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German Pages 352 Year 2016
Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.) Die Literatur der Lebensreform
Lettre
THORSTEN CARSTENSEN, MARCEL SCHMID
(HG.)
Die Literatur der Lebensreform
Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900
[transcript ]
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Inhalt
Die Literatur der Lebensreform Kontexte, Orte, Autoren
Thorsten Carstensen & Marcel Schmid 19 I . KO N T EX T E Modernisierungskrise und Aufbruch Zum historischen Kontext der Lebensreform
Thomas Rohkrämer I 27 "Kunst und Leben" Zum intellektuellen und poetologischen Profil einer literarischen Lebensreform in Programmschriften der frühen Moderne
(1880-1895)
Bj öm Spiekermann 143 Lebensreformerische Nacktheit und emanzipierte Sinnlichkeit Einzug eines neuen Körpers in die Poesie um
1900
Sven Halse I 65 Der Bund und die Bünde Stefan George und die deutsche Jugendbewegung
Johann Thun I 87 "Der vollendete Mensch" Reinhold Gerlings Ratgeber zur Körperkultur
Christiane Barz 1 1 05 Auffrischungen für Leib und Seele Der lebensreformerische Diskurs im Kunstwart
Thorsten Carstensen 1 1 1 9 Gegen Papageiennaturen Ethik und Ästhetik der Sprache bei Heinrich Pudor
Kai Buchholz 1 1 3 7
I I. O RT E Periphere Verhandlungen Wilhelm Schwaners Heimatliteratur zwischen völkischer Utopie, regionaler Ethnographie und kulturkritischer Lebensreform
Felix Saure 1 1 53 Die Naturheilanstalt Jungborn als Ort des Schreibens und der Selbst-Reform
Ekkehard W. Haring 1 1 73 Der Nacktkletterer vom Monte Veritä Hermann Hesses ln den Felsen als kritische Auseinandersetzung mit der Lebensreform
Kathrin Geist 1 1 93 Zauberbergischer Prototyp Davos, der Roman und die Lebensreform
Marcel Schmid I 209 111. A U T O R E N Konversion eines Apostaten? Gerhart Hauptmann und die Lebensreform
Peter Sprengel 123 1 Liebe und Kunst? Neue Lebens- und Arbeitskonzepte für Paarbeziehungen in Biographie und Werk von Rainer Maria Rilke
Erich Unglaub 125 1 "jenseits der Modernität" Jugend und Lebensreform bei Wilhelm Speyer
Sophia Ebert 1275 Kafkas Lebensverform
Paul North I 29 1 "Die Tiefe ist außen" Heimito von Doderers gegenreformerische Lebensreform
Robert Walter-Jochum & Kirk Wetters I 30+
Autorinnen und Autoren Literatur
I 33 1
I 325
Die Literatur der Lebensreform Kontexte, Orte und Autoren
THORSTEN CARSTENSEN (INDlANAP OLIS
&
&
MARCEL S CHMID
NEW HA YEN)
Tn der lebensreformerischen Zeitschrift Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das erschien 1 9 1 2/ 1 3 in mehreren Teilen der fiktive, kultur kritische Bericht Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins in nerste Deutschland. Autor dieses Textes war der ehemalige Marineoffizier Hans Paasche ( 1 8 8 1 - 1 920), der die Zeitschrift wenige Monate zuvor gemeinsam mit Hermann Popert ( 1 87 1 - 1 932) gegründet hatte und sich als Publizist und Schrift steller fortan mit Beiträgen zum Vegetarismus, Feminismus und Naturschutz her vortun sollte. Die Forschungsreise kreist um die Notwendigkeit, den Menschen und vor allem seinen Körper - aus den ausbeuterischen Verhältnissen der zivili satorischen Moderne zu befreien. Lukanga Mukara, der auf Geheiß seines Königs in einer Umkehrung von Joseph Conrads 1 899 erschienener Novelle Heart of Darkness das "innerste" Deutschland bereist, zeichnet das Bild einer Nation, de ren Bewoher auf absurde Weise von der Natur entfremdet sind. Demnach empfin den die Deutschen den "Unsinn" der Moderne - die Luftverschmutzung durch die vielen Fabriken, das Leben und Arbeiten in geschlossenen Räumen, die Qual der engen Kleidung, den geradezu manischen Verzehr von Fleisch, die Abhängigkeit von Zigarren und Alkohol, die alles dominierende Logik des Konsums - als so selbstverständlich, "daß sie erschrecken würden, wenn es anders wäre". 1 Das Land scheint sich einem einzigen großen "lntum" hinzugeben: Deutschtum unserer Zeit
Hans Paasche, Die Forschungsreise des Ajrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Werther bei Bielefeld 1925, S. 12. Als die Briefe 1921 erstmals in Buch form erschienen, wurden sie sogleich zum Bestseller.
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T H O RS T E N CARST E N S E N & M A R C E L S C H M I D
[A]uch i n Deutschland mag einst Rauch den Ort glücklichen Schaffens angezeigt haben; j etzt ist das vorbei. Zum Fluch wurde die Arbeitskraft, die das Feuer erzeugt, elende Sklaven sind die Eingeborenen, die mit der Kraft des Feuers arbeiten. Das sah ich, als ich dem Rauch nachging. Tn furchtbarem Lärm, der größer ist als die Gewitter des Frühlings, stehen Männer und Frauen und bewegen ihre Hände an den Maschinen. Sie stehen da, in schlechter Luft, in geschlossenem Raum und am ganzen Körper bekleidet. Sie machen eine Arbeit, die nie fertig wird, machen j ahrelang dieselbe Arbeit. 2
Mit dem Blick des unbefangenen Außenstehenden zeigt Lukanga Mukara die De formation des Lebens nach den Regeln der westlichen Zivilisation auf: Was in Deutschland unter dem Begriff der "Kultur" firmiert, ist ftir den Mann aus dem "Land der langhörnigen Rinder" Merkmal einer weit vorangeschritteneil Zivilisa tionskrankheit. Den in Deutschland herrschenden "Zwang der Kleidung" kontras tiert er mit der Natürlichkeit seiner afrikanischen Heimat, wobei er die lebensre formerische Utopie zusammenfasst: "Frei atmet Deine Brust, die Sonne bescheint Deine glatte Haut, und Dein nackter Fuß berührt die fruchtbare Erde. " 3 Paasches Kritik an dem grotesk unnatürlichen Alltag des modernen Menschen ist als Reaktion auf die Folgen des technologischen und industriellen Wandels im 1 9 . Jahrhundert zu verstehen. Der Bau der Eisenbahn, die Industrialisierung, der Abbau von natürlichen Ressourcen und das Wachstum der Städte veränderten das Leben auf radikale Weise. Zugleich beschleunigte der technologische Fortschritt den Arbeitsalltag drastisch. Die Fabrikarbeit und die Massenproduktion von Nah rungs- und Genussmitteln führten zu Umstellungen der Zeitwahrnehmung. Nicht Tag und Nacht gaben nunmehr den Takt des Lebens vor, sondern Minuten und Sekunden, die möglichst "produktiv" zu nutzten waren. Allerdings - und darauf referiert Paasche - war sich um 1 900 besonders die mittelständische Bevölkerung sicher, dass der Mensch mit der Beeinträchtigung seines natürlichen Tagesablaufs einen hohen Preis zu zahlen habe. Man gelangte zu der Einsicht, dass vor allem das Großstadtleben Körper und Geist verderbe, da es den Menschen von der Natur entfremde. Die Lebensreformbewegung war der Versuch, sich gegen diese Beein trächtigung zur Wehr zu setzen und die moderne Alltagspraxis im Sinne von Ein fachheit, Schönheit, Zweckmäßigkeit und Gesundheit zu revidieren. 4
2
Paasche, Die Forschungsreise, S. 1 8 .
3
Ebd. , S . 19.
4
V gl. Kai Buchholz, "Lebensreform und Lebensgestaltung. Die Revision der Alltagspra xis", in: Kai Buchholz/Rita Latocha/Hilke Peckmann/Klaus Wolbert (Hg.), Die Lebens reform. EntH;ürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1 900, Bd. 1 , Dannstadt 2001, s. 363-368.
EINLEITUNG
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AU F B R U C H S T I M M U N G U N D KU LTU RKRIT I K
Vom späten 1 9 . Jahrhundert bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts formierten sich verschiedene Bewegungen, die heute gemeinhin unter dem Begriff "Lebens reform" veranschlagt werden. Das thematische und ideologische Spektrum reichte von der Ernährungsreform zur Naturheilkunde, von der Freikörperkultur zur Gar tenstadtbewegung. Zwar waren die Bewegungen untereinander nur lose verbun den, doch ihnen gemein war der Wille, das Leben teilweise radikal neu zu gestal ten. Als "säkularisierte Heilslehre" 5 versprach sich die Lebensreform den Wandel nicht aus einer konkreten neuen Politik, sondern vielmehr aus einer Reforn1 des Einzelnen. Dies betraf ganz unterschiedliche Bereiche der Alltagspraxis. So be gegnete die Lebensrefmm dem Leistungsdenken der Modeme mit neuen pädago gischen Ideen. Statt soldatischem Drill standen individuelle Ausdrucksmöglich keiten im Zentrum. 6 Vor allem aber fußten viele Reformbemühungen auf dem Eindruck, dass der menschliche Körper im Zuge der Modernisierung wachsenden Belastungen ausgesetzt und deshalb besonders gepflegt oder abgehärtet werden müsse. Auf die "körperliche Verunsicherung" 7 um 1 900 reagierten die Lebensre former deshalb, indem sie Licht- und Luftbäder nahmen, sich in Waudergruppen zusammenfanden oder zu einer vegetarischen Ernährungsweise übergingen. Die Lebensreform ist historisch nur dann zu verstehen, wenn man ihre ideolo gische Ambivalenz in Rechnung stellt und berücksichtigt, dass der Zielvorstellung einer naturgemäßeren Lebensflihrung nicht selten sowohl eine völkische als auch eine sozialistische Tendenz innewohnte. 8 Die Aufbruchstimmung um 1 900 trug paradoxe Züge, sollte doch der Fortschritt durch einen Rückschritt hinter wesent liche Errungenschaften der Moderne erreicht werden: "Back to nature", zurück in eine präindustrielle, "gesunde" Welt. Das manifestiert sich auch im Titelbild die-
5
Wolfgang R. Krabbe, "Lebensreform/Selbstreform", in: Diethart Kerbs/Jürgen Renle cke (Hg. ) , Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1 880-1933, Wuppertal 1 998, S . 73-75, hier S . 74.
6
Vgl. Bruno Schonig, "Reformpädagogik", in: Kerbs/Reulecke (Hg. ) , Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1 933, S . 3 1 9-330 .
7
Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hit/er, München 1 998, S. 322.
8
Vgl. hierzu Jost Hermand, "Die Lebensreform um 1 900 - Wegbereiter einer naturge mäßereil Daseinsform oder Vorboten Hitlers?", in: Mare Cluet/Catherine Repussard
(Hg. ) , " Lebensreform ". Die so::iale Dynamik derpolitischen Ohnmacht. La dynamique sociale de I 'impuissance politique, Tübingen 20 1 3 , S. 5 1 -62.
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T H O RS T E N CARST E N S E N & M A R C E L S C H M I D
ses Bands, in Ferdinand Rodlers Blick ins Unendliche l l ( 1 903/04). Die simplifi zierende Darstellung des nackten Körpers auf dem Berg kontrastierte zeitgenössi sche Moralvorstellungen und war doch geradezu beispielhaft ftir eine Unterströ mung der Modeme : Rodlers kraftvolle und einfache "Figuren- und Landschafts bilder" atmeten "den gleichen Geist [ . . . ] wie er damals [ . . . ] viele Kunstreformer betlügelte." 9 Zurück zur Einfachkeit wurde als progressiv aufgefasst. Deswegen gilt ftir die Lebensreform wie ftir die Kunst Rodlers: Das Etikett der Rückwärts gewandtheit eignet sich nur bedingt. Wie Amo Klönne gezeigt hat, zielte der Ehrgeiz der Lebensreformer, selbst wenn sie oft auf Sozialfmmen und Lebensmuster aus der Zeit vor dem Industrie kapitalismus zurückgriffen, überwiegend darauf, "zukunftsfähige Ideen und Prak tiken" zu entwickeln und zu fördem. 10 Tatsächlich ist es ein Merkmal der lebens reformerischen Bewegungen, dass sie nicht in einem politischen Schema von lin ken und rechten Orientierungen unterzubringen sind. Die völkisch-sozialistische Verflechtung hat John A. Williams mit Blick auf die Wander-, Nudismus- und Heimatschutzbewegungen beleuchtet: Dort nämlich geriet die Natur zur Metapher ftir eine bessere, gesündere Zukunft des deutschen Volkes. 1 1 Und auch der Sied lungsbewegung, in deren Zuge zahlreiche ländliche "Reformgemeinden" entstan den, war die völkische Neuorientierung ein wichtiges Anliegen. Abseits der Städte wollten antisemitische Reformpropheten wie Theodor Fritsch die Rahmenbedin gungen flir eine körperliche wie moralische Gesundung der Gesellschaft schaf fen. 1 2 Trotz ihrer antisemitischen und protofaschistischen Vereinnahmung in der ers ten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die zentralen Metaphern und Paradigmen des lebensreformerischen Diskurses ihre Wirkungsmacht bis heute nie wirklich verloren. Bereits 1 984 fasste Christoph Conti zusammen, dass manche Vorstel lungen der Lebensreform noch immer "hochaktuell" seien:
9
Rudolf Koella, ", Die Idee der Einheit ' . ferdinand Hodler und die deutsche Lebensre formbewegung", in: Buchholz et al. (Hg.), Die Lebensreforrn, Bd. I, S. 23 3 .
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