder Gauguins. In: Literatur in Bayern 28 (2013), S. 25–32. Vgl. Heidler: : Max Dauthendey, S. 31. Vgl. Wendt, H.[erman] G.[eorg]: Max Dauthendey. Poet-Philosopher [1936]. Reprint. New York 1966, hier: S. 68. Für eine Sammlung der Verrisse und des in ihnen angeschlagenen Tons vgl. die auf dieser Seite beginnende und auf S. 70 fortgeführte FN 32. Vgl. Dassanovsky-Harris, Robert v.: From Color-Symbolism to Proto-Expressionism. Towards a new stylistic synthesis in Max Dauthendey’s Jugendstil Drama Glück. In: New German Review 4 (1988), S. 14–26, hier: S. 15. Vgl. Wendt: Max Dauthendey, S. 71. Vgl. Riedel: »Homo natura«, S. 103–120, Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, bes. S. 191–205 und Rduch, Aleksandra E.: Max Dauthendey. Gauguin der Literatur und Vagabund der Bohème. Frankfurt a.M. 2013. Bunzel zeigt sich verständlicherweise verwundert, dass Monika Fick in ihrer bereits erwähnten Studie zum ›psychophysischen Monismus‹ der Jahrhundertwende den dafür eigentlich einschlägigen Max Dauthendey an keiner Stelle erwähnt (vgl. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 190, FN 4).
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Arbeiten um 1930 keine Aufmerksamkeit mehr gefunden141 und dient heute allenfalls noch als Beleg für die kuriosen Blüten, die die (Kurz-)Dramenproduktion um 1900 getrieben hat.142 Und so sehr es nach einer ersten Lektüre naheliegt, den Text als Kuriosum abzutun, so deutlich macht eine zweite, dass er auf radikale Weise Fragen aufwirft nach den Darstellungsgrenzen des Dramas auf der einen und den Darstellungsmöglichkeiten menschlicher Wahrnehmungsweisen auf der anderen Seite. Sehnsucht bleibt jedoch unverständlich ohne die Kenntnis des weltanschaulichen Kontextes, in dem es entstanden ist.143 Über frühe Schopenhauer-Lektüre und die Vermittlung eines Freundes144 hat der junge Dauthendey begonnen, eine Weltanschauung als »Spagat zwischen Willensphilosophie und Pantheismus (Panpsychismus), zwischen Schopenhauer und Lotze/Fechner«145 zu entwickeln, was zeitgenössisch auch vom Friedrichshagener Kreis verfolgt wurde und auf eine nachnaturalistische »Suche nach dem ozeanischen Gefühl«146, einer monistisch-vitalistischen Allgleichheit und Allverbundenheit der Dinge hinauslief. Seine daraus entwickelte Poetik hat Dauthendey bereits 1893 in einer »antinaturalistischen Programmschrift«147 dargelegt, die allerdings nur auf Dänisch erschienen ist (»Verdensaltet«, was mit ›Universum‹ übersetzt werden kann).148 Der dortige Leitgedanke besagt, dass der literarische Künstler keine Handlungen oder psychische Vorgänge darzustellen habe, sondern die Perzeptionsakte des Subjekts. Dessen Eindrücke von außen seien so genau wie möglich zu registrieren. Allerdings darf das nicht als eine »mimetische ›Abschrift der Natur‹« missverstanden werden, sondern zielt auf »ihre sensualistische Neuerschaffung«149 ab. Zu leisten ist nach Dauthendey eine Registratur der Allbeseeltheit der Dinge, durch die die Menschen mit allen Lebenselementen ver141 Vgl. Schneider, Ferdinand Josef: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 23 (1929), S. 326–347; Annecke, Wilhelm: Max Dauthendey als Dramatiker. Halle 1934 u. Wendt: Max Dauthendey. Ausnahmsweise dient der Text in einem späteren Aufsatz als Vergleichsfolie für ein anderes Dramolett Dauthendeys, »Glück« (Dassanovsky-Harris: From Color-Symbolism to ProtoExpressionism, hier: S. 15–18). 142 So bei Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, S. 449f. 143 So schon bei Wendt: Max Dauthendey, S. 125. 144 Vgl. Riedel: »Homo natura«, S. 115. 145 Ebd., S. 108. Vgl. auch: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, S. 328. 146 Ebd., S. 107. 147 Austermühl, Elke: Lyrik der Jahrhundertwende. In: Mix, York-Gothart: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus: 1890–1918. München [u. a.] 2000, S. 350–366, S. 356. 148 Vgl. Wendt: Max Dauthendey, S. 43f. u. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 193. Die erhaltenen deutschsprachigen Vorarbeiten liegen im Max Dauthendey-Archiv in Würzburg (Stadtarchiv Würzburg, Nachlaß 28: Max Dauthendey, Signatur P 41/2). 149 Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 193.
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bunden sind.150 Das mündet in das Konzept der »Weltfestlichkeit«151 als einer Verherrlichung der Naturwahrnehmung152, was den »spezifische[n] Effekt der psychistischen Wendung der Naturphilosophie [aufzeigt]: weltanschaulicher Optimismus und eudämonistisches Pathos«.153 Kunst wird als reine Wahrnehmungskunst propagiert, die vermittels des Kontaktes mit einer neuen Wahrnehmungsweise eine »vollständige Versöhnung der Gegensätze im Zeichen einer präsupponierten Ganzheit«154 erreichen soll. An Sehnsucht, 1895 im Verbund mit dem Dramolett »Sun« veröffentlicht155, irritiert nicht zuletzt die Gattungszuschreibung. Sowohl 1895 als auch in der Werkausgabe von 1925 wird der Text explizit (und ohne jeden Zusatz) als Drama ausgewiesen (Se 39). Zwar kennt der Text ein Personenverzeichnis und, im Wechsel mit Regieanweisungen, eine Folge von graphisch abgesetzten versifizierten Repliken (»Gesängen«), erfüllt somit das von Klaus Weimar vorgeschlagene formale Gattungskriterium eines spezifischen Verhältnisses von Hauptund Nebentext156, aber weder kann von Dialogizität noch von Handlung im geläufigen Sinne die Rede sein. Es ist ersichtlich, dass hier eine Dramatik entwickelt wird, die sich von wesentlichen Elementen der Gattung löst – nicht zuletzt von ihrer Aufführbarkeit. Der Anspruch, »statt handelnder Personen kosmische Dinge […] zu Worte kommen«157 zu lassen, wird verfahrenstechnisch radikal gelöst: Geleistet werden soll die Darstellung eines Bewusstseinsprozesses ohne Zuhilfenahme von Figuralität, was den Verzicht auf Personifikationen bei der Darstellung von Perzeptionen und Imaginationen einschließt.158 Doch zunächst sei geklärt, was der Text eigentlich darzustellen versucht. 150 151 152 153 154 155
Vgl. Schneider: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, S. 330f. Vgl. dazu ausführlich: Rduch: Max Dauthendey, S. 105–120. Vgl. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 194f. Riedel: »Homo natura«, S. 117. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 205. Über den Zeitraum der Niederschrift hat die Forschung keine Einigkeit herstellen können. Annecke datiert diese auf das Jahr 1893, worin ihm Dassanovsky-Harris folgt (vgl. Annecke: Max Dauthendey als Dramatiker, S. 97 u. Dassanovsky-Harris: From Color-Symbolism to Proto-Expressionism, S. 15), Wendt gibt mit Verweis auf die Tagebücher von Dauthendeys Frau Dezember 1892 als Beginn und März 1894 als Abschluss der Arbeit am Text an (vgl. Wendt: Max Dauthendey, S. 148), was auch Schneider für wahrscheinlich hält (Schneider: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, S. 342). Das wäre insofern interessant zu wissen, um zu bestimmen, ob Sehnsucht als Komplementärprojekt zu »Ultra Violett« begonnen worden oder parallel zu »Verdensaltet« entstanden ist. 156 Vgl. Weimar, Klaus: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. München 1980, S. 57–69, bes. S. 63f. 157 Schneider: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, S. 341. 158 Vgl. Wendt: Max Dauthendey, S. 50. Es wäre demnach irreführend, Dauthendeys Werk dem ›Impressionismus‹ zu zuzuschlagen (vgl. Annecke: Max Dauthendey als Dramatiker, S. 13 u. Jost, Dominik: Literarischer Jugendstil. 2., erg. Aufl. Stuttgart 1980, hier: S. 68), denn die Darstellung individueller Perzeptionen ist nicht so sehr ihr Ziel als vielmehr der Vorwand für
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Die minimale Zustandsänderung, die der kurze Text als prozessuales Bewusstwerden gestaltet, besteht darin, dass die ›Sehnsucht‹ innerhalb eines Bewusstseins eingangs angesichts des »Bild[es] eines Frühlingsgartens« (Se 43) die Einsamkeit der Menschen beklagt, denn: »Mitten im goldenharmonischen Liede / Stehen wir Menschen allein« (Se 44). Darauf folgen die von ›Vorstellungsbildern‹ angeregten – und gelegentlich von den Versen der Sehnsucht unterbrochenen – ›Gesänge‹ der Meerestiefe, der Perlen, der Wüste, des kreisenden Sandes, des stillen Sandes, des Gletschers und der Sinne, ehe die ›Sehnsucht‹ schließlich, wiederum angeregt durch die »sanfte Frühlingsnacht« (Se 50), in ihrem abschließenden Gesang »ein Erkennen« verkünden kann: Nicht einsam, du Mensch, Meertiefe, Schnee, Gestein, Ringen jeder im Sonderkampf, Nicht du nur in Wunden, In weiten Runden schluchzen Welten, Und du mit allen im wehen Verein. (…) Erwärmt am Leide des Alls, Zerschmilzt dein Allein. (Se 50)
Analog zu Dauthendeys Weltanschauung soll in Sehnsucht also ein Erkenntnisprozess evoziert werden, in dessen Verlauf das Gefühl der Einsamkeit des Menschen dem Wissen um eine All-Verbundenheit der Erdendinge im Leiden weichen soll.159 Es ist dabei für die Gattungsfrage signifikant, dass die von Austermühl und Bunzel auf Dauthendeys lyrische Textsammlung »Ultra Violett« bezogenen sprachlichen Verfahrensweisen auch in Sehnsucht zu finden sind. Die aus der eigenen Poetik abgeleitete »Tendenz zur Ökonomisierung und Pathetisierung des Stils«160, die eine starke Komprimierung durch »attributiv aufgeladene Substantivreihungen«161 und eine »bewußt elliptische Syntax«162 zu erreichen versucht, sorgt für Texte, deren »Metapherncluster«163 den Eindruck des Hermetischen produzieren. Daraus folgt, wie den genannten Forschern aufgefallen ist, ein Referenzproblem – das im Falle des Dramas noch schwerer wiegt.
159 160 161 162 163
eine »expressiv-sprachschöpferische Verfahrensweise« (Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 199). Die Schopenhauerische Note dieses ›panpathetischen‹ Endes ist unverkennbar. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 196. Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende, S. 357. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 196. Ebd., S. 204. Vgl. auch ebd., S. 197.
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Bereits die einführende Regieanweisung macht stilistisch wie verfahrenstechnisch deutlich, wie weit sich der Text von mimetischen Darstellungskonventionen entfernt hat: Der Bühnenraum stellt das Gehirn des Menschen dar. Lilafahle Dämpfe wühlend gewälzt um einen granitgrauen Wolkenkern. Schütterndes Leuchten grüngolden, violettgolden weht in trüben Wolkengrüften. Zuckende Flöten und Violinlaute. Sonnenweiß zerspringt das Gewölk. Weiß, silberlila, silberrosig, blütenrauschend das Bild eines Frühlingsgartens. Weiß üppig leuchtend aus dem graufahlen Kranz der Wolken. Brausend der Gesang der Sinne. (Se 43)
Von der ›Ortsangabe‹ angefangen erweisen sich die Angaben als schwer referentialisierbar, weil unklar ist, welchen Status die im Bühnenraum präsenten Farben, Formen und Klänge haben. Offenbar wird versucht, Vorgänge in einem menschlichen Gehirn darzustellen, in dem im Verlauf des Textes die anfängliche Trauer der ›Sehnsucht‹ ob des menschlichen Solipsismus der »dunkle[n] Ruhe« (Se 50) eines Bewusstseins von Allverbundenheit weicht. Also wäre denkbar, dass es sich bei den Gesängen und den dabei emergierenden Bildern um Imaginationen in einem bestimmten Gehirn handelt. Dagegen spricht jedoch schon die Formulierung in der ersten Regieanweisung, die den Raum als »Gehirn des Menschen«164 (ebd.) beschreibt. Es ist offensichtlich, dass das Lamento der Sehnsucht nicht das konkrete Leiden eines einzelnen Menschen darstellt, sondern vielmehr ein der Gattung kollektiv innewohnendes.165 Wie das mit der Insistenz des Nebentextes auf die Situierung des Geschehens im »Gehirn« (Se 43, 44, 45, 47, 48, 49, 50) zusammenzudenken ist, bleibt unklar. Soll das Gehirn eine Art Kollektiv-Gehirn sein und exemplarisch darstellen, was für alle Menschen gilt? Dagegen scheint die Anmutung einer hochspezifischen Sensibilität zu sprechen, die sich in farblichen und musikalischen Evokationen äußert. Auch die – vergleichsweise konkrete – Verortung des Bewusstseinsprozesses in einem Frühlingsgarten (Se 43, vgl. auch: 44, 49, 50) irritiert diese Lesart. Zudem war noch in »Verdensaltet« explizit das Ziel ausgegeben worden, individuelle Wahrnehmung darzustellen.166 Das Referentialisierungsproblem lässt sich zudem mit einem der auffälligsten sprachlichen Mittel von Sehnsucht veranschaulichen – der ubiquitären Farbsymbolik, die im Haupt- wie im Nebentext eine Fülle von Farbnuancen präsentiert. Sie verdichtet die ›Metapherncluster‹ weiter, indem sie einer komplexen 164 Hervorh. v. mir, PB. 165 Darauf verweist bereits der konsequente Verzicht auf die 1. Person Singular und die Verwendung der 1. Person Plural bei jedweder Selbstreferenz der ›Sehnsucht‹. 166 Vgl. Wendt: Max Dauthendey, S. 50.
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Farbpsychologie folgt, die Dauthendey (unter anderem) von Ola Hansson und Edvard Munch übernommen hat.167 In ihr werden psychologischen Zuständen bestimmte Farbwerte zugewiesen, sodass deren Mischung und Nuancierung hochspezifische Empfindungen evozieren soll. In ihrer Häufung wirken sie jedoch hermetisch168, wie folgende, repräsentative Stelle belegt: Blau entzündete Himmelmeere, Blanke wallende Wolkenheere, Umbäumt von lohendem Silber. Auf dunkelm Erdengrund Schäumt grünes Glühen, Lila Granit, blauende Föhren, Weiß und mohnrote Wiesen sprühen, Umfunkelt vom Goldschlund der Sonne. (Se 46)
Hier wird Referentialisierbarkeit offensichtlich einer farbpsychologischen Eigenlogik unterworfen und eine aperspektivische169 Beschreibungsposition eingenommen, die das Verständnis des Textes stark erschwert. Diese Schwierigkeit, den Text zu referentialisieren, hat in der Forschung zu der Diskussion geführt, ob sich Dauthendeys Texte generell von Referentialität emanzipieren.170 Nachdrücklich wird das von Baßler bejaht, der einen langen lyrischen Text aus Dauthendeys mittlerer Werkphase (um 1900) aufgrund seiner kontingenten »Lexemfolgen« jenseits des Hermeneutischen ansiedelt171; und auch Austermühl sieht die Logik außersprachlicher Realität in seinen Texten suspendiert.172 Dagegen konzediert Bunzel zwar, dass in diesen Texten der Konnex von Signifikat und Referent gelockert werde173 und die Texte »zwischen Mimesis und Abstraktion oszillieren«174, beharrt aber doch auf der Feststellung, dass diese »nach wie vor einem mimetischen Grundimpuls folgen«175, insofern sie den Blick auf eine (vitalistische umgedeutete) Natur lenken wollen und den Rezipienten für nicht unmittelbar zugängliche Wirklichkeitsbereiche sensibili-
167 Vgl. Dassanovsky-Harris: From Color-Symbolism to Proto-Expressionism, S. 15f. 168 Wenn Annecke behauptet, dass es sich bei ihnen nicht um ein intellektuelles Spiel, sondern um sinnlich erlebte Eindrücke handelt, mag er Dauthendeys in dessen poetologischen Texten geäußerte Autorintention wiedergeben, wohl aber kaum die Position des Rezipienten (vgl. Annecke: Max Dauthendey als Dramatiker, S. 11). 169 Vgl. Pfister: Das Drama, S. 100f. 170 Wohlgemerkt beziehen sich die Diskussionsbeiträge ausschließlich auf lyrische Texte. 171 Vgl. Baßler, Moritz: Oberflächen. Die geflügelte Erde von Max Dauthendey. In: Merlio, Gilbert / Pelletier, Nicole (Hg.): Munich 1900 site de la modernité / München 1900 als Ort der Moderne. Bern [u. a.] 1998, S. 203–217, S. 210. 172 Vgl. Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende, S. 357. 173 Vgl. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 197. 174 Ebd., S. 204. 175 Ebd.
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sieren möchten.176 In ihrem hypostasierten Realitätsbezug liege präzise ihr Problem: Die Texte erscheinen zwar als visionäre Schau, sind aber »letztlich nur der die zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien umsetzende, verfremdende Blick auf die altbekannte Realität.«177 Das mag zutreffend sein, doch sollte der Text wohl ein wenig gegen die Poetik in Schutz genommen werden. Zwar zielt Dauthendeys Programm darauf ab, »das Reden der Dinge an sich«178 abzubilden, doch zeigt sich bei Sehnsucht deutlich, dass dies nicht dadurch leistbar ist, dass Signifikat und Signifikant als füreinander transparent imaginiert werden.179 Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Dauthendey nicht allein auf eine Farbpsychologie zurückgreift, sondern auch auf Musikalität rekurriert. Dies kann nicht allein durch den Umstand belegt werden, dass die Repliken als ›Gesänge‹ bezeichnet werden, sondern auch dadurch, dass mehrfach eine musikalische Begleitung des Geschehens im Nebentext erwähnt wird (z. B.: »[z]uckende Flöten und Violinlaute« (Se 43), »linde Harfen« (Se 44), »[h]eiße Posaunen« (Se 47), aber auch anscheinend intradiegetisch: »[f]lötende Laute des Pirols« (Se 50)). Der »Kolorismus«180 des Textes ebenso wie seine Klangelemente und, auf sprachlicher Ebene, die Synästhesien lassen ein Bewusstsein des Textes dafür erkennen, dass Sprache hinsichtlich der Evokation einer Realität ›zweiten Grades‹ nicht ausreicht. Die Lösung ist nun, anders als bei Mallarmé und Rimbaud oder den russischen Futuristen, keine radikale Entreferentialisierung der Sprache, sondern eine Wendung ins genuin Theatrale: den Panpsychismus als eine Art Gesamtkunstwerk zu gestalten, indem alle Sinne und damit die damit assoziierten Zeichensysteme gleichrangig behandelt werden.181 Er steht somit der Deprivilegierung des sprachlichen Zeichensystems im symbolistischen Theater näher als dem Lyrik-Konzept eines Stéphane Mallarmé182, der die Suprematie der 176 Vgl. ebd., S. 198f. So sieht er in der Verwendung des um 1893 erst wenige Jahre bekannten Ultaviolett als Titel für dessen erste lyrische Textsammlung einen Hinweis darauf, dass Dauthendey nicht unmittelbar zugängliche Wirklichkeitsaspekte zur Darstellung bringen möchte (S. 198). 177 Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 204. 178 Zit. n. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 199. 179 Vgl. ebd. 180 Schneider: Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, S. 345. 181 Damit kann der Text als Präfiguration des Modells des Gesamtkunstwerks gelten, das von Kandinsky in »Über das Geistige in der Kunst« programmatisch erfasst wurde und auch deutliche Parallelen zu Schönbergs Musikdramatik um 1910 aufweist (vgl. Crawford, John C.: Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk. In: The Musical Quarterly 60,4 (1974), S. 583–601, S. 580). 182 Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass die Lyrizität der Sprache in Sehnsucht trotz aller offensichtlichen synästhetischen Erweiterungen auf einen Primat der Sprache hinweist. Das erinnert an die bekannte Paradoxie der Sprachkritik, dass noch die schärfste Ablehnung der Referenzfunktion von Sprache im Medium der Sprache erfolgt und interpersonal verstanden werden will. Dennoch deutet die Verwendung musikalischer Begleitung und die
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Literatur gegenüber anderen Künsten postuliert hat183 – ein Umstand, der für die eingangs gestellte Irritation bezüglich der Wahl der Gattung bedeutsam ist. Dass Dauthendeys Dramolette als Gesamtkunstwerke lesbar sind, ist bereits gesehen worden.184 Diesen Befund jedoch für nichts anderes als »a symptom of the writer’s search for one-ness in art as part of his overall monistic world view«185 zu halten, greift zu kurz. Vielmehr verweist diese Erweiterung der Semiosis direkt auf das Darstellungsproblem eines Dramas als ›seelischem‹ Innenraum. Dauthendeys Lösung besteht in einer gattungstechnischen Entgrenzung, die im Falle des Dramas auf eine Entgrenzung von Sprache und Sinnesdaten hinausläuft. So hat Bunzel für dessen Prosalyrik gezeigt, dass Dauthendey, vermutlich orientiert an Otto Julius Bierbaum, um eine die Gattungstrias transzendierende Dichtung bemüht war.186 Schon die mit »Ultra Violett« geübte Veröffentlichungspraxis der Mischpublikation von lyrischen und szenischen Texten läuft auf eine Überwindung der Trennung der drei Großgattungen hinaus.187 Nicht anders verhält es sich bei Sehnsucht, wo die Lyrizität der Repliken evident ist und, ähnlich wie im lyrischen Drama, keine stilistischen oder perspektivischen Unterschiede zwischen den einzelnen Sprechern oder zwischen Haupt- und Nebentext auszumachen ist. Das wäre in diesem Falle auch widersinnig, da es gerade darum geht, zu zeigen, inwiefern alle Elemente der Natur – von Großgebilden wie ›Gletschern‹ bis zu kleinsten Partikeln wie ›kreisendem Sand‹ – letztlich mit den Menschen in Verbindung stehen. Diese ontologische Entgrenzung des Panpsychismus korrespondiert mit einer semiotischen Entgrenzung in der Metaphorik, deren bezeichnende Trope im Text die Synästhesie ist. In Formulierungen wie »[l]autweiße Brandung loht« (Se 43), »[s]tumme rotversteine Wälder« (Se 45) oder »[d]unkel erzblau tönen Wasserscheiben« (Se 50) lassen sich semiotische Kontraktionen ausmachen, die auf eine Wahrnehmungsweise zielen, in der Sinnesdaten als untrennbar erfahren werden. Der Text entwirft somit ein imaginatives Theater der (Vorstellungs-)Bilder, das in der synästhetischen Semiosis Zugang zu einem Wahrnehmungsmodus herzustellen erlaubt, den die sprachliche Zeichenordnung allein verfehlen muss. Von einem Anspruch, Sprache auf Wirklichkeit hin transparent zu machen, kann also in Bezug auf Sehnsucht gerade nicht die Rede sein – sondern eher von einem Verfahren, das im Erschweren der
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Verwandlungen innerhalb des szenischen Imaginationsraums stärker in die Richtung eines deprivilegierten sprachlichen Zeichensystems. Vgl. Finger: Das Gesamtkunstwerk der Moderne, S. 40f. Vgl. Dassanovsky-Harris: From Color-Symbolism to Proto-Expressionism, S. 15. Ebd. Vgl. Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 200f. Vgl. ebd., S. 202. Bunzel weist zudem darauf hin, dass Dauthendey in seinem Spätwerk dazu übergegangen ist, die Welttotalität nicht mehr anhand kurzer Texte literarisch zu evozieren, sondern mit überaus umfangreichen Versepen, etwa dem »Lied der Weltfestlichkeit« von 1917 (vgl. ebd., S. 202f.).
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Rezeption das Bewusstsein der Inadäquatheit sprachlicher Mittel im Medium des Literarischen schärft. Der Text leistet hier im Grunde nichts anderes als das, was Viktor Sˇklovskij gute zwanzig Jahre später »Verfremdung«188 nennen und als Kennzeichen poetischer Sprachverwendung definieren wird. Für die Frage nach dem Subjekt und seiner Darstellbarkeit im Drama bietet diese Lösung eines Bühnenraums als Imaginationsraum bemerkenswerte Antworten. So hat gerade der – meines Wissens dramenhistorisch erstmalige – vollständige Verzicht auf Figuralität zur Konsequenz, dass die Möglichkeit ausbleibt, die Situierung des Geschehens anhand der Positionalität und Interrelation von Figuren im Bühnenraum zu gewährleisten. Daraus entsteht der paradoxe Eindruck, dass das Stück ortlos bleibt – obwohl im Nebentext auf ›Orte‹ wie das Gehirn und den Frühlingsgarten rekurriert wird. Dieser Abstraktheit wird versucht, durch synästhetische Sinnesdaten zu begegnen, was jedoch aufgrund des beschriebenen Referenzproblems nicht gelingt. Die Entgrenzungsdynamik des Textes ist weltanschaulich motiviert, soll doch gerade die Suspension der Grenzen zwischen Welt und perzipierendem Subjekt189, zwischen Perzeptionen der Außenwelt und Imaginationen innerhalb des Bewusstseins oder auch zwischen Klängen, Farben und Wörtern gerade den panpsychistischen Monismus realisieren, den der Text postuliert. Die Umstellung des szenischen Geschehens von intersubjektiver Kommunikation auf intrasubjektive Perzeption ermöglicht einen epistemologischen Blick auf die Position des Menschen im Kosmos und bedeutet für die Frage nach dem Subjekt, dass deren Stoßrichtung in der Abgrenzung der Menschen von den (wahrgenommenen oder imaginierten) Dingen liegt. Thematisch wird sie im Text als Frage nach dem Solipsismus (»Nur du Mensch abseits im nackten Allein.«, Se 44). Doch anders als im lyrischen Drama eines Hugo von Hofmannsthal wird nicht die ästhetizistische Lebenspraxis für diesen verantwortlich gemacht. Stattdessen wird der Solipsismus als Wahrnehmungsproblem rekonstruiert: Wenn der Mensch einsieht, dass er durch die Allbeseeltheit der Welt mit allem immer in Kontakt steht, erweist sich der Solipsismus als Scheinproblem. Zu diesem Erkenntnisprozess versucht Sehnsucht beizutragen. 188 Sˇklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren [russ. 1916]. In: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 5. München 1971, S. 3–35, hier: S. 15. 189 An einer einzigen Stelle wird angedeutet, dass Welt und wahrnehmendes Subjekt nicht identisch sind, nämlich in der Regieangabe: »Die Frühlingsnacht draußen malt sich im Gehirn« (Se 49). Die hier angedeutete Differenz von Sinnenwelt und Imaginationswelt bleibt aber für das Stück konsequenzlos. Da zwischen dem Gesang der ›Sinne‹ und denen der ›Vorstellungsbilder‹ stilistisch wie inhaltlich kein Unterschied besteht, erscheinen sie dem Leser gleichartig.
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Die Pointe ist nun, dass der Text mittels der erwähnten Entgrenzungen Subjektivität an sich als falsche Weltwahrnehmung zurückweist. So wie die Außenwelt qua Wahrnehmung immer schon Teil des Subjekts ist, so ist dieses Subjekt qua Panpsychismus immer schon eingebunden in die All-Einheit. Solange der Mensch aber an der Anthropozentrik und der asymmetrischen Differentialität zwischen Mensch und Welt festhält, solange er Subjektivität als Frage nach Differenz begreift, verfehlt er die fundamentale Gleichartigkeit und Gleich-Gültigkeit der eigenen existenziellen Position mit der der Dinge. So gelesen ließe sich die titelgebende Sehnsucht (etwas ahistorisch) als Sehnsucht nach einer symmetrischen Anthropologie190 interpretieren.
2.1.5 Schönbergs Die glückliche Hand (1911/1913) als Kunst-Vision und Vision des Subjekts Arnold Schönbergs Die glückliche Hand (Op. 18), das er als Drama mit Musik untertitelt hat, primär als Theatertext zu behandeln, ist gleichermaßen plausibel wie höchst problematisch. Dieses Vorgehen wird zunächst von der Entstehungsgeschichte des Werks gestützt: Erstmals hat Schönberg sein Libretto vollständig eigenständig verfasst und es, lange vor der Fertigstellung der Komposition 1913191, im zweiten Jahrgang der »Österreichischen Zeitschrift für Musik und Theater« 1911 als Text veröffentlicht.192 Auch die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung Drama mit Musik könnte auf einen besonderen Status des Librettos hinweisen – vermeidet es doch den trotz Wagnerscher Ablehnung eng mit dessen Schaffen verbundenen Begriff »Musikdrama«193 genauso wie die deutsche Übersetzung des – für italienische Opernlibretti bis ins 19. Jahrhundert gebräuchliche – »dramma per musica«194 (– nämlich Drama für Musik). Auf der anderen Seite scheint es erstens bedenklich, das Werk eines besonders als Komponisten hervorgetretenen Künstlers ausgerechnet seiner musikalischen 190 Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen [frz. 1991]. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008. 191 Diese hat sich, für Schönbergs damalige Arbeitsweise untypisch, über mehrere Arbeitsphasen bis 1913 hingezogen, wobei der Text bereits Ende Juni 1910 vorlag und erst im Sommer 1911 eine intensive Kompositionsarbeit einsetzte (vgl. Auner, Joseph H.: Die glückliche Hand, Drama mit Musik op. 18. In: Gruber, Gerold W. (Hg.): Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke. Band 1. Laaber 2002, S. 249–268, S. 254). 192 Vgl. Schönberg, Arnold: Die glückliche Hand. Drama mit Musik. In: Der Merker 2,17 (1911), S. 718–721. 193 Vgl. Kropfinger, Klaus: Art. Musikdrama. In: MGG. Sachteil. Band 6, Sp. 1181–1195, bes. Sp. 1183. 194 Vgl. Dubowy, Norbert / Strohm, Reinhard: Art. Dramma per musica. In: MGG. Sachteil. Band 2, Sp. 1452–1500, bes. Sp. 1479.
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Seite zu entkleiden – besonders, wenn man die Signifikanz der Komposition in seinem werkbiografischen Kontext kennt.195 Zweitens steht diesem Vorgehen der in der reichen Forschung zu diesem Werk196 einhellige Befund entgegen, dass hier die spezifische Form eines Gesamtkunstwerks vorliege.197 Daher wäre es also verfehlt, bestimmte Zeichensysteme zugunsten anderer gänzlich zu ignorieren. Diesem Umstand soll im Folgenden insofern Rechnung getragen werden, als dass gelegentlich auf die Analysen der musikwissenschaftlichen Forschung zurückgegriffen wird. Das muss aber im Rahmen der Kompetenzgrenzen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit erfolgen. Während Die glückliche Hand also als Gesamtkunstwerk behandelt wird, sei der Hauptakzent auf theatrale und textuelle Ebenen gelegt. Eine Zusammenführung mit den Ergebnissen der Musikwissenschaften kann hier nicht geleistet werden. Die glückliche Hand ist, wenn man darunter den Text und die musikalische Komposition fasst, von 1910 bis 1913 entstanden, sollte 1914 uraufgeführt worden, was aufgrund des Kriegsausbruchs nicht umgesetzt werden konnte198, und wurde schließlich erst 1924 in der Wiener Volksoper uraufgeführt, wobei das Publikum dem Werk freundlicher begegnet ist als die Kritik.199 Zu der Breslauer Aufführung 1928 hat Schönberg einen selbstverfassten Einführungsvortrag gehalten200, der in der Forschung viel Beachtung gefunden hat und nicht selten als Schlüssel zum Verständnis des Werks angesehen wurde.201
195 Zur geläufigen Einteilung von Schönbergs Arbeit in fünf Werkphasen vgl. Grun, Constantin: Arnold Schönberg und Richard Wagner. Spuren einer außergewöhnlichen Beziehung. Band 1: Werke. Göttingen 2006, bes. S. 36–41. Zum engeren werkbiographischen Kontext vgl. Auner, Joseph H.: Schoenberg’s Aesthetic Transformation and the Evolution of Form in »Die glückliche Hand«. In: Journal of the Arnold Schoenberg Institute 12,2 (1989), S. 103– 128; Paland, Ralph: »Die glückliche Hand« von Arnold Schönberg. Formale Konzeption in der frühen Atonalität. Lucca 1999, bes. S. 5–28 u. Bruhn, Siglind: Schönbergs Musik 1899– 1914 im Spiegel des kulturellen Umbruchs. Von der Tondichtung zum Klangfarbenspiel. Waldkirch 2015, bes. S. 15–23. 196 Neben gelegentlichen Erwähnungen in frühen Publikationen von Schönbergs Schülern und Verehrern (bes. Egon Wellesz), beginnt die wissenschaftliche Rezeption um 1970 mit den Arbeiten von Wörner und Crawford, um sich dann bis in die frühen 2000er Jahre zu intensivieren und zu differenzieren. In den letzten Jahren ist dagegen wenig Neues zur Forschung beigetragen worden. Aufgrund der großen Menge an Literatur sei an dieser Stelle auf eine Aufzählung verzichtet und auf die folgenden Fußnoten verwiesen. 197 So bereits bei Crawford: Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk, S. 600. 198 Vgl. Grun, der sich auf die Schönberg-Monographie von Wellesz bezieht (Grun: Arnold Schönberg und Richard Wagner, S. 460). 199 Vgl. dazu die Zeugnisse in der historisch-kritischen Ausgabe der Glücklichen Hand (Schönberg, Arnold: Bühnenwerke I: Die glückliche Hand op. 18. Kritischer Bericht – Skizzen – Textgenese und Textvergleich – Entstehungs- und Werkgeschichte – Dokumente. Hgg. v. Ullrich Scheideler. Mainz / Wien 2005, S. 306–334. 200 Vgl. Schönberg, Arnold: Die glückliche Hand [1928]. In: Ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Hgg. v. Ivan Vojtech. Frankfurt a.M. 1976, S. 235–239.
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Dass die Forschung Schönbergs Breslauer Vortrag so dankbar rezipiert hat, ist nicht verwunderlich, da das Stück in der Tat einige Irritationen auslöst. Um dies zu verdeutlichen, sei nun das szenische Geschehen recht genau und textnah dargestellt. Das Geschehen ist in vier Bilder gegliedert, die jeweils durch eine Verwandlung ineinander übergehen (GH 236, 239, 244) und mittels präziser Lichtangaben unterschiedlich große Ausschnitte der Bühne sicht- und bespielbar machen. Das erste und das vierte Bild stellen einen Rahmen für das in den beiden mittleren Bildern Ablaufende dar. Die Rahmenszenen weisen neben dem die gesamte Dauer des Stückes szenisch präsenten Protagonisten, der im Personenverzeichnis als »Ein Mann« (GH 234) aufgeführt ist, noch sechs Frauen und sechs Männer auf, von denen lediglich die schwach beleuchteten Köpfe (durch Luken in der Rückwand) zu sehen sind und die chorisch ein Verhängnis beklagen, in das der Mann »immer wieder« (GH 235202) verstrickt ist: Er, der »das überirdische« in sich hat, glaubt an »[i]rdisches Glück« (ebd.), muss aber scheitern. Der Mann liegt zu Beginn mit dem Gesicht zum Boden und »[a]uf seinem Rücken sitzt ein katzenartiges Fabeltier (Hyäne mit fledermausartigen großen Flügeln), das sich in seinen Nacken verbissen zu haben scheint« (GH 236). Obwohl nach dem Ende des Chorgesangs hinter der Bühne »grelles, höhnisches Lachen einer Menschenmenge« zu hören ist, richtet er sich ruckartig auf, so dass man sein zernarbtes Gesicht, seine zerrissenen Kleider und eine »wie von einem Nagel« herrührende Wunde im Fuß erkennen kann (ebd.). Sein Aufstehen verwandelt die Szene und vergrößert durch die Lichtführung den Bildausschnitt. Das zweite Bild führt eine ausschließlich pantomimisch agierende Frau (»Ein Weib«, GH 234) ein, die der Mann, ohne sie überhaupt anzusehen, adoriert und dem sie einen Becher reicht, der in seiner rechten Hand erscheint, ohne dass es zu einer Berührung zwischen beiden gekommen ist. Während der Mann weiter seine Ergebenheit zu ihr ausdrückt, »erscheint« ein »elegant-modisch gekleidet[er]« Herr und »verschwindet« mit der Frau (GH 238). Der Mann bleibt »in gebrochener Haltung« zurück, wird aber von der wieder hervortretenden Frau durch demütige Gesten der Verzeihung versöhnt. Daraufhin kniet er vor ihr, was ihrer Haltung »einen leicht sarkastischen Zug« verleiht (GH 239). Nachdem sich ihre Hände kurz berührt haben, 201 Ferner ist 1928 eine bearbeitete 3. Auflage der Textfassung veröffentlicht worden, die – mindestens textlich – als Ausgabe letzter Hand gilt (vgl. Schönberg: Bühnenwerke I: Die glückliche Hand op. 18, S. 234). Die folgende Untersuchung bezieht sich auf diese Fassung, die sich nicht grundlegend von der 1911 veröffentlichten unterscheidet (Schönberg, Arnold: Die glückliche Hand. Drama mit Musik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Reihe B, Bd. 6, Teil 3, Abt. 3: Bühnenwerke I: Die glückliche Hand op. 18. Kritischer Bericht – Skizzen – Textgenese und Textvergleich – Entstehungs- und Werkgeschichte – Dokumente. Hgg. v. Ullrich Scheideler. Mainz / Wien 2005, S. 234–245). Zitate werden im Folgenden unter der Sigle [GH] im Fließtext nachgewiesen. 202 Die Formulierung wird im chorischen Eröffnungsmonolog fünfmal gebraucht.
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verschwindet sie wieder, was von dem Mann unbemerkt bleibt. Vielmehr glaubt er: »Nun besitze ich dich für immer!« (ebd.). Im Anschluss daran verwandelt sich das bis dahin sehr abstrakte Szenenbild in eine »[w]ilde Felslandschaft«, die »schwärzlichgraue, mit wenigen Nadelbäumen (die silbergraue Äste haben) bewachsene Felsen« aufweist und aus einigen nach hinten ansteigenden Plateaus besteht, die neben einem Felsvorsprung die Öffnung zu einer Schlucht erkennen lassen und im Hintergrund von zwei noch höher gelegenen Grotten abgeschlossen werden (GH 240). Die linke Grotte erhellt sich nun und macht »ein Mittelding zwischen einer Mechaniker- und einer Goldschmiedewerkstatt« sichtbar, in der einige Arbeiter »in realistischen Arbeitskostümen« tätig sind (GH 241). Der Mann, der die Höhenunterschiede zwischen der Schlucht, der er mit blutigem Schwert entstiegen ist, und der Grotte leicht bewältigt hat, legt das Schwert ab und schlägt ohne jedes Anzeichen von Anstrengung mit einem Hammer den in der Grotte stehenden Amboss entzwei, um aus dessen Trümmern mit der linken Hand ein Diadem hervorzuholen (GH 241). Die Arbeiter, die dem Mann die gesamte Szene über drohend gegenübergestanden haben, wollen sich auf ihn werfen – doch verschwindet die Grotte in dem Moment, in dem er sein Schwert aufhebt (GH 242). Direkt im Anschluss erhebt sich ein »Crescendo des Windes« zusammen mit einem »Crescendo der Beleuchtung«, das die zweite Grotte erhellt, wobei der Mann es so darstellen soll, »als ginge beides von ihm aus« (ebd.). Nach dem Ende des Crescendo tritt die Frau halbnackt in die nun hell erleuchtete zweite Grotte und trifft sich dort mit dem ebenfalls auftretenden Herrn. Ohne hinzusehen reagiert der Mann mit Anzeichen starker Verzweiflung und versucht schließlich, zur Grotte hinauf zu gelangen, was ihm aber misslingt (GH 243). Der Herr bemerkt ihn und wirft ihm »mit einer ruhigen, kalten Bewegung« (ebd.) den Kleiderfetzen zu, der der Frau fehlt, und geht ab. Die Szene wird dunkel und es beginnt, nachdem es wieder hell geworden ist, damit, dass die Frau nach dem Kleiderfetzen sucht, ihn neben dem Mann findet und ihn anlegt, woraufhin sich dieser flehend zu ihren Füßen niederlässt (GH 244). Sie entzieht sich ihm und springt zurück auf das Plateau, das neben der Schlucht liegt. Dort liegt ein großer Stein, den sie »durch einen leichten Stoß mit dem Fuß« hinunterstößt, woraufhin er den Mann unter sich begräbt, was »die laute Musik und das höhnische Lachen (wie im ersten Bild)«203 ertönen lässt (ebd.). Das bewirkt eine Verwandlung zurück zur ersten Szene, wobei an Stelle des Steines wieder das Fabeltier im Nacken des Mannes sitzt, »wodurch die Vorstellung verstärkt wird,
203 Diese Regieanweisung ist dem Text nach der Veröffentlichung im »Merker« zugefügt worden und darf als Beleg dafür gelten, dass die Unterschiede zwischen der ersten und der Letztfassung der Textvorlage vor allem Verdeutlichungen darstellen und keine Bedeutungsverschiebungen implizieren.
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daß der Stein das Fabeltier ist«204 (GH 245). Das Stück wird von einer zweiten Chorpartie beschlossen, die wiederum die Unvermeidlichkeit dessen betont, was der Mann erlebt hat, wobei der mitleidsvolle Ton des Beginns einem »anklagend streng[em]« (ebd.) gewichen ist. Irritierend ist an dem Stück etwa die Mischung aus abstrakt-symbolischen Vorgängen und Figuren mit mitunter mimetisch anmutenden Szenenbildern (die Nadelbäume, die Werkstatt) und sozialen Konnotationen (der Herr), was sich generalisieren lässt als ein Nebeneinander von abstrakter, überindividueller Künstlerthematik205 und privatem Beziehungskonflikt.206 Diese Irritation steigert sich noch, wenn gefragt wird, in welchem Verhältnis das szenische Geschehen zur musikalischen Komposition steht (die wiederum nicht einheitlich ist207). Nicht selten hat die Forschung gegenüber den motivischen und musikalischen Divergenzen kapituliert und diese als ästhetische Minderleistung abqualifiziert.208 Die Ratlosigkeit angesichts des Stücks lässt sich auch daran ermessen, wie hartnäckig sich biografistische Lesarten halten: Solange Die glückliche Hand als Aufarbeitung209 oder symbolische Überhöhung210 einer Ehekrise Schönbergs bzw. als
204 In der im »Merker« veröffentlichten Fassung heißt es noch: »[…] so daß die Vorstellung Raum hat, das Fabeltier sei der Stein.« (Schönberg: Die glückliche Hand [1911], S. 721). 205 Zur Virulenz der Künstlerthematik im Drama um 1900 vgl. nur: Rotermund, Erwin: Künstlerdramen der Jahrhundertwende. In: Kafitz, Dieter (Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 22–35. Schönbergs Ästhetik, die gerade dem Künstler die Aufgabe zuweist, das qua besonderer Sensibilität erfahrene Schicksal des Menschen künstlerisch auszudrücken, wird somit in Die glückliche Hand thematisch (vgl. Paland: »Die glückliche Hand« von Arnold Schönberg, bes. S. 18–20 u. Wiesmann, Siegrid: Szenische Aufgaben – filmische Lösungen. Zwei Studien zu Schönbergs Einaktern Die glückliche Hand und Von heute auf morgen. In: Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule. Verhandlungen des Internationalen Colloquiums Wien 1995. Wien 2002, S. 45–60, bes. S. 45 u. 50). 206 Wörner liest das Stück etwa als »psychologisches Drama«: Der Mann stehe auf der Höhe seines Glücks, kämpfe um die Verteidigung dieses Glücks und gehe schließlich unter, womit »[s]ein Lebensschicksal« beschrieben sei (Wörner, Karl H.: Symbolismus und Expressionismus. »Die glückliche Hand«. In: Ders.: Die Musik in der Geistesgeschichte. Studien zur Situation der Jahre um 1910. Bonn 1970, S. 145–169, hier: S. 165). 207 Vgl. Bruhn: Schönbergs Musik 1899–1914, S. 277. 208 Vgl. beispielhaft Hahl-Koch, Jelena: Kandinsky und Schönberg. Zu den Dokumenten einer Künstlerfreundschaft. In: Dies. Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky. Briefe. Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Beziehung. Salzburg 1980, S. 177–221, hier: S. 200f. und: Kämmerer, Sebastian: Illusionismus und Anti-Illusionismus im Musiktheater. Eine Untersuchung zur szenisch-musikalischen Dramaturgie in Bühnenkompositionen von Richard Wagner, Arnold Schönberg, Ferruccio Busoni, Igor Strawinsky, Paul Hindemith uns Kurt Weill. Anif / Salzburg 1990, hier: S. 47–70. 209 Vgl. Crawford: Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk, S. 583f. 210 So etwa Auner: Die glückliche Hand, Drama mit Musik op. 18, S. 252f.
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Dokument einer ästhetischen Krise211 gelesen wird, kann man seinen Inhalt als private Obsession des Komponisten betrachten und die Frage nach dem Bezug zur Form vernachlässigen. Eine andere Option war es, das Stück als selbstreferentielle Verständigung über das Wagner’sche Musikdrama zu verstehen. Damit erhält die Frage Bedeutung, wie weit Schönbergs Bezug zu Wagner reicht – wobei von wenig Bezug212 und völliger ästhetischer Divergenz213 über die Ironisierung214 bis zur Vollendung des Wagner’schen Musikdramas215 alle Positionen vertreten sind. Weitestgehende Einigkeit herrscht in der Forschung allenfalls darüber, dass mit Schönbergs Die glückliche Hand der Versuch vorliegt, ein Gesamtkunstwerk zu entwerfen. Für diese Einschätzung lassen sich einige Argumente finden. Zunächst fällt auf, dass die Bedeutung des sprachlichen Zeichensystems für das szenische Geschehen zugunsten anderer Zeichensysteme zurückgenommen ist. Doch nicht nur, dass der Großteil des szenischen Geschehens pantomimisch erfolgt, auch die überaus minutiöse Farbregie, der wie bei Sehnsucht einer differenzierten Farbpsychologie zugrunde liegt, sowie die Präzision, mit der in der Partitur216 musikalische, szenische und farbliche Ereignisse miteinander koordiniert werden, deuten darauf hin, dass hier eine Enthierarchisierung der künstlerischen Parameter vorliegt, wie sie für Gesamtkunstwerke typisch ist. Von besonderer Signifikanz ist dabei das »Crescendo des Lichts und des Sturmes« (GH 242), das außer mit Beleuchtung und Wind noch dessen pantomimischen Nachvollzug und ein komplexes musikalisches Crescendo bietet und somit die Korrelation der Zeichensysteme zum Synästhetischen hin radikalisiert. Es ist in dieser Hinsicht auch die enge Verbindung zwischen Schönberg, dem (zu dieser Zeit) malenden Komponisten217 und Wassily Kandinsky, dem dichtenden Maler, erwähnt und gemutmaßt worden, dass das in Kandinskys Schrift »Über das 211 Vgl. Latham, Edward D.: Physical motif and aural salience. Sounds and symbols in »Die glückliche Hand«. In: Berman, Russell A. / Cross, Charlotte M. (Hg.): Schoenberg and Words. The Modernist Years. New York 2000, S. 178–202, hier: S. 180f. 212 Mäckelmann, Michael: »Die glückliche Hand«. Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«. In: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft. Band 10: Musiktheater im 20. Jahrhundert. Hgg. v. Constantin Floros, Hans Joachim Marx u. Peter Petersen. Laaber 1988, S. 7–36. 213 Kämmerer: Illusionismus und Anti-Illusionismus im Musiktheater, S. 52f. u. S. 70. 214 Anglet, Andreas: Das frühexpressionistische »Gesamtkunstwerk« als Traumspiel bei Kokoschka, Pappenheim und Schönberg. In: Arcadia 37,2 (2002), S. 269–288, hier S. 280. 215 Grun: Arnold Schönberg und Richard Wagner, S. 501–543, bes. S. 512, 516, 520, 524, 530, 534. 216 Vgl. nur den Text der Gesamtausgabe, in dem taktgenau die jeweils zu zeigenden Farben durch Symbole angegeben sind. Der Text ist in der neueren, historisch-kritischen Werkausgabe parallel und somit seitenidentisch mit der im Text mit der Sigle (GH) zitierten Fassung abgedruckt worden. 217 Vgl. allgemein dazu: Rufer, Josef: Schönberg als Maler – Grenzen und Konvergenzen der Künste. In: Burde, Wolfgang (Hg.): Aspekte der neuen Musik. Kassel [u. a.] 1968, S. 50–57.
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Geistige in der Kunst« (1912) entwickeltes Gesamtkunstwerk-Konzept, dessen Farbtheorie den Schönbergschen Bestimmungen ähnelt, direkten Einfluss auf die Konzeption der Glücklichen Hand selbst genommen hat.218 Zwar sind die Übereinstimmungen zwischen beiden Konzepten bemerkenswert – zumal wenn man bedenkt, dass Kandinsky vorgehabt hat, sein Stück »Der gelbe Klang« mit einer musikalischen Begleitung zu versehen219 –, doch ist eine unmittelbare Bezugnahme aufgrund der früheren Fertigstellung des Librettos unwahrscheinlich.220 Nicht zuletzt die vielfältigen Anspielungen auf Wagner-Motive in Die glückliche Hand – etwa die Becherszene aus dem »Tristan« oder der »Walküre« und der Schmiedeszene aus dem »Siegfried« sowie der (gebrochene) Einsatz des Heldenbaritons221 – deuten zumindest auf einen Bezug zu Wagners Musikdramatik hin. Auch das im Breslauer Vortrag geäußerte Ansinnen Schönbergs, in seinem Werk »mit den Mitteln der Bühne musizieren«222 zu wollen, darf als Beleg für die Bezeichnung des Stücks als Gesamtkunstwerk gelten. Allerdings ist die von Latham geäußerte Kritik an die Forschung, diese Einschätzung bislang methodisch nicht nutzbar gemacht zu haben, nicht gänzlich von der Hand zu weisen.223 Zwar ist es auf den ersten Blick plausibel, die Frage nach dem Gesamtkunstwerk vor dem Hintergrund von Einfluss-Verhältnissen (Wagner, Kandinsky) und zeitgenössischen ästhetischen Konzepten (etwa die um 1900 allgemein anzutreffenden Affinität zum Gesamtkunstwerk224 oder die ebenfalls wieder virulente »Farbenmusik«225) zu behandeln. Allerdings ist mit dem Aufweis dieser Bezüge für die Interpretation des Werks selbst recht wenig gewonnen. Insbesondere ist der Bezug der Form zum szenischen Geschehen bislang nur sehr vereinzelt thematisiert worden226, was bedeutet, dass die zahlreichen Beobachtungen bezüglich der Formoption von Die glückliche Hand sonderbar unver-
218 Vgl. Crawford: Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk, S. 589–591. In einer Tabelle (S. 586–588) weist Crawford die vielfältigen Analogien zwischen Kandinskys uns Schönbergs nach. 219 Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 22f. 220 Vgl. Wiesmann: Szenische Aufgaben – filmische Lösungen, S. 50–52. 221 »Obwohl Heldenbariton, bleibt seine Artikulation weitgehend ein Stammeln, ja er wird bis ins Falsett getrieben und dementiert auf diese Weise permanent seine ›Heldenhaftigkeit‹.« (Anglet: Das frühexpressionistische »Gesamtkunstwerk«, S. 280). 222 Schönberg: Die glückliche Hand, S. 236. 223 Vgl. Latham: Physical motif and aural salience, S. 179f. 224 Vgl. Anglet: Das frühexpressionistische »Gesamtkunstwerk«, S. 269. 225 Vgl. Kienscherf, Barbara: Das Auge hört mit. Die Idee der Farblichtmusik und ihre Problematik – beispielhaft dargestellt an Werken von Alexander Skrjabin und Arnold Schönberg. Frankfurt a.M. [u. a.] 1996. 226 Eine wichtige Ausnahme stellt Palands Arbeit dar, der die folgenden Ausführungen wichtige Impulse verdankt (Paland: »Die glückliche Hand« von Arnold Schönberg).
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bunden neben denen zur ›Handlung‹ um den Mann stehen – als bestünde zwischen beiden kein Zusammenhang. Demgegenüber möchte ich versuchen, zu zeigen, dass zwischen der Form des Gesamtkunstwerks und dem um den Mann kreisenden szenischen Geschehen eine intrikate Beziehung besteht, insofern das Werk als eine spezifische Vision des Protagonisten und mithin als szenische Vermittlung seiner Denkstrukturen gelesen wird – also einmal mehr als szenische Darstellung intrasubjektiver Vorgänge. Dieser Zugang hat, zweitens, den Vorzug, dass man so die irritierenden Inkonsistenzen des Stücks als Momente eines inkonsistenten Denkens interpretieren kann. Es muss jedoch gleich konzediert werden, dass die Forschung bereits ähnliche Thesen aufgestellt hat. Sie beziehen sich besonders auf Strindbergs Dramatik, die Schönberg gekannt hat.227 So ist Die glückliche Hand als Ich-Drama im Sinne der »Nach Damaskus«-Trilogie gedeutet worden.228 In dieser Hinsicht erschienen die Nebenfiguren in Schönbergs Stück als ›Kopfgeburten‹ des Protagonisten, und nur dieser wäre intradiegetisch faktual. Ein direkter Bezug zwischen beiden ist jedoch von der Forschung mittlerweile ausgeschlossen worden: Da die deutsche Übersetzung von »Nach Damaskus« erst spät, 1913, veröffentlicht worden ist, konnte Schönberg davon bei der Konzeption seines Werks noch keine Kenntnis haben.229 Der Bezug hat überdies zu fragwürdigen Analogien verleitet: So wurde auch in Die glückliche Hand eine achsensymmetrische Anordnung der Szenen um die Werkstattszene herum behauptet.230 Das ist erstens unplausibel, da das Szenenbild der den Beziehungskonflikt darstellenden Szenen vor und nach der Werkstattszene verschieden ist. Zweitens ignoriert diese Annahme die Singularität des auf diese folgenden ›Lichtsturms‹ völlig und markiert die Herstellung des Diadems als Zentrum, was, wie zu zeigen sein wird, ganz unrichtig ist. Plausibler hingegen erscheint der Bezug zu Strindbergs »Traumspiel«, das bereits 1902 in deutscher Übersetzung erschienen ist.231 Hier wie dort garantiert »das Ich der Protagonistin bzw. des Protagonisten […] die Einheit einer Szenenfolge«232, verweisen nicht-menschliche Wesen (Gottheiten bzw. Fabelwesen) auf ein metaphysisches Geschehen und ersetzen offene Szenenwechsel die Akt227 Vgl. Wörner: Symbolismus und Expressionismus, S. 153. 228 Vgl. Mauser, Siegfried: Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule. Stilistische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zu Arnold Schönbergs »Erwartung« op. 17, »Die glückliche Hand« op. 18 und Alban Bergs »Wozzeck« op. 7. Regensburg 1982, hier: S. 16–20. 229 Vgl. Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 28. 230 Vgl. nur: Mauser: Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule, S. 19. 231 Vgl. Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 28. 232 Anglet: Das frühexpressionistische »Gesamtkunstwerk«, S. 273.
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einteilungen. Jedoch kann von einer alogischen Szenenfolge in Die glückliche Hand nicht die Rede sein. Ebenso wenig überzeugend ist es, Schönbergs Werk wie das »Traumspiel« in die Nähe der Freud’schen Traumdeutung zu rücken. Eine Darstellung der »Wortsprache in ihrer Unzuverlässigkeit als Ort der Fälschung und Zensur«233 ist bei Schönbergs Stück nicht zu erkennen. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, den mit Strindberg assoziierten Begriff des Traumspiels zu vermeiden und stattdessen von einer ›Vision‹ zu sprechen. Das soll außerdem implizieren, dass das szenische Geschehen insgesamt fiktionalen Status hat – auch der ›Mann‹ besitzt keinen anderen ontologischen Status als die übrigen Figuren, auch er ist intradiegetisch nicht faktual. Von ›Vision‹ zu sprechen, bedeutet aber auch, dass das Geschehen in Die glückliche Hand im Bewusstsein eines in der Diegese anzusiedelnden Akteurs ist, wobei es naheliegt, den ›Mann‹ als diejenige Figur zu begreifen, in der sich derjenige, der die Vision hat, symbolisiert – da er der Protagonist ist und Handlung, Szenen- und Lichtwechsel auf ihn bezogen sind. Sollte die hier vertretene These zutreffen, läge mit Schönbergs Werk ein szenisches Äquivalent für epische Verfahren vor, die Bewusstseinslage und Wahrnehmungsweise einer Figur durch interne Fokalisierung zu universalisieren. Für diese These lassen sich einige Belege finden. Unmittelbar einsichtig dürfte sein, dass der Mann im Fokus des Stückes steht. Auch seine szenische Dauerpräsenz, die erste Position im Personenverzeichnis und die Tatsache, dass er die einzige Figur mit Sologesangspartien ist, weisen darauf hin. Außerdem ist auffällig, dass der Chor ausschließlich die Taten des Mannes reflektiert und kommentiert sowie, dass seine mimischen und gestischen Handlungen im Nebentext quantitativ umfangreicher festgelegt werden. Auch die Raumordnung ist auf ihn verwiesen: So erweitert sich der sichtbare Bühnenausschnitt im ersten Bild in dem Moment, in dem der Mann aufsteht (GH 236) und wird die Sichtbarkeit der Grotte am Ende des ›Lichtsturms‹ explizit mit ihm verbunden (GH 242). Doch seine Verbindung zum Bühnenraum ist noch weitreichender. Die Formulierung, dass der Herr auf der Bühne »erscheint« (GH 238), ist bezeichnend für das plötzliche Auftreten der Figuren. Sie ›erscheinen‹ und ›verschwinden‹, ohne dass das ›off-stage‹ semantisiert wäre. Man kann sagen, dass es in diesem Stück kein Außerhalb der Bühne gibt: So wie die Szenenbilder durch Verwandlungen ›emergieren‹, so haben die Figuren intradiegetisch keine Existenz jenseits der Bühne. Jenseits des Wahrnehmungsbereichs des Mannes, unabhängig von ihm, gibt es sie nicht. Seine Wahrnehmungsweise ist mithin universalisiert – der Zuschauer nimmt nur wahr, was der Mann wahrnimmt.234 233 Ebd., S. 281. 234 Man kann einwenden, dass der Stofffetzen, den der Herr im dritten Bild dem Mann zuwirft und offensichtlich dem Kleid der Frau zugehört, einen sexuellen Kontakt zwischen Herr und
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Als Schlüsselszene muss der ›Lichtsturm‹ angesehen werden.235 Er durchbricht das zirkuläre Geschehen und bietet ein synästhetisches Crescendo, das auf den darauf folgenden Beziehungskonflikt vorausdeutet, da an seinem Ende diejenige Grotte erhellt ist, in der die Frau und der Herr auftreten und die Schmerzen des Mannes mittels seiner parallel zum Crescendo stattfindenden Pantomime vorweggenommen werden (GH 242). Die bereits zitierte Regieanweisung, das Verhalten des Mannes habe so zu wirken, als ginge das Crescendo von ihm aus (ebd.), findet sich ausschließlich hier und verstärkt den Eindruck der Wichtigkeit dieses Vorgangs.236 Außerdem werden in der Partitur mit »Hilfe eines umfangreichen Zeichenapparates […] die zahlreichen Farb-Licht-Wechsel dem musikalischen Geschehen genau zugeordnet«237, was in der Häufigkeit ebenfalls einmalig ist. Nicht zuletzt zeigt sich die Singularität des ›Lichtsturms‹ im Musikalischen. Während die Kreisstruktur des Stücks in den Bildern 1 und 4 durch einen Ostinato-Akkord reflektiert wird238 und das Stück im Ganzen eine der Idee des Symphonischen entlehnte Bearbeitung des musikalischen Materials vornimmt239, erscheint der ›Lichtsturm‹ musikalisch eigenständig und in sich geschlossen konstruiert.240 Schon der im Nebentext für die Farbwechsel und den Wind verwendete Terminus »Crescendo« verweist auf die kontinuierlichen Veränderungen, die diesem Abschnitt im Unterschied zum stärker gegliederten Rest eigen ist.241 Musikalisch wird das geleistet durch »die entwickelnd variative Entfaltung weniger musikalischer Motive, die in ihrer stetigen Präsenz einerseits Einheitlichkeit gewähren, in ihrer stetigen Umgestaltung aber zugleich dem prozessualen Charakter des Geschehens gerecht werden.«242 Die knapp 29 Takte des ›Lichtsturms‹ vollziehen somit eine »Verbindung von Kontinuität und Dif-
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Frau ›off-stage‹ symbolisiert. Doch ändert das nichts daran, dass auch diese (potentielle) Handlung unmittelbar auf den Protagonisten bezogen ist, da es ein Geschehen suggeriert, das der Protagonist selbst zu deuten hat. Dessen Außergewöhnlichkeit ist schon Schönbergs Zeitgenossen aufgefallen (vgl. Wellesz: Arnold Schönberg, S. 135) und hat dafür gesorgt, dass dieser Abschnitt in der Forschung als entscheidende Stelle des Stückes gedeutet wurde (vgl. Crawford: Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk, S. 591; Paland: »Die glückliche Hand«, S. 49f., Auner: Die glückliche Hand, Drama mit Musik op. 18, S. 264). Dass die Regieanweisung im Konjunktiv steht, ist dabei weniger wichtig als der Umstand, dass die Verbindung zwischen ›Lichtsturm‹ und Protagonistin explizit gezogen wird. Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 18. Vgl. Auner: Die glückliche Hand, Drama mit Musik op. 18, S. 258–260. Auch Mäckelmann bezeichnet »das ostinatoartige Hauptstimmelement« in Bassklarinette und Fagotten als »Ausgangspunkt der Komposition« (Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 10). Vgl. Paland: »Die glückliche Hand«, bes. S. 182. Vgl. Wörner: Symbolismus und Expressionismus, S. 164. Paland: »Die glückliche Hand«, S. 151. Ebd.
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ferenzierung«243, die die musikalischen Motive des Abschnitts zum Ende hin vereinheitlicht und für eine gewisse Teleologie hin zum daran anschließenden Beziehungskonflikt sorgt.244 Die Schlüsselszene der glücklichen Hand ist der ›Lichtsturm‹ auch deshalb, weil in ihm ein synästhetischer Vorgang unmittelbar mit dem Protagonisten verbunden wird – mehr noch: weil er als von diesem ausgehend erscheinen soll. Damit ist es der einzige Moment, in dem der das Stück durchziehende musikalische und farbpsychologische Nachvollzug des szenischen Geschehens245 explizit gemacht – und damit die Künstlerthematik des Mannes mit dem Kunstwerk Die glückliche Hand überlagert wird. Diese Überlagerung hat Paland zu der These geführt, dass im ›Lichtsturm‹ ein zweites Kunstwerk neben der Schaffung des Diadems zu sehen ist.246 Anstatt wie Adorno eine Inkonsistenz darin zu sehen, dass mit dem Diadem ein nutzloses Schmuckstück und nicht ›Wahrheit‹ geschaffen werde247, erweist sich die Schmiedeszene intradiegetisch als ›falsche‹ Kunstproduktionstechnik, weil sie leichthändig erfolgt. Es ist gerade der lebenspraktisch erfahrene Schmerz, der sich im ›Lichtsturm‹ als (gesamt-)künstlerische Vision artikuliert.248 Der bemerkenswerte Sprung von der Handlungszur Werkebene, der sich in der ›Schaffung‹ des Crescendos durch den Mann und seiner theatralen Realisierung innerhalb von Die glückliche Hand zeigt, ließe sich somit als myse-en-abyme des Drama[s] mit Musik insgesamt lesen: als szenische Darstellung der Vision eines Produktionsprozesses, der die Spannung zwischen Künstlerschicksal-Phantasmatik und Lebensrealität künstlerisch produktiv zu machen versteht. Wie oben angedeutet ermöglicht eine solche Lesart, die szenischen und motivischen Inkonsistenzen des Textes dem Bewusstsein dessen zuzurechnen, der die Vision hat. Das merkwürdige Amalgam aus Künstlermotivik, theosophischen Ideologemen249, einer Weininger’schen Geschlechteranthropologie250, christolo243 244 245 246 247
Ebd. Vgl. ebd, S. 156. Vgl. Wörner: Symbolismus und Expressionismus, S. 162f. Paland: »Die glückliche Hand«, S. 49f. Vgl. Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 12. Frankfurt a.M. ²1990, S. 50. 248 Paland hat gezeigt, dass dies mit Schönbergs Programmatik konsistent ist (vgl. ebd., S. 18 u. 49f.). Auch in einem dem Schönberg-Kreis entstammenden und vom ›Meister‹ abgesegneten Buch von 1912 findet sich eine Formulierung, die auf die Konsistenz der hier vertretenen Interpretation mit der Schönbergschen Epistemologie hindeutet: »Die Welt ist der nach außen gekehrte Innenmensch.« (Linke, Karl: Einleitung. In: Berg, Alban: Arnold Schönberg, Wien o. J. [1912], S. 18, zit. n.: Grun: Arnold Schönberg und Richard Wagner, S. 498). 249 Vgl. Mäckelmann: Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik«, S. 26f. 250 Vgl. Paland: »Die glückliche Hand«, S. 42f.
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gischer251 (Wunde am Fuß), heroisch-kreuzfahrerischer (Säbel und Türkenköpfe am Gürtel) Symbolik sowie sozialer Zuordnung (Arbeiter in der Werkstatt und Herr im Anzug) und metaphysischen Momenten (das Fabelwesen) – zu schweigen von der schon im Titel angedeuteten Raumsemantik252 – muss dann nicht, wie in der Forschung bislang versucht, gegeneinander differenziert und ausgespielt werden, sondern kann als unentwirrbares Geflecht aus Wünschen und Ängsten des Bewusstseins bezeichnet werden. Auch die szenischen wie musikalischen Wagner-Kontrafakturen lassen sich als die Auseinandersetzung eines Künstler-Bewusstseins mit Wagners Motivik auffassen, wobei die Kürze und Konzentriertheit des Stücks die Distanz zu dieser unterstreicht. Anstelle des Wagner’schen Heroismus und seiner epischen Breite sowie anstelle seiner leitmotivischen Verarbeitung des musikalischen Materials setzt Schönberg die Vision eines alternativen Gesamtkunstwerks, das musikalisch wie motivisch radikal modern ist. Diese Modernität erweist nicht zuletzt die Verräumlichung des Bewusstseins als Mittel zur szenischen Darstellung komplexer Bewusstseinslagen. Die Szene imaginiert somit ein unentrinnbares Geschehen, in dem heroischer Anspruch und lebensweltliches Unglück ein aus Leid geborenes Kunstwerk entstehen lassen, das aufgrund seines Gesamtkunstwerk-Charakters einer handwerklichen wie auch epigonalen (Wagnerismus) Kunstproduktion kategorisch überlegen ist. Dieses Kunstwerk ist schließlich – Die glückliche Hand selbst.253 Abschließend muss noch geklärt werden, was das in Bezug auf die in diesem Kapitel beschriebene Formoption bedeutet. Wie erwähnt, erweist sich der Raum in Schönbergs Stück als emergent: Er konstituiert sich durch das Geschehen und ist jenseits seiner Grenzen inexistent, insofern keine Deixis und keine Referen251 Vgl. Kämmerer: Illusionismus und Anti-Illusionismus im Musiktheater, S. 50 u. Grun: Arnold Schönberg und Richard Wagner, S. 465f. 252 Die Differenzierung einer linken, ›glücklichen‹, von einer rechten, ›unglücklichen‹ Seite kehrt die klassische Rechts-links-Semantik um, was wohl die Außergewöhnlichkeit des Protagonisten symbolisiert (vgl. Grun: Arnold Schönberg und Richard Wagner, S. 463). Dass es sich bei der Bewertung der das Diadem schaffenden linken Hand als ›glückliche‹ um eine ironische Formulierung handelt, hat Schönberg selbst verlauten lassen (vgl. ebd.) – und für den im ›Lichtsturm‹ dargestellten Schaffensprozess sind in der Tat beide Seiten nötig: die schaffende so sehr wie die von der Lebenswelt affizierte. Gleiches gilt für die vertikale Semantik von Erhöhung und Erniedrigung (vgl. Mauser: Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule , S. 34): Die am Anfang und Schluss zu sehende niedergedrückte Haltung des Mannes stellt nicht minder die Voraussetzung für den ›Lichtsturm‹ dar als das Geschehen in den hoch gelegenen Grotten. Insofern sollte die Bedeutung der Raumsemantik nicht überschätzt werden. 253 Man darf somit abschließend sagen, dass es für den Biografismus der Forschung durchaus Gründe gibt – das Werk aber in der Tat eine künstlerische Bearbeitung biografischen Materials darstellt. Allerdings wird diese Bearbeitung im Stück selbst realisiert und ist somit bereits Teil der Diegese.
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tialisierung dieses Jenseits aktualisiert. Die Grenze zum off-stage ist in Die glückliche Hand überdies eine verschiebbare, weil sie durch Lichtregie und Bühnenbild variabel markiert wird. Auch diese Grenze ist also abhängig von dem auf den Mann perspektivierten Geschehen, wie auch die zirkuläre Zeitstruktur um ihn kreist. Das ist konsequent, denn die raumzeitliche Konzentration des Stückes auf den Protagonisten konvergiert somit mit der Totalität der szenisch präsentierten künstlerischen Vision. So wie das Stück die Integration scheinbar divergenter Parameter und Motive leistet und damit »nichts Geringeres als eine neuartige Form des Gesamtkunstwerks«254, mithin ein Kunstwerk höherer Ordnung erschafft, so unterstreicht die Variabilität des Bühnenraums und mithin die Dynamik seiner Grenze die Totalität künstlerischer Potenz, die als Vision zur Realität wird. Das heißt auch, dass sich hier die oben angedeutete Korrelation von gattungstechnischer und bühnenräumlicher Grenzverschiebung am deutlichsten zeigt. In Verbindung mit Sehnsucht ergibt sich daraus der bemerkenswerte Befund, dass dort, wo die Grenzen der (musik-)dramatischen Gattung hin zu einem Gesamtkunstwerk transzendiert werden, die Raumgrenzen ihre in den ersten beiden in diesem Kapitel analysierten Stücken aufgezeigte Funktionen einbüßen und überspielt werden. Anstelle über verschiedene Semantisierungen der Grenzüberschreitung von ›onstage‹ und ›offstage‹ den Weltkontakt der dramatisierten Subjekte zu organisieren, strukturieren die ›Gesamtkunstwerke‹ ihre Räume derart, dass diese – der Bühnenraum sowie die darin inszenierten ozeanischen bzw. universalisierenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinsräume – als entgrenzt erscheinen. Subjektsemantisch ist damit eine nachgerade hypertrophe Überwindung aller Depotenzierungsängste zur Darstellung gebracht: Anstelle das Selbst- und Fremdverhältnis des Subjekts mittels eines raumtechnischen ›Grenzverkehrs‹ zu dramatisieren, entgrenzen die synästhetischen Stücke die Bühne, worin sich entgrenzte Subjektivität spiegelt.
254 Paland: »Die glückliche Hand«, S. 28.
Diskontinuierliche Szenenfolgen
2.2
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Diskontinuierliche Szenenfolgen und ihre Leistungen für die Darstellung von Subjekt-Semantiken
2.2.1 Einleitung: Die diskontinuierliche Szenenfolge als Begriff und in der Dramenhistorie Während die im vorigen Kapitel analysierten Texte psychische bzw. ›seelische‹ Prozesse durch Verräumlichung des ›Ich‹, mithin durch räumliche wie zeitliche Konzentration auf eine Situation, dramatisch darstellbar gemacht haben, beschreiten die im Folgenden behandelten Stücke – Schnitzlers Anatol und Kaisers Von morgens bis mitternachts – den entgegengesetzten Weg. Sie bieten statt einer einzigen Szene eine Sequenz von Szenen, die nicht raumzeitlich kontinuierlich abläuft, sondern die dramatische Sukzession auf verschiedene Weise durchbricht. Leitende These dieses Kapitels ist, dass diese ›Diskontinuierung der Szenenfolge‹255 spezifische Leistungen dafür erbringt, die jeweiligen Problematisierungen von Subjektivität zu dramatisieren. Es wird davon ausgehend der Versuch unternommen, die Beziehung der ›diskontinuierlichen Szenenfolgen‹ zu den darin behandelten Subjekt-Semantiken als korrelatives Verhältnis zu beschreiben, also nachzuweisen, dass die Struktur der Texte auf die Ausgestaltung der Subjekt-Thematik in den Texten wirkt. Dies ist allerdings keine Innovation von Dramentexten um 1900; Goethes »Faust«-Dramen, Büchners »Woyzeck« oder Ibsens »Peer Gynt« ließen sich auch derart beschreiben. Jedoch ist auffällig, dass die beiden erstgenannten Texte um 1900 erst in ihrer subjektsemantischen Dimension theaterpraktisch realisierbar werden. Um zu zeigen, dass der Konnex von szenischer Diskontinuität und Subjekt um 1900 auch theatral virulent geworden ist, wird dieser begrifflich und dramenhistorisch orientierten Einleitung ein kleiner theatergeschichtlicher Exkurs angefügt, der die Aufführungsgeschichte der »Faust«-Dramen und des »Woyzeck« bis in den Untersuchungszeitraum nachverfolgt. Zunächst sei geklärt, wovon sich der gewählte Begriff der ›diskontinuierlichen Szenenfolge‹ unterscheidet. Die beiden Relata, von denen er unterschieden sei, liegen dabei auf unterschiedlichen Ebenen: Während es sich bei der ›kontinuierlichen Szenenfolge‹ um das viel geläufigere Antonym des hier vorgeschlagenen Begriffs handelt, fokussiert der Begriff des ›Stationendramas‹ eine alternative Bezeichnung für das damit bezeichnete Strukturphänomen. Die unterschiedenen 255 Die einfachen Anführungszeichen sollen hier anzeigen, dass es sich bei der Formulierung der (dis)-kontinuierlichen Szenenfolge um eine heuristische Kategorie handelt, die in der Forschung noch nicht geläufig ist. Für den Begriff der Kontinuität spricht m. E. gerade, dass er nicht bereits für Fragen der Zeitstruktur und Informationsvergabe belegt ist, wie es etwa bei dem der Sukzession der Fall ist (vgl. Platz-Waury: Drama und Theater, S. 120–127).
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Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
Begriffe zu beleuchten dürfte dabei helfen, die Leistungen des Begriffs wie des Phänomens der szenischen Diskontinuität zu konturieren. Um mit dem Antonym zu beginnen: Die ›Kontinuität der Szenenfolge‹ in zeitlicher und räumlicher Hinsicht darf als eine der grundlegenden Strukturmerkmale der klassischen Dramaturgie und besonders ihrer sog. ›geschlossenen Form‹ gelten.256 ›Geschlossenheit‹ wird gerade dadurch erreicht, dass die dramatische Sukzession nicht durch Zeitsprünge oder (unmotivierte) Szenenwechsel sowie Nebenhandlungen unterbrochen wird. So läuft hier Zeit als »reine Sukzession« ab, was bedeutet, dass die einzelne Szene durch Vor- und Rückbezüge »unselbständiges Glied in einer Kette« ist und ihrer eigenen szenischen Gegenwart keine »Eigenmacht«257 zukommt. Eine solchermaßen fehlende Autonomie der Einzelszene ermöglicht die Konstruktion des dramatischen Geschehens als intern hochgradig strukturiertem, kohärentem Verweisungszusammenhang, womit ein Fokus auf den »Nexus der Begebenheiten, ihr Wechselwirken, ihr Spiel von Aktion und Reaktion im Bewußtsein der Personen« einhergeht.258 Im Hinblick auf die Raumordnung der ›kontinuierlichen Szenenfolge‹ muss auf die Unterordnung der Szene unter den Akt hingewiesen werden: Dieser wird als in sich geschlossene Stufe der Handlung angesehen, sodass die zeitlichen Intervalle und Ortswechsel in die Aktpausen fallen.259 Der Raum erweist sich dadurch als (mindestens) aktweise kontinuierlich und rückt zudem durch seine geringe semantische Aufladung tendenziell aus dem Blick: Da sich die Orte in ihrer Funktion als bloße Spielfläche und in ihrer Art als abgeschlossene Gesellschaftsräume so stark ähneln, wird selbst bei Ortswechseln der Eindruck bruchloser Kontinuität kaum getrübt.260 Ihre radikalste Ausprägung hat die kontinuierliche Szenenfolge als Norm der ›liaison des scènes‹ im französischen Klassizismus gefunden.261 Diese Regel forderte, zwischen dem Abtritt einer Figur (oder Figurengruppe) und dem Auftritt einer anderen die Bühne niemals leer zu lassen, sondern Zwischenauftritte einzufügen, in denen es – wenn nötig – zu einem kompletten Austausch der 256 Vgl. Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama [1960]. 13., neu durchgesehene Auflage. München 1992. Die Problematik der Klotzschen Typologie, deren zwei Dramenformen allzu leicht als überhistorisch gültige Essentialien gelesen werden können (vgl. nur Pfister: Das Drama, S. 319), stellt sich auch für die hier verwendeten heuristischen Kategorien. Dem wird bei Klotz dadurch zu begegnen versucht, dass die dramenhistorischen Orte der jeweiligen Kategorie benannt und dazu die historische Varianz dieser Kategorien berücksichtigt werden. An diesen Versuch wird hier angeschlossen. 257 Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 41. 258 Ebd., S. 44. 259 Vgl. ebd., S. 67. 260 Vgl. ebd., S. 55–58. 261 Vgl. Scherer, Jacques: La dramaturgie classique [1950]. Nouvelle édition revue par Colette Scherer. Préface de Georges Forestier. Paris 2014, hier: S. 389–415.
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Figurenkonfiguration kommt. Überdies sollten jeder Auftritt angekündigt werden, sodass keine Figur ›wie zufällig‹ auf die Bühne gelangt. Für diese Forderungen, deren Hauptverfechter mit d’Aubignac und Corneille entscheidende Theoretiker der doctrine classique waren, gab es vor allem zwei Gründe. Zunächst sollte durch die Zwischenauftritte pragmatisch vermieden werden, dass in den schmalen und sehr tiefen Hofbühnen zu viel tote Zeit zwischen den Abtritten der einen und den Auftritten der anderen entstand, was der dramatischen Illusion zuwidergelaufen wäre.262 Andererseits sollte durch diese Verkettungsregel gewährleistet sein, dass die in der klassizistischen Tragödie gespiegelte höfische Repräsentanz keine Leerstelle zu gewahren hatte und alle Figuren den ihrem Status angemessen angekündigten Auftritt bekamen.263 So ist gezeigt worden, dass diese Norm mit spezifischen Regeln höfischer Performanz in Verbindung steht und dass mit deren Problematisierung im Laufe des 18. Jahrhunderts auch die daraus abgeleiteten Auftrittsregeln infrage gestellt werden, wie es etwa in Schillers »Don Carlos« geschieht.264 Beiden Aspekten gemeinsam ist ihr Ziel, das Prinzip der Kontinuität in der klassischen Dramaturgie durchzusetzen, ohne dem Grunddogma der vraisemblance – durch allzu unplausible Ankündigungsrepliken bzw. -dialoge – zuwiderzulaufen.265 Diese historisch wie kulturell sehr spezifische Extremform szenischer Kontinuität wurde hier erwähnt, weil sich an ihr erweisen lässt, welche Leistungen das Prinzip szenischer Kontinuität in toto erbringt: Mit ihr wird erstens die Geschlossenheit des dramatischen Geschehens gewährleistet und sie stützt zweitens theatrale Paradigmen, die die bruchlose theatrale Repräsentation des Dramentextes fordern – was neben dem höfischen Theater auch für das Illusionstheater seit dem 18. Jahrhundert gilt. Es wäre denkbar, anstelle des gewählten Begriffs der ›diskontinuierlichen Szenenfolge‹ den längst eingeführten des Stationendramas zu wählen. Dieser rührt von August Strindberg her, dessen letztes Drama »Stora landsvägen« (1909, dt. »Die große Landstraße«) im Untertitel die Selbstbezeichnung »Vandringsdrama i sju stationer« (»Ein Wanderdrama in sieben Stationen«) trägt. In die deutschsprachige Literaturwissenschaft wurde der Begriff bereits 1934 eingeführt266 und hat sich gegen die konkurrierende Bezeichnung »Wanderungsdrama«267 durchgesetzt.268 Auch sachlich hat sich der Bezug zu Strindberg durch262 263 264 265 266 267
Vgl. ebd., S. 390–396. Vgl. Vogel: Aus dem Takt, S. 532–536. Vgl. ebd., S. 536f. u. 546. Vgl. Scherer: La dramaturgie classique, S. 407f. Vgl. Vriesen, Hellmuth: Die Stationentechnik im neueren deutschen Drama. Essen 1934. Vgl. Volz, Ruprecht: Strindbergs Wanderungsdramen. Studien zur Episierung des Dramas mit einer Edition unveröffentlicher Entwürfe zu »Till Damaskus IV«. München 1982. 268 In Denklers Typologisierungsvorschlag, das Korpus expressionistischer Dramatik in Handlungs- und Wandlungsdramen zu unterteilen und letztere als ›opernahe‹, ›filmnahe‹ und ›einpolige‹ Wandlungsdramen weiter zu differenzieren, hat die Gattung des Stationendra-
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gesetzt: Während dieser bei Vriesen nur als einer der »Wegbereiter des neueren Stationendramas« gilt und somit in eine Reihe mit spätmittelalterlichen Mysterienspielen, Büchner, Hauptmann und Wedekind gestellt wird269, exkludiert Stefanek in seinem Beitrag alle Vorläufer, indem er die historisch variante Stationentechnik von dem mit Strindberg erst beginnenden und im Expressionismus sich ausprägenden Stationendrama unterscheidet270 – worin ihm die Forschung gefolgt ist.271 Das wird damit begründet, dass mit dem Begriff des Stationendramas spezifischere Kriterien verbunden sind als mit der ›Diskontinuität der Szenenfolge‹ oder gar der ›offenen Dramenform‹272, und dass deren Modernität das Resultat der Rezeption von philosophischen Positionen ist, die es vor Strindberg noch nicht gegeben hat.273 Erst durch diese Besonderheiten könne das Stationendrama als »avantgardistische Alternative zu herkömmlichen Mustern Geltung beanspruchen«.274 Die Autonomie der Einzelszene, die nach Klotz typisch für die Dramen der ›offenen Form‹ sind275, wird im Stationendrama Strindberg’scher Art insofern relativiert, als dass sich die Einzelszene in ein Schema fügt, wodurch sie wiederum einer Verkettungslogik unterworfen wird.276 Doch anstelle einer Verkettung nach Handlungsgesichtspunkten wie in der klassischen Dramaturgie bildet »die Einheit des Ich«277 (also der Protagonist des Stücks) das die Stationen verbindende Moment. So wird der Begriff der Station dahingehend semantisiert,
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mas insofern ihren Ort, als dass sie in das ›einpolige Wandlungsdrama‹ eingeordnet wird (vgl. Denkler: Drama des Expressionismus [1967], S. 173–252). Allerdings ist die Forschung Denklers kühnem Synkretismus aus inhaltlichen, formalen und medialen Differenzkriterien nicht gefolgt, da deren Vermischung methodisch schwierig und es zudem fraglich ist, ob das Motiv der Wandlung tatsächlich alle Stationendramen angemessen erfasst. Vgl. Vriesen: Stationentechnik, S. 21–45. Vgl. Stefanek, Paul: Zur Dramaturgie des Stationendramas. In: Keller, Werner (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas. Darmstadt 1976, S. 383–404, S. 387f. Strukturbildend auf Stefaneks Position hat Peter Szondis Problematisierung des Strindbergschen Stationendramas gewirkt (vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 46–51). Vgl. etwa Evelein, der in der Einleitung zu seiner Monographie das Ziel ausgibt, die Strukturanalogien der expressionistischen Stationendramen zu Strindbergs Texten aufzuweisen (vgl. Evelein, Johannes F.: August Strindberg und das expressionistische Stationendrama. Eine Formstudie. New York, NY [u. a.] 1996, hier: S. 2); vgl. auch Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus; Glauser, Jürg: Art. Stationendrama. In: RLW III, S. 499f. sowie Hudson-Wiedemann: Ursula: Art. Stationendrama. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 697–702. Von dieser Heuristik hebt Stefanek sich betont ab (vgl. Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 389f.). Vgl. ebd., S. 387. Ebd. Vgl. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 150–153. Vgl. Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 384. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 47.
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dass er als symbolischer Wegpunkt278 auf der ›inneren‹ (seelischen, spirituellen, intellektuellen) und/oder äußeren Wanderschaft des Protagonisten erscheint. Das Drama wird auf die Ich-Figur hin perspektiviert, was bedeutet, dass die Handlungsdarstellung der »Schilderung und Enthüllung der Innenwelt des Protagonisten« dient, welche »als ein Arrangement lebender Bilder in bewußter Stilisierung und Abstraktion auf die Bühne projiziert«279 wird. Dass die konsequente Perspektivierung des Dramas auf den Protagonisten erst bei Strindbergs »Till Damaskus«-Dramen und nicht schon in ähnlich diskontinuierlichen, auf eine Ich-Figur hin orientierte Dramen wie »Faust« oder »Woyzeck« gegeben ist, wird mit der Aneignung der Kierkegaard’schen Existenzphilosophie bei Strindberg und der großen Bedeutung von Nietzsches erkenntniskritisch fundiertem ›Lebenspathos‹ für die expressionistischen Autoren erklärt.280 Erst diese radikal den einzelnen Menschen fokussierenden Philosophien hätten die Grundlage für ein Dramenmodell geboten, dessen Protagonist als sozialer Außenseiter mit einer als feindlich erlebten Welt interagieren muss.281 Auch ist eine hinreichende Tendenz zur Abstraktion der Bühnenfigur vonnöten, um die Nebenfiguren der Stationendramen als symbolische Externalisierungen der inneren Spannungen der ›Ich-Figur‹ erscheinen zu lassen. Erst die antimimetische Wende der Nach-Inferno-Zeit sowie die Anwendung existenz- und lebensphilosophischer Postulate stellen in dieser Sichtweise die Ermöglichungsbedingungen für ›das‹ Stationendrama dar. Die Leistung dieses engen Begriffs von Stationendrama ist daher auch, die Merkmale einer recht distinkten Gruppe von Dramentexten von 1898 bis 1920 präzise bestimmen zu können. Eine seiner Konsequenzen besteht dann darin, diese Form im Sinne Szondis als Übergangs(oder gar Krisen-)Phänomen dramatischer Formgebung zu beschreiben und daran anschließende Stationendramen als deren Überwindungen zu charakterisieren.282 Entscheidend für das vorliegende Kapitel ist überdies, dass bei einer solchen Begriffsverwendung die Varianz diskontinuierlicher Szenenfolgen im Zeitraum von 1890 bis 1920 nicht erfasst wird und tendenziell aus dem Blick gerät. Daher wird in Anerkennung der Beschreibungsqualität des engen Stationendrama-Begriffs, aber angesichts der Einengung des Blicks, die dieser mit sich 278 Zur Bedeutung der Weg-Symbolik für eine Reihe von Dramenformen seit den Mysterienspielen vgl. Neudecker, Norbert: Der »Weg« als strukturbildendes Element im Drama. Meisenheim am Glan 1972. 279 Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 389. 280 Vgl. Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, S. 9–37. 281 Vgl. Evelein: August Strindberg und das expressionistische Stationendrama, S. 92–99. 282 Vgl. Stefanek, der drei Tendenzen der Dramatik ab 1920 ausmacht, in denen die Grenzen und die Auflösung der Gattung evident werden und die er mit »Restauration der Fabel«, »weitere Auflösung zur szenischen Revue« und »Entwicklung zu komplizierteren szenisch dramaturgischen Formen« betitelt (Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 401, 402 u. 403).
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bringt, im Folgenden auf ihn verzichtet.283 Der Begriff der ›diskontinuierlichen Szenenfolge‹ nimmt sich dagegen vor, sehr allgemein und von Inhalten abstrahierend die Dramen zu erfassen, die nicht sukzessiv und kohärent strukturiert sind. Seinen analytischen Wert wird er aber erst erwiesen haben, wenn durch ihn die Verbindung der zwei strukturell wie ästhetisch sehr disparaten Dramen plausibilisiert werden konnte. Wie bislang angeklungen ist, hat die ›diskontinuierliche Szenenfolge‹ im hier interessierenden Sinne eine lange Geschichte. So lassen sich spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter in Europa284 theatrale Aufführungspraktiken und dramatische Formen ausmachen, die auf Diskontinuität beruhen. Die einschlägigen theatralen und dramatischen Entwicklungen sind hierbei kaum auseinanderzuhalten und seien nun gebündelt und schlaglichtartig erwähnt. Darunter fallen etwa die spätmittelalterlichen Geistlichen Spiele, deren Bezug zur Heilsgeschichte und enge Anlehnung an die Liturgie285 zu einer breit angelegten, episodenhaften Szenenstruktur und entsprechendem Umfang der Spieltexte führt. Das Shakespearetheater um 1600 mit seiner Integration von textuell tradierten und volkstümlichen theatralen und dramaturgischen Traditionsbeständen286 sowie seiner nicht-illusionistischen Aufführungspraxis287 hat sich der Diskontinuität von Szenen bedient. Auch das im Hoftheater der Frühen Neuzeit virulente und beliebte Modell des Theaterfests folgt einer Struktur der Diversität288 und ist trotz der starken Kritik der Theaterreformer des 18. Jahrhunderts nur sehr zögerlich der abendfüllenden Darbietung eines einzigen, in sich ›geschlossenen‹ Stückes gewichen. Der entschiedene Antiklassizismus der Autoren des Sturm und Drang – und deren Rückgriff auf Shakespeares Formlösungen – hat dann vielortige historische Dramen (»Götz«) ermöglicht und Dramen mit episodischer 283 Von dem bei Stefanek als »archaische dramaturgische Form« bezeichneten Begriff der »Stationentechnik« wird abgesehen, weil er den stark semantisierten Stationenbegriff mit sich führt und jener somit unweigerlich in Bezug zu dessen Implikationen gesetzt wird (Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 387). 284 Die ostasiatischen kultischen Theaterformen haben eigenständige Dramaturgien ausgebildet und durch ihre Trennung von Tanz, pantomimischer Darstellung und Text-Vortrag ohnehin andere Vorstellungen dramaturgischer Kohärenz gewonnen (zur Orientierung vgl.: Kindermann, Heinz (Hg.): Einführung in das ostasiatische Theater. 2., grundlegend veränderte Auflage. Wien [u. a.] 1985). 285 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Kablitz, Andreas / Neumann, Gerhard (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg i.Br. 1998, S. 541– 571. 286 Vgl. Weiß, Wolfgang: Die dramatische Tradition. In: Schabert, Ina (Hg.): ShakespeareHandbuch [1972]. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2009, S. 47–70. 287 Vgl. Castrop, Helmut: Das elisabethanische Theater. In: Schabert, Ina (Hg.): ShakespeareHandbuch [1972]. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2009, S. 71–116. 288 Vgl. Bayerdörfer: Einakter mit Hilfe des Würfels?, S. 35.
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Struktur wie den ersten Teil des »Faust«289 oder den »Woyzeck«290 den Weg geebnet. An den beiden letztgenannten Texten wird sich zudem zeigen lassen, dass die Verbindung von diskontinuierlicher Struktur und Subjekt-Thematik schon vor 1900 produktiv gemacht wurde. Fasst man die eben skizzierten Theatermodelle und Dramenformen im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse zusammen, so zeigt sich, dass ›diskontinuierliche Szenenfolgen‹ historisch immer dann zur Anwendung kamen, wenn weniger ein Konflikt zwischen zwei (oder mehr) Parteien bzw. Figuren als die Entwicklung eines Einzelnen – sei er Heiland, König oder Soldat – dramatisiert wird.291 Theatralisch haben alle diejenigen Formen Affinitäten zur hier behandelten Dramenform, die nicht an der Konzentration, sondern an der Diversität der Theateraufführung interessiert sind. Erstere lassen episodische und Stationenstrukturen erkennen, letztere solche der Revue. Der Umstand, dass episodische, stationäre und Revue-Formen ab 1900 als genuin moderne dramaturgische Optionen wahrgenommen werden, lässt eine bemerkenswerte Analogie zur Entwicklung der literarischen Form des Einakters aufscheinen. Wie diese Form von einer anspruchslosen Unterhaltungsgattung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur entscheidenen Experimentalform des modernen Dramas nobilitiert wurde292, hat sich auch der Charakter der diskontinuierlichen Szenenfolge gewandelt. So wird die Revue- und Stationenform als eine in der Frühen Neuzeit eher im Volkstheater und dem Theaterfest anzutreffende Struktur um 1900 bei Strindberg zu einer maßgeblichen ›modernen‹ Dramenform aufgewertet. Wie für den literarischen Einakter gilt auch hier, dass gerade ihre ›Unklassizität‹ dann an Attraktivität gewinnt, wenn die dramaturgischen Beschränkungen der ›geschlossenen‹ Form offensichtlich werden und alternative Dramenstrukturen des populären Bereichs ›literaturfähig‹ werden. 289 So hat Eibl die Attraktivität des Faust-Themas für den Sturm-und-Drang-Goethe gerade darin gesehen, dass er ein »Oppositionsstoff« gewesen ist: »Er gehörte der wildwüchsigen Pöbelliteratur zu, der Welt der Puppenspiele und Volksbücher, derselben Motiv- und Formulierungswelt wie Hanswurst.« (Eibl, Karl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes »Faust«. Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, S. 41). 290 Zum Einfluss des Sturm und Drang auf Büchners Antiklassizismus vgl. nur die Informationen bei Hofmann, Michael / Kanning, Julian: Georg Büchner. Epoche – Werk – Wirkung. München 2013, S. 26–35. Es sei ferner nicht verschwiegen, dass in der Forschung Zweifel bestehen über die ›offene Form‹ des Dramas, was sich aber eher gegen die Generalisierungen der Klotzschen Typologie richtet, in der das Drama als idealtypisch für formale Offenheit dargestellt wird (vgl. Dedner, Burghard: Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte – »geschlossene Form«. In: Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/89), S. 144–170). 291 Vgl. bereits Paulsen, Wolfgang: Georg Kaiser. Die Perspektiven seines Werkes. Mit einem Anhang: Das dichterische und essayistische Werk Georg Kaisers. Eine kritische Bibliographie. Tübingen 1960, S. 53. 292 Vgl. die Hinweise in Abschnitt 4.1 des Hinführungsteils (A). Dort findet sich auch die einschlägige Forschung.
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Strukturell analog erscheinen beide durch die Aufwertung der einzelnen Szene, die im Stationendrama hinsichtlich des dramatischen Ganzen an Eigenständigkeit gewinnt und im literarischen Einakter derart autonom wird, dass sie das Ganze des Dramas darstellt. In dieser Hinsicht erscheint der literarische Einakter als radikalstes Resultat einer Bewegung hin zur autonomen Einzelszene, während bei Formen wie dem Stationendrama eine Spannung zwischen Einzelszene und Kohärenz herstellender Stationenstruktur zu erwarten ist (und sich in den folgenden Analysen aufzeigen lässt).293 Ein gewichtiger Unterschied zwischen beiden dramaturgischen Formoptionen besteht auf der anderen Seite darin, dass der genuin literarische Einakter von vereinzelten Ausnahmen (etwa Lessings »Philotas«) abgesehen tatsächlich erst um 1890 auftritt, während mit den erwähnten Texten von Goethe und Büchner, aber auch mit Ibsens »Brand« (1865) und »Peer Gynt« (1867) weit vor dem Untersuchungsraum dieser Studie Texte vorliegen, die sich der diskontinuierlichen Szenenstruktur bedienen und hochliterarischen Anspruch vertreten. An ihrer früheren Aufnahme als dramaturgische Option mag Anteil gehabt haben, dass diese Stücke von abendfüllender Länge sind und somit nicht erst im Umkreis institutioneller und theaterästhetischer Innovationen (Freie Bühne bzw. Intimes Theater) aufführbar werden. Gewichtiger dürfte zudem die Kanonisierung bestimmter historischer Formen diskontinuierlicher Dramaturgie, etwa bei Shakespeare, gewesen sein, auf die sich die Dramatiker des 19. Jahrhunderts berufen konnten. Die vielbeschworene Abkopplung der formal avancierten dramatischen Produktion von der Bühnenpraxis um 1800294 sorgte auch für dramaturgische Lizenzen, die sich u. a. in der Gestaltung diskontinuierlicher Szenenfolgen realisierte.
293 Eine ausführlichere Analyse der Beziehung zwischen szenischer Diskontinuität und literarischem Einakter kann hier nicht geleistet werden. Die hier skizzierten Analogien deuten aber darauf hin, dass man stärker als bislang auch die diskontinuierliche Szenenfolge zu erwähnen hat, wenn von genuin modernen Dramenformen gesprochen wird. 294 Vgl. nur Schanze, Helmut: Büchners Spätrezeption. Zum Problem des ›modernen‹ Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Kreuzer, Helmut (Hg,): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte: Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. Stuttgart 1969, S. 338–351, bes. S. 343f.
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2.2.2 Theatergeschichtlicher Exkurs I: Diskontinuität und Subjekt auf der Bühne. Die Aufführungsgeschichte von »Faust« und »Woyzeck« bis hin zur Theatermoderne Die Probleme, die der Bühnenrealismus und -historismus des 19. Jahrhunderts mit vielszenigen und diskontinuierlichen Stücken hatte, lassen sich exemplarisch an der – bis in den Zeitraum dieser Untersuchung dargestellten – Bühnengeschichte des »Faust« und der extrem verzögerten Bühnenrezeption des »Woyzeck« aufzeigen. Diese Stücke sind, wie erwähnt, gerade deshalb bedeutsam, weil sich schon dort szenische Diskontinuität mit der Thematisierung von ›Subjektivität‹ verbindet.295 Damit lassen diese Texte an eine Verlängerung der in diesem Kapitel zur Verhandlung stehenden These in die ›Sattelzeit‹ denken, was hier nicht endgültig geklärt werden kann. Allerdings sei mit der Darstellung der Bühnengeschichte beider Dramen auf einen gewichtigen Aspekt verwiesen, unter dem sich diese von den Texten um 1900 unterscheiden: Theatralisch relevant werden sie erst, wenn die konservativen Theaterästhetiken des 19. Jahrhunderts Konkurrenz erhalten, die Texte mithin nicht mehr als Lesedramen oder bühnenuntaugliche genialische Überspanntheiten rezipiert werden. Die institutionellen und theaterästhetischen Bedingungen, die für ihre theatrale Realisierung vonnöten waren, sind erst um 1900 gegeben gewesen. Erst dann können sie so auf die Bühne gebracht werden, dass ihre szenische Diskontinuität als den Texten adäquat erlebt wird. Pointiert könnte man sagen: Moderne Lesedramen gibt es schon um 1800, moderne Theatertexte erst um 1900.296 Goethes zweiteiliges Faust-Drama ist in seiner Form derart singulär und in sich widersprüchlich, dass sich die Forschung sehr lange mit der Frage befasst hat, ob dessen zwei Teile überhaupt ein kohärentes Ganzes ergeben oder nebeneinander bestehen (der sog. Streit zwischen Unitariern und Fragmentisten297). Für die hier interessierende Strukturfrage ist dabei einerseits zu bemerken, dass die beiden Teile in sich sowie im Verhältnis zueinander zeitlich wie räumlich enorme Sprünge aufweisen und auch handlungstechnisch keine Einheit bilden. So lassen sich im ersten Teil zwar das Nebeneinander der mono295 Eine umfassende Auseinandersetzung mit der bekanntlich uferlosen Forschung zu den beiden Dramen kann hier nicht geleistet werden. Es sei aber auf Greiners Interpretationen verwiesen, die sich vor dem Hintergrund der Gattungstradition der Tragödie intensiv mit der Behandlung von Individualität bzw. Subjektivität in den Texten befassen (vgl. Greiner: Die Tragödie, S. 367–392 (»Faust I«), 499–532 (»Faust II«) u. 604–626 (»Woyzeck«)). Vgl. zudem für den »Faust«: Eibl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes »Faust« und für »Woyzeck« sowie Glück, Alfons: Woyzeck: ein Mensch als Objekt. In: [o. Hg.]: Interpretationen. Georg Büchner. Stuttgart 1990, S. 177–215). 296 Vgl. einmal mehr Puchner: Theaterfeinde, bes. S. 11–54. 297 Vgl. Anglet, Andreas: Faust-Rezeption. In: Witte, Bernd (Hg. u. a.): Goethe Handbuch in vier Bänden. Band 2: Dramen. Hgg. v. Theo Buck. Stuttgart/Weimar 1996, S. 478–513, hier S. 478f.
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dramatischen ›Gelehrtentragödie‹ und der ›Gretchentragödie‹ als Stationen auf dem ›Weg‹ Fausts298 lesen – jedoch sprengen Szenen wie die »Schülerszene«, »Auerbachs Keller« oder der »Walpurgisnachtstraum« erkennbar das strenge Schema des Stationendramas und sorgen für die Integration volkstümlicher Theaterformen wie der Farce und der Burleske oder metatheatraler Formen wie dem Spiel-im-Spiel. Mit der ungewohnten Szenenstruktur hatten die Rezipienten des ersten Teils weite Teile des 19. Jahrhunderts zu kämpfen, was sich in Versuchen niederschlug, ihre Szenenfolge nachträglich ins überkommene Fünfaktschema einzugliedern.299 Auch die klassischer anmutende Struktur des fünfaktigen zweiten Teils trügt bekanntlich, da die einzelnen Akte eigenständige Einheiten darstellen und namentlich die das Doppeldrama einrahmenden letzten beiden Szenen des fünften Aktes auch ontologisch einen Bruch bedeuten.300 Andererseits scheint gerade durch die transzendente Rahmung (Teufelswette) und die schließlich angedeutete Erlösung eine metaphysische Geborgenheit der Faust-Figur auf. Gerade der Umstand, dass er als in ein transzendentes Spiel guter und böser Mächte eingebunden scheint, unterscheidet ihn von den Figuren in »Woyzeck« und in den hier zu behandelnden Stücken um 1900. Allerdings lässt die strukturelle Inkohärenz der Faust-Dramen diese Sinn-Dimension (Integration des Immanenten in die Transzendenz) fragwürdig werden und hält die ästhetische Produziertheit des ausgewiesenen Sinns bewusst. Dass ausgerechnet dieses höchst inkohärente und zumal in seinem zweiten Teil alle Grenzen sprengende Faust-Drama bereits im 19. Jahrhundert auf deutschsprachigen Bühnen gespielt werden konnte, hat verschiedene Gründe, die hier an exemplarischen Inszenierungen skizziert seien. So hat die Uraufführung des ersten Teils unter August Klingemann (14.1. 1829) aufgrund von dessen textueller Redaktion großen Erfolg gehabt: Klingemann ließ inszenatorisch aufwendige Szenen wie den ›Prolog im Himmel‹, die ›Walpurgisnacht‹ und ›Nacht. Offen Feld‹ sowie die metatheatralen Vorspiele weg und konzentrierte die Handlung auf seinen dramatischen Kern.301 Die stark gekürzte und auf dramaturgische Kontinuität abzielende Spielversion des Textes, die den Theatervorstellungen der Restaurationszeit entgegenkam, hat seine Bühnenfähigkeit mehrere Jahrzehnte lang erwiesen: Klingemanns Fassung blieb lange Zeit »das Medium, durch das eine Vielzahl der Deutschen mit Goethes Faust, der als Lesedrama nur wenig bekannt war, überhaupt in Verbindung gekommen 298 Vgl. hierzu Neudecker: Der »Weg« als strukturbildendes Element im Drama, S. 66–88. 299 Vgl. nur Mahl, Bernd: Goethes »Faust« auf der Bühne. Fragment – Ideologiestück – Spieltext. Stuttgart/Weimar 1999, S. 4–7. 300 So kann »Faust II« als Vertreter eines »überbordende[n]« Lesedrama-Typus gesehen werden, dessen Bühnenferne sich durch einen »Überfluß an theatralischer Handlung« ausdrückt (Puchner: Theaterfeinde, S. 32). 301 Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, S. 17f.
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sind.«302 Bemerkenswert sind ferner die beiden Wiener Inszenierungen von 1839 und 1850, weil in ihnen Zwischenaktmusiken bzw. Ballette zum Einsatz kamen303, was im 19. Jahrhundert keine Seltenheit war. Beides kann als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack gesehen werden, der noch immer theatrale Diversität wünschte. Gleichzeitig konnte dadurch die szenische Diskontinuität des Textes in der polymorphen Struktur des Theaterfests gleichsam aufgefangen werden. Das dürfte auch der Grund für die bemerkenswerte große Zahl an musikalischen Faust-Opern im 19. Jahrhundert304 gewesen sein: die offene Form, das Effektvolle und Wunderbare des durch Goethes Text virulent gewordenen Faust-Sujets war für das von dramaturgischer Normativität stärker entlastete Musiktheater überaus attraktiv. Zuletzt hat die universale Anlage des Stoffs seine Bühnentauglichkeit gewährleistet. So stellt der bereits im ›Vorspiel auf dem Theater‹305 vertretene Anspruch, die gesamte Welt zu umfassen, das Drama außerhalb des Zusammenhangs klassischer Dramatik und in den Rahmen eines Welttheaters306, was ermöglichte, vorklassische Theatertraditionen zu reaktivieren und den »Faust« vor deren Hintergrund spielfähig zu machen. So ist die erstmalige Inszenierung beider »Faust«-Teile 1875/76 in Weimar unter der Leitung von Otto Devrient als Paradigmenwechsel in der Bühnengeschichte des Stücks bezeichnet worden307, da dieser das Drama als »Mysterium in zwei Tagewerken« präsentierte und auf einer an mittelalterliche Spiele angelehnten dreistöckigen Mysterienbühne aufführen ließ308, ein Einfall, der in nachfolgenden Inszenierungen vier Jahrzehnte lang aufgegriffen wurde.309 Devrient hat im Umkreis dieser Inszenierung gefordert, »Faust« im wagnerianischen Sinn als Festspiel nur zu bestimmten hohen Festtagen zu geben und die Weimarer Aufführung tatsächlich einige Jahre zu Ostern wiederholt310, was man als theatrale Variante der Über302 Ebd., S. 20. 303 Vgl. ebd., 34 u. 36. Die zweite, von Heinrich Laube besorgte Inszenierung, kam mit vergleichsweise wenig zensurbedingten Strichen und einer einzigen Hinzudichtung aus, was dafür sorgte, dass sie ganze 24 Jahre lang gegeben wurde (vgl. ebd., 36). 304 Manger erwähnt Faust-Opern von Spohr, Piccini, Berlioz, Lachner, Gounod, Boito und Hervé (F. Ronger) (vgl. Manger, Klaus: »Faust«-Rezeption im 19. Jahrhundert. In: Mücke, Panja / Wiesenfeldt, Christiane: Faust im Wandel. Faust-Vertonungen vom 19. bis 21. Jahrhundert. Marburg 2014, S. 10–40, S. 27). Vgl. zudem Anglet: Faust-Rezeption, S. 509–511. 305 »So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus / Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.« (V. 239–242). 306 Vgl. Karnick: Rollenspiel und Welttheater, S. 140–143. 307 Vgl. Mahl, Bernd: Die Bühnengeschichte von Goethes Faust. In: Witte, Bernd (Hg. u. a.): Goethe Handbuch in vier Bänden. Band 2: Dramen. Hgg. v. Theo Buck. Stuttgart/Weimar 1996, S. 522–538, S. 522. 308 Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, S. 52–60. 309 Vgl. Mahl: Die Bühnengeschichte von Goethes Faust, S. 526. 310 Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, S. 52f. Dass die Konzeption an Wagners Festspielidee gemahnt, ist kein Zufall: Wagner selbst hat 1872 den »Faust« mittels eines dafür geschaffenen Theaters als ästhetisches ›Nationalheiligtum‹ als Komplement zur Reichs-
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höhung des Dramas zum sakralisierten ›Nationaltext‹ und seines Protagonisten als Inbegriff des Deutschen311, die zur gleichen Zeit einsetzt, deuten kann. Mit den Inszenierungen von Georg Fuchs in München (1908) und Max Reinhardt in Berlin (1909/11) lässt sich indes gut aufzeigen, welche Leistung die Theatermoderne für den Text erbracht hat, welche Schichten des Doppeldramas erst durch die Theatralitätsparadigmen um 1900 spielfähig wurden.312 So kann Fuchs’ Arbeit als Protest gegen den Ausstattungsrealismus der Münchener Prachtaufführung von 1895 (Regie: Jocza Savits) verstanden werden: Fuchs ließ in der Reliefbühne des Münchener Künstlertheaters die Vorderbühne gänzlich frei von Dekorationen, was den Schauspielern Raum geben sollte, die Imaginationskraft des Textes auszuspielen.313 Die Kulissen hatten nicht mehr die Aufgabe, eine Mittelalterwelt illusionistisch darzustellen, sondern waren hochgradig stilisierte Bühnenelemente, die zusammen mit wenigen Requisiten und prononcierten Lichteffekten die jeweilige Szene evozieren sollte.314 Durch diesen Verzicht auf den Immersionseffekt illusionistischer Bühnenkonzepte wurde eine verstärkte Abstraktion erreicht, die »Faust« von identifikatorischen und ›titanisierenden‹315 Aneignungen freimachte und bis zu Gründgens’ epochaler Hamburger Inszenierung (1957/58) gewirkt hat.316 Bühnenästhetisch könnte man hingegen in Reinhardts monumentalen Berliner Inszenierungen des ersten (1909) und zweiten (1911) Teils eine illusionistische Regression vermuten, nutzte dieser doch die neue, 16 Meter breite und 5 Meter hohe Drehbühne des Deutschen Theaters, wodurch das »simultane Über- und Untereinander der dreistöckigen Mysterienbühne […] durch das rasche Hintereinander der Drehbühne ersetzt«317, also rasche Szenenwechsel und ein Höchstmaß an Texttreue möglich wurden.318 Allerdings ging es Reinhardt nicht um Ausstattungsrealismus, sondern um die Erzeugung einer stimmungsvollen Umgebung, in der die jeweiligen Besetzungen ihre eigenen Interpretationen der Figuren ausspielen konnten. Das Moderne an den beiden Inszenierungen war nämlich, dass Reinhardt die wichtigen Rollen bewusst mit mehreren Schauspielern besetzte, um anhand der Fi-
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gründung institutionalisieren wollen (vgl. ebd., S. 49f.; vgl. auch Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 50). Einschlägig dazu: Schwerte, Hans: Faust und das Faustische, Stuttgart 1962. Dass noch 1881 in einer Darstellung der Bühnengeschichte des Dramas dessen Bühnentauglichkeit bezweifelt wurde, deutet darauf hin, dass sich auch theaterbegeisterte Zeitgenossen der Defizite der bis dato erfolgten Aufführungen bewusst waren (vgl. Creizenach, Wilhelm: Die Bühnengeschichte des Goethe’schen Faust. Frankfurt a.M. 1881, bes. S. 14–19). Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, S. 95. Vgl. ebd., 96. Zum Wechsel zwischen titanischer und antititanischer »Faust«-Rezeption zwischen den 1870er und 1950er Jahren vgl. Anglet: Faust-Rezeption, S. 485–493. Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, 96f. Mahl: Die Bühnengeschichte von Goethes Faust, S. 534. Vgl. Mahl: Goethes »Faust« auf der Bühne, S. 98f.
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gureninterpretationen der jeweiligen Schauspieler unterschiedliche Bedeutungsschichten am Text hervorzutreiben.319 Dieser Regieeinfall offenbart, dass um 1900 die Diskontinuitäten des Stücks sowohl hinsichtlich der Szenenfolge als auch hinsichtlich der Figurenkonzepte darstellbar geworden sind. Damit und mit der monumentalen Länge der Aufführungen320 gelang es Reinhardt, die epischen Dimensionen des Textes und seine Ambiguitäten auf der Theaterbühne zu bewahren, ein Anspruch, der noch in der ersten (!) strichlosen Inszenierung beider Teile 2000 auf der Expo in Hannover (Regie: Peter Stein) nachgewirkt hat. Verglichen mit dem »Faust« hat die Bühnengeschichte von Georg Büchners »Woyzeck«-Fragment mit starker Verzögerung begonnen und zunächst nicht annähernd die gleiche Breitenwirkung erlangt. Mehr noch gilt Büchner bekanntlich als einer der Kronzeugen für die These einer verspäteten Moderne im Drama321 und besonders auf dem Theater: Seine Entdeckung als moderner Dramatiker und die Entwicklung der Theatermoderne fallen tendenziell zusammen und ermöglichen nach »Leonce und Lena« 1895 und »Dantons Tod« 1901 schließlich 1913, 100 Jahre nach Büchners Geburt, die Uraufführung des »Woyzeck«. Die editionsphilologischen Gründe für diese Verzögerung sind bekannt.322 Davon abgesehen gab es viele ästhetische Gründe, warum »Wozzeck« bis weit ins 20. Jahrhundert als unspielbar galt: Die knappen, schnell wechselnden Szenen stellten einen auf Text- und historischer Treue basierenden Bühnenrealismus vor große technische Probleme, die Unvermittelheit von Unheilsvisionen und grotesken Elementen mussten einer auf Kohärenz abzielenden Dramaturgie als ästhetische Minderleistung erscheinen, das sozial, aber nicht sozialistisch orientierte Sujet in unklassischer Form verprellte Sozialisten323 und die Sprache der Figuren enthielt Derbheiten, die auf der Bühne unaussprechlich waren. So hat es nach 1880 zwar produktive Rezeptionen Büchners durch einzelne Dramatiker (Hauptmann, Wedekind) gegeben, aber keine Versuche, diesen Text auf die Bühne zu bringen. Erst zu den theatertechnischen und ästhetischen Bedingungen der 1910er Jahre und anlässlich seines hundertsten Geburtstages intensivierten sich die Bemühungen, nach den beiden anderen Dramen auch das 319 Vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Band 2: Das Theater im 17. Jahrhundert: Zwischen Renaissance und Aufklärung. Das Theater im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1996, S. 837f. 320 Die höchst erfolgreiche Inszenierung des zweiten Teils von 1911 dauerte zunächst elf, nach weiteren Strichen inklusive einer Pause noch acht Stunden (vgl. ebd., S. 838). 321 Vgl. nur Schanze: Büchners Spätrezeption. 322 Eine konzise Zusammenfassung findet sich bei Goltschnigg, Dietmar: »Die abgelegte modernde Gesellschaft zum Teufel«! Politische, sozial- und kulturgeschichtliche Randbemerkungen. In: Ders. (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Band 1: 1875–1945. Berlin 2001, S. 11–84, hier S. 16–18. 323 Zur problematischen Beziehung der Sozialisten und bes. der Sozialdemokratie mit Büchner vgl. nur ebd., S. 29–32.
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»Wozzeck«-Fragment aufzuführen. Obwohl die Einschätzung, dass Büchners Durchsetzung als Theaterautor »im Zeichen bereits des literarischen Expressionismus«324 gestanden habe, nicht unzutreffend ist, waren die treibenden Kräfte der ersten drei Aufführungen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht Avantgardisten, sondern Bildungsbürger325 bzw. großbürgerliche Ästheten wie – Hugo von Hofmannsthal. Erst durch Hofmannsthals Vermittlung des Stücks an seinen Freund und Intendanten des Münchener Hoftheaters Clemens Freiherr von Franckenstein, seine intensive Mitarbeit an der Bühneneinrichtung und die finanzielle Zuwendung zugunsten der Inszenierung konnte der Plan einer »Wozzeck«-Uraufführung realisiert werden.326 Hofmannsthals Einrichtung wie auch Franckensteins Inszenierung sorgte durch Szenenzusammenlegung und -Streichung dafür, dass die Anzahl der von Oskar Roller327 besorgten Bühnenbilder den technischen Möglichkeiten der Bühne des Münchener Residenztheaters entsprechend schnelle Szenenwechsel erlaubten, durch deren im Verlauf der Inszenierung steigendes Tempo die Stimmungsumschwünge und die sich intensivierenden Verdüsterung Woyzecks verdeutlicht werden sollte.328 Die Inszenierung zeigte »Wozzeck« als »betont stimmungsstarke, vom Mitleid geprägte Symboldichtung für die Qual und die Verlassenheit des Menschen in der Welt«329 und spielte die sozialpolitische Dimension der Unterdrückung der Titelfigur herunter. Hier lässt sich also, analog zur Bühnengeschichte des »Faust«, eine Tendenz zur Abstraktion ausmachen, durch die allgemeine subjektsemantische Fragestellungen darstellbar werden und die, denkt man an den um 1920 einsetzenden bühnenexpressionistischen Zeitgeist, zur Bühnentauglichkeit des Stückes beigetragen hat. Denn: Endgültig auf dem Theater hat sich Büchners Drama erst nach Ende des Ersten Weltkrieges durchgesetzt, besonders seit den
324 Schanze: Büchners Spätrezeption, S. 339. 325 Vgl. Viehweg, Wolfram: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil: 1913–1918. Krefeld 2001, S. 196. 326 Vgl. ebd., S. 16–50, zur Würdigung der Rolle Hofmannsthals bes. S. 49f. Vgl. überdies Goltschnigg, Dietmar: Hofmannsthal und Büchner. Die Uraufführung des »Wozzeck« am Münchener Residenztheater. In Schwob, Anton / Szendi, Zoltán (Hg.): Wechselbeziehungen und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur um die Jahrhundertwende im Donauraum. Symposion Pécs/Fünfkirchen 1.–5. Oktober 1997. München 2000, S. 49–74. 327 Oskar Roller war einer der Mitbegründer der Wiener Sezession und Herausgeber der Zeitschrift »Ver sacrum« (vgl. Goltschnigg: Politische, sozial- und kulturgeschichtliche Randbemerkungen, S. 40). Rollers intensive Mitarbeit an der Inszenierung, die ohne seine Bühnenbilder nicht möglich gewesen wäre, ist mittlerweile eingehend gewürdigt worden (vgl. Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil, S. 67– 112). 328 Vgl. Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil, 109– 112. 329 Ebd., S. 111.
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1920er Jahren.330 Aus dieser Menge sei einmal die Inszenierung Eugen Klöpfers (1921 in Wien) herausgegriffen.331 Die Inszenierung wurde im Wiener Raimundtheater gegeben, einstmals eher ein Ort des Volkstheaters, das aber unter neuer Direktion hoch ambitioniert war und deshalb den deutschen Schauspieler Klöpfer mit einer Inszenierung des »Woyzeck« betraute332, einem Stück, das noch 1914 in Wien befremdet und polarisiert hatte.333 Bemerkenswert ist zunächst, dass dem Spieltext die neu erschienene »Woyzeck«-Ausgabe von Witkowski zugrunde lag, in der die größten Fehler und Eingriffe von Franzos’ erster Edition bereinigt wurden; auch sonst wurde weitestgehend auf Texteingriffe verzichtet.334 Ästhetisch gesehen war das Stück nun mit den Mitteln des Theater-Expressionismus (abstraktes Bühnenbild, schnelles Tempo, expressive Lichtregie) inszeniert335, wogegen der Schauspielstil besonders der von Klöpfer selbst gespielten Titelfigur alles Expressiv-Deklamatorische vermied und von veristischer Schlichtheit war.336 Auch diese Konfrontation unterschiedlicher ästhetischer Konzepte lässt die Diskontinuität der Szenenfolge und die besondere Stellung der Titelfigur hervortreten: Inkongruenzen mussten dank der bühnenexpressionistischen Theaterpraxis nun nicht mehr geglättet, sondern konnten betont werden, ohne dass die Inszenierung dadurch inkommensurabel gewesen ist. Gerade der inkongruent veristische Schauspielstil hat sehr zum Publikumserfolg dieser Aufführung beigetragen. Dieser Erfolg ist auch insofern beachtenswert, weil das Publikum erstmals nicht ein literarisch gebildetes und theaterästhetisch erfahrenes Elitepublikum war, sondern hauptsächlich aus Mitgliedern sozialdemokratischer Organisationen bestand.337 Erst ab der Wiener Aufführung von 1921 kann man also davon sprechen, dass Büchners »Woyzeck« auch jenseits eingeweihter Zirkel auf der Bühne präsent wurde – das ist etwa vier Jahre, nachdem das zweite der beiden Stücke, die im Folgenden analysiert werden, seine Uraufführung feierte.
330 Viehweg führt in seiner Darstellung der »Woyzeck«-Inszenierungen von 1918 bis 1933 im deutschsprachigen Raum nicht weniger als 68 eigenständige Inszenierungen ab 1920 auf (vgl. Viehweg, Wolfram: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 2. Teil: 1918–1945. Norderstedt 2008). 331 Vgl. ebd., S. 124–134. 332 Vgl. ebd., S. 124. 333 Vgl. Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil, S. 184–189. 334 Vgl. Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 2. Teil, S. 124. Die Spielfassung orientierte sich an einer Berliner Inszenierung von Max Reinhardt aus demselben Jahr, verzichtete aber auf dessen Streichung der Szene im Seziersaal (vgl. ebd., S. 86f). 335 Vgl. ebd., S. 125f. 336 Vgl. ebd., S. 127f. 337 Vgl. ebd., S. 133f.
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2.2.3 Lückenhafte Boulevarddramatik: Schnitzlers Anatol (1893) Im Fall des Anatol-Zyklus338 (1893), der bereits in den 1990er Jahren als einer der meistinterpretierten Schnitzler-Texte galt339, muss gleich eingangs bekannt werden, dass die Hypothese des hiesigen Kapitels, die an dieser Stelle nachzuweisen wäre, in der Schnitzler-Forschung nicht allein bereits bekannt, sondern vielmehr längst Forschungskonsens ist. Dass die im Anatol dargestellte wie thematisierte Bewusstseinsstruktur der Titelfigur »kongenial«340 zur episodischen Struktur der sieben341 Einzelszenen des Zyklus passt, ist seit der wegweisenden Arbeit von Bayerdörfer342 nachgewiesen – alle folgenden Beiträge der Forschung bieten lediglich Ergänzungen oder Reformulierungen seiner Deutung. Bayerdörfer erläutert, dass Schnitzler auf das Problem der zeitgenössischen boulevardesken Konversationsstücke343, nämlich problematisch gewordene erkenntnistheoretische wie ethische Grundlagen anerkennen und damit fortleben lassen zu müssen344, formal durch die Form des Einakters reagiert. Bei Anatol 338 Der Text wird im Folgenden unter der Sigle (An) zitiert nach: Schnitzler, Arthur: Anatol. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die Dramatischen Werke. Band 1: Die dramatischen Werke – Erster Band. Frankfurt a.M. 1962, S. 27–104. 339 Vgl. Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung. Wien [u. a.] 1997, S. 128. 340 Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler, Stuttgart 2005, S. 77. 341 Bekanntlich hat Schnitzler neben den sieben zuletzt ausgewählten Szenen noch zwei weitere sowie eine Fragment gebliebene produziert und den Zyklus erst nach einigen Änderungen der Szenenreihenfolge und der Beifügung eines Hofmannsthal- bzw. »Loris«-Gedichtes im Oktober 1892 (vordatiert auf 1893) veröffentlichen lassen (vgl. ebd., S. 74–76). 342 Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie. Die andere, weniger einflussreiche Traditionslinie sieht »Anatol« im Kontext eines impressionistischen Lebensgefühls (Offermanns, Ernst L.: Arthur Schnitzler – Das Komödienwerk als Kritik des Impressionismus. München 1973, bes. S. 9–12), das im Text durch die Verbindung mit zeitgenössischen erkenntniskritischen (Valk, Thorsten: »Anatol«. Impressionistisches Lebensgefühl und existenzieller Orientierungsverlust. In: Kim, Hee-Ju (Hg.): Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 19–30) und psychologischen (Nover, Immanuel: »Das klingt zwar sehr klar. […] Ist es aber durchaus nicht«. Arthur Schnitzlers »Anatol« als Schnittstelle von Psychoanalyse, Empiriokritizismus und Sprachkritik. In: Focus on German studies 17 (2010), S. 39–54) Theorien problematisiert wird. 343 Zur Bedeutung der zeitgenössischen Boulevarddramatik für Schnitzler vgl. Sabler: Moderne und Boulevardtheater. Für vielfältige Bezüge zu einem ihrer berühmtesten Exponenten, Victorien Sardou, vgl. Urbach: Schnitzlers Anfänge. 344 Gemeint ist, dass die im Konversationsstück der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geleistete Darstellung (groß-)bürgerlicher Sitten gleichermaßen auf der Annahme der Gültigkeit dieser Sitten wie der Annahme der grundsätzlichen Darstellbarkeit von Sozialität beruht, was beim Fragwürdig-Werden dieser Vorannahmen auch deren dramaturgische Grundlagen, nämlich Handlungsprimat und auf Finalität ausgerichtete Kohärenz des Dargestellten, problematisch werden lässt (vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 519f.). Die erkenntniskritischen Grundlagen von Schnitzlers Texten werden bei Kluge, Gerhard: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis als Strukturprinzip des Einakters bei Arthur Schnitzler. In: Jahrbuch der Dt. Schillergesellschaft 18 (1974), S. 482–505 und Valk: »Anatol« dargestellt.
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werden – analog zur französischen Dialogform der Causerie – kurze, in sich geschlossene, aber zyklisch eingebettete Szenen verwandten Inhalts zusammengestellt345, deren Episodik mit dem diskontinuierlichen Bewusstsein der Titelfigur korreliert.346 Durch die Entlastung des Dialogs von der Aufgabe, eine szenisch übergreifende Handlung vermitteln zu müssen und durch die Einführung seines Freundes Max als Stichwortgeber, wird eine »latent monologische […] Anlage der Einzelszene«347 erreicht, die noch dadurch bekräftigt wird, dass Max gelegentlich in Abwesenheit Anatols als eine Art figurale Metonymie des Freundes agiert und dessen Position artikuliert (An 62 u. 103f.). Die Liebeleien der Titelfigur dürfen jedoch nicht als das eigentliche Thema der Szenen missverstanden werden – dann wäre das Stück tatsächlich stilistisch wie stofflich eine Fortführung der Boulevarddramatik.348 Im Zentrum der Konversationen stehen Anatols Versuche, entweder anhand von Erinnerungen an die intensive Erlebnisqualität der Liebschaften ein kontinuierliches Ich zu konstruieren oder sein Ich durch Verstetigung dieses Erlebens im Zeichen ›wahrer‹ Liebe zu stabilisieren.349 Die damit aufgerufene Aporie, dass das ständige Erinnern an vergangene Liebschaften die Identität stiftende Kontinuität des Erlebens gerade verhindert, wird erst durch die szenenweise Wiederholung ähnlicher Konstellationen sichtbar und begründet somit die zyklische Struktur des Stückes (wie sie die Szene »Episode« explizit macht, An 50–62).350 Sein Iterationsprinzip wird auch auf eine weitere Weise mit dem Bewusstsein der Titelfigur verschaltet: Es läuft in jeder Einzelszene bei Anatol eine »Dialektik von Illusion, Desillusionierung und erneuter Illusion«351 ab, so dass die asymmetrische Geschlechterordnung352 sowie die Vorstellung von Identität stiftender romantischer Liebe353 zugleich als illu345 346 347 348 349
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Vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 525–527. Vgl. ebd., S. 530. Ebd., S. 528. Vgl. Sabler: Moderne und Boulevardtheater, S. 97, der diese Verbundenheit mit den boulevardesken Vorgängern gegenüber den von ihm nicht bestrittenen innovativen Momenten in Schnitzlers Dramen hervorhebt. Vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 528. Einschlägig für die Problematik der ›wahren‹ Liebe ist die Eröffnungsszene »Die Frage an das Schicksal« (vgl. dazu Neumann, Gerhard: Die Frage an das Schicksal. Das Spiel von Wahrheit und Lüge und Arthur Schnitzlers Einakter-Zyklus »Anatol«. In: Austriaca 39 (1994), S. 51–67 und Neudeck, Otto / Scheidt, Gabriele: Prekäre Identität zwischen romantischer und galanter Liebe. Zu Zerfall und Restituierung des Subjekts im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002), S. 267–302). Vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 529 u. Kluge 1974, S. 495. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 528. Vgl. dazu bes. Urbach: Schnitzlers Anfänge, S. 144f. Vgl. Neumann: Die Frage an das Schicksal sowie Neudeck/Scheidt, die den »Konnex von Subjektproblematik und Liebesthematik« (Neudeck/Scheidt: Prekäre Identität zwischen romantischer und galanter Liebe, S. 276) im dramatischen Werk Schnitzlers anhand der Konfrontation zweier Liebeskonzepte, galanter und romantischer Liebe, mit Subjektkon-
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sionär erkannt und verlacht354 werden können – um in theaterwirksamen Schlusspointen doch wieder bekräftigt zu werden (man denke an den Schluss von »Denksteine« und von »Agonie«, An 68 bzw. 89). Dennoch kann keine Rede davon sein, dass im »Anatol« die problematisierte (groß)bürgerliche Ordnung wie in den französischen Boulevardkomödien des 19. Jahrhunderts trotz aller Krisen unangetastet bleibt.355 Vielmehr lässt sich im Laufe der sieben Szenen eine Tendenz zur Eskalation von Anatols Lage356 ausmachen, insofern die erste Szene (»Die Frage an das Schicksal«) die einzige ist, in der es ein ›happy end‹ gibt, die weiblichen Figuren in den folgenden Szenen sukzessive die soziale Leiter hinabsteigen, bis schließlich die Schlussszene (»Anatols Hochzeitsmorgen«) mittels schwankhafter Komik zeigt, dass Anatols Hochzeit keine biografische Zäsur bedeutet, sondern lediglich sein verzweifeltes Festhalten an libertinen Verhaltensmustern bei fortschreitendem Alter.357 Einen Abschluss stellt die letzte Szene deshalb nicht in dem Sinn dar, dass sich an Anatols Bewusstsein oder Verhalten etwas gewandelt hat, sondern allein dadurch, dass die »leerlaufende Theatralik einer nur mehr als scheinhaft und als ›Komödie‹ empfundenen Existenz«358 mit besonders drastischen, volkstheatralen Mitteln vorgeführt wird. Den Abschluss der Anatol-Szenenfolge bildet also eine Szene, in der ein in die Jahre gekommener Anatol mit den Mitteln einer in die Jahre gekommenen, ›unterhalb‹ der bislang gepflegten Konversationskomödie angesiedelten Theaterform, der Farce, als in tragikomischer Aporetik gefangen dargestellt wird. Selbst die Schlussszene perpetuiert formal durch die Diskontinuierung der Theatermittel noch die Diskontinuität der Titelfigur – und zwar ohne dass damit eine ›Lösung‹ seines Subjektivitätsproblems behauptet würde.
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358
zepten entfalten. Bei »Anatol« wird der Konflikt eines auf Totalität zielenden romantischen Liebeskonzepts mit einem nicht-identischen Subjektkonzept nachgezeichnet und belegt, dass jenes nicht in der Lage ist, das dissoziierte Subjekt zu reintegrieren (vgl. ebd., S. 285). Dies betont Greiner, Bernhard: Die Komödie [1992]. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. 2., aktualisierte und ergänzte Auflage. Tübingen 2006, S. 330f. In der Verweigerung des obligatorischen glimpflichen Ausgangs sieht Urbach die wichtigste Innovation Schnitzlers im Vergleich zu Sardou (Vgl. Urbach: Schnitzlers Anfänge, S. 125). Vgl. dazu Kenney, Joseph M.: The Playboy’s Progress. Schnitzler’s Ordering of Scenes in Anatol. In: Modern Austrian Literature 27,1 (1994), S. 23–50, hier: S. 36–40. Dieser Punkt scheint der einzige bedeutsame zu sein, bei dem die Forschung Bayerdörfers Kernthesen korrigiert hat: Während dieser die Szenen als »in ihrer Stellung zueinander variabel« (Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 532) ansieht, macht Kenney vier Strukturierungsprinzipien aus, die erklären, warum Schnitzler nach zwei anderen Ordnungsversuchen auf den letztgültigen gekommen ist (vgl. Kenney: The Playboy’s Progress, S. 31–33). Während die ersten beiden Prinzipien, Wiederholung und chronologische Folge, konsensuell sind, betont Kenney darüber hinaus, dass die Szenen, wie oben beschrieben, einer »Escalation in predicament« (ebd., S. 24) folgen und zudem im Ton alternieren, so dass die drei ernsten Szenen von vier komischen flankiert werden und die am stärksten volkstheatral-schwankhafte den Zyklus abschließt (vgl. ebd., S. 40–43). Fliedl: Arthur Schnitzler (2005), S. 77.
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Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Forschung zu Anatol in der Tat die These dieses Kapitels bereits vorweggenommen und bestätigt hat, weswegen auf einen detaillierten Nachweis am gesamten Text verzichtet wird. Die These sei lediglich stellvertretend an der Szene »Episode« verdeutlicht, woran sich ergänzende Überlegungen anschließen. In »Episode« übergibt Anatol Erinnerungsgegenstände an Max, weil er »auf unbestimmte Zeit« ein neues Leben beginne und sich deshalb von der Vergangenheit loslösen müsse (An 51). Beim Durchgang durch die Stücke wird Anatol bewusst, dass die Auswechselbarkeit der Geliebten allein durch diese Stücke und mithin in der Erinnerung an bestimmte Erlebnisse aufgehoben wird (An 52). Eines der Erinnerungsstücke ist mit ›Episode‹ betitelt, was Anatol so erklärt: »Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zum Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung« (An 56). Diese Empfindung verbindet sich mit der »Grandiositätserfahrung«359, dass dieses episodenhafte Bewusstsein nur bei ihm bestehe, während er den Frauen als »etwas Ewiges« gegolten habe (ebd.). Diese Illusion wird nun dadurch gebrochen, dass die Geliebte der ›Episode‹, Bianca, zufällig bei Max erscheint und Anatol nicht wiedererkennt (An 60), auch, weil er, wie sie andeutet, einem Anderen so ähnlich sehe (An 61). Beendet wird die Szene dadurch, dass Max, der den gekränkt abgetretenen Anatol »räche[n]« will (An 62), Bianca eine Erinnerung an den Anderen souffliert und sie damit auf die Einzigartigkeit ihres Erlebnisses mit ihm hinweist (ebd.) – also die behauptete asymmetrische Geschlechterordnung sowie die Erweckung der Erlebnisintensität mittels Erinnerungsakten restitutiert werden. Das Episodenhafte wird in »Episode« überdeterminiert, indem innerhalb der Szene selbst Anatols episodenhaftes Bewusstsein, einzelne Episoden seines Liebeslebens, eine spezifische Episode und die Episodenhaftigkeit der Beziehung aus Sicht der Geliebten referiert wird, alles in einer einzigen Szene, die selbst Episode bleibt, insofern sie nicht fortwirkt. Auffällig an dieser Szene ist überdies, wie stark sie durch den unplausiblen Zufall von Biancas Rückkehr360, das Beiseitesprechen und das am Szenenschluss explizit geforderte langsame Senken des Theatervorhangs die Theatralität der Situation ausstellt. Die ›maßvolle Modernität‹361 des Anatol zeigt sich gerade darin, dass die behandelten ›modernen‹ Themen (Hypnose, Hypermnesie362 und Vitalitätsstreben, totales Liebeskonzept und diskontinuierliches Bewusstsein) nicht zu dereferenzialisierter Sprache und forcierter Körperlichkeit führen (wie 359 Neumann: Die Frage an das Schicksal, S. 58. 360 Der Text deutet die mangelnde Plausibilität dieser Konstellation dadurch an, dass Anatol auf Max’ verspätete Information darüber sagt: »Wie? Und das sagst du mir erst jetzt?« (An 58) 361 Vgl. Sabler: Moderne und Boulevardtheater, S. 90. 362 Vgl. Fliedl 1997, 24.
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es die zeitgleich erschienenen Einakter von Strindberg und Maeterlinck vorführen), sondern in der Form des Konversationsstücks363 artikuliert werden, und zugleich darin, dass diese voraussetzungsreichen Themen mithilfe von Theatralitätssignalen364 abgeschwächt werden und damit für das Wiener Theaterpublikum ›goutierbar‹ bleiben. Die Modernität des Textes erweist sich also nicht allein an seinen Themen, sondern an seiner szenischen Strukturierung, genauer: an der Diskontinuität der Szenenfolge. Der Einfall, die verstreut entstandenen Szenen aus dem »AnatolFundus«365 von Texten, Skizzen, Notizen und Feuilletons zu einem dramatischen Zyklus zusammenzufassen, sorgt dafür, dass die Verwendung der Mittel des Konversationsdramas nicht als dessen theatralisch ›gedämpfte‹ Apologie aufgefasst werden kann. Die Modernität des Anatol erweist sich weniger in den Themen366 als in seiner Struktur, genauer: in seinen Lücken, die die boulevardesken Mittel des Stücks desavouieren. Anders gewendet bietet Schnitzler mit dem Anatol-Zyklus ein Modell, mit dem Milieu und Stoffe des traditionellen Konversationsdramas gerettet werden können, ohne auf dramatische Innovativität verzichten zu müssen, die sich in der Korrelation von szenischer und figuraler Diskontinuität zeigt.
2.2.4 Parodie der Stationendramatik als Kommentar zur Selbstfindung des Subjekts: Kaisers Von morgens bis mitternachts (1913/1917)
Bei Georg Kaisers 1913 verfasstem, 1917 in München uraufgeführtem und in der Weimarer Republik überaus erfolgreichem367 Stück in zwei Teilen mit dem Titel Von morgens bis mitternachts368 stellt sich besonders dringlich die Frage, was mit dem vorgeschlagenen Begriff der ›diskontinuierlichen Szenenfolge‹ gewonnen ist, hat sich doch für das Stück die Einschätzung durchgesetzt, »ein Stationen363 Vgl. dazu Sabler: Moderne und Boulevardtheater, S. 96, der in den weniger bekannten Stücken des späten Schnitzler eine »Wiederentdeckung des Körpers« (99) ausmacht, die die Körperlosigkeit der an der Boulevarddramatik orientierten frühen Stück hinter sich lasse (vgl. ebd., S. 98–100). 364 Ganz deutlich wird diese Uneigentlichkeit an der Stelle, an der Max seinen Abtritt mit den Worten kommentiert: »Ich kann unmöglich ohne Aphorisma abgehen!« (An 84). 365 Vgl. Urbach: Schnitzlers Anfänge, S. 141. 366 So die leitenden These von Sabler: Moderne und Boulevardtheater. 367 Vgl. Huder, Walther: Nachwort [1965]. In: Kaiser, Georg: Von morgens bis mitternachts. Stück in zwei Teilen. Neuausgabe. Fassung letzter Hand hgg. v. Walther Huder. Anmerkungen von Ernst Schürer. Stuttgart 1994, S. 78–88, S. 79f. 368 Der Text wird unter der Sigle (Vm) zitiert nach Kaiser, Georg: Von morgens bis mitternachts [1913]. Stück in zwei Teilen. In: Ders.: Werke. Erster Band: Stücke 1895–1917. Hgg. v. Walther Huder. Berlin [u. a.] 1971, S. 463–517.
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drama par excellence«369 zu sein. In der Tat wird sich zeigen, dass der Text ohne Rückbezug auf die Stationendramatik Strindberg’scher Prägung nicht angemessen verstanden werden kann. Gleichfalls soll aber im Folgenden erwiesen werden, dass Kaisers Stück diese Form transzendiert und es dadurch weniger ein Exempel dafür als ein Kommentar darüber darstellt. Zuletzt wird geprüft, welche Implikationen die Form des Stückes hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt besitzt. Zur Erinnerung: Ein Angestellter einer kleinen Bank in der Kleinstadt W., im Text Kassierer genannt, wird von einer Dame gebeten, ihm Geld auszuhändigen, was ihn misstrauisch macht. Einen Betrug vermutend, lässt der Direktor der Bank seinen Angestellten die Dame hinhalten, bis diese als Pfand Schmuck von sich anbietet. Beim Versuch, ihn Kassierer zu übergeben, kommt es zu einer Berührung, die den Protagonisten erweckt: In der Folgeszene sucht er die Dame in ihrem Hotelzimmer auf und offeriert ihr Geld, das er der Bank unterschlagen hat, gegen eine Affäre. Obwohl die Dame das Missverständnis aufklärt, bleibt Kassierer bei seinem Ansinnen, mithilfe des unterschlagenen Geldes jene Lebensintensität zu gewinnen, die ihm bis jetzt gefehlt hat. Dieses in der dritten Szene, einem Monolog, artikulierte Vorhaben, sich auf den Weg zu machen, setzt er ab der zweiten Szene des zweiten Teils um, da ihm in der Szene davor deutlich wird, dass seine Familie dieser Suche nach Vitalität370 im Wege steht. Von da an spielt das Stück in der Großstadt B. und führt Kassierer nacheinander zu einer sportlichen Großveranstaltung, in ein Séparée und in einen Saal der Heilsarmee. Allein: Alle seine Versuche, mithilfe von Geld vitale oder erotische Entgrenzung zu erfahren, scheitern – und auch das Heilsarmeemädchen, das ihn zur Heilsarmee und zur Beichte seines Betrugs geführt hat, hintergeht ihn, sodass er sich zum Schluss erschießt. Die sieben, innerhalb der beiden Teile nicht nummerierten oder sonstwie hervorgehobenen Szenen des Stückes erfüllen auf den ersten Blick die erwähnten Kriterien für ein Stationendrama. So findet keine Szene am selben Schauplatz statt, so steht mit Kassierer ein Protagonist im Zentrum, dessen Suche nach Lebensintensität das Drama in Form von Stationen begleitet und dadurch von den nur stationär präsenten Nebenfiguren klar abgegrenzt ist. Auch lässt sich 369 Durzak, Manfred: Das expressionistische Theater. Band 1: Carl Sternheim – Georg Kaiser. München 1978, S. 124. Vgl. zudem in der neueren Forschung: Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, S. 144, Schulz, Georg-Michael: Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts. In: [o.Hg.]: Interpretationen. Dramen des 20. Jahrhunderts. Band 1. Stuttgart 1996, S. 175–195, S. 177, Bogner, Ralf: Tragödie und expressionistisches Stationendrama. Georg Kaisers »Von morgens bis mitternachts«. In: Ders. / Leber, Manfred (Hg.) Tragödie. Die bleibende Herausforderung. Saarbrücken 2011, S. 203–212, S. 205. 370 Die Verbindung dieser Suche nach Lebensintensität mit dem Vitalitätsdenken der Lebensphilosophie um 1900 ist schon von Martens gezogen worden (vgl. Martens: Vitalismus und Expressionismus, S. 260–264).
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durch das Motiv des Gerippes, das Kassierer in der Schlussszene des ersten sowie der Schlussszene des zweiten Teils evoziert (Vm 483 u. 516), ein die beiden Teile verklammerndes Moment ausmachen, das durch Kassierers Schlossmonolog expliziert wird: »Zuerst sitzt er da – knochennackt! Zuletzt sitzt er da – knochennackt! Von morgens bis mitternachts rase ich im Kreise – nun zeigt sein fingerhergewinktes Zeichen den Ausweg – – – wohin?!!« (Vm 517). Die damit aufgerufene Zirkularität der Suche verweist auf die Struktur von Strindbergs »Nach Damaskus I« und verdeutlicht einmal mehr, dass die zurückgelegten Episoden als »Stationen« auf dem Weg des Protagonisten zu lesen sind, die dieser ausdrücklich als solche bezeichnet (Vm 514). Auch dass besonders die im zweiten Teil durchlaufenen Szenen einen fortlaufenden Prozess der Desillusionierung Kassierers anzeigen, lässt sich mühelos als Verweis auf seine Prätexte begreifen. Allerdings übersieht eine Lesart, die nach Analogien zur Stationendramatik sucht, dass Kaisers Text keineswegs bruchlos darin aufgeht. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Verkettungslogik der sieben Szenen nicht gleichbleibend ist: Die Verbindung zwischen der ersten und zweiten Szene ist wesentlich stärker motiviert und bietet – als einziger Szenenwechsel – eine deutliche figurale Kontinuität über den Protagonisten hinaus. Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Szene wird der Schauplatz dominiert von der Dame aus Florenz, die den Kassierer erotisch erweckt. Diese Dominanz äußert sich in der ersten Szene schlicht dadurch, dass sie, anders als der zunächst stumme Kassierer, in der Lage ist zu sprechen und ihre Bitte um Geld die Fantasie der szenisch präsenten männlichen Figuren reizt – wie es der ungewöhnlich lange Monolog des Bankdirektors zeigt, der darin ein »schwüles Gemälde südlicher Erotik und Kriminalität«371 entwirft (Vm 471). In der nachfolgenden Szene ist sie dann die einzige Figur, die die gesamte Zeit szenisch präsent ist, während Kassierer später auftritt und bereits gegangen ist (Vm 477–480), wenn das Missverständnis telefonisch aufgeklärt wird. Die Verbindung der beiden Szenen ist nicht allein durch diese – für ein Stationendrama untypische – Dominanz einer Nebenfigur eine stärkere als zwischen den anderen, auch lässt sich durch die in der Bank verdeutlichte Erweckung des Protagonisten (Vm 473) eine kausale, beinahe konsekutive Verbindung ausmachen. Eine solche enge Verbindung der Szenen lässt sich an den übrigen nicht beobachten: Dass die dritte Szene auf einem »Verschneite[n] Feld« (Vm 481) stattfindet, die erste des zweiten Teils in der »Stube bei Kassierer« (Vm 485) und die folgenden Szenen im »Sportpalast« (Vm 490), im »Ballhaus« (Vm 499) und schließlich in einem »Lokal der Heilsarmee« (Vm 507) situiert sind,
371 Schulz: Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 180.
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wird im Text nicht motiviert372 und erst zum Schluss von Kassierer selbst als nicht-kontingente Suche gedeutet. Besonders deutlich hebt sich die dritte Szene von den übrigen ab, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie die einzige ist, die vollständig aus einem Monolog Kassierers besteht (Vm 481–484). Diese Sonderstellung setzt sich im Ort der Szene fort: Das verschneite Feld, im Stück einziger Schauplatz im Freien, lässt sich als symbolisch überdeterminiertes Bild des Bewusstseinswandels des Protagonisten deuten, der im zweiten Teil zu seinem Aufbruch in die Großstadt führen wird. Zudem wird das von Kassierer in einem Ast ausgemachte Skelett, den er zunächst als »Polizei des Daseins« (Vm 484) adressiert, die ihn an seine Vitalität erinnert, schließlich in den Protagonisten selbst verlagert: »Wir stehen doch wohl auf du und du. Die Verwandtschaft bezeugt sich innigst. Ich glaube sogar, du steckst in mir drin.« (ebd.). Man könnte nun einwenden, dass sich gerade in dieser Szene die Zugehörigkeit des Textes zum Stationendrama erweist, wenn man daran erinnert, dass dort die Handlungsdarstellung der »Schilderung und Enthüllung der Innenwelt des Protagonisten«373 dient und dies nirgends deutlicher wird als in dieser Szene. Dass sich ähnlich stilisierte Bilder in Strindbergs Stationendramen finden, ist unstrittig. Doch lässt die obige Auflistung der Schauplätze bereits erahnen, dass die übrigen Szenen an wesentlich weniger abstrahierten und stilisierten Orten spielen. Das wird besonders deutlich in der vergleichsweise detaillierten, mimetischen Szenenbeschreibung zur ersten Szene des zweiten Teils, die in zwei, durch drei Seiten Dialog voneinander abgesetzten Stufen geschieht. Schon die erste Stufe lässt eine Affinität zur charakterisierenden Funktion realistischer Interieurs erahnen: »Stube bei Kassierer. Fenster mit abgeblühten Geranien. Zwei Türen hinten, Tür rechts. Tisch und Stühle. Klavier. Mutter sitzt am Fenster. Erste Tochter stickt am Tisch. Zweite Tochter übt die Tannhäuserouvertüre. Frau geht durch die Tür rechts hinten ein und aus.« (Vm 485). Schon hier fallen die für expressionistische Szenenbeschreibungen untypischen Details (Geranien, Tannhäuserouvertüre) auf, die das Geschehen im kleinbürgerlichen Milieu verorten. Die häusliche Enge, aus der Kassierer dann zu fliehen beschließt, wird indes in der zweiten Stufe der Szenenbeschreibung noch betont. Sie tritt ein, nachdem der Protagonist seine erste Tochter aufgefordert hat, die Türen zu öffnen (»Erste Tochter stößt die Türen hinten zurück: rechts ist in der Küche die Frau am Herd beschäftigt, links die Schlafzimmer mit den beiden Betten.«, Vm 488) und er den Anblick im Anschluss verbal verdoppelt (ebd.). Die beiden nun sichtbaren Zimmer werden in der Folge nicht angespielt374, so dass ihre einzige Funktion im abermaligen 372 Vgl. Benson, Renate: Deutsches expressionistisches Theater. Ernst Toller und Georg Kaiser. New York [u. a.] 1987, S. 167 und Bogner: Tragödie und expressionistisches Stationendrama, S. 205. 373 Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, S. 389. 374 Zwar ruft die Frau vom Herd, doch hätte dies mühelos offstage geschehen können.
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Aufweis der aporetischen Kleinbürgerlichkeit seines familiären Umfelds zu liegen scheint, das Kassierer bei seiner Suche nach Lebensintensität nur hemmen kann. Es ist deutlich, dass hier eine soziale Realität dargestellt wird, die nicht allein als eine Projektion des Protagonisten gedacht werden kann, wofür sie, man denke an die Szene davor, nicht überzeichnet genug wäre. Zwar ginge es zu weit, die Szene unmittelbar an naturalistische Familiendramen anzuschließen, doch ist ihre Milieuzeichnung dieser Tradition näher als expressionistischer Stilisierung und wird hier zumindest in Erinnerung gerufen. Das belegt die These, dass der ontologische Status des dargestellten Geschehens wechselt: Während die dritte Szene des ersten Teils deutlich als symbolische Verräumlichung des Bewusstseins des Protagonisten erscheint, verbleiben die übrigen Szenen in einer nur leicht stilisierten Realistik, die Kassierers Suche in signifikanten Schauplätzen verortet. Diese Ambivalenz aus Stilisierung und Realistik lässt sich außerdem in der Sprachgestaltung des Textes beobachten: Während Kassierer, nachdem er durch den Kontakt mit der Dame zur Sprache gefunden hat (Vm 473), mit seiner verknappten bis telegrammartigen, sprunghaft-assoziativen und bildgewaltigen Redeweise eine nach realistischen Maßstäben unplausible Eloquenz an den Tag legt, wie sie für die Protagonisten in Kaisers expressionistischer Dramatik bezeichnend ist, kommunizieren die übrigen Figuren – sofern sie nicht nonverbal kommunizieren – zwar in verknappten Wendungen, aber dennoch erkennbar in Umgangssprache.375 Es ist fast so, als ob Kassierers exaltierte Sprache sowie die nicht minder exaltiert erscheinende Szene auf dem Feld wie Fremdkörper in ein darüber hinaus realistisches Setting hineinragen. Dass der Text die Inkonsistenz seiner formalen wie sprachlichen Mitteln so offensiv ausstellt, deutet abermals darauf hin, dass hier kein Stationendrama ›in Reinform‹ vorliegt, sondern die stilistischen Brüche signifikant genug sind, dass sie auf den Kern des Textes verweisen. Doch nicht allein die Inkonsistenz der Stationen-Form deutet auf ihre besondere Funktionalisierung hin, sondern auch der Umstand, dass sie thematisiert wird. Am deutlichsten geschieht das nicht, wie man annehmen könnte, in der Monolog-Szene – diese offenbart in erster Linie Kassierers Erwartung, mithilfe des entwendeten Geldes den Gegenwert an Lebensintensität erhalten zu können376, und die erwähnte Evokation eines Todesboten. Die Ankündigung eines Ausbruchs (»Ich bin auf dem Marsche – Umkehr findet nicht mehr statt.«, Vm 482) wird zu Beginn des zweiten Teils bei seiner Familie aufgegriffen, der er von seinem Entschluss als einer »Erneuerung« (Vm 486) berichtet, durch den 375 Vgl. Schulz: Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 178. 376 Vgl. Vm 483: »Ich muß bezahlen!! – – Ich habe das Geld bar!! – – Wo ist Ware, die man mit vollem Einsatz kauft?! Mit sechzigtausend – und dem ganzen Käufer mit Haut und Knochen?! – – Schreiend. Ihr müßt doch liefern – – ihr müßt doch Wert und Gegenwert in Einklang bringen!!!!«
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›weggewischt‹377 ist, was seine Existenz bis dahin bestimmt hat: »Ein Gewaltstreich, und hier stehe ich! Hinter mir nichts – und vor mir?« (Vm 487). Nachdem er eingesehen hat, was bereits Prämisse seines Ausbruchs war378, dass in seinem Umfeld Vitalität nicht zu finden ist (»Hier liegt es nicht – damit ist der Weg angezeigt.«, Vm 489), stellt er sich seiner Familie als »Landstreicher« und »Wanderer« (ebd.) dar und kündigt sein Fortgehen an. Alle zitierten Formulierungen verweisen auf die Weg-Struktur des Stationendramas, was, wie erwähnt, am Schluss mehrfach explizit benannt wird, besonders deutlich in dem Fazit: »Station hinter Station versank hinter meinem wandernden Rücken« (Vm 514). Die demonstrative Thematisierung seiner Form beginnt im Stück jedoch, daran sei erinnert, nicht am Anfang, sondern setzt ansatzweise zum Schluss des ersten Teils ein und bestimmt dann den zweiten. Dadurch unterscheidet sich der Text klar von seinen Prätexten, die ihre Weg-Struktur von Beginn an reflektieren. Das könnte man lesen als Hinweis darauf, dass das Stück im Ganzen gar nicht als Stationendrama konzipiert ist, sondern lediglich der zweite Teil, was den Vorzug hätte, zu plausibilisieren, warum die vierte, noch in der Kleinstadt W. spielende Szene, nicht zum ersten Teil zählt. Es sei also der Vorschlag unterbreitet, die bemerkenswerten Inkongruenzen der Form und ihre auffällige Thematisierung als Beleg dafür zu lesen, dass die Form des Stückes selbst eine Kommentarfunktion hat und nicht einfach von Strindberg übernommen worden ist, sondern das Stationendrama parodiert und hinsichtlich seiner Implikationen befragt. Wie strukturbildend die Parodie und mithin die Uneigentlichkeit für den Text ist, muss erwiesen werden, um ihn angemessen verstehen zu können. Mit der Interpretation der inkongruenten Elemente im Stück, zu der die parodistischen, grotesken und komisierenden Aspekte zu zählen sind, hat sich die Forschung bislang schwer getan. Während die marxistisch bzw. ideologiekritisch orientierte frühere Kaiser-Forschung, wenn sie sie überhaupt bemerkt hat, alle Inkongruenzen als Ausweis der Vergeblichkeit individuellen Aufbegehrens im modernen Kapitalismus gedeutet379 oder als ästhetische Minderleistung abqualifiziert hat380, fällt bei neueren Arbeiten auf, dass die Komik zwar bemerkt, aber als Nebenaspekt behandelt wird, der das eigentliche Interesse des Stückes – sei es Legitimität von individueller Sinnsuche oder Auseinanderset377 Vgl. dazu Kassierers symbolisches Verwischen seiner Schneespuren zu Beginn der MonologSzene (Vm 481). 378 So hat Renate Benson die vierte Szene gar als dramaturgisch überflüssig angesehen, es sei denn, ihre Funktion gehe in der Kontrastierung zum Großstadtgeschehen auf (vgl. Benson: Deutsches expressionistisches Theater, S. 167). 379 Vgl. Durzak: Das expressionistische Drama. Band 1: Carl Sternheim – Georg Kaiser, S. 128– 133. 380 Vgl. Vietta, Silvio / Kemper, Hans-Georg: Expressionismus [1975]. 5., verbesserte Auflage. München 1994, S. 88.
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zung mit der Form der Tragödie – nicht tangiert.381 Wie entscheidend diese Inkongruenz jedoch für die Analyse des Stückes ist, lässt sich am Paradies-Motiv aufweisen. So versucht der Sohn der Dame aus Florenz, ein Cranach-Gemälde zu erwerben, das »die erste und einzige erotische Figuration des ersten Menschenpaares« (Vm 475) zeigen soll. In Verbindung mit der Paradiesversion Kassierers, die dieser gegen Ende in Bezug auf das Heilsarmeemädchen hat (Vm 515f.), hat die Forschung in diesem Motiv ein Verweis auf das vitalistische Bestreben des Protagonisten gesehen382, einen Kontrast zu Kassierers Versuch, eine Transzendierung des Individuums mit monetären Mitteln zu erreichen383 oder schlicht die (letztlich enttäuschte) Hoffnung auf ein säkulares Paradies.384 Heinz J. Schueler hingegen konnte zeigen, dass das Motiv uneigentlich verwendet wird und sich seine Funktion in den beiden Teilen des Stücks unterscheidet.385 Ähnlich wie in den erwähnten Thesen offenbart sich im Cranach-Gemälde des ersten Teils die Vorstellung einer Rückkehr zur Einheit vor dem Sündenfall. Diese stellt aber eine »fateful illusion«386 der betroffenen Figuren dar: Der Sohn missinterpretiert387 das Gemälde als erotisch, so wie Kassierer die Dame fälschlich als sexuell verfügbar und sich als Adam im Angesicht Evas imaginiert.388 Die vitalistischen Fehlinterpretationen beider Figuren sind als zum Scheitern verurteilte Versuche zu lesen, die durch den Sündenfall in die Welt gekommene individuierende Trennung der Geschlechter ungeschehen zu machen – zum Scheitern verurteilt deswegen, weil sie auf unreflektierte Weise und ausgerechnet mittels Sexualität vonstattengehen bzw. vonstattengehen sollen. Das Paradiesmotiv im zweiten Teil hingegen ist gänzlich anderen Inhalts: Hier verwandelt sich die Identifikation Kassierers mit Adam in eine mit dem zweiten Adam: Christus. Die zweite Paradiesversion zeigt das Paradies nach dem Fall.389 Sein Selbstmord am Ende ist christologisch aufgeladen: »Er zerschießt die Antwort in seine Hemdbrust… Kassierer ist mit ausgebreiteten Armen gegen das aufgenähte Kreuz des Vorhangs gesunken. Sein Ächzen hüstelt wie ein Ecce – sein Hauchen surrt wie ein Homo« (Vm 517). Der Nebentext veruneigentlicht die Anspielungen so offen-
381 Vgl. Schulz: Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 192–194 u. Bogner: Tragödie und expressionistisches Stationendrama, S. 206f. 382 Vgl. Martens: Vitalismus und Expressionismus, S. 260–264. 383 Vgl. Durzak: Das expressionistische Drama. Band 1: Carl Sternheim – Georg Kaiser, S. 129. 384 Vgl. Krause, Frank: Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus. Frankfurt a.M. [u. a.] 2000, S. 259f. 385 Vgl. Schueler, H[einz] J[uergen]: The old retold. Archetypal patterns in German literature of the nineteenth and twentieth centuries. New York [u. a.] 1996, S. 98–104. 386 Ebd., S. 58. 387 Vgl. ebd., S. 56. 388 Vgl. ebd., S. 57f. 389 Vgl. ebd., S. 61.
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sichtlich390, dass man von einer »travesty of a truly tragic martyrdom«391 sprechen muss. Wie die erste Vision auf dem falschen Verständnis einer Identifikation mit Adam beruht, so wird der Versuch einer Stilisierung zum Märtyrer im zweiten Teil mit szenischen wie Mitteln des Nebentextkommentars desavouiert. Somit hat das Paradies-Motiv im Stück die Funktion, die Sinnsuche Kassierers zu problematisieren und die Mittel dieser Suche als inadäquate aufzuweisen. Mit diesem Motiv wird also die Suche des Protagonisten nicht einfach semantisiert und motivisch präsentiert, sondern mittels Komisierung befragt. Die Funktion dieser Komisierung scheint eine der Herabsetzung392 zu sein, was sich an dem frequenten Einsatz von Kontrastkomik393 erweist: Exponiert wird jeweils das Missverhältnis zwischen den Ansprüchen Kassierers und der Wahl des Ortes bzw. der Mittel zu deren Verwirklichung. Ganz ähnlich wie mit dem Paradies-Motiv verhält es sich auch mit den ›Stationen‹ im Stück: Sie zitieren jeweils eingespielte dramatische Muster, um sie in ihrer komisierenden Überspitzung zu befragen, sie führen die Illusionsbefangenheit des Protagonisten vor, um diese Illusionen als unoriginell auszuweisen (über die Implikationen dieser mangelnden Originalität für die Subjektthematik wird unten noch zu reden sein). Schon Kassierers erotisches Erwachen durch die Konfrontation der kleinbürgerlichen Welt des Subalternen, dessen Stummheit wenig subtiles Zeichen seiner Entsubjektiviertheit ist, mit einer ›Dame von Welt‹, erfolgt unter komischen Auspizien: Wenn sie, um sich abzustützen, kurz ihre Hand auf seine sinken lässt, »ranken seine Brillenscheiben am Handgelenk aufwärts« (Vm 472), wenn sie ihm ihr Armband übergibt, heißt es: »Büsche des Bartes wogen – Brille sinkt in blühende Höhlen eröffneter Augen« (Vm 473). Dass Kassierers Illusionen über die Dame stark erotisch gefärbt sind, ist neben dem Paradies-Motiv daran zu lesen, dass er sie im leichtlebigen Monte Carlo verortet, während sie aus der Kunststadt Florenz stammt (Vm 478), und daran, dass er glaubt, den offensichtlich bereits anwesenden fremden Herrn, den er als seinen Konkurrenten begreift – und der sich als ihr Sohn herausstellt –, mit dem von ihm unterschlagenen Geld auslösen zu können (Vm 478f.). Bereits die Erweckung des Protagonisten beruht also auf seinen Vorannahmen, die sich als wenig originell erweisen (so dass der Bankdirektor, nicht Kassierer selbst, die erotische Abenteuerwelt evoziert, die dieser in der Dame sucht). Darüber hinaus wird die 390 Dass die ironische Apotheose des Protagonisten als Verzweiflung über die Verfallenheit der Welt an das Geld gelesen wurde, ohne die Uneigentlichkeit der Beschreibung nur zu registrieren, ist deshalb kaum verständlich (vgl. Kuxdorf, Manfred: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers. Bern [u. a.] 1971, S. 29f.). 391 Schueler: The old retold, S. 60. 392 Zur Unterscheidung der Komiktheorien der Herab- und Heraufsetzung vgl. Greiner: Die Komödie, bes. S. 88–104. 393 Vgl. ebd., S. 87 u. 90f.
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Erweckung des Protagonisten durch die Beschreibungen des Nebentextes deutlich komisiert. Das setzt sich fort in seinem forschen Auftreten gegenüber der Dame (Vm 477–479), dem Beharren auf seiner Fantasie394 trotz ihrer Klarstellung und der pathetischen Verkündigung der Ausweglosigkeit seiner Situation395 entgegen der Reversibilität seines Betrugs, wie sie die Dame und später der Bankdirektor andeuten (Vm 480 u. 490). Kassierer imaginiert sich als Abenteurer und Sinnsucher, doch seine (sprachlich wie verhaltenstechnisch) täppische Übererfüllung dieser Rollen desavouiert diese Haltungen als inauthentische Behauptungen, als misslingendes Rollenspiel. Die Komplexität der Spielsemantik zeigt sich bei Kassierers Monolog in der dritten Szene bezüglich des unterschlagenen Geldes und dem dadurch von ihm erwarteten erotischen Gewinn: Ich habe sechzigtausend auf die Karte gesetzt – und erwarte den Trumpf. Ich spiele zu hoch, um zu verlieren. Keine Flausen – aufgedeckt und heda! Verstanden? (Er lacht ein krächzendes Gelächter.) Jetzt müssen Sie, schöne Dame. Ihr Stichwort, seidene Dame. Bringen Sie es doch, schillernde Dame. Sie lassen ja die Szene unter den Tisch fallen. Dummes Luder. Und sowas spielt Komödie. (Vm 482)
An dieser Stelle lassen sich die Dimensionen der Spielmetaphorik entfalten: So deutet Kassierer die an die Figuren beider Teile gestellte Erwartung an, klaglos die Rollen zu spielen, die er für sie vorgesehen hat, und zugleich veruneigentlicht er die existenzielle Dimension seiner Suche nach Lebensintensität als Komödie. Darüber hinaus lässt sich die Erwähnung der Komödie als metadramatische Anspielung darauf lesen, dass die formalen Erwartungen, die die ersten beiden Szenen geweckt haben, enttäuscht worden sind: Wo die Hotelzimmerszene zuvor eine boulevardeske Komödie der Ambiguitäten und Missverständnisse erwarten ließe, offenbart der exaltierte Monolog Kassierers nun eine Affinität zum existenziellen Pathos expressionistischer Dramatik, der durch die Komisierung dieses Pathos’ sofort selbst wieder in Frage gestellt wird. Es zeigt sich hier also, wie durch die Diskontinuierung von Genre-Signalen396 eine Szenenfolge entworfen wird, die die Erwartungen der Rezipienten fortwährend unterläuft, und wie der Aufbruch des Protagonisten auf illusionären Vorannahmen beruht, wodurch der Protagonist sowie sein Aufbruch problematisiert werden. Analoges lässt sich im zweiten Teil beobachten, der ja nach der hier verfolgten These den eigentlichen Stationendrama-Teil ausmacht. So lässt sich etwa in der Inkongruenz des Kassierer’schen Anspruchs auf vitalistische Entgrenzung und 394 »Kassierer (stier): Jetzt müssen Sie doch – –!!« (Vm 480). 395 »Ich habe geraubt, gestohlen. Ich habe mich ausgeliefert – ich habe meine Existenz vernichtet – alle Brücken sind gesprengt – ich bin ein Dieb – Räuber – – (Über den Tisch geworfen.) Jetzt müssen Sie doch – – jetzt müssen Sie doch!!!« (Vm 480). 396 Zwar verweist auch Bogner auf die Bezugnahme des Textes auf »klassische Gestaltungsmuster des abendländischen Schauspiels«, doch bezieht er sich dabei zu ungenau auf Tragödie und Komödie (Bogner: Tragödie und expressionistisches Stationendrama, S. 206).
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seinen Versuch, diesen durch Herauftreiben des Preisgeldes beim Sechstagerennen zu erreichen, die oben schon erwähnte Kontrastkomik ausmachen, wie es das Ausrufen der Preiserhöhung vorführt: Ein Herr (durchs Megaphon). Eine neue Preisstiftung desselben ungenannt bleiben wollenden Herrn. (Bravorufe.) Gesamtsumme fünfzigtausend Mark. (Betäubendes Schreien.) Fünftausend dem dritten (Schreien.) Fünfzehntausend Mark dem zweiten. (Gesteigertes Schreien.) Dem ersten dreißigtausend Mark. (Ekstase.) (Vm 498)
An den Kontrast von Preisausruf und Zuschauerreaktion schließt sich Kassierers vielzitierte Vision einer entdifferenzierten Menschengemeinschaft an: »Wogender Menschheitsstrom. Entkettet – frei. Vorhänge hoch – Vorwände nieder. Menschheit. Freie Menschheit. Hoch und tief – Mensch. Keine Ringe – keine Schichten – keine Klassen.« (ebd.). Doch diese Vision ist nur angemessen verstanden, wenn ihre kontrastive Wirkung zur Kenntnis genommen wird: Sie folgt auf eine durch bloßes Ausrufen des Preisgeldes erzeugte Ekstase des Publikums und wird durch den Auftritt des Kaisers in seiner Loge und die dadurch eintretende Stille im Sportpalast sofort unterlaufen. Mehr als ein Ausweis für den Untertanengeist des Publikums und mithin für die Vergeblichkeit von Kassierers Bemühungen, die Ekstase zu katalysieren397, muss doch an dieser Sequenz auffallen, dass die enthemmte Reaktion der Zuschauer von Kassierer als Fanal einer wiederum paradiesischen Vergemeinschaftung aufgefasst und somit völlig missverstanden wird. Das, was die messianische Figur im expressionistischen Drama398 als Ziel der Menschheits-Wandlung proklamiert, soll hier anlässlich einer durch Geldzuwendungen intensivierten Sportveranstaltung realisiert werden – ein groteskes Missverhältnis. Dass es Kassierer nicht um diese Überwindung sozialer Differenz geht, lässt sich auch daran erkennen, dass er mit der Desillusionierung im Sportpalast auch den Versuch als solchen aufgibt: Die beiden letzten Szenen befassen sich mit der Befriedigung seiner Lüste bzw. seinem Seelenheil, ohne die Menschheitsperspektive weiter zu berücksichtigen. Bereits die Folgeszene, die im »Sonderzimmer« (Vm 499) eines Ballsaales spielt, perpetuiert die Inkongruenz der Szenenfolge. Nach der Massenszene im Sportpalast befinden wir uns an einem Ort, der manche an Schnitzlers Bühnenräume399 erinnert hat, im »rote[m] Licht« (ebd.) des Séparées, bei livrierten Kellnern und maskierten ›Dirnen‹. Der Antiklimax des Sportpalastes, die ihre Wirkung aus der nonverbalen Reaktion des Publikums gezogen hat, folgt also eine Szene, deren revuehaftes Defilee einzelner Figuren, die zu Kassierer in Beziehung treten, der Tradition des Boulevardtheaters entnommen ist – wobei 397 Durzak: Das expressionistische Drama. Band 1: Carl Sternheim – Georg Kaiser, S. 137. 398 Man denke an die später entstandenen Texte von Toller (»Die Wandlung« und »Masse Mensch«) oder an Kaisers »Die Bürger von Calais« und »Gas I«. 399 Vgl. Huder: Nachwort, S. 87.
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Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
die Körperlosigkeit der Konversationskomödie mit derber Possenkomik angereichert ist. Dass Kassierer die Rolle des großbürgerlichen Galans nicht auszufüllen imstande ist, offenbart folgende komische Stichomythie mit dem Kellner: Kellner. Die Sektmarke des Herrn? Kassierer (räuspert). Grand Marnier. Kellner. Das ist Kognak nach dem Sekt. Kassierer. Also – darin richte ich mich entgegenkommend nach Ihnen. Kellner. Zwei Flaschen Pommery. Dry? Kassierer. Zwei, wie Sie sagten. (Vm 500)
Kassierer ist sich seiner Hochstapelei durchaus bewusst und artikuliert sie auch (»Den Schwindel irgendwo mal gelesen – haften geblieben. Aufgestapelt.«, Vm 501). Die Illusion, in dieser Rolle Lebensintensität in Form erotischer Erfüllung erlangen zu können, wird im Laufe der Szene anhand der Reihe auftretender Partnerinnen wiederum destruiert, weil die erste maskierte Dame einschläft, die beiden nächsten hässlich sind und die letzte nicht tanzen kann, da sie ein Holzbein hat (Vm 502, 503 u. 505). Das Possenhafte der dargestellten Missverhältnisse wird durch Kassierers Reaktionen verstärkt, der jeweils körperliche Gewalt anwendet, um sich der Frauen zu entledigen (vgl. ebd.), womit zugleich sein großbürgerlicher Habitus aufs Neue entlarvt wird. Auch hier erweist sich Kassierers Suche nicht einfach als illusionistisch, sondern wird mit Genreelementen versehen, die die Szene von den anderen scharf abgrenzt. Die szenische Diskontinuität setzt sich auch in Bezug auf die folgende Szene fort: Dass er seinen Plan nach der dritten Enttäuschung aufgibt und die Heilsarmee aufsucht, obwohl er, wie seine letzte Replik in der Szene lautet, »was erleben« (Vm 505) will, ist wiederum nicht motiviert und offenbart besonders mittels der Szenenräume – Séparée und Heilsarmeelokal – erneut einen scharfen Kontrast. Abermals scheint Kassierer das Ziel seiner vorigen Station aufgegeben zu haben, indem er die Heilsarmee aufsucht. Die Wahl des Ortes wird insofern vorbereitet, als dass ihm in den beiden vorigen Szenen ein Mädchen der Heilsarmee begegnet ist. Diese, die ihn bei ihren (szenisch repräsentierten) Begegnungen nichts von einer Sitzung ihrer Organisation erzählt hat, ist es auch, die ihn hereinführt (Vm 508) und ihn zum Bekenntnis drängt (Vm 510, 512, 513– 515). Darauf, dass Kassierers Eintreffen womöglich dennoch erotische Gründe haben könnte, deutet seine zweite Paradiesvision hin, in der er mit dem Heilsarmeemädchen das erste Menschenpaar abgibt und in dessen Folge er ihre Verbindung zur Keimzelle einer neuen Ordnung stilisiert: »Mädchen und Mann – ewige Beständigkeit. Mädchen und Mann – Fülle im Leeren. Mädchen und Mann – vollendeter Anfang. Mädchen und Mann – Keim und Krone. Mädchen und Mann – Sinn und Ziel und Zweck« (Vm 515). Fraglos ist die Verbindung, die hier imaginiert wird, im Vergleich mit der zur Dame im ersten Teil wesentlich
Diskontinuierliche Szenenfolgen
313
weniger erotisch konnotiert. Da überdies die Verkündigung seines Verlangens nach »Bekenntnis und Buße« (Vm 514f., 515) nicht von Ironiesignalen begleitet ist, sollte zunächst einmal ernst genommen werden, dass Kassierer mit dem Besuch der Heilsarmee eine zu den vorigen Versuchen qualitativ verschiedene Form der »Erfüllung« (Vm 514) avisiert.400 Die Struktur der Schlussszene ist bemerkenswert: So verweisen die Berichte der Sünder, die reihenförmig präsentiert werden, auf Details in Kassierers eigenem Sündenregister: Ein Sportler bekennt, sein Leben lang ruhelos den Bedürfnissen des Leibes statt der Seele gefolgt zu sein (Vm 508f.), eine Prostituierte ekelte sich aufgrund eines Holzbeins vor dem Leib (Vm 511), ein älterer Mann hat seine Familie verlassen, weil ihm das Familienleben zu eng geworden ist (Vm 512f.), der Letzte hat gar Geld bei einer Bank unterschlagen (Vm 513f.). Auf diese Reihung folgt Kassierers eigenes Bekenntnis (Vm 514f.), das ein Eingeständnis der Geldunterschlagung sowie die Ankündigung umfasst, sich »dem nächsten Schutzmann« (Vm 515) zu stellen. Es ist dabei abwegig, dieser Szene mangelnden Realismus zu unterstellen, weil die Ansammlung dieser Zufälle unplausibel sei401 – ein solcher Anspruch auf ›vraisemblance‹ wird im ganzen Stück nicht vertreten und ignoriert die metadramatische Dimension des Textes. Vielmehr verweist die Aufreihung irdischer Verfehlungen mit dem Ziel, einen Einzelnen durch die Konfrontation mit seinen Taten zur Umkehr zu bewegen, erneut auf eine eingespielte Dramenform, nämlich auf das spätmittelalterliche Mysterienspiel402 – freilich mit gewichtigen Änderungen in der Anlage der Figuren. So sind die Figuren in Von morgens bis mitternachts sicherlich nicht als Allegorien zu verstehen, wie es auf das Mysterienspiel zutrifft. Ihr Status ist analog zur oben beschriebenen ambivalenten Sprachverwendung des Textes ambig gehalten: Zwar ist es richtig, dass die Figuren durch ihre Benennung nach ihren Funktionen und der Geläufigkeit ihrer Positionen typisiert erscheinen403, doch fällt auf, dass bei Figuren wie Kassierer, der Dame oder selbst Randfiguren wie dem Kellner404 biografische Details the400 Eine solche Lesart findet sich in der früheren Forschung, etwa bei Huder: Nachwort, S. 87 u. Kuxdorf: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers, S. 26f. 401 Vgl. Durzak: Das expressionistische Drama. Band 1: Carl Sternheim – Georg Kaiser, S. 135. 402 Huder hat das gesamte Stück als »filmische[s] Mysterienspiel[] vom ekstatischen Menschen« bezeichnet (Huder: Nachwort, S. 85). 403 Vgl. Schulz: Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 177. 404 Der Kellner, der Kassierer während seiner Episode im Separée bedient und in dem zitierten Dialog noch ganz im Sinne der Typenkomödie agiert, indem er Kassierer auf seine Unwissenheit aufmerksam macht und dennoch servil bleibt und ihm später wortlos die bestellten Speisen bringt (Vm 499–501, 502, 503), hat einen Ausbruch, als er bemerkt, dass ihm auf Kassierer eifersüchtige Herren das Geld zur Begleichung der Rechnung gestohlen haben. Man beachte, dass die persönliche Situation des Kellners thematisiert wird und somit einer vormals rein funktionalen Figur ein gewisses Maß an Individualisierung zugestanden wird: »Der Sekt – das Souper – das reservierte Zimmer – nichts ist bezahlt. Vier Flaschen Pommery – zwei Portionen Kaviar – zwei Extramenus – ich muß für alles aufkommen. Ich habe Frau
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Dramatische Depotenzierungen des Subjekts in Raum und Szenenfolge
matisiert werden und sie dadurch so weit individualisiert werden, dass nicht davon die Rede sein kann, die Figuren gingen in ihrer Verweisungsfunktion auf ein Allgemeines auf. Das Spiel mit den Typisierungen der Figuren steht, das sollte deutlich sein, in enger Verbindung mit der inkonsistenten Form des Stückes. Für die letzte Szene zeigt sich wiederum, wie erneut eine eingespielte Dramenform parodiert und ihrem Kern entkleidet wird, da Kassierer die Rolle des sündigen Bekenners nicht ausfüllen kann. Das ist der Fall, weil er angesichts einer zweifachen Desillusionierung – die anwesenden Heilsarmeemitglieder sowie später das Heilsarmeemädchen erweisen sich als geldgierige Heuchler, nicht als Urzelle neuer Menschengemeinschaft (Vm 515f.) – die Buße nicht antritt, sondern stattdessen Selbstmord verübt, sich also den Fragen nach seiner Schuld und nach dem richtigen Weg entzieht. Es zeigt sich also, dass das Stück in jeder Szene und bisweilen in übergreifenden Szenenfolgen Bezüge auf tradierte dramatische Genres oder Formen erkennen lässt, deren Handlungs- und Figurenmodelle aber nicht vollständig realisiert werden können, da der Protagonist sie jeweils unterbricht und zur nächsten Station wechselt, die wiederum an andere Modelle ansetzt. Aufgrund dieses Verfahrens ist es hinsichtlich der Frage nach der Form von Von morgens bis mitternachts daher präziser, das Stück als Ganzes nicht dem Stationendrama unterzuordnen: Im Stationendrama besonders Strindberg’scher Prägung gibt es keine Komik, keine Veruneigentlichung der existenziellen Suche des Protagonisten. Diese Parodisierung der Strukturelemente des Stationendramas muss als Innovation von Kaiser bezeichnet werden, was eine Rubrizierung des Textes unter ›Stationendrama‹ verdecken würde. Kaisers Text leistet mehr als die scheinbare Erfüllung des Stationendrama-Schemas: Er macht es durch seine Parodierung der Problematisierung zugänglich und diskontinuiert neben den Figuren und den Orten auch die aufgerufenen Formschemata. In dieser Hinsicht lässt sich die Form des Textes als forcierte Form der ›diskontinuierlichen Szenenfolge‹ beschreiben. Eine solche Lesart hat schließlich erhebliche Konsequenzen für den Zusammenhang von Figur und Szenenfolge. Wenn es zutrifft, dass sich die Szenen als Folge von unterschiedlichen dramatischen Modellen beschreiben lassen, nach denen sich das Verhalten des Protagonisten jeweils anpasst, so ließe sich dessen Suche als die nach einer erfüllenden Subjektivität reformulieren, die im Drama als Suche nach einer adäquaten Figurenkonzeption erscheint, mithin metadramatisch akzentuiert ist. Die Inkongruenz der Szenen reflektiert die kopflose Suche des Protagonisten. Sein Ausbruchsversuch aus der aporetischen Kleinbürgerund Kinder. Ich bin seit vier Monaten ohne Stellung gewesen. Ich hatte mir eine schwache Lunge zugezogen. Sie können mich doch nicht unglücklich machen, meine Herren?« (Vm 506).
Diskontinuierliche Szenenfolgen
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existenz erfolgt über szenenweise wechselnde Rollenspiele, die keine stabile, neue Identität zu stiften helfen, sondern die Ratlosigkeit der Figur nur beschleunigt. Die Diskontinuität der Szenenfolge in Von morgens bis mitternachts korrespondiert mithin der subjektiven Unterbestimmtheit des Protagonisten, wobei die im Schema des Stationendramas aufgerufene Sinnsuche desavouiert wird als zusammenhanglose, kontingente Bilderfolge ohne symbolischen Wert. Der zu Geld gelangte Kleinbürger stellt die ›großen Fragen‹ der expressionistischen ›Wanderer‹ verengt aufs Materielle und Erotische, und im Stück erweist es sich, dass er damit ›unter‹ den Sinndimensionen der Stationendramatik – und er selbst unbefriedigt bleibt. Was formal auf die Suche nach ›starker‹ Subjektivität verweist, wird aufgrund der Perspektive dieses homme copie nur angedeutet, aber nicht geleistet.
3.
Dezentrierung oder Rezentrierung? ›Masse‹ und ›Gemeinschaft‹ in ihrem Verhältnis zum ›starken‹ Subjekt im Drama
In diesem Kapitel wird sich zeigen, dass sich produktive Reaktionen von Dramen auch in Bezug auf die in der Hinführung skizzierte ›Dezentrierung‹ des Subjekts1 finden lassen. Anders als in den vorigen Teilen wird es hier nicht darum gehen, zu belegen, wie in Texten das ›depotenzierte‹ Subjekt anhand des theatralen Sujets oder räumlicher wie ›zeitlicher‹ Experimente reflektiert worden sind, sondern darum, wie Texte auf um 1900 virulente Sozialsemantiken reagiert haben. Dadurch, dass hier der Fokus nicht auf durch neue Bewusstseinstheorien depotenzierte Subjektivität, sondern auf Sozialität liegt, verändert sich auch die Hinsicht, in der Subjektivität in den Texten bearbeitet wird. Kurz gesagt lässt sich eine Verschiebung von strukturellen zu diskursiven Verarbeitungen der SubjektProblematik beobachten. Es wird in der Folge aber darum gehen, zu zeigen, wie diese Diskursivierungen Anlass zu neuen Formlösungen gegeben haben. Ein besonders auffälliger Unterschied zu den vorigen Texten ist, dass durch die Verbannung des Subjekts an die Peripherie, dadurch, dass es als Kontrast zu den Sozialsemantiken ›Masse‹ und ›Gemeinschaft‹ fungiert, die Perspektive eröffnet wird, es zu restituieren. Während die Dramen des depotenzierten Subjekts die Verabschiedung des ›starken‹ Subjekts als irreversibel gestalten, scheint unter veränderten Diskurslagen die Möglichkeit auf, das ›starke‹ Subjekt in seiner Residualform als ›großes Individuum‹ zu rezentrieren. Unter welchen Voraussetzungen das möglich ist oder welche alternative Funktionalisierungen des Einzelnen es an den Texten zu beobachten gibt, zeigen die beiden folgenden Abschnitte.
1 Vgl. Abschnitt 3.5.2 im Teil A dieser Arbeit.
318
3.1
Dezentrierung oder Rezentrierung?
Die Masse und ihre Führung. Zur Problematisierung des Individuums im ›Massen-Drama‹
3.1.1 Einleitung: Historische Semantik der ›Masse‹ und ihre literarische Implementierung In der Einleitung zu einer kurzen Monographie aus dem Jahr 1895 heißt es in zeittypisch kulturkritischer Tonlage: Während alle unsere alten Glaubenssatzungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstützen eine nach der anderen einstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen nur wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit die Ära der Massen sein.2
Zum besseren Verständnis, besonders aber zur besseren Lenkung dieser Masse3 schlägt der Autor des Textes, Gustave Le Bon, die psychologische Beschäftigung mit diesem Besorgnis erregenden sozialen Phänomen vor – und wird damit zum entscheidenden Popularisierer einer bis weit ins 20. Jahrhundert wirkmächtigen wissenschaftlichen Disziplin: der Massenpsychologie. Die Semantisierung von ›Masse‹4 ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr ohne sie zu denken. Das gilt insbesondere für Le Bons »Psychologie der Massen« (»La psychologie des foules«). Dieser Text stellt in der Tat »the discourse’s doxa«5 dar. Während die – holistisch orientierte – soziologische Fachöffentlichkeit die etwa zeitgleich betriebene sozialpsychologische Massensoziologie von Gabriel Tarde ignoriert hat6, weswegen der Beitrag der Soziologie zur Semantik dieser Sozialform gering blieb, stellte die von Le Bon ventilierte energetische Massentheorie das begriffliche Instrumentarium zur Beschreibung dieser Phänomene bereit. Daneben ist in neueren literaturwissenschaftlichen Studien gezeigt worden, dass seit der Emergenz des modernen Masse-Begriffs die Literatur – besonders 2 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen [frz. 1895]. Autorisierte Übersetzung nach der 12. Auflage von Rudolf Eisler. Leipzig 1908, S. 16. 3 Vgl. ebd., S. 6f. 4 Dem Vorschlag Gampers folgend sei ›Masse‹ im Folgenden mit Anführungszeichen geschrieben, um präsent zu halten, dass mit diesem Begriff ein diskursiv erzeugter Wertungsbegriff bezeichnet ist und keine soziale Formation, auf die er sich bezieht (vgl. Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930. Paderborn [u. a.] 2007, S. 17, FN 20). 5 Jonsson, Stefan: Neither masses nor individuals. Representations of the collective in inter-war German culture. In: Weimar publics, Weimar subjects. Rethinking the political culture of Germany in the 1920s. New York [u. a.] 2010, S. 279–301, hier: S. 284. 6 Vgl. dazu die Hinweise bei Lüdemann, Susanne: Die imaginäre Gesellschaft. Gabriel Tardes anti-naturalistische Soziologie der Nachahmung. In: Borch, Christian / Stäheli, Urs (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde. Frankfurt a.M. 2009, S. 107–124.
Die Masse und ihre Führung
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die Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts – erheblichen Anteil an dessen Konturierung gehabt hat.7 Das gilt auch für das Drama: Um 1900 sind auch hier Versuche der dramatischen Repräsentation von ›Masse‹ festzustellen. Dies wurde durch neue theatrale Orte und Modelle ermöglicht und von Ambitionen der Theatermoderne flankiert, anhand der Darstellung großer Menschenansammlungen sowie der Einbindung des Publikums ›Masse‹ theatral herzustellen und sie, etwa bei Max Reinhardt, in eine theatrale Gemeinschaft zu überführen.8 Dies alles darf als unstrittig und angemessen beforscht gelten.9 Zu fragen ist nun aber, inwieweit die Dramatisierung von ›Masse‹ Anteil hat an der neuartigen Problematisierung des Subjekts um 1900, die Gegenstand dieser Arbeit ist. Anders formuliert: Was wird anhand der Massendarstellung über den Einzelmenschen aussagbar? Diese Frage sei an vier höchst divergenten Dramen behandelt: Gerhart Hauptmanns Die Weber (1892), Samuel Lublinskis Peter von Rußland (1906), Georg Kaisers Gas (1918) und Ernst Tollers Masse Mensch (1919). Argumentative Grundlage dieses Kapitels ist, dass der Begriff der Masse als ein »Gegenbegriff zum Ideal und Bildungsbegriff des Individuums«10 etabliert worden ist. Der ›Einzelne‹ und seine intellektuellen, psychischen und handlungsmäßigen Potenzen bieten den Hintergrund, vor dem ›Masse‹ semantisiert wird – und umgekehrt stellt die Menschenmenge seit 1800 einen »Unruheherd in der Episteme des Menschen«11 dar. Daraus folgt, dass jedes Masse-Konzept zugleich Aussagen über den Einzelmenschen enthält. Es entsteht also ein Spannungsverhältnis, das dramatisch nutzbar gemacht werden kann und worden ist. Dieses Spannungsverhältnis zwischen ›Masse‹ und Individuum wird im deutschsprachigen Drama um 1900, so die zentrale Hypothese, über die Frage nach der Führung von ›Masse‹ realisiert: Es stehen sich Einzelfiguren gegenüber, die auf Massenfiguren zu wirken versuchen. Ihr sehr unterschiedlicher Erfolg bei der Beeinflussung einer Menschenmenge wird in den folgenden Analysen nicht allein als Übernahme der Massen-Semantik, sondern gleichermaßen als Aussage über Individualität, wenn nicht gar als Reflektion verschiedener Individualitätskonzepte gelesen. Es werden sich einige Einzelfiguren dem im Drama reflek7 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 29. Er postuliert eine formative Rolle der Literatur zumal für die Frühphase des sozialen Massenbegriffs (ebd., S. 27). Zur Doppelrolle der Literatur für den Massendiskurs – als »Nachrichtenmedium« und als »Informationsmedium« – vgl. ebd., S. 20. Vgl. zudem: Ders.: Dichtung als Medium der Menschenmenge. Literatur und ihre Funktion für den ›Masse‹-Diskurs. In: Lüdemann, Susanne / Hebekus, Uwe (Hg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge. München [u. a.] 2010, S. 89–105. 8 Vgl. Marx: Max Reinhardt, S. 83–118. 9 Zur Forschung im Einzelnen vgl. die folgenden Fußnoten dieser Einleitung. 10 Graczyk, Annette: Die Masse als Erzählproblem. Unter besonderer Berücksichtigung von Carl Sternheims »Europa« und Franz Jungs »Proletarier«. Tübingen 1993, S. 10. 11 Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 18.
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Dezentrierung oder Rezentrierung?
tierten sozialen Faktum der modernen ›Masse‹ gegenüber als nicht gewachsen erweisen. Da ›Masse‹ eine Reflektionsfigur der Moderne darstellt, problematisieren Konflikte zwischen ›Masse‹ und ›Einzelnen‹ im Drama, so die Annahme, auch die Modernität dieser ›Einzelnen‹. Hier liegt das Erkenntnisinteresse für eine an der Subjekt-Semantik interessierte Arbeit. In dieser Einleitung muss zunächst der diskursive Rahmen von ›Masse‹ – samt seiner neuzeitlichen Vorgeschichte – skizziert werden, wobei der sich ab etwa 1890 konstituierenden »Massenpsychologie« besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden wird, weil sie erstens das Masse-Konzept um 1900 am nachhaltigsten geprägt hat und sie sich zweitens sehr stark mit Fragen der Führung von Masse befasst hat. Im Anschluss daran werden die ersten literarischen Massendarstellungen in Roman und Drama (avant la lettre) sowie deren Beforschung vorgestellt, worauf ein kurzer Exkurs über die Massenregie bei Max Reinhardt und anderen folgt. Zum Abschluss wird kurz plausibilisiert, warum unter den analysierten Texten ein Drama behandelt wird, bei dem ›Masse‹ dem ersten Anschein nach gar nicht vorkommt. Das Vorhaben, die historische Semantik von ›Masse‹ darzustellen, steht vor dem Problem, das die meisten Begriffe der politisch-sozialen Sprache haben: Im Grunde sind sie nur angemessen in einer Gesamtschau des Begriffsfeldes und der Evolution der Gesellschaft beschreibbar12, weil sie in ihrer Vorgeschichte wie ihrer eigentlichen Begriffsgeschichte in Relation zu anderen Begriffen entstanden sowie ›gepflegt‹13 worden sind – und wiederum auf die Strukturentwicklungen des jeweiligen Gesellschaftssystems gewirkt haben.14 Der ›Masse‹-Diskurs steht in Beziehung zu einem schwer zu entwirrenden Geflecht von Begriffen, unter denen Sozialbeziehungen von gesellschaftlicher bis hinunter zu interpersonaler Größenordnung gefasst werden.15 ›Masse‹ ist, das sei betont, nur eine Metapher für Sozialität, deren Semantik sich in der Moderne neu konturiert. Verkompliziert wird dieses Geflecht zudem noch durch den Bezug zu Fragen der Herrschaft und (politischen) Führung, die verwandte, aber eigenständige semantische Felder tangieren und dem Massen-Begriff zeitlich weit vorausliegen. Eine umfassende Darstellung des semantischen Feldes von ›Masse‹ und ihrer Führung ist in die12 Als Beleg mag der Umstand gelten, dass der Begriff ›Masse‹ in den Geschichtlichen Grundbegriffen den schon für sich uferlosen und hoch spezifischen Begriffen ›Volk‹, ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ beigefügt worden ist (Vgl. Koselleck, Reinhart: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: GG 7, S. 141–431). 13 Eine wichtige Ausnahme stellt der Herrschaftsbegriff dar, der durch die Neuzeit hindurch nicht explizit thematisiert worden ist, sondern nur der Sache nach (vgl. Hilger, Dietrich (u. a.): Art. Herrschaft. In: GG 2. S. 1–102, hier S. 1). 14 Vgl. Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. 15 Vgl. bzgl. der Gesellschaftsmetaphorik nur Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Vgl. außerdem die ersten drei Aufsätze in Junge, Matthias (Hg.): Metaphern und Gesellschaft. Die Bedeutung der Orientierung durch Metaphern. Wiesbaden 2011.
Die Masse und ihre Führung
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sem Rahmen schlechthin nicht leistbar, weswegen die folgenden Ausführungen sich eng am Begriff ›Masse‹ orientieren und seine Grenzbereiche nur punktuell behandeln.16 Obwohl sich Menschenmengen und Invektiven über den ›Pöbel‹ und das ›Volk‹ seit der Antike nachweisen lassen, werden die so bezeichneten Sozialformen erst mit der Französischen Revolution »nicht mehr nur als akzidentieller Effekt, sondern als eigenständige Macht und Erscheinung der Gesellschaft verstanden«17 – und mithin zum sozialen wie diskursiven Problem. Der Auftritt der Menschenmenge als sozialer Akteur seit der Revolutionszeit18, die Herausbildung der Massenkultur19 im frühen 20. Jahrhundert sowie nicht zuletzt die Erfahrung der russischen Revolutionen von 1905/1917 und besonders des ›Massenkrieges‹ 1914–191820 bilden den extratextuellen Rahmen für einen genuin modernen Diskurs der Masse (foule/folla, crowd)21, der die Rede über ›das Soziale‹ bis mindestens zu den 1930er Jahren massiv geprägt und der auf Sozialität zurückgewirkt22 hat. Dieser Diskurs ist vor dem Hintergrund des Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung zu sehen, deren soziale Veränderungen wie daraus hervorgehende Ängste und Hoffnungen er reflektiert hat.23 Es ist ein Verdienst der Forschung, gezeigt zu haben, dass durch den MasseDiskurs auch das »ungeklärte Verhältnis der ›Zivilisation‹ zu den von ihr teils verdrängten und ausgeschlossenen, teils kanalisierten, aber eben kaum mit ihr
16 Das gilt insbesondere für den Zusammenhang von Herrschaft, Macht und Führung, der nicht anders als in einem knappen Einschub Berücksichtigung gefunden hat. 17 Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 16. 18 Vgl. etwa Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 19. 19 Vgl. allg. Maase: Grenzenloses Vergnügen; Makropoulos, Michael: Modernität und Massenkultur. In: Bonacker, Thorsten / Reckwitz, Andreas (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt / New York 2007, S. 219–250; Middendorf, Stefanie: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980. Göttingen 2009. 20 Vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 32. 21 Den Diskurs in seiner Breite hat Gamper nachgezeichnet (vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben), wobei die von Graczyk angemahnte Einbindung der Militär- und Strafrechtsgeschichte (Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 9) nicht geleistet worden ist. Zur politischen Dimension des Masse-Konzepts vgl. König, Helmut: Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter. Reinbek 1992 u. Blättler, Sidonia: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Berlin 1995. 22 Es ist deshalb wichtig, den »Massendiskurs« als »Krisenindikator und -faktor der klassischen Moderne zugleich« zu beschreiben – wobei über das Attributierung von ›klassisch‹ zu diskutieren wäre (Genett, Timm: Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten. In: Neue Politische Literatur 44 (1999), S. 193–240, hier: S. 194). 23 Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 195. Vgl. bes. König: Zivilisation und Leidenschaften.
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Dezentrierung oder Rezentrierung?
versöhnten ›Leidenschaften‹«24 verhandelt wurde – womit die Problemgeschichte von ›Masse‹ bereits dort beginnt, »wo die destruktiven Leidenschaften durch die repressive Institution des ›Leviathan‹ gebändigt«25 werden oder andere Kontrollinstanzen diese sozialstabil halten sollen.26 Besonders wenn man die modernen Masse-Konzepte vor dem Hintergrund der Frage der Führung sozialer Gruppen durch Einzelne zu lesen versucht, gehört das frühneuzeitliche »Wissen von der Regierung«27 zur Vorgeschichte des Diskurses. Zu diesem Zusammenhang zählt auch die Policeywissenschaft des 18. Jahrhunderts, in der vermittels des sich neu herausbildenden Begriffs der ›Bevölkerung‹ die staatliche Lenkung der Ökonomie wie der Untertanen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurde.28 Entscheidender sind aber die Begriffe ›Macht‹, ›Herrschaft‹ und ›Führung‹ gewesen, in welchen das begrifflich noch nicht umrissene Potential sozialer Großgruppen ex negativo aufscheint. ›Macht‹29 und ›Herrschaft‹30 sind von der Antike bis zur Frühen Neuzeit im Wesentlichen in legitimatorischer Absicht behandelt worden und haben etwa die Legitimität monarchischer Herrschaft zu erweisen versucht (Bodin, Hobbes).31 Parallel lässt sich ein diskursiver Strang ausmachen, in dem Macht und Machthaber als Faktum analysiert wurde (Thukydides, Machiavelli; um 1900: Nietzsche, Weber).32 Bei allen gewichtigen 24 25 26 27 28
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Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 205. Ebd. Bekanntlich liegt hier das Erkenntnisinteresse des frühen Foucault. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 53. Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 55f. Die Policeywissenschaft der Mitte des 18. Jahrhunderts war bestrebt, »kollektive Aggregate aufzulösen« (ebd., S. 57) und durch biopolitische Maßnahmen, die auf die individuelle Lebensführung der staatlichen Subjekte Einfluss zu nehmen versuchten, die öffentliche Ordnung zu sichern (ebd., S. 57f.). Die »politisch-ökonomische Anthropologie« der Policeywissenschaft »hat sich die Aufgabe der Steuerung der Bevölkerung gestellt, die insofern eine ›Menschenmasse‹ genannt werden kann, als der soziale Körper von ordnenden, kontrollierenden Bewegungen durchzogen sind, die zwar ›Individualität‹ produzieren, letztlich aber durch die Individuen hindurchgehen und auf die ›Bevölkerung‹, also auf die Kumulation der vielen Einzelnen als gleicher Elemente, gerichtet sind.« (ebd., S. 58). Zum Überblick über den Begriff vgl. Faber, Karl Georg / Ilting, Karl-Heinz: Art. Macht, Gewalt. In: GG 3, S. 817–935; Lichtblau, Klaus (u. a.): Art. Macht. In: HWPh 5, Sp. 585–631; Zenkert, Georg: Art. Macht. In: HWRh 10, Sp. 605–626. Die wichtigsten Theorien werden dargestellt in: Anter, Andreas: Theorien der Macht zur Einführung. 2., korrigierte Auflage. Hamburg 2013. Für eine umfassende Darstellung historischer Machtbegriffe und -verhältnisse vgl. Mann, Michael: Geschichte der Macht. Drei Bände. Frankfurt a.M. 1998–2001. Vgl. allg.: Hilger (u. a.): Art. Herrschaft. Zur soziologischen Beschäftigung mit Herrschaft vgl.: Maurer, Andrea: Herrschaftssoziologie. Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Balke, Friedrich: Figuren der Souveränität, München [u. a.] 2009, bes. S. 27–56. Zur Frage der Legitimität vgl. Glaser, Karin: Über legitime Herrschaft. Grundlagen der Legitimitätstheorie. Wiesbaden 2013. Vgl. bes. Münkler, Herfried: Analytiken der Macht: Nietzsche, Machiavelli, Thukydides. In: Greven, Michael Th. (Hg.): Macht in der Demokratie. Denkanstöße zur Wiederbelebung einer klassischen Frage in der zeitgenössischen Politischen Theorie. Baden-Baden 1991, S. 9–44.
Die Masse und ihre Führung
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Unterschieden ist beiden Strängen gemein, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf die Qualitäten und Strategien lenken, die ein Herrscher zur Beherrschung einer großen Gruppe benötigt. Dieses Element der Personalisierung von ›Herrschaft‹ wird im Laufe des 19. Jahrhunderts dafür sorgen, dass es zu einer »Psychologisierung des Herrschaftsbegriffs«33 kommt, im Zuge dessen er mit dem der Führung substituiert wird.34 ›Führung‹ ist in der Vormoderne im Wesentlichen als militärische Führung35 thematisiert worden und beginnt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch Verbindung mit Semantiken des ›großen Mannes‹ (Carlyle, Emerson)36 und des ›Helden‹37 als Gegenbegriff für gesamtgesellschaftliche Mediokrität an Bedeutung zu gewinnen. Begriffsgeschichtlich ist auffällig, dass es für die – natürlich auch vor 1789 gelegentlich auftretende – Menschenmenge in der Frühen Neuzeit keinen (sozialen) Massen-Begriff gibt, sondern temporär auftretende Menschenansammlungen sowie Unterschichten unter ›Volk‹ rubriziert wurden.38 ›Masse‹ ist in der Frühen Neuzeit in erster Linie als physikalischer Terminus, prominent etwa in der Newtonschen Mechanik, verwendet worden.39 Er hat mit der Aufwertung des Begriffs ›Volk‹ um 180040 eine pejorative Semantisierung erhalten, die dem (sozialen) Massen-Begriff seitdem anhaftet41 – wohl nicht zuletzt, weil er kein Begriff
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Der Hinweis auf die Zugehörigkeit Max Webers zu dieser Reihe beruft sich auf Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Tübingen 1987 (vgl. ebd., S. 12, FN 3). Hilger (u. a.): Art. Herrschaft, S. 95. Vgl. ebd., S. 94–98. Vgl. Grint, Keith: Leadership. A Very Short Introduction. Oxford 2010, S. 34f. Für eine soziologische Perspektivierung von Führung vgl. Baecker, Dirk: Die Sache mit der Führung. Wien 2009. Vgl. bes. Gamper, Michael: Ausstrahlung und Einbildung. Der ›große Mann‹ im 19. Jahrhundert. In: Reiling, Jesko / Rohde, Carsten (Hg.): Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Bielefeld 2011, S. 173–199. Vgl. außerdem zur Genese der Semantik sowie seiner Weiterführung um 1900: Ders.: Mittelmaß und Charisma. Zur Poetologie des ›großen Mannes‹ als Massenführer. In: Jäger, Andrea / Antos, Gerd / Dunn, Malcolm H. (Hg.): Masse Mensch. Das »Wir« – sprachlich behauptet, ästhetisch inszeniert. Halle (Saale) 2006, S. 54–66. Vgl. Reiling, Jesko: Der Auftritt des Helden. Zu einem konstitutiven Aspekt des Heroismus seit dem 19. Jahrhundert. In: Immer, Nikolas / Marwyck, Mareen van (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld 2013, S. 173– 197. Vgl. Koselleck: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 283f. Vgl. Pankoke: Art. Masse. In HWPh 5, Sp. 825–832, hier: Sp. 827. Vgl. auch Koselleck: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 335. Vgl. Koselleck: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 143. Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 194. Generell ist auffällig, dass ›Masse‹ in höchst unterschiedlichen Modellierungen von Sozialität und Individualität die Position des ›Anderen‹ bzw. des zu überwindenden einnimmt (vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 6–30; Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion). So diese Funktion auch für die marxistische Theorie, in der die ungeführte ›Masse‹ durch eine marxistisch inspirierte
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der Selbst-, sondern einer der Fremdbeschreibung ist.42 Es waren konkret die realhistorischen Umwälzungen der Französischen Revolution, die für ein verschärftes Interesse an großen Menschenansammlungen sorgten und die die Frage aufkommen ließ, wie mit dieser politisch und diskursiv umzugehen wäre43, da das Scheitern der »älteren Konzepte ›policeylicher‹ Lenkung der Menschenmenge«44 nun augenfällig geworden war. Erst im diskursiven Umkreis der Revolutionszeit ab 1789 wurde ›Masse‹ bzw. ›foule‹45 als »soziales Entdifferenzierungsprodukt schlechthin«46 konturiert. Mit der Sozialisierung des Massenbegriffs veränderte sich auch der diskursive Ort, an dem er auftrat. So entwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts (wiederum in Reflektion zeitgenössischer Phänomene wie Industrialisierung, sozialer Frage und Revolution von 1848/49) das ›Soziale‹ als »neuer Wissensbereich und neue Sphäre gesellschaftlicher Gestaltung«, in dem »soziale Übel wie Armut, Aufstand, Rebellion nicht mehr als beseitigbare Ereignisse, sondern als kalkulierbare Risiken auftreten.«47 Es entstanden Wissensfelder, die ›Masse‹ nach den Prinzipien empirischer Wissenschaft zu beschreiben und damit zu beherrschen versuchten, etwa die normalisierende Sozialstatistik Quetelets48 oder die Soziologie Comtes, in der sich Sozialität »in beschreibbaren Regelmäßigkeiten und Funktionsgesetzen niederschlägt und darstellt.«49 Während sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auf kultur- und sozialkritischer Perspektive Widerstand gegen der Vermassung angelasteten Vermittelmäßigungstendenzen formierte (etwa bei Tocqueville und Nietzsche50) und in Frankreich vor dem Hintergrund von 1848 und der Pariser Kommune 1871 die Historiographen der Revolutionszeit die Konfliktlinien von ›Masse‹ und Führern kontrovers nach-
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Führung zum ›Proletariat‹ bzw. der ›Klasse‹ »domestiziert« wird (Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 297–300). Vgl. Koselleck: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 415. Vgl. das umfangreiche Kapitel bei Gamper, das sich mit der diskursiven Aufarbeitung der Revolution von E. Burke über Forster bis Kleist befasst (Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 125–211). Middendorf: Massenkultur, S. 55. Zur divergenten Epistemologie der Begriffe vgl. Middendorf: Massenkultur, S. 51f. Lüdemann, Susanne / Hebekus, Uwe: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge. München [u. a.] 2010, S. 7–23, hier: S. 8. Ebd., S. 291. Zu diesen Wissensbereichen gehören auch die frühen Versuche, eine Sozialpsychologie zu gründen (etwa bei Herbart) sowie die Völkerpsychologie (Lazarus, Wundt) und die an ›Massenerscheinungen‹ interessierte Historiographie Karl Lamprechts (vgl. allg. Laucken, Uwe: Sozialpsychologie. Geschichte – Hauptströmungen – Tendenzen. Oldenburg 1998, bes. S. 28–39 u. 71–93). Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 305–320. Ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 328–333 u. 396–406.
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zeichneten (Michelet, Taine51), entstand etwa um 1890 jene wissenschaftliche Disziplin, die das Wissen über Kollektive jenseits des etablierten Fächerkanons synthetisieren wollte: die Massenpsychologie.52 In ihr reflektiert sich der Umstand, dass die ›Masse‹ zu den »großen kulturellen Beunruhigungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts«53 zählte – wobei die Massenpsychologie zur Verstetigung dieser Beunruhigung nicht wenig beigetragen hat. Hervorgegangen ist die Disziplin der Massenpsychologie aus der Kriminalanthropologie. Lombrosos Hypothese von der angeborenen Delinquenz krimineller Individuen zog Versuche seiner Nachfolger nach sich, diese Hypothese zu einer kollektiven Verhaltenspsychologie54 auszubauen. Scipio Sigheles Schrift »La folla delinquente« (1891) setzte bei Lombrosos Frage an, ob angesichts angeborener Verhaltensdispositionen die juristische Kategorie der Schuldfähigkeit nicht grundsätzlich aufgegeben werden müsse, und postulierte für die Masse die Herausbildung einer ›Seele der Masse‹, die zu kollektiver Regression führe und die Menge abrupt in ein (negativ konnotiertes) Mittelmaß ihrer Gefühle und Triebe abgleiten lasse, womit persönliches Verantwortungsgefühl und moralisches Empfinden nicht mehr vorhanden sei.55 Besonders beschäftigte er sich mit dem Zustandekommen dieser ›Massenseele‹ und betrachtete Nachahmung und Suggestion als wesentliche Mechanismen dafür – womit er sich mit Gabriel Tarde einig wusste, der in seiner »Philosophie pénale« (1890) das Phänomen der Masse durch das sich in Kollektiven reziprok verstärkende Nachahmungsprinzip erklärt hatte.56 Sighele hat durch seine »den Erkenntnisstand der zeitgenössischen Wissenschaften abbildende psychophysische Theorie der ›Masse‹« die Grundlage der Massenpsychologie gelegt, die bei ihm als »Effekt des Zusammentreffens und gegenseitigen Überlappens von psychopathologischen, juristischen, ethologischen, kriminologischen und anthropologischen Diskursen«57 auftritt. Er hat (im Verein mit Tarde) die Grundlage für die Charakterisierung der Masse als instinktgeleitetes, irrationales Tier gelegt, wobei auffällt, dass er als Belege extensiv literarische Texte zitiert, was einmal mehr die besondere Rolle der Literatur für den Massendiskurs unterstreicht. 51 Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 15f. 52 Zur Genese der Massenpsychologie vgl. Ginneken, Jaap van: Crowds, psychology, and politics 1871–1899. Cambridge 1992; Nye: Robert A.: The origins of crowd psychology. Gustave LeBon [!] and the crisis of mass democracy in the Third Republic. London [u. a.] 1975; Barrows, Susanna: Distorting mirrors. Visions of the crowd in late nineteenth-century France. New Haven, CT 1981. 53 Stöckmann: Naturalismus, S. 104. 54 Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 202. 55 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 413–416 u. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 202f. 56 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 411f. 57 Ebd., S. 419.
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Le Bons epochemachendes und die Massenpsychologie als eine neue Wissenschaft propagierendes Buch »Psychologie des foules« (1895), das 1939 in Frankreich bereits in der 41. und in Deutschland in der 6. Auflage (erste Auflage 1908) erschien, ist von Sighele als Plagiat bezeichnet worden.58 In der Tat ist die argumentative und begriffliche Nähe zu seinen Vorgängern unverkennbar, ohne dass Le Bon seine Quellen – zumindest in der Erstauflage – beim Namen nennt. Doch verkennt ein solcher Vorwurf die hinter dem Buch stehende Publikationsstrategie. Nachdem Le Bon mit sehr umfangreichen Studien recht wenig Aufmerksamkeit und akademische Anerkennung erlangt hatte, fasste er diese seit 1894 in einer Serie von knappen Bänden leicht verständlich zusammen und verband sie mit tagesaktuellen Problemen, um ein breiteres Publikum zu erreichen.59 Er fand somit eine neue Autorposition als »Popularisierer eines fachlich spezifizierten Wissens […], der aber deswegen auf wissenschaftlichen Anspruch keinen Verzicht leistete«.60 So geriert sich der Autor bereits in der Einleitung der »Psychologie der Massen« als Vertreter ein kühl analysierenden, illusionslosen wie desillusionierenden Wissenschaft.61 Le Bons Popularisierungsstrategie bedeutete auch, dass die kriminologische Schuldfähigkeitsfrage zugunsten einer abstrakten Massentheorie zurückgestellt62 wurde, die es erlaubte, anstelle einer konkreten sozialen Schicht63 eine Vielzahl von Sozialformen (von Klein- bis Großgruppen) zu umfassen und diese in eine Geschichtsphilosophie der Masse einzugliedern, an deren Ende in einer Art sozialer Entropie statt ›Rasse‹ und ›Volk‹ wieder, wie am kulturhistorischen Anfang, ›Masse‹ stünde.64 Obwohl er die Existenz organisierter und sozial, funktional wie politisch homogener ›Massen‹-Formen konzediert65, konzentriert sich seine Schrift auf die spontan emergierenden und wieder desintegrierenden Menschenmengen, die er als »heterogene Massen«66 bezeichnet. In dieser lasse sich das Wesen der ›Masse‹, das er wie Sighele als ›Massenseele‹ bezeichnet und somit essentialisiert, am deutlichsten beobachten. Wie bei seinen Vorgängern geht das Auftreten der ›Masse‹ mit der affektiven wie kognitiven Regression, ja Aufhebung der Individuen in der ›Masse‹ einher, wodurch sich durch die erwähnte Massenseele eine eigenständige Entität bilde und als einer von einer Vielzahl an Massentypen 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. Ginneken: Crowds, psychology, and politics 1871–1899, S. 119–126. Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 426f. Ebd., S. 427f. Vgl. auch Ginneken: Crowds, psychology, and politics 1871–1899, S. 172–174. Vgl. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 4. Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 427. Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 200. Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 428. Vgl. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 116. Vgl., ebd., S. 114.
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bestimmte, beschreibbare Eigenschaften annehme.67 Konkret beobachtet er die gesteigerte Reiz- und Erregbarkeit sowie rhetorische wie bildmediale Impressionabilität der ›Masse‹, welche es Le Bon ermöglicht, seiner Arbeit eine zusätzliche – betont antirepublikanische68 – Dimension hinzuzufügen: Es stellt sich ihm die Frage, mit welchen Mitteln Führerpersönlichkeiten in der Lage sind, die Gewalt der Massen einzudämmen und zu kanalisieren. Mit diesem Motiv legitimiert der Text die ausführliche Darstellung der psychologischen Faktoren, die das Handeln der ›Masse‹ determinieren (besonders ›Suggestion‹ und ›Ansteckung‹). Darüber hinaus führt das Motiv zur Klärung der Rolle und Eigenschaften des Führers69 sowie dessen Relation zur ›Masse‹, was große Übereinstimmungen zur italienischen Elitetheorie aufweist.70 Le Bon erklärt den Führer zu einem notwendigen Element der ›Masse‹, da sie »eine folgsame Herde [ist], die nie ohne Herrn zu leben vermag«71 und sie ohne ihn umgehend wieder »eine zusammenhangslose und widerstandslose Menge«72 werde. Entscheidend ist nun aber, dass Führerschaft nicht erst durch ›Masse‹ konstituiert wird, sondern als ein Bündel von Eigenschaften konzipiert ist, das bestimmte Individuen dazu prädestiniert, diese Rolle einzunehmen. So gehört starker, ›despotischer‹73 Wille und Tatendurst notwendig zur ›Führernatur‹, allerdings auch nicht zu viel Scharfblick, da dies zur Untätigkeit führe, außerdem Reizbarkeit sowie besonders ein hohes Maß an Fanatismus, der selbst die Selbstauslöschung in Kauf nehme.74 Das mag verwundern: Nach Le Bon sind nicht die brillanten Rhetoriker, sondern die »großen Überzeugten« in der Historie die wirkmächtigsten Führer gewesen: »Glauben erzeugen, sei es religiöser, politischer oder sozialer Glaube, Glaube an eine Person oder eine Idee, das ist die besondere Rolle der großen Führer, und das ist der Grund, warum ihr Einfluss immer beträchtlich ist.«75 In seiner Unterschei67 Vgl. ebd., S. 9–18. 68 Vgl. dazu bes. Middendorf, die Le Bons Arbeit in einem größeren Zusammenhang von elitärer Modernekritik und Moralisierung der Massen einordnet, der besonders von Hyppolite Taine geprägt worden ist (vgl. Middendorf: Massenkultur, bes. S. 78–85). 69 Vgl. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 83–102, vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 431 u 433f. 70 Vgl. Hartmann, Michael: Elitesoziologie. Eine Einführung. 2., korrigierte Auflage. Frankfurt a.M. 2008, S. 18. Moscas wichtigste Arbeit, die »Elementi di Scienza Politica« von 1896, in denen die grundsätzliche Differenz von Elite und Masse und die Herrschaft ersterer über letzterer ausgeführt wird, ist jedoch erst 1950 unter dem Titel »Die herrschende Klasse« ins Deutsche übersetzt worden (München 1950). Dasselbe gilt für Paretos zweibändiges »Trattato di Sociologia generale«, die in Auswahl erstmals 1955 in deutscher Übersetzung vorlag (Tübingen 1955). 71 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 83. 72 Ebd., S. 86. 73 Vgl. ebd., S: 85. 74 Vgl. ebd., S. 84. 75 Ebd., S. 84.
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dung zweier ›Führernaturen‹ wird deutlich, dass diese Überzeugtheit auf Willensstärke bezogen ist. Nur diejenigen Führer mit starkem, ausdauerndem Willen haben es historisch vermocht, den größten Einfluss auszuüben, wodurch ihre Namen »an der Spitze der wichtigsten Kultur- und Geschichtsereignisse«76 stünden. Die von Le Bon angeführten rhetorischen Mittel zur Beeinflussung der ›Masse‹ hingegen richten sich konkret an die Notwendigkeit, »eine Masse für den Augenblick hinzureißen und sie zu bestimmen, irgendeine Tat zu begehen«.77 Diese Wirkungsmittel bedienen sich der kognitiven und Willensschwäche der ›Masse‹ durch Behauptungen, Wiederholungen, besonders aber durch den psychologischen Vorgang der Suggestion, der hier »Ansteckung« heißt.78 Von besonderem Interesse zur Bestimmung von Führerschaft sei darüber hinaus das Prestige, worunter erworbene und persönliche Verdienste des Führers sowie die Aura von Kunstwerken subsumiert werden.79 Unter »persönliche[m] Prestige« fasst Le Bon eine »Eigenschaft, die nur wenige Personen besitzen, vermöge derer sie einen wahrhaft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung auszuüben vermögen«80 – also Charisma.81 Inbegriff des charismatischen Führers ist – wie seit Hegel typisch für das 19. Jahrhundert – der ›große Mann‹82 schlechthin, Napoleon, dessen gewaltiges ›persönliches Prestige‹ ihn dazu legitimiert habe, Europa unterwerfen zu dürfen, denn »alles ist euch gestattet, wenn ihr ein genügendes Maß von Prestige und das zu dessen Aufrechterhaltung nötige Talent besitzt.«83 Diese Stelle mag als weiterer Beleg dafür gelten, dass Le Bons Führerbegriff auf einem radikalen Individualitätskonzept beruht: Durch starken Willen, festen Glauben, großes Prestige und Talent zum Machterhalt ist der Führer zur Herrschaft über diejenige Sozialform berechtigt, die sich geradezu über die Abwesenheit dieser Eigenschaft definiert. Le Bons ›Masse‹ ist nicht nur auf den Führer angewiesen, sondern stabilisiert umgekehrt das Konzept des ›starken Individuums‹, das wie beschrieben als die sozialtheoretische Variante des ›starken‹ Subjekts gelten kann.
76 Ebd., S. 88. 77 Ebd. 78 Vgl. ebd., S. 90–92. Darauf verweist bereits die Widmung des Buches: Es ist dem französischen Psychologen Théodule Ribot zugeeignet, der in seinen umfangreichen psychologischen Studien auch zum Phänomen der Willensschwäche gearbeitet hat (vgl. ebd., S. III). 79 Vgl. ebd., S. 93–102. 80 Ebd., S. 95. 81 Vgl. Gamper: Zur Poetologie des ›großen Mannes‹ als Massenführer, S. 62f. 82 Dass Le Bons Führerkonzept am Ideologem des ›großen Mannes‹ orientiert ist, hat wiederum Gamper gezeigt (vgl. ebd., S. 54f. u. 62–64). 83 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 98.
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Le Bons Massenbegriff sorgte begriffsgeschichtlich für eine starke Erweiterung des Begriffs, was dessen Theoriefähigkeit stark schmälerte.84 Gleichzeitig gelang es ihm dadurch, »fast alle relevanten sozialen Phänomene seiner Zeit unter dem Aspekt der Bildung einer ›Massenseele‹ zu diskutieren.«85 In der früheren Massenpsychologie unbeachtete Prozesse der Vermassung wurden mit Revolte und Massenauflauf in Verbindung gesetzt und als Teil desselben ›wissenschaftlichen‹ Diskurses erkennbar.86 Im öffentlichen Interdiskurs rückte der Massenbegriff auf zu einem zentralen Kampfbegriff der Gegenwartsdiagnostik.87 Sein Text zeigt überdies deutlich, dass Massenphänomene von den Sozialtheoretikern des späten 19. Jahrhunderts als »Indiz für die generelle Auflösung jeglicher Individualität in einer vom Prinzip der Masse weitgehend dominierten Gesellschaft«88 betrachtet wurden, worauf diese (wie Nietzsche) mit hypertrophem Individualismus und charismatischer Führerschaft89 als Gegenkonzepte reagiert haben. Da die psychologistische Massen-Konzeption unter seinem Autornamen diskutiert wurde, hat er – und nicht seine Vordenker – als Diskursivitätsbegründer im Sinne Foucaults zu gelten.90 Nach Deutschland wurde die Massenpsychologie übrigens insbesondere durch Georg Simmel vermittelt, der bereits 1895 die französische Ausgabe von Le Bons Buch und 1897 die deutsche Übersetzung von Sigheles Arbeit rezensierte91 und den Begriff der ›Massenseele‹ wie auch das Individualitäts-Konzept der Autoren zurückwies. Seine Bestimmung der Masse als Form der Relation von Individuum und Gesellschaft in der Moderne sowie seine Ausführungen zur ›soziologischen Tragödie‹ als ihrer Konsequenz hat zwar die frühen Überlegungen seines Schülers Siegfried Kracauer beeinflusst, doch zeitgenössisch weitaus weniger gewirkt als die Postulate der Massenpsychologie.92 84 Gabriel Tarde hat sich dann unter dem Eindruck des Dreyfus-Affäre ab 1898 vom dem der medial gesteuerten Öffentlichkeit zugewandt, die er in einer interaktionistischen Theorie der Öffentlichkeit gegen die ›Masse‹, die er nun als einem überwundenen historischen Stadium zugehörig beschrieb, gipfelte (vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 203, vgl. Ginneken: Crowds, psychology, and politics 1871–1899, S. 203–222 u. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 476–484). 85 Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 432. 86 Vgl. ebd. 87 Vgl. Nye: The origins of crowd psychology, S. 72, der Le Bon zutreffend als den »supreme scientific vulgarizer of his generation« bezeichnet hat (3). 88 Middendorf: Massenkultur, S. 61. 89 Obwohl Max Webers Typologie unterschiedlicher Legitimationen von Herrschaft, zu der auch die Analyse der ›charismatischen Herrschaft‹ zählt, überaus wirkmächtig gewesen ist, wird hier auf ihre Darstellung verzichtet, da »Wirtschaft und Gesellschaft« bekanntlich erst postum, ab 1920 sukzessive veröffentlicht wurde und deshalb von den vier Dramatikern nicht zur Kenntnis genommen werden konnte. Zu Webers Machts- und Herrschaftsanalyse vgl. Breuer, Stefan: »Herrschaft« in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden 2011. 90 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 410. 91 Vgl. Jonsson: Neither masses nor individuals, S. 299, FN 12. 92 Vgl. ebd., S. 285–289.
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Die Geschichte des Massenbegriffs ist nach Le Bon ohne ihn nicht mehr zu denken. Noch Freuds psychoanalytische Massentheorie (1921)93 und die Versuche deutschsprachiger Soziologen der 1920er Jahre, eine eigentliche ›Massensoziologie‹ zu begründen – Tillich, Vleugels, Th. Geiger –, bezogen sich auf ihn, wenn auch letzterer in kritischer Abgrenzung.94 Auch diskursive Nachzügler wie Elias Canetti bewegen sich im Raum des von Le Bon Vorgearbeiteten.95 Mit Le Bon hatte sich der Massen-Begriff als Erfolgsvokabel durchgesetzt und ist gerade in der Zwischenkriegszeit96 verschiedentlich kulturkritisch ausgedeutet worden – man denke an Ortega y Gasset, Kracauer und Broch.97 Seine diskursive Ubiquität und Unschärfe sorgte aber dafür, dass er ab den 1930er Jahren als wissenschaftlich nicht mehr satisfaktionsfähig galt und von Komposita wie ›Massengesellschaft‹98 oder ›Massenkultur‹99 ersetzt wurde, die die zugrunde liegenden sozialen Phänomene anders bearbeiteten.100 ›Masse‹ ist aus Spezial- in Interdiskurse verdrängt worden und führte ein langes Nachleben als feuilletonistisches Schlagwort.101 Dagegen ist der Begriff der Führung in der hochgradig politisierten Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit von Autoren unterschiedlicher politischer Überzeugung als entscheidende ordnungspolitische Instanz bewertet worden.102 Auch die Soziologie der Herrschaft, wie sie nicht zuletzt von der
93 Freud deutet die Beziehung zwischen Führer und Masse als libidinöse Bindung und als »Hypnose zu zweit« (Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 26). Da die hier analysierten Dramen aber allesamt vor »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) entstanden sind, hat sein Konzept – wie das der späteren Autoren – in die Massen-Darstellungen der Texte keinen Eingang finden können und wird deshalb hier nicht weiter reflektiert. 94 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 467–474. 95 Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 217f. 96 Vgl. allg. Jonsson, Stefan: Masse und Demokratie. Zwischen Revolution und Faschismus. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Göttingen 2015. 97 Vgl. Jonsson: Neither masses nor individuals, vgl auch Günzel, Stephan: Der Begriff ›Masse‹ im ästhetisch-literarischen Kontext. Einige signifikante Positionen. In: Archiv für Begriffsgeschichte 45 (2003), S. 151–166. Hahn hat gezeigt, dass sich bei Le Bon und Ortega y Gasset auch physikalische Modelle der Entropie als sozialer Entropie der Masse aufweisen lassen, was belegt, dass physikalische Modelle auch nach 1900 auf den Massendiskurs gewirkt haben (Hahn, Torsten: Energiegeladene Eliten. Masse und Entropie als sozialer Mythos der Moderne. In: Simonis, Annette / Simonis, Linda (Hg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln [u. a.] 2004, S. 183–202). 98 Vgl. Genett: Die Masse als intellektuelle Projektion, S. 216. 99 Vgl. die oben (FN 1421) aufgeführten Titel. 100 Riesmans »The lonely crowd« ist in diesem Zusammenhang zu sehen und partizipiert deutlich nicht mehr am klassischen ›Masse‹-Paradigma. 101 Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 511–515. 102 Vgl. Kraiker, Gerhard: Rufe nach Führern. Ideen politischer Führung bei Intellektuellen der Weimarer Republik und ihre Grundlagen im Kaiserreich. In: Jahrbuch der Weimarer Republik 4 (1998), S. 225–273.
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Herrschaftstypologie Max Webers geprägt ist, hat sich in Verbindung mit machtsoziologischen Positionen als soziologische Teildisziplin halten können.103 Literarische Repräsentationen von Menschenmengen sind seit dem Beginn der westlichen Literatur im antiken Griechenland auszumachen – und zwar sowohl in epischen als auch in dramatischen Texten104, wobei unterschiedliche Darstellungsanlässe und -konventionen zu beobachten sind. Sind es bei Homer die Schlachtenbeschreibungen, die die Menge evozieren, so erscheint in der attischen Dramatik der Chor auch als synekdochische Vertretung der Bürgerschaft105, zumal angesichts des Umstandes, dass dieser von den Bürgern der jeweiligen Polis verkörpert wurde. Zudem lässt Aristophanes in der Schlüsselkomödie »Die Ritter« (»Hippes«) das Volk von Athen als allegorische Figur ›Demos‹ auftreten.106 Dennoch darf nicht von der Konvergenz von ›Volk‹ und Chor im Drama seit der Antike gesprochen werden.107 Nicht zuletzt die seit dem Mittelalter begrenzteren Spielflächen bzw. neuzeitliche Bühnenformen wie etwa die Guckkastenbühne verunmöglichten die Theatralisierung großer Menschenmengen als Chor108, was auf ein Darstellungsproblem für diese hinauslief. Als erste Möglichkeit, diese Beschränkung zu unterlaufen, ist die Allegorisierung zu nennen. Die Allegorisierung der Menschenmenge findet sich auf dem Theater bis in die Frühe Neuzeit, man denke 103 Vgl. Maurer: Herrschaftssoziologie. 104 In lyrischen Texten sind der Darstellung von Massenphänomenen aufgrund ihrer der frühen Aufführungssituation entlehnten Gattungskonventionen (›lyrisches Subjekt‹, konkretisierte Adressaten) enge Grenzen gesetzt, so dass diese allenfalls referentiell (etwa in Kriegsbeschreibungen oder in modernen Vermassungserfahrungen) erfolgen kann, was m.W. bislang nicht übergreifend untersucht worden ist. 105 Baur betont jedoch, dass eine Gleichsetzung des Chors mit dem ›Volk‹ in der Antike ungenau ist, da sie eine geschlechtlich und altersmäßig homogene Gruppe repräsentieren, mithin also ein Ausschnitt des Volkes sind (vgl. Baur, Detlev: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen 1999, S. 18). Dennoch gilt, dass besonders der Chor in der Komödie die Funktion eines Bürgerchors einnimmt, der Gruppeninteressen bzw. gültige Moralvorstellungen der Polis vertritt (vgl. ebd., S. 24–26). 106 Vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 47. 107 Vgl. nur Schlaffer, Hannelore: Dramenform und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona ›Volk‹. Stuttgart 1972, bes. S. 12. Baur wiederum kritisiert Schlaffers geschichtsphilosophisch motivierte strikte Disjunktion von ›Volk‹ und Chor, weil sie den inhaltlich bestimmten und den ein Theatermittel bezeichnenden Begriff auf eine Ebene stellt und der in den erhaltenen antiken Dramen zu beobachtenden historischen Varianz dieses Zusammenhangs nicht gerecht werde (vgl. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 38, FN 22). Diese Kritik trifft, wie Baur ausführt und wie dieses Kapitel weiter belegen wird, auch das Drama in der Moderne, wo es sehr wohl zu Konvergenzen gekommen ist. 108 Vgl. Baurs Überblick über die Rolle des Chores von Seneca bis ins 20. Jahrhundert (Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 30–47). Zwar habe es verschiedentliche Versuche einer Restitution des Chores gegeben, etwa als verfremdendes Mittel bei Schiller, doch seien diese aus bühnen- und theaterpraktischen Gründen bis 1900 nicht in theatrale Praxis überführt worden (Vgl. ebd., S. 43f.).
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etwa an die spätmittelalterlichen Passionsspiele und das spanische Welttheater des Siglo de Oro. Der theatrale Raum für die unteren Schichten bzw. das ›Volk‹ wurde aber durch die Etablierung der Ständeklausel auf die Komödie eingeengt, wohingegen in der Epik der Schelmenroman seit der Frühen Neuzeit das ›einfache Volk‹ sowie Aggressionsentladungen des ›Pöbels‹ an den Schelmen darstellte.109 Im Drama bot einmal mehr Shakespeare ein neues Verfahren der Darstellung einer Menschenmenge. Bei ihm wurde diese durch (bisweilen anonyme) Einzelfiguren repräsentiert, wobei deren Zusammengehörigkeit besonders durch ihre kollektive Lenkbarkeit verdeutlicht wurde.110 Außerdem wurde in Shakespeares historischen Dramen erstmals die psychische Dynamik von Einzelnem und ›Masse‹ ausgespielt, wie etwa die Forum-Szene in »Julius Caesar« (III,2) deutlich macht, die als Darstellung demagogischer Wirkung Berühmtheit erlangte.111 Außerdem wurde in »Coriolanus« erstmals das ›Volk‹ zum Gegenspieler der Titelfigur promoviert und büßte damit seinen Staffage-Charakter ein. Auf das Verfahren der Theatralisierung des ›Volkes‹ oder der ›Menge‹ durch generische Einzelfiguren nahmen auch deutschsprachige Dramatiker nach der ›Wiederentdeckung‹ Shakespeares Bezug, allen voran Büchner und Grabbe – wobei bezeichnend ist, dass die relevanten Dramen erst um 1900 zur Uraufführung kamen.112 Zudem wurden Menschenmengen im Rahmen großer Massenszenen meist aus dem militärischen Bereich theatral dargestellt – wo sie allerdings in aller Regel Staffage für die relevanten Einzelfiguren bildeten. Demgegenüber fand der Chor bis 1900 vor allem als verfremdendes (Schiller) oder als ironisch auf die Antike verweisendes (Goethe) Theatermittel113 textuelle, aber selten theatrale Verwendung.114 Die Französische Revolution verstärkte dann die Dringlichkeit, literarische Darstellungsweisen für das virulent gewordene Phänomen der Masse zu finden.115 Im Historien-116 und Großstadtroman117 des 19. Jahrhunderts wurde die 109 Vgl. ebd., S. 43f. 110 Vgl. ebd., S. 38. Die bei Shakespeare gelegentlich auftretende (Einzel-)Figur des ›chorus‹ ist als Begriff hingegen »unangemessen und irreführend«, weil er eher als kommentierender Begleiter auftritt (ebd., S. 36). 111 Vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 44f. 112 Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage« (1831) 1895 in Frankfurt a.M. sowie Büchners »Dantons Tod« (1835) 1902 in Berlin. 113 Vgl. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 40–44. 114 Vg. ebd., S. 41–46. 115 Vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 40. 116 Vgl. Hempel, Wido: Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den »Promessi Sposi«, bei Scott und in den historischen Romanen der französischen Romantik. Krefeld 1974. Die hier maßgeblichen Autoren sind Scott, de Vigny, Balzac und Manzoni. 117 Vgl. noch immer: Klotz, Volker: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969 sowie Biermann, Karlheinz: Vom Flaneur
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Menschenmenge auf neue Weise thematisiert – als Erzählproblem des Quantitativen im ersten und als Menge eines unverstandenen, angsteinflößenden ›Anderen‹ im zweiten Fall.118 Die literarische Faszination des Letzteren lässt sich, unter bekanntlich ›massengesellschaftlich‹ weiter intensivierten Bedingungen, bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts beobachten.119
3.1.2 Theatergeschichtlicher Exkurs II: Die Bühnengeschichte der ›Masse‹. Einige Schlaglichter Theatergeschichtlich kommt dem Hoftheater der Meininger120 bezüglich der Theatralisierung von Massenszenen eine entscheidende Bedeutung zu. Allen voran die legendäre Inszenierung des bereits erwähnten »Julius Caesar« von 1867, die auf den zahlreichen Gastspielen der Truppe mit am häufigsten gegeben wurde121, hat aufgrund der Massenszenen erhebliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So ist in zeitgenössischen Rezensionen und Artikeln zu lesen, dass die »Behandlung der Massen […] hier fast zur Vollendung gebracht« sei und die durch die Chorregie erreichte »Massenwirkung« größeren Eindruck als die Einzelleistungen gemacht hätten – dass die Inszenierung damit aber die Aufmerksamkeit »vom Gefühl des Einzelnen zum Gebahren der Masse« geführt habe oder gar, dass das »Meininger Shakespeare-Volk […] ein Ungeheuer« sei, ein »halbstummes, unartikuliertes Element«, »ein wildes Wasser, welches die Dämme des Kunstwerkes einreißt und die bedeutungsvollen dramatischen Einzelgestalten in seinen Wogen begräbt.«122 Mag die Bewertung der Massendarstellung auch stark variieren, so zeigen die Beispiele doch deutlich, dass schon der Umstand der Darstellung von Masse selbst enorme affektive Energien frei-
118 119 120 121 122
zum Mystiker der Massen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2,3 (1978), S. 298–325. Vgl. auch die Anthologie von Brüggemann, Heinz (Hg.): »Aber schickt keine Poeten nach London!« Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. u. 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen. Reinbek 1985. – Die hier in Frage kommenden Autoren sind etwa E. Sue, Hugo, Dickens, Flaubert sowie, besonders einschlägig, Zolas »Germinal« (vgl. dazu das Kapitel bei Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 372–391). Vgl. Graczyk: Die Masse als Erzählproblem, S. 35–40. In diesem Abschnitt wird zudem Baudelaires Paris-Lyrik als ähnliche Suche nach Darstellungsmitteln für Großstadtphänomene, mithin auch für Massenphänomene, eingeschätzt. Vgl. Schettler, Katja: Berlin, Wien… Wovon man spricht: Das Thema Masse in deutschsprachigen Texten der zwanziger und dreißiger Jahre. Tönning [u. a.] 2006. Vgl. allg. Osborne: The Meininger Court Theatre 1866–1890 u. Hoffmeier, Dieter: Die Meininger – Streitfall und Leitbild. Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte der Gastspielaufführungen eines spätfeudalen Hoftheaters. Berlin 1988. Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 3, S. 152 sowie die Liste in: Osborne, John (Hg.): Die Meininger. Texte zur Rezeption. Tübingen 1980, S. 192f. Zit. n. ebd., S. 58, 56, 66 sowie die letzten drei Zitate S. 85.
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setzte. Innovativ war die exakte Planung und künstlerische Bearbeitung der Massenszenen, die nur durch den konsequent durchgehaltenen Ensemblegedanken des Hoftheaters durchsetzbar war, in dem auch die Stars dazu verpflichtet waren, in der Statisterie aufzutreten.123 Sie hat dafür gesorgt, dass gerade solche Szenen als »Spezialität der Meininger«124 gegolten haben. Daneben hat eine weitere Theaterform des 19. Jahrhunderts als Impulsgeber für den theatralen Umgang mit Menschenmengen zu gelten – und zwar das Festspiel in seiner Doppelbedeutung als patriotische Gedenkveranstaltung und als zyklisch stattfindendes Ereignis der Gemeinschaft stiftenden Kunstrezeption (das Bayreuther Festspiel).125 Die Innovativität des Festspiels liegt dabei weniger im dramatischen Bereich als in der sozialintegrativen Funktion, der theatralen Aufführung für das Publikum. Im ersten Fall sollte durch das allegorische Geschehen historische Kontinuität und – besonders nach 1871 – historischer Fortschritt symbolisiert und im Publikum durch die Rezeption das Bewusstsein nationaler Gemeinschaft erzeugt werden, und im zweiten sollte das im Festspiel egalitär rezipierte Musikdrama theatral eine Gemeinschaft produzieren, durch die die deutsche Einheit kulturell (nach-)vollzogen werden konnte. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei jeweils um kommunitäre Ideen, die eine Form von Kollektivität imaginieren, die der oben skizzierten Semantik der ›Masse‹ gerade entgegengesetzt ist. Doch der Umstand, dass diese Ereignisse vor großem Publikum und an Orten stattfanden, die die geläufigen Restriktionen der stehenden Bühnen unterlief, deutete auf denjenigen Theatermacher voraus, der die theatrale Darstellung von Menschenmengen seit 1910 entscheidend geprägt hat und daher im Folgenden etwas ausführlicher behandelt wird: Max Reinhardt. Reinhardt, der seine Laufbahn als Schauspieler Otto Brahms126, des Durchsetzers des Naturalismus auf dem Theater, begonnen hat, wirkte Zeit seiner Tätigkeit als Regisseur und Intendant nicht allein als Künstler, sondern stets auch als Unternehmer. Seit der Gründung des Kabaretts »Schall und Rauch« 1901 erwarb er (zunächst in Berlin) eine Vielzahl von Bühnen, baute sie um und verleibte sie einem vielfältig verzahnten Unternehmen ein.127 Das ist deshalb erwähnenswert, weil hinter den Bemühungen, verschieden große Bühnen zu 123 Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 3, S. 153f. 124 Ebd., S. 152. 125 Vgl. Sprengel, Peter: Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813–1913. Mit ausgewählten Texten. Tübingen 1991; ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870– 1900, S. 415–422 sowie Elfert, Jenny: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells. Bielefeld 2009, S. 47–70. 126 Vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Band 4: Das europäische Theater in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2004, S. 258. 127 Vgl. allgemein Höper, Susanne: Max Reinhardt:Theater-Bauten und Projekte. Ein Beitrag zur Architektur- und Theatergeschichte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Göttingen 1994.
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übernehmen, die Einsicht stand, dass verschiedene Formen von Theater nach verschiedenen Bühnenformen verlangen. Schon 1901 hat er diesen Zusammenhang in der kleinen Schrift »Über ein Theater, wie es mir vorschwebt« ausgeführt: Man müßte eigentlich zwei Bühnen nebeneinander haben, eine große für die Klassiker und eine kleinere intime für die Kammerkunst der modernen Dichter. (…) Und eigentlich müßte man noch eine dritte Bühne haben (…), eine ganz große Bühne für eine große Kunst monumentaler Wirkungen, ein Festspielhaus, vom Alltag losgelöst, ein Haus des Lichts und der Weihe, im Geiste der Griechen (…).128
Dem »programmatischen Eklektizismus«129 Reinhardts ging es also keineswegs ausschließlich um die Perfektionierung illusionistischen oder intimen (Schauspieler-)Theaters, wie gelegentlich zu lesen ist130 (– auch wenn er diesem Theaterverständnis durch die Einrichtung der Kammerspiele als Nebenbühne des Deutschen Theaters in Berlin, dessen Leitung er 1905 von Brahm übernommen hatte, einen adäquaten Ort bereitstellte131). Vielmehr imaginierte Reinhardts Vision eines »festlichen, opulenten, lebensbejahenden Theater[s]«132 eine Restitution des von Nietzsche postulierten dionysischen Moments der Theateraufführung, die auf eine allgemeine Entgrenzungserfahrung hinauslief: »Alle, die im Theater sind, – ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum – bemühen sich, bewusst oder unbewusst, sich selbst zu vergessen, über sich hinauszuwachsen. Sie suchen die Ekstase, den Rausch, den ihnen sonst nur die Droge geben kann.«133 Es ist gerade sein großräumiges ›Massentheater‹ gewesen, in dem er diese Theaterutopie zu realisieren versucht hat. Im Folgenden soll dieses im Zentrum stehen, in dem Wissen, dass es nicht die einzige Form von Theatralität war, der Reinhardt entscheidende Impulse gegeben hat. Mit der 1910 in München uraufgeführten und fortan jahrelang in internationalen Tourneen gegebenen Inszenierung von Sophokles‹ »König Ödipus« beginnt Reinhardts ›massentheatrales Jahrzehnt‹, das mit den Mysterienspielen für die Salzburger Festspiele endet. Zweifellos ist die Ödipus-Inszenierung nicht Reinhardts erste ›Massenregie‹-Arbeit und auch nicht die erste Arbeit mit 128 Reinhardt, Max: Über ein Theater, wie es mir vorschwebt [1901]. In: Ders.: Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin 1989, S. 73–76, hier S. 76. 129 Marx: Max Reinhardt, S. 33. 130 Braunecks Behauptung, die Schauspielerfixierung des jungen Reinhardt habe »ein Leben lang als Maxime seiner künstlerischen Arbeit« gegolten, ist zu differenzieren, was gerade durch die besondere Bedeutung der Massenregie für Reinhardt, die Brauneck selbst erwähnt (273), belegt werden kann (Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 269). 131 Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 260. 132 Marx: Max Reinhardt, S. 33. 133 Reinhardt, Max: Über die Kunst des Theaters [1924]. In: Ders.: Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin 1989, S. 455–457, hier S. 456.
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Chören.134 Spätestens mit der »akustischen Massenregie«135 in einer Inszenierung des »Kaufmanns von Venedig« (1905) hat eine Phase begonnen, in der Reinhardt versucht hat, Massenregie unter den Bedingungen der Guckkastenbühne zu gestalten.136 Doch sind es die Großraumbühnen gewesen, die den massenhaften Einsatz von Statisten auf der einen und die weit in die Tausende gehende Zuschauerzahl auf der anderen Seite ermöglichten und damit – gegen anderslautende Einschätzungen137 – die Grundlage für die Verwandlung von Masse in theatrale Gemeinschaft138 bildeten. So hat Reinhardt die erwähnte »König Ödipus«-Inszenierung 1910 in einer für Konzerte umgebauten Messehalle in München uraufführen lassen, die mit 3200 Plätzen bereits wesentlich mehr Zuschauer fasste als die knapp 1000 Plätze große Hauptbühne des Deutschen Theaters. Die daran anschließenden Aufführungen der Inszenierung in Wien und Berlin sorgten für eine abermalige Vergrößerung der Spielorte ( jeweils etwa 5000 Plätze).139 In den beiden letztgenannten Städten dienten umfunktionierte Zirkusarenen als Theater. Dazu muss daran erinnert werden, dass der Zirkus um 1900 keineswegs wie heute ein »vagabundierendes Randphänomen« darstellte, sondern – zumindest vorerst – »einen festen Platz im Repertoire bürgerlicher Kultur hatte.«140 Von Bedeutung sind hier die in festen Gebäuden untergebrachten Zirkusanlagen, die überdies durch das darin gespielte Programm (Ballette, Pantomimen, Sketche) eine recht niedrige Schwelle zum populären, kommerziellen Theater aufwiesen.141 Von August Zehs Projekt eines in sich nicht hierarchischen »Theaters der Fünftausend« hat Reinhardt den Begriff übernommen und schließlich versucht, die Idee im Zirkus Schumann umzusetzen.142 Der Zirkus hatte 1910 als Spielort für die »Ödipus«-Inszenierung gedient und wurde ab 1918 unter der Leitung von Hans Poelzig, einem Mitglied des von Peter Behrens mitbegründeten »Deutschen Werkbundes«, umgebaut. Neben moderner Bühnentechnik und einem Stalaktitengewölbe, das mittels Lampen »den griechischen Sternenhimmel mit 700 Sternen in dreißig Sternbildern aufleuchten 134 Vgl. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 75. 135 Hoffmann, Peter: Die Entwicklung der theatralischen Massenregie in Deutschland von den Meiningern bis zum Ende der Weimarer Republik. Wien 1966, S. 62. 136 Vgl. Löden, Brigitte: Max Reinhardts Massenregie auf der Guckkastenbühne von 1905 bis 1910. Ein Versuch zu Darstellungsmittel und Regieintention. Frankfurt a.M./Bern 1976. Zum »Kaufmann von Venedig« vgl. S. 23–33. 137 Vgl. ebd., S. 19. 138 Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 271f. 139 Vgl. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 82. 140 Marx: Max Reinhardt, S. 99. Das gilt, obgleich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Europa ein erheblicher Einbruch im Zirkuswesen zu verzeichnen ist, bei dem die Zahl der Unternehmen von ca. 200 (1900) auf etwa 70 (1912) gesunken ist (vgl. ebd.). 141 Vgl. ebd., S. 100f. 142 Vgl. ebd., S. 102. Vgl. dazu seinen Text: »Das Theater der Fünftausend« von 1911 (in: Reinhardt: Ich bin nichts als ein Theatermann, S. 446f.).
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ließ«143, war auffällig, dass die Bühne an der Arenaform der griechischen Theater orientiert war: Neben einer kreisrunden orchestra, die von den Zuschauerrängen umgeben war, verfügte das Haus über eine variabel höhenverstellbare Vorbühne, die die orchestra mir einer tiefen und etwas zurückgesetzten Hauptbühne verband.144 Es kann nicht verwundern, dass der unter dem Namen »Großes Schauspielhaus« firmierende Umbau Ende November 1919 mit einer Bearbeitung der »Orestie« eröffnet wurde. Obwohl die Inszenierung 71-mal wiederholt wurde, konnte sich das Theater im bürgerkriegs- und inflationsgebeutelten Nachkriegsberlin aufgrund seiner Größe und des betriebenen Aufwandes finanziell nicht halten.145 Allein die neuen Größenordnungen zeigen aber Reinhardts Ambitionen in der Massenregie an: In der »Orestie« bestand der Chor aus etwa 1000 Statisten.146 Als letztes147 Beispiel für Reinhardts Ambition hinsichtlich der Größe des Spielortes sei seine Inszenierung der von Karl Vollmoeller entworfenen und von Engelbert Humperdinck vertonten Pantomime »Das Mirakel« erwähnt, das 1911 in der Londoner Olympia Hall, einem Ausstellungsgebäude von enormen Ausmaßen, aufgeführt wurde. Die Monumentalität dieser ganz auf Schauwerte setzenden Arbeit lässt sich daran ermessen, dass etwa 1800 Mitwirkende daran beteiligt waren, darunter ein Chor mit 500 Beteiligten, etwa 150 Nonnendarstellerinnen, Dutzende Ritter zu Pferde sowie lebende Hunde als Jagdmeute.148 Die durch riesige Bühnenbildelemente – inklusive einem 30 Meter hohen Westportal und einer Glasrosette, die dreimal so groß wie die von Notre Dame war – und aufwendige Lichtregie zur gotischen Kathedrale umgestaltete Halle bot 30000 [!] Zuschauern auf als Kirchenbänke funktionalisierten Sitzen Platz. Bei »Das Mirakel« handelte es sich um eine an Maeterlincks »Schwester Beatrix« orientierten legendenhafte Geschichte, die in fünf symbolischen Bildern den moralischen Fall einer Nonne, eine Madonnenerweckung (das im Titel aufge-
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Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 264. Vgl. Marx: Max Reinhardt, S. 102–106. Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 264 u. 279. Vgl. ebd., S. 279. Mit selbem Recht hätte auch seine Inszenierung von Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen« behandelt werden können, das anlässlich der Hundertjahrfeier der Befreiungskriege am 31. 5. 1913 in der Jahrhunderthalle in Breslau stattfand, die 8000 Zuschauer Platz bot. Vgl. zur Inszenierung Ausführungen bei Sprengel: Die inszenierte Nation, S. 69–104, bes. S. 82–94 sowie allgemein zum Text: Bogdal, Klaus-Michael: Germania Tod in Breslau. Gerhart Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen«. In: Text+Kritik. Heft 142: Gerhart Hauptmann. Hgg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1999, S. 97–109 und Hillesheim, Jürgen: Theatralisierte Geschichte. Zu Gerhart Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen«. In: German Studies Review 35,1 (2012), S. 1–18. 148 Vgl. Braulich, Heinrich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Berlin 1969, S. 133.
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rufene Wunder) und die dadurch erwirkte Seelenrettung der Nonne umfasst.149 Auch theatral ist ein größerer Kontrast zu den Kammerspielen, für die Reinhardt ebenso bekannt war, kaum zu denken: Statt psychologischer Verfeinerung und inszenatorischem Realismus diktierten die Dimensionen der Halle symbolischformales Spiel und grotesk vergrößerte Hüte und Schnabelschuhe150, statt ›intimem‹ Sprechtheater ausschließlich Pantomime, die Reinhardt als »natürlicher Ausdruck« der »Gruppierung und Bewegung großer Massen« bezeichnete. Trotz eher gespaltener, die inhaltliche Leere des Stücks hervorhebender Reaktion der Kritik151 war die Inszenierung ein großer Publikumserfolg und wurde auf der ganzen Welt nachgespielt, in New York ab 1924 sogar in noch größeren Dimensionen.152 Offensichtlich waren Arbeiten wie »Das Mirakel« nicht auf Differenzierung und psychologisierte Einzelfiguren angelegt, sondern sollten in erster Linie ›Masse‹ erzeugen und die Grenze zwischen Publikum und Statisten-Masse tendenziell aufheben. Das wird besonders deutlich, wenn man reflektiert, welche Dramen Reinhardt für seine Massentheater-Inszenierung ausgewählt hat. Zunächst zählen darunter, wie angeklungen ist, griechische Tragödien, wo neben der »Ödipus«-Inszenierung von 1910 eine 1912 in London neu erarbeitete (und im Covent Garden-Opernhaus gezeigte), eine Münchener »Orestie« (1912) und die erwähnte Berliner »Orestie« (1919) im umgebauten Zirkus Schumann zu nennen sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient hierbei Reinhardts Gebrauch des Chores – deutet doch seine Vorliebe für Arenabühnen auf eine Reaktivierung dieses in der Neuzeit kaum noch theatral realisierten Theatermittels hin. Jedoch konnte von der Forschung bezüglich des erstgenannten »Ödipus« gezeigt werden, dass der Eindruck, die Reinhardtsche ›Masse‹ sei dem antiken Chor verwandt, unzutreffend ist.153 Vielmehr wurde in der Bearbeitung der Tragödie von Hugo von Hofmannsthal eine ›Volksmasse‹ dazuerfunden, die vom eigentlichen Greisen-Chor getrennt ist. Während letzterer mit 27 Mitgliedern ungefähr die Größe des antiken Chores hatte, bestand das ›Volk‹ aus 500 Mitwirkenden. Während der Greisenchor durch seine stärkere Fixierung auf den Protagonisten auffiel, sonst aber optisch wie bezüglich der religiösen Komponente als »ein konventioneller, historisierend-klassizistischer Chor«154 erschien, wurde durch die Lichtführung und die erhöhte Position der Titelfigur ein suggestiver Kontrast zwischen Einzelnem und ›Volksmasse‹ erzeugt, der den Beginn sowie den Schluss
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Zum »Mirakel« allgemein vgl. Vollmer: Die literarische Pantomime, S. 384–406. Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 273. Vgl. Vollmer: Die literarische Pantomime, S. 404–405. Vgl. Styan, John L.: Max Reinhardt, Cambridge [u. a.] 1982, S. 100f. Vgl. für das Folgende Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 77–84. Ebd., S. 81.
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der Inszenierung dominierte und die ›Masse‹ als »Gegenspieler des Ödipus«155 erscheinen ließ. Synchronisierte, rhythmische Bewegungen, dynamische Tempound Lautstärkewechsel und fugenartiges Einsetzen und Unisono-Sprechen lassen erkennen, dass die ›Masse‹ hier »quasi musikalisch«156, als ein emotionalisierendes Moment eingesetzt wurde.157 Baur sieht in ihr ein »Mittel der Publikumsbeinflussung«158: Mit ihm werde versucht, eine Sogwirkung zu erzielen, durch die die Zuschauer »in eine phantastische Zauberwelt«159 hineingezogen werden und sich als Teil der ihnen in der Arenabühne ja besonders nahen ›Volksmasse‹ empfinden sollen. Gerade der Umstand, dass der Greisenchor im Laufe der Inszenierung seine Funktion als »Mittler zwischen Protagonisten und Volksmasse bzw. Zuschauern«160 einbüßt und sich der ›Volksmasse‹ annähert, zeige, dass er als eine »Untergruppe«161 desselben zu bezeichnen ist, deren finale Orientierung an die größere Gruppe die »Verbundenheit des Publikums mit dem Geschehen«162 weiter vertiefen solle. Demnach hat Baur festgestellt, dass in Reinhardts »Ödipus« von 1910 die ›Masse‹ »keine innere Verbindung zum antiken Theater«163 habe. Zwar entstehe durch ihre musikalisierende Verwendung und ihr synchrones Sprechen ein »chorisches Volk bzw. ein Volkschor«164 – doch habe dieser mit dem spezifischen Sonderstatus des antiken Chors nichts zu tun, sondern sei als Theatertrick zu bewerten. Auch wenn man das recht strenge Urteil nicht teilen muss, so ist die Beobachtung doch aufschlussreich, dass die choreographisch inszenierte Großgruppe wirkungsästhetisch funktionalisiert wurde und diese ›Masse‹ mit der ›Masse‹ des Publikums korrelieren sollte. Die griechischen Tragödien erschienen bei Reinhardt als »große Schau-Stücke«165, weswegen die Anzahl der Statisten und die Größe der Bühnen wichtiger waren als die historistische Restitution der Dramen. Mehr als die antiken Stücke versuchte er, die kommunitäre Aufführungssituation des antiken Theaters in die Gegenwart zu transponieren. Dass Reinhardt nicht in erster Linie an ›Masse‹ als Phänomen166, sondern an starke Wirkungen erzeugenden Theatermitteln für ein ›großes Theatererleb155 Ebd. 156 Ebd., S. 78. 157 Musikalisierung gehörte zu einer von Reinhardt oft gebrauchten Technik, das Publikum zu emotionalisieren (vgl. Clark Fehn, Ann: Concepts of the Masses and German Drama in the Weimar Republic. In: Seminar 24,1 (1988), S. 31–57, S. 38f.). 158 Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 83. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 84. 163 Ebd., S. 86. 164 Ebd. 165 Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 278. 166 Vgl. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 85.
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nis‹167 interessiert war und sich seine Massenregie-Arbeiten an dieser Wirkungsabsicht orientierten, lässt sich auch anhand eines weiteren dramatischen Schwerpunktes seines ›massentheatralen Jahrzehnts‹ beobachten, den Mysterienspielen. Auch an dieser Theatertradition war Reinhardt nicht aufgrund ihrer christlichen Thematik und Motivik interessiert, sondern insofern, als diese große Menschenmengen affektiv binden konnten.168 Entsprechend sorgte er dafür, dass die von Hofmannsthal bearbeiteten Jedermann- und Welttheaterspiele ein großes Publikum bekamen. Beispielsweise fand Hofmannsthals Version des »Jedermann« 1911 wiederum im Zirkus Schumann seine Uraufführung. Doch gerade die spätmittelalterlichen Mysterienspiele eigneten sich als Rahmen für ein Projekt, das bis heute Bestand hat: die Salzburger Festspiele. Die Idee für ein Festspiel hat Reinhardt 1917 in einer »Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Heilbrunn« veröffentlicht. Sie propagierte ein »kulturpolitisches und sozialpolitisches Großprojekt«169 auf der Basis seiner der Wirklichkeit der Kriegsgesellschaft opponierenden Theaterutopie einer »Heilstätte der Seele«.170 Das Festspiel in Salzburg wurde schließlich 1920 mit einer Aufführung des »Jedermann« auf dem Platz vor dem Dom eröffnet (was bis heute so geblieben ist) und war in dieser betont unaufwendigen Inszenierung bis zu Reinhardts Emigration in die USA zentraler Bestandteil der Festspiele.171 Während die Figuren der Spiele entsprechend ihrer Vorlagen allegorisierend angelegt waren und also nur wenige Schauspieler auf der Bühne auftraten, sorgte der Spielort für ein großes, gemischtes Publikum sowie eine höchst symbolische Situierung zwischen Dom und Friedhof, was einmal mehr auf Reinhardts Vision von der Ereignishaftigkeit theatraler Aufführungen verweist. Das 1922 in der Kollegienkirche uraufgeführte »Salzburger Große Welttheater« von Hofmannsthal (nach Calderón) ist als temporärer Ersatz für den »Jedermann« in ähnlicher Weise inszeniert worden, hat sich aber nicht auf dem Spielplan halten können und wurde wieder durch diesen ersetzt.172 Zuletzt sei auf eine weitere Gruppe von Stücken hingewiesen, in der Reinhardts ›Massenregie‹ eine wichtige Rolle spielte: Revolutionsdramen. Die In167 Die in der älteren Reinhardt-Forschung gebräuchliche (und anachronistische) Bezeichnung seines Massentheaters als ›barock‹ könnte so als Hinweis auf dessen massentheatrale Restituierung des ›Theaterfestes‹ reformuliert werden (vgl. zum Reinhardtschen ›Barocktheater‹ etwa Fleischmann, Benno: Max Reinhardt. Die Wiederentdeckung des Barocktheaters. Wien 1948 sowie das entsprechende, mit »The baroque spectacles« betitelte Kapitel bei Styan: Max Reinhardt, S. 86–107). 168 Vgl. Przytulski, Gerhard: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters«. Religiöse Elemente im Theater Max Reinhardts. Trier 2004, S. 186f. 169 Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 264. 170 Zit. n. ebd. 171 Vgl. ebd., S. 280. 172 Vgl. Styan: Max Reinhardt, S. 102–107.
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szenierungen von Georg Büchners und Romain Rollands Danton-Dramen (1916 bzw. 1920, jeweils zunächst Berlin) haben sich auf verschiedene Weise mit der Spannung von Einzelnem und Masse beschäftigt. Gemeinsam war beiden, dass Schauspieler und Statisten teilweise im Parkett oder in den Logen situiert worden sind, um eine Relationierung des Publikums zu den dargestellten ›Massen‹ zu erreichen173, und dass eine die neuen technischen Möglichkeiten konsequent nutzende Lichtregie die Dynamik der revolutionären Ereignisse verdeutlichen sollte.174 Besonders bei Büchners Drama sorgte dies für einen fulminanten Erfolg, der dazu führte, dass das Stück trotz Kriegszeiten auf Tournee ging und 1921 vor enthusiastischem Publikum in New York gespielt wurde.175 In gewisser Weise muss demgegenüber die Inszenierung von Rollands »Danton« 1920 (im Großen Schauspielhaus in Berlin) als untypisch gelten, weil hier die ›Masse‹ so gestaltet wurde, wie sie die Massenpsychologie semantisiert hatte: chaotisch, gewalttätig, hysterisch, entindividualisierend. Besonders die Inszenierung der Gerichtsszene des letzten Aktes sollte dies verdeutlichen. Der Kritiker der Vossischen Zeitung, Monty Jacobs, hat das so beschrieben: In Reinhardts Arena lenkt das Licht den Blick zunächst auf die Anklagebank. Sie allein ist dreimal so groß wie eine gewöhnliche Bühne. Vor ihr die Tiefe der Arena, hinter ihr die Höhe – alles mit Menschen gepflastert… Wir alle sind eingebaut, wir alle, drei Tausend Berliner, schließen den Ring um Dantons Gerichtssaal. (…) Paul Wegeners Danton, ein verwilderter Beethoven, lacht den Inquisitor aus. Das Volk dröhnt sein Lachen mit, Danton sprengt die Barriere (…). Wildeste Bewegung ringsum, Losbrechen des Beifalls im Haus. Aber es bleibt noch eine letzte Steigerung möglich. Als die Verurteilten abgeführt sind, quillt von oben her das Volk in Raserei gegen die Richterbänke. ›Betäubender Tumult‹ heißt Rollands Vorschrift. (…) Bei Reinhardt wird das [Volk. PB] eine Welle von Menschen, die hinaufschäumt und alles mit sich reißt. (…) So brechen sie die Holzschranken nieder, so wälzen sie sich wieder aufwärts, ein wildes Weib im Rock springt auf den Tisch des Anklägers und schleudert seine Akten in die Luft. Kein Haufe von Statisten mehr, die Revolution selbst ist in den Saal gedrungen.176
Auffällig ist gerade im letzten Absatz die Metaphorisierung der ›Masse‹ als Naturgewalt, die, wie Graczyk gezeigt hat, schon in den Erzähltexten des 19. Jahr173 Vgl. allgemein Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 286f. Zur Büchner-Inszenierung vgl. Styan: Max Reinhardt, S. 46–50, zur Rolland-Inszenierung die marxistisch getönten Hinweise in Braulich: Max Reinhardt, S. 165–167. 174 Vgl. nur Styan: Max Reinhardt, S. 48f. u. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 76f. 175 Vgl. Styan: Max Reinhardt, S. 47. 176 Jacobs, Monty: Romain Rollands ›Danton‹, Großes Schauspielhaus. In: Vossische Zeitung v. 16.2. 1920. Zit n.: Braulich: Max Reinhardt, S. 166.
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hunderts die bevorzugte Beschreibungstechnik für Massen (besonders revolutionäre) gewesen ist.177 Ferner ist der Hinweis auf die im Saal ausbrechende ›Revolution‹ nicht asemantisch – scheint doch in dieser Inszenierung Reinhardt tatsächlich die historische Revolutionsstimmung Berlins im Februar 1920 theatral reflektiert zu haben. Es ist bezeichnend, dass die Darstellung revolutionärer Massen dennoch sehr theaterwirksam geschah und zum »gewaltigen Beifall des Abends«178 entscheidend beitrug. Nicht minder bezeichnend ist zudem, dass bei dem einem Mal, bei dem Reinhardt ›Masse‹ tatsächlich mehr sollte, als Theatergemeinschaft und -ereignis zu erzeugen, allem Anschein nach die gängige ›Massen‹-Semantik der Zeit aufgerufen wurde. Zwar hatte Reinhardt für eine Inszenierung vergleichsweise tagesaktuelles Theater aufscheinen lassen, doch waren es erst seine Nachfolger in der Weimarer Republik, Leopold Jeßner179 und Erwin Piscator180, die die ›Masse‹ auf dem Theater konsequent politisierten. Neben diesen sorgten Regisseure wie Erich Engel und Jürgen Fehling, deren Karrieren mit wichtigen Inszenierungen von Toller- und Kaiser-Stücken begannen, für die Fortentwicklung der Reinhardtschen ›Massenregie‹. Diesen ästhetisch sehr divergenten Theatermachern gemein ist, dass sie sich von den Theaterutopien Max Reinhardts distanzierten181, aber auf seine theatralen Mittel zurückgriffen. Seine ›Massenregie‹ hatte sich in der Weimarer Republik so weit verbreitet, dass selbst erklärte Gegner seiner Ästhetik auf sie zurückgriffen. Ob und wie Reinhardts ‹Massenregietheater‹ auf die Stücke der Expressionisten, besonders die der hier analysierten Autoren, unmittelbar gewirkt hat, ist schwer zu sagen. Es ist im Hinblick auf dessen Ubiquität sowie angesichts des Umstandes, dass im gesamten deutschsprachigen Gebiet an Reinhardt geschulte Theatermacher tätig waren, schwer vorstellbar, dass Reinhardts MassenregieKonzept von Toller und Kaiser nicht wahrgenommen worden ist. Dass der seit 1900 für mindestens 20 Jahre unbestritten wichtigste deutschsprachige Theaterregisseur für theatrale Mittel Berühmtheit erlangt hat, zu denen sich im sich seit 1910 entwickelnden expressionistischen Drama leicht Entsprechungen finden lassen, darf zumindest als bemerkenswerte Koinzidenz gelten – wenn nicht gar als Indiz für die formative Wirkung theatergeschichtlicher Konstellationen auf dramatische Textproduktion.182 177 Vgl. Graczyk, Annette: Die Masse als elementare Naturgewalt. Literarische Texte 1830–1920. In: Dies. (Hg.): Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma. Berlin 1996, S. 19–30. 178 Vgl. Jacobs: Romain Rollands ›Danton‹, zit. n.: Braulich: Max Reinhardt, S. 167. 179 Vgl. nur Brauneck: Die Welt als Bühne. Bd. 4, S. 399–407. 180 Vgl. nur ebd., S. 407–426. 181 Vgl. ebd., S. 366–380. 182 Das gilt auch für das post-expressionistische Drama. So deutet die politisch stark polarisierte Massendramatik der Zwischenkriegszeit nach 1918 darauf hin, dass auf Basis der genannten massentheatralen Innovationen gerade im Drama die zeitgenössische literarische Ausein-
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Diese Einleitung abschließend sei kurz erläutert, warum in diesem Kapitel mit Samuel Lublinskis Tragödie Peter von Russland (1906) ein Drama der Neuklassik den übrigen, konventionell in die Kategorie des ›Massendramas‹ eingeordneten Texten an die Seite gestellt wird. Dies ist nur dann sinnvoll, wenn man die Beziehung der ›Masse‹ zu seinen (vermeintlichen oder realen) Führern als für die Subjekt-Semantik entscheidende Relation ausmacht – wie es hier geschehen soll. An diesem Seitenblick auf Lublinskis Tragödie wird sich insbesondere zeigen lassen, wie sehr die Semantiken von ›Individuum‹ und ›Masse‹ um 1900 miteinander korrelieren.
3.1.3 Masse ohne Führung: Hauptmanns Die Weber (1892) Gerhart Hauptmanns Schauspiel Die Weber183, eine Dramatisierung des gescheiterten Aufstandes der schlesischen Leinenweber 1844, ist eine Besonderheit der deutschsprachigen Dramatik – und zwar in mindestens zwei Hinsichten. Erstens ist hier zum ersten Mal der Vierte Stand nicht nur thematisch, sondern figural, als ›Masse‹ dargestellt und auf die Bühne gebracht184 worden – was schon Brecht aufgefallen ist: »Der Proletarier betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse.«185 Zweitens ist die Rezeption des Stückes wie kaum ein anderes durch seine Aufführungsgeschichte geprägt worden: Als Stichworte mögen das Aufführungsverbot 1892, der Prozess über die Spielberechtigung 1893, die umstrittenen Aufführungen in den freien (Volks-)Bühnen im selben Jahr sowie die
andersetzung mit dem ›Masse‹-Diskurs stattgefunden hat (vgl. Clark Fehn: Concepts of the Masses and German Drama in the Weimar Republic, bes. S. 35–52). 183 Unverständlicherweise gibt es bislang keine historisch-kritische Werkausgabe zu Gerhart Hauptmann. Neben den zu Lebzeiten erschienenen Gesammelten Werken von 1922 gilt die von 1962 bis 1974 herausgegebene »Centenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters« als gebräuchliche Zitationsvorlage. Mit Sprengel (Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann: Die Weber. Ein riskanter Balanceakt. In: [o.Hg.]: Dramen des Naturalismus. Interpretationen. Stuttgart 1988, S. 107–145, hier: S. 108, FN 2) sei im Folgenden nach der von Schwab-Felisch herausgegebenen textidentischen Ausgabe von 1959 unter der Sigle We zitiert: Hauptmann, Gerhart: Die Weber [1892]. Vollständiger Text des Schauspiels. Dokumentation [1959]. Herausgegeben von Hans Schwab-Felisch. Berlin 132012, S. 5–71. 184 Wie erwähnt sind Büchners »Danton« und Grabbes »Napoleon«, die beide ›Massenszenen‹ enthalten (in denen das ›Volk‹ in seiner Derbheit und Wankelmütigkeit gezeigt wird, also nicht mehr reine Staffage ist) erst ab 1895 uraufgeführt worden (s. o., FN 108) – wobei vermutlich auch die Weber-Inszenierungen an der schlussendlichen Aufführung der Dramen Anteil gehabt haben dürften. 185 Brecht, Bertolt: Notizen über realistische Schreibweise [1940]. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hgg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Band 22: Schriften 2. Teil 2. Frankfurt a.M. / Berlin / Weimar 1993, S. 620–640, S. 633.
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Kündigung der Kaiserloge aufgrund der ersten öffentlichen Aufführung im Berliner Deutschen Theater 1894 genügen.186 Besonders letzterer Aspekt hat für eine »hochgradig politisierte[] Wahrnehmung«187 des Stückes gesorgt und überdies Anlass zu breiter produktions-188 und rezeptionsgeschichtlich189 interessierter Forschungsarbeit gegeben. Obwohl bereits in den frühen 1980er Jahren die Beobachtung gemacht worden ist, dass die in der frühen Forschung dominante Frage nach der ›Tendenz‹ des Textes, die sich besonders an der Beurteilung des fünften Aktes entzündete, andere Fragestellungen blockiert hat190, lässt sich diese Perspektive noch in der neuesten Forschung auffinden, etwa da, wo die Frage der theatralen Repräsentation von Arbeit im Drama rückgebunden wird an dessen politische Implikationen sowie dessen Aufführungsgeschichte.191 Anstatt der Gefahr zu erliegen, »die Wahrnehmungsbedingungen der historischen Rezeptionssituation kurzerhand in ein Interpretationsschema [zu] verwandel[n]«192, sei im Folgenden weder von der Rezeptionsgeschichte noch von Tendenzfragen die Rede, sondern soll vielmehr an den ersten, wichtigeren Aspekt angeschlossen werden, an den Umstand also, dass
186 Vgl. Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann. Epoche, Werk, Wirkung. München 1984, hier: S. 89–97. 187 Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Lehrbuch Germanistik. 2., aktualisierte und erweitere Auflage. Stuttgart/Weimar 2010, S. 49. 188 Hinweise finden sich in allen Überblicksartikeln, vgl. zudem die eng auf das Thema bezogenen Texte von Gafert, Karin: Die Soziale Frage in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Ästhetische Politisierung des Weberstoffes. Band 1.2. Kronberg/Ts. 1973, hier: S. 216–261, und Kroneberg, Lutz: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren. Von Gerhart Hauptmann. In: Müller-Michaels, Harro (Hg.): Deutsche Dramen. Interpretationen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Band 2: Von Gerhart Hauptmann bis Botho Strauß. Königstein/Ts. 1981, S. 3–23. 189 Vgl. bes. Brauneck, Manfred: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Studien zur Rezeption des naturalistischen Theaters in Deutschland. Stuttgart 1974, bes. S. 50–86 u. Schumann, Barbara: Untersuchungen zur Inszenierungs- und Wirkungsgeschichte von Gerhart Hauptmanns Schauspiel Die Weber. Düsseldorf 1982. 190 Vgl. Holbeche, Brian: Naturalist Set and Social Conflict in Hauptmann’s Die Weber. In: AUMLA 56 (1981), S. 183–190, S. 183 sowie Jacobs, Jürgen: Gerhart Hauptmanns Weber. Historien- und Zeit-Stück. In: Hinck, Walter (Hg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Frankfurt a.M. 1981, S. 227–239, S. 233. 191 Vgl. Sniderman, Alisa: Stage Freight. Labor and the Representability of Capitalism in Gerhart Hauptmann’s The Weavers. In: Modern Drama 57,4 (2014), S. 315–338, bes. S. 329–334. Zwar konzediert Sniderman abschließend, dass sich eine klare ›Tendenz‹ im Stück nicht ausmachen lasse und diese Unentschiedenheit wesentlicher Bestandteil des Textes sei, um im letzten Satz doch auf dessen Stärke, der Theatralisierung von Arbeit, hinzuweisen: »making the theatre audience witness the signs of labour that lie hidden on the underside of the social fabric of capitalist culture« (ebd., S. 334. Der Aufsatz richtet sich gegen die Behauptung der Anti-Theatralität des naturalistischen Dramas, vgl. Williams, Kirk: Antitheatricality and the limits of Naturalism. In: Modern Drama 44,3 (2001), S. 284–299). 192 Stöckmann: Naturalismus, S. 102.
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hier ein »Drama ohne Helden bzw. mit dem Volk selbst als Helden«193 vorliegt. Der strukturelle, dramaturgische Zugriff 194 dieses Abschnitts wird sich besonders der Dramaturgie der ›Masse‹ widmen, genauer: ihrer Dramatizität. Es wird zu zeigen sein, dass dies mit der Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Masse korreliert. Angesichts der Besonderheiten der naturalistischen Dramatik und Bühne sowie ihrer Aufführungssituation muss man sich bewusst machen, dass eine dramatische Darstellung des Weberaufstandes von 1844 auf der einen Seite naheliegend, auf der anderen Seite aber mit erheblichen dramaturgischen Schwierigkeiten verbunden war. Als naheliegend konnte eine solche Stoffwahl insofern gelten, als dass ›der Naturalismus‹195 bereits zeitgenössisch als eng mit der Dramatisierung sozialer Probleme verbunden wahrgenommen worden ist und seine kanonisierten Texte im Bereich des ›sozialen Dramas‹ angesiedelt worden sind.196 Diskursive Anknüpfungen an den sozioökonomischen Problemkomplex der ›sozialen Frage‹ und der sie zu überwinden versuchenden ›Sozialtechnologien‹ sowie die Fortsetzung der seit dem bürgerlichen Trauerspiel197 zu beobachtenden Öffnung des Dramas für ›niedere‹ Sozialschichten198 boten die Grundlage dafür, dass die Weber-Thematik dramatischer Stoff werden konnte (von der tagespolitischen Reaktualisierung des Weber-Elends ganz abgesehen199). Als schwierig erschien 193 Sprengel: Gerhart Hauptmann, S. 83. 194 Dieses Vorgehen ist keineswegs neu. Schon 1988 hat Peter Sprengel vorgeschlagen »Deutungen [zu bevorzugen], die sich auf strukturelle Überlegungen konzentrieren.« (Sprengel: Gerhart Hauptmann: Die Weber, S. 142.) – und nicht Überlegungen zur ›Tendenz‹ des Stücks. 195 Dieser Begriff sei der Einfachheit halber beibehalten, obwohl die neuere Forschung die Variationsbreite der naturalistischen Dramatik jenseits der kanonischen Werke von Hauptmann und Holz/Schlaf zu Recht betont hat (vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 95). 196 Vgl. ebd., S. 96. 197 Vgl. zum Kontinuum sozialer Dramatik seit dem bürgerlichen Trauerspiel Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama. 3., erneut durchgesehene Auflage. Darmstadt 2011. 198 Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 96f. 199 1890 war in der Vossischen Zeitung ein Artikel erschienen, der das aktuelle Leid der schlesischen Weber ins öffentliche Bewusstsein rief. Der Schlesier Gerhart Hauptmann, der ohnehin stark von der Vormärz-Literatur geprägt und dem deren Thematisierungen des Aufstandes bekannt waren, hat neben dem Studium historiographischer Darstellungen auch Reisen ins Eulengebirge unternommen und mit Veteranen des Aufstandes gesprochen. Der Aufstand war überdies zu einem Erinnerungsort der Arbeiterbewegung geworden, worauf ein 1891 auf der Maifeier aufgeführtes Agitationsstück Bruno Willes hindeutet (vgl. Sprengel: Gerhart Hauptmann, S. 77–81 u. Sprengel: Gerhart Hauptmann: Die Weber, S. 107– 119). Daher ist die Aussage, das Ereignis sei um 1890 »tendenziell historisch geworden« (Stöckmann: Naturalismus, S. 101), zumindest zu relativieren: Der Aufstand ist einerseits durch den Artikel sowie die Erinnerungspolitik der Arbeiterbewegung zeitgenössisch präsent gewesen, der Stoff sowie die darin dargestellte technologische Situation hingegen
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dagegen der Versuch, ein sich dynamisch entwickelndes und über mehrere Ortschaften erstreckendes Ereignis, an dem viele Hundert Menschen beteiligt waren, als Kollektivphänomen darzustellen – gerade im Hinblick auf die Größenbeschränkungen der verfügbaren Bühnen sowie auf das psychologisierende Theaterverständnis der maßgeblichen Regisseure (allen voran Otto Brahm). Darüber hinaus stellte der programmatische sozioökonomische Determinismus des Naturalismus den Dramatiker eines Aufstandes vor die Schwierigkeit, plausibilisieren zu können, wie ein vollkommen depraviertes, mit reiner Existenzsicherung beschäftigtes soziales Milieu die für eine Revolte notwendige Energie und Handlungsmächtigkeit aufbringen kann. Die Strukturmomente der Weber müssen vor dem Hintergrund dieser Bedingungen gelesen werden, besonders deshalb, weil sie das ›Erkenntnisinteresse‹200 des Dramas mitbestimmt haben. In den Webern findet sich ein Interesse für die Bedingungen der Konstitution einer aufständischen ›Masse‹ sowie für die von ihr entfachte Dynamik (– wobei das historische Scheitern des Aufstandes den Horizont der dramatischen Analyse bildet). Es wird im Folgenden zu zeigen sein, wie dieses Interesse im Drama realisiert ist und an welcher Stelle sich die Leitfrage des Kapitels nach der Relationierung von ›Masse‹ und Führung darin einfügt. Längst ist beobachtet worden, dass die Fünfaktigkeit der Weber nur scheinbar auf die klassische Dramaturgie verweist. Alle Versuche, den Tod des alten Hilse im letzten Akt als tragischen Schluss im Sinne der Tragödie zu deuten201, konnten nicht überzeugen. Vielmehr offenbart schon der aktweise Szenenwechsel eine episodische Struktur202, die durch die reihenhaften Auftritte der auf Entlohnung hoffenden Weber im ersten (We 8–11) sowie der ins Wirtshaus eintretenden weisen das Drama als historisches aus, so dass von einer »beständige[n] Diaphanie zwischen Gestern und Heute« (Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. Darmstadt 2008, S. 116) gesprochen werden kann. Die tagespolitische Reaktualisierung des Aufstandes darf als Movens für die Stoffwahl zumindest nicht ausgeschlossen werden. Es sei zuletzt noch daran erinnert, dass die Entscheidung für einen historischen Stoff auch aufgrund der zeitgenössischen Theaterzensur geboten war, die die Darstellung noch lebender Personen untersagte (vgl. ebd., S. 116f.). 200 Angesichts der positivistischen und experimentalliterarischen Programmatik des Naturalismus (vgl. Möbius: Der Naturalismus, S. 13–33; einschränkend Stöckmann: Naturalismus, S. 53–57) und der vielfältigen Recherchen Hauptmanns (siehe vorige Fußnote) mag es erlaubt sein, nach dem Erkenntnisinteresse der Weber zu fragen. 201 Vgl. Martini, Fritz: Soziale Thematik und Formwandlungen des Dramas [1953]. In: Ders.: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zur Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute. Stuttgart 1984, S. 170–200, S. 182f. sowie Huber, Peter: Die Weber. Ein Gerichtsspiel als Rechtsfall. In: Müller-Michaels, Harro (Hg.): Deutsche Dramen. Interpretationen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Band 2: Von Gerhart Hauptmann bis Botho Strauß. 3., verbesserte und ergänzte Auflage. Königstein/Ts. 1996, S. 3–21, hier: S. 17. 202 Laut Sprengel ist eine »Segmentierung der Akte in Einzelaktionen zu konstatieren« (Sprengel: Gerhart Hauptmann: Die Weber, S. 131, vgl. auch S. 134).
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Gäste im dritten Akt (We 33–43) bestätigt wird. Die diskontinuierliche Darstellung des Aufstandes anhand von fünf exemplarischen Szenen spiegelt dessen Dynamik wider und ermöglicht durch die Varianz der gezeigten Milieus eine differenzierte Darstellung »soziologisch-mentale[r] ›Ansichten‹ seines ökonomischen Konflikts.«203 Dass das episodenhafte Stück auf die dramenhistorisch überdeterminierte Fünfaktigkeit bezogen bleibt, lässt sich überzeugender mit der Metatheatralität des Textes204 deuten: Man bedenke etwa die strukturelle Ähnlichkeit des ersten Aktes zu einem Gerichtsspiel205 oder das von dramatischer Ironie erfüllte Hurrarufen am Schluss trotz des tödlich getroffenen Hilse und des dem Publikum bewussten schlussendlichen Scheiterns des Aufstandes. Im letzten Akt thematisiert der Lumpensammler Hornig kurz vor dem Auftritt der Aufständischen das Theatralische der Szene sogar explizit: »Gelt, das is amal aso a Theater? So was sieht man nich alle Tage.« (We 64) Und schließlich sollte nicht vergessen werden, dass Die Weber bereits sprachlich eine normalisierende Übertragung aus dem Schlesischen darstellen – also selbst in sprachlicher Hinsicht eine rein für das Theater hergestellte Diktion verwendet.206 Dieser Befund relativiert auf der einen Seite Behauptungen, beim naturalistischen Drama handele es sich um anti-theatrale Lesetexte207 und auf der anderen Seite die voreilige Einschätzung des Textes als quasi-dokumentarische Literatur.208 Die Metatheatralität des Textes ist deshalb wichtig, weil sie damit seine eigene ›Theatralizität‹ präsent hält. In der Ausstellung seiner theatralen Mittel schafft sich der Text ästhetische Freiräume gegenüber seinem Stoff, den er nicht zuletzt für die Dramatisierung der ›Masse‹ benötigt – denn es muss stets mitbedacht werden, dass das Auftreten einer Unterschicht als ›Masse‹ theaterhistorisch ohne Vorbild ist und zugleich mit erheblichen Vorbehalten des größtenteils bürgerlichen Publikums zu rechnen hatte. Die Darstellung der ›Masse‹ ist in den Webern auf die Konstitution des Aufstandes hin bezogen, so dass gesagt werden kann, dass die Konstitution des Aufstandes mit dem der ›Masse‹ einhergeht bzw. ihr entscheidendes Phänomen ist. Daher lassen sich im Drama drei Teile unterscheiden, die drei Phasen des Aufstandes in Szene setzen: erstens die Klärung der Ermöglichungsbedingungen des Aufstandes im ersten Akt, zweitens die Konstitution des aufständischen 203 Stöckmann: Naturalismus, S. 103. 204 Vgl. Sniderman, die allerdings von metadramatischen Elementen spricht und diese aufzählt (Sniderman: Labor and the Representability of Capitalism in Gerhart Hauptmann’s The Weavers, S. 318f). 205 Vgl. Huber: Die Weber. Ein Gerichtsspiel als Rechtsfall, S. 17f. Siehe auch den den ersten Akt einleitenden Nebentext, in dem die »Webersleute« als Menschen erscheinen, »die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind« (We 7). 206 Vgl. Sprengel: Gerhart Hauptmann, S. 81. 207 Vgl. Williams: Anti-theatricality and the limits of Naturalism. 208 Vgl. Kroneberg: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren.
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Kollektivsubjekts in den Akten zwei und drei sowie drittens die Darstellung zweier Episoden des Aufstandes selbst in den letzten beiden Akten. In diesen drei Teilen unterscheiden sich weniger die verwendeten Motive und Theatermittel, mit denen ›Masse‹ repräsentiert wird, als die Hinsicht, unter der das Verhältnis von Einzel- zu Kollektivsubjekt bearbeitet wird – wobei zu betonen ist, dass sich dies in den drei Teilen jeweils eher als unterschiedliche Gewichtung realisiert. Es wird deutlich werden, dass die im ersten und zu Beginn des vierten Aktes dominante Perspektive der Herrschaft über soziale Großgruppen eine Legitimationskrise aufscheinen lässt, die zur Grundlage der Konstitution der ›Masse‹ im zweiten Teil wird und im letzten Teil als Problem der Führung bzw. Führbarkeit von ›Masse‹ realisiert – und als im Aufstand ungelöst dargestellt – wird. Diese Führungskrise wiederum hat formativ auf die episodische Struktur im Allgemeinen sowie den Umstand gewirkt, ein ›Drama ohne Helden‹ vorliegen zu haben. Der erste Akt der Weber dramatisiert die Ermöglichungsbedingungen des Weber-Aufstandes.209 Es lassen sich drei solcher Momente unterscheiden. Zuerst hat die höchst prekäre ökonomische Lage der Weber als eine Grundbedingung zu gelten. Ihre dramatische Gestaltung entspricht dabei ganz der naturalistischen Programmatik. Das zeigt sich besonders in der Beschreibung der Weber als »Geschöpfe des Webstuhls« (We 7), was die Determiniertheit ihres Verhaltens wie ihrer körperlichen Erscheinung durch ihre ökonomische Situation andeutet. Obgleich den Frauen der Weber explizit »weniger Typisches« als ihren Männern eignet, werden auch sie in generalisierenden Formulierungen als Bilder des Elends (»aufgelöst, gehetzt, abgetrieben«, We 7) gestaltet, so dass ihre geringere Typik eher gradueller Art zu sein scheint. Diese Konzeptionalisierung der Weber als durch ökonomische Not körperlich und emotional degenerierte und entindividualisierte »Gestalten« (wie es später über sie heißt, We 55) korrespondiert mit ihrer ohnmächtigen Servilität, die durch eine Serie von auf ihren Lohn hoffenden Weber (We 8–11) und ihre Reaktionen auf Dreißigers Reden (We 16f.) aufgezeigt wird. Das deutet darauf hin, dass im Elend der Weber eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Aufstandes zu sehen ist: Das Maß ihrer Pauperisierung verhindert jedes eigenständige Handeln. Zur Lage der Weber hat ein zweites Moment hinzuzukommen, ohne das der Aufstand nicht möglich ist, ein Impuls, der das revolutionäre Potential der Weber erst aktiviert. Dieses Potential wird dadurch suggeriert, dass man hinter einer Glastür die »Schulter an Schulter gedrängt[en], zusammengepfercht wartenden Webersleute« (We 8) sehen kann – womit ihre schiere Anzahl präsent gehalten wird. Der Impuls, der diese Konstellation dynamisiert, ist zunächst ein figuraler. Es ist ein Weber mit dem 209 Vgl. etwa: Sprengel: Hauptmann, S. 81–83. Der Titel des Unterkapitels lautet entsprechend »Die Exposition des Elends« (ebd., S. 81).
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Namen Bäcker, die mit ihrem Verhalten buchstäblich Bewegung erzeugt. Bäcker, der bei seiner Einführung im Nebentext (»Ein junger, ausnahmsweise, starker Weber, dessen Gebaren ungezwungen, fast frech ist.«, We 8) in starkem Kontrast zu seinen Kollegen charakterisiert wird, sorgt durch seinen laut geäußerten Unmut erst für den Auftritt des Fabrikanten (We 12). Dies führt zu einem Dialog, in dem sein forsches Verhalten (»frech«, »mit Entschlossenheit«, We 12, »fest«, We 13) die Asymmetrie zwischen Weber und Fabrikant geradezu umkehrt. Ihr Streitgespräch führt dazu, dass zum ersten Mal »[u]nter den dichtgedrängten Webern […] eine Bewegung entstanden« ist (We 13), dass es also erste Anzeichen einer kollektiven Reaktion der Weber auf ihre sozioökonomische Lage gibt. Ferner wird im Zusammenhang mit ihm erstmals das ›Blutgericht‹ erwähnt, ein Lied, dessen Bedeutung die beiden folgenden Akte offenbaren wird – und wiederum als dynamisierender Impuls der zunächst ›trägen Masse‹ deutbar ist. Das dritte Element, das für den Aufstand notwendig ist, ist schon angeklungen, wurde bis jetzt aber in der Forschung übersehen: Es ist die Legitimationskrise der Herrschaft. Der Nebentext ist nachgerade insistent darin, den Fabrikanten Dreißiger durch sein Verhalten zu desavouieren: Wenn er »[m]it strenger Miene« auftritt, »sich Haltung« gibt, nach einer Frechheit Bäckers jedoch jähzornig brüllt und dabei »zittert«, dann »mit anscheinend geschäftsmäßiger Ruhe« auf Bäckers Beteiligung beim Singen des ›Blutgericht‹-Liedes hinweist, beim Verweis auf die »Rotte Halbbetrunkener« aber wieder als »zitternd« charakterisiert wird (We 12) sowie schließlich dem auf seine Entlohnung drängenden Bäcker »überhastig« sein Geld hinwirft (We 13), so offenbart sein Verhalten geradezu plakativ mangelnde Souveränität. Gegenüber selbstbewusstem Auftreten erscheint der Fabrikant hilflos bis verängstigt. Auch die auf das Wortgefecht mit Bäcker folgende Ohnmacht eines kleinen Jungen wird von ihm als Bedrohung seiner Position wahrgenommen, wie seine Reaktion auf dessen Geständnis, vor Hunger ohnmächtig geworden zu sein, belegt: Er »wird bleich« (We 14). Selbst Dreißigers lange Monologe, auf die die verbliebenen Weber – Bäcker ist bereits gegangen – wie gesagt durchweg devot reagieren, stellt seine Machtposition nur scheinbar wieder her. Das zeigt sich, nachdem er, ermutigt durch die Reaktion der Weber, eine weitere, als barmherzige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme notleidender Weber getarnte Lohnsenkung angekündigt hat (We 16). Sein Versuch, den Raum schnell zu verlassen, wird durch einige Weber vereitelt, die ihre Privatsorgen vorbringen, worauf er »eilig« auf seine Gehilfen verweist, einem klagenden Weber »in die Rede« fällt und schließlich ins Kontor »entweicht« (We 17), wodurch sein Abtritt deutlich den Charakter einer Flucht hat (vgl. dazu sein Verhalten im vierten Akt). Auch hier zeigt sich sein Umgang mit den Webern als unsouverän – obwohl diese, die bereits zu Beginn des Stückes eingeführt worden waren und den ›typischen‹ Webern zuzuordnen sind, seine beherrschende Stellung gar nicht in Zweifel ziehen. Dass nun aber, als die Weber den infolge der
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Lohnsenkung verringerten Lohn erfahren, abermals »Bewegung unter den Webern, Flüstern und Murren« (We 17) entsteht, offenbart, dass die von Bäcker entfachte Dynamisierung der pauperisierten Webersleute durch Dreißigers Monologe nicht wieder stillgestellt worden ist. Zudem deutet sie auf den Anteil des Fabrikanten am Aufstand hin – schließlich ist es ja sein Lohndrücken, das zur abermaligen Unruhe führt. Dreißiger ist nicht in der Lage, seine souveräne Position gegenüber den Webern zu legitimieren – und zwar weder gegenüber dem selbstbewussten Bäcker noch gegenüber den ihm eigentlich ergebenen verarmten Webern. Es ist somit neben der ökonomischen Lage der Weber und dem dynamisierenden Impuls auch die Delegitimation der traditionalen sozialen Ordnung als Ermöglichungsbedingung für Aufstand und Massenkonstitution zu bezeichnen. Der zweite Teil des Dramas beginnt mit dem zweiten Akt und mit einer Wiederholung: Erneut wird die Not der Weber dramatisch sinnfällig gemacht und erneut bedarf es Impulsen, um den Fatalismus der Notleidenden in Aktionsbereitschaft zu verwandeln. Der Unterschied besteht darin, dass diese Entwicklung nun anhand einer Familie exemplarisch vorgeführt wird. Dass dazu die Lage der Weberfamilie Baumert und des Häuslers Ansorge szenisch repräsentiert ist, darf nicht als Individualisierung im starken Sinne verstanden werden.210 Zwar wird Baumert bereits im ersten Akt (zumindest im Nebentext) namentlich erwähnt, doch gibt es dort kaum Anzeichen dafür, dass er sich beispielsweise von den Webern Reimann und Heiber, die im ersten Akt auch namentlich bezeichnet werden, unterscheidet. Dass er der erste der Webersleute ist, die Bäcker zustimmen (We 14), kann als Alleinstellungsmerkmal nicht genügen, zumal er in seiner folgenden Replik einen Weber als Vorbild anführt, weil dieser sich aufgeknüpft hat (We 15). Auf Dreißigers beschwichtigende Reden reagiert er nicht anders als die Übrigen – ebenso zeigt er sich unruhig, nachdem er die Nachricht der Lohnsenkung bekommen hat. Baumert, im Nebentext signifikanterweise als »Der alte Baumert« bezeichnet, steht exemplarisch für eine große Gruppe alteingesessener Weber. Dadurch, dass die Frage des Aufstandes auf eine Einzelfigur ›heruntergerechnet‹ wird, wird der Aufstand dramatisch überhaupt darstellbar gemacht. Anhand von Baumerts Entscheidung für den Aufstand soll auf der Bühne aufgezeigt werden, unter welchen Bedingungen und aus welchen Gründen sich Einzelne dem Kollektivsubjekt anschließen, das im vierten und fünften Akt als ›Masse‹ in Erscheinung tritt. Es ist eine der Leistungen der Weber, zwischen einzelnen Lebenssituationen und dem Kollektivphänomen des Auf210 Daher ist Martini zu widersprechen, der die ›Masse‹ im Stück »als Addition der einzelnen« konstituiert sieht, da »jeder Mensch […] in dieser auf das Menschliche gerichteten Optik des Lebens sein eigenes, unverwechselbares Dasein« hat (Martini: Soziale Thematik und Formwandlungen des Dramas [1953], S. 176). Diese individualisierende Lesart unterschätzt die exemplarische Funktion der Einzelfiguren als Darsteller des aufständischen Milieus.
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standes dramaturgisch zu vermitteln und damit ein erstaunlich differenziertes Bild des historischen Vorgangs zu entwerfen. Die aktinterne Dramaturgie des zweiten und dritten Aktes sieht vor, dass sich die depravierten Weber aus ihrem Defätismus erheben und ein revolutionäres Bewusstsein erlangen, was jeweils in größter Deutlichkeit realisiert wird. Der niedrige, verdreckte Raum mit den lärmenden Webstühlen, dessen Bezug zu den skeletthaften Webersleuten und ihren degenerierten Kindern als kausaler zu denken ist, sowie die Heiligenbilder in der Ecke bieten die Determinanten der hier dramatisierten sozialen Lage (We 17f.). Baumerts Fatalismus zeigt sich in Bemerkungen über den rußenden Ofen: »Was hust’t, hust’t, und wenn’s uns derwischt und wenn gleich de Plautze mitegeht, da frägt uns ooch noch kee Mensch dernach.«, seine Resigniertheit im Ausspruch: »Und sagt ma a Wort, da heeßt’s bloß, ’s sein schlechte Zeiten.« (We 23). Sekundiert wird er von Ansorge: »Mir kenn d’r nich leben und nich sterben hier oben. […] Eener wehrt sich bis ufs Blutt. Zuletzt muß man sich drein geb’n.« (We 25). Die einzige Art der Initiative, die sich diese Gruppe von Webern vorstellen kann, ist, eine Delegation zum König in Berlin zu schicken (We 25). Gegen diesen konsequenten Ausweis an Handlungshemmung wird abermals die Figur eines Anderen gestellt – sein Name ist Jäger, er kommt aus dem Ort und hat beim Militär Karriere gemacht (We 23f.). Ihm wird explizit der Auftrag erteilt, die Weber zu führen: »Moritz, du bist unser Mann. Du kannst lesen und schreiben. […] Du sollt’st unsere Sache amal in de Hand nehmen dahier.« (We 27). Akzidentielle Unterschiede wie diese sollten aber nicht davon ablenken, dass diese Figur als funktionales Äquivalent zu Bäcker im ersten Akt zu verstehen ist (dass auf ihre Freundschaft angespielt wird, We 28, und sie vom dritten Akt an gemeinsam auftreten, belegt dies). Das bedeutet auch, dass der Nebentext mehrfach sein vorlautes Verhalten vermerkt (»in forschem Ton«, We 21; »großpratschig«, We 22; schließlich gar »in plötzlicher Aufwallung, fanatisch«, We 27). Was im ersten Teil nur angedeutet wurde und was die beiden letzten Akte anhand zweier Episoden des Aufstandes aufzeigen werden, wird hier erstmals deutlich gemacht: Die ›Rädelsführer‹ des Weber-Aufstandes eignen sich genausowenig zu ›Führern‹ der Masse wie der Fabrikant Dreißiger. Obwohl sie qua Alter, Vitalität und Selbstbewusstsein deutlich von den entindividualisierten Webersleuten unterschieden werden, desavouiert ihr Verhalten jeden Führungsanspruch. Sie zeigen sich gerade nicht als klassenbewusst Handelnde, wie Marx es über den historischen Weber-Aufstand behauptet hatte211, sondern als 211 Marx spricht vom »theoretischen und bewußten Charakter« des Aufstandes (zit. n. Kroneberg, Lutz / Schloesser, Rolf (Hg).: Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur. Mit einem Geleitwort von Bernt Engelmann. Köln 1979, S. 227).
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gewaltbereit und machttrunken. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Dramenstruktur wie der dargestellte Aufstand selbst im Episodischen verbleibt und jeder Akt eine interne, sich selbst ›genügende‹ Dramaturgie aufweist: Es findet sich – anders als etwa in »Wilhelm Tell«212 – schlicht kein Dramen-Held, der revolutionäre Energien durch die Vision oder gar die Installation einer neuen Ordnung kanalisieren könnte, so dass der Aufstand wie das Drama ›versanden‹ muss. Die Ambivalenz der ›Masse‹ wird im Stück anhand von zwei Motiven realisiert, die beide bereits im ersten Akt eingeführt, erst vom zweiten Akt an jedoch zentrale Bestandteile der ›Massen‹-Konstitution werden: Das sind zum einen das Weber- oder »Dreißiger«-Lied213 und zum anderen – der Alkohol. Im Verein sorgen beide dafür, dass der alte Baumert zum zweiten Aktschluss, »hingerissen zu deliranter Raserei«, die Fabrikanten als »Satansbrut« verfluchen und schließlich, »am ganzen Leibe zitternd vor Wut«, sagen wird: »Und das muß anderscher wern, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s nimehr! Mir leiden’s nimehr, mag kommen, was will.« (We 29). Trotz der sich wie krankhaft (›delirant‹) äußernden Entfesselung von Wut und Enttäuschung zeigt diese Replik, besonders, wenn man die vorige dazu nimmt214, den Prozess einer Bewusstwerdung in nuce, der von der Reflexion der eigenen Notlage umschlägt in die Ankündigung kollektiver Aktion, was durch den Wechsel des Personalpronomens zu ›mir‹, also dem schlesischen ›wir‹, deutlich wird. Dies mag man als die Leistung des Weber-Liedes ansehen, das sich ja zum Ende des dritten Aktes wiederholt, wo ein gemeinsames Singen des Liedes den Beginn des eigentlichen Aufstandes signalisiert (We 42f.). Signifikant ist aber ebenso, dass hier ein Kunstwerk dazu dient, den Beteiligten die soziale Lage begreiflich zu machen und sie in ein Kollektivsubjekt zu verwandeln.215 Es ist das Lied, das als eine Art literarische mis-en-abyme die Möglichkeiten der sozialen Literatur aufweist. Gleichzeitig dient es bei den Webern als Mittel zur Evokation von ›Masse‹: Mit ihm wird revolutionäre Stimmung thematisierbar (We 12, We 28, We 37) und 212 Der Vergleich mit Schillers »Tell« findet sich schon bei May, Kurt: Hauptmann. Die Weber. In: Wiese, Benno v. (Hg.): Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Band 2: Vom Realismus bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1960, S. 157–165, hier: S. 162. 213 Vgl. May: Hauptmann. Die Weber, S. 161 u. Sprengel: Gerhart Hauptmann: Die Weber. Ein riskanter Balanceakt, S. 135f. Kroneberg hat gezeigt, dass das Lied eine historische Vorlage hat und im Weberaufstand von 1844 eine mit der im Stück vergleichbare Rolle gespielt hat (vgl. Kroneberg: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren, S. 8–11). 214 »Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. […] Ich bin ein braver Mensch gewest mei lebelang, und nu seht mich an! Was hab ich davon? Wie seh ich aus? Was hab’n se aus mir gemacht?« (We 29). 215 Dass sich Hauptmann eines historisch verbürgten Liedes bedient hat, das beim historischen Weber-Aufstand eine analoge Wirkung gehabt haben soll, stützt die Bedeutung der Literatur.
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wird, indem man es ›offstage‹ hört (We 37f., We 64), die Möglichkeit geschaffen, ›Masse‹ auditiv zu produzieren, anstatt sie auf der Bühne als Ganze zeigen zu müssen – eine Möglichkeit, die in den letzten beiden Akten dazu genutzt werden wird, um die ›Masse‹ in erster Linie als Produkt der Imagination und nicht als reales Phänomen zu präsentieren. Der Alkohol hingegen symbolisiert die zerstörerische Potenz der entfesselten sozialen Dynamik. Im zweiten Akt hat Jäger eine Branntweinflasche mitgebracht, die er bald wandern (We 24) und nachfüllen lässt (We 26f.) und wohl seine ›fanatische Aufwallung‹ erklärt. Im dritten Akt ordert Jäger, »sich protzenhaft aufspielend, mit lauter Stimme« Schnaps (We 38) und wird sich als Gefangener im vierten Akt »infolge des vorherigen Branntweingenusses in gehobenem Zustand« befinden und sich deshalb »frei und frech« (We 48) verhalten. In das Haus des alten Hilse wird im fünften Akt ein »Schwarm Aufständischer […] mit von Schnaps und Anstrengung geröteten Gesichtern« eindringen (We 65). Die enthemmende Wirkung des Alkohol zeigt sich etwa auch im Bericht vom Plündern des Weinkellers eines Fabrikanten: »Die Flaschen, die saufen se aus… da nehmen se sich gar nich erscht amal die Zeit, de Froppen rauszureißen. Eens, zwei, drei sein de Hälse runter, ob se sich’s Maul ufschneiden mit a Scherben oder nich. Manche laufen rum und blutten wie de Schweine.« (We 64f). Allerdings muss betont werden, dass die Thematisierung des Alkohols im Stück noch eine weitere Funktion besitzt. Es ist auffällig, dass er nicht nur bei den Webern eine große Rolle spielt: Zumal der dritte Akt, der in einem Wirtshaus spielt, offenbart, wie weit verbreitet der Alkoholgenuss ist – und dass sich damit soziale Differenzierung thematisieren lässt. Der bürgerliche, »wohlaufgeschwemmt[e]« (We 30) Reisende trinkt Bier (We 31), und während Baumert und Ansorge ungefragt Schnaps vorgesetzt bekommen und der Schmied Wittig, der sich den Aufständischen anschließen wird, Branntwein trinkt, bevorzugen der Bauer und sein Begleiter Ingwerlikör.216 Der Polizist Kutschke spricht von einer Familie, die durch das »Saufen« verarmt (We 42), lässt sich jedoch Korn geben und wird von Bäcker auf seine von »Branntwein und Schepsbier« rote Nase angesprochen (We 41). Am deutlichsten als soziales Distinktionsmittel markiert ist der »Schlampanjerwein«, den Jäger zu trinken beabsichtigt – der ihm laut Polizist aber nicht zusteht (We 41); noch im fünften Akt träumt der alte Baumert von den glücklichen Menschen, die »Schlampancher und Hasengebratnes« bekommen (We 66). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die erwähnte Plünderung des Weinkellers auch eine sozialrevolutionäre Note hat: Die Weber eignen sich damit soziale Distinktionsmittel an und nivellieren somit den Statusunterschied zu den Fabrikanten – um sich durch ihr enthemmtes, animalisches (›wie die Schweine‹) 216 Es ist nur von »Ingwer« die Rede, doch deutet der Nebentext durch Verweis auf »Gläschen«, von denen die Gäste trinken, also das Getränk nicht austrinken, auf Likör hin (We 35).
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Verhalten doch als Unterschicht zu erkennen zu geben. Das Motiv des Alkohols zeigt sich also in den Webern als schillernd: Auf der einen Seite ist er in allen dargestellten sozialen Milieus allgegenwärtig (selbst Dreißiger will dem ohnmächtigen Jungen sogleich Kognak einflößen, We 14), doch erweist es sich als konstitutiv für den Aufstand und gleichzeitig als diesen desavouierendes Moment der Enthemmung und Gewaltbereitschaft. Noch wenn der Pastor im vierten Akt Geistliche erwähnt, die sich »gegen die Branntweinpest« (We 44) engagieren, ist in der Spezifizierung des Getränks impliziert, dass Alkohol lediglich für gewisse Sozialmilieus ein Problem darstellt. Diese bemerkenswerte Doppelmoral stellt der Text der Weber aus – und schreibt sie durch die Rolle des Branntweins beim Aufstand fort. Nachdem der alte Baumert zum Ende des zweiten Aktes exemplarisch den Grundstein für die Bildung eines Kollektivs gelegt hat, besteht die Funktion des dritten Aktes darin, das Weber-Elend multiperspektivisch zu problematisieren und schließlich zum Aufstand überzuleiten. Das Szenenbild selbst hat metadramatische Implikationen – ist mit dem Wirtshaus doch der klassische Ort des Kontakts unterschiedlicher sozialer Milieus und Schichtungen aufgerufen.217 Dem entspricht eine Revue von sozial divergenten Figuren, in der sich eine Opposition zwischen den Webern und den mit ihnen assoziierten Figuren (wie der Schmied Wittig) gegen die sozial besser Gestellten erkennen lässt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die nicht ›ortsgebundenen‹ Figuren, da sie, wie der Reisende, die Argumente des unbeteiligten Auswärtigen einbringen oder, wie der Lumpensammler Hornig, durch ihre Reisetätigkeit als Informationsträger und, später, als Berichterstatter des Aufstandes fungieren – wobei der Nebentext betont, dass der Reisende eher den Arrivierten zuzuordnen ist (We 30) und Hornig Sympathien für die Weber aufbringt, wie seine Worte zum Schluss des Aktes belegen: »A jeder Mensch hat halt ’ne Sehnsucht.« (We 43). Die ortsansässigen Bessergestellten wie der Wirt Welzel, der Tischler Wiegand, der Bauer und der Förster sowie der Polizist Kutsche perspektivieren die Not der Weber auf der Basis ihrer eigenen sozioökonomischen Situation. So begrüßt Welzel die Weber als seine Stammgäste durchaus respektvoll218, versucht aber, den jungen Webern das Singen des Weber-Liedes (»Teifelslied«, We 37) zu verbieten (We 38) und sieht den fortziehenden Webern »mit Gleichmut« nach, suggerierend, dass es sich bei ihrer Aufruhrstimmung nur um eine Laune handelt: »Die sein ja heute gar tälsch.« (We 43). Dem Tischler, der geschäftliche Beziehungen mit dem Fabrikanten Dreißiger unterhält (We 33), wird vorgeworfen, am Tod der Weber durch seine Särge gut zu verdienen und deshalb vermögend zu sein (We 34f.). Für den Förster, dessen Verfolgung von Webern wegen Holzdiebstahl Kritik erfährt 217 Vgl. Huber: Die Weber. Ein Gerichtsspiel als Rechtsfall, S. 13. 218 Vgl. nur die Anrede: »Willkommen! Vater Ansorge, sieht man dich wieder amal?!« (We 33).
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(We 35f.), antwortet der Bauer mit den gängigen Vorwürfen gegenüber den Webern, an ihrem Elend selbst schuld zu sein: »Oh, ihr verhungerten Luder, zu was wärt ihr zu gebrauchen? […] Ihr seid ja zu nischt nutze wie zum Faulenzen und bei a Weibern liegen.« (We 36).219 Der Polizist Kutsche hingegen, der das Verbot, das Weber-Lied zu singen, überbringt (We 42), offenbart in seinem Streit mit dem Schmied Wittig, dass neben der Wut über die Pauperisierung der Weber noch andere, individuelle Interessenlagen zur Teilnahme am Aufstand motivieren: Wittig beschuldigt den Polizisten, ihn verleumdet zu haben, weswegen er keine Arbeit mehr erhalte (We 42) und nimmt das von ihm verkündete Gesangsverbot zum Anlass, sich dem Aufstand anzuschließen, dem er kurz zuvor noch höhnisch begegnet ist.220 In dieser Spätphase des Aktes treten die zum Aufstand bereiten jungen Weber auf – wie gesagt akustisch angekündigt durch das Singen des Weberliedes im ›neighboring offstage‹. Wiederum markiert schon der Auftritt Bäckers und Jägers – sie betreten »Arm in Arm, […] lärmend« die Wirtsstube (We 37) – eine klare Differenz zum Verhalten der alten Weber. Ihre Gewaltbereitschaft wird dadurch verdeutlicht, dass sie sich gegen Wundstarrkrampf haben impfen lassen und entsprechende Andeutungen machen: »Vielleichte wird amal was vorgehn.« (We 38). Gegen die forschen Töne der jungen Weber erheben die Alten die Stimme: Zunächst erinnert sie der alte Schmied Wittig an die gescheiterte Revolution in Frankreich (We 39), dann gemahnt sie ein betrunkener alter Weber, der plötzlich »mit ›Zungen‹ rede[t]«, in Bibelversen an das Jüngste Gericht, das diejenigen heimsuchen wird, die »weder [an] Heil noch Himmel« glauben (We 40). Deutlich wird hier der Widerstand, den die ältere Generation gegenüber dem Aufstand aufbringen. Erst nachdem sich Wittig, wie gesagt aus persönlichen Motiven, ihnen angeschlossen hat, ziehen die Weber, das von Bäcker angestimmte Weberlied singend, nach draußen – und erst dann entscheidet sich auch der alte Baumert, ihnen zu folgen (We 43). Die Konstitution des aufständischen Kollektivsubjekts, das sich hier ereignet, wird also keineswegs als heroischer und alternativloser Akt dargestellt, sondern als eine spezifische Konstellation unterschiedlicher Bedingungen und Interessenlagen, die aus einer Gruppe junger Randalierer eine ›Masse‹ erwachsen lässt. Die Konstitution der Masse der Weber wird hier, ganz anders als später in der Massenpsychologie, psychologisch differenziert und als letztlich kontingentes Ereignis dramatisiert. Dass sich mit dem dritten Teil der Weber, der mit dem vierten Akt einsetzt, tendenziell die Gewichte in Richtung einer genuinen ›Massen‹-Dramaturgie 219 Diese Position ist aus dem ersten Akt vertraut, wo sie von Dreißigers Gehilfen vertreten wird (We 11). 220 »Leute, ihr Leute, ich lach mich tot. Der ale Baumert will Rebellion machen. Nu wern mersch hab’n: itzt fangen de Schneider ooch an, dann wern de Bälämmel rebellisch, dann de Mäuse und Ratten. O du meine Gitte, das wird a Tanz werden.« (We 39).
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verschieben, machen die Formulierungen des Nebentextes deutlich: Dort erscheint sie als »ein vielstimmiges Hurragebrüll« (We 51), als »das dumpfe Geräusch einer großen, versammelten Menschenmenge« (We 52) und als »Massengesang« (We 65). Diese Stellen belegen exemplarisch, wie die ›Masse‹ als ›Masse‹ in den Webern erscheint: als Hör-Ereignis. Dazu passt auch, dass sich mit dem vierten Akt Berichte über sie, als Teichoskopie oder als Botenbericht, häufen. Wenn die ›Masse‹ schließlich auf der Bühne szenisch präsent wird, ist sie es stets als vergleichsweise kleine und armselige Gruppe (vgl. We 55 u. 65). Das Drama löst das Darstellungsproblem der ›Masse‹ damit, dass sie nicht gezeigt, sondern durch Berichte und Geräusche evoziert wird. Ihre Macht entsteht in der Imagination der Rezipienten – also nicht zuletzt der des Publikums. Diese Macht der ›Masse‹ wird durch einen radikalen Wechsel der Perspektive effektvoll inszeniert: Der vierte Akt spielt nämlich in einem »luxuriös ausgestattet[en]« (We 43) Saal des Fabrikanten Dreißiger und dramatisiert die Erstürmung des Anwesens durch die aufständischen Weber, von denen nur am Aktschluss eine Vorhut auf der Bühne erscheint. Die Konstellation gibt zunächst Gelegenheit, das Pauperismus-Problem aus der Perspektive der Fabrikanten sowie der mit ihr verbundenen Geistlichkeit zu erörtern. Pastor Kittelhaus lehnt dabei das soziale Engagement des jungen Hauslehrers und einiger seiner jüngeren Kollegen ab (»Seelsorger, werde kein Wanstsorger«, We 45) und lässt merken, dass er die herrschende soziale Ordnung als »Gottes Gesetz« ansieht und die Aufständischen dadurch per se gottlos handeln (We 46). Das ist auch die Haltung des Fabrikanten, der den servilen Polizeiverwalter zu hartem Durchgreifen drängt (We 47). Nach einem Aufeinandertreffen mit Jäger, den man als Rädelsführer festgenommen hat und dessen Respektlosigkeit die Erwähnten erbost zurück lässt (We 48f.), wird beratschlagt, wie nun vorzugehen sei. Die Frage, ob nun besänftigende Worte (Kittelhaus) oder law and order (Dreißiger und die Polizeibediensteten) geboten seien, wird vor einer deutlich intensivierten auditiven Drohkulisse erörtert: Nicht nur ist nun vermehrt von »Gebrüll« von draußen die Rede, sondern wird die Dehumanisierung der Aufständischen durch hörbare Tierlaute erfahrbar gemacht (We 50). Kittelhaus und Dreißiger lassen in einem Dialog ihre Verständnislosigkeit über den Aufruhr des sonst so »lenksame[n] Menschenschlag[es]« (ebd.) erkennen. Dreißigers Position ist diese: Dreissiger. Freilich waren sie geduldig und lenksam, freilich waren es früher gesittete und ordentliche Leute. Solange nämlich die Humanitätsdusler ihre Hand aus dem Spiele ließen. Da ist ja den Leuten lange genug klargemacht worden, in welchem entsetzlichen Elend sie drinstecken. Bedenken sie doch: all die Vereine und Komitees zur Abhilfe der Webernot. Schließlich glaubt es der Weber, und nun hat er den Vogel. Nun komme einer her und rücke ihnen den Kopf wieder zurecht. Jetzt ist er im Zuge. Jetzt murrt er ohne aufzuhören. Jetzt paßt ihm das nicht und jen’s nicht. Jetzt möchte alles gemalt und gebraten sein. (We 50f.)
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Die Replik lässt nicht allein erkennen, dass die soziale Frage als solche als Bedrohung der traditionalen Ordnung wahrgenommen wird, sondern auch, dass angesichts der aufständischen ›Masse‹ deren Führung (›Nun komme einer her…‹) kaum noch zu leisten ist. Gegen das Drängen seiner Frau, »auch mal gründlich dazwischen [zu] fahren«, weist Dreißiger diesen Führungsauftrag von sich: »Geh du doch und sag’s ’n! Geh du doch! Geh du doch!« (We 52). Der Fabrikant wird mit seiner Frau fliehen. Der Pastor, der auf die Nachricht, dass man Jäger befreit und den Polizeiverwalter fortgejagt habe, fast ungläubig reagiert hat (»Das wäre ja Revolution.«, We 51), stellt sich schließlich den Aufständischen, im festen Glauben an seine geistliche Autorität – was aber ebenso in Gewalt endet (We 53). Auch im fünften Akt wird suggeriert, dass die aufständische Masse mittlerweile nicht mehr von der Obrigkeit ›geführt‹ werden kann. Als im Nachbarort ein Fabrikant Tafeln aus dem Fenster hängt und die Erfüllung aller Forderungen verspricht, kommentiert der Lumpensammler Hornig: Das konnt a underwegens lassen. Helfen tutt’s ooch nich aso viel. Die Brieder haben eegne Mucken. (…) Die bringt kein Landrat und kein Verwalter zu Verstande – und keene Tafel schon lange nich. Wer die hat sehn wirtschaften, der weeß, was ’s geschlage hat. (We 65).
Im dritten Teil der Weber hat die aufständische ›Masse‹ derart an Dynamik gewonnen, dass sie von einzelnen Exponenten der Herrschaft nicht mehr zu bändigen ist – erst die quantitative Übermacht des Militärs, also wiederum eines Kollektivs, wird den Aufstand beenden können. Die als mögliche Autoritätsfiguren eingeführten Fabrikanten und der Pastor haben sich nicht in der Lage gezeigt, den Aufstand zu verhindern, und sehen sich ihm hilflos ausgeliefert, nachdem er ausgebrochen ist. Dass sich diese Führungsschwäche der Obrigkeit und ihrer Assoziiierten mit der Führungslosigkeit der aufständischen ›Masse‹ selbst verbindet, haben die ersten drei Akte bereits prädeterminiert und wird in Akt vier und fünf vergleichsweise knapp thematisiert. Wie erwähnt treten erst am Schluss des vierten Aktes Weber auf, deren Anblick (»Jammergestalten«, We 55) einen theaterwirksamen Kontrast zum Reichtum des Saales bieten. Die »wie auf der Jagd« erscheinenden Bäcker, Jäger und Baumert suchen nach Dreißiger und seinem Expedienten Pfeifer221, wobei die Verbindung von Gewaltbereitschaft und Wunsch nach sozialer Nivellierung erkennbar wird: »Wenn mersch o ni kriegen, das Dreißicherviech… arm soll a wern.« (We 55). Es geht den Aufständischen 221 Es ist auffällig, dass sich die Aufsteigerfiguren im Stück, besonders Pfeifer und Dreißigers Frau, aber auch die von Dreißiger als Miliz eingestellten Färbereiarbeiter, besonders unversöhnlichem Hass gegenüber sehen (vgl. etwa We 12, 48f. u. 51–54) – was auf die Bedeutung von Gruppenidentität im Stück hinweist, vor deren Hintergrund die sozial mobilen Figuren als Opportunisten und Verräter erscheinen müssen.
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weniger um Bereicherung als um Zerstörung des Besitzes der Fabrikanten, um die gewaltsame Herstellung von Egalität. Das belegt auch Bäckers Vorschlag, der zudem szenisch als Anspruch auf Führerschaft präsentiert wird: Bäcker, der voraneilt, macht eine Wendung und hält die andern auf. Halt, heert uf mich! Sei mer hier fertig, da fang m’r erscht recht an. Von hier aus geh mer nach Bielauf nieder, zu Dittrichen, der de mechan’schen Webstihle hat. Das ganze Elend kommt von a Fabriken.
Bäckers Forderung, die überdies den Umstand aufscheinen lässt, dass die pauperisierten Weber des Eulengebirges die Verlierer einer industriellen Umwälzung ihres Gewerbes gewesen sind222, scheint auf eine Systematik des Aufstands hinzuweisen. Dieser Anschein wird aber im fünften Akt zerstreut, in dem die Kopflosigkeit und der Gewaltrausch der Aufständischen anhand eines Wortwechsels im Haus des alten Webers Hilse unmissverständlich offenbar wird und deshalb ausführlich zitiert sei: Bäcker. Mir hab’n die Sache schon sehr gutt begriffen. Eens, zwee, drei, sind m’r drinne in a Häusern. Da geht’s aber o schon wie helles Feuer. (…) Erster junger Weber. Mir sollten gar amal a klee Feuerle machen. Zweiter junger Weber. Mir ziehn nach Reechenbach und zinden a Reichen de Häuser ieberm Koppe an. Jäger. Das wär den a Gestrichnes. Da kriegten se erscht gar viel Feuerkasse. Gelächter. Bäcker. Von hier ziehn m’r na Freiburg zu Tromtra’n. Jäger. M’r sollten amal de Beamten hochnehmen. Ich hab’s gelesen, von a Birokratern kommt alles Unglicke. Zweiter junger Weber. Mir ziehn balde nach Breslau. Mir kriegen ja immer mehr Zulauf. Der alte Baumert, zu Hilse. Nu trink amal, Gustav! Der alte Hilse. Ich trink nie keen’n Schnaps. Der alte Baumert. Das war in d’r alten Welt, heut sind mir in eener andern Welt, Gustav! Erster junger Weber. Alle Tage is nich Kirm’s. Gelächter.
Die Unterhaltung verlagert sich nun zum alten Hilse, der den Aufstand aus religiösen und traditionalistischen Motiven ablehnt. Geklärt wird indes nicht, wohin die Aufständischen ziehen werden. Dass Jägers oder Bäckers Worte wesentlich größeres Gewicht als das der anderen haben, ist jedenfalls nicht zu erkennen: Sie fügen sich ein in eine Gruppe junger Weber, ohne der ›Masse‹ eine Form oder ein Ziel geben zu können. Die in der Forschung, wie erwähnt, kontrovers diskutierte Frage nach der Funktion der Figur des alten Hilse für die Weber sollte nicht nur von dessen 222 Vgl. Hodenberg, Christina v.: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997, bes S. 47–69.
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tödlichem Ende aus analysiert werden. Wenn man sich den fünften Akt als Ganzes vor Augen hält, ist auffällig, dass Hilses Vorstellung einer festen, gottgewollten Ordnung, die auf der »Gewißheet« eines höheren Gerichts basiert (We 64) ihn in einen Konflikt nicht nur mit den Aufständischen, sondern vor allem mit seiner Familie führt. Überraschenderweise wird das ›revolutionäre Bewusstsein‹ von einer Frau vertreten: Luise fordert von ihrem Mann, Hilses Sohn Gottlieb, sich am Aufstand zu beteiligen, worauf dieser aus Respekt gegenüber seinem Vater und aus Furcht vor Gewalt hinhaltend reagiert (vgl. We 62, 64). In einem Streitgespräch Luises mit ihrem Schwiegervater wird expliziert, dass dieses ›revolutionäre Bewusstsein‹ die Grundlagen der sozialen Ordnung erschüttert, darunter auch die Geschlechterordnung. Als Luise Gottlieb Unmännlichkeit vorwirft, entgegnet Hilse: »Und du willst ’ne richtige Frau sein, hä? […] Du willst ’ne Mutter sein und hast so a meschantes Maulwerk dahier? Du willst dein’n Mädel Lehren geben und hetzt dein’n Mann uf zu Verbrechen und Ruchlosigkeiten?!« (We 62). Dass Luise, obwohl sie in ihren Antworten die Aufstandsbereitschaft gerade mit ihrer Mutterschaft legitimiert, weiterhin als Opponentin gegen die überkommenen Ordnungsmuster fungiert und damit einen Aufstand privater Art übt, zeigen die Hinweise zu ihren Repliken im Nebentext deutlich: Sie spricht »übermannt von leidenschaftlicher Aufregung, heftig«, »maßlos« (We 62), schließlich gar »in Raserei« (We 63). Als die ›Masse‹ am Haus der Hilses vorbeizieht und man von ferne das Militär anrücken hört, wird sich Gottlieb schließlich zur Teilnahme am Aufstand entschließen. Dass auch dieser Entschluss – wie bei Baumert und, ambivalenter, bei Ansorge (We 56) – mit einem erwachten Selbstbewusstsein einher geht, lässt sein letzter Satz erkennen: »Ufgepaßt, jetzt komm ich!« (We 71); ein Entschluss, der der Breite der Motivlagen für die Aufstands-Teilnehmer eine des Beweises von Männlichkeit hinzufügt. Erst Gottliebs Entschluss sorgt dafür, dass der alte Hilse von seinem Webstuhl aufsteht und sich ans Fenster begibt, von wo ihn die tödliche Kugel trifft. Dass ungeklärt bleibt, wessen Kugel ihn trifft, belegt überdies, dass er als ›Kollateralschaden‹ des Aufstandes stirbt, womit dessen Unberechenbarkeit223 bzw. Kontingenz224 die Grundlage für die dramatische Schlusspointe abgibt: In einem ›Drama ohne Helden‹ sterben nicht die Protagonisten, sondern Nebenfiguren, die zufällig getroffen werden. Zusammenfassend bieten Die Weber somit ein differenziertes soziales Panorama des schlesischen Eulengebirges von 1844, vor dessen Hintergrund die Frage des Aufstandes nicht zuletzt als Frage persönlicher Motivationen gestellt, zugleich aber erwiesen wird, dass der Aufstand durch die Führungslosigkeit der aufständischen ›Masse‹ nur scheitern konnte. Ex negativo lässt sich daraus der 223 Vgl. Jacobs: Gerhart Hauptmanns Weber. Historien- und Zeit-Stück, S. 235f. 224 Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 104.
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Bedarf nach einem großen, handlungsmächtigen Individuum ableiten, der in der Lage wäre, das revolutionäre Potential der Aufständischen in konkrete politische Forderungen zu kanalisieren – oder, auf Seiten der ›Herrschenden‹, durch Paternalismus gar nicht erst entstehen zu lassen. Es ist offensichtlich, dass sich diese Perspektive mit dem Interesse an Führerschaft in den (popularisierenden) Schriften eines Gustave Le Bon deckt, denen das Drama allerdings einige Jahre vorausliegt. Wie erwähnt unterscheidet sich die überaus differenziert gestaltete Darstellung der Konstitution von Masse dagegen stark von der naturalisierenden und unbewussten ›Massenseele‹. Auffällig bleibt zuletzt die Spannung zwischen der mimetischen und psychologisch durchdachten Anlage des Stückes, in dem die Reaktionen exemplarischer Einzelfiguren auf die Weber-Not dramatisiert wird, und einem auf sozioökonomischem Determinismus beruhendem Interesse für Großgruppen, deren Evokation die theatertechnischen wie rezeptionsästhetischen Grenzen der Zeit respektiert. In dieser Hinsicht mag die auffällige Theatralität der Weber als Konzession an die Spielbarkeit des Textes zu deuten sein.
3.1.4 Hypertropher Individualismus und perhorreszierte ›Masse‹: Samuel Lublinskis Peter von Rußland (1906) Der im folgenden Abschnitt behandelte Text ist Teil der um 1905 kurzzeitig virulenten und von nur wenigen Autoren getragenen225 literarischen Bewegung der »Neuklassik«, einer Bewegung, die bis heute in der ansonsten sehr intensiven Forschung zur Jahrhundertwende ein Schattendasein führt.226 Da es sich bei den folgenden Überlegungen um einen Seitenblick mit hoch spezifischer Interessenlage handelt, werden dramentheoretische Fragen über die »Neuklassik« eher gemieden. Zur Orientierung sei gesagt, dass es sich bei der »Neuklassik« im Kern um eine antimodernistische Bewegung handelte, in der im Rückgriff auf die Gattungstheorie der Weimarer Klassik – besonders ihrer Tragödientheorie – sowie auf Hebbels »Pantragismus« eine ethische Erneuerung zu erreichen versucht wurde, die programmatisch auf eine Rehabilitierung des ›großen Indivi225 Neben Lublinski wird Paul Ernst, Wilhelm von Scholz sowie im Programmatischen mitunter der junge Georg Lukács dazugezählt (vgl. Borchmeyer, Dieter: Art. Neuklassik. In: Ders. / Zˇmegacˇ, Viktor (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2., neu bearbeitete Auflage. Tübingen 1994, S. 331–334, hier: S. 331). 226 Wöhrmann konstatierte bereits 1979 die »desolate[] Lage der Neuklassik-Forschung« – ein Befund, der, vielleicht mit der Ausnahme der Forschung zu Paul Ernst, noch immer gültig ist (Wöhrmann, Andreas: Das Programm der Neuklassik. Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski. Frankfurt a.M. 1979, hier: S. 127; zur Ernst-Forschung s. u., FN 226).
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duums‹ hinauslief, aber mit dem Schicksals-Determinismus der TragödienKonzeption kollidierte.227 Samuel Lublinski teilt forschungsgeschichtlich das Schicksal der übrigen Autoren der sogenannten »Neuklassik«: dass nämlich das Interesse für ihre Programmatik dasjenige an ihrer dramatischen Produktion weit übersteigt.228 Die Dramatik der »Neuklassik« ist bis jetzt nur vereinzelt Gegenstand der Forschung geworden229, und das gilt insbesondere für Samuel Lublinski. Dessen programmatische Arbeiten »Die Bilanz der Moderne« (1904) und »Der Ausgang der Moderne« (1909) sind die einzigen Texte, die die Forschung bislang einer eigenständigen Begutachtung für würdig erachtet hat.230 Zu Lublinskis Dramen finden sich nur verstreute Hinweise in einigen der erwähnten Darstellungen, die aber nicht darüber hinausgehen, den Text auf seine Korrespondenz zur neuklassischen Programmatik hin zu untersuchen.231 227 Vgl. dazu nur Borchmeyer: Art. Neuklassik, S. 331–334 und Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 531–537. 228 Vgl. etwa schon Hugle, Alfons: Samuel Lublinski, Paul Ernst und das neue Drama. Heidelberg 1913 sowie den noch immer maßgeblichen Band von Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik. Auch hat sich Horst Thomé zunächst stark mit der Tragödientheorie Paul Ernsts befasst: Thomé, Horst: Tragödienästhetik als Zeitkritik. Zu Friedrich Nietzsches Die Geburt der Tragödie und Paul Ernsts Tragödientheorie. In: Der Wille zur Form 1 (1995), S. 3–37; ders.: Aporien der »modernen Tragödie«. Zur Hebbel-Rezeption der Neuklassik. In: Hebbel-Jahrbuch 52 (1997), S. 121–150; ders.: Zu Paul Ernsts »Die Anfänge des modernen Dramas in Deutschland«. In: Der Wille zur Form 3 (1997), S. 85–92. Vgl. zuletzt den Aufsatz von Zˇmegacˇ in dem von Thomé herausgegebenen Sammelband zu Ernst: Zˇmegacˇ, Viktor: Text und Kontext in der Gattungspoetik von Paul Ernst. In: Thomé, Horst (Hg.): Paul Ernst. Außenseiter und Zeitgenosse. Würzburg 2002, S. 11–24. 229 Differenziert werden muss diese Aussage im Fall von Paul Ernst. So sind neben Aufsätzen von Thomé, die Ernsts Dramen diskurs- bzw. stoffgeschichtlich kontextualisieren (Thomé: Das Ich und seine Tat) noch zwei Monographien zu erwähnen, die neben ausführlichen Darstellungen der Ernstschen Programmatik jeweils auch auf seine dramatische Textproduktion eingehen (Bucquet-Radczewski, Jutta: Die neuklassische Tragödie bei Paul Ernst (1900–1910). Würzburg 1993, bes. S. 93–138 sowie Ghyselinck, Zoë: Form und Formauflösung der Tragödie. Die Poetik des Tragischen und der Tragödie als religiöses Erneuerungsmuster in den Schriften Paul Ernsts (1866–1933). Berlin [u. a.] 2015, bes. S. 145–315). 230 Siehe besonders die Arbeiten von Wunberg (Wunberg, Gotthart: Nachwort des Herausgebers: Samuel Lublinskis Versuch, Literatur soziologisch zu verstehen. In: Lublinski, Samuel: Die Bilanz der Moderne [1904]. Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Gotthart Wunberg. Tübingen 1974, S. 369–406; ders.: Samuel Lublinskis literatursoziologischer Ansatz [1974]. In: Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors herausgegeben von Stephan Dietrich. Tübingen 2001, S. 231–257). 231 So etwa bei Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik, hier: S. 107–113. Das gilt auch für den knappen Aufsatz von Pirro, der trotz seines Erwartungen weckenden Titels Lublinskis Trauerspiele nur auf den letzten beiden Seiten und auch dort wiederum vor der Folie seiner Programmatik berücksichtigt (vgl. Pirro, Maurizio: Die Trauerspiele Samuel Lublinskis im Kampf um eine Kultursynthese der Moderne. In: Valentin, Jean-Marie (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: Germanistik im Konflikt der Kulturen.
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Auch wenn im Folgenden versucht wird, Lublinskis Tragödie Peter von Rußland232 von 1906 unter möglichst geringem Rekurs auf die umfangreichen programmatischen Vorarbeiten zu analysieren, lässt sich dieser Rückgriff nicht völlig vermeiden, da Lublinski dem gedruckten Text der Tragödie den Essay »Der Weg zur Tragödie«233 vorangestellt hat und dieser für das hier interessierende Verhältnis von Führung und ›Masse‹ aufschlussreich ist. Der Essay hat erkennbar die Funktion, die in der »Bilanz der Moderne« zum Schluss kurz aufscheinende Frage nach dem neuen Drama234 als eine nach der modernen Tragödie zu reformulieren und die daran anschließende Tragödie als Modellantwort darauf darzustellen. Im Unterschied zur »Bilanz«, in der »die soziale Genese der Literatur zu beschreiben«235 versucht wird und die deshalb als ein früher Versuch einer literatursoziologischen Studie gilt236, interessiert in »Der Weg zur Tragödie«, was in der Moderne an die Stelle des Schicksals treten kann und damit den tragischen Konflikt und mithin die moderne Tragödie ermöglicht237 – was ja schließlich das Ziel aller Vertreter der »Neuklassik« gewesen ist. Lublinski zeigt sich eingangs skeptisch bezüglich der Dramatizität der Gegenwart: Alles ist geordnet, organisiert und sozialisiert, intellektuell geworden, und sogar Revolutionen, wie das Beispiel von Rußland beweist, geben sich weit mehr als Massenerscheinungen von einem bewegten aber monotonen Wellenschlag, als daß sie sich in antithetisch-dramatischen Persönlichkeiten verkörperten. Es ist darum kein äußerlichhistorischer Grund vorhanden, um die dramatische Form aus andern Ursachen zu pflegen als um ihrer ästhetischen Wesenheit willen.238
In dieser Passage findet sich das grundlegende, klassizistische Axiom der Dramatik Lublinskis: Anstelle der Darstellung sozialer Probleme oder Thematisie-
232
233 234 235 236 237 238
Unter Mitarbeit von Laure Hauthier. Band 11: Klassiken, Klassizismen, Klassizität. Betreut von Roland Krebs, Krysztof Lipinski und Wilhelm Voßkamp; Kulturmetropole Paris im Zeichen der Moderne. Betreut von Willi Bolle, Bernhard Böschenstein, Manfred Engel und Gérald Stieg; Der Streit um die literarische Moderne. Betreut von Gerhard Neumann, Erika Tunner und Ralf Zschachlitz. Bern 2008, S. 361–365). Zitiert unter der Sigle (Pe) nach Lublinski, Samuel: Peter von Rußland. Tragödie in fünf Akten und einem Vorspiel. München / Leipzig 1906. Eine Uraufführung hat der Text nicht erlebt, wie auch die anderen fünf Tragödien, mit Ausnahme seiner letzten, »Kaiser und Kanzler« (erschienen 1910, uraufgeführt 1913 in Heidelberg), ohne Aufführung geblieben sind. Lublinski, Samuel: Der Weg zur Tragödie. In: Ders.: Peter von Rußland, S. 5–20. Vgl. Lublinski, Samuel: Die Bilanz der Moderne [1904]. Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Gotthart Wunberg. Tübingen 1974, hier: S. 366–368. Wunberg: Samuel Lublinskis literatursoziologischer Ansatz [1974], S. 250. Wunberg: Samuel Lublinskis literatursoziologischer Ansatz [1974], S. 231f. Vgl. auch Lublinskis vierbändige literaturhistorische Arbeit zu »Litteratur und Gesellschaft im 19. Jahrhundert« (Berlin 1899–1900). Vgl. Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 9. Ebd., S. 10.
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rung tagesaktueller Probleme hat das Drama den Widerstreit einzelner, ›großer‹ Persönlichkeiten nach Art der Klassiker darzustellen. Als historische Leistung des Naturalismus, den er mit dem sozialen Drama identifiziert, wird indessen ausgewiesen, eine erste Antwort auf die Frage nach dem Äquivalent des Schicksals in der Moderne gegeben zu haben: Dies sei der »soziale Organismus«239, der im Text fortan als »Gesellschaft«240 bezeichnet wird. Obwohl diese Bestimmung gelten gelassen wird, hat sie doch ihre Grenze, denn »wie bringt das Drama ein solches Schicksal an einem Starken und Großen zur Darstellung? Wie kann einer ein wahrhaftiger Held sein, während er dennoch den Gesetzen der Gesellschaft erliegt?«241 Hier setzt sich eine Kombination von nietzscheanisch inspiriertem Individualismus mit marxistischer Soziologie fort, die bereits in der »Bilanz« unversöhnt geblieben ist.242 Zwar präsupponiert der Essay die nivellierende243 Prägekraft der ›Gesellschaft‹, setzt deren Einfluss aber für ›wahrhaftige Helden‹ aus, da gleichzeitig an einem starken Individualismus-Konzept festgehalten wird, der für die Tragödie als unabdingbar angesehen wird. Die Frage stellt sich nun, wie ein Protagonist zugleich von ›Gesellschaft‹ affiziert und dennoch autonom sein kann. Die Lösung, deren Geltung Lublinski selbstbewusst als unanfechtbar bezeichnet244 ist die, den großen Einzelnen als »eigentliche[n] Vertreter […] einer Kultur, eines Jahrhunderts, eines Volkes«245 zu konstruieren, der von der Gesellschaft nicht verstanden wird und deshalb scheitern muss. Damit erreiche man die »vollkommenste Harmonie zwischen Sozialismus und Individualismus«: »[D]ie Gesellschaft sucht sich einen Einzelnen aus, der ihr Beauftragter wird, der sie zu Ende denkt und handelt«246 – und scheitern muss, weil das »Kollektivwesen […] in animalisch-natürlichen Lebensbedingungen befangen«247 bleibt, während der ›große Einzelne‹ den Weg bis zu seinem notwendigen Untergang weiter gehen will.248 Dass Lublinski für sein Modelldrama einen his239 240 241 242 243 244 245 246 247 248
Ebd., S. 11. Ebd., S. 13 et passim. Ebd., S. 13. Vgl. Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik, S. 89f. »Gesellschaft hat gemäß ihrem Wesen etwa durchaus Nivellierendes« (Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 13). Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17f. Ebd., S. 18. Explizit beruft sich Lublinski auf das Tragödienkonzept von Wilhelm von Scholz, dessen Konzept der ›Notwendigkeit‹ die in der »Bilanz« mit dem Begriff der ›Gemütswucht‹ bezeichnete Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen Individuum und gesellschaftlichen Zwängen verdrängt hat (vgl. Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik, S. 107f.). Wöhrmann betont überdies als erster die große Bedeutung des Hebbelschen »Pantragismus« für die »Neuklassik«, die allerdings allein für dessen Tragik-Konzept und nicht für dessen Dramen gegolten hat (vgl. ebd., S. 117–126, bes. S. 117).
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torischen Stoff wählt, wird damit legitimiert, dass die Historie, »angesehen mit den Augen des modernen Soziologen«, den Grundkonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft »in großstiligerer und reinerer Form, als es in den bürgerlichen Verhältnissen unserer Tage möglich scheint«249, darstellen kann. Die Stoffwahl fiel auf den ersten autokratisch herrschenden Zaren Russlands, Peter I., genannt ›der Große‹. Diese Wahl ist signifikant, und zwar in mehrerer Hinsicht. So legitimiert die Option für den Hochadel stilistisch den Rekurs auf das hohe Genus der haute tragédie sowie dramaturgisch den Anschluss an das Königsdrama, wovon Lublinski offensichtlich Gebrauch macht. Ferner scheint in der Titelfigur die Möglichkeit auf, den ›aristokratischen Individualismus‹, den Lublinski in den programmatischen Schriften propagiert hat, dramatisch zu realisieren und ihn als Führerfigur zu imaginieren.250 Zuletzt, und für die folgende Untersuchung wohl am wichtigsten, kann man die Wahl des russischen Monarchen als Reaktion auf die russische Revolution von 1905 lesen, die ja, wie es in der oben zitierten Passage heißt, als ›Massenerscheinung‹ und demnach ›undramatisch‹ verlaufen ist, aber die Frage aufwirft, wie innerhalb der »sehr barbarische[n] Welt« Russlands Herrschaft überhaupt möglich ist. In Peter von Rußland wird diese Frage resemantisiert zu einem zivilisatorischen Problem: »[W]ie hören sie [die Russen. PB] auf Barbaren zu sein, wie werden sie Europäer?«251 Die Frage der Führung des russischen Volkes wird vor der Folie einer aus den Monarchendramen Shakespeares und Schillers vertrauten Dramaturgie der wechselseitig intrigierenden Fraktionen bearbeitet. Hier verbinden sich die amourösen Verstrickungen und Ängste vor Privilegienverlust mit der grundlegenden Alternative von europäischem und ›altrussischem‹ Kurs, wobei jener mit Peter und dieser mit dem Kronprinzen Alexej personalisiert wird. Geradezu penetrant ist hierbei der Ausweis der barbarischen ›russischen Seele‹, der sich besonders in mangelnder Affektkontrolle und damit einhergehenden ständigen Stimmungsumschwüngen (Pe 25f. u. 38 unter vielen anderen) und Gebrauch der Folter (etwa Pe 44, Pe 161 u. der vierte Akt, 185–216) kundtut, aber auch von den Figuren selbst immer wieder geäußert wird. Auffällig ist dabei, dass der Zar selbst solche Verurteilungen ausspricht – »Wir Russen, wir Barbaren.«; »Diese Russen. Man könnte vor Hoffnungslosigkeit vergehen.« (Pe 33 bzw. 172) –, aber nach seinem Verhalten und der Einschätzung seiner zweiten Frau Katharina (Pe 193) kein Unterschied zwischen ihm und seinem Volk auszumachen ist. Peter, der sich selbst als »plebejischer Kaiser« (Pe 197) apostrophiert, legitimiert seinen Herr249 Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 15. 250 Die Orientierung an Nietzsche wird deutlich in Formulierungen wie: »Wer an der Spitze steht, muß den Willen zur Herrschaft in sich fühlen« – wobei eingeschränkt wird, dass dieser Herrschaftsanspruch nur legitim ist, wenn zugleich »das Kräftespiel der Wirklichkeit« durchschaut wird (Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 16f.) 251 Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 20.
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schaftsanspruch nicht durch die Zugehörigkeit zum altrussischen Adel oder durch das Befolgen des hochadligen Habitus – vielmehr nivelliert er dessen Distinktionsbewusstsein, indem er ihn mit Abkömmlingen von Leibeigenen verheiraten lässt (Pe 66–69). Sein Aristokratismus speist sich vielmehr aus einem radikalen, geradezu hypertrophen Individualismus. So offenbart er seinen autokratischen und im Foucaultschen Sinne vormodernen252 Herrschaftsanspruch etwa darin, Alexejs tiefgläubigen Diener zum Militärdienst zu zwingen (Pe 30– 32), einen Parteigänger, der Gelder veruntreut hat, wider die Staatsräson zu begnadigen (Pe 58) und besonders, den zweiten Großen Nordischen Krieg trotz hoher Opferzahlen weiterzuführen, da er Russland an Europa binde (Pe 38–40). Sein Anspruch, »dieses Rußland in die Höhe« (Pe 73) bauen zu lassen und es zu modernisieren (Pe 197), verfolgt er ohne Rücksicht auf das Volk: »Das heilige Rußland […] kann eine Million Leichen ruhig auf der Landstraße verfaulen lassen, das bedeutet gar nichts. Aber Luft muß mein Land haben und Türen und Fenster.« (Pe 39). Der radikale Autokratismus des Zaren zeigt sich gegen Ende, wenn er einen Spiegel seiner Gemahlin zerschlägt, den er ihr selbst geschenkt hat und kommentiert: »So kann ich Menschen zertrümmern, wenn ich will.« (Pe 230). Er beschreibt den militärischen und zivilisatorischen Fortschritt als Resultat seiner eigenen Willensleistung: »Nie wäre auch nur ein Boot meiner Flotte entstanden, hätt ich nicht selbst gezimmert. Nie wird man hier zu Land wissen, was eine unnachsichtige Justiz heißt, wenn ich nicht selbst foltere und knute…« (Pe 197). Selbst der als landestypisch ausgewiesene Branntweingenuss hat ihn kraft seines Willens nicht von der Arbeit abhalten können (Pe 29). Sowohl die Repliken als auch sein Verhalten betonen also weniger sein Gottesgnadentum als den »furchtbar gewaltigen Arm«, mit dem der Zar in der Lage ist, in Russland das Übel »herauszureißen« (Pe 205). Neben diesem nietzscheanischen Individualismus partizipiert die Darstellung des Zaren erkennbar an dem besonders im 19. Jahrhundert virulenten Phantasma des ›großen Mannes‹, das ja ein schlagendes Beispiel für die in diesem Jahrhundert »zugleich zentrale und intrikate Kopplung von ›Größe‹ und ›Individualität‹«253 abgibt. Die Semantik des ›großen Mannes‹ hat sich nicht zufällig gleichursprünglich mit der der modernen ›Masse‹ gebildet, ist sie doch als »Widerlager einer in Masseneffekten sich nivellierenden Welt« zu sehen, die durch die »Einführung einer radikalen qualitativen Diskontinuität zu allen anderen Menschen«254 zumindest imaginativ überwunden werden soll. Aus dieser Perspektive erweist sich die Rücksichtslosigkeit der Ti252 Peters Herrschaft basiert schließlich nicht in erster Linie auf gouvernementaler Lenkung der Untertanen, sondern auf Entzug ihres Lebensrechts durch Tötungen und Folterungen (vgl. Foucault, Michel: Recht über den Tod und Macht zum Leben. In: Folkers, Andreas / Lemke, Thomas (Hg.): Biopolitik. Ein Reader. Berlin 2014, S. 65–87, hier: S. 66). 253 Gamper: Ausstrahlung und Einbildung, S. 173. 254 Ebd., S. 177.
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telfigur weniger als Ausdruck seiner ›russischen Seele‹, sondern dient der Darstellung seiner Exemplarität: Dem ›großen Mann‹ gelten eigene Regeln. Es deutet bereits seine Gelassenheit angesichts des millionfachen Todes seiner Untertanen darauf hin, in welcher Beziehung der Zar zum russischen Volk steht (Pe 39, 56). Besonders eindringlich wird diese Beziehung in einer Szene thematisiert, die auch dramenstrukturell heraussticht. In Unterbrechung des für Königsdramen typischen Wechsels der Szene zwischen Privaträumen und Orten monarchischer Repräsentanz wie einem Audienzsaal und – in diesem Stück – einer Folterkammer (!) findet im dritten Akt die einzige offene Verwandlung innerhalb einer Szene statt, die den Zaren mit seinem engsten Berater Menschikoff auf einen »größere[n] Platz vor einer Kirche in Moskau« (Pe 162) führt. Bevor beide auftreten, spielt sich eine Volksszene shakespearischer Tradition ab, die offenbar Aberglauben, Dummheit, Trunksucht und Gewaltbereitschaft der Bevölkerung exemplarisch in Szene setzen soll (Pe 162–170). Die Szene endet damit, dass einem jüdischen Händler Wucher vorgeworfen wird und ihn deshalb ein betrunkener Bauer erschlägt (Pe 169), woraufhin sich »Weiber« über den Leichnam hermachen, was in einer »allgemeine[n] Schlägerei« (Pe 170) mündet. Die in dieser Passage auffällige Bezeichnung der ›Weiber‹ als »betrunkene[] Tiere« (Pe 170) wird von Peter aufgegriffen, der seinen inneren Auftrag als Versuch formuliert, »aus diesen Menschen, die wilde Tiere sind, Menschen zu machen«, was von Menschikoff sekundiert wird, der den Zaren daran erinnert, dass er aus diesen Menschen »erst ein Volk machen« (Pe 171)255 wollte. Die in der allgemeinen Schlägerei konstituierte »Menge« (Pe 178), deren weiblicher Charakter auch in einem weiteren Menschenauflauf betont wird (Pe 178f.), deckt sich in ihrem Verhalten mit der zeitgenössischen Semantik von ›Masse‹: unberechenbare Gewalttätigkeit und Atavismus, Emotionalität und Wankelmütigkeit – also im Grunde Formlosigkeit. Der Umstand, dass diese von ›Weibern‹ angeführt werden, lässt sich mit der in der Massen-Semantik oft anzutreffenden, die geläufige asymmetrische Geschlechteranthropologie refunktionalisierenden Verweiblichung der ›Masse‹ als Aufweis der ihr unterstellten Irrationalität deuten.256 Wichtiger scheint im Text die Funktionalisierung von Feminität als Merkmal der ›Masse‹ zur Kontrastierung mit derjenigen Kollektivfigur zu sein, der sich Zar Peter zuordnet: dem ›männlichen‹ Militär. Das Verhalten der Soldaten wird schon mit dem ersten Auftreten eines Hauptmanns dem ›der Straße‹ entgegengesetzt: Während Peter dort als ›Antichrist‹ verschrien wird, versichert ihn der Soldat der Treue des Heeres (Pe 40–42). Es sind Soldaten, die die ›Menge‹ 255 Es sei erwähnt, dass der Volks-Begriff in Peter von Rußland nicht einheitlich gebraucht wird und ›Volk‹ nur an dieser Stelle explizit als besondere, qualitativ von anderen verschiedene Form von Sozialität semantisiert ist. 256 Vgl. bes. König: Zivilisation und Leidenschaften, S. 157–168.
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während des Menschenauflaufs zurückdrängen und seine Befehle, etwa, einen Dissidenten vor den Augen aller zu verbrennen, ohne Widerworte ausführen (Pe 177f.). Als er auf die Menge trifft, macht er unter ihnen potentiell »prächtige Rekruten« (Pe 174) aus und zeigt ihnen mittels eines »exakt ausgeführt[en]« (Pe 175) militärischen Kommandos sein Ideal soldatischen Gehorsams, was einer von ihnen zustimmend kommentiert: »So schöne gerade Stöcker, das ist hübsch.« (Pe 175). Das Ideal der militärischen Formung ist es, das aus ›barbarischen Russen‹ ›Menschen‹ macht. Als der Zar einem Soldaten einen Befehl gibt und dieser ihn dienstwillig entgegennimmt, sagt er: »Dieser Mann ist nach meinem Herzen. Zuverlässig und gar nicht wie ein Russe.« (Pe 75). Das Ziel, das Peter also mit dem unausgesetztem Kriegführen letztlich verfolgt, ist, aus Millionen von ›Barbaren‹ Soldaten zu machen, mithin also aus ›Masse‹ ein ›Soldatenvolk‹ zu formen. Er gerät gegenüber seinem ihm opponierenden Sohn Alexej erst in Wut, als dessen Geliebte behauptet, er habe Heer und Flotte auflösen und die Eroberungen zurückgeben wollen (Pe 209f.), und dessen Schicksal ist erst besiegelt, als er sagt: »Und Deine Soldaten sollen ausgerottet werden und Deine Fenster zugenagelt, damit wir Russen wieder beten können« (Pe 213). Dass der Akt der militärischen ›Formung‹ in der oben geschilderten Szene von Peter mittels des Stocks selbst ausgeführt wird, darf als Inszenierung des Anspruchs gelesen werden, Urheber dieser ›Formung‹ zu sein. Zwar bedeutet dieser Anspruch die Disziplinierung des undisziplinierten russischen Volkes, doch kann von Disziplinierung im Foucaultschen Sinne nicht die Rede sein. Die als Disziplinierung semantisierte Modernisierung seines Landes will Peter mit den Mitteln vormoderner Souveränität erreichen. Der ›barbarische‹ Zustand seiner Untertanen lässt aus seiner Sicht keine andere Politik zu. Zum Abschluss sei die Funktion von ›Masse‹ im Stück reflektiert. Obwohl sie aus historischen Gründen in Peter von Rußland anders als in den drei übrigen Dramen des Kapitels nicht als ›moderne Masse‹ szenisch repräsentiert wird, so deutet doch die shakespearisierende Dramatisierung der Menschenmenge im dritten Akt darauf hin, dass funktional äquivalente Sozialformen selbst in der auf den Konflikt ›großer‹ Einzelfiguren beharrenden Tragödie der Neuklassik ›tragödientauglich‹ sind, solange sie in auf Einzelfiguren zugerechnete Formungsnarrative eingebunden werden. Solange der ›große Mann‹ über sie verfügen kann, sind ›Masse‹ und Tragödie keine Widersprüche. Die vermeintlich auf Überzeitlichkeit verpflichtete neuklassische Tragödie erhält durch diese Thematisierbarkeit des Sozialen geradezu sozialpolitische Relevanz. Es sollte gezeigt worden sein, dass im Stück mit der Alternative ›Barbarei‹ oder ›Europa‹ letztlich zwei Formen von Sozialität aufgerufen werden. Die ›Option Europa‹ zeigt sich bei Lublinski als ordnungspolitische Vorstellung, die mittels Formung durch den ›großen Mann‹ ›Masse‹ in ›Volk‹ überführen will. Zwar muss Peters Anspruch aufgrund der erwähnten tragödientheoretischen
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Axiomatik scheitern, doch erscheint seine Herrschaftsform vor dem Hintergrund der Gegenposition einer reaktionären Religiosität als einziges Sozialmodell, das Russland (und Europa) vor dem hätte bewahren können, was 1905 historisches Faktum geworden ist – einer Revolution durch »Massenerscheinungen«.257
3.1.5 Individualität durch ›Masse‹? Georg Kaisers Gas (1918) Mit Georg Kaisers im Frühling 1918 fertiggestellten und im selben Jahr in einer Simultanpremiere in Düsseldorf und Frankfurt a.M. uraufgeführten expressionistischen Drama Gas258 ist im Vergleich zu Lublinskis Tragödie von 1906 ein dramaturgischer wie historischer Sprung verbunden, der für die Thematisierung und Dramatisierung von ›Masse‹ von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Der historisch wichtigste Einschnitt ist hierbei – neben der russischen ›Oktoberrevolution‹ von 1917259 – der Erste Weltkrieg260 gewesen, der die Erfahrung technologisch hochgerüsteter Massenarmeen und einer kriegsbedingt überaus intensiv betriebenen Schwerindustrie, mithin also die Macht moderner Technik und Industrie, ins allgemeine Bewusstsein gerückt hat – was die ab etwa 1910 auftretende expressionistische Literaturbewegung nachhaltig geprägt hat.261 Die expressionistische Dramatik und ihre Theaterpraxis reagierten auf die nach anfänglicher Begeisterung durch den Kriegsverlauf als drohend empfundene Legitimations-262 und »Funktionskrise der Literatur«263 unter anderem mit einer 257 Lublinski: Der Weg zur Tragödie, S. 10. 258 Kaiser, Georg: Gas [1918]. Schauspiel in fünf Akten. In: Ders.: Werke. Zweiter Band: Stücke 1918–1927. Hgg. v. Walther Huder. Berlin [u. a.] 1971, S. 9–58 (Im Text nachgewiesen unter der Sigle Ga). 259 Die sowjetische Revolution hat besonders den deutschen Zeitgenossen als »the ultimate ›revolt of the masses‹« gegolten (Jonsson: Neither masse nor individuals, S. 285). Diese eher politische Perspektive auf ›Masse‹ dominiert bei Tollers Masse Mensch (s. u.). 260 Vgl. Vogl, Joseph: Krieg und expressionistische Literatur. In: Hansers Sozialgeschichte. Bd. 7: Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus 1890–1918. Hgg. v. York-Gothart Mix. München/Wien 2000, S. 555–565, hier: S. 562–565. Vgl. auch Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 763–829. 261 Vgl. Daniels, Karlheinz: Technik und Expressionismus. In: Rothe, Wolfgang (Hg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern [u. a.] 1969, S. 171–193. Zu Kaiser vgl.: Segeberg, Harro: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987, bes. S. 209–258 sowie ders.: Simulierte Apokalypsen. Georg Kaisers ›Gas‹-Dramen im Kontext expressionistischer Technik-Debatten. In: Großklaus, Götz / Lämmert, Eberhard (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart 1989, S. 294–313. Die in Gas formulierte ›Technikkritik‹ wird indes nur dort behandelt, wo die Funktion dieser Technik und ihre Relation zur ›Masse‹ thematisiert werden. 262 Siehe bes. Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität.
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merklichen »Politisierung der Bühne«264, die sich in einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Phänomen der ›Masse‹ und ihrem Verhältnis zum Individuum niederschlug. Zur Überwindung dieser Differenz diente nicht selten die Verkündigung von Gemeinschaftsutopien sowie besonders des (säkularisierten) Neuen Menschen.265 Die Unbestimmtheit und Abstraktheit dieser Konzepte war wesentlich für ihre integrative Kraft. Zur Dramatisierung von Verkündigungsszenen war das expressionistische Drama nicht zuletzt durch die enge dramaturgische Bindung an die Theaterreformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts besonders geeignet, deren Opposition zu mimetischen Theaterkonzepten geteilt wurde und welche durch die theatralische Aufwertung von Bühnenform, Licht und Schauspielerkörper neue Ausdrucksmöglichkeiten für expressive und visionäre Tonlagen ermöglichten.266 Zudem muss an das Aufkommen der Massenregie (s. o.) erinnert werden, das der dramatischen Repräsentation von ›Masse‹ theatrale Realisierungsoptionen bereitstellte, welche sicherlich auf den chorischen Charakter der dramatisierten ›Masse‹ im Expressionismus rückgewirkt haben. Diese innovativen Theaterkonzepte haben besonders nach dem Ende des Ersten Weltkrieges weite Verbreitung gefunden und dafür gesorgt, dass auf die hier betrachteten Texte die zeitliche Trennung von Produktion und Rezeption, die die expressionistische Dramatik bis 1918 kennzeichnete, nicht mehr zutraf.267 Vor dem Hintergrund dieser Konstellationen seien im Folgenden Kaisers Gas und Tollers Masse Mensch analysiert. Georg Kaiser nahm in der durch eng verbundene Gruppierungen und Publikationsgemeinschaften268 – etwa um die Zeitschrift »Der Sturm« – geprägten expressionistischen Literaturformation eine »Sonderstellung«269 ein. Ein gruppensoziologischer Grund dafür war seine – vielleicht auch seinem vergleichs-
263 Vogl: Krieg und expressionistische Literatur, S. 558. 264 Grunow-Erdmann, Cordula: Die Dramen Ernst Tollers im Kontext ihrer Zeit. Heidelberg 1994, S. 67. 265 Küenzlen, Gottfried: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. Frankfurt a.M. 1997. Zum Zusammenhang zwischen Neuer-MenschPhantasma und Körperkultur seit dem Kaiserreich vgl. Wedemeyer-Kolwe, Bernd: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg 2004. 266 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: Dramatik des Expressionismus. In: Hansers Sozialgeschichte. Bd. 7: Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus 1890–1918. Hgg. v. York-Gothart Mix. München / Wien 2000, S. 537–554. Vgl. auch Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 308–319. 267 Vgl. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933, S. 176. 268 Vgl. nur Anz, Thomas: Literarischer Expressionismus. 2., aktualisierte und erweitere Auflage. Stuttgart / Weimar 2010, hier: S. 26–31. 269 Vgl. Denkler: Drama des Expressionismus, bes. S. 108–252, hier: S. 252.
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weise hohen Alter270 zuzurechnende – Weigerung, sich einer bestimmten Gruppierung anzuschließen, sowie generell seine Distanz zu den Akteuren dieses literarischen Feldes.271 Zudem konnte aus der Perspektive des radikalen »Sturm«Expressionismus Kaisers Festhalten an Figuren und Figurenkonstellation nur als Inkonsequenz oder gar als ›Trittbrettfahrertum‹ erscheinen.272 Es ist aber diese Autonomie gegenüber der expressionistischen ›Szene‹, die es erlaubt, Kaisers Drama weniger an einem aus Einzeltexten destillierten expressionistischen Basis-Modell273 oder an dominanten Typen wie Verkündigungs-274 oder Wandlungsdrama275 zu messen, als in der eigenständigen Verarbeitung zeittypischer Semantiken.276 Gerade seine dramaturgische und intellektuelle Eigenständigkeit ist es, die ihn für dramatische Formlösungen für zeitgenössische Semantiken besonders geeignet gemacht hat. Der intellektuelle Gehalt von Georg Kaisers Dramatik ist für die eingangs skizzierte Gemengelage aus Zeitdiagnostik und Utopismus überaus aufschlussreich, weil er in synkretistischer Weise277 zeitgenössische Technikkritik, Sozialreformismus und Individualismus miteinander konfrontiert. Dieser Synkretis-
270 Der literarische Expressionismus war eine eminent junge und sich als solche verstehende Formation (vgl. Anz: Literarischer Expressionismus, S. 31), so dass der 1918 bereits 40jährige Kaiser auch insofern einen Außenseiterstatus besaß. 271 Vgl. Ritchie, James M.: Georg Kaiser und das Drama des Expressionismus. In: Hinck, Walter (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 386–400, hier S. 386. 272 Vgl. Kafitz, Dieter: Zwischen Avantgarde und kollektivem Diskurs. Zur Massendarstellung und Lichtmetaphorik in den Dramen Georg Kaisers. In: Mennemeier, Franz Norbert / Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Drama und Theater der europäischen Avantgarde. Tübingen 1994, S. 67–90, S. 71. 273 Vgl. Titzmann, Michael: Das Drama des ›Expressionismus‹ im Kontext der ›Frühen Moderne‹ und die Funktion dargestellter Delinquenz. In: Linder, Joachim (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999, S. 217–272, bes. S. 218–239. 274 Vgl. Lämmert, Eberhart: Das expressionistische Verkündigungsdrama. In: Steffen, Hans (Hg.): Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen 1970, S. 138–156; Vietta/ Kemper: Expressionismus, S. 195–204. 275 Vgl. Denkler: Drama des Expressionismus; Siebenhaar, Klaus: Klänge aus Utopia. Zeitkritik, Wandlung und Utopie im expressionistischen Drama. Berlin / Darmstadt 1982. 276 Diese Vorgehensweise nimmt Krauses Vorschlag auf, Kaisers Texte anders als die Forschung der 1970er Jahre nicht mehr ausschließlich vor der Folie des Expressionismus zu lesen und damit neue Perspektiven auf dessen Texte zu gewinnen (Krause, Frank: Georg Kaiser and Modernity. Tendencies and Perspectives of Current Research. In: Ders. (Hg.): Georg Kaiser and Modernity. Göttingen 2005, S. 9–28, hier S. 11), wofür der von ihm herausgegebene Sammelband Impulse bietet. In der neueren Forschung lässt sich zudem ein stärkeres Interesse an Kaisers nachexpressionistischer Dramatik ausmachen, wie etwa die Arbeit von Sander belegt (vgl. Sander, Marcus: Strukturwandel in den Dramen Georg Kaisers 1910– 1945. Frankfurt a.M. [u. a.] 2004). 277 Vgl. Bayerdörfer: Dramatik des Expressionismus, S. 542.
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mus basiert auf Übernahmen aus Walther Rathenaus Texten278, der in einer Reihe von Schriften die Mechanisierung des Menschen durch die moderne Arbeitswelt diagnostizierte, und aus Gustav Landauers Schriften279, dessen nicht-marxistischer Sozialismus neben anarchistischen Momenten einen starken individualistischen Kern aufwies, welcher sich mit dem Nietzsche des »Zarathustra« verbinden ließ.280 Konkret realisiert wurde dieser Zusammenhang in Kaisers expressionistischen Dramen der 1910er Jahre, besonders in der sog. »GasTrilogie«281, die in immer verdichteter und abstakterer Form in ihrem – hier nicht behandelten – dritten Teil zur Darstellung eines Krieges zwischen »Gelbfiguren« und »Blaufiguren« führt und schließlich im Weltuntergang endet (»Gas. Zweiter Teil«, 1920). Im mittleren Stück, Gas, ist die Dichotomie von Individualismus und Sozialismus am deutlichsten thematisiert und auf die figurale wie strukturelle Opposition von Individuum und Kollektiven unterschiedlicher Art übertragen worden. Schon seit langem ist die Dramatisierung dieser Opposition als spezifische Leistung des literarischen Expressionismus und besonders von Kaisers »Gas«-Trilogie kanonisiert282 – was zwar, wie gezeigt worden ist, mindestens aufgrund der Weber differenziert werden muss, gleichwohl aber auf die dramaturgisch konsequente Verwendung der ›Masse‹ besonders im 4. und 5. Akt von 278 Vgl. Kauf, Robert: Georg Kaiser’s social tetralogy and the social ideas of Walther Rathenau. In: Publications of the Modern Language Association of America 77,3 (1962), S. 311–317. 279 Vgl. Durzak: Das expressionistische Drama, S. 156f. u. bes.: Williams, Rhys W.: Der werdende Mensch. Georg Kaiser and Gustav Landauer. In: Krause (Hg.): Georg Kaiser and modernity. Göttingen 2005, S. 75–88. 280 Vgl. allg. Kuxdorf: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers, bes. S. 15–17 und zu Kaisers Nietzsche-Reflexion: Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, S. 24–26. 281 Zunächst wurden die Dramen »Die Koralle«, Gas und »Gas. Zweiter Teil« in Verbindung mit »Von morgens bis mitternachts« als ›soziale Tetralogie‹ bezeichnet (vgl. Diebold, Bernhard: Der Denkspieler Georg Kaiser. Frankfurt a.M. 1924, S. 53 (Kapiteltitel)). Heute hat sich allerdings die Verbindung der drei erstgenannten Texte zur »Gas-Trilogie« durchgesetzt, ein Begriff, den Kaiser selbst – wenn auch nur vereinzelt und retrospektiv – selbst verwendet hat, wobei die dramaturgische Divergenz der Teile darauf hindeutet, dass sie nicht geplant gewesen ist (vgl. Faul, Eckhard: Nachwort. Koralle und Gas: eine Trilogie? In: Kaiser, Georg: Gas / Gas. Zweiter Teil. Hgg. v. Eckhard Faul. Stuttgart 2013, S. 154–167, hier: S. 154). Davon unabhängig soll im Text erwiesen werden, dass es aufgrund textueller Hinweise unumgänglich ist, die genannten drei Stücke als zusammenhängend zu behandeln. 282 Vgl. Hohendahl, der den Zusammenhang als so bedeutsam einschätzt, dass die expressionistischen ›Massen‹-Dramen als »versteckte Ich-Dramen« bezeichnet werden könnten (Hohendahl, Peter Uwe: Das Bild der bürgerlichen Welt im expressionistischen Drama. Heidelberg 1967, hier: S. 127, FN 59). Vgl. ferner Meixner, Horst: Drama im technischen Zeitalter. Die expressionistische Innovation. In: Ders. / Vietta, Silvio (Hg.): Expressionismus – sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. Mannheimer Kolloquium. München 1982, S. 30–40, hier S. 39. Zur Dichotomie von ›Ich‹ und ›Masse‹ speziell bei Kaiser vgl. bes.: Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. Zum dramatischen Werk Georg Kaisers. Kronberg/Ts. 1978.
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Gas aufmerksam macht, die im Folgenden besonders intensiv zu begutachten sein wird. Dass in Gas überhaupt eine Figur auftritt, deren Konzeption die Zuschreibung ›Individuum‹ legitimiert, dürfte erklärungsbedürftig sein – schließlich ist das Stück in seinem Personal von Abstraktion als dem Schlüsselmerkmal283 expressionistischer Dramatik geprägt. Die einzige Figur, die dafür überhaupt in Frage kommt, ist der Protagonist, der »Milliardärssohn«. Die Figur verfügt also nicht über einen Eigennamen, worin er den übrigen gleicht. Allerdings handelt es sich auch nicht um eine Funktionsbezeichnung wie bei den exemplarischen Einzelfiguren – dem »Offizier«, dem »Ingenieur«, dem »Schreiber«, noch um den Repräsentanten eines Kollektivs wie die »schwarzen Herren« oder die »Arbeiter«. Die familiale Bezeichnung ist hingegen kein Alleinstellungsmerkmal des Protagonisten, da etwa das »Mädchen«, die »Mutter« und die »Frau« als Schwester, Mutter und Ehefrau eines Arbeiters auftritt – und nicht zuletzt die Tochter des Milliardärssohnes als »Tochter« szenisch präsent ist. Der entscheidende Grund dafür, dass man den Milliardärssohn dennoch als tendenziell individualisierte Figur beschreiben muss, ist der, dass er eine Biografie hat. Mit dieser Figur ist eine Kontinuität zum Vorgängerstück »Die Koralle« vorhanden, in der der Sohn des Milliardärs bereits auftritt. Am Ende von Gas wird seine Tochter verkünden, den Neuen Menschen gebären zu wollen, was in »Gas. Zweiter Teil« durch die Figur des »Milliardärarbeiters« realisiert wird. Darüber hinaus ist der Milliardärssohn die einzige Figur, die Vorstellungen artikuliert, welche nicht durch seine Tätigkeit determiniert sind – wodurch diese Vorstellungen in Relation zu den übrigen Figuren als autonome Denkleistungen markiert werden. Der Umstand, dass der Protagonist des hier interessierenden Stücks eine (Familien-) Geschichte hat, indem er in einem assoziierten Stück vorgekommen ist und dass er Vorstellungen vertritt, die sich nicht aus seiner funktionalen Position heraus erklären lassen, unterscheidet ihn radikal von den übrigen Figuren (mit Ausnahme von seiner Tochter, was wichtig sein wird). Überdies deutet auch das dem Stück vorangestellte Motto, ein Zitat aus der »Koralle«, auf eine individualistische Perspektive hin: Milliardär. Aber die tiefste Wahrheit, die findet immer nur ein einzelner. Dann ist sie so ungeheuer, daß sie ohnmächtig zu jeder Wirkung ist! (Ga 9)
Mit dieser Replik ist im Grunde der Verlauf des Stückes bereits vorweggenommen: Das Stück behandelt die ›tiefste Wahrheit‹, die der Milliardärssohn ›ge283 Vgl. Zˇmegacˇ, Viktor: Zur Poetik des expressionistischen Dramas. In: Grimm, Reinhold (Hg.): Deutsche Dramentheorien II. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Wiesbaden 1971, S. 482–515, hier: S. 496.
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funden hat‹ – und sein Scheitern angesichts der ›ungeheuren‹ Radikalität dieser Einsicht. Sollte dies recht ideendramatisch anmuten, so trügt dieser Eindruck nicht. Dass sich die schon 1921 gewählte Bezeichnung des »Denkspielers«284 (für den Dramatiker Georg Kaiser von 1910–1920) bis in die Gegenwart gehalten hat, kann angesichts der Anlage von Gas nicht verwundern. Die Tendenz zum dramatisierten Gedankenexperiment285 offenbart sich in den im Text explizierten Voraussetzungen in der Diegese des Stücks, die die dezisionistische Zuspitzung des Stücks zum Ende hin erst ermöglichen. Um die Funktion dieser Rahmenbedingungen jedoch verdeutlichen zu können, muss zunächst an den Plot erinnert werden: Der Sohn des Milliardärs hat das Werk seines Vaters sozialisiert und teilt sich mit den Arbeitern den Gewinn. Durch die neuartige Beteiligung der Arbeiter hat sich die Produktion von Gas im Werk ins Höchstmögliche gesteigert. Ein Unfall, der zu einer das gesamte Werk zerstörenden Explosion führt (1. Akt), gibt Anlass zu dem Plan des Milliardärssohnes, auf dem Gelände des zerstörten Werks eine Art Gartenstadt entstehen zu lassen, in der die Arbeiter zu ›ganzen‹ Menschen werden können (2.–4. Akt). Dieses Vorhaben wird von allen Figurengruppen abgelehnt, besonders heftig durch den Regierungsvertreter im Schlussakt. Auch der Ingenieur, den die Arbeiter als Reaktion auf den Unfall entlassen wollten, der aber darauf beharrt, dass die von ihm errechnete Formel zur Gasproduktion stimmt, tritt für den Wiederaufbau des Werkes ein und überzeugt die ›Masse‹ der Arbeiter in einem Rededuell mit dem Milliardärssohn davon (4. Akt). Schließlich muss dieser sein Scheitern einsehen, was sich jedoch dadurch relativiert, dass seine Tochter, deren Mann (›Der Offizier‹) aus Offiziersethos Selbstmord verübt hat, ihm die Geburt des Neuen Menschen verkündet (5. Akt). Die erwähnten Rahmenbedingungen dieses Plots werden im Text an unterschiedlicher Stelle von den ›Eliten‹ (Ingenieur, Industrielle, Regierungsvertreter) expliziert und lassen in ihrer Häufung die Funktion der Zuspitzung der Versuchsanordnung erkennen: So wird festgehalten, dass das Gas nur an diesem Ort »gemacht werden kann« (Ga 26), dass die gesamte »Technik der Welt« »vollständig abhängig« ist von Gas (Ga 35), dass besonders die Rüstungsindustrie darauf angewiesen ist und ohne Gas kein Krieg Aussicht auf Erfolg hätte (Ga 54f.). Das Exemplarische des Werks bezieht sich auch auf das Verhalten der Arbeiter, da deren Streik als Fanal für Arbeitsniederlegungen andernorts dient (Ga 53, angedeutet: 44). Diese Zuspitzung der dramatischen Situation unterstützt ihren universalen Charakter, wie er für expressionistische Literatur typisch ist: 284 Vgl. Diebold: Anarchie im Drama, S. 192. Vgl. auch ders.: Der Denkspieler Georg Kaiser. 285 Übrigens hat Brecht dieses Zerebralität des Kaiserschen Drama als Hinführung zum episches Theater angesehen (vgl. Kafitz: Zur Massendarstellung und Lichtmetaphorik in den Dramen Georg Kaisers, S. 73).
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Von der im Drama getroffenen Entscheidung ist nicht allein ein partikulares Problem, sondern die gesamte Menschheit betroffen. Auch wenn die Andeutung eines Streiks und die Möglichkeit seiner gewaltsamen Niederschlagung im fünften Akt Anderes nahelegen, ist die finale Entscheidung des Stückes, deren uinversale Bedeutung wie gesehen durch die Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit des ›Werkes‹ deutlich gemacht wird, keine über Sieg und Niederlage von ›Herrschenden‹ oder ›Unterdrückten‹. Die im Text auf allen Ebenen – figural, strukturell, semantisch – leitende Unterscheidung ist die zwischen Individuum und ›Dividuum‹, die sich als Opposition von auf Autonomie gründender ›Ganzheitlichkeit‹ des Einzelnen und von durch Arbeit zugerichteter, enthumanisierter und partikularisierter Fremdbestimmung realisiert. Thematisch wird dies als Vision einer Form von Sozialität, die die gegebene Gesellschaftsform überwinden soll, welche auf der durch funktionale Differenzierung und Hierarchisierung bedingten Fragmentierung des Einzelnen beruht. Pointierter formuliert: Das Ziel ist die organische »Gemeinschaft« (Ga 47) aller, die die mechanisierte Lebenswelt ersetzt. Aus der ›Masse‹ von Arbeitern, die nichts als Arbeiter und keine ›Menschen‹ mehr sind, soll der Neue Mensch hervorgehen (Ga 46–49). Die beobachtete Leitunterscheidung offenbart sich figural dadurch, dass zwischen der ›Einzelfigur‹ und den übrigen Figuren durchweg eine Diskrepanz markiert wird, die sich in Selbst- wie Fremdzuschreibungen artikuliert. In Bezug auf den Milliardärssohn fällt das messianische, zum Teil christologische Lexikon auf: Es wird behauptet, die Arbeiter wüssten nicht, »was sie tun« (Ga 34), obgleich sie »doch Ohren zu hören« (Ga 22) haben; weiterhin fordert der Protagonist von anderen Figuren Schuldbekenntnisse ein (Ga 30), arbeitet auf eine »Verkündigung« hin (Ga 37), kündigt die »Überwindung« von überlebten Sozialgruppen wie Arbeitern und Bauern an (Ga 50); die Weigerung, das Werk wieder aufzubauen, wird als Schutz vor der Hölle semantisiert und in der selben Replik zur »Umkehr – Umkehr!!« (Ga 22) aufgerufen.286 Mit dieser Semantik wird eine scharfe Grenze zwischen der verkündenden Figur und denjenigen gezogen, die die Verkündigung empfangen. Zu diesem Gestus der Differenzierung von den anderen Figuren (vgl. auch die Schlusssentenzen Ga 27 u. 38) tritt jedoch eine Rhetorik der Integration, die mit dem sozialethischen Programm des Milliardärssohnes in Verbindung steht – und weiter unten aufgegriffen wird. Gerade in Bezug auf die (explizite wie implizite) Figurencharakterisierung wird die Differenz zwischen mit Funktionsbezeichnungen versehenen Figuren 286 In einer neueren Studie wird diesem auffälligen Messianismus in Gas unverständlicherweise keine Beachtung geschenkt: Anderson, Lisa Marie: German Expressionism and the Messianism of a Generation. Amsterdam / New York 2011. Die einzige Stelle, an der das Stück erwähnt wird, berichtet lediglich von der angekündigten Geburt des Neuen Menschen (vgl. ebd., S. 116).
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und dem Protagonisten aufs deutlichste markiert. Wenn der Offizier angesichts der Weigerung des Milliardärssohnes, die Summe der Aussteuer zu benennen, verlauten lässt: »Ein Offizier ist gezwungen –«, oder wenn er über die ihm anvertraute Tochter mit seiner »Ehre wachen« will (Ga 14), so handelt es sich dabei um artikulierte Stereotype des Offiziersstandes. Das wird im dritten Akt bestätigt, in dem dieser seinem Schwiegervater aufgrund von Spielschulden mit Selbstmord droht, wenn dieser ihm nicht beispringen kann (Ga 28f.) – und in dem der Offizier sich, nachdem dies abgelehnt worden ist (Ga 29f.), lieber erschießt, anstatt am Aufbau des Werks mitzuhelfen, da dies mit einem Ausschluss aus der Armee einhergegangen wäre (Ga 38).287 Dasselbe gilt für die Figur des Schreibers, wie ein kurzer Dialog zu Beginn des zweiten Aktes anschaulich macht: Milliardärssohn. (…) Zuckt es Ihnen schon wieder in den Fingern? Sind Sie nur Schreiber? Schreiber. Ich habe meinen Beruf. Milliardärssohn. Ruft es nicht ab – von Wichtigerem? Schreiber. Ich brauche den Erwerb. Milliardärssohn. Und wenn dieser Grund nun wegfiele? Schreiber. Ich – bin Schreiber. Milliardärssohn. Mit Haut und Haar? Schreiber. Ich – schreibe. Milliardärssohn. Weil Sie immer geschrieben haben? Schreiber. Es ist – mein Beruf! (Ga 20)
Die Selbstbeschreibung des Schreibers ist offensichtlich tautologisch: Er ist Schreiber, weil er beruflich schreibt und schreibt beruflich, weil er Schreiber ist. Jenseits dieser Logik existiert nichts, sie determiniert das Verhalten der Figur vollkommen, wie die Begründung seiner Kündigung belegt: »Ich – finde nichts wieder zu schreiben!« (Ga 24). In seiner letzten Replik im vierten Akt warnt er die Arbeiter gar davor, den Milliardärssohn sprechen zu lassen: »Hört ihn nicht!! – – Rennt!! – – Rennt!! – – Rennt!! – – Ich renne voran!! – – an meinen Tisch!! – – ich schreibe!! – – ich schreibe!! – – ich schreibe!!« (Ga 45). Während bei Offizier und Schreiber das eigene Verhalten die Rathenausche ›Mechanisierung‹ durch den Beruf aufscheinen lässt, sind in Bezug auf den Ingenieur und auf die Abordnung der Arbeiter im zweiten Akt die vom Milliardärssohn getätigten expliziten Zuschreibungen als Ausweis ihrer déformation professionelle auffällig. Als es der Ingenieur ablehnt, sich an der Ausführung der Pläne zur ›Gartenstadt‹ zu beteiligen, wirft ihm der Milliardärssohn seine Dehumanisierung vor: »Beherrscht Sie ihr Exempel – das Sie rechneten? Sind Sie in dies Gebälk verschroben – das Sie konstruierten? – Haben Sie Arme und Beine – 287 Der Tod des Offiziers hat überdies die Funktion, seine Ehefrau, die Tochter des Milliardärssohnes, für die Schlusswendung zu ›befreien‹.
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und Blut und Sinne ausgeliefert in diese Klammer, die Sie zwängten? Sind Sie ein von Haupt umsponnenes Schema?« (Ga 27). Als systemisches Problem der inhärenten Steigerungslogik von Arbeit wird die Deformation gegenüber den drei Arbeitern gefasst: Arbeit – Arbeit – ein Keil, der sich weitertreibt und bohrt, weil er bohrt. Wo hinaus? Ich bohre, weil ich bohre – ich war ein Bohrer – ich bin ein Bohrer – und bleibe Bohrer! – Graut euch nicht? Vor der Verstümmelung, die ihr an auch selbst anrichtet? Ihr Wunderwesen – ihr Vielfältigen – ihr Menschen?! (Ga 23)
Durch Arbeit sind die funktional bezeichneten Figuren in ihrem Denken und Verhalten determiniert – wobei sich in der letzten Replik der Wunsch artikuliert, diese ›Verstümmelung‹ zu überwinden und ›Menschen‹ zu werden. Es wird das zur ›Masse‹ gewordene Kollektiv der Arbeiter sein, dem die Entscheidung für oder gegen diese Überwindungsvision obliegt. Dieser Gruppe der funktional bestimmten Figuren, zu der auch der Hauptmann und der Regierungsvertreter im letzten Akt zu zählen sind, sind weibliche Figuren zugeordnet, die vollständig im familialen Bezug auf die Männer aufgehen: als Schwestern, Mütter, Ehefrauen. Im oratorienhaften vierten Akt beklagen diese Figuren der Reihe nach angesichts der Explosion wiederum die Dehumanisierung der Arbeiter zu reinen Arbeitsautomaten, die den ehemaligen Menschen auch körperlich deformieren: »Wo blieb mein Bruder? Der früher neben mir spielte – und Sand mit seinen beiden Händen baute? – In Arbeit stürzte er. Die brauchte er [!] nur die eine Hand von ihm – die den Hebel drückte und hob« (Ga 39). Und: »Was erschlug das Feuer! Meinen Sohn? Den kannte ich nicht mehr – den begrub ich in der Frühe, als er zum erstenmal ins Werk wegging! – Sind zwei Augen, die starr wurden vom Blick aufs Sichtglas, ein Sohn?« (Ga 40). Und weiter: »Hochzeit ist ein Mal – und der Triebwagen rollt immer. […] Der Mann rollt mit – weil der Fuß an ihm ist. Bloß sein Fuß ist wichtig – der tritt den Schaltblock« (Ga 41). Das gipfelt in der Frage: »Warum verbrannte mein Mann? Warum der ganze Mann? Nicht allein der Fuß, der nur wichtig war von meinem Mann?« (Ga 41). Es sollte deutlich geworden sein, dass zwischen den expliziten wie impliziten Charakterisierungen der funktional Deformierten kein wesentlicher Unterschied erkennbar ist. Unterschiedslos sind davon ›Eliten‹ wie ›Unterworfene‹ betroffen. Die Grenze läuft keineswegs zwischen Vermögenden und ›Habenichtsen‹ – was die parallele Struktur des zweiten und dritten Aktes belegt, in dem der Milliardärssohn zunächst dem Schreiber, den Arbeitern und dem Ingenieur, dann dem Offizier und den Industriellen (den ›schwarzen Herren‹) seinen Plan einer neuen Gemeinschaft vorstellt – und die Reaktion darauf vollkommen identisch ablehnend ist. Auch der Umstand, dass die Forderung der Arbeiter, den Ingenieur zu entlassen (Ga 21f.), von den Industriellen wiederholt wird (»Ganz unabhängig von den Arbeitern!«, wie es wiederholt heißt, Ga 32, 33), deutet auf dasselbe
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beschränkte Denken hin. Das Stück ist in dieser Hinsicht statisch, als dass fünf Akte lang diese prinzipielle Übereinstimmung aller gegen den Milliardärssohn wiederholt wird – mit Ausnahme der Tochter, die tatsächlich die einzige Figur neben dem Protagonisten ist, die eine Art Wandlung durchläuft (und zum Schluss als deus ex machina eine aporetische Situation zur Zukunft – und zum Neuen Menschen – hin öffnet). Die dargelegte figurale Opposition zwischen dem Milliardärssohn und den von ihrer Arbeit ›zugerichteten‹ Figuren – als repräsentative Einzel- oder als Kollektivfiguren – setzt sich strukturell in der Serialität der Szenen fort. Wenn der Protagonist im vierten Akt jedoch aus der Menge der Arbeiter heraustritt und seine Gleichrangigkeit mit diesen betont (»Kein andrer Schrei drang aus meinem Munde als eurer!, Ga 46), dann scheint auch formal die Möglichkeit einer Integration der dramaturgisch isolierten Figur auf – die allerdings nicht realisiert wird. Dadurch, dass die Redner auf eine Tribüne klettern müssen, werden sie wiederum von den Übrigen geschieden: Zu einer dauerhaften Integration des individualisierten Protagonisten in eine soziale Gruppe kommt es auch hier nicht. Vielmehr ist es so, dass die soeben konstituierte ›Masse‹ als neue Kollektivfigur lediglich an die Stelle der vorigen tritt: auch sie bleibt bühnenräumlich wie inhaltlich ›Gegenspieler‹ der Hauptfigur. Diese fundamentale Opposition setzt sich im fünften Akt fort und endet auch nicht damit, dass der Milliardärssohn seinen Widerstand gegen den Wiederaufbau des Werks aufgibt (Ga 56f.). Seine finale Einsicht, dass er nun »allein wie jeder [sei], der sich mit allen vermischen wollte« (Ga 57), deutet darauf hin, dass der einzige Wandel dieser überaus statischen Dramaturgie in der Neubewertung der Relation von Individuum und Sozialität liegt. Fanal dieser Neubewertung ist – das Verhalten der ›Masse‹. Von ›Masse‹ im Sinne der Massenpsychologie, die auch nach dem Ersten Weltkrieg die Massen-Semantik bestimmt, kann sinnvoll erst im vierten Akt gesprochen werden. Zwar tauchen, wie gezeigt, bereits vorher Figurengruppen auf, doch deutet weder ihr Verhalten noch ihre Darstellung darauf hin, dass sich in ihnen die ›Massenseele‹ verkörpere. Das ändert sich im vierten Akt bei der Versammlung der Arbeiter, die vorher dramatisch nicht präsent gewesen sind. So erscheinen auf der Redetribüne, auf die alle sprechenden Figuren gelangen, eine Serie von jeweils als »Arbeiter« bezeichneten Figuren, bei denen unklar ist, ob es sich um dieselbe Figur handelt (im zweiten Akt war die Abordnung der Arbeiter noch nummeriert). Dagegen spricht, dass die einzelnen Arbeiter die Bühne stets wieder verlassen, ehe neue heraufkommen (Ga 42–45). Diese Ununterscheidbarkeit der Arbeiter, die ja bereits zu Aktbeginn durch die weiblichen Familienmitglieder betont wurde, setzt sich konsequent fort in chorischen Ausrufen, die als Reaktionen auf die Reden erfolgen (»Kein Gas!! – – Mit diesem Ingenieur!«, Ga 44) und gipfelt schließlich darin, dass alle (»Alle Frauen und alle
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Männer«) schreien: »Gas!!!!«, ehe sie aus der Halle zur Demonstration strömen (Ga 51). Auch Einzelheiten wie der im letzten Satz angedeutete rasche Meinungsumschwung sowie der am Anfang explizit vermerkte hohe Frauenanteil (Ga 39) konvergieren mit der zeitgenössischen Massen-Semantik. Nicht zuletzt entspricht das Bedürfnis der Arbeiter nach Führerschaft Le Bons Sichtweise. Gestaltet ist der Ausdruck dieses Bedarfs als quantitative Steigerung, die ebenso eine der Intensität ist: Ingenieur. Wagt den Ruf!! Stimme (ausbrechend). Der Ingenieur soll uns führen! Stimmen und Stimmen. Der Ingenieur soll uns führen!!! Alle Frauen und alle Männer. Der Ingenieur soll uns führen!!!! (Ga 50f.)
Das einzige Merkmal von ›Masse‹, das noch fehlt, wird im letzten Akt nachgeliefert – in dem das Gewaltpotential der demonstrierenden Arbeiter dadurch dargestellt wird, dass sie auch auf die Vermittlungsversuche des Milliardärssohnes nur mit Steinwürfen reagieren und allein durch dessen mittels einer weißen Fahne angezeigten Kapitulation (Ga 56) zufrieden zu stellen sind. Angesichts der auffälligen Vollständigkeit der geläufigen Semantik von ›Masse‹ bei den Arbeitern in den letzten beiden Akten ist es beinahe verwunderlich, dass der Milliardärssohn derartige Hoffnungen in sie setzt. Jedoch ist das aufgrund seines radikal integrationistischen Programms nur konsequent – schließlich hat er auch allen anderen Figurengruppen, selbst den Industriellen (im 3. Akt), Gelegenheit gegeben, am Aufbau der Gartenstadt und mithin an der Schaffung des Neuen Menschen teilzuhaben. Dass der Protagonist angesichts der sich gegen ihn wendenden ›Masse‹ anscheinend desillusioniert wird (»Ich habe den Menschen gesehen!, Ga 51), hat ebensowenig Auswirkungen auf sein Verhalten wie die vergleichbaren Schlusssentenzen der vorigen Akte: Auch der Schlussakt ist gekennzeichnet von seinen Überzeugungsversuchen der Arbeiter und der Apotheose des ›Menschen‹, die schließlich dazu führt, dass er lieber aufgibt, als – durch die Armee der Regierung – auf die Arbeiter schießen zu lassen (Ga 55). Die ›Masse‹ in Gas scheint in ihrer Opposition gegen seine Pläne und ihrer Dehumanisierung und Mechanisierung nicht wesentlich von den übrigen Figuren(-gruppen) getrennt zu sein. Ihre dramaturgisch herausgehobene Stellung erklärt sich jedoch, wenn man sich ihre Relation zu demjenigen Stoff vor Augen führt, der im Werk produziert wurde: dem Gas. In Gas korrelieren die Eigenschaften des Gases und der Masse auf auffällige Weise. Beide erscheinen als Energiepotentiale, die sich erst im Moment des ›Ausbruchs‹ voll entfalten und die enthaltenen destruktiven Eigenschaften freisetzen. Gamper hat darauf hingewiesen, dass es um 1900 in der Physik und Soziologie zu »Wechselwirkungen«288 288 Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 435.
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zwischen physikalischen Energiediskursen und Sozialdiskursen gekommen ist, was auch in der Literatur gewirkt hat und sich unter anderem bei Georg Kaiser zeigen lässt. Bei diesem wird der energetische Diskurs sowohl in poetologischen Texten von 1922 aufgerufen – und der Neue Mensch nicht etwa durch Züchtung, sondern durch den »kollektiven Effekt der ›verbissenen Energie‹ des Menschen«289 hervorgebracht –, sondern auch in den Dramen, etwa in »Von morgens bis mitternachts«290 und den »Gas«-Dramen. Der für Gas konstatierte »metaphorisch-metonymische[] Bezug«291 zwischen Gas und ›Masse‹ – Leistungsfähigkeit, Formlosigkeit, Unsichtbarkeit in Latenz292 und Destruktivität – muss präzisiert werden hinsichtlich seiner Funktion: Beide sind als Symbole der Ambivalenz der Moderne zu verstehen. Man vergesse nicht, dass das im Werk produzierte Gas als Höhepunkt der aktuellen technischen Entwicklung semantisiert wird (Ga 34) und die Arbeitermassen für ihre Herstellung als unabdingbar angesehen werden. So wie die Industriellen im dritten Akt bereit sind, alljährliche Explosionen als Kollateralschäden der Gasproduktion in Kauf zu nehmen, so zeigen sie sich bereit, eine am Gewinn beteiligte Arbeiterschaft zu akzeptieren, solange nur Gas geliefert wird (Ga 36). Erschüttert von der Explosion des Gases und der Beratungsresistenz der ›Masse‹ ist im gesamten Stück nur eine Figur: der Milliardärssohn. Der Umstand, dass er mit der Einstellung der Gasproduktion auch die Arbeitermassen funktionslos zu machen plant, lässt sich aufgrund seiner Symbolizität interpretieren als Versuch des Protagonisten, die industrielle Moderne zurückzunehmen. Zwar insistiert der Milliardärssohn darauf, dass der Neue Mensch und die neue Sozialform, gut nietzscheanisch, als Überwindung und Fortentwicklung des Alten (Ga 37, 50) zu sehen ist – unterliegt aber im Rededuell des vierten Aktes gegen die Suggestion des Ingenieurs, dadurch sozial zu regredieren (»Herrscher seid ihr hier – – da seid ihr – – – –: Bauern!!«, Ga 49). Der Neue Mensch, den er verkündet, bleibt inhaltlich unbestimmt293 und damit weniger wirksam als die Verkündigung des Ingenieurs, der die Arbeiter als Arbeitermasse zum »Sieger im Weltreich« (Ga 49) erklärt. Der Anspruch – oder, von der anderen Seite gesehen, die Hybris – der modernen Industriegesellschaft, durch überlegene Technologie und intensive Arbeitsleistung globale Hegemonie
289 290 291 292
Ebd., S. 463, vgl. S. 462–464. Vgl. ebd., S. 460. Ebd., S. 464. Die Unsichtbarkeit des Gases stellt das Drama erkennbar vor ein Darstellungsproblem, was gelöst wird durch die anfangs auftretende Figur des ›weißen Herrn‹, der sowohl als Allegorie des Gases als auch als Unheilsbote der nahenden Katastrophe fungiert (vgl. bes. Ga 12 u. 13). 293 Lämmert spricht gar von einem »Homo absconditus« (Lämmert, Eberhard: Der »neue Mensch« als Leiche im Licht [1995]. Georg Kaisers dramatische Planspiele. In: Ders.: Respekt vor den Poeten. Studien zum Status des freien Schriftstellers. Göttingen 2009, S. 195–205, S. 204).
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zu erlangen, wird von demjenigen Kollektiv gestützt, das durch die moderne Industriegesellschaft erst konstitituiert wurde: der Masse der Arbeiter. Es sollte deutlich sein, dass das Beharren der Arbeiter auf dem Status Quo angesichts ihrer symbolischen Äquivalenz mit dem Gas und ihrer funktionalen Äquivalenz mit den übrigen Gegnern des Milliardärssohnes folgerichtig ist – aber keineswegs eine ›Wandlung‹ darstellt. Die Arbeiter müssen vom Ingenieur nicht überzeugt werden, er spricht nur aus, was ohnehin ihre Position ist. Das belegt das beharrliche Schweigen der Arbeiter angesichts der Monologe des Milliardärssohnes, das scharf mit den entschiedenen Affirmationen der Reden des Ingenieurs kontrastiert (Ga 45–51). Eine Wandlung erfahren lediglich der Protagonist und seine Tochter. Sie betrifft die Art und Weise, wie der Neue Mensch geschaffen werden soll. Diese Wandlung wiederum hat Implikationen für die beobachtete Leitunterscheidung von Individuum und ›Dividuum‹ – und sorgt für eine bemerkenswerte Schlusspointe, in der Individualität und Genealogie durch das Verdikt der ›Masse‹ bestätigt wird. Dies soll abschließend plausibilisiert werden. Zunächst muss an die Entwicklungsstufen der Position des Milliardärssohnes erinnert werden. Die im ersten Akt angedeutete Sozialisierung des Werks hatte auch zum Ziel, hierarchische Differenzierungen zu kassieren: Der Milliardärssohn wird bezeichnet als »Chef – der keiner sein will« (Ga 12) und erklärt seinem zukünftigen Schwiegersohn, dass er die Tochter eines Arbeiters heirate: »mehr bin ich nicht!« (Ga 15, vgl. 29). Doch auch einer familialen Differenzierung erteilt er eine Absage: Die Heirat seiner Tochter mit einem Offizier, die er missbilligt, aber aus Prinzip nicht verhindern will, sorgt für die entschiedene Abkehr von familialer Bindung und seine Hinwendung zum Gemeinschaftskonzept. Die Bemerkung, »kein Erbe« (Ga 14) zu hinterlassen, ist nicht allein pekuniär, sondern auch genealogisch zu verstehen. Dass deren Hochzeit als Abschluss wahrgenommen wird, offenbart der Milliardärssohn, wenn er auf den Hinweis der Tochter, wiederzukommen, entgegnet: »Die Umkehr kann ich wohl nicht erwarten!« (Ga 15). Nach der Explosion hat er verstanden, dass seine auf Produktivität beruhende Entlohnung das ausbeuterische ›System‹ der Industrie nicht subvertiert, sondern gestützt hat, weil die Arbeiter davon »[m]aßlos angefeuert« worden sind (Ga 23). Seine Hoffnungen verschieben sich darauf, mittels einer ›Gartenstadt‹ die Grundlage für eine neue Sozialform zu legen, deren egalitäre und entdifferenzierte Struktur die Realisierung des – nicht-fragmentierten, ›ganzen‹ – ›Menschen‹ ermöglichen soll: Menschen in Einheit und Fülle seid ihr morgen! – – Triften von Breite in Grüne sind neuer Bezirk! Über Schutt und Trümmer, die liegen, erstreckt sich die Siedlung. Ihr seid alle entlassen aus Fron und Gewinn! – Siedler mit kleinstem Anspruch – und letzter Entlohnung: – Menschen!! (Ga 47f.)
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Die in seinen Monologen des vierten Aktes aufscheinende organische Metaphorik verweist diese Vision auf die Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende und imaginiert damit eine unterschiedslose Totalität des Sozialen auf Basis ›unentfremdeter Menschen‹: »Fließende Vielheit aus euch zu jedem um euch. Keiner ist Teil – in Gemeinschaft vollkommen der einzelne. Wie ein Leib ist das Ganze – und das ist ein Leib!« (Ga 47). Dieses Ideal eines in Gemeinschaft sich totalisierenden Menschentums zu erreichen, ist das Ziel des Milliardärssohnes. Das Mittel dafür ist die Inklusion der zuvor sozialhierarchisch getrennten Gruppen, Symbol dafür die Gartenstadt. In ihr werden alle Menschen »Siedler« (Ga 26, 48), funktionale Differenzierung und Industrialisierung sind zurückgenommen. Indes: Wie schon bei seiner Tochter lehnt der Protagonist es auch gegenüber den Industriellen und den Arbeitern ab, seine Vorstellungen mit Zwang durchzusetzen (Ga 37 bzw. 56). Das bleibt aber nicht ohne Ambivalenz, wie seine Weigerung zeigt, dem allgemeinen Wunsch der Mehrheit nach Wiederaufbau des Werks stattzugeben – was er als die »Pflicht« eines Einzelnen ausgibt (Ga 35) –, und sein am Schluss des zweiten Aktes als Reaktion auf die allgemeine Ablehnung getätigter Ausruf: »Dann muß ich euch alle zwingen!« (Ga 27). Sein oben bereits angedeuteter Individualismus, der sich in seiner strukturellen Opposition zu den übrigen Figuren, seinem Sendungsbewusstsein und in Repliken wie der soeben zitierten erweist, postuliert eine Menschheitsvision, die durch die Rücknahme des Einzelnen zugunsten einer differenzlosen Gemeinschaft nicht zuletzt den Verkünder selbst desintegrieren müsste. Der eingangs erwähnte Gegensatz zwischen Individualismus und Sozialismus realisiert sich im Stück darin, dass ein Individuum die Abschaffung der Bedingungen von Individualismus wie ›Massenmenschentum‹ zugunsten eines egalitären Gemeinwesens und Menschentums ›höherer Stufe‹ verkünden will – die vermeintlichen Profiteure diese Wandlung aber ablehnen. Die Figur der Überwindung der Leitdifferenz (Individuum vs. Dividuum) durch dialektische Aufhebung des Differierenden in der Vision einer Gemeinschaft Neuer Menschen wird zurückgewiesen, was den Milliardärssohn auf seine individualistische Position zurückwirft. Als er im fünften Akt erkennt, dass er »allein wie jeder [ist], der sich mit allen vermischen wollte« (Ga 57), fasst er beim Anblick seiner Tochter neuen Mut – wobei sich die Leibmetaphorik der Sozialutopie auffallend wiederholt: Milliardärssohn. (…) (Er nimmt seine Hände.) Das sind Hände – und an den Wuchs verflochten – (Ihre Arme umfassend.) Das sind Glieder – und dem Leib vereint – – Teile aus Einem wirksam – – und eine Regung in jedem! – – – – (Ga 57) (…) (Die Tochter dicht vor sich ziehend.) Sage es mir: wo ist der Mensch? (…) Wann besteht er den Fluch – und leistet die neue Schöpfung, die er verdarb: – – den Menschen?! (…)
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Muß er nicht ankommen – morgen und morgen – und in stündlicher Frist?! – – Bin ich nicht Zeuge für ihn – und für seien Herkunft und Ankunft – – ist er mir nicht bekannt mit starkem Gesicht?! – – – – Soll ich noch zweifeln?!! Tochter (nieder in Knie). Ich will ihn gebären! (Ga 57f.)
Die Ganzheits-Utopie verschiebt sich also vom Sozialen ins Individuelle, Korporale. Der Neue Mensch entsteht somit nicht mehr durch die Überwindung sozialer Differenzen, sondern durch Geburt: Die organische Einheit der ›Gartenstadt‹ wird als im Mikrokosmos des einzelnen Körpers realisierbar imaginiert. Das Prinzip der Genealogie, das der Milliardärssohn in seinem Werk durch die Verweigerung eines Erbes ausgesetzt hat, wird nun erneuert, und der Einzelne, Auserwählte, sorgt für die Schaffung des Neuen, Ganzen Menschen. Die bislang angestrebte Entdifferenzierung der Leitunterscheidung von Individuum und Dividuum wird als nicht praktikabel desavouiert. So bleibt zu deren Überwindung nur die Projektion des Vorhabens in die Zukunft – und das Beharren auf Individuen, die allein diese Überwindung leisten können. Zu betonen ist für diese Entwicklung vom ›Sozialismus‹ Landauerscher Prägung zurück zum Individualismus die Funktion der ›Masse‹ in Gas: In ihr bündeln sich die Hoffnungen auf Überwindung der Deformationen der modernen Industriegesellschaft, an ihr werden diese zum Schluss enttäuscht – müssen enttäuscht werden, weil ›Masse‹ nicht weniger ein Produkt der Industriegesellschaft ist als das von ihr produzierte Gas. Nicht der Versuch des Einzelnen, sich ›mit allen vermischen zu wollen‹, sondern die auf der Exzeptionalität Einzelner beruhende Geburt des Neuen Menschen vermag die Welt von der kriegerischen, durch Technologie und Industriearbeit deformierten, dehumanisierenden Moderne zu ›heilen‹. In subjekttheoretische Begriffe übersetzt erzählt Gas mithin von der durch moderne Technik und Arbeit depotenzierten Subjekten, die, weil sie mit dieser Technik gleichursprünglich sind, ihre eigene Emanzipation zu ganzen, nicht-heteronomen, also ›starken‹ Subjekten zugunsten der Perpetuierung des Status Quo ablehnen. Sie subjekttheoretische Pointe dieser – wie gezeigt zeittypischen – Massentheorie ist, dass die Erneuerung des Subjekts nur als Zukunftsprojekt Einzelner betrieben werden kann, nicht mithilfe der, sondern in Opposition zur Masse.
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3.1.6 Ich-Drama zur Erlösung der ›Masse‹? Tollers Masse Mensch (1920) Bei Ernst Tollers im Jahr nach der Niederschrift – 1920 – uraufgeführtem294 Stück Masse Mensch295 bestätigt sich die allgemeine Tendenz der Toller-Forschung auf das Klarste: Wo in den 1970er und 1980er Jahren296 überaus vielzählige Forschungsarbeit zu verzeichnen war, die besonders mit den politischen und biografischen Implikationen seines Stücks befasst war297, hat die Intensität der Forschung seitdem spürbar abgenommen, sich aber dafür stärker motivischen und strukturellen Fragestellungen geöffnet.298 Zwar muss erwähnt werden, dass 294 Die Uraufführung in Nürnberg (15.11. 1920) musste aufgrund des Protestes nationalistischer Kreise auf Gewerkschaftsmitglieder begrenzt werden (vgl. Bebendorf, Klaus: Tollers expressionistische Revolution. Frankfurt a.M. 1990, S. 87). Die erste öffentliche Aufführung fand am 29.9. 1921 an der Berliner Volksbühne unter der Regie des jungen Jürgen Fehling statt und wurde ein großer Erfolg, was nicht zuletzt der Massenregie des Regisseurs zugeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 92–102). 295 Zitiert nach: Toller, Ernst: Masse Mensch. Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 1: Stücke 1919–1923. Hgg. v. Torsten Hoffmann, Peter Langemeyer und Thorsten Unger. Göttingen 2015, S. 65– 106. Im Text nachgewiesen unter der Sigle MM. 296 Zur Forschung vor 1968 vgl. Spalek, John M.: Ernst Toller and his Critics. A Biblioraphy. Charlottesville, VA 1968. 297 Vgl. Bütow, Thomas: Der Konflikt zwischen Revolution und Pazifismus im Werk Ernst Tollers. Mit einem dokumentarischen Anhang: essayistische Werke Tollers, Briefe von und über Toller. Hamburg 1975; Durzak, Manfred: Das expressionistische Drama. Band 2: Ernst Barlach, Ernst Toller, Fritz von Unruh. München 1979, S. 81–154; Ossar, Michael: Anarchism in the dramas of Ernst Toller. The realm of necessity and the realm of freedom. Albany, NY 1980; Dove, Richard: Revolutionary Socialism in the Work of Ernst Toller. New York [u. a.] 1986; Benson: Deutsches expressionistisches Theater, bes. S. 55–77; Elwood, William R.: Ernst Toller’s »Masse Mensch«. The individual vs. the collective. In: Hartigan, Karelisa V. (Hg.): From the bard to Broadway. Lanham [u. a.] 1987, S. 43–50; Rothstein, Sigurd: Der Traum von der Gemeinschaft. Kontinuität und Innovation in Ernst Tollers Dramen. Frankfurt a.M. [u. a.] 1987; Bebendorf, Klaus: Tollers expressionistische Revolution. Frankfurt a.M. [u. a.] 1990. Eine Ausnahme in dieser Reihe stellt die dramenstrukturell interessierte Arbeit von Klein, Dorothea: Der Wandel der dramatischen Darstellungsform im Werk Ernst Tollers 1919–1930. Bochum 1968. Selbst Martinson, der zu Beginn seines Beitrags an der Toller-Forschung kritisiert, durch ideologische Vorannahmen wichtige Aspekte von Masse Mensch nicht gesehen zu haben und deshalb einen »multiperspectivist approach« (243) einfordert, beschäftigt sich ausführlich mit »the writer’s Standpunkt« (251) – betreibt also gerade den Biographismus, der die Grundlage der politisierten Wahrnehmung Tollers bildet, den er kritisiert (vgl. Martinson, Steven D.: A Multiperspectivist Approach to the Drama of Revolution: Ernst Toller’s Masse Mensch. In: Orbis Litterarum 43 (1988), S. 240–259). 298 Vgl. Schreiber, Politische Retheologisierung. Ernst Tollers frühe Dramatik als Suche nach einer »Politik der reinen Mittel«. Würzburg 1997; Schulz, Georg-Michael: Ernst Toller: Masse Mensch. In: [o.Hg.]: Interpretationen. Dramen des 20. Jahrhunderts. Band 1. Stuttgart 1996, S. 282–300; Beringer, Alison: From Pictures to Text. The Dance of Death in Ernst Toller’s Masse Mensch. In: Seminar 48,2 (2012), S. 146–163; Anderson: German Expressionism and the Messianism of a Generation, zu Masse Mensch S. 74–74 u. 171–175 ; Hoffmann, Thorsten:
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Ernst Toller politisch aktiv gewesen ist und als Protagonist eines Munitionsarbeiterstreiks (Februar 1918) sowie der Münchener Räterepublik (April 1919), wofür er eine Haftstrafe verbüßte (1920 bis 1924), Bekanntheit erlangte.299 Auch hat er für Arbeiterfestspiele in der Weimarer Republik sog. ›Massenchöre‹ verfasst, die das Produktivwerden seines politischen Engagements im Dramatischen weiter belegen.300 Aus diesem Grund ist verständlich, dass man Masse Mensch als dramatische Aufarbeitung der Erlebnisse des Autors in der Räterepublik-Zeit gesehen und etwa gemeint hat, in »Sonja Irene L.«301 und dem »Namenlosen«302 Figurationen real existierender Akteure der Revolution ausmachen zu können. Nicht zuletzt wird ja die Frage nach den Mitteln politischen Engagements im Text selbst thematisch. – Dennoch soll dem Weg der neueren Toller-Forschung gefolgt werden, das Stück primär textintern auf seine Darstellungsstrategien zeittypischer Semantiken hin zu befragen – in der Annahme, dadurch mehr zu sehen als durch einen (politisierenden) lebensweltlichen oder einen Bezug zu zeitlich nachfolgenden Epitexten.303 Damit einher geht das Vorhaben, die mit diesen Perspektiven fast immer verbundene Bewertung des Textes zu vermeiden. Im Folgenden soll dagegen versucht werden, ein motivisches mit einem struktu-
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»Mensch in Masse befrein«. Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch und seinem Vortrag Man and the Masses. In: Keppler-Tasaki, Stefan: Internationales AlfredDöblin-Kolloquium 2011. Massen und Medien bei Alfred Döblin. Bern [u. a.] 2014, S. 151– 166. Vgl. Köglmeier, Georg: Ernst Toller in der Münchener Revolutions- und Rätezeit. In: Neuhaus, Stefan / Selbmann, Rolf / Unger, Thorsten: Ernst Toller und die Weimarer Republik. Würzburg 1999, S. 27–45. Siehe auch Kaisers 1933 verfasste Autobiographie »Eine Jugend in Deutschland« in: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 3: Autobiographisches und Justizkritik. Hgg. v. Stefan Neuhaus und Rolf Selbamann. Göttingen 2015, S. 97–275. Vgl. zu Arbeiter-Massenfestspielen: Pfützner, Klaus: Massenfestspiele der Arbeiter in Leipzig (1920–1924). Leipzig 1960; Hornauer, Uwe: Laienspiel und Massenchor. Das Arbeitertheater der Kultursozialisten in der Weimarer Republik. Köln 1985; Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–33. Tübingen [u. a.] 2005. Gemeint sei Sarah Sonja Lerch, deren Konflikt aus bürgerlicher Herkunft und revolutionärem Engagement Parallelen zur Protagonistin des Stücks aufweist (vgl. Gurganus, Albert E.: Sarah Sonja Lerch, née Rabinowitz: The Sonja Irene L. of Tollers »Masse-Mensch«. In: German Studies Review 28,3 (2005), S. 607–620). Angeblich sei damit Eugen Leviné porträtiert, der in der Räterepublik dem radikalen Flügel der Revolutionäre angehört hat und damit in Konflikt mit dem gemäßigten Toller geraten ist (vgl. nur Dove: Revolutionary Socialism in the Work of Ernst Toller, S. 129–131). So wurde eine Bemerkung in einem der zweiten Auflage (1921) beigefügten Brief Tollers gern als ›Revision‹ der Form und Aussage von Masse Mensch interpretiert (vgl. z. B. Wierschin, Martin: Traum und Realität in Ernst Tollers Masse-Mensch. In: Jost, Roland / SchmidtBergmann, Hansgeorg (Hg.): Im Dialog mit der Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Jacob Steiner zum sechzigsten Geburtstag. Frankfurt a.M. 1986, S. 262–275) was hier ebenso übergangen wird wie der neuere Versuch, einen 1936 gehaltenen Vortrag mit dem dem Titel »Man and the Masses« mit dem Stück zu konfrontieren (vgl. Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch).
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rellen Erkenntnisinteresse zu verbinden – und zwar durch ein Motiv, dessen strukturelle Bedeutung, obwohl im Titel angedeutet, bislang durch die ihm in der Forschung unterstellten politischen Implikationen nicht angemessen behandelt worden ist304: die ›Masse‹ – und ihre Lenkung. Es ist in der Forschung bereits festgestellt worden, dass ›Masse‹ im Stück auf zwei Ebenen behandelt wird: figural und diskursiv.305 Bei beiden Aspekten lassen sich auf den ersten Blick simple Antagonismen ausmachen, deren Eindeutigkeit durch die näher zu belegende Perspektivierung des Geschehens zumindest problematisch wird. In aller Kürze sei an die Handlung der sieben Bilder des Stücks erinnert: Angesichts eines seit sechs Jahren tobenden Krieges hat sich unter den Arbeitern Widerstand gebildet. Dabei wird aber die Frage aufgeworfen, welche Mittel dieser Widerstand nun gebrauchen soll. Während »Die Frau«, eine bürgerliche Pazifistin, für einen Generalstreik plädiert und ihr Führungsanspruch von der ›Masse‹ während einer Versammlung bestätigt wird, tritt eine als »Der Namenlose« bezeichnete Figur auf, der ihr diesen Anspruch mit Verweis auf ihre Herkunft streitig macht und für gewaltsame Revolution optiert – was sich durchsetzt (3. Bild). Der Aufstand schlägt fehl. Die Frau, die sich zwar gebeugt, aber an ihren Idealen festgehalten hat, wird als Führerin der Arbeiter vom Militär festgesetzt und angeklagt (5. Bild). Obwohl sie die Möglichkeit hat, zu fliehen, weigert sie sich, weil ein Wächter dafür sterben müsste. Sie wird erschossen (7. Bild). – Alternierend sind drei der sieben Bilder (2, 4, 6) als »Traumbilder« gekennzeichnet und bieten groteske Visionen, die um Schuld sowie das Verhältnis zwischen ›Masse‹ und ›Mensch‹ kreisen. In der obigen Inhaltsangabe ausgelassen wurde eine Figur, die die antagonistische Figurenkonstellation verdeutlicht und die der andere Widerpart der Protagonistin neben dem Namenlosen ist: Der Mann. Durch ihn erweist sich, dass dem sehr abstrakt anmutenden Konflikt zwischen zwei politischen Optionen sowie damit einhergehenden ›Massen‹-Konzepten eine sozialpsychologische Dimension unterlegt ist: Der Mann, Ehemann der Frau, deutet die Rolle der Frau beim Aufstand als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Engagement, das aber statusgerechter erfüllt werden könnte (MM 71): Er vertritt qua Beruf und Habitus den »Staat«, der ihm »heilig« ist (MM 73), und tritt als Verteidiger des an anderer Stelle explizit so genannten »Systems« (z. B. MM 78, 93) auf. Obwohl er seine Frau aus Staatstreue verraten hat, begehrt sie ihn (MM 73f.), was einen Konflikt zwischen Privatleben (Begehren) und Berufung (politischem Engagement), mithin einen persönlichen Schuldzusammenhang konstruieren soll: »O Zwiespalt alles Lebens, / An Mann geschmiedet und an Werk« (MM 99). Im letzten 304 Vgl. Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch, S. 151. 305 Vgl. ebd., S. 155.
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Bild wird sie ihrem Begehren zu ihm eine Absage erteilen: »Ich hab mich überwunden… / Mich und dich.« (MM 101). Dieser Aspekt musste deshalb erwähnt werden, weil er die paradoxe Konstruktion der Protagonistin belegt. So heißt die Frau im Personenverzeichnis »Sonja Irene L., eine Frau« (MM 68), wird aber an keiner Stelle des Haupttextes und des Nebentextes mit ihrem Namen bezeichnet. Während der Name der dramatis personae auf eine individualisierte Figur hindeutet, suggeriert die Bezeichnung der Figur als »Die Frau« ein hohes Maß an Universalität. Und: Zwar spielt das Begehren der Frau zu ihrem Mann offensichtlich mit dem eingespielten Topos der durch ihre Sinnlichkeit wankelmütigen Frau, kann also als Aspekt ihrer universalen ›Weiblichkeit‹ gelesen werden. Doch gleichzeitig sorgt dieses private Moment für ein gewisses Maß an psychologischer Tiefe, was eher bei einer individualisierten Figur zu erwarten wäre. Die größte Paradoxie ist jedoch, dass dieser Konflikt für ihr Verhalten überhaupt keine Auswirkungen hat.306 An keiner Stelle wird auch nur angedeutet, dass sie die politische ›Sache‹ durch die Liebesnacht mit dem Mann, auf die der Schluss des ersten Bildes anspielt, verraten hätte oder ihre Position dadurch verfälscht worden wäre. Die finale Entsagung des privaten Glücks im siebten Bild erscheint insofern als ein blindes Motiv, dessen Orientierung am »KatholischErhabenen«307 der »Maria Stuart« Schillers308 in erster Linie die den Text bestimmende Sakralisierung der Positionen belegt. Zu den Ambivalenzen, die die Protagonistin betreffen, tritt als zentrale Ambivalenz des Textes der unklare ontologische Status der Szenen (›Bilder‹) des Stücks. Während die Bilder 2, 4 und 6 wie gesagt als »Traumbilder« deutlich abgehoben sind, heißt es zu Beginn: »Das dritte, fünfte und siebte Bild in visionärer Traumferne« (MM 68). Die Bilder also, die mit den Traumbildern alternieren, werden durch den Begriff der ›Traumferne‹ wieder in deren Nähe gerückt. Dass davon allein das erste Bild nicht betroffen ist, lässt sich durch Szenenbeschreibungen oder andere Textsignale nicht legitimieren: So wirkt die Szenenbeschreibung des siebten Bildes (»Kleiner Tisch, Bank und Eisenbett in Mauer eingelassen. Vergittertes Lichtloch durch Milchglas undurchsichtig.«, MM 99) nicht weniger mimetisch als die des ersten (MM 69). Direkten Bezug bekommt diese Frage der Realitätsebenen zur Protagonistin, wenn man bedenkt, dass Toller zur zweiten Auflage des Stücks 1922 die Hinweise im Personenverzeichnis 306 Zwar imaginiert die Frau im Traumbild (Bild 4) die Rettung ihres Mannes vor einem Erschießungskommando der Arbeiter, doch ist die dann geäußerte Haltung konsistent mit derjenigen in den übrigen Bildern – nämlich getragen von einem entschiedenen Pazifismus (MM 88). 307 Vgl. den Titel des »Maria Stuart«-Abschnitts in Dörr, Volker C.: Weimarer Klassik. Paderborn 2007, S. 102. 308 Vgl. Martinson: A Multiperspectivist Approach to the Drama of Revolution, S. 254; Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 290.
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verändert hat: So werden die »Gestalten der Traumbilder« (MM 68) nun als »Traumbilder der Sonja Irene L./Gestalten«309 bezeichnet.310 Verbunden mit dem eingefügten Bindestrich in »Masse-Mensch« und dem Wegfall des Zusatzes »eine Frau« bei Sonja Irene L. im Personenverzeichnis scheint die zweite Auflage somit eine individualisierende Lesart der Frau zu stützen. Während dies für die Traumbilder, deren groteske Vorgänge und Figuren an Strindbergs Traumspiele erinnern311, leicht hinzunehmen ist, so bleibt diese Perspektivierung für die restlichen Szenen unklar: Die entscheidende Frage ist, welchen ontologischen Status innerhalb der Diegese die Szenen 3, 5 und 7 haben – und welchen Bezug dieser zu den Traumbildern hat. Ebenso fragt sich, warum im Nebentext an der Bezeichnung »Die Frau« festgehalten wird, wenn durch den Wegfall dieses Zusatzes im Personenverzeichnis die Individualität der Figur betont werden soll.312 Denkbar wäre, dass es drei Realitätsebenen gibt – eine ›reale‹ im ersten Bild, eine ›visionäre‹ und eine der Träume, die von dieser visionären Ebene ausgehen. Überzeugender erscheint aber die Entdifferenzierung der Ebenen, was dann für die in den Szenen eingenommene Perspektive von großer Konsequenz ist: Nur wenn man Bilder wie Traumbilder konsequent als Projektionen der Psyche der Protagonistin analysiert, kann die Approximation der Ebenen plausibilisiert werden. Das bedeutet auch, dass alle übrigen Figuren auf die Frau bezogen und mithin als perspektivisch verzerrt zu betrachten sind. Weil damit das Verhältnis von Masse und Individuum entscheidend tangiert wird und es dadurch möglich wird, die Thematisierung dieses Verhältnisses subjektsemantisch zu reformulieren313, sei Masse Mensch im Folgenden als Ich-Drama314 gelesen. Dieser Vorschlag muss für die folgenden Ausführungen akzeptiert werden. Zugespitzt könnte man sogar formulieren: Nur insoweit die Annahme, man könne den Text ich-dramatisch lesen, plausibel erscheint, wird man ihn zum Gegenstand dieser Arbeit zugehörig akzeptieren. Das bedeutet auch, dass dieser Abschnitt als Nachtrag zum Kapitel über Verräumlichung des Bewusstseins angesehen werden
309 Zit. n. Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 287. 310 Es ist unverständlich, dass in den Anmerkungen zur Textgeschichte in der neuen Kritischen Ausgabe lediglich behauptet wird, Toller habe bei Masse Mensch »relativ wenige Veränderungen« vorgenommen, aber unterschlagen wird, dass diese so vereindeutigenden Charakter haben (Vgl. MM, S. 353). 311 Vgl. Wierschin: Traum und Realität in Ernst Tollers Masse-Mensch, S. 264–268. 312 Vgl. Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 287. 313 Sicherlich wäre es auch möglich gewesen, den Text mit den anderen Ich-Dramen im Kapitel zum Ich als Bühnenraum zu analysieren. Doch da hier weniger topologische Fragestellungen als die subjektsemantische Verarbeitung der ›Masse‹ von Interesse sind, erfolgt die Untersuchung in diesem Abschnitt. 314 Vgl. ähnlich Rothstein: Der Traum von der Gemeinschaft, S. 102, wenngleich die damit verbundene Abwertung des Stückes nicht geteilt wird.
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kann. Der Text hätte auch dort behandelt werden können, seine Analyse bildet gleichsam eine Schnittmenge aus beiden Zugängen. Von besonderer Bedeutung ist diese Perspektivierung auf die Hauptfigur für die Gegenfigur des »Namenlosen«. Diese Figur hat überaus divergente, kontrovers diskutierte Deutungen315 erfahren, was auf ihre für die meisten Interpretationen entscheidende Funktion hindeutet. Bereits seine explizite Namenlosigkeit stellt einen starken Kontrast zur Protagonistin her, wie auch sein Auftritt das erste Streitgespräch der beiden präfiguriert: »Aus der Masse im Saal eilt der Namenlose auf die Tribüne, stellt sich rechts an den Tisch« (MM 82) – somit gegenüber der links sitzenden Frau. Der Namenlose emergiert aus den Reihen der ›Masse‹, während die Frau von der ersten Szene an von dieser räumlich getrennt ist. Die Parole, die eine ihm gleichende Figur im vierten (Traum-)Bild äußert (»Masse ist namenlos!«, MM 86), unterstreicht die synekdochische Beziehung dieser Figur zur Masse – wie sie von der Frau imaginiert wird. Schon im dritten Bild hat der Namenlose ja die soziale Differenz der Frau zu den Arbeitern markiert und ihr Eintreten für Streik konsequent aus ihrer sozialen Herkunft hergeleitet – nach der Leitunterscheidung: »Sie sind nicht Masse! / Ich bin Masse!« (MM 84).316 Die Forschung hat gezeigt, dass die Tanzszene des vierten Bildes an Toller bekannten Holzschnitten von 1848 orientiert ist, in der politische Gewalt mithilfe von Totentanz-Motivik verurteilt wurde.317 Indem der Namenlosen dadurch in die Nähe einer Todes-Allegorie gerückt wird, erhärtet sich die Vermutung, dass man diese Figur und ihre Aussagen gerade nicht psychologisch318 lesen darf – sondern eben in ihrer Funktion für die Protagonistin. Das zeigt sich auch im Blick auf die Diskussion über die ›Masse‹. Die Grundfrage der ›Massendiskussion‹ in Masse Mensch, der im Wesentlichen zwischen der Frau und dem Namenlosen in den Bildern 3, 5 und 7 geführt wird, ist die Frage nach dem Primat der ›Masse‹ oder dem des ›Menschen‹. Während der Namenlose die Masse präferiert – »Die Masse gilt!« (MM 84, vgl. auch 88) –, 315 Für Klein ist sie »Anwalt der Masse« (Klein: Der Wandel der dramatischen Darstellungsform im Werk Ernst Tollers 1919–1930, S. 63), Altenhofer erscheint sie als Repräsentant der kommunistischen Partei (vgl. Altenhofer, Rosmarie: Nachwort. In: Toller, Ernst. Masse Mensch. Stuttgart 1979, S. 57–77, hier: S. 57f.), anderen als Verkörperung von Eugen Leviné (vgl. Dove: Revolutionary Socialism in the Work of Ernst Toller, S. 129–131), und bei Schulz verkörpert sie die Vielheit der Masse (vgl. Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 285). Die neuere Forschung hat die These einer Personifikation der Masse vehement bestritten (vgl. Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch, S. 162). 316 Überaus explizit wird dies im siebten Bild wiederholt: »Du bist nicht unsre Heldin, unsere Führerin. / Ein jeder trägt die Krankheit seiner Herkunft, / Du die bürgerlichen Male: / Selbstbetrug und Schwäche.« (MM 103f.). 317 Vgl. Beringer: The Dance of Death in Ernst Toller’s Masse Mensch. 318 Eine solche Psychologisierung unterläuft noch einem neueren Beitrag, in dem die Behauptung der Figur, Masse zu sein, als »seine propagandistische Suggestion« bezeichnet wird (Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch, S. 162).
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heißt es bei der Frau: »Der Mensch über alles!« (MM 104).319 Diese die Titelopposition aufgreifende Dichotomie strukturiert die davon abhängigen Konflikte über das ›Wesen‹ der Masse sowie die durch das jeweilige Primat erlaubten Gewaltmittel, die im politischen Kampf Anwendung finden dürfen.320 Während die Frau ›Masse‹ als aus »Gewalt« und »Besitzunrecht« (MM 102) entstandene Sozialform beschreibt und in ein geschichtsphilosophisches Modell einordnet, an dessen Ende die Gemeinschaft freier Menschen stehen soll, ist sie dem Namenlosen ein Absolutum, das religiöse Qualität besitzt: »Masse ist heilig.« (MM 102).321 Für die Frau ist ›Masse‹ eine mindere Form von Sozialität (»Masse ist verschüttet Volk«, MM 102), die in eine auf Egalität beruhende Volksgemeinschaft überführt werden muss: »Masse soll Volk in Liebe sein. / Masse soll Gemeinschaft sein.« (MM 92). Ihrem metaphysischen Menschenbild entsprechend lehnt sie einen Begriff von ›Masse‹ ab, der Menschen zugunsten einer Sozialform instrumentalisiert, wodurch der ewige Kreislauf der Gewalt nur mit umgekehrten Vorzeichen fortgeführt werden würde (MM 102–104). Dennoch zeigt sich bereits diskursiv die das Stück beherrschende Ambivalenz ihres Massenbegriffs. Das entscheidende Postulat der Frau lautet: »Mensch in Masse befrein, / Gemeinschaft in Masse befreien.« (MM 102) Dessen Pointe ist von der Forschung322 bereits gesehen worden: Der Mensch ist nicht von der Masse zu befreien und ihr somit entgegengesetzt, sondern ist es die (geschichtsphilosophische) Funktion der ›Masse‹, in ihrer Proliferation den ›Menschen‹ in ›Gemeinschaft‹ erst zu sich selbst kommen zu lassen (und damit die Opposition von ›Mensch‹ und ›Masse‹ aufzuheben). Der Frau gilt die Masse nur insofern viel, als dass diese in das übergeordnete Projekt einer auf sakralisierter Humanität basierenden Gemeinschaft eingebunden ist. Erkennbar ist das analog zur marxistischen Geschichtsphilosophie entworfen, in der die bürgerliche Gesellschaft ein notwendiges Übergangsstadium auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft ist. Antimarxistisch gelesen, verkehren sich in der anarchistischen Revision, die das Stück präsentiert, die Positionen allerdings nachgerade chiastisch: Nun muss die entindividualisierte ›Masse‹ erst überwunden werden, um eine Sozialform zu ermöglichen, die von Individuen getragen wird. Stattdessen steht beim Namenlosen die »Lehre über alles« (MM 104). Das heißt für den Grundkonflikt des Stückes entsprechend: »Die Masse gilt und nicht der Mensch.« (MM 103). Durch die absolute Geltung der ›Massen‹ legitimiert sich auch die Gewaltanwendung, die von der Frau radikal abgelehnt wird. Mehr noch:
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Wie der Begriff ›Mensch‹ hier aufzufassen ist, soll unten geklärt werden. Vgl. dazu v. a. Schreiber: Politische Retheologisierung, S. 111–158. Vgl. Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 294. Vgl. Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch.
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Für sie bedeutet die Gewalt der ›Masse‹, dass diese sich dem todbringenden Staat und der Menschenleben fordernden Religion angleicht: Wer Menschenblut um seinetwillen fordert, Ist Moloch: Gott war Moloch. Staat war Moloch. Masse war Moloch. (MM 104, vgl. 103)
Der Masse als Endzweck politischen Handelns setzt sie ihren metaphysisch überhöhten Humanismus entgegen, der in den letzten beiden Bildern durch die Auseinandersetzung mit der (christlichen) Religion konturiert wird. So ist im Schlussbild eine (dramaturgisch allerdings kaum vorbereitete) Auseinandersetzung mit einem Priester auffällig, in der sich die Frau gegen die von ihm vertretene christliche Anthropologie stellt. Sie widerspricht seiner Lehre von der wesenhaften Schlechtigkeit des Menschen und betont: »Der Mensch will gut sein.« (MM 105) – nicht in Gott sieht sie Erlösung, sondern im Glauben an diese Güte, der am Schluss des Dialogs im dreifachen Crescendo verkündet wird (MM 105). In Verbindung mit der im Bild zuvor erfolgten Anklage an Gott, dem sie die unlösbare Schuldverstrickung des Menschen anlastet (MM 98f.), lässt sich ihr Humanismus lesen als neues, alternatives Glaubensbekenntnis – jenseits der Staatsgläubigkeit ihres Mannes, der Gottgläubigkeit des Priesters und der Massengläubigkeit des Namenlosen. Beglaubigt wird das Glaubensbekenntnis der Protagonistin mittels einer eingespielten christlichen Semantik: dem Selbstopfer als Erlösung der Welt.323 Der Tod als Sühne der Frau für die Arbeiter-Revolution ist als Martyrium einer Messias-Figur markiert324, enthält aber auch, wie erwähnt, Elemente ›erhabener‹ Entsagung durch ihre Trennung von ihrem Mann und der Weigerung, sich retten zu lassen. Diesen Motiven gemein ist das individualistische Moment: Es stellt sich dar als Entscheidung einer Einzelnen, »um der Treue zu einem Ideal willen den Tod in Kauf zu nehmen«.325 Es ist richtig, dass dies nicht als »politische Handlungsanweisung«326 taugt – doch das übersieht die metaphysische Komponente des Selbstopfers: In der Überwindung der eigenen Todesfurcht und des eigenen Begehrens im Martyrium ist ein Beispiel eines unbedingten humanistischen Ethos gegeben, der die den politischen Streitparteien 323 Vgl. allg. Anderson: German Expressionism and the Messianism of a Generation, bes. S. 132– 148. 324 Der messianische Anspruch der Protagonistin – »Nein, ich schütze euch! […] Ich schütze Menschheit, ewige Menschheit.« (MM 94), das eigene Schuldbekenntnis wie die Anklage an Gott (MM 97f.) und nicht zuletzt die explizit gemachte Einsamkeit des ›letzten Weges‹ belegen dies: »Letzter Weg führt über Schneefeld. / Letzter Weg kennt nicht Begleiter. / Letzter Weg ist ohne Mutter. / Letzter Weg ist Einsamkeit.« (MM 101). 325 Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 295. 326 Ebd.
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gemeinsame mentale Struktur – den ›Moloch‹ – zu überwinden versucht. Darauf, dass diese Hoffnung auf die Beispielhaftigkeit der eigenen Ethik nicht vergebens ist, deutet die Schlussszene hin: Nachdem die Frau abgeführt worden ist, treten weibliche Gefangene in die Zelle, um sich ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu bemächtigen, lassen aber schuldbewusst von ihrem Vorhaben ab, nachdem ein Schuss zu hören gewesen ist, einander mehrfach fragend: »Schwester, warum tun wir das?« (MM 106). Aus dem individuellen Opfer ist ein moralischer Appell an alle geworden – die Szene drückt also gerade nicht Ratlosigkeit aus.327 Wieder erweist sich, dass nicht die Perspektive des Namenlosen, der ihren Tod als womöglich nützlich für die ›Sache‹ begrüßt hat (MM 104), sondern die der Frau dramatisiert wird. Zudem muss noch von der Figuralisierung der ›Masse‹ die Rede sein. Es ist festgestellt worden, dass sie nicht von Vornherein existent ist, sondern sich im Verlaufe der Bilder 3 und 5 erst konstituiert. Zwar beklagen zu Beginn des dritten Bildes im Dunkeln »Massenchöre (wie aus der Ferne)« (MM 79) ihre Situation, doch zeigt die erhellte Szene von da ab zunächst unterschiedliche Gruppen von Arbeitern, die ihre Anliegen vorbringen. Erst im Anschluss daran sprechen sie unisono, unter der bemerkenswerten Figurenbezeichnung »Masse im Saal« (MM 81). Dass hiermit eine neuartige Sozialform konstituiert ist, zeigt sich darin, dass diese Kollektivfigur in der Folge nicht mehr in Gruppen unterteilt wird und bis zum Schluss mit der erwähnten Bezeichnung präsent bleibt. An einer Stelle ist ein Ruf zu hören; der Umstand aber, dass der Rufer unter der Menge nicht auszumachen ist und ihm nicht widersprochen ist, markiert ihn als exemplarisch für den Meinungsumschwung der ›Masse‹. Mit seiner Forderung nach »Waffen!« (MM 84) offenbart er Unterstützung für den Konfrontationskurs des Namenlosen, dem sich die ›Masse‹ danach anschließt. Die Konstitution von ›Masse‹ verläuft im fünften Bild zunächst strukturell analog zum dritten: Wieder finden sich eingangs Repliken einzelner Figuren, ehe sich daraus die ›Masse im Saal‹ (MM 94) bildet. Allerdings wird diese Massenfigur im Saal dadurch ergänzt, dass ein einzelner Arbeiter den Saal betritt und den Wunsch eines gefangenen Staatsvertreters übermittelt, die »Führerin« (MM 94) zu sehen. Kurz darauf dringen weitere Arbeiter in den Saal, die das Scheitern der Revolution und das Herannahen der Regierungstruppen verkünden. Dass dieser Vorgang nicht als Desavouierung von ›Masse‹ zu verstehen ist, zeigt sich durch das gemeinsame Singen der Internationale, die den dramaturgischen Höhepunkt der Szene darstellt. Gesungen wird eine weniger geläufige Variante des Lieds, in der es heißt: »Packt an! ihr Massen, erwacht: / Die Welt will sich von Grund aus wandeln, / Wir Sklaven ergreifen die Macht.« (MM 95). Einmal mehr offenbaren die Schlussverse des Lieds eine Spannung, die sich auf die Potentiale der ›Masse‹ übertragen 327 Vgl. Bebendorf: Tollers expressionistische Revolution, S. 82.
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lassen: »Die Internationale / Erkämpft – befreit die Welt.« (MM 95). In der ambivalenten Doppelformel ›erkämpft-befreit‹ scheint sowohl das gewalttätige als auch das die Menschheit erlösende Potential einer zur ›Masse‹ vereinten Arbeiterschaft auf. Dass hier wie schon zu Beginn des Stückes kommunistische Symbole für diese Einheit stehen, muss erwähnt, sollte angesichts der oben nachgewiesenen Umdeutungen nicht überbewertet werden: Zu deutlich ist die Tendenz, das dramatische Geschehen mittels Abstraktion328 zu universalisieren und kommunistische Fehlentwicklungen aus anarchistisch-individualistischer Perspektive zu revidieren. Nicht von ungefähr ist im Untertitel des Stückes von der »sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts« (MM 65) die Rede, nicht von der in München. Wenn auch sicherlich nicht konkret die kommunistische Revolution das Sujet des Stückes abgibt, so sei doch betont, dass mit dem szenischen Verweis auf linksrevolutionäre Konzepte auch deren Bezug zu sozialen Großgruppen transportiert wird. Das bedeutet, dass ›Masse‹ in Masse Mensch nicht zuletzt vor der Folie lesbar ist, potentiell revolutionäres Subjekt und mithin politischer Akteur sein zu können. Es ist daher nicht verwunderlich, dass angesichts des Ausgangs des Textes ihn gerade diejenigen Forscher abqualifiziert haben, die eine solche Massen-Konzeption erwartet haben. Die hier dargestellte ›Masse‹ ist aufgrund ihres wankelmütigen Verhaltens und ihrer Gewaltbereitschaft als dramatisierte Variante des Massenbegriffs von Le Bon gelesen worden.329 Doch nicht nur die soeben geschilderte Szene, in der sich die ›Masse‹ heroisch in »Todeserwartung« (MM 95) den Soldaten stellt, auch die auffällige Bezeichnung ›Masse im Saal‹ deuten darauf hin, dass das in der Figuralisierung aufscheinende Bild der ›Masse‹, das ja dasjenige der Frau selbst ist, ambivalenter gestaltet ist als im antagonistischen ›Massen‹-Diskurs des Stücks oder gar in der Massenpsychologie. Eine der beunruhigendsten Eigenschaften der Masse ist bekanntlich gerade ihre Formlosigkeit, die aus einer Ansammlung von Menschen eine nicht mehr zu bändigende ›Flut‹ werden lässt. Tatsächlich wird diese geläufige Metaphorik330 zu Beginn des Stückes von einem der Arbeiter anzitiert – aber in einer ungewöhnlichen Variante: »Umfängt die Massen erst der Saal, / Sind sie gewaltige Flut, die keine Polizei / Zu Parkfontänen ruhig plätschernd formt.« (MM 70). Im ersten Vers wird, invertiert, aber durch den Numerus des Verbes ausschließlich so lesbar, gerade die Situierung der ›Massen‹ im Saal als Bedingung für ihr revolutionäres Potential eingeführt. Das ist paradox: Gerade aufgrund der äußeren Begrenzung des Saals wird amorphe Kraft (›gewaltige Flut‹) entfesselt. Diese Stelle verweist natürlich auf die erwähnte Figu328 Darauf deutet schon die typisch verdichtete, metaphernreiche, versifizierte Sprache hin (vgl. Schulz: Ernst Toller: Masse Mensch, S. 288). 329 Vgl. etwa Rothstein: Der Traum von der Gemeinschaft, S. 90f. u. Hoffmann: Masse und Individualität in Ernst Tollers Drama Masse-Mensch, S. 154f. u. 158–160. 330 Vgl. wiederum Graczyk: Die Masse als elementare Naturgewalt, S. 23 u. 25.
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renbezeichnung ›Masse im Saal‹ im dritten und fünften Bild, besonders auf den Höhepunkt des dritten, in dem die zur »Tat« aufgerufene ›Masse im Saal‹ als entfesselte Kraft (»hinaus stürmend«) dargestellt wird und damit die Revolution entfacht (MM 85). Dadurch, dass die Formung durch den Saal als Bedingung der Massenkonstitution erscheint, offenbart sich ein Begriff von ihr, der das wahre Potential der ›Masse‹ erst in seiner Geformtheit ausmacht.331 Dass die Überquerung der Grenze zwischen Saal und Außen nicht zur Implosion der ›Masse‹ schlechthin führt, zeigt überdies das von den einströmenden wie im Saal befindlichen Arbeitern gemeinsam gesungene Lied der Internationale. Dass die Arbeiterschaft indes geformt werden muss, um ›Masse‹ werden zu können, könnte man lesen als Bedarf, gelenkt werden zu müssen. Diese Lesart wird durch die Repliken der Arbeiter in Bezug auf die Führerschaft der Frau (MM 69 u. 94) explizit und in Bezug auf den Namenlosen durch ihre Gefolgschaft implizit bestätigt. In ihrem Bedürfnis nach Führung scheint die ›Masse‹ im Stück also der seit Le Bon eingespielten Semantik zu entsprechen. Doch wenn man den oben gemachten Vorschlag ernst nimmt, die vor allem durch die Traumszenen sowie die geänderten Bezeichnungen im Nebentext der zweiten Auflage legitimierte Perspektivierung auf die Protagonistin auf ihre Auswirkungen auf die Struktur, Figurenkonzeption und Semantik des Stückes hin zu untersuchen, dann gestaltet sich die Figuration der ›Masse‹ ambivalenter. Es ist eindeutig, dass die Frau vom Bedürfnis der Arbeiter nach Führung überzeugt ist. Auch der Umstand, dass sich aus den Arbeitern ›Masse‹ erst dann konstituiert, wenn diese von Führerfiguren als Kollektiv adressiert werden, spricht für die Bedeutung der Führung für die ›Masse‹ – wie auch ihre Orientierung an der »Tat« (MM 85).332 Die Frage scheint nicht zu sein, ob es Führung geben soll, sondern welche. Indes: Anders als in Kaisers Gas ist es nicht so, dass die Protagonistin bei dem Werben um die ›Masse‹ andere rhetorische Mittel einsetzt als ihr Gegenspieler: Beide setzen auf rhetorische Überbewältigung, das Ziel ist die legitimierende Akklamation durch die ›Masse‹. Ihre Strukturgleichheit kommt sprachlich im Parallelismus vom »Ich rufe Streik!« (MM 82) der Frau und dem »Ich rufe mehr als Streik! / Ich rufe: Krieg! / Ich rufe: Revolution!« (MM 83) des Namenlosen zum Ausdruck. Man kann hierin die Dramatisierung einer undurchschauten Paradoxie im Denken der Frau sehen: Zwar vertritt sie einen auf Egalität verpflichteten Menschen- und Gemeinschaftsbegriff, pocht aber auf die Sendung ihrer 331 Vermutlich hat der Umstand, dass es sich um eine ›Masse im Saal‹ handelt, auch theaterpraktische Gründe, ermöglicht die Begrenztheit des Raumes doch die Suggestion einer Menschenmenge ohne allzu viele Statisten. Dass dieser Grund nicht von übergeordneter Bedeutung ist, lässt sich schon daran erkennen, dass in der berühmten Berliner Inszenierung des Stückes von Jürgen Fehling die Massenszenen auf einer offenen Treppe dargestellt worden sind (vgl. die Abbildungen bei Bebendorf, S. 96 u. 98–100). 332 Zum Motiv der Tat vgl. Thomé: Das Ich und seine Tat.
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Massenführung, die per se eine Asymmetrie zwischen ihr und der ›Masse‹ beinhaltet. Da sich die beiden konkurrierenden Führungsfiguren nicht in ihrem Verhalten unterscheiden, gerät die wie erwähnt differierende Relation zur ›Arbeitermasse‹ erneut in den Blick. Genau genommen hat die Frau durch ihren Aufruf zum Streik erst die ›Masse im Saal‹ konstituiert, aus der heraus dann der Namenlose hervortritt (– und in die er im fünften Akt temporär zurückkehrt, vgl. MM 95). Während die Frau durch ihre Herkunft, nicht zuletzt aber durch einen Massenbegriff, der dieses Kollektiv als Zwischenstufe zu einer Höherentwicklung konzipiert, der ›Masse‹ stets äußerlich bleiben muss, reüssiert eine Führerfigur bei dieser, die legitim behauptet, ›Masse zu sein‹. Abstrakter: Ein homogenes (autonomes) Element der Masse setzt sich im Wettstreit um die Massenführung gegen ein heterogenes (heteronomes) Element durch. Es fragt sich, wie dieser Umstand nun zu deuten ist. Für die starke These, dass sich in der Allegorie der Masse die ›Masse‹ selbst gegen externe Führerschaft ausspricht und auf Autonomie beharrt, finden sich im Text keine weiteren Belege. Man wird aber konstatieren können, dass aus dem Blickwinkel der Frau die ›Masse‹ als zutiefst ambivalente Sozialform erscheint, deren Potential so groß wie ihre Verführbarkeit und Rachlust (MM 92) ist. Sie verurteilt sie auch als Gefangene nicht – »Masse ist Muß! / Masse ist schuldlos!« (MM 98) –, sondern nur ihre Instrumentalisierung durch den Namenlosen. Sie ist am Schluss nicht geläutert, ihre Position hat sich nicht gewandelt. Das lässt darauf schließen, dass das Verhalten der ›Masse‹ im Stück konsistent ist mit den Vorstellungen der Frau über sie. Angesichts ihrer mehrfach betonten bürgerlichen Herkunft dramatisiert Masse Mensch somit nicht zuletzt die Ambivalenz einer Figur, die der bürgerlich geprägten ›Massensemantik‹ des frühen 20. Jahrhunderts genauso ausgesetzt ist wie der sozialistischen Utopie einer Veredelung der Menschheit durch die Arbeiter. Es ist diese ungelöste Spannung zwischen Hoffnung auf und Angst vor der ›Masse‹, die sich im Stück realisiert. Bezieht man die bisher gewonnenen Ergebnisse auf den hier vertretenen Vorschlag, dass man das Stück als Ich-Drama zu lesen habe, so erscheint über die Auseinandersetzung mit der ›Masse‹ hinaus das Stück als soziale Vision mit subjektsemantischer Pointe. Zunächst wird die Vision einer Korrektur moderner Sozialformen zugunsten eines Sozialmodells vertreten, das die Entfremdung und Entindividualisierung der Arbeiter wie ihre Gewalttätigkeit zu überwinden versucht. Das Ziel ist nicht mehr, die Masse selbst zu befreien, sondern es gilt die Losung: »Mensch in Masse befrein« (MM 102). Die in der Masse befindlichen Potentiale zum Menschen sollen freigesetzt werden, was bedeutet, dass eine Agglomeration entfremdeter, heteronomer Subjekte zu selbstständigen, autonomen Individuen veredelt werden soll. Das sehr bürgerliche Aufklärungs-Ideal eines als Mensch universalisierten ›starken Subjekts‹ wird als geschichtsphilosophische Endstufe imaginiert, die, erinnert man sich an den messianischen
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Aspekt der Vision, chiliastische Züge trägt. Allerdings ist diese Erlösung der Massenelemente zu Menschen wiederum nicht intern erreichbar. Aus der Masse erwächst der Namenlose, der das Denken perpetuiert, das die Masse erst hat entstehen lassen. Es ist, ganz wie in Gas, ein heterogenes Element, eine Außenseiterfigur mit bürgerlicher Prägung, die die Erlösungs-Vision verkünden und dann ein Martyrium erleiden muss. Der ›bürgerliche Blick‹, den Masse Mensch wie Gas in Szene setzt, kann selbst dann, wenn für die ›Massen‹ Partei ergriffen wird, angesichts der Massen-Semantik nur das eigene, zugleich christlich und aufklärerisch aufgeladene Subjektivitäts-Ideal als Grundlage paradiesischer Sozialität verkünden.
3.1.7 Zusammenfassender Überblick: Die Leistung der ›Massendramen‹ für die ›Frage nach dem Subjekt‹ Da angesichts von vier Detailstudien die Leitfrage des Kapitels womöglich etwas in den Hintergrund geraten ist, seien die Ergebnisse der Analysen vor dem Hintergrund dieser Frage abschließend rekapituliert und auf die Frage hin zugespitzt, welche Aussagen sie über den Einzelmenschen beinhalten, also, inwiefern sie die Subjekt-Semantik tangieren. Als ein erster – erwartbarer – Befund gilt festzuhalten, dass sich die vier Dramen zur Darstellung von ›Masse‹ unterschiedlicher Strategien bedienen. Während in den Webern die theatralen Grenzen der naturalistischen Bühne respektiert werden, indem ›Masse‹ primär akustisch evoziert wird, greift Lublinski in Peter von Rußland auf die eingespielte Strategie der Shakespeareschen Volksszenen zurück, um die Barbarei der russischen Unterschicht zu inszenieren. Von entscheidender Bedeutung für die szenische Repräsentation von ›Masse‹ ist Max Reinhardts Massentheater gewesen. Seine, von den Regisseuren der Weimarer Republik auf verschiedenste Weise aufgenommene, minutiöse Inszenierung von chorisch agierenden Schauspielgruppen hat die expressionistischen Dramatiker offensichtlich zu ihren ebenfalls chorischen Massendarstellungen angeregt. Dass diese Dramen gerade durch die Massenregie auch auf dem Theater reüssierten, belegt ihre Nähe. In der Zusammenschau fallen bei allen Unterschieden bei den Dramen gewichtige Übereinstimmungen auf. So eint die Dramen, dass ›Masse‹ nicht in Latenz verharrt, sondern sich in Aufstand, Aufruhr, Streik oder Revolution manifestiert. Dabei zeigt sich, dass die ›Masse‹ dynamisch agiert und schwer zu kontrollieren ist – mehr noch, dass sie über einen problematischen ›Eigensinn‹ verfügt, der sich besonders in den beiden expressionistischen Dramen gegen die Protagonisten wendet. Ihre Dynamik und schwere Kontrollierbarkeit ist überdies ein wichtiger Aspekt für den Bedarf an Führerschaft, den alle vier Text teilen:
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Ohne Führung muss der Aufstand versanden (Die Weber), verharrt das Volk im Stadium ›weibischer Masse‹ (Peter von Rußland) oder gerät auf Irrwege (Gas und Masse Mensch). Es fällt auf, dass in keinem der Texte die ›Massenführung‹ des Protagonisten gelingt. Das bedeutet allerdings nicht, dass ›Masse‹ als rational und verantwortlich handelnde, mithin autonome Gruppe inszeniert wird: Sie benötigt Führer, folgt aber den Falschen. ›Masse‹ wird imaginiert als Energiepotential, dessen Lenkbarkeit durch Einzelne fragwürdig oder zumindest problematisch erscheint. Das in den Dramen aufgerufene Problem, das anhand der sozialen Großgruppe ›Masse‹ behandelt wird, ist somit ein altvertrautes, nämlich das der Möglichkeiten und Grenzen des Handelns eines Einzelnen in der ›Welt‹. Bei den Webern wie bei den beiden expressionistischen Dramen erfährt dieses dramatische Grundproblem durch das Massethema eine genuin moderne Dimension. Die Grundfrage wird in diesen Texten mithin konkretisiert zu der nach den Möglichkeiten und Grenzen des Handelns von Einzelnen in der modernen Massengesellschaft. Wo bei den Webern und Gas industrielle Vermassung und ihre sozioökonomischen Folgeprobleme thematisiert werden, werden die Arbeiter in Masse Mensch in erster Linie als politischer Faktor konturiert. Das gilt mit Einschränkungen auch für Lublinskis Text, wenngleich dort der Akzent zweifellos stärker auf den Führungspersonen liegt (weshalb er im Folgenden eher am Rande vorkommt). Wie im Kapitel oft betont wurde, sind die ›Massendramen‹ nicht ohne die spätestens bei Le Bon zu Doxa geronnenen Annahmen der Massenpsychologie zu verstehen. Doch selbst in den zeitlich vorausliegenden Webern stellt sich ›Masse‹ dar, wie sie Le Bon konstruiert hat. Die grundlegende Vorstellung von der ›Vermassung‹ als Vorgang der Entdifferenzierung und Entindividualisierung333, verbunden mit der zivilisatorischen Regression der neu konstituierten ›Massenseele‹ und ihrem Bedürfnis, Führern zu folgen, findet in allen Dramen seine Entsprechung. Es wäre aber ungenau, die Stücke einfach als Dramatisierungen massenpsychologischer Annahmen zu beschreiben. Zu deutlich differieren ihre Massenkonzepte je nach den Diskursen, die zusätzlich aufgerufen werden, zum Beispiel dem der Technik in Gas und dem der Revolution in Masse Mensch. Gemein bleibt den dargestellten ›Massen‹ indes ihre Tendenz zur Nivellierung des Individuellen. Für die von ›Masse‹ affizierten Figuren gilt, dass sie als Einzelfiguren tendenziell zum Verschwinden gebracht werden und in der Kollektivfigur aufgehen. Dieser Befund trifft so allerdings nicht auf den Namenlosen in Masse Mensch zu, der als oszillierend zwischen ›Masse‹ – aus der er emergiert und in die er zurücktaucht – und Führertum – als der er mit demagogischen Reden Einfluss auf die ›Massen‹ ausübt – dargestellt wird. Seine verbalisierte wie sze333 Auch die unter Eigennamen figurierenden Aufständischen in den Webern offenbaren atavistische Züge, sobald sie Teil der ›Masse‹ werden.
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nisch inszenierte Homogenität mit der ›Masse‹ zeigt hingegen auf, was die Protagonisten der Dramen außerdem gemeinsam haben: ihre Differenz zur ›Masse‹. Ob diese eher habituell (Die Weber), essentialistisch (Peter von Rußland), ökonomisch (Gas) oder sozial (Masse Mensch) akzentuiert ist, ist zunächst zweitrangig. Festzuhalten gilt, dass diese Figuren als von ›Masse‹ unterschieden markiert sind. Die Attraktivität der ›Masse‹ besteht für die Protagonisten gerade darin, dass sie Differenzen zu kassieren und Hierarchien einzuebnen in der Lage ist. Wo in den Webern soziale Nivellierung noch als Epiphänomen einer vom Alkohol und Machtrausch entfesselten, aber ziellos agierenden ›Masse‹ erscheint, enthalten die expressionistischen Stücke utopische Sozial- oder Menschenmodelle, die mithilfe des Entdifferenzierungsphänomens ›Masse‹ realisiert werden sollen. Nicht nur soll ›Masse‹, sondern das gesamte ›Masse‹ ermöglichende Sozialsystem überwunden werden. Doch gerade die Imagination eines Zustandes jenseits der ›Masse‹ trifft auf großen Widerstand: Nicht zuletzt scheitern der Milliardärssohn und die Frau daran, dass sie ›Masse‹ als historisches Phänomen und Vehikel zur Überwindung der sozioökonomischen Verfasstheit der Welt ansehen, nicht aber als Universalie. Gewendet auf das Differenzierungsmoment kann man formulieren, dass die Massenfigur den Protagonisten nur so weit folgt, wie sie die Position der ›Masse‹ zu verbessern trachten, ihnen aber die Gefolgschaft verweigern, sobald sie diese selbst zu desintegrieren versuchen. ›Masse‹ erscheint mithin als ihrer selbst bewusste soziale Gruppe, die nicht ihre eigene Überwindung, sondern die Machtübernahme von den Industriellen (Weber, Gas) oder dem Staat (Masse Mensch) erstrebt. Sie wird als integraler Teil der modernen Industriegesellschaft dargestellt – und alle Versuche der Protagonisten, sie zu deren Veränderung zu instrumentalisieren, scheitern. Im Rahmen der Massendramen erscheint ›Masse‹ als Teil der ›problematischen‹ Moderne, nicht als ihre Lösung. Zu fragen ist, was die Konsequenzen für das Individuum sind. Zunächst fällt auf, dass selbst die zumeist einem abstrakten Figurenkonzept verpflichteten expressionistischen Dramen die Tendenz erkennen lassen, die Hauptfigur zu individualisieren. Wo bei Gas die Genealogie und Eigenständigkeit des Denkens als Belege angeführt worden sind, zeigt sich diese Tendenz in Masse Mensch durch den Eigennamen und die in der zweiten Auflage des Textes betonte Perspektivierung des Stückes auf die Frau, auch wenn ihr Universalitätsgrad insgesamt ambivalent bleibt. Diese Tendenz zur Individualisierung der Hauptfiguren kontrastiert mit den übrigen, besonders aber den Massenfiguren der Stücke auf das Schärfste und hebt diese Figuren deutlich heraus, was ein Beleg dafür ist, dass ihnen eine spezifische Bedeutung zugemessen wird. Diese Bedeutung der Hauptfiguren steht und fällt mit ihrem Anspruch, ›Masse‹ zu führen. Erneut sei betont, dass sich die Führungsansprüche dieser Figuren zwar nicht realisieren, ihr Anspruch selbst aber nicht desavouiert wird.
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Ganz im Gegenteil lässt das jeweilige Verhalten der ›Masse‹ die Notwendigkeit eines individuellen Korrektivs deutlich werden. So wird in diesen Dramen nicht das Ob, sondern allein das Wie der Führung problematisiert – und es ist das Wie, aufgrunddessen die Protagonisten scheitern. Massenführung als Führung eines hervorgehobenen Einzelnen bleibt also trotz des Scheiterns der Protagonisten ein legitimer Anspruch. Das ist bedeutsam, da somit die eingangs angeführte grundsätzliche Differenz von ›Masse‹ und Individuum erhalten bleibt. Wenn der Milliardärssohn seine Hamartia in dem Willen erkennt, sich mit allen zu vermischen und die Frau in der Gleichzeitigkeit von schichtentreuem (Liebe) und schichtenfernem (Revolution) Interesse einen individuellen Schuldzusammenhang ausmacht, so zeigt sich, dass gerade die Entdifferenzierungswünsche dieser Figuren zum Scheitern geführt haben. Was angesichts der ›Masse‹ hilft, ist nicht die Nivellierung aller Unterschiede in einer Gemeinschaft neuer Menschen – sondern allein ein starker Führer, der der ›Masse‹ sagt, was sie hören will: der Ingenieur, der Namenlose. Die Abwesenheit von adäquater Führung (Weber) stellt die Gegenprobe dar: ›Masse‹ offenbart ihr Gewaltpotential, ohne politische Wirksamkeit zu erreichen. So wie ›Masse‹ in den vier ›Massendramen‹ gestaltet wird, dient sie nicht zuletzt zur Bestätigung der Bedeutung eines handlungsmächtigen Einzelnen. ›Massenführung‹ erweist sich auch im Drama als Residuum des ›großen Ich‹.
3.2
Communitas und Einzelfigur. Der ›Tod‹ des Subjekts als Ermöglichungsbedingung von Gemeinschaftsvisionen
3.2.1 Einleitung: Gemeinschaft, Theatergemeinschaft, Communitas Gemeinschaft‹ entwickelt sich seit dem 18. Jahrhundert zu einer von jenen Semantiken, die die Umstellung auf eine moderne Gesellschaftsstruktur zu kompensieren hatte.334 Begriffsgeschichtlich bis um 1800 weitestgehend synonym mit ›Gesellschaft‹ gebraucht335, entwickelte sich ›Gemeinschaft‹ mit Abschluss der Umstellung auf den funktional differenzierten Gesellschaftstyp zu dessen Gegenbegriff, mit dem und durch den er bestimmt wurde. Er fungierte dann – trotz Korrekturversuchen von Plessner – bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als »Gegensatz zur Moderne«336 und wurde als natürliche, ›warme‹ Nahwelt entgegen der künstlichen, ›kalten‹ Gesellschaft semantisiert. Obwohl sich in der 334 Rosa, Hartmut (u. a.): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg 2010, S. 31–36. 335 Vgl. Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 820–823 sowie 832. 336 Raulet, Gérard: Die Modernität der »Gemeinschaft«. In: Brumlik, Mischa / Brunkhorst, Hauke (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 72–93, S. 82.
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politischen Romantik die sentimentale Aufwertung des Begriffs337 beobachten lässt und Schleiermacher ihn im Kontext einer Theorie der ›Geselligkeit‹ zu schärfen versucht hat338, bleibt er begrifflich bis zu Ferdinand Tönnies’ soziologischer Gründungsschrift »Gemeinschaft und Gesellschaft« (1887) unterreflektiert und in seiner Relation zum Gegenterm schwankend.339 Sein kulturkritisches Potential entfaltet er aber bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa bei Marx und Engels – bei denen er Grundbedingung der freien Entfaltung aller Individuen wird340 – oder in den kunsttheoretischen Züricher Schriften von Richard Wagner, in der die zersplitterte Gesellschaft mittels eines noch zu schaffenden und alle (Kunst-)Grenzen überwindenden Gesamtkunstwerks zur Gemeinschaft versöhnt werden soll.341 Tönnies’ Begriffsarbeit ist, darauf weisen die angegebenen Beispiele hin, durch semantische Entwicklungen vorbereitet worden, die den Erfolg seiner Dichotomisierung entscheidend begünstigt haben. Dass »Gemeinschaft und Gesellschaft« als »Deutungsschlüssel für Tendenzen und Gefahren der Moderne«342 verstanden worden ist und die beiden Leitbegriffe nicht wie gewünscht als Idealtypen, sondern als essentialistische soziale Grundbegriffe Verbreitung gefunden haben343, liegt auch am Text selbst, dessen »geheime[r] Substantialismus«344 nicht zuletzt in der den Begriffen zugrunde liegenden voluntaristischen Anthropologie sichtbar wird. Bekanntlich unterscheidet Tönnies ›Wesenwillen‹ und ›Willkür‹ – ab der 3. Auflage von 1920 als ›Kürwille‹ bezeichnet –, wobei er ersteren entsprechend mit Gemeinschaft und letzteren mit Gesellschaft assoziiert. Den Wesenwillen will er nicht als Trieb verstanden wissen, sondern als organische Einheit von Leiblichkeit, Intellek337 Vgl. Delitz, Heike: Gemeinschaft. In: Gosepath, Stefan (Hg. u. a.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialtheorie. Band 1. Berlin 2008, S. 376–380, S. 376f. sowie Rosa (u. a.): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 36f. 338 Vgl. Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 831f. 339 Vgl. ebd., S. 852f. 340 »Erst in der Gemeinschaft hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.« Sowie: »In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit« (beide Zitate Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie [1846]. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Dies.: Werke. Band 3. Berlin/Ost 1958, S. 9–530, S. 74). 341 Vgl. Hiß: Synthetische Visionen, S. 65–69. 342 Rehberg, Karl-Siegbert: Gemeinschaft und Gesellschaft – Tönnies und wir. In: Brumlik, Mischa / Brunkhorst, Hauke (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 19–48, S. 26. 343 Vgl. ebd., S. 27f. Zum kaiserzeitlichen Kontext und der soziologischen Rezeption des Buches vgl. die Aufsätze von Liebersohn und Käsler im wichtigen Band von Clausen, Lars / Schlüter, Carsten (Hg.): Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion. Opladen 1991. 344 Rehberg: Gemeinschaft und Gesellschaft – Tönnies und wir, S. 38.
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tualität und Handlungsvollzügen, dessen gleichartige Verbindung die Sozialform der Gemeinschaft hervorbringe, welche sich in Institutionen wie Familie, Nachbarschaft und Freundschaft ausdrücke. Während diese Verbindungen um ihrer selbst willen bestehen würden, sorge die auf Basis des nur intellektuellen Kürwillens geschaffene Assoziation lediglich für eine instrumentelle Verbindung unter den Menschen, der auf vernunftgeleitetem Vertrag basierenden Gesellschaft.345 Von Hobbes übernommen ist dabei unter anderem das voluntaristische Moment346: Soziale Assoziation ist bei diesem wie bei Tönnies in einem methodologischen Individualismus auf Willensakten zurückzuführen und aus diesen ableitbar.347 Dass die beiden Willensformen nicht gleichwertig sind, zeigt sich daran, dass der Kürwille gegenüber dem Wesenwillen defizitär erscheint: Wo dieser alle menschlichen Dimensionen mit lebensphilosophischer Emphase348 integriert, ist jener nur »Produkt eines dekretierenden Intellekts«349; wo dieser auf eine natürliche Moralität und natürliches Recht verweist, wird verstandesmäßige Moralität als bloße Konstruktion und durch ihre Künstlichkeit als minderwertig abqualifiziert. Da die Relation von ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ auch über eine geschichtliche Dimension verfügt und jene tendenziell von dieser abgelöst wird350, macht das deutlich, dass mit dem Siegeszug des Letzteren auch eine defizitäre Form von Subjekt dominant zu werden droht. Allerdings hat Tönnies das Überleben von ›Gemeinschaft‹ in der modernen Gesellschaft nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr Hoffnung in die Erneuerung ihrer Formen gesetzt.351 Die enge Verbindung von ›Gemeinschaft‹ mit der Vorstellung eines ›ganzheitlichen‹ Subjekts ist, bevor Tönnies’ Text der Soziologie zum Durchbruch verhelfen sollte352, um 1900 für die Lebensreformbewegungen sowie entsprechend kulturkritisch orientierte Künstler anschlussfähig gewesen353, was hier 345 Vgl. Merz-Benz, Peter.Ulrich: Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstruktion der Sozialwelt. Frankfurt a.M. 1995, bes. die Zusammenfassung S. 305–310 sowie die eigenwillige Rekonstruktion bei Osterkamp, Frank: Gemeinschaft und Gesellschaft: Über die Schwierigkeiten einen Unterschied zu machen. Zur Rekonstruktion des primären Theorieentwurfs von Ferdinand Tönnies. Berlin 2005, S. 197–216. 346 Vgl. Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn, S. 229–243. 347 Vgl. Bickel, Cornelius: Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus. Opladen 1991, S. 267–283. 348 Vgl. Ebrecht, Angelika: Das individuelle Ganze. Zum Psychologismus der Lebensphilosophie. Stuttgart 1992, S. 44–48. 349 Rehberg: Gemeinschaft und Gesellschaft – Tönnies und wir, S. 36. 350 Vgl. Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn, S. 243–258. 351 Vgl. Rosa (u. a.): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 41f. 352 Vgl. Kaesler, Dirk: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre EntstehungsMilieus. Opladen 1984, bes. S. 291–314. 353 Vgl. nur den Sammelband von Carstensen und Schmid und darin besonders den Überblicksartikel von Rohkrämer (vgl. Rohkrämer, Thomas: Modernisierungskrise und Aufbruch. Zum historischen Kontext der Lebensreform. In: Carstensen, Thorsten / Schmid, Marcel (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um
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nicht im Einzelnen entfaltet werden kann. Festzuhalten ist allerdings, dass ›Gemeinschaft‹ um 1900 den Status einer kulturell ›bereit liegenden‹ Semantik innehatte, die es erlaubte, moderne Sozialität zu reflektieren, was das Nachdenken über ihre Bedingungen und Alternativen einschließt. Allerdings wird zu zeigen sein, dass die Relationierungen von Gemeinschaft und ›starkem‹ oder ›schwachem‹ Subjekt in den Texten weit weniger eindeutig sind als etwa in Tönnies’ Theorie. Die im Folgenden behandelten drei Theatertexte (Maeterlincks Les Aveugles, Hofmannsthals Der Tor und der Tod und Rilkes Spiel) zeigen, so die zu belegende These dieses Abschnitts, eine Option auf der Ebene der Figuren im Drama auf, die das dramatische Spiel gewährleistet und dennoch die Potenz des Einzelnen befragbar macht. Diese Option vollzieht eine symbolische Ablösung der dominanten Einzelfigur zugunsten einer Kollektivfigur. Durch diese Hervorbringung einer kommunitarischen Kollektivfigur erhält sich das Drama seinen Status, »Form des Sozialen überhaupt«354 zu sein, ohne an delegitimierten Formelementen (Dialog, Handlung) festhalten zu müssen. Der ontologische und soziale Status der hier auftretenden Kollektivfigur ist ein anderer als derjenige früherer Kollektivfiguren. Dramenhistorisch am stärksten vertreten war die des Chores, der im antiken Drama als »kommentierender Zuschauer oder zuschauender Mitspieler«355 auftrat und in der Dramatik der Frühen Neuzeit verschiedentlich zu reaktivieren versucht wurde356, allerdings im 19. Jahrhundert kaum noch auf der Bühne vorkam, wenngleich er dramentheoretisch (etwa bei Hegel und Nietzsche) diskutiert wurde.357 Zudem traten Kollektivfiguren in Europa seit der Neuzeit in deutschsprachigen Texten seit dem 18. Jahrhundert vereinzelt als figurale Repräsentationen des Volkes mit präziser sozialer Zuordnung als dramatis persona auf.358 Dagegen lassen sich in den drei genannten Texten Kollektivfiguren ausmachen, die nicht wie der Chor gegenüber den Handlungen der Einzelfiguren kommentierend auftreten und deren Zusammenhang nicht über ihre soziale Gleichrangigkeit gestiftet wird, sondern ein
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1900. Bielefeld 2016, S. 27–42, hier: S. 35–37). Zur völkischen Bewegung siehe die Hinweise unten. Kohns, Oliver: Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller). In: Ders. / Liebrand, Claudia (Hg.): Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie. Bielefeld 2012, S. 57–78, hier: S. 63. Seeck, Gustav Adolf: Die griechische Tragödie. Stuttgart 2000, S. 206. Vgl. Brunkhorst, Martin: Das Experiment mit dem antiken Chor auf der modernen Bühne (1585–1803). In: Riemer, Peter / Zimmermann, Bernhard (Hg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart 1998, S. 171–194. Vgl. Silk, Michael: ›Das Urproblem der Tragödie‹. Notions of the chorus in the nineteenth century. In: Riemer, Peter / Zimmermann, Bernhard (Hg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart 1998, S. 195–226. Vgl. Schlaffer: Dramenform und Klassenstruktur.
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symbolischer ist. Das rückt diese Figuren konzeptuell in die Nähe der Menschheitsvisionen des Expressionismus mit ihren symbolischen Gemeinschaften, wie man sie in Hasenclevers »Der Sohn« und Tollers »Die Wandlung« findet. Im Unterschied zu diesen zeigt sich aber, dass sich die hier repräsentierten Gemeinschaften nicht einem Gründungsakt verdanken, dass sie nicht von einer Einzelfigur (oder wenigen Auserwählten) gestiftet werden, sondern als existenzielle Gemeinschaft infolge des faktualen bzw. symbolischen Todes der Einzelfigur entstehen. Wie sich zeigen wird, inszenieren diese Dramen eine spezifisch theatrale359 Gemeinschaft, die auf das Publikum übergreifen soll. Es handelt sich also bei den Texten gerade nicht um Lesedramen, sondern um Texte, die ihr kommunitäres Moment erst in der Aufführung realisieren. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sie gemeinhin dem symbolistischen bzw. ästhetizistischen (auch als ›lyrisch‹ bezeichneten) Drama zugeschlagen werden und dessen frühester Exponent, Stephane Mallarmé, stark antitheatral eingestellt war.360 Dessen eigener dramatischer Versuch, »Hérodiade« (erste Fassung 1864–1867), hat »seine Wirklichkeit nicht auf der Bühne, sondern in der durch die Sprache evozierten Wirklichkeit der Imagination«361 gefunden. Peter Szondi hat die frühen Einakter Hofmannsthals, Maeterlincks und Rilkes362 sehr wirkmächtig als bühnenfremde Lesedramen, als »imaginäres Theater«363 interpretiert. Wenn man allerdings die Kollektivfiguren in den Dramen sowie die darin hergestellten Formen von Gemeinschaft, die zwar gelegentlich bemerkt, von der Forschung aber aufgrund ihrer vermeintlichen Marginalität ignoriert worden sind, ernst nimmt, zeigt sich, dass gerade in diesen Repräsentationen von Gemeinschaft theateranaloge Interaktionssysteme realisiert worden sind. Die Theatralität der symbolistischen Dramatik zu betonen bedeutet, sie gegen den Strich (der Forschung und der auktorialen Epitexte) zu lesen. Da diese Kollektivfiguren in den hier zu behandelnden Texten bislang kaum Beachtung gefunden haben, hat sich für sie noch kein Terminus eingespielt. Am ehesten lassen sie sich in den Umkreis moderner kultischer Dramatik einordnen, 359 Damit ist in erster Linie gemeint, dass die Kollektivfigur szenisch realisiert wird. Ferner soll die Betonung der Theatralität dieser Kollektivfigur den Blick darauf lenken, dass diese jeweils nicht sprachlich hervorgebracht werden, sondern ihre szenische Realität in Opposition zum sprachlichen Zeichensystem gewinnen. 360 In einem Brief hat Mallarmé Maeterlincks Entscheidung, Les Aveugles im Théâtre Libre (!) aufführen zu lassen, scharf kritisiert und dessen Bestimmung als Lesedrama behauptet: es aufzuführen »c’est dénaturer cette œuvre toute de lecture« (zit. nach: McGuinness, Patrick: Maurice Maeterlinck and the Making of the Modern Theatre. Oxford/New York 2000, S. 180). 361 Szondi: Das lyrische Drama des Fin de Siècle, S. 59. Vgl. dazu: Karampetsos, E.D.[?]: The Theater of Healing. New York 1995, bes. S. 11–14. 362 Die letzteren beiden hat er bekanntlich in der Vorlesung nicht mehr ausführen können (vgl. den Hinweis ebd., S. 332). 363 Ebd., S. 59.
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die bekanntlich im Kontext der romantischen Idee einer ›Neuen Mythologie‹364 steht und dessen theatralische Dimension von Wagner und Nietzsche bis zu den Thingspielen der Nationalsozialisten nachverfolgt worden ist.365 Doch anders als diese oder etwa die Dramatik und Festspielkultur der völkischen Bewegung um die Jahrhundertwende (Wachler, Lienhard)366 erscheint die in den drei hier behandelten Texten evozierte Gemeinschaft nicht völkisch semantisiert – sie scheint vielmehr auf charakteristische Weise entpolitisiert, was wohl auf ihre Zugehörigkeit zum Symbolismus bzw. Ästhetizismus zurückzuführen ist, deren antimimetische Ästhetik hier Gelegenheit bietet, die dramatische ›Gemeinschaft‹ als apolitische, rein ästhetische zu semantisieren.367 Hier wird vorgeschlagen, diese dramatische Kollektivfigur heuristisch mit einem von Victor Turner entlehnten Begriff als »Communitas«368 zu bezeichnen. Turner gebraucht diesen, um eine spezifische Sozialform zu markieren, die der institutionalisierten ›Sozialstruktur‹ entgegengesetzt ist, da sie eine nicht-hierarchische und unmittelbare Form der Gemeinschaft erschafft, die sich jedoch notwendig in Sozialstrukturen verstetigt, also nicht von Dauer ist.369 Er zieht diesen Begriff dem der Gemeinschaft vor, um zu betonen, dass es sich nicht um eine sozusagen ›natürliche‹, alltägliche Sozialform handelt370, sondern um eine, die unwillkürlich entsteht und vergeht. Sie ist kein Signum vormoderner Gesellschaftstypen, sondern »auf allen Stufen und Ebenen der Kultur und der Gesellschaft vorhanden«.371 Vom utopischen Potential der Turnerschen Com-
364 Vgl. Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. 1. Teil. Frankfurt a.M. 1982. 365 Vgl. Frank, Manfred: Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas (Nietzsche, Wagner, Johst). In: Ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. 2. Teil. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–104 sowie ders.: Vom »Bühnenweihefestspiel« zum »Thingspiel«. Zur Wirkungsgeschichte der ›Neuen Mythologie‹ bei Nietzsche, Wagner und Johst. In: Warning, Rainer (Hg.): Das Fest. (= Poetik und Hermeneutik. Band XIV) München 1989, S. 610–638. 366 Vgl. besonders die Artikel zu Wachler und Lienhard im Handbuch zur »Völkischen Bewegung« sowie die neuere Dissertation von Neufert (Châtellier, Hildegard: Friedrich Lienhard. In: Puschner, Uwe (Hg. u. a.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München 1999, S. 114–130; Puschner, Uwe: Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater. In: ebd., S. 762–796; Neufert, Sven: Theater als Tempel. Völkische Ursprungssuche in Drama, Theater und Festkultur 1890–1930. Würzburg 2018). 367 Die Weitung des Referenzrahmens zum Allgemeinen und schlechthin zur ›conditio humana‹ ist für den Symbolismus insgesamt wie gerade für Maeterlinck im Speziellen charakteristisch und findet sich nicht allein hier (vgl. Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten, S. 509f.). 368 Turner, Victor: Das Ritual [engl. 1969]. Struktur und Anti-Struktur. Neuauflage. Frankfurt a.M./New York 2005, bes. S. 96–136. 369 Vgl. ebd., S. 129. 370 Vgl. ebd., S. 96. 371 Ebd., S. 111.
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munitas372, von seinen ritualistischen Implikationen und deren Übertragungen auf Theateraufführungen373, die seine Applikationen bislang bestimmt haben374, soll abgesehen werden. Der Begriff soll also in erster Linie deshalb Verwendung finden, weil er eine spezifische Relationierung von Kollektiv und Einzelfigur beschreibbar macht. Für die Relektüre der drei Dramen ist ein bestimmter Aspekt des Turnerschen Communitas-Begriffs von besonderem Interesse: der der Existenzialität. Die in den Texten zu beobachtenden eng aufeinander bezogenen Figurengruppen sind jeweils nicht sozialstrukturell oder politisch verbunden, sondern werden als Repräsentationen existenzieller Gemeinschaften dramatisiert. Anders als im Expressionismus wird mit dieser Kollektivfigur aber kein utopisches Gegenmodell zu unpersönlicher, antagonistischer Gesellschaft geboten, sondern eine nicht steuerbare und ambivalente Form von interaktionell gegründeter Gemeinschaft theatral imaginiert.
3.2.2 Verlust des Zentrums: Maeterlincks Die Blinden / Les Aveugles (1890) als Metadrama und Drama des Subjektverlusts Maurice Maeterlincks Dramatik wurde bereits 1890 in einem Artikel von Octave Mirbeau in »Le Figaro« als erste genuin symbolistische Dramatik gefeiert375 und ist im deutschsprachigen Raum bald intensiv rezipiert worden.376 Seine beiden 372 So dringt Communitas »in der Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität unterhalb der Struktur ein« (ebd., S. 125). Das utopische Moment dieser Sozialform wird ferner deutlich, wenn ihre »existenzielle Qualität« (S. 124) im Gegensatz zur eher »kognitive[n] Qualität« (ebd.) der Sozialstruktur herausgearbeitet und die Bubersche Ich-Du-Relation als ihr kommunikatives Modell dargestellt wird (vgl. S. 128f.). Dass die Relationierung von Communitas und Sozialstruktur deutliche Analogien zu Tönnies’ Dichotomie von ›natürlicher‹ Gemeinschaft und ›künstlicher‹, vertraglich herzustellender Gesellschaft aufweist und mithin diskursive Vorläufer im Untersuchungszeitraum besitzt, kann hier nur erwähnt, aber nicht weiter verfolgt werden. Zur Ritualforschung um 1900 und damit verbundenen kommunitaristischen Utopien vgl. Brunotte, Ulrike: Der Männerbund zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Communitas und Ritual um 1900. In: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Diskurse des Theatralen. Tübingen [u. a.] 2005, S. 231–246. 373 Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater [engl. 1982]. Der Ernst des menschlichen Spiels. Mit einer aktuellen Einleitung von Erika Fischer-Lichte. Neuausgabe. Frankfurt a.M. [u. a.] 2009. 374 Vgl. nur Fischer-Lichtes Einleitung ebd., S. I–XXIII. 375 Vgl. Robichez, Jacques: Le Symbolisme au théâtre. Lugné-Poe et les débuts de L’uvre. Paris 1957, S. 80. 376 Vgl. Roland, Hubert: Kulturtransfer und Nachdichtung. Über Autoren des belgischen Symbolismus und ihre Beziehung zur deutschen Literatur. In: Germanistische Mitteilungen 42,2 (2016), S. 45–62.
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Einakter L’Intruse und Les Aveugles wurden, zusammen mit dem später veröffentlichten Intérieur, als völlig neuartige Texte, als Dramenexperimente rezipiert, deren Theatralität und Zukunftsträchtigkeit jedoch als fragwürdig galt.377 Doch entgegen der angenommenen Bühnenfeindlichkeit sind die Texte früh aufgeführt worden, besonders in Paris378 und im deutschsprachigen Raum379 – wobei ausgerechnet Les Aveugles im deutschsprachigen Raum recht spät erstaufgeführt wurde, was wohl eher dem Zufall geschuldet ist.380 Die Vermutung, es bei Maeterlinck mit einem antitheatralen Dramatiker zu tun zu haben, hielt sich bis 1901, bis zur Uraufführung von Monna Vanna, das wesentlich konventioneller gearbeitet war und den Flamen zu einem weithin populären Modeautor machte381, der 1911 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde – zu einer Zeit also, als er kaum noch als wagemutiger Dramatiker, sondern eher als Essayist in Erscheinung getreten ist.382 McGuinness hat vermutet, dass Maeterlinck deshalb zu den weniger bekannten Exponenten der modernen Dramatik zählt, weil die damals als schockierend neuartig empfundenen Momente – etwa die Handlungsarmut, die amimetischen Figuren sowie die theatrale Vermittlung einer unnennbaren Bedrohung – seit Artaud, Beckett u. a. zum Standard des modernen Dramas gehören.383 Vor der Analyse müssen noch zwei Bemerkungen zur Forschungslage gemacht werden, die deutlich machen sollen, inwieweit die folgenden Ausführungen gegen die communis opinio384 argumentiert. Die Forschung hat sich, erstens, in ihren Deutungen sehr stark von den Epitexten der Stücke leiten lassen. Besonders drei Texte sind von der Forschung ins Zentrum gerückt worden: die frühen Überlegungen zur negativen Bedeutung des Schauspielers für das Drama, bekannt geworden unter dem Schlagwort des 377 Vgl. McGuinness: Maurice Maeterlinck and the Making of Modern Theatre, S. 169. 378 Vgl. Robichez: Le Symbolisme au théâtre, S. 127f. 379 Vgl. die (eingestandenermaßen vermutlich unvollständige) Auflistung der deutschen Aufführungen bei Gross (Hg.): Maurice Maeterlinck und die deutschsprachige Literatur, S. 416– 419. 380 So ist eine Aufführung, die das Stück in einer Übersetzung von Hofmannsthal am 2.5. 1892 im Wiener Theater in der Josefstadt zeigen sollte, nicht zustande gekommen, weil dieser verärgert war, dass auf dem Aufführungszettel neben ihm noch der Maler Ferry Bératon als Übersetzer aufgeführt worden war (vgl. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 63f.). Ferner wird Rilkes Plan von 1896, das Stück in Prag aufzuführen, erwähnt (vgl. Gross, Stefan: Nachwort. In: Maeterlinck, Maurice: Die frühen Stücke. Band 2. Übersetzt und herausgegeben von Stefan Gross. München 1983, S. 197–210, S. 201). 381 Vgl. McGuinness: Maurice Maeterlinck and the Making of Modern Theatre, S. 4f. 382 Vgl. ebd., S. 7. 383 Vgl. ebd., S. 170. 384 Zur Maeterlinck-Forschung allgemein vgl. die Auswahlbibliographie in: Maeterlinck, Maurice: L’Intruse, Les Aveugles, Les Sept Princesses. Édition établie et commentée par Fabrice van de Kerckhove. Bruxelles 2009, S. 279–299.
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»Androidentheaters«385 (1890), der Essay »Le tragique quotidien« aus der Essaysammlung »Le trésor des humbles« (1896), in dem eine Tragik des Alltags durch eine neue Dialogtechnik, den Dialog zweiten Grades, vermittelt werden soll386, und Maeterlincks Vorwort zu seiner Werkausgabe (1901), in dem er die Rolle der Tragik des Alltags herunterspielt und stattdessen den Begriff des Unbewussten für seine Dramatik nutzbar zu machen versucht.387 Allzu bereitwillig ist die Forschung Maeterlincks Epitexten gefolgt und hat seine Dramentexte vor der Folie dieser Texte gelesen. Doch gibt es längst Hinweise dafür, dass es nicht sinnvoll ist, die dort vertretenen Aussagen unhinterfragt zu übernehmen. So ist schon 1989 darauf hingewiesen worden, dass Maeterlincks Skepsis gegenüber der Rolle des Theaters für das symbolistische Drama nicht gleichbedeutend ist mit völligem Desinteresse: Maeterlinck hat sich mit Adaptionen seiner Texte für die Bühne beschäftigt, hat den für die Inszenierungen Verantwortlichen Hinweise für Bühnenbild, Kostüme, allgemeine Atmosphäre und gelegentlich sogar für die Charaktere gegeben.388 Ferner fragt sich, ob sich Maeterlincks Theaterskepsis nicht auf eine spezifische Bühnenpraxis der Zeit bezieht, ohne dabei theatraler Repräsentation per se eine Absage zu erteilen.389 In Bezug auf die genannten drei ›Alltagsdramen‹ wurde vor allem »Le tragique quotidien« als Epitext herangezogen. Noch der neueren Forschung gilt er als Bilanz, mitunter gar als nachträgliche Infragestellung seines Frühwerks und wird für dessen Verständnis als unverzichtbar bezeichnet.390 Dass gerade Les Aveugles stark unter Zuhilfenahme von »Le tragique quotidien« untersucht wurde, ist verständlich. Es bietet Interpretationshilfen, indem es die ungewohnte Dialogführung als »Dialog zweiten Grades« erklärbar macht, die Handlungslosigkeit als dramatischen Ausdruck der »Tragik des Alltags« und die merkwürdig abstrakten Figuren als Verweise auf das »höhere Dasein«, mithin als Exponenten der ›conditio humana‹.391 Le tragique quotidien fügt das Stück in einen übergreifenden metaphysischen Zusammenhang ein und lässt die Figuren damit als völlig de385 Vgl. Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. 386 Vgl. Bayerdörfer: Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment, S. 242. 387 Vgl. Lucet, Sophie: Du proche et du lontain. l’éxperimentation théâtrale maeterlinckienne (1889–1894). In: Camet, Sylvie (Hg. u. a.): Le Tragique quotidien. Paris 2005, S. 99–138. 388 Rose, Margaret: The symbolist theatre tradition from Maeterlinck and Yeats to Beckett and Pinter. Mailand 1989, S. 51f. 389 Vgl. Treilhou-Balaudé, Catherine: Voir au lieu d’agir. Maeterlinck ou le drame du regard. In: Études théâtrales 15/16 (1999): Mise en crise de la forme dramatique 1880–1910, S. 121–129. 390 Vgl. Lucet: l’éxperimentation théâtrale maeterlinckienne (1889–1894), S. 108. 391 Exemplarisch für diese Tendenz etwa die Arbeiten von Gorceix (Gorceix, Paul: La Belgique fin de siècle. Romans – Nouvelles – Théâtre, Bruxelles 1997; ders.: Introduction. In: Maeterlinck, Maurice: Les Aveugles. In: Ders.: Œuvres II: Théâtre. Tome 1. Édition établie, commentée et précédée d’un Essai par Paul Gorceix. Bruxelles 1999, S. 1–79; ders.: Maeterlinck. L’arpenteur de L’Invisible. Bruxelles 2005); siehe auch: Bayerdörfer: Symbolistische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters.
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terminiert erscheinen, »immergés dans le cosmos«.392 Durch den Hinweis auf den »dialogue du sécond degré« können die Figurenrepliken als chorisches Sprechen393 oder als »chorische Litanei und als Monolog an der Grenze des Bewußtseins«394 interpretiert werden, ohne sie sich im Einzelnen ansehen zu müssen. Dass man zu neuen, womöglich interessanteren Ergebnissen kommt, wenn man die Bedeutung der genannten Epitexte für Les Aveugles nicht überschätzt, dafür sei Stefan Gross der Gewährsmann: Sein Versuch, Maeterlincks Frühwerk mithilfe von Bretons Konzept des schwarzen Humors zu lesen, arbeitet bei Les Aveugles die Einheit der komischen, tragischen, grotesken, erhabenen, lächerlichen und absurden Züge als tragischen Humor angesichts der menschlichen Nichtigkeit heraus.395 Wie bei ihm soll also versucht werden, das Geschehen und die Repliken insofern ernst zu nehmen, dass sie nicht immer schon durch die Determiniertheit des Kosmos entwertet sind. Mit diesem Beiseitelassen der metaphysischen396 wie auch moralischen Implikationen397 des Stücks könnte der Blick für die formalen Aspekte des Dramas geschärft werden. Zweitens hat die ältere Forschung gerade an Les Aveugles zu zeigen versucht, dass Maeterlincks Dramatik eine dramengeschichtliche Aporie darstellt, deren Bedeutung auf ihrer Wirkung auf die Theatertheorie398 und -praxis399 beruht. In der Tat muss das Stück aus der Perspektive der klassischen Dramaturgie wie eine Kampfansage400 erscheinen. Anstelle einer Handlung wird die Situation von zwölf blinden Figuren, sechs Männern und sechs Frauen, dargestellt, die auf einer Waldlichtung auf die Rückkehr ihres Führers, einen alten Priester, warten. Der Zuschauer weiß von Beginn an, dass dieses Warten vergeblich bleiben muss, da er sich die gesamte Zeit tot auf der Bühne befindet. Nachdem dieser Umstand den Blinden mithilfe eines von außen kommenden Hundes aufgeklärt wird, steigt deren Verzweiflung, die sich aber nicht in einer Veränderung der Situation niederschlägt. In nächtlicher Dunkelheit, bei einsetzendem Schneefall, aufgewühltem Meer um sie herum und in angstvoller Erwartung dessen, was sich
392 393 394 395 396
397 398 399 400
Gorceix: La Belgique fin de siècle, S. 134. Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), S. 60. Bayerdörfer: Symbolistische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters, S. 510f. Vgl. Gross, Stefan: Maurice Maeterlinck oder Der symbolische Sadismus des Humors. Frankfurt a.M. [u. a.] 1985, bes. S. 48–59. Das betrifft auch die Frage, ob im Tod des Priesters ein Angriff auf die Unfähigkeit der Kirche, Kontakt zur spirituellen Welt herzustellen, artikuliert wird, wie es die ältere Forschung (vgl. Bailly, Auguste: Maeterlinck. Paris 1931; Compère, Gaston: Le Théâtre de Maurice Maeterlinck, Bruxelles 1955) angenommen hat. Besonders Gorceix insistiert darauf, dass man die Blindheit als moralischen Defekt zu lesen habe (vgl. Gorceix: Introduction, S. 21). Vgl. Bayerdörfer: Maeterlincks Impulse für die Entwicklung der Theatertheorie. Vgl. Kesting: Maeterlincks Revolutionierung der Dramaturgie. Vgl. Gorceix: Maeterlinck, S. 337.
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durch näher kommende Schritte ankündigt, verharren die zwölf Blinden bis zum Schluss in Untätigkeit. Die Zusammenfassung dürfte verständlich machen, warum Szondi zufolge im Stück die dramatische Form »sinnlos«401 geworden sei: Wenn die dramatischen Figuren dem Schicksal »rettungslos«402 ausgeliefert sind, wenn Warten an die Stelle von Handeln getreten ist403, wenn Verständigung nicht mehr möglich scheint404, so scheinen sich die Grundelemente von Drama aufgelöst und damit die Grenzen zur epischen Form geöffnet405 zu haben. Das gilt erst recht dann, wenn man das Stück als lyrisches Drama symbolistischer Manier einordnet. Die dramenpoetische Nachfolge Mallarmés406 wird dann als »Interiorisierung des Dramas«407 und die Lyrizität des Nebentextes als Kompensation für die Abwesenheit von Handlung und die Unwichtigkeit des Dialogs interpretiert408 – womit wiederum die Aporie der Form einhergeht. Es soll nun nicht bestritten werden, dass sich Les Aveugles als Krisensymptom der dramatischen Form lesen lässt. Doch ist ein komplementärer Blick fruchtbarer. Das Stück scheitert nicht etwa daran, eine dramatische Handlung zu entfalten, vielmehr reflektiert es diese Unfähigkeit dadurch, dass die Grundelemente des Dramas (Raum, Zeit, Figuren, Dialog, Handlung) im Verlaufe des Textes exponiert und als dysfunktional problematisiert werden. Das Stück stellt daher dar, dass es in klassischer dramatischer Form nichts darstellen kann409, es ist ein Meta-Drama. Diese Aporie führt aber nicht zu einer gattungstechnischen ›Bankrotterklärung‹, sondern zu einer neuen Option des Dramatischen, das auf einer Integration von Akteuren und Zuschauern als existenzieller Communitas beruht. Darin, dass das Drama seine eigenen Bedingungen reflektiert und auf Basis dieser Reflexionen zu neuen Formlösungen kommt, besteht seine Modernität, mehr noch: sein Überleben als modernes Drama.410 Dies soll im Folgenden plausibel gemacht werden. 401 402 403 404 405 406
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Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), S. 62. Ebd., S. 60. Vgl. Gorceix: Maeterlinck, S. 340. Vgl. Kesting: Maeterlincks Revolutionierung der Dramaturgie, S. 116. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), S. 62. Vgl. allgemein Damblemont: Symbolistisches Theater im Gefolge Mallarmés. Maeterlinck mag sich thematisch von Mallarmé abgegrenzt haben (ebd., S. 106), an der Theaterästhetik des Symbolismus (wie sie sein Landsmann Alfred Mockel in einer Rezension konzise formuliert hat, vgl. ebd., S. 108) hat er sich jedoch deutlich angelehnt. Schels: Die Tradition des lyrischen Dramas von Musset bis Hofmannsthal, S. 131. Gorceix: Maeterlinck, S. 337. Vgl. Schwanitz / Schwalm / Weiszflog: Art. Drama, Bauformen und Theorie, S. 417f. Diese These hat in Bezug auf die Tragödie bereits Daniel Fulda verfochten, indem er deren Überleben in der Moderne damit begründete, dass sie ihre »vermeintliche Todesursache«, die »Aporie« der (Entscheidungs-)Situation, zum Thema macht (vgl. Fulda, Daniel: Aus der Krise in die Aporie. Die Tragödie als Gattung der Klassischen Moderne und die Grenzen der
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Die Ausgangssituation von Les Aveugles ist eine vierfache Unkenntnis: weder der Raum noch die Zeit, weder das Ziel der Reise noch die Rückkehr des Priesters ist den Figuren klar.411 Alle vier Momente sind bezogen auf das den zwölf Wartenden gemeinsame Gebrechen – die Blindheit. Blindheit stellt das zentrale Motiv des Einakters dar, seine Ermöglichungsgrundlage. Erst durch den Ausfall des Sehsinns sind die Figuren gezwungen, miteinander zu kommunizieren412, nur dadurch bekommt die Situation, in der sich die Wartenden befinden, eine existenziell bedrohliche Komponente. Mehr noch gewährleistet die Blindheit der Figuren die Dramatizität des Textes: Durch sie entsteht eine Diskrepanz zwischen der Informiertheit der Figuren und derjenigen der Zuschauer, worin Pfister eine »Differenzqualität dramatischer Kommunikation«413 sieht. Der Text reflektiert seine Bühnensituation, indem er durch das Motiv der Blindheit die Diskrepanz von Zuschauer- und Figureninformiertheit aufruft. Blindheit ist allerdings nicht die einzige Art der Behinderung, die den Weltkontakt der Figuren stört. In einer für den Text typischen Überdetermination sind die Figuren zudem in ihrer Beweglichkeit dadurch eingeschränkt, dass die sechs männlichen von den sechs weiblichen Blinden durch »un arbre déraciné et des quartiers de roc« (Av 285)414 getrennt sind, was einen der Blinden wiederholt die Empfehlung aussprechen lässt: »Il vaut mieux rester à sa place« (Av 287, 306).415 Auch innerhalb der Zone, in der die weiblichen bzw. männlichen Blinden situiert sind, scheint es unwirtlich zu sein. Die älteste Blinde: »Nous n’osons pas nous lever!« (Av 287).416 Der sechste Blinde: »J’ai essayé de me lever; il n’y a que
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›Entscheidung‹. In: Bullivant, Keith / Spies, Bernhard (Hg.): Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 41–64, hier: S. 45). Vgl. Konrad, Lynn Bratteteig: Modern Drama as Crisis. The Case of Maurice Maeterlinck. New York [u. a.] 1986, S. 21. Szondi hat darin die dramaturgische Funktion des Blindseins erkannt: Es errettet das Drama vor dem Verstummen (Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), S. 59). Pfister: Das Drama, S. 80. Les Aveugles wird aus folgender Ausgabe zitiert: Maeterlinck, Maurice: Les Aveugles. In: Ders.: Œuvres II: Théâtre. Tome 1. Édition établie, commentée et précédée d’un Essai par Paul Gorceix. Bruxelles 1999. S. 281–325. Die in den Fußnoten nachgereichte deutsche Übersetzung ist folgender Ausgabe entnommen: Maeterlinck, Maurice: Die Blinden. In: Ders.: Die frühen Stücke. Band 1. Übersetzt und herausgegeben von Stefan Gross. Zweite, unveränderte Auflage. München 2000, S. 107–132. Das französische Original wird im Fließtext mit der Sigle (Av) und der Seitenangabe, die deutsche Übersetzung in der Fußnote mit der Sigle (Bl) wiedergegeben. Zur Textstelle: »einen entwurzelten Baum sowie Felsblöcke« (Bl 109). »Es ist besser, man bleibt an seinem Platz!« (Bl 110); »[…] besser bleibt jeder an seinem Platz.« (Bl 122). »Wir wagen nicht aufzustehen!« (Bl 110).
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des épines autour de moi; je n’ose plus étendre les mains.« (Av 296)417 Das bedeutet, dass zunächst auch der Tastsinn zur Verifikation der Vermutungen über ihre Situation ausfällt. Die durch die unwegsame Umgebung diktierte Bewegungslosigkeit der Blinden wird nur an wenigen Stellen aufgehoben, die daher von herausragender Bedeutung sind. Neben der Einschränkung der Bewegungsfreiheit spielt zudem Taubheit eine Rolle. Der fünfte Blinde wird nach seiner ersten Replik als taub eingeführt (Av 292)418, und auch ein späterer Versuch, auf eine seiner Fragen zu reagieren, bleibt nutzlos (Av 306).419 Neben dieser physischen Taubheit ließe sich noch eine symbolische erwähnen: Konrad hat darauf hingewiesen, dass im Stück die Doppelbedeutung des Wortes »entendre« als verstehen und hören ausgespielt wird und dabei gerade die drei männlichen Blindgeborenen als schwerhörig erscheinen.420 An dieser Stelle sei der Hinweis eingeschoben, dass sich die zwölf Blinden nicht etwa vollkommen gleichen, sondern marginal unterscheiden. Die Differenzen gehen erstens auf den Grad und Ausprägung ihrer jeweiligen Behinderungen zurück, und zweitens auf die Kompensation der Einschränkungen durch alternative Methoden der Wahrnehmung, die ihnen den Zugang zum ›kosmischen‹ Zeichensystem ermöglichen. Es zeigt sich eine gewisse Symmetrie zwischen den blinden Frauen und den Männern, obwohl die weiblichen Figuren den Mysterien von Leben und Tod näher scheinen.421 Von den übrigen abgesondert sind die beiden Blinden, die aufgrund ihrer Taubheit (der fünfte Blinde) bzw. Stummheit (die verrückte Blinde mit dem Kind) nicht in der Lage sind, an der Kommunikation teilzunehmen. Die drei blindgeborenen Männer erweisen sich aufgrund ihres Unwillens gegenüber jeder Art von Bewegung (beispielhaft: »Restons assis!«, Av 300)422 und des Unwissens über ihre Umgebung, die von den übrigen Blinden als Ignoranz angesehen wird (z. B. Av 300f.)423 als die hilflosesten Figuren, was sie den immerzu betenden drei Frauen annähert. Die älteste Blinde und der älteste Blinde hingegen haben beide als Kinder zu sehen vermocht (Av 417 »Ich habe versucht, aufzustehen; rund um mich sind nichts als Dornensträucher; ich wage nicht einmal mehr, die Hände auszutrecken.« (Bl 115). 418 Vgl. Bl 113. 419 Vgl. ebd., S. 121. 420 Vgl. Konrad: Modern Drama as Crisis, S. 24. 421 Vgl. ebd., S. 12: Konrad sieht eine Nähe der Frauen zu Leben und Tod etwa wegen der Todesfigur am Schluss des Stückes, das ein Kleid trägt (Av 324 / Bl 132), und weil die verrückte Blinde erst durch die Geburt verrückt geworden ist und seitdem ständig Angst hat (Av 307/ Bl 122). Sie stellt klar, dass diese Einsicht in die Mysterien der Existenz schmerzhaft ist und den weiblichen Figuren keine Handlung ermöglichende privilegierende Position verschafft (vgl. ebd., S. 37f.). 422 »Bleiben wir lieber sitzen!« (Bl 118). 423 Bl 118f.
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297)424 und stellen präzise Vermutungen über ihre Umgebung (z. B. Av 293f.)425 bzw. die Motive des Priesters (z. B. Av 294)426 an. Sie unterscheiden sich allerdings darin, dass der älteste Blinde ein starkes Kollektivitätsbewusstsein äußert (Av 304f.; 318)427, während die älteste Blinde die Ignoranz der Blindgeborenen für ihre Orientierungslosigkeit (Av 291f.) und sogar für den Tod des Priesters verantwortlich macht (Av 318). Der sechste und die junge Blinde sind durch einen bemerkenswerten Vorgang verbunden: Er steht auf und tastet nach Affodillen, die er pflücken will, verliert aber die Orientierung und wird schließlich von der jungen Blinden, die sich »sans hésitation« (Av 309)428 zu den Blumen hin bewegt, aber bemerkt, dass diese auf der Seite der männlichen Blinden sind, zu dem Blumenbeet hingeleitet, woraufhin er die Blumen pflückt und ihr überreicht (Av 309f.).429Sie flicht sich daraufhin »la fleur des morts« (Av 310)430 ins Haar. Dies stellt den einzigen physischen Kontakt der beiden Blindengruppen vor der Entdeckung des Priesters dar und ist bemerkenswerterweise von der Forschung vollkommen ignoriert worden. Wie dieser Vorgang zu interpretieren ist, soll weiter unten geklärt werden. Festzuhalten ist zunächst, dass bei allen subtilen Unterschieden der Blinden untereinander der Umstand kollektiver Behinderung im Beschaffen, Lesen und Verifizieren von Zeichen, gewissermaßen eine »hermeneutisch-semiotische«431 Krisensituation bestehen bleibt. Metadramatisch wird die beschriebene Ausgangssituation nun dadurch, dass mit dem durch die verschiedenen Behinderungen hervorgerufenen Orientierungsverlust und der hermeneutisch-semiotischen Krise der Figuren präzise diejenigen Elemente thematisch werden, die dem Drama per se als Grundlage dienen. Die Grundsätzlichkeit der räumlichen Orientierung (und ihr Fehlen) wird präsent gehalten, indem sie von den Figuren wiederholt artikuliert wird: »Il faudrait savoir où nous sommes« (Av 286, 296)432; »[D]ites-nous donc où nous sommes!« (Av 298, 300).433 Das Stück ist durchzogen von den Vermutungen der Blinden, wo auf der Insel man sich aufhalte, die natürlich unbestätigt bleiben müssen, auch wenn sich nur die wenigsten – etwa, dass man sich in einer Grotte befinde (Av 295)434 – von den Zuschauern und den Blinden ausschließen lassen.
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Bl 116. Bl 114. Bl 114. Bl 120f. u. 128. »[o]hne zu zögern« (Bl 123). Bl 123. »die Blume der Toten« (Bl 123). Fulda: Aus der Krise in die Aporie, S. 21. »Wir müßten wissen, wo wir sind« (Bl 110; 115). »Sagt uns doch, wo wir sind!« (Bl 117; 118). Bl 115.
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Auch die Uhrzeit der gespielten Szene ist unklar. Auf die Vermutung des sechsten Blinden, es sei sehr spät, wird gefragt: »Quelle heure est-il?« – worauf die kollektive (!) Antwort der anderen Blinden lautet: »Je ne sais pas. – Personne ne le sait.« (Av 294).435 Wenn eine ferne Glocke zwölfmal schlägt, herrscht Uneinigkeit über die Zeit: Le plus vieil aveugle: Il es minuit! Deuxième aveugle-né: Il est midi! – Quelqu’un le sait-il? Parlez! (Av 298)436
Die Ungewissheit über Raum und Zeit wird präsent gehalten, damit deutlich bleibt, dass die Grundlagen dramatischer Handlung nicht gegeben sind. Ebenso erscheint Kommunikation als problematisch. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn unklar ist, an wen eine Frage adressiert wird und metasprachlich nachgefragt werden muss (Av 303).437 Überdies läuft Kommunikation manchmal leer, weil die Figuren ohne gemeinsamen Code zu kommunizieren scheinen: La plus vieil aveugle: Je rêve parfois que je vois… Le plus vieil aveugle: Moi, je ne vois que quand je rêve… Premier aveugle-né: Je ne rêve, d’ordinaire, qu’à minuit. (Av 305)438
Auch die Sprache selbst wird als Hindernis angesehen, gerade in ihrer referentiellen Funktion. So spricht die älteste Blinde die Befürchtung aus, die Erinnerungen würden verblassen, wenn man sie ausspräche (Av 301f.).439 Die Unfähigkeit, sich sprachlichen Ausdruck zu geben, wird von der jungen Blinden explizit gemacht – und wiederum auf die Blindheit der Figuren bezogen: »Je ne saurais le dire. Comment voulez-vous que je vous l’explique? […] Je ne pourrais le montrer que par signes; mais nous n’y voyons plus…« (Av 302).440 Man kann, präziser, sagen, dass sich die Funktion der sprachlichen Äußerungen im Text gewandelt hat: Während referentielle Aussagen aufgrund der Blindheit der Figuren nicht verifizierbar sind, wird die phatische Funktion der Sprache semantisiert als einzige Möglichkeit, sich der Existenz der anderen zu versichern441: »Où
435 »Wie spät ist es?« – »Ich weiß nicht. – Keiner weiß es.« (Bl 114). 436 »Der älteste Blinde: Es ist Mitternacht! Zweiter Blindgeborener: Es ist Mittag! – Weiß es einer? – Sprecht!« (Bl 117). 437 Bl 119f. 438 »Die älteste Blinde: Manchmal träume ich, daß ich sehe… Der älteste Blinde: Ich sehe nur, wenn ich träume… Erster Blindgeborener: Ich träume im allgemeinen nur um Mitternacht.« (Bl 121). 439 Bl 119. 440 »Ich weiß fast nicht, wie ich es Euch erklären soll. […] Ich könnte das nur mit Hilfe von Zeichen deutlich machen; aber die sehen wir nicht mehr…« (Bl 119). Es ist bemerkenswert, dass Gross die zwei Sätze zu Beginn der Replik mit einem Satz übersetzt, in dem die explizite Referenz auf das Sprechen getilgt ist. 441 Vgl. McGuinness: Maurice Maeterlinck and the Making of Modern Theatre, S. 183f.
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êtes-vous? – Parlez! Que j’entende où vous êtes!« (Av 286)442 – oder, nach der Entdeckung eines Toten unter ihnen: »Mais parlez donc, enfin, que je sache ceux qui vivent!« (Av 315).443 Die poetische Funktion der Sprache, Beleg der Lyrizität des Textes, wird nicht allein im Nebentext deutlich, sondern zum Beispiel auch in einer stichomythischen Sequenz, bei der mit der phonetischen Ähnlichkeit von peur-pleure-fleure-odeurs-terre gespielt wird, indem Varianten dieser Worte über etwa zwei Druckseiten einander abwechseln (Av 307–309).444 Gerade bei emotiven Aussagen wird auf Erfahrungsweisen rekurriert, die jenseits des Logos liegen – und die daher lyrisierenden Ton annehmen. Dies wird deutlich bei den aufeinander folgenden Repliken der jungen und der ältesten Blinden: »Il me semble que je sens le clair de lune sur mes mains.« – »Je crois qu’il y a des étoiles; je les entends.« (Av 295).445 An dem gewählten Beispiel lässt sich auch die tentative Sprachverwendung im Text deutlich erkennen. Sie wird besonders dadurch deutlich, dass nahezu alle Repliken mit Formulierungen wie »je crois«, »il me semble«, »il paraît que« oder konjunktivischen Konstruktionen eingeleitet werden. Auch daran erweist sich, dass sich die Aussagefähigkeit von Sprache in Les Aveugles nicht von selbst versteht und dass aus diesem Grund die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation stets präsent gehalten wird. Die für die Deutung des Stücks entscheidende Instanz ist die Figur des Priesters. Das Blindheits-Motiv und die damit einhergehenden Störungen der Semiose sowie die These der Meta-Dramatizität wird in seiner Signifikanz erst durch diese Figur erhellt. Die Bedeutung der Figur wird bereits peritextuell dadurch unterstrichen, dass sie in der dramatis personae als erste (Av 284)446 angeführt wird, obwohl sie das gesamte Stück über tot auf der Bühne sitzt. Auch der Umstand, dass der Haupttext mit einer Frage nach ihm beginnt (»Il ne revient pas encore?«, Av 285447), weist darauf hin. Die Blinden verharren in Untätigkeit, weil sie auf seine Rückkehr warten. Sie tauschen Informationen über ihn aus: Er selbst sei zu alt und könne nicht mehr gut sehen und hören (Av 289)448; er sei allein und traurig, habe vor Einbruch des Winters ein letztes Mal die Sonne sehen gewollt (Av 290)449; er habe seit Tagen geweint (Av 291).450 Ob diese Informationen, die sich bemerkenswerterweise nicht widersprechen, zutreffend sind oder nicht, ist 442 »Wo seid ihr? – Sprecht! Damit ich höre, wo ihr seid!« (Bl 110). 443 »So sagt doch endlich etwas, damit ich weiß, wer noch lebt!« (Bl 126). 444 Bl 122f. – solche Sprach-Spiele müssen in einer Übersetzung natürlich verloren gehen (vgl. Gross: Maurice Maeterlinck oder Der symbolische Sadismus des Humors, S. 54). 445 »Mir scheint, ich spüre den Mondschein auf meinen Händen.« – »Ich glaube, es sind Sterne da; ich höre sie.« (Bl 115). 446 Bl 108. 447 »Er kommt noch nicht zurück?« (Bl 109). 448 Bl 111. 449 Bl 112. 450 Ebd.
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sekundär – wichtiger ist, dass sie artikuliert werden, dass ein erheblicher Teil der Rede darauf verwandt wird, über eine abwesende Figur Wissen zu erlangen. Diese Fixierung der Blinden auf die Figur des Priesters äußert ein persönliches Interesse an ihm, das sie nur sehr vereinzelt füreinander aufbringen – ein Umstand, der wiederum mit ihrer Blindheit in Zusammenhang gebracht wird, wie folgende Monologe des ältesten Blinden belegen: Le plus vieil aveugle. Nous ne sommes jamais vus les uns les autres. Nous nous interrogeons et nous nous répondons; nous vivons ensemble, nous sommes toujours ensemble, mais nous ne savons pas ce que nous sommes!… Nous avons beau nous toucher des deux mains; les yeux savent plus que les mains… (Av 304)451 Le plus vieil aveugle. Voilà des années que nous sommes ensemble, et nous ne nous sommes jamais aperçus! On dirait que nous sommes toujours seuls!… Il faut voir pour aimer… (Av 305)452
Gerade letztere Replik deutet darauf hin, dass erst mit der Abwesenheit des Priesters eine Kommunikation der Blinden untereinander in Gang gekommen ist. Das wird sich als entscheidend erweisen: Erst die Abwesenheit des Zentrums, das der Priester darstellt, ermöglicht eine Verbindung der Blinden. Die herausgehobene Bedeutung des Priesters für die Blinden ist auch funktional zu erklären: Er wird als einzige Instanz beschrieben, von der Handlungen zu erwarten sind. Wohlgemerkt ist er nicht der einzige Sehende auf der Insel. Aber von den Nonnen im Heim der Blinden wie von den Leuchtturmwärtern wird explizit gesagt, dass sie ihre Häuser nie verlassen (Av 320).453 Als der sechste Blinde die Vermutung ausspricht, der Priester habe sie in den Norden der Insel über den großen Fluss geführt, auf dem Schiffe fahren, wird sein Vorschlag, zum Fluss vorzudringen, abgelehnt – erstens, weil der Weg unbekannt ist, zweitens, weil man den Priester erwartet: »[A]ttendons, attendons… Il reviendra; il faut qu’il revienne!« (Av 300).454 Es wäre jedoch sicherlich verfehlt, den Priester ausschließlich als Figur zu lesen. Vielmehr zeigt sich hier die Maeterlincksche Version der symbolistischen Correspondance-Ästhetik455 am deutlichsten. Die »Welt von Entsprechungen 451 »Der älteste Blinde: Wir alle haben einander nie gesehen. Wir befragen uns, und wir antworten uns; wir leben zusammen, wir sind immer zusammen, aber wir wissen nicht, wer wir sind!… Auch wenn wir uns mit beiden Händen anfassen können – die Augen wissen mehr als die Hände…« (Bl 120). 452 »Der älteste Blinde: Jahre über Jahre sind wir nun schon zusammen, und wir haben uns nie wahrgenommen! Es ist so, als wären wir immer allein! … Man muß sehen, um zu lieben…« (Bl 121). 453 Bl 129. 454 »[W]arten wir, warten wir… Er wird zurückkommen; er muß einfach zurückkommen!« (Bl 118). 455 Vgl. Hoffmann, Paul: Symbolismus. München 1987, bes.: S. 74–86.
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[…], die eine große Einheit in sich selbst bildet«456, erscheint in Bezug auf den Priester als eine Relation, die (mindestens) zweifach wiederholt wird, was von der Forschung bislang übersehen wurde. Es ist eine Topologie von Zentrum und Umgebung, die als Relation von Licht und Dunkelheit semantisiert wird. Am Priester kristallisiert sich diese Relation, an ihm wird der Ausfall des Zentrums, der die Dramaturgie des Textes bestimmt, szenisch realisiert und symbolisch verdichtet. Wie die erste Regieanweisung informiert, befindet er sich während der gesamten Spielzeit in der Mitte der Bühne457, an den hohlen Stamm einer großen Eiche gelehnt (Av 285).458 Er sitzt auf einem Felsen (Av 317)459 und scheint so weit oben zu sitzen, dass der erste Blindgeborene, nachdem er ihn ertastet hat, ausruft: »Il est debout!« (Av 315).460 Es lässt sich also ein vertikal orientiertes Zentrum von einer Umgebung unterscheiden, die horizontal ausgerichtet ist. Dieses Zentrum ist mit der Bedeutung, Orientierung zu verschaffen, aufgeladen. Eine analoge Relation lässt sich in der Topographie des Nordteils der Insel ausmachen. Wie erwähnt glaubt der sechste Blinde zu wissen, dass man sich im Nordteil der Insel befindet. Er wird sogar präziser und behauptet, man sei in dem Wald, der den Leuchtturm umringt (Av 300).461 Dass sich die Blinden nicht weit vom Leuchtturm entfernt befinden, ist eine Vermutung, die zuvor bereits von der jungen Blinden geäußert wurde (Av 291).462 Gleichgültig, ob das zutrifft, lässt sich auch hier die Relation von Licht bzw. Orientierung spendendem, vertikal ausgerichteten Zentrum und dunkler Umgebung ausmachen. Die dritte analoge Relation findet sich in der Topographie des südlichen Teils der Insel. Dort befindet sich das Heim der Blinden, das in einem alten Schloss untergebracht ist. Die älteste Blinde referiert, was sie gehört hat: »[O]n n’y voit jamais de lumière, si 456 Ebd., S. 78. 457 Der Bühnenraum im Stück hat in der Forschung erhebliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Helmut Kloses sehr einflussreiche Überlegung zur Raumordnung in Maeterlincks frühen Stücken beschreibt für Les Aveugles eine »spatialisation concentrique presque parfaite« (48) mit dem Priester im Zentrum, den weiblichen und männlichen Blinden im geteilten zweiten Raum und einen Außenraum jenseits der Bühne, der für Informationen durchlässig ist (Klose, Helmut: L’espace dans trois pièces de M. Maeterlinck. Les Aveugles – L’Intruse – et Intérieur. In: Dort, Bernard / Ubersfeld, Anne (Hg.): Le Texte et la Scène. Études sur l’espace et l’acteur. Paris 1978, S. 43–58). Ducrey hat im Anschluss an Klose von einer »insularité« gesprochen, die die dramatische Form erst ermöglicht. Sie weist auf »dispositifs d’emboîtements insulaires« (37) hin, die mittels ihrer Widerholungen im Text ein Schema entwickeln, an dem sich die Form der Grenze zeigt, an der die Akteure im Stück anstoßen (Ducrey Anne: Dramaturgie du seuil. In: Textyles 41 (2012), S. 31–44). Diese These hat Überschneidungen mit meiner, scheint mir aber den Raum zu absolut zu setzen und die Semantisierung der Raumordnung in Les Aveugles unberücksichtigt zu lassen. 458 Bl 109. 459 Bl 128. 460 »Er steht aufrecht!« (Bl 127). 461 Bl 118. 462 Bl 112.
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ce n’est dans le tour où se trouve la chambre du prêtre.« (Av 305).463 Nur in einem über dem Schloss, in dem die Blinden untergebracht sind, aufragenden Turm, in dem der Priester wohnt, findet sich Licht. Die Symbolizität von leitendem Licht und davon affizierter Dunkelheit wird hier sogar noch verstärkt, wenn der sechste Blinde von der Schafsherde berichtet, die »rentres d’elles-mêmes, en apercevant, le soir, cette lumière de la tour…« (Av 305).464 Wie die Schafsherde auf das Licht angewiesen sind, um abends heimzukehren, so sind die Blinden auf den Priester angewiesen.465 Allein, er kann seine Funktion des Führers der Blinden nicht mehr ausfüllen: Das Zentrum bleibt leer und dunkel. Ebenso ist von dem Leuchtturm auf der Bühne nichts zu sehen, obwohl man doch in seiner Nähe sein soll. Und ohne die Anwesenheit des Priesters im Turm bleibt auch das Schloss dunkel. Entsprechend sind die Blinden in jeder der drei Topologien auf den das Zentrum umgebenden Raum verwiesen. Somit markiert der Text auf überdeterminierte Weise eine symbolische Dezentrierung, die mit einer Aufwertung, vielleicht Problematisierung der Umgebung dieses Zentrums einhergeht. Hier soll nun der Vorschlag gemacht werden, diese Dezentrierung auf die ›Metadramatizität‹ des Textes zu beziehen, d. h., die oben ausgeführte topologische Ordnung als Element dieser besonderen Dramatizität zu behandeln. Auf der figuralen Ebene erschiene dann der Priester als wichtiges dramaturgisches Element, dessen Ausfall im Text vorgeführt würde. Genau das soll die These sein: Der Priester hat als einzige Figur den Status eines – in Raum und Zeit selbsttätig agierenden, vulgo handlungsmächtigen – Protagonisten466, doch ist diese ex negativo realisiert, in Ausstellung ihrer Nicht-Existenz. Wie in der Parenthese des vorigen Satzes angedeutet, ist für das klassische Konfliktdrama, von dem sich Maeterlincks Les Aveugles abhebt, gerade ein Handlungsbegriff entscheidend, der für die Überführung einer Situation in eine andere eine absichtsvolle Wahl des 463 »[N]iemals sieht man darin Licht, außer im Turm, wo sich das Zimmer des Priesters befindet.« (Bl 121). 464 »kehren die Schafe von allein zurück, wenn sie am Abend jenes Licht vom Turm bemerken…« (Bl 121). 465 In der Analogie zur Schafsherde könnte man einen Hinweis auf die christliche Dimension ihres Verhältnisses sehen, der dann, denkt man an den toten Priester und die Blindheit seiner Gefolgschaft, als Ausfall des metaphysischen Zentrums, zugespitzt: als Tod Gottes erscheint. Das kann hier aber nicht weiter verfolgt werden. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Lambert, Carole J.: The empty cross. Medieval hopes, modern futility in the theater of Maurice Maeterlinck, Paul Claudel, August Strindberg, and Georg Kaiser. New York [u. a.] 1990, S. 20–101. 466 Da er im Text nur in seiner Bezeichnung als Priester auftritt, läge es nahe, ihn als sozial bestimmten Typus zu charakterisieren. Allerdings ist fraglich, ob sich die Figur als »Abstraktion[] typischer sozialer und psychologischer Merkmale« (Platz-Waury: Drama und Theater, S. 80) verstehen lässt. Viel eher ließe sich beim Priester von einer »offenen Figurenkonzeption« sprechen, da er für den Rezipienten »enigmatische Züge« trägt, die »interpretatorische Aktivität herausfordert« (Pfister: Das Drama, S. 247).
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Handelnden sowie eine temporale und eine spatiale Dimension erfordert.467 Während die Blinden dem Priester diese Fähigkeit zuschreiben, zeigen sie sich durch ihre verschiedentlichen Behinderungen unfähig, sich im Raum und in der Zeit zu orientieren und auf dieser Basis zu handeln. Der Verlust der einen Figur, die zu Handlung fähig wäre, führt nicht nur zur Lähmung innerhalb der Diegese, sondern dramentechnisch zur Unmöglichkeit der Handlungsdramaturgie. Liest man den Tod des Priesters metadramatisch, so erscheint die Lücke, die er reißt, als Voraussetzung für die dramatische Konstellation zu Beginn der Szene. Diese Lücke bleibt durch sein Verbleiben auf der Bühne stets präsent, was durch die stetige Referenz auf den Priester unterstrichen wird. Die Handlung kann also nicht starten, weil die Referenz auf eine Figur nicht aufgegeben wird, von der fälschlicherweise erwartet wird, dass sie diese Handlung in Gang bringen kann. Die auf der Bühne befindlichen Figuren können nun nichts anderes tun, als zu warten468 und zu versuchen, das bereits Geschehene analytisch nachzuvollziehen – bis sie, wiederum nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Deixis eines Hundes, der einen der Blinden zum toten Priester zieht und dessen Tastsinn gewissermaßen ›aktiviert‹ (Av 314)469, von seinem Tod erfahren. Dies führt zur Frage, wie die Blinden auf den Tod des Priesters reagieren. Entsprechend der hier vertretenen These einer Meta-Dramatizität des Einakters wäre es naheliegend, ihr Verhalten als Hinweise auf alternative Dramenmodelle als Reaktion auf den ›Tod‹ des klassischen Dramenmodells zu analysieren. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass diese alternative Dramatik auf der Basis von Communitas imaginiert wird. Bereits vor der Entdeckung des toten Priesters sind Belege für ein Kollektivitätsbewusstein zu finden, das erst im Laufe der gespielten Szene entsteht. So äußert der älteste Blinde in den schon zitierten Monologen, dass man einander bislang nicht wahrgenommen habe, obwohl man doch miteinander lebe. Es ist bemerkenswert, dass die Blinden in der Folge sehr basale Informationen über sich kommunizieren, ganz so, als hätten sie bislang nicht miteinander gesprochen – was den Aussagen des ältesten Blinden, man kenne einander überhaupt nicht, Gewicht verleiht. Auch die seltenen Repliken, in denen Les autres aveugles chorisch sprechen, artikulieren kollektive Bedürfnisse, wie »Nous
467 Vgl.: Pfister: Das Drama, S. 269f. Dass in der Moderne handlungslose Dramen realisiert worden sind, also Handlung kein notwendiges Kriterium für Drama sein kann (vgl. ebd., S. 270), ist zutreffend – doch geschieht diese Handlungslosigkeit über Figuren, die aus verschiedenen Gründen zu autonomen Entscheidungen nicht (mehr) in der Lage sind, deren Handlungsunfähigkeit mithin die Grundlage für Situationsdramatik bietet. 468 Es ist, sicher nicht zu Unrecht, der Text als Modell des Dramas des Wartens (G. Michaud) gesehen worden, das v. a. bei Beckett auszumachen ist (vgl. Gorceix: Maeterlinck, S. 340). 469 Bl 126.
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avons faim et soif!« (Av 299)470 oder kollektive Verunsicherung, z.B: »Où êtesvous? Où êtes-vous? – Où alles-vous? – Prenez garde!« (Av 314).471 Und die oben beschriebene Interaktion zwischen der jungen Blinden und dem sechsten Blinden lässt sich als symbolischer Vorgang einer Verbindung beider lesen, zumal, wenn man die überreichten Blumen, die sie sich ins Haar flicht, als ›Totenblumen‹ ernst nimmt. Diese Gabe stellt dann nicht allein eine Verbindung zwischen den beiden Blinden her, sondern auch eine Verbindung zwischen beiden und der ihnen unbekannten Umgebung, der sie gemeinsam ausgesetzt sind. Die Momente der Kollektivität verstärken sich mit der Entdeckung des toten Priesters signifikant, wie auch das kollektive Gefühl der Bedrohung bis zum Ende gesteigert wird. Schon die Entdeckung des Toten selbst geht mit einer kollektiven Positionsveränderung der Figuren einher: Sie tasten sich zu ihm hin, um gemeinschaftlich zu bestätigen, dass es sich um den Priester handelt (Av 316f.).472 Kurz zuvor hat der erste Blindgeborene auf die Information, dass ein Toter unter ihnen sei, mit der Aufforderung an die Übrigen reagiert, sich zu melden, um sicherzustellen, dass sie noch leben. Seine Reaktion auf die Antworten der Blinden ist: »Je ne distingue plus vos voix!… Vous parlez tous de même!… Elles tremblent toutes!« (Av 315).473 Auch hier fällt es nicht schwer, die Replik symbolisch zu deuten: Angesichts des Einbruch des Todes vermischen sich die Stimmen so sehr, dass sie nicht mehr unterscheidbar sind – aus einzelnen Blinden hat sich eine existenzielle Communitas gebildet. Das bleibt nicht unwidersprochen: Die älteste Blinde macht gerade die drei Blindgeborenen für den Tod des Priesters verantwortlich – ihre Unzufriedenheit und ihre Anspruchshaltung hätten ihn entmutigt (Av 318).474 Daraufhin reagiert wiederum der älteste Blinde, indem er an ihre kollektive Unwissenheit angesichts ihrer Blindheit erinnert und vermutet, dass sie alle nun an der Reihe wären, zu sterben (»c’est à notre tour«, Av 318475). Es ist wiederum einer der Blindgeborenen, der den Vorschlag macht, man solle einander bei den Händen halten. Obwohl der Nebentext verschweigt, wer dem Vorschlag folgt, zeigen Repliken wie »Sommesnous tous réunis?« (Av 319)476 oder »Oh! Comme vos mains sont froides!« (Av 319)477, dass eine solche Verbindung tatsächlich hergestellt wird. Auch wenig später wird vom ersten Blindgeborenen gegen die Kälte physische Nähe emp470 471 472 473 474 475 476 477
»Wir haben Hunger und Durst!« (Bl 117). »Wo seid ihr? Wo seid ihr? – Wohin geht ihr? – Nehmt euch in acht!« (Bl 126). Bl 127. »Ich kann eure Stimmen nicht mehr auseinanderhalten! … Ihr sprecht alle gleich! … Sie zittern alle!« (Bl 126). Bl 128. »Jetzt sind wir an der Reihe« (Bl 128). »Sind wir alle beieinander?« (Bl 129). »Oh, wie kalt Eure Hände sind!« (Bl 129).
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fohlen: »Serrons-nous les uns contre les autres!« (Av 323).478 Nachdem der Versuch der jungen Blinden gescheitert ist, mittels des vermeintlich sehenden Kindes Aufschluss zu erhalten über die sich nähernden Schritte, zeugen die letzten Repliken des Textes wiederum von einem Bewusstsein, dem undurchdringlich-rätselhaften Außen gemeinsam ausgesetzt zu sein: La jeune aveugle: […] Les pas se sont arrêtés parmi nous… La plus vieille aveugle: Ils sont ici! Ils sont au milieu de nous!… La jeune aveugle: Qui êtes-vous? Silence. La plus vieille aveugle: Ayez pitié de nous! Silence. – L’enfant pleure plus désespérément. (Av 325)479
Es wird durch das Ende auch deutlich, dass die Communitas, die hier entstanden ist, nicht als utopisches Gegenbild zum Solipsismus der vom Priester geführten Ansammlung von Blinden gesehen werden kann. Betont ist dagegen der Umstand, dass alle Blinden von der Situation gleichermaßen betroffen sind und dem bedrohlichen Außen ausgeliefert sind, ohne dass die vielfältigen Distinktionen der Figuren daran etwas ändern. Es mag stimmen, dass die weiblichen Figuren eine größere Einsicht in die Geheimnisse der Existenz besitzen, es mag stimmen, dass der sechste Blinde zu wissen meint, wo man sich befindet und wie nun zu handeln wäre – am Schluss des Stückes erscheinen diese Unterschiede angesichts des Unerklärlichen, das von außen droht, vollkommen nivelliert. Es ist nun diese Erfahrung des kollektiven Ausgeliefertseins, die das Stück dramatisiert. Adressat dieser Erfahrung sind aber nicht in erster Linie die Figuren, sondern die Zuschauer. Es sei daran erinnert, dass das Stück bis zur Entdeckung des toten Priesters von der Informationsdiskrepanz zwischen Figuren und Zuschauern seine dramatische Lizenz bezog. Mit dieser Entdeckung endet sie – mehr noch: Die Informationsdiskrepanz erweist sich retrospektiv als immer schon illusorisch. Es ist eben nicht so, dass die Zuschauer per se besser informiert sind als die Figuren, wie in der Forschung immer wieder behauptet wird.480 Die Zuschauer wissen lediglich in Bezug auf den toten Priester zu Beginn des Stücks mehr als die Figuren – die wirklich entscheidenden Fragen jedoch, wo auf der Insel sie sich befinden, woher Rettung kommen könnte und welcher Art die empfundene Bedrohung gegen Ende ist, können auch sie nicht beantworten. 478 »Schmiegen wir uns eng aneinander!« (Bl 131). 479 »Die junge Blinde: […] Die Schitte haben unter uns haltgemacht! … Die älteste Blinde: Sie sind hier! Sie sind in unserer Mitte! … Die junge Blinde: Wer seid ihr? Schweigen. Die älteste Blinde: Habt Mitleid mit uns! Schweigen. – Das Weinen des Kindes wird verzweifelter.« (Bl 132). 480 Vgl. z. B. Gorceix: Maeterlinck, S. 337.
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Der tote Priester fungiert somit als Reminiszenz an die dramenhistorisch »dominierende Struktur diskrepanter Informiertheit«481, die erst dann, wenn sie bedeutungslos wird, also wenn informationeller Gleichstand hergestellt ist, den Blick dafür frei gibt, dass die Zuschauer in derselben Unkenntnis verharren wie die Figuren.482 Erst mit dem Ausfall des Protagonisten kann das Bewusstsein einer Communitas entstehen, die Figuren und Zuschauer umfasst. Darin, den Zuschauern das Bewusstsein zu vermitteln, Teil der auf der Bühne vorgeführten existenziellen Communitas zu sein, liegt die Pointe des Textes.
3.2.3 Solipsismus versus »Menschenleben«: Hofmannsthals Der Tor und der Tod (1893) Auf den ersten Blick erscheint Hugo von Hofmannsthals 1893 verfasstes und im selben Jahr im »Modernen Musen-Almanach auf das Jahr 1894« veröffentlichtes lyrisches Drama Der Tor und der Tod als noch theaterferner als Les Aveugles. Wo Maeterlincks Einakter durch die Symbolizität des Bühnenraums wie durch akustische und optische Theaterzeichen (Geräusche, Schneefall) noch über eine gewisse theatrale Qualität verfügt, wirkt Hofmannsthals Stück in seiner sprachlichen Souveränität und mit einem szenischen Raum, der rein illustrative Funktion zu haben scheint, bis etwa zur Hälfte des Textes als Inbegriff eines ›drame statique‹. Die anti-illusionistische Stilisierung der Figuren, die höchst anspielungsreiche Verssprache und die langen Monologe des Protagonisten Claudio erhärten den Eindruck, es mit einem Lesedrama zu tun zu haben. So sieht Peter Szondi die »Aufhebung der Handlung, das Ineinander der Zeiten, die monologische Struktur« sowie »die Thematik von Schönheitskult, Lebensferne und Tod« als Belege dafür, den Text »in dem Gattungsrahmen zu sehen, den wir an der Hérodiade-Szene untersucht haben«483 – also als lyrisches Drama im emphatischen Sinne, d. h. als »imaginäres Theater«.484 Er sieht werkbiographisch eine enge Verbindung von Lyrik und lyrischer Dramatik485, konzediert aber, dass der Text im Vergleich mit Hofmannsthals davor verfassten Kurzdramen »Gestern« und »Tod des Tizian« durch das »Mysterienspiel«486 im zweiten Teil büh481 Pfister: Das Drama, S. 81. 482 McGuinness spricht von »equal uncertainty« zwischen Blinden und Zuschauern (McGuinness: Maurice Maeterlinck and the Making of Modern Theatre, S. 86). 483 Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 270. 484 Ebd., S. 59. 485 Vgl. ebd., S. 271. Vgl. auch: Thomasberger, Andreas: Hofmannsthal’s Poems and Lyric Dramas. In: Kovach, Thomas A. (Hg.): A Companion to the Works of Hugo von Hofmannsthal. Rochester (NY) 2002, S. 47–63. 486 Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Herausgegeben von Henriette Beese. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1975, S. 269.
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nenwirksamer ist487 – ohne dass diese Einschätzung seine Analyse wesentlich beeinflussen würde. Der Hauptakzent von Szondis Beitrag gilt nämlich dem Nachweis, dass es sich bei Tor und Tod um eine Kritik am Ästhetizismus in Gestalt der Hauptfigur handelt.488 Darin trifft er sich mit der älteren Forschung seit Alewyns Aufsatz.489 Ob und wie die Krise des Ästhetentums im Text gelöst worden ist, hat die Forschung auch weiterhin beschäftigt.490 Im Folgenden soll jedoch stärker auf die Relationierung des im Text aufgerufenen Wahrnehmungsproblems mit dem Problem sozialer Integration eingegangen werden. Diese Relationierung steht, wie zu zeigen ist, in direktem Bezug zum theaterwirksamen Geschehen in der zweiten Hälfte des Textes: dem Auftritt des Todes mit seiner Geige, dem Gespräch mit Claudio, der Konfrontation mit drei seiner Weggefährten, schließlich Claudios Tod und gemeinsamem Abtritt mit dem Tod und seinem Gefolge. Es ist dieses Geschehen, das den Text bei seiner Uraufführung 1898 zu einem Theatererfolg491 werden ließ, und es ist der gemeinsame Abtritt, welcher, wenn auch nur kurz, eine weitere Form von Communitas szenisch realisiert. Das gilt es im Folgenden zu plausibilisieren. Mit Gerhard Neumann kann man Hofmannsthals lyrische Dramen als Reaktionen auf die »Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende«492 lesen. Das lässt sich an Tor und Tod deutlich zeigen. Bereits Claudios Eingangsmonolog zeugt vom »Umkippen der […] kulturellen Wissensbestände in die Erfahrung einer nicht mehr erträglichen Last der Tradition und ihrer Kenntnisse«.493 Seine Na-
487 Vgl. ebd., S. 268. 488 Vgl. ebd., S. 259 u. 261f. 489 Vgl. Alewyn, Richard: Der Tod des ästhetischen Menschen, in: Ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen ³1963, S. 64–77, siehe auch Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals »Der Tor und der Tod«. Tübingen 1970 und Wuthenow, Ralph-Rainer: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus. Frankfurt a.M. 1978, bes. S. 243–248. 490 So hat Gisa Briese-Neumann im Text keine »ungebrochene Kritik am Ästhetizismus« (133) lesen können, sondern in Claudio eine »fin de siècle-Gestalt, die sich dem schönen Untergang völlig hingibt« (Briese-Neumann, Gisa: Ästhet-Dilettant-Narziss. Untersuchungen zur Reflexion der fin de siècle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt a.M. 1985, Zitat S. 156). Peter Matussek sieht die Überwindung der Ästhetizismus-Problematik durch »Hervorkehren seiner Künstlichkeit« geleistet (Matussek, Peter: Tod und Transzendenz im geistigen Raum. Das Gedächtnistheater des jungen Hofmannsthal. In: Danneberg, Lutz / Vollhardt, Friedrich (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 313– 337, hier: S. 322). 491 Ein solcher war die Uraufführung 1898 im Urteil von Hofmannsthal selbst (vgl. Hübner, Götz Eberhard (u. a.): Der Tor und der Tod [Zeugnisse]. In: Hofmannsthal, Hugo v.: Sämtliche Werke III. Dramen 1. Hgg. v. denselben. Frankfurt a.M. 1982, S. 446–479, S. 456f.). 492 Neumann, Proverb, S. 183. 493 Neumann, Gerhard: Verdichten und Verströmen. Zum Wahrnehmungs- und Darstellungsparadox des Fin de siècle. In: Warning, Rainer / Wehle, Winfried (Hg.): Fin de Siècle. München 2002, S. 195–228, hier: S. 199.
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turbetrachtungen »am Fenster«494 zu Beginn des Dramas artikulieren das Bewusstsein einer Wahrnehmungsweise, die von Bildungsbeständen überlagert ist: Der ›Alabasterwolkenkranz‹ erinnert ihn an Madonnenbilder der ›Meister von den frühen Tagen‹ […], der Glanz der Berge setzt sich aus Versen Nikolaus Lenaus und Goethes zusammen, die Farben der Landschaft stammen von Claude Lorrain, und die Schilderung ihrer Atmosphäre kulminiert in einem Hölderlin-Zitat.495
Claudios Blick ist, szenisch-faktual wie figurativ gesprochen, von Kunstobjekten verstellt: Er beklagt, sich in einer »Rumpelkammer voller totem Tand« (TT 65) zu befinden, der den Zugang zu unmittelbarer Wahrnehmung verunmöglicht. Die szenische Topographie markiert einen geschlossenen Innenraum, von dem aus er »voller Sehnsucht stets hinüber[starrt]« (TT 64) in die Weite und Offenheit der Stadt und des Meeres. Schon durch Claudios szenische Positionierung und die Blickregie der Naturbetrachtung wird eine den Text durchziehende Opposition aus Nähe und Ferne etabliert, in der sich die Semantiken überkreuzen: Wo in der Ferne jenseits der Bühne das Leben und im nahen Innenraum der Solipsismus situiert ist, erscheint Claudios Wahrnehmungsweise als Distanz zum Leben und steht im Kontrast zur Nähe der sozialen Teilhabe, der er sich verweigert. Das Fazit seiner Selbstanklage lautet: »Ich hab mich so an Künstliches verloren, / Daß ich die Sonne sah aus toten Augen / Und nicht mehr hörte, als durch tote Ohren« (TT 66) (– man beachte die Verbindung aus Wahrnehmung und Todesmetaphorik). Claudio moniert genau das, was Georg Simmel später die ›Tragödie der Kultur‹496 nennen wird: Die Kunstobjekte waren einmal Teil eines vitalen Zusammenhangs, »[v]om großen Meer emporgespült« (TT 66), doch »wie den Fisch das Netz, hat euch die Form gefangen!« (TT 66). Die von Claudio artikulierte Ausgangssituation stellt sich so als aporetische dar: Der Übermacht der Formen scheint nichts entgegenzusetzen zu sein als Reflexion und Passivität. Allerdings weiß Claudio um den Gegenbegriff zu dieser zu Form objektivierten Dingwelt. Er ist derselbe wie bei später bei Simmel: das Leben. ›Leben‹ stellt, qualitativ wie quantitativ497, den Schlüsselbegriff des Textes dar.498
494 Hofmannsthal, Hugo v.: Der Tor und der Tod [1893]. In: Ders.: Sämtliche Werke III. Dramen 1. Hg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus Gerhard Pott u. Christoph Michel. Frankfurt a.M. 1982, S. 61–80, hier: S. 63. Fortan werden Textstellen mit der Sigle (TT) und der Seitenzahl nachgewiesen. 495 Matussek: Tod und Transzendenz im geistigen Raum, S. 316. Vgl. auch: Hübner, Götz Eberhard (u. a.): [Kommentar] Der Tor und der Tod. In: Ders.: Sämtliche Werke III. Dramen 1. Hg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus Gerhard Pott u. Christoph Michel. Frankfurt a.M. 1982, S. 429–495, S. 480f. et passim. 496 Vgl. Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 266 u. Neumann: Verdichten und Verströmen, S. 198. 497 Das Wortfeld Leben, leben, lebendig und entsprechende Komposita kommen im Text 41 mal vor – mehr als doppelt so oft wie das Wortfeld Tod, tot usw. (20).
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Die um 1900 überaus virulente Lebensemphase bezog sich auf einen philosophischen Lebensbegriff als »dialektische[r] Einheit von Werden und Vergehen, von Leben und Tod, von individuellem Leben und überindividuellem Gesamtleben«499, welcher der kulturellen Imagination als Vorstellung eines die Einzelexistenzen übergreifenden vitalistischen Zusammenhangs jenseits sozialer und historischer Kontingenzen diente.500 Er hat, wie Rasch gezeigt hat, auf die literarischen Texte der Jahrhundertwende »themenbildend, strukturbildend, sprachbildend«501 gewirkt. In Tor und Tod wird die Polysemie des Lebensbegriffs zwischen Einzel- und All-Leben502 aufgerufen: Einmal erscheint er als Synonym für die individuelle menschliche Existenz in Formulierungen wie »mein ganzes so versäumtes Leben« (TT 64) zu gelten, aber auch im Sinne der Lebensphilosophie als emphatischer Begriff, etwa als »Trank des Lebens« (TT 65). Mitunter scheinen beide Dimensionen in einer Formulierung verbunden, etwa dann, wenn Claudio in für den emphatischen Lebensbegriff typischer Meeressymbolik503 von »flutend[em]« Leben (TT 69) spricht, dies aber mittels eines Possessivprono498 Dass ›Leben‹ das große Thema des jungen Hofmannsthal ist, ist natürlich seit langem bekannt (vgl. Pestalozzi, Karl: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich 1958) und wird bes. mit dessen Nietzsche-Rezeption in Verbindung gebracht (vgl. u. a. Meyer-Wendt, H. Jürgen: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg 1973 u. Del Caro, Adrian: Hofmannsthal as a paradigm of Nietzschean influence on the Austrian fin de siècle. In: Modern Austrian Literature 22, 3–4 (1989), S. 81–95). Jacobs sieht das Drama dagegen »unter dem Vorzeichen des Stimmungsbegriffs«. Wenngleich die Bedeutung, die dieser Begriff um die Jahrhundertwende bekommen hat, als kaum geringer als der des Lebens oder der Intimität eingeschätzt werden darf und ganz ähnlich wie diese als Ermöglichungsgrundlage von Formbildung verstanden werden kann, überzeugt seine Anwendung auf Der Tor und der Tod nicht – nur mithilfe einer (fragwürdigen) Verknüpfung von Stimmung und Musik, für die ein Schopenhauer-Text, den Hofmannsthal gekannt haben könnte, herangezogen wird, kann Jacobs die Prävalenz des Begriffs im Text behaupten. Der »proteisch-mediale Charakter von Stimmungs- und Geistbegriff« findet sich, wie gezeigt werden soll, viel deutlicher im Begriff des ›Lebens‹ (Jacobs, Angelika: Den ›Geist‹ der Nacht sehen. Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen. In: Grage, Joachim (Hg.): Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien. Würzburg 2006, S. 107–133, Zitate S. 109 u. 128). 499 Sendlinger, Angela: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels, Frankfurt a.M. 1994, S. 12. 500 Zum Lebensbegriff der Lebensphilosophie vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Die Lebensphilosophie. Berlin [u. a.] 1958; Fellmann: Lebensphilosophie; Kozljanicˇ: Lebensphilosophie. 501 Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967], S. 28. 502 Viele Lebensphilosophen haben den Wechselbezug zwischen Einzel- und All-Leben stark gemacht, darunter Schopenhauer und Bergson (vgl. Kozljanicˇ: Lebensphilosophie, S. 17). Zum Zusammenhang von Schopenhauer, Nietzsche und Hofmannsthal vgl. Steffen, Hans: Schopenhauer, Nietzsche und die Dichtung Hofmannsthals. In: Ders. (Hg.): Nietzsche. Werk und Wirkung. Göttingen 1974, S. 65–90. 503 Vgl. ebd., S. 31f. Vgl. auch Sprengels Hinweis auf die Kollektivsymbolik von Flut und Nixe (Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, S. 44–48).
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mens auf seine Individualexistenz bezieht. Das Oszillieren der Begriffsbedeutungen reflektiert das Oszillieren des Textes zwischen »augenblickshafter Immanenz« und »kosmischer Transzendenz«504, zwischen vermeintlich individueller Problemlage und Eingebundensein in ein überindividuelles Geschehen, das man ›Leben‹ nennen könnte. Es ist der »proteisch-mediale«505 Charakter des Lebens-Begriffs, der diese Spannung auszuhalten ermöglicht – ihm jedoch eine gewisse Unschärfe verleiht. Angesichts der konstitutiven Unschärfe des Begriffs ist es besonders signifikant, dass ›Leben‹ in Claudios Monolog in der Reflektion auf seinen Solipsismus auf spezifische Weise semantisiert wird. Dasjenige Leben, das ihm durch seine belastende Bildung versperrt bleibt, das Leben, das unmittelbare Empfindungen gestattet, dieses Leben wird mit dem Sozialen assoziiert.506 Das wird deutlich in einer weiteren Selbstanklage, in der das Problem der Wahrnehmung mit dem der Asozialität in Bezug gesetzt wird: Was weiß denn ich vom Menschenleben? Bin freilich scheinbar drin gestanden, Aber ich hab es höchstens verstanden, Konnte mich nie darin verweben. (TT 64f.)
Das ›Menschenleben‹ erscheint hier als Existenzweise der Interdependenz, in die man sich selbst ›verweben‹ muss507 – was aber durch den Zeichendeutungszwang des Protagonisten verunmöglicht wird. Dass er sein Leben »wie ein Buch« erlebt hat, ist sein »Fluch« (TT 66). Diese Wahrnehmungsweise des Lebens, die alle Dinge medialisiert, sie dem unmittelbaren Erleben entzieht, hat zur sozialen Isolation geführt, die mit der Existenz derer kontrastiert wird, die er von seinem Fenster aus in der Stadt beobachtet: »Sie sind einander herzlich nah / Und härmen sich um einen, der entfernt« (TT 64). Mit dem Geigenspiel, das den Auftritt der Todesfigur ankündigt, erhält dieses Problem der distanzierten Wahrnehmung und mithin seine Lebensdistanz eine temporale Dimension. Das akustische Zeichensystem, deren »Töne« Claudio »[v]on Menschengeigen nie gehört« (TT 69) hat, bietet Zugang zu einem unmittelbaren Wissen, das als Erinnerung an Vergangenes erscheint. Auffällig ist wiederum, dass die Lebenssymbolik in Verbindung mit sozialem Kontakt steht. Es scheint ihm, 504 Jacobs: Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen, S. 128. 505 Ebd. 506 Vgl. Stanitz, Gabriella: Das Erlösungsmotiv in Hugo von Hofmannsthals Dramatik. In: Auckenthaler, Karlheinz F. (Hg. u. a.): Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren österreichischen Literatur. Bern u. a. 1996, S. 213–226, hier: S. 215f. 507 Auch die Teppichmetaphorik findet sich bei vielen Texten um 1900, die sich mit der Verflechtung mit dem Leben auseinandersetzen (vgl. wiederum Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967], S. 30f.).
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Als strömte von den alten, stillen Mauern Mein Leben flutend und verklärt herein. Wie der Geliebten, wie der Mutter Kommen, Wie jedes Langverlornen Wiederkehr, Regt es Gedanken auf, die warmen, frommen, und wirft mich in ein jugendliches Meer(.) (TT 69)
Überdies wird mit diesen Zeilen die Begegnung mindestens mit der Mutter und der Geliebten durch den Tod angekündigt. Die Diskrepanz zwischen der in der Vergangenheit »in ahnungsvollem Schwall« (TT 69) tentativ erfahrenen Nähe zu den Menschen und Dingen und der Gegenwart hat Claudio in Tatenlosigkeit auf ein Zukünftiges warten lassen508, an dem er alle gegenwärtigen Empfindungen bemisst: darum sind diese nicht mehr als »künft’gen Lebens vorgeliehne[r] Schein« (TT 67). Claudio erlebt nun durch die Musik die Erinnerung an einen vergangenen Zustand, der distanzlose Wahrnehmung und Eingebundensein in den überindividuellen Lebenszusammenhang verbindet: Wie waren da lebendig alle Dinge Dem liebenden Erfassen nah gerückt, Wie fühlt‹ ich mich beseelt und tief entzückt, Ein lebend‹ Glied im großen Lebensringe! (TT 69)
Das mit dem Geigenspiel aufgerufene andere Zeichensystem, der »Laut des Urgewissens«, ist in der Lage, das »Starre / […] [d]es allzualten, allzuwirren Wissens« aufzuheben – und zwar nicht durch Musik509, sondern durch »kindischtiefe[] Töne[]« (TT 70), also durch eine – vergleichsweise – ungeformte Akustik, die Zugang zu anderen Formen von Erfahrung ermöglicht. Die Formulierung, dass sich »kaum geahntes Leben« (TT 70) in »Formen, die unendlich viel bedeuten« (TT 70) zeigt, deutet auf eine Zeichenordnung hin, die sich dem hermeneutischen Zugriff entzieht und damit die Distanz zum Leben unterbindet, zu der das für Claudio bereitliegende Wissen und die damit angeregten Zeichendeutungsvorgänge geführt haben.510 Erst durch die Andersartigkeit dieser Zeichenordnung ist der Zugang zu einem Erfassen metaphysischen Wissens möglich, das im Visuellen durch die Kunstgegenstände verstellt wird. Dasjenige, was man durch diese Zeichenordnung wahrnehmen kann, wird als »GöttlichMenschliches« (TT 70) bezeichnet, was wiederum die Spannung eines metaphysischen und gleichzeitig diesseitigen Wissens aufruft. Es hieße die Bedeutung 508 Vgl. Tarot, Rolf: Hugo von Hofmannsthal. Daseinsform und dichterische Struktur. Tübingen 1970, S. 113. 509 So Jacobs: Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen, S. 122f. 510 Es ist genau dieser Zwang zur Deutung des Wahrgenommenen, die der Tod am Schluss des Stücks an Claudio ridikülisiert (vgl TT 79f.).
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des akustischen Zeichensystems überschätzen511, in ihm mehr als einen Anlass für Claudios Erinnerung und einen metonymischen Verweis auf den Urheber der ›kindisch-tiefen Töne‹ zu sehen. Es kann nämlich keine Rede davon sein, dass sich durch die vom Geigenspiel hervorgerufenen Erinnerungen etwas an Claudios Ausgangssituation geändert haben könnte: Als die Musik verstummt, will Claudio dem Musikanten sein Spiel mit »Kupfergeld« (TT 70) abgelten, was die ›tiefen Töne‹ als Dienstleistung entwertet. Alle Evokationen des Lebens führen nicht dazu, dass Claudio seine Reflexionen in Handlung überführt oder die Möglichkeit dazu überhaupt erwägt, wie der resignative Schluss seines Eröffnungsmonologs bereits angedeutet hat (TT 67). Seine Situation bleibt in dieser Hinsicht undramatisch. Peter Szondi hat als Grundzug der lyrischen Dramatik per se die »Erwartung« erkannt, da in ihr sowohl die Distanz zum klassischen Drama wie das Angewiesensein auf die dramatische Form sinnfällig wird: »Die Passivität des Helden verbietet die Handlung, die das Medium des Dramas ist; die Verhaftung des Helden an eine Situation, in der er gelähmt einem Künftigen entgegenharrt, ist aber auf die dramatische Szene, und sei sie auch eine imaginäre, angewiesen.«512 Die sich mit dem Auftritt des Dieners und dem Geigenspiel doppelt ankündigende Todes-Figur hat dementsprechend zunächst eine wichtige dramaturgische Funktion. Diese besteht darin, die statische Ausgangssituation zu dynamisieren: Claudios lange Selbstanklage hat seine soziale Isolation ausgewiesen, die nur durch einen Impuls von außen zu durchbrechen ist, nicht durch ihn selbst. Das Auftreten des Todes und der von ihm herbeigerufenen Toten überführt die undramatische Selbstanklage des ersten Teils in ein dramatisches »Selbstgericht«.513 Seine Dramatizität erhält Der Tor und der Tod durch Rekurs auf seit dem Spätmittelalter bekannte szenische Modelle, von denen der Totentanz514 nicht das einzige, aber das qua auktorialer Legitimation515 am stärksten beachtete ist.516
511 512 513 514
Vgl. Jacobs: Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen, S. 124. Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 93f. Alewyn: Der Tod des Ästheten, S. 66. Zum Totentanz in Kunst und Literatur allgemein vgl. Link, Franz: Tanz und Tod in Kunst und Literatur: Beispiele. In: Ders. (Hg.): Tanz und Tod in Kunst und Literatur. Berlin 1993, S. 12–68. Dass Totentänze im Spätmittelalter als geistliche Spiele szenisch realisiert wurden, ist naheliegend (vgl. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod. Frankfurt a.M. 1983. S. 68; vgl. Salmen, Walter: Zur Praxis von Totentänzen im Mittelalter. In: Link, Franz: Tanz und Tod in Kunst und Literatur. Berlin 1993, S. 119–126), konnte jedoch noch immer nicht nachgewiesen werden. 515 Hofmannsthal hat seinen Text zunächst selbst Der neue Todtentanz nennen wollen (vgl. Hübner (u. a.): [Kommentar] Der Tor und der Tod, S. 429). 516 Seeba hat darauf verwiesen, dass neben dem Darstellungstyp des Totentanzes die verwandte ›Begegnung mit den drei Toten‹ und das ›Streitgespräch zwischen Leben und Tod‹ Eingang
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Die Funktion der Todes-Figur ist somit, mittels seiner Ankündigung von Claudios nahendem Lebensende eine potentiell endlose Selbstreflexion existenziell zuzuspitzen.517 Dadurch erhält das undramatische Geschehen eine Finalität, durch die die Wahrnehmungs- und die soziale Problematik umakzentuiert wird. Diese Akzentverschiebung geschieht in doppeltem Sinne sub specie mortis: Der Tod als Lebensende ist ihr Anlass, der Tod als Figur ihr Agens. Es wäre jedoch verfehlt, im Tod ausschließlich ein Gegenprinzip zur ubiquitären Lebensemphase auszumachen. Die Figur ist von einer Ambivalenz gekennzeichnet, die von der Forschung früh betont wurde.518 Einerseits erscheint der Tod analog zu den spätmittelalterlichen Mysterienspielen als eine Allegorie auf die Gewissheit des jeden Einzelnen treffenden Ablebens: »Mein Kommen […] hat stets nur einen Sinn!« (TT 71). Später wird er Claudios Versuch, mit dem Geist seiner Mutter in Kontakt zu treten, mit den Worten negieren: »Laß mir, was mein. Dein war es.« (TT 75). Doch wird im Text andererseits explizit gemacht, dass er einem übergreifenden Lebens-Zusammenhang angehört. Er ist ein »heidnischer Gott«519, stammt »aus des Dionysos, der Venus Sippe« (TT 70) und hat Anteil an den Lebensintensitäten: »In jeder wahrhaft großen Stunde, / Die schauern deine Erdenform gemacht, / Hab ich dich angerührt im Seelengrunde« (TT 71). Ganz so, wie der Lebensbegriff auf individuelle Existenz und zugleich auf das All-Leben referiert, ist in der Figur des Todes eine Instanz verkörpert, die zugleich das Ende des Einzel-Lebens verkündet und als Advokat des Lebens im Sinne von All-Leben auftritt. So erinnert er an die Pflicht jedes Menschen, das »Erdenleben« »irdisch […] zu leben« (TT 72) und das Leben zu »ehren« (TT 73): »Die Ars Moriendi ist keine andere als die Ars Vivendi.«520 Der Text ruft in der Figur des Todes eine seit der Romantik geläufige und in der Jahrhundertwende vielfach aufgegriffene Vorstellung auf, dass Tod und All-Leben denselben Urgrund darstellen, in den die individuellen Existenzen am Lebensende zurückkehren.521 Im mit dem Auftritt des Todes einsetzenden zweiten Teil lassen sich dieselben Problemkomplexe ausmachen, die Claudio im ersten Teil monologisch entfaltet
517
518 519 520 521
in die Szene gefunden haben, (vgl. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen, hier: S. 159– 178). Es ist nämlich nicht so, dass Claudio ein alter Mann ist. An keiner Stelle im Text wird sein Alter thematisiert, doch lässt der Umstand, dass der Geist seiner Mutter bei ihrem Auftritt als »nicht sehr alt« (TT 73) beschrieben wird und dass der seines Freundes, der »beiläufig Claudios Alter« (TT 76) hat, keine Zeichen hohen Alters aufweist, darauf schließen, dass Claudio noch längst nicht im Sterbealter ist, als der Tod vor ihm steht. Vgl. Alewyn: Der Tod des Ästheten, S. 65f. Alewyn: Der Tod des Ästheten, S. 75. Ebd., S. 72. Vgl. Bollnow: Die Lebensphilosophie, S. 113f.
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hat522, doch werden sie, wie gesagt, anders akzentuiert. Claudios auf einer kulturell überformten Wahrnehmungsweise beruhender Solipsismus erscheint in der Folge prononciert als Individualproblem, das dem Lebenszusammenhang als kollektivem entgegengestellt wird. So erklärt der Tod in einer zentralen Replik, was es bedeutet, das »Erdenleben« »irdisch […] zu leben« (TT 72): »Man bindet und man wird gebunden« (TT 72). Das Leben ist »ein Geist«, der »Beziehung« herzustellen in der Lage ist (TT 72). Gegen Claudios Klage, »[v]on einem Bann befangen« (TT 72) und damit zum ›Leben‹ unfähig gewesen zu sein, betont er, dass der Imperativ des sozialen Kontakts jeden betrifft, was die rekurrente Verwendung des Indefinitpronomens ›alle‹ belegt. Formulierungen wie: »Bist doch, wie alle, deinen Weg gezogen!« (TT 71), »Was allen, ward auch dir gegeben« (TT 72), oder schließlich, »daß alle andern diesen Schollen / Mit lieberfülltem Erdensinn entquollen / Und nur du selber schellenlaut und leer« (TT 73)523, ordnen Claudios individuelles Wahrnehmungsproblem in einen kollektiven Zusammenhang ein und verweigern ihm die Exzeptionalität.524 Nur so ist zu erklären, warum der Tod Claudios Antwort auf seine soeben erwähnte Replik mit »ungerührte[r] Miene« verfolgt und ihn schließlich als »Tor« bezeichnet (TT 73). Vordergründig hat Claudio doch seine anfänglich leugnende Haltung gegenüber der Todesnachricht aufgegeben: »Ich will nicht länger töricht jammern« (TT 72). Vorgeblich hat er nun verstanden, was das Leben sei, er fühlt die »tiefste Lebenssehnsucht« (TT 72) in sich, und die Bereitschaft zu sozialer Bindung: »Ich will die Treue lernen, die der Halt / Von allem Leben ist« (TT 73). Schließlich wiederholt er beinahe wörtlich, was ihn der Tod gelehrt hat: »Gebunden werden – ja! – und kräftig binden« (TT 73). Dass der Tod Claudios Lebensemphase nicht akzeptiert, liegt an dessen insistentem Selbstbezug525, durch die Claudios Sprechakte die Beteuerungen, sich dem Lebenszusammenhang einzuordnen, performativ widerlegen. Diese Vermutung wird durch die Konfrontation mit Claudios Weggefährten erhärtet, die der Tod mit Geigenstrichen ›herbeiruft‹ (TT 73). Die Weggefährten (Mutter, Geliebte, Freund) artikulieren in ihren Monologen wiederum das, was Claudio in die soziale Isolation geführt hat: dass er zwar Briefe »[m]it Schwüren voll und Liebeswort’ und Klagen« (TT 73) geschrieben, diese aber nie wirklich »gespürt« habe, dass aus seinem gesamten »Liebesleben« »nur ich und ich nur widertönte« (TT 73). Die drei 522 Vgl. Bennett: Hugo von Hofmannsthal, S. 52f. 523 Zu den vielzähligen Faust-Bezügen im Text vgl. Matussek: Tod und Transzendenz im geistigen Raum, bes. S. 323–327. 524 Ganz ähnlich bei Bennett: Der Tod zeigt auf, » that Claudio is really not different from everyone else, that all people suffer from what Claudio regards as his unique malady or ›curse‹« (Bennett: Hugo von Hofmannsthal, S. 53). 525 Die ersten zwanzig Verse seiner Antwortreplik weisen nicht weniger als 23 Personal- und Reflexivpronomen der ersten Person Singular auf.
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Figuren zeigen ihm auf, dass seine Distanzierung von den Lebensintensitäten, besonders von der Liebe, für sie tödliche Folgen gehabt hat. Es obliegt dem letzten der drei Weggefährten, dem Freund, Claudios Verfehlung an seine Mitmenschen stellvertretend einzuordnen als Verzicht auf soziale Bindung, wodurch dieser »keinem etwas war und keiner ihm« (TT 78). Der daran anschließende Schlussmonolog Claudios hat in der Forschung erhebliche Irritationen ausgelöst, die sogar zu der These geführt haben, dass hier jegliche semantische Logik zugunsten des Chaos aufgegeben worden sei, womit die Absurdität des Lebens sprachlich ausagiert werde.526 Eine solche These kann auf die semantischen Chiasmen der Replik verweisen, am berühmtesten sicherlich: »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« (TT 79). Doch sind diese in der Logik des Textes längst angelegt, wie die Figur des Todes gezeigt hat und das Schlussgeschehen zeigen wird: Leben und Tod sind »wechselseitig aufeinander bezogen«527, so dass ein Chiasmus beider vor dem Hintergrund eines All-Lebens, das den Tod einschließt, die bereits vorgenommene Entdifferenzierung dieser Dichotomie nur sprachlich aktualisiert. Auch dass Claudio sich nun der Gewalt des Todes, und damit dem Leben unterwerfen will, ist, wie gezeigt wurde, von ihm schon zuvor behauptet worden. Neu ist vielmehr an der Schlussreplik Claudios, dass sein lebensferner Individualismus eine metadramatische Dimension erhält. Beleg dafür ist zunächst die Bühnenmetaphorik zu Beginn, in der Claudio seine soziale Isolation als schlechtes Spielen auf der »Lebensbühne« (TT 78) bezeichnet. In seiner Schlussreplik häufen sich Sprechakte, die die Deutungsmacht des Protagonisten unterstreichen und damit die behauptete Akzeptanz des Lebensprimats unterwandern. Unmittelbar vor dem oben zitierten Chiasmus wünscht er sich, durch die Todes-Figur zum Leben durchdringen zu können: Könnt’ ich mit dir sein, wo man dich nur hört, Nicht von verworrner Kleinigkeit verstört! Ich kann’s! Gewähre, was du mir gedroht(!) (TT 79)528
Entscheidend ist die Emphase, mit der er die eigene Agentur belegt, und der Imperativ, den er gegenüber der Allegorie eines übermächtigen existenziellen Zusammenhangs verwendet. Für Claudio bleibt noch im Angesicht des Todes das Durchdringen zum All-Leben eine Willensentscheidung, die sich als souveräner Sprechakt zeigt: »Das schattenhafte [Leben] will ich ganz vergessen« (TT 79). Selbst wenn er wenig später konzediert, dass diese Gedanken nur »sterbendes Besinnen« sein könnten, hat es doch seine Lebensintensität erhöht – »und so
526 Vgl. Bennett: Hugo von Hofmannsthal, S. 58f. 527 Mayer: Tanz der Zeichen und des Todes, S. 357. 528 Hervorhebung von mir, PB.
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nenn ich’s gut!« (TT 79).529 Auch hier wird also die eigene Agentur mittels eines Bewertungsaktes betont. Metadramatisch gedeutet inszeniert sich Claudio somit als redend Handelnder, der seine Individualität durch Sprachhandlungen dezisionistisch530 bestätigen kann: Indem er den eigenen Tod als kairos deutet und sich der zum Lebensspender umgedeuteten Todes-Figur anheimstellt, scheint paradoxerweise das gesichert, was der Tod ihm streitig macht – seine Individualität. Damit hätte sich die Einzelfigur, deren aporetische Ausgangssituation durch soziale Isolation und Handlungslosigkeit die Grundbedingungen des Dramas infrage gestellt hat, durch die Deutung des Todes als Leben ›gerettet‹: Es hätte mittels Sprachhandlungen den Zugang zum ›Leben‹ erhalten und wäre zugleich individuiert geblieben. Die Entscheidung zum ›Leben‹ hätte dramenstrukturell die »augenblickshafte Rückerstattung von Präsenz«531 zur Konsequenz, mit der das thematisierte Wahrnehmungsproblem – der ›Tragödie der Kultur‹ – lebensphilosophisch in seiner Dramatik gefährdenden Dimension entschärft worden wäre. Das hieße weiter, dass durch die »Konzentration auf eine Zeitstelle« »das Lebensganze momenthaft im Augenblick der Tat oder Entscheidung aufgeht und […] sich – umgekehrt – der Augenblick der Tat auf das Ganze des Lebens bezieht«532 – wie es an Einaktern der Jahrhundertwende beobachtet wurde.533 Dass es sich bei Tor und Tod etwas anders verhält, darauf deutet schon die spöttische Reaktion der Todes-Figur auf Claudios Bühnentod hin. Indem er moniert, dass Claudio etwas zu deuten versucht habe, was sich nicht deuten lässt (TT 80), weist der Tod darauf hin, dass dieser durch die mit dem Umdeutungsversuch einhergehende Betonung der eigenen Deutungsmacht das Leben verfehlen muss. Das Leben als etwas aufzufassen, für das sich ein Individuum durch sprachliche Handlungen entscheiden kann, verleiht ihm den Status einer in Form erstarrten Objektivation, die es gerade nicht ist. Claudios Deutungen von Leben und Tod haben also das Leben epistemologisch unerreichbar gemacht. Doch bietet Der Tor und der Tod mit der abschließenden, knapp geschilderten Szenenanweisung einen Hinweis darauf, dass das Leben durchaus epistemologisch erreichbar, d. h. eine lebensphilosophisch inspirierte Transzendierung des ästhetizistischen Solipsismus dramatisch darstellbar ist: Wie schon beim Geigenspiel wird es durch ein außersprachliches Zeichensystem evoziert. Wie sich zeigen wird, erscheint es in Form einer Communitas.
529 Hervorhebung von mir, PB. 530 Zum Bezug von dezisionistischen Denkfiguren zu Identität im Drama um die Jahrhundertwende vgl. wieder Thomé: Das Ich und seine Tat. 531 Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 214. 532 Ebd., S. 215. 533 Vgl. ebd., S. 216–249.
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Der auf Claudios Tod und die abschließende Replik des Todes folgende Nebentext, der Tor und Tod beschließt, ist bislang von der Forschung weitestgehend ignoriert worden. Wenn man ihn überhaupt erwähnt hat, dann vor allem, um ihn als theatrale Realisierung des Totentanzes zu deuten.534 Doch soll hier gezeigt werden, dass diese knappe Szenenanweisung nicht weniger leistet als den im Text aufgeworfenen Problemen einer genuin theatralen Lösung zuzuführen, insofern sich die Pointe des Textes erst durch die Aufführung dieses Vorgangs realisiert. Ausgangspunkt des abschließenden Nebentextes ist der Abtritt der Todesfigur nach ihrem Schlussmonolog. Sie lässt den toten Claudio allein auf der Bühne zurück. Darauf folgt die Angabe: »Im Zimmer bleibt es still. Draußen sieht man durchs Fenster den Tod geigenspielend vorübergehen, hinter ihm die Mutter, auch das Mädchen, dicht bei ihnen eine Claudio gleichende Gestalt« (TT 80). Die merkwürdige letzte Formulierung (›eine Claudio gleichende Gestalt‹) deutet darauf hin, was nur implizit zu erschließen ist: Es sind nun zwei ›Gestalten‹ auf der Bühne, die wie Claudio aussehen, die Figur hat sich mithin verdoppelt. Das Publikum sieht also gleichzeitig den toten Claudio in seinem Studierzimmer und einen den Tod und seine Begleiter folgenden Claudio jenseits des Zimmers. Draußen, außerhalb des Arkanums, das ihn eingesperrt und von den Mitmenschen distanziert hat, realisiert sich eine Nähe zu den Anderen – er ist ›dicht‹ bei ihnen –, die er zu Beginn des Stücks noch als Signum des fernen ›Menschenlebens‹ bezeichnet hat (vgl. TT 64). Gerade wenn man die Insistenz auf das soziale Moment des Lebens, die das Stück durchzieht, ernst nimmt, so muss man in diesem Vorgang mehr sehen als die Realisierung der Totentanz-Tradition – die er sicher auch ist. In der vom Tod angeleiteten Gruppe scheint ganz zum Schluss eine Form von Gemeinschaft auf, die egalitär, unmittelbar, nicht-sprachlich erscheint: Man kann sie als Communitas bezeichnen. An dieser hat die ClaudioFigur Anteil, aber nicht gänzlich. Es stirbt, um mit Schopenhauer zu sprechen, an Claudio das ›principium individuationis‹535, dasjenige, was ihn vom ›Menschenleben‹ entfernt hat, und mit diesem Tod wird der Weg frei für die Inklusion des Teils von ihm, der Anteil hat an einem die Einzelexistenz transzendierenden Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist das ›All-Leben‹, das als Tod auftritt und gleichzeitig das (emphatische) Leben ist.536 Die Communitas ist also erst
534 Vgl. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 159. 535 Auf die Nähe zwischen der Schlusspointe des Textes und Schopenhauers Philosophie hat bereits Alewyn hingewiesen (vgl. Alewyn: Der Tod des Ästheten, S. 76). 536 So deutet Briese-Neumann den Totentanz am Schluss ganz ähnlich als Lebenssymbol und dieses Leben »im Sinne der eigenen Teilnahme« daran (Briese-Neumann: Ästhet-DilettantNarziss, S. 149).
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unter der Voraussetzung der Exklusion des auf seine Einzigartigkeit und Deutungspotenz insistierenden Protagonisten entstanden.537 Im Vergleich zu Les Aveugles hat sich also das Verhältnis von Protagonist und Communitas leicht verändert: Wo bei Maeterlincks Text der Tod des Protagonisten, mithin seine Exklusion, Voraussetzung für Communitas war, erscheint hier die Aufspaltung des Protagonisten als Integration seines integrierbaren Anteils in die Communitas. Es ist das ›Leben‹ im Sinne der Lebensphilosophie, das die Grundlage für diese Gemeinschaft bietet. Das ›Leben‹ ist das Medium eines Sozialzusammenhangs, der menschlichen Kontakt jenseits von sozialer Hierarchie (ich erinnere an Claudios asymmetrischen Dialog mit dem Diener, TT 64f.) und funktionaler Differenzierung538 ermöglichen soll. Eine solche Option scheint am Schluss von Tor und Tod in Form einer Communitas kurz auf.539 Mit dieser Lebensemphase wird semantisch eine Dezentrierung des Subjekts geleistet, die formal als theatrale Communitas vorgeführt wird. An Hofmannsthals Text zeigt sich, wie sich Dezentrierungssemantiken überlagern können, um das ›starke‹ Subjekt auf der Bühne zu desavouieren. Lief bei Les Aveugles der Schluss darauf hinaus, den Zuschauern zu vermitteln, dass sie den bedrohlichen Mysterien nicht weniger ausgesetzt sind als die Blinden und sich mithin die Communitas auf sie ausdehnt, ist das in Tor und Tod nicht zu beobachten – sie wird den Zuschauern vorgeführt, distanziert durch das Balkonfenster, das den Zuschauern gegenüber liegt (TT 62). Jedoch lassen sich durchaus Momente aufweisen, in denen das szenische Geschehen mit der Realität des Publikums kurzgeschlossen wird. So weist Bennett darauf hin, dass Claudios distanzierte Wahrnehmungshaltung der passiven Rezeptionshaltung des Theaterzuschauers entspreche540 und die Bühnenhaftigkeit des Stückes541 die Bühnenhaftigkeit des menschlichen Lebens schlechthin reflektiere.542 Wenn man 537 Man könnte einwenden, dass die am Schluss szenisch repräsentierte Gemeinschaft schon vor Claudios Tod dagewesen ist, dieser somit Teil eines bereits bestehenden übergreifenden Zusammenhangs ist. Dagegen spricht aber, dass der Tod und sein Gefolge eben nicht gemeinsam auftreten. Außerdem ist auffällig, dass weder der Tod (TT 70) noch sein Gefolge (TT 73f.; 75; 76) von außerhalb des Hauses auftreten. In der erwähnten Semantisierung der Raumordnung (innen: Tod; außen: Leben) deutet dies darauf hin, dass die an dieser Stelle maßgebliche Gemeinschaft erst durch die (partielle) Integration von Claudio erfolgt ist. 538 Diese wird freilich im Text nicht aufgerufen. 539 Wenn man, wie hier geschehen, das Problem des Sozialen mit dem Lebens-Begriff korreliert, zeigt sich, dass Hofmannsthal nicht erst »den Weg der Komödie [hat] einschlagen müssen« (Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 267), um eine Antwort auf dieses Problem vorzubringen. 540 Vgl. Bennett, Benjamin: Hugo von Hofmannsthal. The theaters of consciousness. Cambridge 1988, S. 64f. 541 Vgl. etwa der Auftritt der ›Geister‹ als Spiel-im-Spiel oder die erwähnten intertextuellen Bezüge zum ›Faust‹. 542 Vgl. Bennett: Hugo von Hofmannsthal, S. 72.
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die auch in Claudios Selbstbezichtigung, »schlechter Komödiant« auf der »Lebensbühne« (TT 76) gewesen zu sein, auf der Ebene der Figurenrede thematisierte Theatralität des Textes ernst nimmt, so erscheint der Umstand, dass die Zuschauer den Tod und sein Gefolge am Schluss ›draußen‹ ›durchs Fenster‹ vorbeiziehen sehen, als höchst signifikant: Sie bewegen sich von der Bühne weg, befinden sich zwar faktisch noch auf der Bühne, verweisen aber dadurch, dass sie jenseits des arkanen Studierzimmers positioniert sind, synekdochisch auf das Jenseits des Handlungsortes, zeigen damit auch ihre Zugehörigkeit zu einem Zusammenhang an, der sich nicht auf die Theaterbühne beschränken lässt. Damit reflektiert der Text, dass der Ort der Communitas, die die Zuschauer hinter dem Fenster beobachten können, nicht das prononciert artifizielle Geschehen543 auf der Bühne, sondern dessen Jenseits ist: der Zusammenhang von Tod und Leben. Zurück bleiben der tote Claudio – und die Zuschauer, also die beiden Instanzen, deren Wahrnehmung auf distanzierter, von kulturellem Wissen überformter Beobachtung beruht und denen aus diesem Grund die Teilhabe an Communitas verwehrt bleibt. Wer das Leben und das Drama »wie ein Buch« (TT 66) liest, bleibt hinter beider Möglichkeiten zurück. So gelesen findet sich dann auch in Tor und Tod eine Reflexion der Relation von Communitas und Theaterpublikum.
3.2.4 Communitas als Vor-Spiel: Rilkes Spiel (1898) Der Autor, der die theatrale Communitas am programmatischsten zum Vorschein kommen lässt, ist – und das dürfte überraschen – Rainer Maria Rilke. Dessen dramatisches Werk der Frühphase544 ist selbst in der Forschung nahezu in Vergessenheit geraten. Vom ›Nachzügler‹ der Zweitfassung der »Weißen Fürstin« (1904) abgesehen, haben die dramatischen Texte Rilkes kaum Forschungsinteresse auf sich gezogen, was an ihrer stilistischen Epigonalität, überschaubaren Qualität und nicht zuletzt an Rilkes eigener Geringschätzung diesen Arbeiten 543 So lässt sich die von Zeitgenossen wie der älteren Forschung als aufdringlich empfundenen Zitathaftigkeit des Textes (vgl. Matussek: Tod und Transzendenz im geistigen Raum, S. 320– 322), die schon eingangs aufgewiesen wurde, als Übertragung von Claudios Deutungszwang auf das gebildete Publikum lesen: So wie Claudio bei allen Betrachtungen unwillkürlich an Bildungsgehalte erinnert wird, registriert das Publikum diese auch und verfängt sich, wie Claudio, in fruchtloser Selbstreferenz, aus der nur ein dem Lebenszusammenhang zugeordnete Form von Sozialität herausführt. 544 Gemeinhin werden bei Rilke vier Werkphasen angesetzt, wobei die erste bis zum Aufbruch nach Paris im Sommer 1902 reicht (vgl. Engel, Manfred: Dichtungen und Schriften. Vier Werkphasen. In: Ders. (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2004, S. 175–181, S. 175).
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gegenüber liegen dürfte.545 Eine Untersuchung des kleinen, als Spiel546 betitelten Textes lohnt jedoch in diesem Zusammenhang, weil Rilke hier der Verwirklichung seiner dramenpoetischen Ziele am nächsten gekommen ist. Wie sich zeigen wird, lässt sich eines der Hauptziele reformulieren als Bildung einer theatralen Communitas vor dem Hintergrund des symbolischen Verschwindens eines Einzelnen. Die dafür maßgeblichen poetologischen Schriften sind ab 1898 entstanden und stehen in engem Zusammenhang mit Rilkes Maeterlinck- und NietzscheRezeption. In den davor entstandenen Texten wird die für den frühen Rilke entscheidende »radikale[] Inspirationspoetik«547 mit einer von Mallarmé übernommenen Sprach- und Theaterskepsis548 verbunden549, was dazu führt, dass jedem Versuch einer Aufführung von Texten die ›Kontamination‹ durch Regisseure, Schauspieler und Zuschauer droht.550 1898 erfolgt – vermutlich angeregt durch den erstmaligen Besuch einer Maeterlinck-Inszenierung551 – eine völlige Neubewertung theatraler Gestaltungsmittel. Diese hat sich in einer Reihe von Essays und Maeterlinck-Rezensionen niederschlagen, von denen die für diesen Zusammenhang wichtigsten hier kurz vorgestellt seien. Was Theater zu leisten hat, artikuliert Rilke erstmals in den vermutlich im Sommer oder Herbst 1898 verfassten552, zu Lebzeiten jedoch unveröffentlichten
545 Vgl. Ritzer: Dramatische Dichtungen, S. 264. 546 Der Text scheint als so insignifikant angesehen zu werden, dass er in die neuere, u. a. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn besorgte und kommentierte Rilke-Werkausgabe nicht aufgenommen wurde. Im Folgenden wird der Text unter der Sigle (Sp) zitiert aus: Rilke, Rainer Maria: Spiel [1898]. In: Ders: Sämtliche Werke. Hgg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Dritter Band: Jugendgedichte. Wiesbaden 1959, S. 375–386. 547 Engel, Manfred: Rilke als Autor der literarischen Moderne. In: Ders. (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2004, S. 507–528, S. 515. 548 Vgl. Allemann, Beda: Rilke und Mallarmé. Entwicklung einer Grundfrage der symbolistischen Poetik, in: Hamburger, Käte (Hg.): Rilke in neuer Sicht. Stuttgart [u. a.] 1971, S. 63–82. 549 Schon diese paradoxe Verbindung von Inspirationspoetik und Symbolismus weist darauf hin, dass es verfehlt wäre, Rilkes Poetik als mit dem Symbolismus wesensgleich zu bezeichnen (Saalmann, Dieter: Symbolistische Echos in R.M. Rilkes Essay »Moderne Lyrik«. In: Neophilologus 59 (1975), S. 277–286, S. 284). Vielmehr wird man von einer »Reflexion und Modifikation symbolistischer Poetik« sprechen müssen (Engel, Manfred: Rainer Maria Rilkes ›Duineser Elegien‹ und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde. Stuttgart 1986, S. 104). 550 Vgl. bes.: Rilke, Rainer Maria: Demnächst und Gestern [1897]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./ Leipzig 1996, S. 52–55. 551 L’Intruse im Berliner Residenztheater am 23.1. 1898. 552 Vgl. Nalewski, Horst: Kommentar. In: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski,
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»Notizen zur Melodie der Dinge«. Das Bezugsproblem der Überlegungen ist die Krise der Kommunikation. Während die zwischenmenschliche Kommunikation »[m]it Worten und Gesten«553 auf dem Theater gescheitert sei, könne es zum Vermittler einer neuen, nicht-sprachlichen Art der Verständigung werden, der »Melodie des Hintergrundes«.554 Diese lebensphilosophisch inspirierte ›Melodie‹ stellt eine Verbindung der Einzeldinge miteinander dar und soll theatral vermittelt werden: Sei es das Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms, sei es das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres, das dich umgiebt – immer wacht hinter dir die breite Melodie, aus tausend Stimmen gewoben, in der nur da und dort dein Solo Raum hat. Zu wissen, wann Du einzufallen hast, das ist das Geheimnis deiner Einsamkeit (…).555
Wie die zitierte Stelle zeigt, stellt die ›Melodie des Hintergrundes‹ eine Verbindung zwischen den ›Einsamen‹, die die ›Melodie‹ zu hören in der Lage sind, und ihrer Mitwelt her. Theatral soll dies durch »strenge Stilisierung«556 erreicht werden – nicht durch irgendeine Art von Handlung, sondern durch etwas, was Rilke als »Chor«557 bezeichnet – und was er erst in späteren Texten präzisiert. Gelänge die theatrale Darstellung der ›Melodie‹, könnte »von der Bühne her […] das neue Leben verkündet«558 werden. In zwei kurzen Texten zum »Wert des Monologs« befasst sich Rilke weiterhin mit der Frage, wie das neue, der ›Melodie des Hintergrundes‹ verpflichtete Drama sprachlich realisiert werden soll. Er spricht sich gegen den Monolog im Sinne der Expression einer Einzelfigur aus, denn er »zwingt das, was über den Dingen ist, in die Dinge hinein«.559 Nicht als Mittel der Kommunikation, sondern als poetischer Ausdruck einer seelischen Verwandtschaft der Dinge sei Sprache noch zu gebrauchen. Entscheidend sei die »einheitliche Wirkung«560 des Dramas,
553
554 555 556 557 558 559
560
August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 749– 1067, S. 806. Rilke, Rainer Maria: Notizen zur Melodie der Dinge [1898]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 103–133, S. 104. Ebd., S. 107. Rilke: Notizen zur Melodie der Dinge, S. 106. Ebd., S. 109. Ebd. Ebd., S. 111. Rilke, Rainer Maria: Der Wert des Monologes [1898]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 121–124, S. 122. Rilke, Rainer Maria: Noch ein Wort über den ›Wert des Monologes‹. [1898]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Heraus-
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der sich die Sprache unterzuordnen habe. Es geht um ein Ausgreifen der Bühne auf das Leben: »Den Raum über und neben den Worten auf der Bühne will ich für die Dinge im weitesten Sinn. Die Bühne hat mir, um ›realistisch‹ zu sein, nicht eine (die vierte) Wand zu wenig, sondern eher drei Wände zu viel.«561 In einer Rezension zu Maeterlincks Pelléas et Mélisande kritisiert Rilke, dass die Theatermacher das Stück als Eifersuchtsgeschichte missverstanden und es damit um seine Wirkung gebracht hätten, denn für Maeterlincks Dramatik gelte: »Das Fernhinsichtbare ist ihr Dramatisches«.562 Damit diese Wirkung eines vom Zuschauer erfahrbaren einheitlichen Zusammenhangs erzielt werden könne, müsste jedes Element der Aufführung gleichrangig werden. Auch müsse der Schauspieler seine hervorgehobene Position aufgeben: »Er darf nicht auffallen, sich nicht durch seine Einzelleistung isolieren, er muß spielen, wie mit verhülltem Gesicht«.563 In einem vermutlich564 im März 1900 verfassten Konvolut, den nicht zur Veröffentlichung bestimmten »«, bietet Rilke eine auch terminologisch sehr eigenwillige Auseinandersetzung mit dessen Tragödienschrift. In diesem Zusammenhang klärt er, welche Funktion die Kunst – und besonders das Drama – zu erfüllen hat. Sie soll, ganz so wie Nietzsches Tragödie, die überindividuelle Energie der »Musik« erfahrbar machen, indem diese durch Form gebändigt wird. Das »Wesen des Dramatischen« definiert Rilke als »Musik, besänftigt durch Handlung«.565 Theatral sei dies durch den Chor zu verwirklichen: »Wir retten uns von dem bewegten Spiel der Bühne zu den ruhigeren Kreisen ihres Tanzes […], um […] ins Ewige zu schauen, von dem der Chor bewegt ist.«566 Dieser Chor ist aber nicht figural zu verstehen, sondern als »fühlbare[r] Chor« – er tritt als »Auge« auf, das »zwischen Publikum und Szene
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gegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 125–127, S. 126. Ebd., S. 126f. Rilke, Rainer Maria: Pelleas und Melisande [1899]. Maurice Maeterlinck. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 139–142, S. 140. Ebd. Die Debatte darüber, ob der Text, wie es das im Text enthaltene und auf den 18.3. 1900 datierte Gedicht »Hinter mir sind dunkle Chöre« nahelegt, um 1900, oder schon früher, etwa im Umkreis zu den »Notizen zur Melodie der Dinge« entstanden ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. Brunkhorst, Katja: »Verwandt-Verwandelt«. Nietzsche’s presence in Rilke. München 2006, S. 70). Rilke, Rainer Maria: . [1900]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften. Hgg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 161–172, S. 169. Ebd., S. 162.
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eingeschoben werden«567 muss, womit dem Publikum eine Erfahrung vom Communitas ermöglicht wird: Es tut not, eine solche Handlung auf die Bühne zu stellen, durch die ein in der Erfahrung und im Gefühl jedes Einzelnen mögliches Erlebnis angeregt wird, das in seiner Gewaltsamkeit die Menge der Zuschauer wie ein großer Griff zusammenfaßt. Das anregende Ereignis muß (…) auf einer zweiten idealen Bühne vor sich gehen, die sich als Schauplatz jenes Wiedersehens darstellt, welches die befreiten, in der Steigerung ähnlich gewordenen Seelen der Zuschauer miteinander feiern. Die Handlung, der Stoff muß auch beim Drama (…) wieder an die ihm gebührende zweite Stelle treten und Raum geben für ein wirklich künstlerisches Ereignis. Nicht wirklicher, wahrheitsnäher darf die Bühne werden, sondern scheinhafter und schöner. Etwas den Menschen (…) überhaupt Gemeinsames muß hinter der Handlung, wie ein verbindende Erinnerung (…) aufstehen und dort, nicht innerhalb der verhältnismäßig zufälligen Szene, muß sich das Bedeutende, Erlösende ereignen. Nicht das Spiel, sondern die Melodie des Spieles muß das Zusammenfassende sein (…).568
Nur durch den ›fühlbaren Chor‹ wird die Revitalisierung des theatralen Gemeinschaftserlebnisses möglich – jedoch nur mit der der Moderne geschuldeten Verschiebung des Chores nach innen: »Im Gegensatz zur visuellen Kultur der Antike, die auf dem lebendigen Mythos beruht und einen sichtbaren Chor fordert, muss der Chor im modernen Drama das Gefühl ansprechen und daher abstrakt, im Zuschauer errichtet werden.«569 Darin liegt die Mission des Dramas: Erst wenn »nicht fünfhundert heutige Menschen, sonder ein einziger, zeitloser wartend vor der Bühne sitzt hat es einen Sinn, den Vorhang aufgehen zu lassen.«570 Die Position, die diese Art von theatralem Erlebnis an einem Theaterabend zukommen soll, ist die einer Grundlegung: Sie soll als »Vorspiel vor dem Drama«571 aufgeführt werden und damit eine Rezeptionshaltung ermöglichen, die die Potentiale der Theateraufführung erst zur Entfaltung kommen lässt. – Im Folgenden wird Rilkes Spiel als derjenige Text analysiert, in dem diese Forderung am ehesten zu realisieren versucht worden ist. Der kurze, dem symbolistischen Maler Ludwig von Hofmann zugeeignete572 Text mit dem Titel Spiel erfüllt Rilkes eigene Forderung nach ›strenger Stilisie567 Ebd., S. 163. 568 Ebd., S. 164f. 569 Jacobs, Angelika: »alles ist zur Stille um-gestaltet«. Rilkes lyrische ›Spiele‹ im Kontext des Symbolismus. In: Germanistische Mitteilungen 54 (2001), S. 41–65, S. 53. 570 Rilke, S. 167. 571 Ebd. 572 Über eine nähere Beziehung der beiden zueinander ist nichts bekannt (vgl. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926. Erweiterte Neuausgabe, herausgegeben v. Renate Scharffenberg. Frankfurt a.M./Leipzig 2009, S. 84), aber der dem Spiel beigefügte und auf den 13.11. 1898 datierte Widmungsbrief deutet an, dass Rilke in ihm einen Seelenverwandten ausgemacht hat. Darin kündigt er den Band
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Dezentrierung oder Rezentrierung?
rung‹ vollkommen. Sowohl der Ton der Szene als auch der darin dargestellte Vorgang lässt sich beinahe vollständig aus der Szenenanweisung zu Beginn herauslesen: Landschaft an einem lichten, leuchtenden Meer: Der Jüngling in Purpur sitzt sinnend am Strand. Im dunklen Auge die Unendlichkeit. Das Meer rollt ruhig vor seine Füße und seine Welle bleibt der Takt der Scene. Die sieben Mädchen in weißen Kleidern verdecken erst, eine Reihe bildend hinter dem Fremden, die Landschaft. Später ründet ihr Reigen sich, bis sie den Sinnenden rings umschließen. (Sp 377)
Diese Beschreibung des Vorgangs wird noch durch eine »Bemerkung« ergänzt, die die Differenz zur Guckkasten-Ästhetik explizit markiert: »Die scenische Anordnung setzt voraus, daß der freie Ausblick, das Meer, in das Publikum hinein wächst, wo die vierte Bühnenwand dem Beschauer gewichen ist. Die Wellen decken also das vordere Drittel der Scene mit einer breiten, landenden Bewegung.« (ebd.) Anstelle einer Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die die voyeuristische Asymmetrie der Vierten Wand ermöglicht, bildet das Meer eine Zone, die jene Trennung aufhebt. Diese Semantisierung des Meeres steht natürlich im Zusammenhang mit dem schon erwähnten »Lebenspathos«573 der Zeit um 1900. So spiegelt das Verhältnis der Welle zum Meer »in unvergleichlicher Genauigkeit das Verhältnis des Individuums zur Lebensganzheit ab.«574 Die Bedeutung des Meeres als Symbol für ein Kollektives wird auch im Haupttext hervorgehoben, wenn die sieben Mädchen behaupten: »[A]m Meer / ist es nicht wie an anderen Orten. / […] // Was man hier spricht, / spricht man immer zu Hunderten.« (Sp 379) Damit wird ganz deutlich, dass das Meer einen übergreifenden Zusammenhang zwischen Bühnengeschehen und Zuschauern symbolisiert – und es den sieben, ausdrücklich im Chor (Sp 378) sprechenden Mädchen zugeordnet ist575, wogegen das Land des Jünglings »nirgends einen Strand« (ebd.) hat. Ganz so, wie Rilke es in seinen essayistischen Texten gefordert hat, wird im Spiel keine ›Handlung‹ dramatisch entfaltet, sondern ein Rede, Tanz und Bühne gleichrangig behandelnder Vorgang geboten. Textuell stellt die Szene einen von Nachfragen und Einwürfen unterbrochenen Bericht des einsamen (Sp 381) »Jünglings in Purpur« dar, der in einen mit »Gesang[]« begleiteten »Tanz« (Sp 384) der von ihm grundverschiedenen576 »sieben Mädchen in weißen Kleidern«
573 574 575 576
»Spiele« an und gibt der Hoffnung Ausdruck, v. Hofmann könnte den Text »lieb haben und meine Liebe dafür so vermehren.« (Sp 376). Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967], S. 28. Ebd., S. 31. So korrespondieren ihre weißen Kleider mit dem »lichten, leuchtenden Meer« (Sp 377). Siehe die Vielzahl an Kontrast- und Differenzkriterien, die den Jüngling und die sieben Mädchen als aufeinander bezogen und zugleich different darstellen – etwa die Farbgebung,
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Communitas und Einzelfigur
mündet. Auffällig ist die lyrisierende, unregelmäßig reimende Verssprache577 und das Druckbild, das den Text zweiteilt: Während der erste Teil linksbündig angeordnet ist, wird der Text an der Mittelachse ausgerichtet, sobald der Jüngling, von den sieben Mädchen darum gebeten, das »Lied vom Leid« (Sp 380) zu singen beginnt, d. h., die Geschichte erzählt, die ihn erstmals (Sp 378) ans Meer geführt hat.578 Diese Geschichte entfaltet ein Schuldverhängnis, in dem der Jüngling als Geliebter einer Königin im Traum deren »greisen Gemahl« (Sp 383) tötet, woraufhin sich seine Gewänder wie die Ländereien rot färben (die Königsfarbe Purpur erscheint den Mädchen »in plötzlichem Erschrecken« »[w]ie Blut«, Sp 381). Das »Grauen« (Sp 383) dieser (Nicht-)Tat579 sorgt für die Trennung, die als Flucht vor der Erkenntnis der verlorenen Liebe und eigenen Schuld erscheint: Denn meine Seele darf nicht erfahren, daß die Hand meiner Königin meinen Haaren nichtmehr Gebot ist, daß ihrer Küsse Offenbaren nichtmehr mein Brot ist, – daß ich – weit – bin, daß mein Kleid rot ist. (Sp 384)
Im Anschluss auf diesen Höhepunkt »sinkt [der Jüngling] wieder auf seinen Sitz zurück« (Sp 384) und beginnt die kultische Handlung der Mädchen: Da umranken die sieben Mädchen ihn ganz mit ihrem weißen Reigen. Sie neigen sich näher über den Sinnenden, bis sie ihn endlich mit ihrem Tanz verhüllen. Auch ihre Stimmen, die am Anfang des Gesangs hilflos und leise sind, nähern sich, werden breiter, einiger und steigen schließlich, wie Opfersäulen licht, in die Himmel. (ebd.)
Schon diese wenigen Textstellen dürften deutlich gemacht haben, dass die Figuren »von der rein funktionalen Einbindung in das Kontinuum der Handlung befreite Exponenten eines suggestiv evozierten état d’âme«580 darstellen. Anstelle
577 578 579 580
die Zuordnung zu Land und Meer, der Bericht der Vergangenheit des Jünglings und die Prophezeiungen der Mädchen am Schluss. Die Versifizierung ist Spezifikum von Rilkes symbolistischen Spielen. Es wäre denkbar, diese Anordnung um die Mittelachse als weiteren Aufweis der Lyrizität des Textes zu deuten. Wobei es bezeichnend ist, dass es für das Schuldempfinden der Figur gleichgültig ist, ob die Tötungshandlung im Traum oder in der ›Wirklichkeit‹ ausgeführt wurde: Einmal mehr rückt diese Entdifferenzierung das Geschehen ins Amimetisch-Imaginäre. Jacobs: Rilkes lyrische ›Spiele‹, S. 47.
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Dezentrierung oder Rezentrierung?
einer durch Psychologisierung erfolgenden Differenzierung und Partialisierung von Figuren wie Zuschauern581 bietet der symbolische Vorgang die Voraussetzung für die Gemeinschaft stiftende Wirkung der Bühne. Diese Gemeinschaft wird jedoch nicht allein durch den oben zitierten Vorgang realisiert. Auffällig ist vielmehr das Ineinander von symbolistisch orientierter ›Correspondance‹-Ästhetik und kultischer Handlung, mehr noch: die Interdependenz von Sprache und Performativität. Das lässt sich anhand der Schlussreplik der sieben Mädchen zeigen, die mit dem den Jüngling umringenden Reigen einhergeht. Ihr »[V]erhüllen« des Jünglings korrespondiert zunächst mit Ankündigungen, die den tänzerischen Vorgang metaphorisch verdoppeln: »Mit unseren sieben / hellen / heiligen Herzen, / wie mit sieben atmenden Ambrakerzen, / deine schönen Schmerzen / umstellen.« (Sp 385) Jenseits solcher Verdopplungen des Performativen wird in dieser Replik jedoch das Verhältnis zwischen Jüngling und Mädchen näher bestimmt: es wird als ein komplementäres imaginiert und damit der Vorgang des Reigen-Tanzes semantisiert: »Deine Augen, die lange litten, / sollen mitten / in unseren Tänzen / wie Tempel sein.« (ebd.). Entsprechend lässt sich auch die Prophezeiung der Mädchen lesen, dass durch ihren Reigen das Herz des Jünglings »aus der alten / Angst genest, / und Du mit dem leidverlierenden / Lächeln, licht, / unter Uns frierenden Mädchen stehst.« (Sp 386) Die Gemeinschaft, die hier sprachlich wie performativ evoziert wird, ist eine, in der die Leiden der Einzelnen durch den Kontakt untereinander wechselseitig aufgehoben wird. Erst durch die Komplementarität der Teilnehmer im Reigen, durch die »Relation von Einzelnem und Gruppe, Geist und Körper, Mann und Frauen«582, kann die Communitas ihre transformative Potenz aktualisieren, die in der prozessualen Formulierung eines ›leidverlierenden Lächelns‹ angedeutet ist. Er muss durch den Reigen von seiner solipsistischen Einzigartigkeit erlöst werden, um Gemeinschaft realisieren zu können. Es fragt sich nun, wie diese Komplementarität zu deuten ist. Angelika Jacobs hat den Vorschlag gemacht, sie als »rituelle Visualisierung eines innerpsychischen Prozesses«583 zu lesen, entsprechend der Zweitfassung der Weißen Fürstin von 1904. Nimmt man aber den engen Zusammenhang zwischen den sieben Mädchen und dem Meer sowie den Umstand ernst, dass am Meer alles Gesagte »immer zu Hunderten« (Sp 379) gesprochen wird und dass es »in das Publikum hinein wächst« (Sp 377), so scheint es plausibler, in der Szene ein »Vorspiel« im Rilkeschen Sinne zu sehen, das den Zuschauern die Emergenz einer Communitas ›vor-spielt‹, die sie als Publikum nun selbst zu leisten hätten – und zwar analog zur 581 Vgl. Ritzer: Dramatische Dichtungen, S. 278. 582 Ritzer: Dramatische Dichtungen, S. 279. 583 Jacobs, Angelika: Rilkes lyrische ›Spiele‹, S. 57.
Communitas und Einzelfigur
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Szene als komplementäre Relation von Einzelnen und Gruppe. Hier scheint am ehesten ein ritueller Begriff von Communitas auf, insofern die dargebotene Szene nicht als einzigartiger, selbstständiger Vorgang konzipiert ist, sondern an jedem Theaterabend eine kommunitäre Rezeptionshaltung vermitteln soll. In dieser Funktionalisierung des Spiels unterscheidet sich der Text von denen Maeterlincks und Hofmannsthals. Demgegenüber ähnelt er den beiden, wie gesagt, in der figuralen Grundstruktur: Erst muss der Protagonist szenisch zurückgenommen werden, ehe eine Gemeinschaft auf der Bühne entstehen kann, die die übrig gebliebenen Figuren (und mithin die Zuschauer) umfasst.
C. Schlussbetrachtungen
1.
Rückblick: Zugänge und Ergebnisse der Arbeit
Die Arbeit hat den Versuch unternommen, formale Entwicklungen, die die dramatische Gattung von 1890 bis 1920 genommen hat, mit einer in dieser Zeit virulenten semantischen Verunsicherung zu korrelieren. Dazu ist eingangs erwiesen worden, dass dieser semantischen Verunsicherung nicht mit den eingespielten und erwartbaren methodischen Zugängen – etwa der Diskursanalyse oder der Forschung zur Verbindung von Literatur und Wissen – beizukommen ist und dass die Dramenforschung für den Konnex von Form und Semantik trotz entsprechender kanonischer Ansätze keinen für den konkreten Untersuchungsgegenstand brauchbaren Zugang entwickelt hat. Aus diesen Gründen musste die Arbeit eine eher synkretistische Form annehmen, in der eine überwiegend semantikgeschichtlich argumentierende Synthese mit disparaten Gruppen von Einzelanalysen dramatischer Texte konfrontiert wurde. Dieser Rückblick soll kurz an die Gründe für dieses Vorgehen und an die daraus gewonnenen Ergebnisse erinnern, ohne auf die einzelnen Textanalysen detailliert einzugehen. Die Funktion des Hinführungsteils ist es gewesen, die vielfältigen Voraussetzungen aufzuzeigen, die es ›denkmöglich‹ machen, eine Verbindung herzustellen, die nicht von vornherein evident ist. Daher sind diesbezügliche Einwände ernst genommen worden, indem sie mehrfach thematisiert und zu entkräften versucht worden sind. Darüber hinaus hat der weit ausgreifende historische Abriss zum Aufstieg und Fall des ›Denkmusters‹ des ›starken Subjekts‹ erstens die Aufgabe, die historische Tiefendimension des Untersuchungsgegenstandes zu erweisen bzw. nicht zu unterschlagen, und zweitens, seine kulturgeschichtliche, semantische wie fachliche Polymorphie anschaulich werden zu lassen. Der Aufweis der Ubiquität der Vorstellung vom ›starken Subjekt‹ macht es dann plausibel, die dramatischen Bearbeitungen seiner Infragestellung an unterschiedlichen dramaturgischen und thematischen Phänomenen aufzusuchen. Man könnte die dahinter stehende Argumentationskette so zusammenfassen: Die Polymorphie des ›starken Subjekts‹ führt zu verschiedenen Strategien seiner
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Rückblick: Zugänge und Ergebnisse der Arbeit
Infragestellung, welche wiederum höchst divergent in Dramen Eingang gefunden haben. Die von Analysekapitel zu Analysekapitel veränderte Hinsicht, unter der ›das Subjekt‹ infrage gestellt worden ist, hat methodisch verschiedene Gewinne erzielt. Zunächst wurde deutlich, dass man keineswegs, wie zu vermuten wäre und von den zeitgenössischen Autoren wie in der Forschung meist betrieben worden ist, allein die dramatische Figur zu beobachten hat, wenn man nach den Reaktionen auf zeitgenössische Subjekt-Semantik fragt. Zudem kann durch diese Multiperspektivität verhindert werden, ausschließlich kanonisierte und hoch reflektierte bzw. artikulierte Positionierungen zu dieser semantischen Problemlage in das Korpus aufzunehmen. Anstelle einmal mehr ausschließlich Strindberg, Schnitzler und Hofmannsthal heranziehen zu können, war es möglich, auch die Beiträge von weniger beforschten Autoren würdigen zu können und beispielsweise deutlich zu machen, dass selbst prononciert antimodernistische Autoren wie Samuel Lublinski über die dramatische Abwehr zeitgenössischer Semantiken dennoch an ihnen partizipieren. Gleichwohl musste die Arbeit deshalb nicht auf die Texte der in diesem Zusammenhang durchaus nicht zu Unrecht zentral behandelten Autoren verzichten. Die Offenheit des Korpus für die verschiedenen ästhetischen Programmierungen ermöglichte Querverbindungen jenseits der von den historischen Epitexten übernommenen Parteibildungen etwa von Naturalismus versus Symbolismus/Ästhetizismus. Als zentraler Gewinn der Arbeit könnte gelten, im Ganzen wie in den jeweiligen Analysekapiteln Vorschläge unterbreitet zu haben, wie sich Dramentexte auf semantische Umwälzungen jenseits ›inhaltistischer‹ Zugänge beziehen lassen. Nicht zuletzt dürfte die Arbeit damit erwiesen haben, dass man an Peter Szondis Ansatz, dramatischen Formwandel auf im Drama Dargestelles beziehen zu können, festhalten kann, ohne auf geschichtsphilosophische Narrative zurückgreifen oder rein ›inhaltistisch‹ argumentieren zu müssen. Vergegenwärtigt man sich die Befunde der einzelnen Textanalysen, so hat sich der gewählte Ansatz für die Dramatik um 1900 als fruchtbare Neuperspektivierung erwiesen, die für die Subjekt-Semantik bemerkenswerte Ergebnisse geliefert hat. Erstens dürfte mit Blick auf das Verhältnis der dramatischen zur Theatermoderne deutlich geworden sein, dass Versuche, eine von beiden als Urheber der anderen zu postulieren, am historischen Sachstand vorbei gehen. Die Hinweise zur Theatermoderne wie die theatergeschichtlichen Exkurse hatten die Funktion, an die vielfältigen, historisch verschieden intensiv abgelaufenen Austauschprozesse und Interdependenzen zwischen Drama und Theater zu erinnern. Das zeigt sich deutlich an den Analysen von Dramen, die ihre Theatralität ausstellen, um durch diese Markierung Darstellungsoptionen für die Subjektproblematik zu gewinnen. ›Theater‹ erscheint nicht bloß als Motiv oder Setting, sondern als Experimentierfläche, auf der die Frage nach der ›Stärke‹ von Subjekten gestellt
Rückblick: Zugänge und Ergebnisse der Arbeit
447
werden kann. Es dürfte zu den eher überraschenden Befunden der Arbeit zählen, dass diese Frage in den Dramen meist negativ beantwortet wird und die Veränderbarkeit von Subjektivität im theatralen Spiel, die man angesichts des Rollenspiels annehmen würde, aufgrund der ›Schwächen‹ der Subjekte gerade nicht möglich ist. Der zweite Gewinn der Analyseteile liegt im Aufweis der Reichweite der Subjekt-Referenz in der Dramatik um 1900. Untersuchungen der Raumordnungen und szenischen Kontinuität haben gezeigt, dass vor dem Hintergrund fragmentierter Subjektivität auch die dramatische Tiefenstruktur ihre tradierte Form aufgibt und mittels Formexperimenten diese problematische Subjektivität abzubilden versucht. Ob diese Versuche als ästhetisch besonders geglückt zu gelten haben, ist dabei eher nachrangig. Gerade diese Analysen erweisen deutlich, dass die formale Experimentierfreude der Dramatik ab 1890 der Gattung erhebliche Zugewinne an dramatisch Darstellbarem verschafft hat. Davon hat gerade die Bearbeitung der ›Frage nach dem Subjekt‹ enorm profitiert. Drittens hat sich bei der Analyse der Bedeutung, die die dramatische Verarbeitung sozialer Semantiken für die Subjekt-Problematik gehabt hat, eine bemerkenswerte Spannung ausmachen lassen: Während die Dramatisierung der vom bürgerlichen Publikum perhorreszierten Masse im Wesentlichen zur Stabilisation bzw. Revitalisierung der Vorstellung ›starker‹ Subjektivität geführt hat, haben die symbolistisch-ästhetizistischen Gemeinschaftsvisionen, die hier als ›Communitas‹ bezeichnet worden sind, den Untergang der ›starken‹ – man kann auch sagen: hypertrophen – Subjekte zur Voraussetzung. Diese Spannung ist höchst signifikant, deutet sie doch darauf hin, dass auch um 1900 die dramatische Bearbeitung der Subjekt-Semantik enorm von ihrer sozialen Funktionalisierung abhing. Wo das ›starke Subjekt‹ sozialen Gruppen eine Form zu geben verspricht, bleibt es unverzichtbar, anderenfalls erscheint sein Verschwinden als Bedingung einer zukunftsweisenden Erneuerung des Sozialen. Abschließend soll nicht verschwiegen werden, dass die methodischen Entscheidungen der Arbeit auch zu ihren Begrenzungen beigetragen haben. So muss sie sich etwa den Vorwurf gefallen lassen, für genderspezifische Differenzierungen in den Dramentexten nicht sensibel zu sein. Das ist dadurch zu erklären, dass solche Differenzierungen zumeist an den Gender-Zuordnungen und -Diskussionen der dramatischen Figuren ansetzen. Eine solche Orientierung an dramatischen Figuren ist hier als nicht zielführend verworfen und durch abstraktere Zugänge ersetzt worden. Ob und inwieweit eine Gender-Perspektive für die Subjekt-Semantik um 1900 andere als die hier erzielten Ergebnisse erbringt, kann daher nicht beantwortet werden. Eine Klärung dieser Frage verspräche, der Subjekt-Fragestellung eine weitere, womöglich diese verschiebende oder gar relativierende Dimension zu geben. Eine solche an konkreten dramatischen Texten
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Rückblick: Zugänge und Ergebnisse der Arbeit
um 1900 erfolgende umfassende Untersuchung muss der Forschung als Aufgabe gestellt werden. Offen bleiben muss zuletzt auch, wie das Verhältnis der Dramatik um 1900 zu den ›protomodernistischen‹ Dramen Büchners, Kleist, Grabbes zu beschreiben ist. Die Arbeit hat Hinweise darauf erbracht, dass die theatrale Realisierung dieser Dramen um 1900 eine Aktualität ihrer Problemlagen erweisen, womit man entweder ihren Ausnahmestatus und ihre Vorzeitigkeit belegen kann oder sich damit eine gerade Linie zwischen den beiden Jahrhundertwenden ziehen lässt. Das kann nicht abschließend geklärt werden, noch muss es das; allerdings wäre eine Klärung in späteren Untersuchungen genauso wünschenswert wie die Verlängerung des Untersuchungszeitraums bis 1933. Womöglich ist auch das Abflauen der ›heißen Phase‹ der dramatischen Beschäftigung mit der SubjektSemantik in den 1920er Jahren ästhetisch produktiv geworden oder lassen sich signifikant andere Formlösungen ausmachen. Die Arbeit hat jedenfalls ihren Zweck erreicht, wenn solche Fragestellungen in Zukunft plausibel gestellt werden können und dadurch verwandte Untersuchungen zur ästhetischen Produktivität kultureller Krisenphänomene angeregt werden.
2.
Ausblick: Die Tode des Subjekts und kein Ende?
Die Arbeit legt nahe, dass nicht allein das Deutungsmuster des ›starken‹ Subjekts, sondern auch seine Toterklärungen zu historisieren sind. Verfolgt man diesen Gedanken, kann man Verbindungen zu den Hochphasen der Subjektkritik stark machen. Eine solche Verbindung lässt sich von der Jahrhundertwende um 1900 bis zur Theoriebildung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts ziehen. Bekanntlich wird in dieser Zeit die Überzeugung, dass das mit Descartes assoziierte neuzeitliche Subjektkonzept unbrauchbar geworden ist und ersetzt werden muss, als »one of the great motifs of contemporary philosophical work in France«1, also für die so disparaten Exponenten des Poststrukturalismus, bezeichnet. Die meisten von ihnen haben sich explizit auf die hier skizzierte Subjektkritik um 1900 berufen. Beispielsweise2 tritt Lacans Subjekttheorie als strukturalistisch und kulturtheoretisch erweiterte Fortentwicklung der Freudschen Psychoanalyse auf. Der Kern des von ihm analysierten Subjekts des Unbewussten, das er in Abwandlung des cartesianischen Diktums mit der Formel »Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke«3 verdeutlicht hat, besteht wie bei Freud im (unbewussten) Begehren, Heuristiken zur Analyse des Imaginären – das Ideal-Ich, die Identifikation – sind ebenfalls der Psychoanalyse entlehnt. Gleichwohl ist die Absage an das cartesianische Subjekt gerade nicht gleichbedeutend gewesen mit einer Absage an alle Subjektanalyse – im Gegenteil: Lacans Denken ist im Ganzen an die Aufdeckung der unbewussten Begehrensstrukturen (etwa durch Identifikation, Projektion und Zeichensetzung) des Subjekts gebunden gewesen. 1 Nancy, Jean-Luc: Introduction. In: Cadava, Eduardo / Connor, Peter / Nancy, Jean-Luc (Hg. u. a.): Who comes after the subject? New York 1991, S. 1–8, S. 4. 2 Zu denken wäre auch an Deleuzes kritische Bezugnahme auf Freuds Psychoanalyse und seine Fortentwicklung nietzscheanischen Denkens, während Derridas Position eher von Heideggers Subjektkritik ausgeht. 3 Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud [1958]. In: Ders. Schriften. Ausgewählt und hgg. v. Norbert Haas. Band 2. Olten [u. a.] 1975, S. 15–60, S. 43.
450
Ausblick: Die Tode des Subjekts und kein Ende?
Nicht minder explizit ist Foucaults Auseinandersetzung mit Nietzsches Subjektkritik. Besonders der längst legendäre Schluss der »Ordnung der Dinge« macht die Funktion dieser Verbindung deutlich. Im Text wird der ›Mensch‹ bekanntlich als eine »empirisch-transzendentale Doublette«4 bezeichnet, da mit dem ›Menschen‹ als wissenschaftlichen Gegenstand auch die transzendentale Struktur des Subjekts geschaffen worden ist, der diesen Gegenstand beobachtet. Doch ist diese Doublette genauso historisch wie die Episteme, die sie hervorgebracht hat. Das bedeutet, dass ihr Verschwinden denkbar wird – und dieses Verschwinden ist von Nietzsche vor-gedacht worden: Der Mensch wird verschwinden. Mehr als den Tod Gottes (…) kündigt das Denken Nietzsches das Ende seines Mörders, das Aufbrechen des Gesichtes des Menschen im Lachen und die Wiederkehr der Masken (…), die Identität der Wiederkehr des Gleichen und die absolute Zerstreuung des Menschen an. Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts bildeten das Ende der Philosophie und die Verheißung einer nahen Kultur zweifellos nur ein und dieselbe Sache mit dem Denken der Endlichkeit und mit dem Erscheinen des Menschen in der Gelehrsamkeit.5
Diese Prophetie von Nietzsches Denken des Subjekts und seiner Beschränkungen, die auf die Geltung von Philosophie schlechthin wirken, bewahrheitet sich in der Zeit der Niederschrift von Foucaults »Ordnung der Dinge«: Unserer Tage beweisen ohne Zweifel die Tatsache, daß die Philosophie noch immer und immer wieder im Begriff ist zu enden, und die Tatsache, daß vielleicht in ihr und noch mehr außerhalb ihrer selbst und gegen sie (…) die Frage der Sprache sich stellt, daß der Mensch im Begriff ist, zu verschwinden.6
Daran knüpft Foucault an und stellt dem zeitgenössischen Denken genau die Aufgabe, »darauf zu verzichten, den Menschen zu denken«.7 Erst die Historisierung dessen, was Foucault ›den Menschen‹ nennt, eröffnet die Möglichkeit für ein »künftiges Denken«8. Da seine Entstehung das Resultat einer »Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens«9 war, so stellt eine abermalige Veränderung derselben das Verschwinden des Menschen in Aussicht. Bekanntlich ist auch Foucault bei diesem Abgesang nicht stehen geblieben und hat sich sein gesamtes Schaffen damit beschäftigt, wie der Mensch »in eine[r] unendliche[n] und vielfältige[n] Serie unterschiedlicher Subjektivitäten«10 u. a. mittels Dispositiven, Diskursen und Selbsttechniken immer neu konstruiert 4 5 6 7 8 9 10
Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 384. Ebd., S. 460f. Ebd., S. 461. Ebd. Ebd. Ebd. Foucault, Michel: Gespräch mit Ducio Trombadori [1980]. In: Ders.: Dits et Écrits. Schriften in vier Bänden. Hgg. v. Daniel Defert. Band 4: 1980–1988. Frankfurt a.M. 2005, S. 51–118, S. 94.
Ausblick: Die Tode des Subjekts und kein Ende?
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worden ist. Auch bei Foucault ist der Anschluss an die Subjektkritik um 1900 Voraussetzung für eine methodisch erneuerte Beschäftigung mit Subjektivität, nicht aber damit, die Fragestellung selbst aufzugeben – ein Vorgehen freilich, das sich bei Nietzsche und Freud schon vorgebildet findet. Das Postulat des Endes dieses ›starken‹ Subjekts stellt weder um 1900 noch um 1965 einen Endpunkt der Subjekttheorie dar. Die französischen Poststrukturalisten werden noch 198611 in einem Einladungsschreiben zu einem einschlägigen Sammelband von Jean-Luc Nancy danach gefragt, was denn nun nach dem Subjekt komme: A wide spread discourse of recent date proclaimed the subject’s simple liquidation. Everyhing seems, however, to point to the necessity, not of a ›return to the Subject‹ (…), but on the contrary of a move forward toward someone (…) else in its place.12
Das deutet auf einen bemerkenswerten Befund hin: Die Frage nach dem Subjekt wird nicht trotz, sondern wohl nicht zuletzt aufgrund der von Nietzsche und Freud aus entwickelten Subjektkritik weiter gestellt. Ob Subjektivität nun neomarxistisch restituiert (Laclau), an Körperlichkeit und Geschlecht gebunden (Butler) oder im Anschluss an Foucault praxeologisch pluralisiert wird (Reckwitz) – die Produktivität des Abgesangs auf eine wie auch immer qualifizierte Form ›starker‹ Subjektivität, die in dieser Arbeit an den Dramentexten um 1900 erwiesen worden ist, hat sich auch für die Theoriebildung des späten 20. Jahrhundert erwiesen. Am Ende des Jahrhunderts muss auch ein wichtiger deutscher Denker konzedieren, dass die Semantik des ›Subjekts‹ in der Kultur- und Sozialtheorie noch immer persistiert, obwohl doch, wie er selbst zu zeigen versucht hat, »der semantische Rang und die gesellschaftstheoretische Tragweite dieser Figur historisch geworden«13 sei. Diese Persistenz müsste Luhmann eigentlich in argumentative Schwierigkeiten bringen, hat er die historisch präzise verortete Funktion der Subjekt-Semantik darin ausgemacht, »in einer Übergangsphase auszuhelfen, in der eine adäquate Gesellschaftsbeschreibung ohnehin nicht möglich war.«14 Obwohl diese Funktion als Übergangssemantik auf ihre aktuelle Verzichtbarkeit hindeutet, beherrschen noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts reduktionistische Motivkonzepte, wie sie im 17. Jahrhundert als semantisches Korrelat funktionaler Differenzierung erfunden und durchgesetzt worden waren, die gesellschaftliche Kommunikation.15
11 12 13 14 15
Vgl. Nancy: Introduction, S. 5. Ebd. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 1031. Ebd., S. 1030. Ebd., S. 1033.
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Ausblick: Die Tode des Subjekts und kein Ende?
Luhmann belegt diesen Umstand mit verschiedenen Hinsichten, in denen das Subjekt »unter einem Pseudonym«16 wieder eingesetzt wird, und beklagt, dass damit die Verhinderung einer adäquaten Gesellschaftstheorie, für die das ›Subjekt‹ schon in der oben so bezeichneten Übergangsphase gesorgt habe, fortgeführt wird.17 Vor dem Hintergrund der Historizität der Semantik erscheint das Festhalten an ihr als nachgerade irrationale »Flucht ins Subjekt«.18 Es wirkt fast resigniert, wenn er der Beschreibung des intrikaten Verhältnisses von Subjekt und Moderne die Bemerkung anfügt, »daß sich fast der Verdacht aufdrängt, eine Gesellschaft ohne Subjekte wäre nicht mehr eine moderne, sondern eine postmoderne Gesellschaft.«19 Diese nicht weiter ausgeführte Bemerkung, deren letzter Teil hier ignoriert werden muss, deutet darauf hin dass die intrikate Verbindung zwischen Subjekt und Moderne so weitreichend ist, dass sich die Funktion des Subjekts in der modernen Gesellschaft nicht mit der von Luhmann beschriebenen erschöpft und sein Fortdauern nicht einfach nur Resultat theoretisch unterreflektierter Sozialtheorie ist. Stattdessen wäre überlegenswert, ob das ›Subjekt‹ nicht nur in der Phase der Umstellung auf die funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur, sondern generell eine kompensatorische Funktion für die moderne Gesellschaft besitzt, etwa zur Bewältigung der Austauschbarkeit der Individuen für die Kommunikation sozialer Systeme oder zur Ermöglichung der Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeiten für Systemprozesse. Zuletzt könnte man noch danach fragen, was die Toterklärungen des Subjekts für die Theoretiker und Kunstproduzenten geleistet haben. Das in dieser Arbeit gesammelte Material zur Subjektkrise um 1900, deren Bearbeitung in Dramentexten und im Theater der Jahrhundertwende sowie deren abermalige Verabschiedung in der Theoriebildung der Poststrukturalisten legt nahe, dass durch die damit markierte fundamentale Opposition zu eingespielten Traditionslinien des westlichen Denkens ein Spielraum eröffnet worden ist, der eine Ermöglichungsbedingung für intellektuelle wie ästhetische Neuansätze darstellt. Wenn das stimmt und die Gewinne einer Beschäftigung mit der Subjekt-Semantik so groß sind, dann ist nicht zu erwarten, dass das Wechselspiel von Toterklärungen und Restitutionsversuchen des ›Subjekts‹ im 21. Jahrhundert so bald ein Ende findet.
16 Ebd., S. 1031. Luhmann erwähnt als solche Pseudonyme fachintern die Handlungssoziologie und die Habermasianische Diskursethik (vgl. ebd., S. 1031f.) sowie ›Freiheit‹ (1032f.) und die »Doppelformel von Entzauberung und Verinnerlichung der Welt« (ebd., S. 1033). 17 Vgl. ebd., S. 1030. 18 Ebd., S. 1016 (Kapiteltitel). 19 Ebd., S. 1029.
D. Literaturverzeichnis1
1 Anmerkung: Umlaute werden im Inhaltsverzeichnis aufgelöst und in der alphabetischen Ordnung wie ihre jeweils ersten Vokale behandelt (also z. B. ›ö‹ wie ›o‹), ›ß‹ wie ein einfaches ›s‹. Texte eines Autors werden nach dem Jahr der Erstveröffentlichung sortiert – bzw. bei unveröffentlichten Texten nach dem Jahr der Entstehung –, bei fremdsprachigen Quellen werden diese vor den Übersetzungen aufgeführt.
1.
Quellen1
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1 Anmerkung: Die Siglen, die in der Arbeit verwendet worden sind, werden nach den entsprechenden Texten in eckigen Klammern angegeben.
456
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Forschung
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Forschungstitel
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Forschung
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Forschungstitel
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Forschung
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Personenregister
Addison, Joseph 84f. Adorno, Theodor W. 41, 280 Alewyn, Richard 421, 431 Althusser, Louis 43 Ammon, Otto 130 Appia, Adolphe 190 Aristophanes 331 Aristoteles 47, 51, 56, 66, 97, 168, 202 Artaud, Antonin 184, 405 Augustinus (d.i. Augustinus v. Hippo) 58f. Avenarius, Richard 116 Bahr, Hermann 141–144, 167–170, 174 Balzac, Honoré de 172f., 332 Barthes, Roland 22, 185 Batteux, Charles 84 Baumgarten, Alexander Gottlieb 69, 85 Bayes, Thomas 128 Beckett, Samuel 23, 184, 234, 405, 417 Becque, Henri 164, 193 Behrens, Peter 336 Benjamin, Walter 21 Bergson, Henri 94, 423 Bernheim, Hippolyte 121 Bernouilli, Jakob 128 Binet, Alfred 121 Bodin, Jean 322 Bodmer, Johann Jakob 85 Boëthius, Anicius 50 Boileau, Nicolas 84 Bölsche, Wilhelm 154 Bourdieu, Pierre 44 Bourget, Paul 168
Brahm, Otto 157f., 168, 187, 334f., 346 Brandes, Georg 122, 141f., 162, 177 Brecht, Bertolt 173, 176, 180, 343, 373 Breitinger, Johann Jakob 85 Brjusov, Valerij 254 Broch, Hermann 330 Büchner, Georg 24, 175f., 207, 283, 286, 289f., 295–297, 332, 341, 343, 448 Büchner, Ludwig 115f., 129 Burckhardt, Jacob 59, 61 Butler, Judith 43, 451 Calderón (d.i. Pedro Calderón de la Barca) 340 Calvin, Jean 50, 91f. Carlyle, Thomas 134, 323 ˇ apek, Karel 176 C Carus, Carl Gustav 98, 122 Catull (d.i. Gaius Valerius Catullus) 58 Charcot, Jean-Martin 121, 235 Cicero, Marcus Tullius 49, 57f. Comenius, Johann Amos 94 Comte, Auguste 131–134, 324 Condillac, Étienne Bonnot de 71 Condorcet (d.i. M.J.A.N. Caritat, Marquis de Condorcet) 132 Conradi, Hermann 142 Corneille, Pierre 285 Craig, Edward Gordon 166, 186–190, 255 Csokor, Franz Theodor 252, 255f., 260 d’Aubignac (d.i. François Hédelin, abbé d’Aubignac et de Meymac) 285
518 Dauthendey, Max 154, 237f., 243, 261– 264, 266–268 Degas, Ludovic 121 Dehmel, Richard 261 Deleuze, Gilles 43, 449 Derrida, Jacques 43, 449 Descartes, René 38, 46, 52, 61f., 66f., 69f., 74, 114, 123, 125, 449 Devrient, Otto 293 Diebold, Bernhard 103, 164 Dilthey, Wilhelm 115, 136 Döblin, Alfred 185, 217, 219, 221, 223 Du Bois-Reymond, Emil 113 Du Bos, Abbé 82, 84 Duns Scotus, Johannes 47 Durkheim, Émile 107, 131, 134–138, 200 Ebbinghaus, Hermann 114 Elias, Norbert 41 Emerson, Ralph Waldo 323 Engel, Erich 342 Engels, Friedrich 52, 106, 399 Erasmus v. Rotterdam 92 Erikson, Erik H. 41 Ernst, Paul 146, 360f. Eucken, Rudolf 148 Evreinov, Nikolai 252–255, 258, 260f. Fechner, Gustav Theodor 112–114, 116, 120, 262 Fehling, Jürgen 342, 383, 393 Feuerbach, Ludwig 106 Fichte, Johann Gottlieb 54, 69, 74–77, 89, 94, 102, 112, 135, 165, 256 Foucault, Michel 20, 24, 27, 37, 40, 42–45, 62, 110, 127, 329, 367, 450f. Franckenstein, Clemens Freiherr v. 296 Freud, Sigmund 43, 111, 117–120, 122, 125, 127, 147, 256, 259, 278, 330, 449, 451 Freytag, Gustav 103, 152 Friedell, Egon 173 Fuchs, Georg 183, 185, 294 Galton, Francis 130 Garfinkel, Harold 44 Gehlen, Arnold 41
Personenregister
Geiger, Theodor 330 George, Stefan 261 Goethe, Johann Wolfgang v. 17, 29, 52, 86, 95, 176, 283, 289–293, 332, 422 Goffman, Erving 44 Goll, Yvan 176, 180 Gomperz, Heinrich 94 Grabbe, Christian Dietrich 175, 332, 343, 448 Greenblatt, Stephen 24–26, 174 Greimas, Algirdas Julien 19 Groos, Karl 254 Gross, Otto 147 Gründgens, Gustaf 294 Haeckel, Ernst 129 Hansson, Ola 142, 266 Hartmann, Eduard v. 122, 141 Hartmann, Nicolai 41 Hasenclever, Walter 402 Hauptmann, Gerhart 195, 286, 295, 319, 337, 343, 345f., 352 Hebbel, Friedrich 175, 360, 363 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 18f., 74, 77–81, 89, 94, 102–105, 135, 147, 152, 328, 401 Heidegger, Martin 41, 140 Helmholtz, Hermann 113, 115f. Heraklit 119, 170 Herbart, Johann Friedrich 112, 114, 120, 324 Herder, Johann Gottfried 52, 86f., 93–95 Herrmann, Max 239 Hettner, Hermann 103f., 152 Hobbes, Thomas 68, 92, 99f., 322, 400 Hofmann, Ludwig v. 437f. Hofmannsthal, Hugo v. 143f., 167, 170– 174, 179, 233, 244, 269, 296, 298, 338, 340, 401f., 405, 420f., 423, 426, 432, 441, 446 Hölderlin, Friedrich 76, 422 Homer 56, 331 Humboldt, Wilhelm v. 94–96 Hume, David 64, 68, 70f., 73f., 114 Humperdinck, Engelbert 337 Husserl, Edmund 140 Hutcheson, Francis 82
519
Personenregister
Huxley, Thomas Henry Ibsen, Henrik 290
129
145f., 163, 167, 171, 283,
Jacobi, Friedrich Heinrich 74, 93 James, William 117 Janet, Pierre 121 Jansenius, Cornelius 91f. Jarry, Alfred 187, 223 Jeßner, Leopold 342 Joël, Karl 146f. Jullien, Jean 165 Kafka, Eduard Michael 141f. Kaiser, Georg 283, 302f., 306f., 311, 314, 319, 342, 368–371, 373, 379, 384, 393 Kandinsky, Wassily 154, 242, 267, 275f. Kant, Immanuel 48, 51, 54, 69–78, 81, 83, 86–89, 93f., 101f., 111–114, 117, 125, 135, 169f., 175 Kleist, Heinrich v. 24, 175, 324, 448 Klingemann, August 292 Klöpfer, Eugen 297 Klotz, Volker 18, 284, 286, 289 Koselleck, Reinhart 26 Kracauer, Siegfried 329f. Krafft-Ebing, Richard v. 130 Külpe, Oswald 114 Lacan, Jacques 43, 449 Laclau, Ernesto 42, 451 Lamarck, Jean-Baptiste de 129 Landauer, Gustav 147, 371, 382 Langbehn, Julius 142 Laplace, Pierre-Simon 128 La Rochefoucauld, François 64 Lavater, Johann Caspar 85 Le Bon, Gustave 121, 318, 326–330, 360, 378, 392f., 396 Lehmann, Hans-Thies 20, 159, 175 Leibniz, Gottfried Wilhelm 46, 52, 68, 70f., 94, 101, 120 Lenz, Jakob Michael Reinhold 97f., 175 Lessing, Gotthold Ephraim 29, 97f., 240, 290
Lienhard, Friedrich 185, 403 Link, Jürgen 24, 128 Locke, John 68, 70f., 89, 94, 99–101, 114 Lombroso, Cesare 130, 325 Lothar, Rudolf (d.i. Rudolf L. Spitzer) 209 Lotze, Hermann 94, 262 Lublinski, Samuel 319, 343, 360–364, 367f., 395f., 446 Lukács, Georg 15, 18f., 103, 360 Luhmann, Niklas 38, 45f., 52f., 56, 63f., 90, 106, 136, 451f. Luther, Martin 92 Mach, Ernst 111, 115–117, 122, 143–145, 147f., 169f., 232 Machiavelli, Niccolò 322 Maeterlinck, Maurice 153, 158f., 161, 165– 168, 170, 186f., 218, 236, 244, 337, 401– 407, 414–416, 420, 432, 434, 436, 441 Mallarmé, Stéphane 153, 164f., 186, 267, 402, 408, 434 Martersteig, Max 187 Marx, Karl 42f., 52, 106, 131–134, 351, 399 Mauclair, Camille 164f., 167 Mauthner, Fritz 126f., 139 Meister Eckhart 60 Melanchthon, Philipp 92 Mesmer, Franz Anton 121 Meyerhold, Wsewolod 190 Mill, John Stuart 94, 105 Mirandola, Pico della 61 Mirbeau, Octave 404 Misch, Georg 148 Mohl, Robert v. 135 Moleschott, Jakob 116 Molina, Luis de 91f. Montaigne, Michel de 61f., 92 Morel, Bénédict Augustin 130 Moritz, Karl Philipp 86, 111, 120 Mühsam, Erich 147 Müller, Georg Elias 114 Munch, Edvard 266 Nancy, Jean-Luc 451 Nietzsche, Friedrich 43, 61, 106f., 120, 122–127, 130, 139, 142, 144–146, 148,
520
Personenregister
153, 161f., 169, 177, 183, 193f., 222, 232, 287, 322, 324, 329, 335, 364, 371, 401, 423, 434, 436, 450f. Nordau, Max 146, 193 Novalis (Friedrich v. Hardenberg) 76, 87f., 135 Ockham, Wilhelm v. 47f., 51, 60 O’Neill, Eugene 234 Ortega y Gasset, José 330 Pareto, Vilfredo 105, 327 Parsons, Talcott 41 Pascal, Blaise 64 Perrault, Charles 84 Petrarca, Francesco 59 Pfister, Manfred 19, 98, 235, 240, 409 Piscator, Erwin 342 Platon 57, 119, 165 Plautus, Titus Maccius 48 Plessner, Helmuth 41, 398 Ploetz, Alfred 130 Plutarch 58 Poelzig, Hans 336 Pufendorf, Samuel 50, 68, 92, 101 Quetelet, Adolphe
128
Racine, Jean 165 Rathenau, Walther 371, 375 Reckwitz, Andreas 20, 24, 43–45, 64, 177, 451 Reich, Emil 146 Reil, Johann Christian 122 Reinhardt, Max 157–159, 190, 294f., 319f., 334–342, 395 Reinhold, Carl Leonhard 74 Ribot, Théodule 121, 169, 235, 254, 256, 328 Rilke, Rainer Maria 233, 243f., 247, 258, 401f., 405, 433–440 Rolland, Romain 341 Roller, Oskar 296 Rousseau, Jean-Jacques 40, 84, 93–96, 99– 101, 235
Saint-Simon, Henri de 131 Sardou, Victorien 152, 298, 300 Sartre, Jean-Paul 41, 140 Savits, Jocza 294 Scaliger, Julius Caesar 84 Schallmayer, Wilhelm 130 Scheler, Max 41 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph v. 18, 74, 76–78, 86f., 89, 94, 104, 112, 122, 152 Schiller, Friedrich 23, 88–90, 95, 135, 285, 331f., 352, 364, 386 Schlegel, August Wilhelm 18 Schlegel, Friedrich 87 Schleiermacher, Friedrich 87, 135, 399 Schlemmer, Oskar 190, 239 Schmid, Herta 19 Schnitzler, Arthur 31, 143, 185, 214, 223– 225, 229, 238, 283, 298–300, 302, 311, 446 Schönberg, Arnold 233, 243, 267, 270–272, 274–281 Schopenhauer, Arthur 118, 122, 141, 146, 262, 264, 423, 431 Schreyer, Lothar 190 Schütz, Albrecht 44, 177 Schwanitz, Dietrich 152, 160 Scribe, Eugène 152 Seneca, Lucius Annaeus 58, 331 Shaftesbury (d.i. Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury) 82, 94 Shakespeare, William 24, 84, 97, 103, 172, 175, 208f., 214, 234f., 288, 290, 332, 364, 395 Sighele, Scipio 325f., 329 Simmel, Georg 107, 131, 134–138, 147f., 329, 422 Sˇklovskij, Viktor 269 Smith, Adam 105 Sophokles 57, 335 Souriau, Étienne 19 Spencer, Herbert 131, 133 Spinoza, Baruch de 77 Stein, Gertrude 184 Stein, Lorenz v. 135 Stein, Peter 295 Stirner, Max 106, 139, 142f., 147f.
521
Personenregister
Strindberg, August 29, 122, 154, 159, 161– 168, 170, 185, 191–194, 197–199, 204f., 222, 235–238, 277f., 285–287, 289, 302f., 305, 307, 314, 387, 446 Suárez, Francisco 91 Szondi, Peter 14, 18–20, 103, 160, 175, 286f., 402, 408f., 420f., 426, 446 Taine, Hippolyte 131, 325 Tarde, Gabriel 134, 318, 325, 329 Taylor, Charles 107 Terenz (d.i. Publius Terentius Afer) 48 Tetens, Johannes Nikolaus 111 Thukydides 322 Tille, Armin 130 Tillich, Paul 330 Tocqueville, Alexis de 324 Toller, Ernst 311, 319, 342, 368f., 383f., 386–388, 402 Tönnies, Ferdinand 134f., 399f., 404 Treitschke, Heinrich v. 135f. Troeltsch, Ernst 140 Turgot, Anne Robert Jacques 132 Turner, Victor 403f.
Vaihinger, Hans 117, 139 Vischer, Friedrich Theodor v. 18, 103, 152 Vollmoeller, Karl 337 Vleugels, Wilhelm 330 Vogt, Carl 129 Wachler, Ernst 185, 403 Wagner, Richard 153, 164f., 183, 185, 242, 270, 275f., 281, 293, 399, 403 Weber, Max 107, 134–138, 322f., 329, 331 Wedekind, Frank 164, 185, 205–209, 211, 286, 295 Weininger, Otto 145, 280 Werfel, Franz 176 Wittgenstein, Ludwig 55, 126f. Wolff, Christian 50f., 70, 73, 120 Wolzogen, Ernst v. 223 Wundt, Wilhelm 111, 114f., 120, 256, 324 Young, Edward Zola, Émile
84f., 96
154, 192, 333
Sachregister
Anthropologie 18f., 21, 23, 31, 36, 53, 55– 59, 65, 91, 95, 132, 163, 175, 253, 270, 322, 325, 390, 399 – biolog. A. 65, 129 – Geschlechteranthrop. 280, 366 – literar. A. 23, 29f. – philos. A. 41, 67, 72, 80, 96–99, 111, 126, 177 Ästhetik – hegelianische Dramenästhetik 103f. – naturalistische Ä. 154f.,163f., 167f., 191–197, 199, 204f., 241, 345, 348, 395 – philosophische Ä. 18, 65f., 82f., 86–90, 96, 120 – symbolistische Ä. 153, 159, 164f., 186– 188, 403, 414, 440 – Theaterästhetik 156–159, 183, 185— 187, 190, 195, 223, 290f., 297, 408 Aufklärung 90, 92–97, 110, 131, 394f. Bewusstsein 25, 27, 36, 44–46, 56, 60, 64, 68–73, 76, 78–81, 94, 104, 112, 114f., 119–126, 133, 200–204, 232–241, 244– 246, 252, 255, 257–261, 263–267, 269, 280–282, 284, 298–301, 305f., 387, 407, 422 – revolutionäres Bew. 351, 359 – Selbstbewusstsein 36, 46, 55, 62, 66, 70– 80, 102, 112, 114 Bildung 58, 92, 94–96 Bühne – B.form 183, 209f., 331f., 335–340, 369 – B.geschichte (siehe Theatergeschichte) – Freie Bühne 155–157, 290
– B.raum 232, 237, 239–242, 245, 259f., 265, 269, 278, 282, 284f., 311, 377, 387, 420, 432f., 436, 438 Bürger, Citoyen 38, 42, 65, 90, 95, 100, 103, 135, 141, 151, 156f., 163, 331, 336, 364, 384, 389, 394f. Burleske 223f., 229, 257f., 292 Chor 165, 228, 272–274, 278, 331–333, 337–339, 369, 377, 395, 401, 407, 417, 435–438 Darwinismus 27, 110, 118, 129f., 191 Depersonalisation 121, 186, 190 Dramatik – expressionistische Dramatik 164, 238, 260, 285–287, 306, 310f., 342, 368–373, 395–397 – naturalistische Dramatik 164f., 167, 191, 194f., 204f., 241, 345–348 – symbolistische Dramatik 155, 163–166, 185, 218, 252, 402–408 Einakter 155, 159, 162, 217, 223f., 236, 238, 243f., 247, 289f., 298, 402, 409, 417, 420, 430 Erkenntnistheorie 47f., 53f., 61, 64–69, 74, 77, 113f., 117, 120, 149, 169f., 298 Experiment, dramatisches / theatrales 154f., 158f., 163, 176f., 190, 216, 231, 238, 242, 289, 346, 373, 405, 446 Farce
212, 256, 292, 300
524
Sachregister
Figur, literar. 29–33, 75f., 83, 86, 97f., 104, 131, 161–174, 180, 185, 188, 232–241, 284–287, 289, 294–297, 332, 338, 340, 396–398, 401–404, 446f. Fin de Siècle 140, 226, 247, 421 Führung, soziale 129, 319–324, 330f., 346, 348, 351, 357, 362, 364, 385, 393–398 Gemeinschaft, Communitas – Communitas 185, 403f., 408, 417–421, 430–434, 437, 440f. – soziale Gemeins. 131, 135, 317, 369, 376, 381, 389, 393, 398–401, 404 – theatrale Gemeins. 153, 160, 180, 185, 319, 334, 336, 342, 402f., 437, 439f. Genie 83–87, 129 Geschmack 82f., 86, 88 Gesellschaft – bürgerliche Ges. 96f., 103, 135, 389 – Industrieges. 379, 382, 397 – moderne / funktional differenzierte Ges. 45, 61, 63f., 90, 133–138, 160, 321, 324, 329, 363, 374, 398–404, 452 – Massenges. 139, 330, 333, 396 – vormoderne Ges. 403 – Ges.theorie 451f. homo oeconomicus
105
Ich, das unrettbare 40, 76, 111, 116f., 145, 169f. Idealismus, deutscher 40, 44, 47, 54, 69, 73–79, 87f., 94f., 101–108, 112, 120, 131, 146f., 152 Identität 20, 36, 39, 41, 58, 67f., 71, 73, 75, 77, 207, 210–216, 299, 315, 357, 430, 450 Individualismus 81, 106f., 130, 133, 136– 148, 231, 329, 363–365, 370f., 381f., 400, 429 Individuum 36, 39–46, 49–53, 56–63, 68, 76, 78f., 83–87, 90–97, 103, 105–109, 116, 122f., 128, 134–138, 141, 146, 173f., 192, 255f., 260, 308, 319, 328f., 343, 363f., 369, 371f., 374, 377, 381f., 387, 397, 399, 430
Intimes Drama, Theater 153, 157f., 236f., 290, 335, 338 Kulturkrise (um 1900) 15, 42, 139, 147 Kulturkritik 91, 105–107, 193, 318, 330, 399f. Leben, Lebensphilosophie, Lebensemphase 32, 87, 107, 122–125, 147, 167, 171–173, 189, 211, 247, 287, 303, 306, 310, 312, 350, 400, 422–433, 435f., 438 Lesedrama 165, 174, 176, 291f., 402, 420 Masse – M.drama 342f., 396–398 – M.psychologie 318, 325–330, 341, 355, 377, 392, 396 – M.theater 190, 335, 338, 340, 342, 395 – M.theorie 318, 326, 330, 382 – Volksm. 338f. Marxismus 42, 136, 141, 323, 363, 389 Monodrama 234f., 254–259 Monolog 163, 169, 225, 228, 233–235, 247, 272, 303, 305–307, 310, 349f., 380, 407, 414, 417, 420f., 424, 426–428, 431, 435 Naturrecht 50, 90, 99, 101 Neuklassik 343, 360–363, 367 Nietzscheanismus 106, 188, 363, 365, 379, 449 Ökonomie 65, 91, 105, 128, 132, 135f., 322 Pädagogik 65, 91, 94f., 148 Person 30, 36, 39f., 44, 46–53, 57–59, 65f., 68f., 73f., 78, 89–93, 99–102, 177, 238, 254–259, 327f., 436 Persönlichkeit 92, 121, 146–148, 188f., 363 Philosophie – Geschichtsphilos. 15, 18–20, 42, 55f., 61, 89, 91, 93, 103, 106, 135, 159, 326, 331, 389, 394, 446 – praktische Philos. 49, 65, 69, 73–79, 81, 89–109 – Rechtsphilos. 42, 49f., 65, 68, 79, 91, 94, 99–102
525
Sachregister
– Sozialphilos. 65, 91–94, 99, 102f. – Staats-/ Polit. Philosophie, Kontraktualismus 65, 68, 79, 92, 99–105, 131f., 135 – Subjektphilos. (siehe Eintrag unter Subjekt) Physiologie 65, 84, 92, 96, 111–117, 120– 125 Psychiatrie 27, 96, 110f., 119, 121–123 Psychoanalyse 42, 111, 118f., 127, 144, 168, 255, 330, 449 Psychologie 27, 31, 36, 41, 65, 70, 73, 81, 84, 92, 109–121, 127f., 134, 139, 142, 163, 165, 168, 179, 236, 254, 258, 260, 266f., 275, 280, 318, 388, 416 – experimentelle P., Experimentalpsych. 65, 110, 114, 127 – Kritische Psych. 42 – Farbpsych. 266f., 275, 280 – Persönlichkeitspsych. 110 – Sozialpsych. 134, 324, 385 – spelukative Psych. 70, 73 – Tiefenpsych. 115, 118, 123, 127 Psychophysik 65, 112–115, 168, 261, 325 Revue
282, 289, 311
Selbstsorge 95, 110 Sozialdarwinismus 129f., 133 Soziologie 18, 36, 41, 43–45, 49, 52, 65, 106f., 128f., 131–139, 147f., 177, 318, 322–324, 329–331, 361–363, 369, 378, 399f., 452 Stationendrama 32, 179, 283, 285–290, 292, 302–310, 314f. Subjekt – autonomes S. / Ich / Individuum 36, 39f, 64, 66f., 76, 93–96, 99–102, 105, 119, 135, 138, 142, 145, 394 – depotenziertes S. 64, 89, 109–126, 149, 161, 180, 183, 185, 187, 231, 282, 317, 382 – dezentriertes S. 27, 43, 78, 81, 109, 127– 138, 180, 183, 185, 416, 432
– schwaches S. 40, 67, 81, 92, 103, 138, 177, 188, 401 – starkes S. 14, 28, 35, 40–43, 52, 53–109, 111, 116–129, 132–148, 161, 163, 165, 168, 173f., 177, 180, 185, 189f., 217, 220, 222f., 231f., 315, 317, 328, 382, 394, 401, 432, 445, 447, 449, 451 – subiectum / hypokeimenon 47f., 59 – Subjektphilosophie 38, 51, 61, 89, 94, 106, 120, 140 – Subjekttheorie 33, 43f., 66, 103, 116, 119, 122, 130, 136f., 140, 176, 188, 190, 228f., 382, 449, 451 Systemtheorie 26, 43, 45, 52, 63, 75, 96, 152f., 160 Szenenfolge – diskontinuierliche S. 283, 285, 287– 290, 302, 314 – kontinuierliche S. 283f. Theater – Th.feindlichkeit 153 – Th.geschichte 16, 20, 150f., 156–159, 176, 283, 290–297, 333–344, 347, 383, 406, 446 – Th.historiographie 183f. – Th.moderne 16, 156, 159, 180, 190, 219, 221, 239, 295, 319, 446 – Th.wissenschaft 19f., 22, 159, 184, 239, 253 – Volksth. 225–229, 258, 289, 297, 300 Unbewusste, das 449
108, 112, 118–126, 335,
Volk 109f., 144, 208, 215, 320–323, 326, 331–333, 345, 363–367, 389, 396, 401 Wille 47f., 57, 67, 81, 99f., 111, 121f., 229, 327f., 364f., 399f. Willensfreiheit 66, 91f., 101–104, 126