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German Pages 324 Year 2014
Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann
Lettre
2014-04-16 12-03-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5364060409870|(S.
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Gregor Schuhen (Hg.)
Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900
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Inhalt
Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900 Eine Einleitung Gregor Schuhen | 7
I. TEXTUREN : KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN ‚L’exception française?‘ Queer und Men’s Studies in Frankreich Sabine Schrader | 21 Machos – gauchos – sissies – maricones Lateinamerikanische Maskulinitätsentwürfe um 1900 Dieter Ingenschay | 39 Dandys und Dandy-Fantasien Von Huysmans und Montesquiou zu Proust und den Ballets russes Volker Roloff | 57 Crisis? What Crisis? Lob des Optimismus Walburga Hülk / Britta Künkel | 81 Der junge Kaiser, das Dichterkind und der Bohemien Männlichkeit und Jugend um 1900. Deutsch-französische Streifzüge Gregor Schuhen | 101 Uhu, Dame, Querschnitt oder Von Keun bis Keilson Männlichkeitskonzepte in den Zwanziger Jahren Maren Lickhardt | 131 Männer sind die neuen Frauen? Barbara Vinken | 155
II. TEXTE : LITERARISCHE FALLBEISPIELE Negotiating Masculinity in Late Victorianism Die Dekonstruktion phallischer Männlichkeit in Thomas Hardys Roman The Mayor of Casterbridge (1886) und die Frage nach dem New Man Stefan Horlacher | 179 Der Held als Soziopath Verbrechen und Krankheit in Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Erzählungen Lucia Krämer | 229 „Tu es un chiffre, un vilain chiffre“ Männlichkeiten im weiblichen Dandydiskurs des Fin de Siècle Anne-Berenike Rothstein | 243 „Don Juan caído“, „dandy desengañado“ Ruinöse Männlichkeiten im spanischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts Tanja Schwan | 275 Kriegswahn, Hysterie, Panerotismus Prekäre Männlichkeit in Benito Pérez Galdósʼ Roman Aita Tettauen (1905) Christian von Tschilschke | 297
Autoren und Autorinnen | 315
Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900 Eine Einleitung G REGOR S CHUHEN
M ÄNNLICHKEITEN
ERZÄHLEN
In der medialen Repräsentation des männlichen Krisendiskurses wird immer wieder der Anschein erweckt, es handele es sich dabei um ein typisches Phänomen ‚unserer‘ Zeit.1 Tatsächlich jedoch reicht ein Blick in die historiographischen Darstellungen der Männerforschung um festzustellen, dass es in der Entwicklung des neuzeitlichen Maskulinitätsdiskurses immer wieder krisenhafte Phasen gegeben hat – nicht selten im Umfeld von Kriegs- oder Umbruchssituationen2: „[Crisis] has virtually become a commonplace of periodization in the new history if European masculinity“, so Gerald N. Izenberg.3
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Vgl. etwa die mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit bedachte Studie von Hanna Rosin: The End of Men. And the Rise of Women, New York/London 2012. Auch in den Wochen- und Tageszeitungen gelangen die Schwanengesänge auf den Mann in regelmäßigen Abständen zum Ausdruck, z.B. auf dem Titel des SPIEGELS („Oh Mann! Das starke Geschlecht sucht seine Rolle“, 1/2013) oder als Titelgeschichte der ZEIT („Not am Mann: Das geschwächte Geschlecht“, 1/2014). Vgl. auch Ines Kappert: Der Mann in der Krise oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur, Bielefeld 2008. Aber auch die Männer selbst empfinden ihr eigenes Geschlecht als krisenhaft und gefährdet, so etwa Ralf Bönt: Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann, München 2012.
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Vgl. u.a. die Arbeiten von Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz: „Es ist ein Junge!“ Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005; Geschichte der Männlichkeiten, Reihe: Historische Einführungen, Frankfurt/M. 2008
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Als Umbruchszeit par excellence gilt zweifellos die Übergangszeit vom 19. ins 20. Jahrhundert. Tatsächlich erreicht in dieser Zeit ‚um 1900‘ auch der Krisendiskurs über Männlichkeit – neben vielen anderen – eine augenfällige Verdichtung. Die allgemein zu diagnostizierende Fin de Siècle-Stimmung macht vor dem konsensuellen Modell hegemonialer Männlichkeit keinen Halt. Krisensymptome im durchaus pathologischen Sinn sind Homosexualität und deren wissenschaftliche sowie mediale Diskursivierung, Effeminatio und ‚Entartung‘ (u.a. im Bild des Dandys4), Kriminalisierung und Verwahrlosung (v.a bei männlichen Jugendlichen und Bohèmegruppierungen5) sowie Bedrohung durch neue Frauenbilder und -bewegungen.6 Mit dieser Krisendiagnostik einher geht eine Pluralisierung von Männerbildern, die auch heute oftmals noch verantwortlich gemacht wird für eine vermeintliche Orientierungslosigkeit auf Seiten männlicher Heranwachsender in Folge einer zunehmenden Unübersichtlichkeit gängiger
sowie dies. (Hrsg.): Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007. Siehe zum diachronen Wandel auch Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien u.a. 2003; Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hrsg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010. Zum Begriff und Konzept der Männlichkeitskrise aus historischer Sicht: Claudia Opitz-Belakhal: „‚Krise der Männlichkeit‘ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte?“, in: dies./Christa Hämmerle (Hrsg.): Krise(n) der Männlichkeit. L’homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 19/2 (2008), S. 31-50. Vgl. speziell zur Zeit um 1900 Ulrike Brunotte/Rainer Herrn (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007; Gregor Schuhen: „Dandy Dichter Demagoge. Männlichkeitsentwürfe in der Belle Epoque“, in: ders./Marijana Erstić/Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität. Wahrnehmungs- und Inszenierungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 321-360. 3
Gerald N. Izenberg: Modernism & Masculinity. Mann, Wedekind, Kandinsky through World War I, Chicago/London 2000, S. 4.
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Zur Pathologisierung des Dandys bei Max Nordau vgl. Gregor Schuhen: „Untergeordnet? Sublim? Entartet? Der Dandy aus Sicht der Men’s Studies“, in: Julius H. Schoeps u.a. (Hrsg.): ‚Das Leben als Kunstwerk‘. Der Dandy als kulturhistorisches Phänomen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2013, S. 29-42.
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Vgl. Jon Savage: Teenage. Erfindung der Jugend (1875-1945), Frankfurt/M./ New York 2008.
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Vgl. Bram Dijkstra: Evil Sisters. The Threat of Female Sexuality and the Cult of Manhood, New York 1996.
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Männlichkeitsangebote. Neben der – Foucault zufolge – ‚neuen Spezies‘ des Homosexuellen betreten um 1900 u.a. der Dandy, der Bohemien, der Intellektuelle, der Soldat, der Sportler, der Hooligan, der erschöpfte Jüngling oder der Neurastheniker die Bühne der Männlichkeit(en). Bei dieser Auflistung fällt auf, dass sich die jeweiligen männlichen Sozialfiguren gleichsam auf einer Fluchtlinie bewegen, die vom Pol der Krise bis hin zu ihrer Überwindung durch gesellschaftliche Gegenmaßnahmen verläuft: Der wilhelminische Soldat begegnet dem ‚degenerierten‘ Décadent, der Sportler wirkt dem erschöpften Neuastheniker entgegen, die Geburt des Intellektuellen antwortet auf eine allgemeine Krise des europäischen Geistes, etc. Auch die Sozialform des Männerbundes, verstanden als Bollwerk prämoderner Männlichkeit, gewinnt um 1900 immer mehr an Einfluss.7 Regulative und normalisierende Tendenzen und Strategien lassen sich sowohl im bildungspolitischen, juristischen als auch medizinischen Diskurs beobachten und finden, so die Grundthese des vorliegenden Bandes, Niederschlag in den literarischen Werken und kulturellen Diskursen der ‚Sattelzeit um 1900‘. Im Fokus des Interesses stehen dabei das Spannungsfeld und die Verhandlungen von Krise und Selbstregulation, Degeneration und Rekonvaleszenz, Denormalisierung und Normalismus resp. Marginalisierung und Hegemonialität. Insofern möchten die Autoren und Autorinnen mit Blick auf den historischen Kontext der vorletzten Jahrhundertwende einen Beitrag dazu leisten, die von Walter Erhart noch im Jahr 2005 beobachtete Kluft zwischen Sozial- und Literaturgeschichte zu schließen.8 Männlichkeit soll zuvörderst als „narrative Struktur“9 rekonstruiert werden, welche die Krisengeschichte der Moderne entscheidend mitgestaltet. Dazu Erhart: Eine ‚Krise‘ der Männlichkeit bezeichnet demnach keinen psychischen oder epochalen Zustand, sondern läßt sich als Moment einer bestimmten narrativen Struktur fassen, mit-
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Die historischen Darstellungen des Booms männerbündischer Gruppierungen zur Zeit um 1900 sind zahlreich und behandeln häufig die vorherrschende Ambivalenz von Homosozialität und Homoerotik bzw. von Macht und Eros. Vgl. dazu u.a. Helmut Blazek: Männerbünde. Eine Geschichte von Faszination und Macht, Berlin 1999; Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004; Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln/Weimar/Wien 2006.
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Vgl. Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 30/2 (2005), S. 156-232.
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Ebd., S. 207.
10 | G REGOR S CHUHEN tels derer sich Männlichkeit (und vorrangig Männlichkeit!) seit jeher konstituiert. [...] Literatur funktioniert als ‚Krisengeschichte‘, indem sie historische Figurationen dieser Krisen bereithält und gleichzeitig vorführt, daß sich Männlichkeit als eine Geschichte solcher Krisen und ihrer Überwindung vollzieht.10
Männlichkeit wäre also als komplexes Krisennarrativ zu deuten, gleichsam als Signatur gesellschaftlichen Wandels. Das Wechselverhältnis von Geschichtsschreibung und Geschichtenerzählen hat Hayden White in seiner Metahistory ausführlich untersucht und überzeugend – gleichwohl wenig überraschend – nachgewiesen, dass sich auch die Historiographie narrativer Strukturen und Mittel, mithin poetischer Verfahren bedient.11 Es wäre wohl allzu verkürzt zu konstatieren, dass die Geschichtswissenschaft seit jeher ohnehin monologische Männergeschichte(n) erzählt hat, sind doch die in Geschichtsbüchern auftretenden Protagonisten in der großen Überzahl männlichen Geschlechts. Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz weisen zurecht darauf hin, dass der – sagen wir vereinfachend: ‚traditionellen‘ – Geschichtsschreibung über Männer zumeist das geschlechtliche Bewusstsein fehlt,12 was bedeutet, dass das biologische Geschlecht der Figuren lediglich als empirischer Befund festgehalten, jedoch kaum bis gar nicht problematisiert wird. Ähnliches lässt sich analog für die Literaturwissenschaft konstatieren: Viele der von ihr untersuchten Erzählungen um Helden und Anti-Helden, Aufsteiger und Versager, Jünglinge und Patriarchen werden nur selten auf ihre geschlechtliche Identität als männliche Figuren hin überprüft. Als Lösungsvorschlag bringen Martschukat und Stieglitz den Versuch ins Spiel, „Männlichkeitengeschichte als Teil einer relationalen Geschlechtergeschichte zu schreiben“13, was für die Literaturwissenschaft gleichermaßen geltend gemacht werden kann. Dieser Aufgabe sehen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes verpflichtet. Bevor ein Überblick über die Vielfalt der untersuchten Themen, Figuren und Texte gegeben wird, soll der Zeitraum ‚um 1900‘ zunächst in Form einer knappen Epochenskizze verstanden als Männlichkeitengeschichte en miniature dargestellt werden, um die Vielgestaltigkeit der vorgefundenen Gemengelage gerade im Hinblick auf die „Historizität, Pluralität, Widersprüchlichkeit [und] Instabilität“14 der Männerbilder dieser Zeit zu fokussieren.
10 Ebd., S. 223f. 11 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [1973], Frankfurt/M. 1991. 12 Vgl. Martschukat/Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, S. 10. 13 Ebd. 14 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 163.
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‚U M 1900‘ – E INE E POCHENSKIZZE Deutsch-Französischer Krieg, Fin de Siècle, Viktorianismus, Belle Époque, wilhelminische Ära, Spanisch-Amerikanischer Krieg, Avantgarden, Industrialisierung, Erfindung des Films, Verstädterung, Boulevardisierung, Frauen- und Arbeiterbewegung, Nervosität, Neurasthenie, Degeneration, Dekadenz, Psychoanalyse, Homosexualitätsdebatten, Nietzsche, Freud, Wagner, Antisemitismus, Ende der Monarchie, Reformpädagogik, Jugendbewegung, Jugendstil, Bohème, Jazz, Ballets russes, Beschleunigung, Olympische Spiele der Neuzeit, Weltausstellungen, Orientalismus, Tourismus, Kino, Militarismus, Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise – ein kursorischer Blick auf die europäische Jahrhundertwende, also die Zeit von 1870-1930, reicht aus, um, zumindest für den europäischen Kontext, von einer Zeit des radikalen Wandels, des Umbruchs, ja der Krise(n) zu sprechen. Diese Schlagwortsammlung, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt die enorme soziale Energie des Wandels in nahezu allen soziokulturellen Domänen der europäischen Gesellschaft. Vom weit entfernten Standpunkt des beginnenden 21. Jahrhunderts aus fragt sich, ob etwa die Menschen der Belle Époque ihre eigene Zeit überhaupt als so turbulent erfahren haben, wie es für uns den Anschein erweckt. Für den gegebenen Kontext wäre darüber hinaus zu erörtern, ob sich die Vertreter des männlichen Geschlechts als so krisenhaft und gefährdet empfunden haben, wie es uns einige Historiker und Historikerinnen glauben machen. Diesen Fragen mit Antworten zu begegnen, zählt zu den Hauptanliegen des vorliegenden Bandes, weshalb zunächst die aufgelisteten historischen Eckpunkte in Relation gesetzt werden sollen zu Fragen männlicher Identität und deren kultureller Verfasstheit. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen 1870 und 1930 führen in den beteiligten Ländern fraglos zu einer Aufwertung soldatischer Männlichkeit. Insbesondere Deutschland erlebt unter der Herrschaft Kaiser Wilhelms II. eine beispiellose militärische Aufrüstung und gleichzeitig eine zunehmende Militarisierung und Disziplinierung innerhalb der Ausbildung männlicher Heranwachsender und das bis in die Curricula hinein. Wolfgang Schmale spricht von der Militarisierung des Mannes als „Kernelement der Hegemonialisierung des in der Aufklärung entstandenen Männlichkeitsmodells“15, was wiederum erst um 1900 einen vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. Das Militär wird – nicht nur in Deutschland – zur „Schule der Männlichkeiten“16, die in der Gesellschaft einen
15 Schmale: Geschichte der Männlichkeit, S. 193. 16 Ute Frevert: „Das Militär als Schule der Männlichkeiten“, in: Brunotte/Herrn (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne, S. 57-75, hier: S. 57f.
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zentralen Platz erhält. Das typische soldatische Verhalten war Ute Frevert zufolge von Ambivalenz getragen: Einerseits trug es deutliche Zeichen standesbedingter Machtanmaßung, gepaart mit einer spannungsvollen Mischung aus jugendlich-männlicher Statusunsicherheit und physischer Selbstbestätigung; andererseits unterlag es einem engmaschigen System militärischer Kontrolle und Disziplinierung.17
Demzufolge fungiert das Militär sowohl als „männliche Initiationsinstanz“18 als auch – allgemeiner betrachtet – als männerbündisches Bollwerk gegen sämtliche männlichkeitsbedrohenden Erscheinungen der Zeit. Dazu gehören ebenfalls einige der weiter oben aufgelisteten Schlagworte, die zumeist pathologischen (z.B. Nervosität und Neurasthenie) oder pathologisierenden Charakter (z.B. Homosexualität, Degeneration und Dekadenz) besitzen. Das Militär mit seinen erklärten Zielen wie patriotisch-nationale Tapferkeit, physische Abhärtung und soziale Disziplinierung gehört zu den wichtigsten Abwehrinstrumenten, um die Überwindung jeglicher Krisenhaftigkeit in Angriff zu nehmen und dauerhaft zu gewährleisten. Das aus den Vereinigten Staaten ‚importierte‘ Krankheitsbild der Neurasthenie ist sicherlich eine Modekrankheit der Jahrhundertwende, kann jedoch auch zudem als männliche Form der Hysterie gelesen werden. Zumindest war für Männer eine Neurasthenie-Diagnose weniger männlichkeitsgefährdend als ein eventueller Hysterie-Befund. Nur aufgrund der stark männlichen Codierung, so der Eindruck, konnte die Neurasthenie – im Gegensatz zur Hysterie – als ‚Krankheit der gesamten Moderne‘ eingestuft werden.19 Aufgrund des rasanten Anstiegs der Betroffenenzahlen und trotz der durchaus positiven, da kreativitätsfördernden Einschätzung seitens vieler Künstler gilt die Krankheit gleichwohl im
17 Ebd., S. 65. 18 Ute Fervert: „Männer(T)Räume. Die allgemeine Wehrpflicht und ihre geschlechtergeschichtlichen Implikationen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11 (2000), S. 111-123, hier S. 117. 19 Vgl. Maximilian Bergengruen/Klaus Müller-Wille/Caroline Pross: „Nerven – Zur literarischen Produktivität eines ‚Modewortes‘“, in: dies. (Hrsg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2010, S. 9-22: „Während die neurasthenia von ihrem ‚Erfinder‘ George M. Beard zunächst noch als typisch amerikanisch eingestuft wurde, wird sie im Zuge ihrer Rezeption in Europa zu einem Leiden umgedeutet, das die Moderne in ihrer Gesamtheit betraf“ (S. 11, Herv. von mir).
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kollektiven Bewusstsein der Nationalstaaten als Gefährdung ‚gesunder‘ und ‚vitaler‘ Männlichkeit.20 Neben der enormen Aufwertung des Militärs dienen weitere Maßnahmen dem Ziel der ‚Männlichkeitshygiene‘, so etwa ein staatlich verordneter Körperkult und die Förderung des Breitensports. In diesem Zusammenhang sei nur auf die institutionalisierten Turnvereine, auf Jugendbewegungen wie den Wandervogel sowie auf die Neuerfindung der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin hingewiesen, der im Rückgriff auf antike, d.h. physisch begründete Maskulinitätsideale dem männlichen Sports- und Wettbewerbsgeist zu neuer Blüte verhilft. Ein großes Thema, das in der Öffentlichkeit entweder als regelrechte Bedrohung hegemonialer oder als Degenerationssymptom krisenhafter Männlichkeit wahrgenommen wird, stellt die (männliche) Homosexualität dar. Öffentliche Skandale wie der Oscar Wilde-Prozess oder die Eulenburg-Affäre bringen die ‚sexuelle Inversion‘ zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit genauso wie die boomende wissenschaftliche Erforschung der Sexualität allgemein und der Homosexualität im Besonderen durch die Psychopathologie (z.B. Krafft-Ebing und Ellis) und später die Psychoanalyse (v.a. Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905). Die Diskussion um die Pathologisierung und Kriminalisierung auf der einen und die angestrebte Normalisierung auf der anderen Seite führt zu einer stetig anwachsenden ‚Sichtbarkeit‘ und Präsenz des Phänomens ‚Homosexualität‘, hervorgerufen durch ‚reale‘ Fälle sowie eine „explosion discursive“21,
20 Siehe auch Andrea Kottow: Der kranke Mann. Medizin und Gesellschaft in der Literatur um 1900, Frankfurt/M./New York 2006: „[Seit dem] 19. Jahrhundert sind zwei der zentralen Aspekte für das Verständnis von Normalität und für das Verfahren der Normierung der Gesellschaft jene Aspekte, die sich auf das Geschlecht und auf Gesundheits- und Krankheitskonzepte beziehen. Der Inbegriff der Normalität, die Verkörperung der Norm wird hierbei von dem ‚gesunden Mann‘ dargestellt. Der ‚kranke Mann‘ erscheint somit als Paradoxon der Normalität, [...] als Gefahr und Bedrohung der Normalität. Der ‚kranke Mann‘ ist das Symptom einer Krise, die eine wankende Normalität betrifft“ (S. 16). Speziell zur Neurasthenie siehe auch Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000: „Diese Krankheit bot in den Nervenheilanstalten der Jahrhundertwende einen zeitfüllenden Lebensinhalt“ (S. 10); vgl. darin ebenfalls das Kapitel „‚Das Bett ist der eigentliche Kampfplatz des Neurasthenikers‘: Neurasthenie und männliche Sexualängste – Venus, Bacchus und Malthus“, S. 155ff. 21 Michel Foucault: Histoire de la sexualité, Bd. I: La volonté de savoir, Paris 1976, S. 25.
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wie es Foucault mit Blick auf die Sexualwissenschaft der Jahrhundertwende konstatiert. Ein weiterer Aspekt, der bislang nur wenig erforscht ist, wäre der intersektionale Zusammenhang von Männlichkeit und Judentum bzw. die Vermutung, dass auch der um 1900 immer stärker werdende Antisemitismus als Krisensymptom einer sich bedroht glaubenden Männlichkeit bewertet werden kann.22 Warum sollten nur Abwertung, Abspaltung oder Ausschluss des Weiblichen (gender) als Strategien hegemonial-männlicher Selbstbehauptung dienen und nicht auch die Abwehr des ‚Anderen‘ im Sinne von race? So lassen sich nahezu alle eingangs genannten Schlagworte, die den historischen Wandel und Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts indizieren, problemlos zu den Männlichkeitsentwürfen jener Epoche in Relation setzen. Um die Relationalität zum anderen Geschlecht stärker in den Fokus zu nehmen, wäre sicherlich ein näherer Blick auf den Einfluss der um 1900 beginnenden Frauenbewegung auf die Konstruktion von Männlichkeiten lohnend – vermutlich lassen sich z.B. die kulturanthropologischen Schriften eines Otto Weininger oder Hans Blüher als Reaktion darauf interpretieren. Die genauen Zusammenhänge können ohnehin nur spekulativ rekonstruiert werden, wie auch Izenberg hervorhebt: „Exactly how these developments actually expressed general male anxiety about masculinity, however, is not made wholly clear in the literature.“23 Die meisten dieser ‚Entwicklungen‘ werden jedoch in der Literatur der Jahrhundertwende problematisiert und narrativiert und können auch – ganz egal, ob nun krisenhaft oder nicht – mit den veränderten Männlichkeitsbildern der Zeit in Beziehung gesetzt werden.
ZU
DEN
B EITRÄGEN
Die hier versammelten Beiträge gehen größtenteils zurück auf das 1. Forum für Literatur & Men’s Studies, das im Juli 2012 unter dem Titel Crisis? What Crisis? Männlichkeiten im 1900 an der Universität Siegen stattfand. Ziel der philologienübergreifenden Tagung war es, im Fokus auf einen gemeinsamen themati-
22 Es existieren zu diesem Problemfeld lediglich punktuelle Einzelstudien, so etwa zum Verhältnis von Männlichkeit und Judentum bei Freud: Sander L. Gilman: Freud, Race and Gender, Princeton 1993 sowie zum Verhältnis von Judentum und männlicher Homosexualität im Werk von Marcel Proust: Jeanne Bem: „Le juif et l’homosexuel dans A la recherche du temps perdu“, in: Littérature 37 (1980), S. 100-112. 23 Izenberg: Modernism & Masculinity, S. 10.
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schen Schwerpunkt die Anwendbarkeit von Theorien aus den Men’s und Masculinity Studies für die literaturwissenschaftliche Forschung zu erproben und im Sinne interdisziplinärer, kulturwissenschaftlicher Perspektiven auszuloten. In ihrem einführenden Beitrag L’exception française. Queer und Men’s Studies in Frankreich erläutert SABINE SCHRADER auf einer übergeordneten Ebene die nur zögerliche Rezeption anglophoner Forschungsansätze in Frankreich auf dem Feld der Geschlechterstudien. Erstaunlich mutet die Tatsache an, dass ein kanonisches Werk der Gender Studies, Judith Butlers Gender Trouble (1990), erst 2005 ins Französische übertragen wird und andere Klassiker, so etwa Robert/Raewyn Connells Masculinities (1995) noch gar nicht übersetzt wurden. Den möglichen Ursachen für diese offenkundige Zurückhaltung seitens der französischen Männer- und Geschlechterforschung geht Schrader in ihrer wissenschaftshistorischen Spurensuche nach. Die Reise in die Zeit um 1900 beginnt DIETER INGENSCHAY mit einem umfassenden Überblick über die lateinamerikanische Literatur der Epoche und der darin dargestellten Männlichkeitsbilder. Sein Aufsatz Machos – gauchos – sissies – maricones. Lateinamerikanische Maskulinitätsentwürfe um 1900 illustriert anhand der drei Länder Chile, Argentinien und Kuba das in der Literatur verhandelte, komplexe postkoloniale Wechselverhältnis von nation building auf der einen und Männlichkeitskrisen auf der anderen Seite. Einen kulturwissenschaftlich-intermedialen Überblick über Dandy-Figuren im Frankreich der Jahrhundertwende liefert VOLKER ROLOFF mit seinem Beitrag Dandys und Dandy-Fantasien. Von Huysmans und Montesquiou zu Proust und den Ballets russes. In Roloffs Epochenporträt, das rund vierzig Jahre Kulturgeschichte umspannt, steht der Dandy als literarische Konstruktion (Huysmans und Proust), als Figur des öffentlichen Lebens (Montesquiou) sowie als Bühnenfigur (bei den Ballets russes) zur Diskussion, wobei als gemeinsame Kategorie die Theatralität dieses Männlichkeitsentwurfs in den Fokus der Einzelanalysen gerückt wird. WALBURGA HÜLK und BRITTA KÜNKEL stellen in ihrem Aufsatz Crisis? What Crisis? Lob des Optimismus zunächst die Frage nach dem Verhältnis von radikalem Konstruktivismus und strategischem Essentialismus im Hinblick auf die Verfasstheit der Kategorie Geschlecht allgemein und Männlichkeit im Besonderen. Sie erinnern an die Intrikatheit des Verhältnisses von sex und gender, das längst nicht geklärt sei und je nach Diskurspräferenz entschieden werde. Darauf aufbauend diskutieren sie anhand zweier Beispiele diese folgenreiche Frage: zum einen anhand der Kunstkritik Hippolyte Taines und zum anderen an Pierre de Coubertins Neuerfindung der Olympischen Spiele. Beide Vertreter stellen jeweils dem dekadentistischen Männlichkeitsbild des Fin de Siècle einen im
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Rückgriff auf antike Männlichkeitsideale deutlich positiv besetzten Gegenentwurf zur Seite. GREGOR SCHUHEN stellt ebenfalls in seinem Beitrag Der junge Kaiser, das Dichterkind und der Bohemien: Männlichkeit und Jugend um 1900 die Dichotomie Krise vs. Überwindung zur Diskussion. Im Fokus steht die um 1900 in der europäischen Literatur- und Kulturlandschaft nachgerade inflationär verhandelte, analysierte, vermessene und idealisierte Figur des Jünglings. Bezogen auf die Länder Deutschland und Frankreich wird nachgewiesen, dass es sich beim Jugendlichen um eine Kippfigur handelt, die einerseits auf auffällige Weise zum Hoffnungsträger und Garant für Fortschrittsfähigkeit stilisiert wird, während andererseits Jugend und Jugendkultur als bedrohliche Schreckgespenster für nationalstaatliche Traditionswahrung empfunden und gefürchtet werden. Die Männlichkeitsentwürfe der Weimarer Republik untersucht MAREN LICKHARDT in ihrem Beitrag Uhu, Dame, Querschnitt oder Von Keun bis Keilson. Männlichkeitskonzepte in den Zwanziger Jahren aus einer zunächst unerwarteten, da weiblichen Perspektive. Als Korpus dienen ihr sowohl Frauenmagazine als auch Romane von Schriftstellerinnen der 1920er Jahre. Der überraschende Befund dieser Analyse ist, dass nicht nur von Seiten der Männer die Konstruktion ihrer eigenen geschlechtlichen Identität vorgenommen wird, sondern dass auch Frauen einflussreiche Diskurse formulieren, was doch letztlich einmal mehr die Relationalität der Kategorie ‚Männlichkeit‘ bzw. Geschlecht allgemein unterstreicht. Die Zeit um 1900 dient BARBARA VINKEN in ihrem Beitrag Männer sind die neuen Frauen? lediglich als Etappe innerhalb eines historischen Prozesses des Wandels. Mit der Mode fügt sie dem Spektrum des Bandes einen Bereich hinzu, der für die Konstruktion und vor allem die Performanzen und Maskeraden von Geschlecht als kaum einflussreich genug eingeschätzt werden kann. Vinken zeichnet anhand prägnanter Stationen und Beispiele die Entwicklung der Männermode vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach und zeigt, dass die Männermode ihren ursprünglich körperbetonten und schmückenden Charakter im Zuge der Verbürgerlichung aufgegeben hat, während sich die Frauenmode im Gegenzug genau dieser beiden Eigenschaften bemächtigt hat. Männlichkeit wird demzufolge an der Schnittstelle von Texten, Texturen und Textilien verhandelt. Den zweiten Teil des Bandes, der sich literarischen Fallbeispielen widmet, eröffnet STEFAN HORLACHER mit seiner Studie Negotiating Masculinity in Late Victorianism: Die Dekonstruktion phallischer Männlichkeit in Thomas Hardys Roman The Mayor of Casterbridge (1886) und die Frage nach dem New Man. Hardys Klassiker erweist sich Horlacher zufolge als ein ambivalenter Schwellentext, in dem konkurrierende Männlichkeitsentwürfe aus Vergangenheit und zeit-
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genössischer Gegenwart miteinander in Beziehung treten, wobei Hardy noch nicht so weit geht, den New Man als neues hegemoniales Modell zu postulieren. Ebenfalls einem prominenten Beispiel aus der englischen Literatur der Jahrhundertwende wendet sich LUCIA KRÄMER in ihrem Beitrag Der Held als Soziopath. Verbrechen und Krankheit in Arthur Conan Doyles Sherlock HolmesErzählungen zu. Krämer illustriert anhand der beiden Protagonisten und unter Einbezug zeitgenössischer forensischer sowie psychopathologischer Quellen den Einfluss des kriminellen Milieus auf die mitunter pathologische Entwicklung des Männlichkeitsbildes. Insbesondere der titelgebende Detektiv kann sich als männlicher Held offenbar nur behaupten, indem er sich ambivalenter Strategien wie Drogenkonsum sowie sozio- und psychopathischer Verhaltensweisen bedient. Das bereits im Beitrag von Volker Roloff behandelte Inszenierungsmuster des Dandys, das zweifellos die Zeit um 1900 besonders stark geprägt hat, steht auch im Aufsatz von ANNE-BERENIKE ROTHSTEIN im Zentrum der Analyse, wenn auch unter anderen geschlechtlichen Vorzeichen. In ihrer Studie „Tu es un chiffre, un vilain chiffre“ – Männlichkeiten im weiblichen Dandydiskurs des Fin de Siècle geht es um die beiden Romane Monsieur Vénus (1884) und Madame Adonis (1888) der französischen Autorin Rachilde, die sich selbst zeitlebens als femme dandy inszenierte. Beide Texte werden einem umfassenden close reading unterzogen, wobei die vorherrschende Geschlechterkonfusion am Ende kaum noch überschaubar ist. Männlichkeit und Weiblichkeit flottieren in dieser Welt der gender switchings und cross dressings lediglich noch in Form von grundsätzlich austauschbaren Chiffren, während das hybride Amalgam des weiblichen Dandys zum Ideal stilisiert wird. Zur spanischen Literatur der Jahrhundertwende führen die beiden abschließenden Aufsätze des Buches. TANJA SCHWAN analysiert in ihrem Beitrag „Don Juan caído“, „dandy desengañado“: Ruinöse Männlichkeiten im spanischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Maskulinitätsentwürfe in zwei emblematischen Frauenromanen des Fin de Siglo, nämlich Benito Pérez Galdós’ Tristana (1892) sowie Claríns La Regenta (1884/85). Während Galdós auf parodistische Art den urspanischen Don Juan-Mythos der Lächerlichkeit preisgibt, nimmt sich Clarín darüber hinaus weitere Männlichkeitsbilder vor, u.a. den Dandy oder den katholischen Priester. Beide Autoren entlarven auf ähnlich ironischsubversive Weise die tradierten, hegemonial-iberospanischen Maskulinitätsideale als nicht mehr zeitgemäße Konstruktionen. Anhand eines späteren Romans von Galdós setzt sich CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE in seinem Beitrag Kriegswahn, Hysterie, Panerotismus. Prekäre Männlichkeit in Benito Pérez Galdósʼ Roman Aita Tettauen (1905) mit der literarischen Darstellung von Männlichkeit in Kriegszeiten auseinander, hier im
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Kontext des Spanisch-Marokkanischen Krieges (1859/60), von dem Galdós in seinem historischen Roman erzählt. Männlichkeit kommt dort als Medium von Kulturkritik zum Einsatz, indem der liberale Galdós – über den Umweg historisierender Narration – neue, prekäre Männlichkeiten als tatsächliche Kehrseite des immer noch vorherrschenden, angestrebten Ideal des spanischen Donjuanismus enttarnt. Ausdrücklicher Dank gilt zuallererst den Beiträgern und Beiträgerinnen des vorliegenden Bandes. Darüber hinaus sei Jennifer Novak, Uta Fenske, Christoph Gabriel und Maren Lickhardt für gründliches Korrekturlesen und diverse Formatierungshilfen ganz herzlich gedankt.
I. Texturen: Kulturwissenschaftliche Perspektiven
„L’exception française“ Queer und Men’s Studies in Frankreich S ABINE S CHRADER
Am 18. Mai 2013 verabschiedete das französische Parlament die familienrechtliche Gleichstellung homosexueller mit heterosexuellen Menschen, die unter anderem die Reformierung des Adoptionsrechts vorsieht. Teils gewalttätige Massendemonstrationen sind dagegen Sturm gelaufen, und mit Überraschung nahm die französische Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass die Demonstrierenden längst nicht mehr nur dem äußerst rechten politischen Lager zugerechnet werden können. Als kurze Zeit später LA VIE D’ADÈLE (R.: Abdellatif Kechiche, 2013), ein Coming of Age-Film über die Liebe zweier Frauen, in Cannes die Goldene Palme gewinnt, feiert die Filmwelt das liberale Frankreich: Schließlich verdanke sich der Film und dessen Auszeichnung der besonderen, liberalen Haltung des Landes, so zumindest der Präsident der diesjährigen Jury Stephen Spielberg.1 Damit spielt Spielberg auf die lange Tradition schwuler und – weniger bekannt – lesbischer Darstellungen in Literatur und Film an. In den Medien wird die Verleihung der Goldenen Palme für LA VIE D’ADÈLE darüber hinaus auch als ein politisches Statement der Filmschaffenden gegen diese Demonstrationen verstanden.2 Sowohl die Diskussion um die familienrechtliche Gleichstellung als auch
1
Sotinel, Thomas: „Cannes 2013: Spielberg et ses jurés osent ‚La Vie d’Adèle‘“, in: Le Monde vom 26. Mai 2013. Abrufbar unter der URL: http://www.lemonde.fr/festivalde-cannes/article/2013/05/26/cannes-2013-une-palme-d-or-pour-abdellatif-kechicheet-ses-deux-actrices_3417750_766360.html (Zugriff am 6.2.2014).
2
Vgl. z.B. „‚La Vie d’Adèle‘ gewinnt Goldene Palme“, in: Zeit Online vom 26. Mai 2013.
URL:
http://www.zeit.de/kultur/film/2013-05/cannes-goldene-palme-adele
(Zugriff am 6.2.2014).
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der mediale Hype um LA VIE D’ADÈLE zeigen vor allem eins: Nicht heteronormative Lebensentwürfe sind auch in Frankreich mitnichten selbstverständlich. Die langsame Durchsetzung des gemeinsamen Adoptionsrechts für schwule und lesbische Paare wie auch die Preisverleihung von Cannes im Jahre 2013 stellen dennoch unter Beweis, dass in westlichen Gesellschaften queere Lebenswelten an Sichtbarkeit und Akzeptanz gewonnen haben; es ist ein so urbanes wie globales Phänomen. Im Fokus der Kritik steht dabei die Umkonnotierung einer zentralen bürgerlichen Instanz, der Familie. Aber nicht nur: Durch die rechtliche Ausweitung bürgerlicher Lebenswelten auf nicht heteronormative Lebensweisen könnte theoretisch auch die untergeordnete Männlichkeit, wie sie laut der Männlichkeitsforscherin Connell die Schwulen verkörpern, eine Aufwertung erfahren.3 Doch dass zwischen gesetzgebender Macht und normativen Praktiken eine große Kluft liegen kann, haben die Demonstrationen in Paris gezeigt. Die französische Gesellschaft bleibt, wie andere westliche Gesellschaften eine heteronormative Gesellschaft. Dies zu ignorieren würde die sich in der Geschichte, der Gesetzgebung oder in der öffentlichen Wahrnehmung reflektierenden Normalisierungsverfahren verleugnen, deren Analyse sich die Men’s, Queer bzw. New Gender Studies angenommen haben. Allerdings werden die New Gender Studies in Frankreich nur sehr zögerlich wahrgenommen. Im vorliegenden Beitrag soll genau diese verzögerte Rezeption am Beispiel der Queer Studies betrachtet werden, die letztendlich symptomatisch für die fehlende kritische Auseinandersetzung mit nicht französischen kulturwissenschaftlichen Theorien ist.4 Dabei geht es nicht darum, jeglichen Theorieimport aus den USA vorbehaltlos zu begrüßen; in den Blick geraten vielmehr die Möglichkeiten und Grenzen einer ‚transnationalen Theoriebildung‘, schließlich folgt jede Epistemologie immer auch nationalen Wissens- und Wissenschaftstraditionen. Eingangs gehe ich kurz auf die politische Entstehungsgeschichte der Men’s und Queer Studies ein, die wiederum herangezogen werden kann, um die in Frankreich verzögerte Rezeption zu erklären.
3
Raewyn [vorher: Robert W.] Connell: Gender and Power: Society, the Person and Sexual Politics, Stanford 1987, S. 109. Connell geht von einer doppelten Abgrenzungspraxis hegemonialer Männlichkeit aus: Sie grenzt sich zum einen natürlich von Frauen ab, zum anderen aber bildet sich in der dominanten Gruppe selbst eine Hierarchie heraus, an deren untersten Ende laut Connell schwule Männer stehen.
4
Vgl. Armand Mattelart/Érik Neveu: Introduction aux Cultural Studies, Paris 2008, S. 73.
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Men’s und Queer Studies teilen einen dekonstruktivistischen Ansatz. Ihre Theoretikerinnen und Theoretiker begreifen Geschlechtlichkeit als soziale Praxis und richten ihren Fokus auf das doing gender, also auf den performativen Prozess der Identitätsbildung in Verquickung mit Macht- und Normalisierungsprozessen. Grundlegend sind hier bekanntlich die Texte von Judith Butler, die in Anlehnung an Michel Foucaults Arbeiten die diskursive Produktion von Geschlecht betont. Sie verwirft dabei nicht die Materialität des Körpers – wie ihr in Deutschland immer wieder vorgeworfen wurde5 –, betont aber, dass es keinen prädiskursiven Zugang zum Körper gibt. Gender (wie beispielsweise auch race) organisiere vielmehr die Wahrnehmung von Körpern, so dass das biologische Geschlecht erst über kulturelle Zuschreibungen seine Bedeutung erhalte.6 Die performativen Akte, also die Akte, in denen Geschlecht und damit der Körper inszeniert werden, sind zentral für die Formierung der Geschlechtsidentität – der Körper selbst wird daher nicht länger als passiver Ort begriffen, auf den die Natur einwirkt. Gender meint vielmehr den diskursiven Effekt einer sich ständig wiederholenden Abfolge performativer Akte des Körpers, wodurch Geschlechtsidentitäten, aber auch das sexuelle Begehren hervorgebracht werden. Butler hebt hervor, dass sex und gender nur dann eine Einheit bilden können, wenn das Begehren heterosexuell ist.7 Genauso wenig wie die Trennung in weibliches und männliches gender natürlich ist, gibt es eben in ihrer Argumentation nur eine mögliche sexuelle Orientierung. Die Auflösung binärer Schemata hat zur Folge, dass die heterosexuelle Matrix an Relevanz verliert.8 Ziel ist also die kritische Infragestellung von dualistischen Begriffen und Kategorien (männlich-weiblich, homo-hetero), um sie ihrer vermeintlichen ‚Natürlichkeit‘ zu berauben. Men’s und Queer Studies fordern eine dekonstruktivistische, diskursanalytische Lesart von Gender-Festschreibungen und -Klassifizierungen, von jeglichen normativen Strategien (wie sie sich beispielsweise in der Gesellschaft, Politik, Literatur oder Film finden), sie sind daher schon immer interdisziplinär ausgerichtet. Insbesondere die Queer Studies sind, wie es einer ihrer bekanntesten Theoretiker Michael Warner sehr allgemein formuliert eine „thorough resistance
5
Patricia Purtschert: „Feministischer Schauplatz umkämpfter Bedeutungen. Zur deutschsprachigen Rezeption von Judith Butlers ‚Gender Trouble‘“, in: Widerspruch 44 (2003), S. 147-158.
6
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991, S. 24.
7
Ebd., S. 45f.
8
Vgl. Nina Degele: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, München 2008, S. 43.
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to regimes of the normal“.9 ‚Queer‘ entspricht in der Übersetzung dem deutschen ‚verquer‘ und bedeutet im weitesten Sinn ‚abweichend‘, ‚seltsam‘, ‚sonderbar‘, ‚eigentümlich‘. Die Franzosen würden es wahrscheinlich am ehesten mit ‚étrange‘ übersetzen. Sich auf Foucaults Machtbegriff stützend, geht Butler dann davon aus, dass Macht produktiv ist, d.h. weniger repressiv reagiert, als dass das ‚Andere‘ und damit auch das Unterdrückte mit hervorbringt, und darüber hinaus, dass Veränderungen denkbar sind. Men’s und Queer Studies sind daher immer deskriptiv und präskriptiv.10 Zum einen versuchen sie ein Instrumentarium bereitzustellen, um die Praktiken der Normalisierung und des Widerstandes zu analysieren, was sowohl für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Literatur- oder Filmkanon, als auch für die literatur- bzw. filmwissenschaftliche Lektüre nutzbar gemacht bzw. queer als Lektürestrategie verwendet (was wiederum eine Relektüre kanonisierter Texte mit sich bringt),11 zum anderen haben sie einen politischen, widerständigen Impetus, um der Vielzahl an Lebensweisen Rechnung zu tragen. Formuliert wird damit also nicht nur eine Theorie der Geschlechtlichkeit, sondern auch eine in die Zukunft gerichtete Politik, die die Diversität und die Prozesshaftigkeit von Identität und ihre permanenten Verschiebungen anerkennt. Hier zeigt sich erneut die Verknüpfung von theoretischem Instrumentarium und politischem Impetus, der von dem Gedanken an Differenz und politischen Zweckbündnissen getragen wird. Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung zieht demnach nicht die Aufhebung von Kategorien nach sich, da Identitäten mehr als Durchgangsstadien sind und daher trotz aller theoretischer Einsichten für bestimmte Zeit beibehalten werden müssen,12 sondern wirft vielmehr die Frage nach den jeweiligen Norma-
9
Michael Warner: Fear of a Queer Planet: Queer Politics and Social Theory, Minneapolis 1993, S. XIII.
10 Degele: Gender/Queer Studies, S. 40. 11 Vgl. z.B. Andreas Kraß: „Queer Studies – eine Einführung“, in: ders (Hrsg.): Queer Denken: Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt/M. 2003, S. 7-28; und einer der wenigen französischen Texte: François Cusset: Queer critics. La littérature française déshabillée par ses homo-lecteurs, Paris 2002. Er spricht sehr unpräzise von einem ‚homo-lecteur‘, dem Verfahren des ‚dé-lire‘ bzw. einer ‚contre-lecture‘. Und so ahistorisch sein homo-lecteur ist, so reduziert sind seine Lektüren, die nach Szenen in der Literatur fahnden, in denen Sexualität ambivalent bzw. homosexuell ist und sie eben nicht in ihren historischen Kontext verankern. 12 Judith Butler: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilo-
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lisierungsstrategien auf, was auch für die französische Kultur fruchtbar gemacht werden könnte.
Q UEER S TUDIES UND DIE US- AMERIKANISCHE I DENTITÄTSPOLITIK Während die Men’s Studies eher an der Dekonstruktion von hegemonialer Männlichkeit und damit der programmatischen Pluralisierung von Männlichkeit interessiert sind, richten die Queer Studies ihr Augenmerk auf den Konstruktionscharakter von Sexualität und sexuellem Begehren und damit letztlich grundsätzlich auf die „Genese und Wirkungsmacht von Normalität und Normalisierungsprozessen durch Institutionen und Regelungen.“13 Beide stehen – wenn auch mit Abstufungen – in der US-amerikanischen Tradition der Women, Gender, Gay and Lesbian bzw. den Black Studies – also den Minority Studies, die wiederum aus den US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen hervorgingen. Genauso wie beispielsweise die Women Studies nicht ohne die politischen Forderungen der Frauenbewegungen denkbar waren, werden die Queer Studies von der Bewegung der Queer Nation hervorgebracht, die als politische Antwort auf die konservative Reideologisierung der US-amerikanischen Politik verstanden werden kann.14 Die sich in den 1990er Jahren im angelsächsischen Raum etablierenden Men’s Studies sind stärker aus der akademischen Diskussion hervorgegangen, auch wenn politische Ereignisse wie z.B. die Niederlage im Vietnam-Krieg ein kritisches Nachdenken über Männlichkeit auf einer breiteren, d.h. gesellschaftspolitischen Ebene bereits angestoßen hatten. Sie tragen wiederum der Überlegung Rechnung, dass eben nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern auch das
sophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S. 301-320, hier S. 313f. Sie fordert, Begriffe für eine bestimmte Zeit beizubehalten, um handlungsfähig zu sein und erkennt damit Zwänge und Grenzen des Handelns an. 13 Degele: Gender/Queer Studies, S. 52. 14 Einführungen in Geschichte und Theorie: Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin 2001 S. 37-94; Holger A. Pausch: „‚Queer Theory‘: History, Status, Trends, and Problems“, in: Christopher Lorey/John L. Plews (Hrsg.): Queering the Canon. Defying Sights in German Literature, Columbia 1998, S. 1-19; Kraß: „Queer Studies“, S. 15ff.; Sabine Hark: „Queering or Passing: Queer Theory – eine ‚normale‘ Disziplin?“, in: Therese Frey Steffen/Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hrsg.): Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, S. 67-82.
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männliche konstruiert und als relationale Kategorie zu begreifen ist, relational in Bezug auf die Frauen, aber auch auf bestimmte Männlichkeitsideale.15 So banal das klingt, so reagieren die Men’s Studies auf den Fakt, dass die Gender Studies in ihrer Fortsetzung der Women Studies weiterhin oftmals der Analyse von soziologischen, rechtlichen, politischen, aber auch künstlerischen Modellierungen von Frauen verhaftet blieben. In den Men’s Studies entwickelt einer der Pioniere, Robert W. Connell, das Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘, um die verschiedenen Positionen von Männern in den Machtfeldern zu beschreiben. Dabei unterstreicht er zum einen die Prozesshaftigkeit und damit Veränderbarkeit von Männlichkeit und zum anderen die Bedeutung der institutionellen Mächte und die daraus resultierende Pluralisierung und Auffächerung von Männlichkeit in verschiedene Typen.16 Die Queer Studies sind im Vergleich zu den Men’s Studies unmittelbarer der US-amerikanischen Identitätspolitik verpflichtet. Nach den ersten Erfolgen der Anerkennung schwul-lesbischer Communities in den frühen 1980er Jahren wird die soziale und ökonomische Krise in den USA am Ende des Jahrzehnts wieder mit alten homophoben Ängsten aufgeladen. Eine weitere Verschärfung der Situation findet in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Krankheit AIDS statt, die als unmoralische und schwule Erkrankung konnotiert und als Zeichen des Niedergangs der US-amerikanischen Gesellschaft interpretiert wird. Es ist aber nicht nur dem gesellschaftlichen Klima geschuldet, dass es zu einer erneuten Politisierung und damit einhergehenden Theoretisierung der Schwulen- und Lesbenbewegung kommt. Auch bewegungsinterne Gründe führen zu einer Neuorientierung der Bürgerrechtsbewegungen, die sich einst für die bis dato am Rande befindenden oder unterdrückten kollektiven Identitäten engagierten und gerade in der Akzeptanz der Differenz eine Voraussetzung für Gerechtigkeit in der Gesellschaft sahen. Diese ‚alten‘ politischen Gruppen drohen – genauso wie ihre akademische Institutionalisierung – zu erstarren. Die Women, Black, Gay oder Lesbian Studies müssen sich den Vorwurf des Essentialismus, des Separatismus und den der Eindimensionalität gefallen lassen, weil sie sowohl den dynamischen Prozess der Identitätsbildung, als auch die politische und soziale Hierarchisie-
15 Zur Geschichte der Men’s Studies vgl. Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt/M. 2008; Uta Fenske: „Männlichkeiten im Fokus der Geschlechterforschung. Ein Überblick“, in: dies./Gregor Schuhen (Hrsg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen u.a. 2012, S. 11-26. 16 Vgl. Robert W. Connell: Masculinities, Cambridge 1995. Connell lebt seit einigen Jahren als Frau und publiziert seither unter dem Namen Raewyn Connell.
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rung intersektionaler Parameter zu vernachlässigen drohten. Die queere Bewegung kann daher als eine Bewegung verstanden werden, die sich gegen diese neuen, sexuellen Normalisierungsprozesse richtet und eine Koalition zwischen Gay und Lesbian Movements ermöglicht, da queer sich explizit gegen diese binären Kategorien richtet17 und so eine Ausweitung auf andere nicht heteronormative Gruppen wie Transsexuelle, drags und kinks ermöglicht. Die US-amerikanische, feministische Literatur- und Filmwissenschaftlerin Teresa de Lauretis ist dann eine der ersten, die im Jahre 1989 die Queer Theory in die akademische Diskussion einbringt.18 Sie leitet damit eine Neubesinnung auf epistemologischer und akademischer – im Sinne von institutionalisierter Wissenschaft – Ebene ein. In den Fokus geriet nun die Frage, wie Sexualität reguliert wird und wie Sexualität andere gesellschaftliche Bereiche – etwa staatliche Politik und kulturelle Formen – beeinflusst und strukturiert. Zentrales Anliegen ist, Sexualität ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu berauben und sie als ganz und gar von Machtverhältnissen durchsetztes, kulturelles Produkt sichtbar zu machen.19
Andreas Kraß verzeichnet dann allein schon in den Jahren 1990-1996 in den USamerikanischen Bibliographien über 600 Arbeiten zum Thema. In den darauffolgenden Jahren verdoppelt sich die Anzahl.20
„I NTRODUCING
QUEER STUDIES ?“
„Introducing queer studies?“ – so lautet der Titel eines Aufsatzes von Jean-Louis Jeannelle in der Zeitschrift Les temps modernes aus dem Jahre 2003, in dem er – trotz des englischen Titels – in französischer Sprache das Für und Wider des US-
17 Insbesondere Eve Kosofsky Sedgwick und Steven Seidman betonten die Ghettoisierung schwul/lebischer Fragestellungen; vgl.: Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley/Los Angeles 1990; Steven Seidman: Difference troubles. Queering Social Theory and Sexual Politics, Cambridge 1997. 18 Teresa De Lauretis: „Queer Theory. Lesbian and Gay Sexualities“, in: Differences 3 (1991), S. 3-18. Sie wendet sich später wieder davon ab, weil queer seine subversive Funktion verloren hat. 19 Corinna Gerschl: „Vorwort“, in: Jagose: Queer Theory, S. 7-12, hier S. 7. 20 Vgl. Kraß: „Queer Studies“, S. 18.
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amerikanischen Theorieimports nach Frankreich diskutiert.21 Die kritische Haltung Jeannelles ist repräsentativ für die französische Skepsis gegenüber den New Gender Studies und soll aus diesem Grunde genauer analysiert werden. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive mutet Jeanelles Frage im Jahre 2003 ein wenig verspätet an, bringen doch die Queer Theory, wie die Men’s Studies oder andere New Gender Studies in den USA schon seit Anfang der 1990er Jahren sehr produktive Forschungsansätze hervor,22 die sich rasch in Westeuropa zu etablieren beginnen. Im Jahre 1991 erscheint beispielsweise die deutsche Übersetzung eines der Grundlagentexte der New Gender Studies, Judith Butlers Gender Trouble (1990).23 In Italien wird wiederum ihr anschließendes Buch Bodies That Matter: On the Discursive Limits of ‚Sex‘ (1993) im Jahr 1996 ins Italienische übertragen.24 Nur Frankreich lässt auf Übersetzungen warten und dies sicher nicht, weil Butler im Original rezipiert wird. Erst 2005 kommt die französische Fassung von Gender Trouble auf den Markt.25 Im gleichen Jahr lädt der Pariser Komparatist Pierre Zoberman zur ersten universitären, in der Komparatistik angesiedelten Konferenz Stratégies discursives ‚queer‘ dans le temps et dans l’espace an die Université Paris XIII ein.26 Einige Jahre zuvor hatte schon im Pariser Centre Georges Pompidou der erste, wohl gemerkt außeruniversitäre, eher politologisch ausgerichtete Workshop Les études gays et lesbiennes: Colloque du Centre Georges Pompidou (23 et 27 juin 1997) stattgefunden, organisiert vom Foucault-Biographen Didier Eribon. Schützenhilfe erhielt Eribon von Pierre Bourdieu und Marie-Hélène Bourcier. Eine ähnlich verspätete Rezeption kann auch für die Men’s Studies konstatiert werden. Die grundlegenden Monographien von Connell liegen – mit Ausnahme eines von ihr mit herausgegebenen Tagungsbandes Rôles masculins,
21 Jean-Louis Jeannelle: „Introducing Queer Studies?“, in: Les temps modernes 58, Nr. 624 (2003), S. 137-151. 22 Kraß: „Queer Studies“, S. 18. 23 Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York u.a. 1990. Vgl. auch die vergleichsweise frühen Übersetzungen der ersten Einführungen von Annamarie Jagose: Queer Theory. An Introduction, New York 1996 24 Judith Butler: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York u.a. 1993; Butler, Judith: Corpi che contano. I limiti discorsivi del ‚Sesso‘, Milano 1996; übersetzt von Simona Capelli. 25 Judith Butler: Trouble dans le genre: Le féminisme et la subversion de l’identité, Paris 2005; übersetzt von Cynthia Kraus, mit einem Vorwort von Eric Fassin. 26 Vgl. die Tagungsakten: Pierre Zobermann (Hrsg.): ‚Queer‘: Ecritures de la différence? Paris 2008.
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masculinités et violence aus dem Jahre 2004 – bis heute nicht vor.27 Allerdings sind fast zeitgleich in den französischen Geschichts- und Kulturwissenschaften spannende Arbeiten zur Geschichte der Männlichkeit erschienen28, so etwa die dreibändige Studie Histoire de la virilité (2011).29 Es treten dennoch kaum ‚adäquate‘ französische Theorien an die Stelle der Queer oder Men’s Studies, die die verspätete Rezeption erklären bzw. mit deren Hilfe die entsprechenden Forschungsgebiete systematisch bearbeitet werden könnten.30
F RANZÖSISCH -US- AMERIKANISCHE M ISSVERSTÄNDNISSE Les rapports franco-américains sont pleins de malentendus réciproques, qu’illustre parfaitement le cas de la théorie queer: si ses tenants puisent une grande partie de leurs repères critiques dans les textes de Michel Foucault [...] ou d’écrivains comme Marcel Proust, ces
27 Ingeborg Breines/Robert W. Connell/Ingrid Eide (Hrsg.): Rôles masculins, masculinités et violence: perspectives d’une culture de la paix, Paris 2004. 28 Frühe Ausnahmen stellen dar: Elisabeth Badinter: XY. De l’identité masculine, Paris 1992; Bourdieu ergänzt sein Habituskonzept noch um die Kategorie des vergeschlechtlichten Habitus und untersucht dies in der Kabylei: vgl. Pierre Bourdieu: La domination masculine, Paris 1998. Zeitgenössisch: André Rauch: L’identité masculine à l’ombre des femmes: de la Grande Guerre à la Gay Pride, Paris 2004; Dossier: La virilité a une histoire (= L’Histoire consacré aux hommes 297 [2005], April; AnneMarie Sohn: „Histoire des hommes et des masculinités“, in: Historiens & Géographes 394 (2006), S. 167-178. 29 Vgl. Alain Corbin/Jean-Jacques Courtine/Georges Vigarello (Hrsg.): Histoire de la virilité, 3 Bde., Paris 2011. 30 Vgl. dazu die ausführliche Auflistung von: Régis Revenin: „Les études et recherches lesbiennes et gays en France (1970-2006)“, in: Genre & Histoire 1 (2007), mis en ligne le 26 novembre 2007. URL: http://genrehistoire.revues.org/219; vgl. für die Men’s Studies demnächst: Anne-Marie Sohn: Männlichkeitsforschung in Frankreich, Italien und Spanien, in: Stefan Horlacher (Hrsg.): Männlichkeitsforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014 (in Druckvorbereitung). Vgl. auch die jüngst erschienene Studie von Daniel Parrocha: Inventer le masculin, Seyssel 2013. Der Autor, Professor für Logik und Philosophie in Lyon, distanziert sich bereits auf dem Klappentext von den aus den USA stammenden Gender Studies: „Contrairement aux apparences, le présent livre ne relève pas de ce qu’on appelle outre-Atlantique les ‚gender studies‘, ou études de genre.“
30 | S ABINE S CHRADER va-et-vient ne semblent pas faciliter l’échange de vues avec la France, absolument indifférente à l’usage qu’on fait, hors hexagone, de ses intellectuels.31
Jeannelle stellt die (Nicht)Rezeption der Queer Studies in größere Zusammenhänge; sie sind für ihn nur ein weiteres Beispiel der von gegenseitigen Missverständnissen geleiteten Beziehung zwischen Frankreich und den USA. Zwei Argumente kommen zum Tragen: Jeannelle wirft den USA die Inbesitznahme des nationalen kulturellen Erbes vor und nennt zwei Namen, nämlich den von Marcel Proust und den von Michel Foucault; also von einem äußerst erfolgreichen Autor, der lange vor der US-amerikanischen Literatur gleichgeschlechtliches Begehren prominent zum Thema gemacht hat und von einem Intellektuellen, der mit der Histoire de la sexualité maßgeblich zur kritischen Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität beigetragen hat und auch für die Queer und Men’s Studies grundlegend ist. Doch sieht er gerade in der produktiven Rezeption französischer Denker ein Problem, indem er immer wieder auf die Kontextgebundenheit der Texte und der Methodik hinweist. Das gilt umgekehrt dann auch für die Queer Studies: „Ces liens constants à la culture et aux institutions qui rendent ces textes parfois illisibles pour un lecteur français.“32 Diese geographische und historische Kluft lässt sich seiner Meinung nach nicht schließen, da beispielsweise die politische Geschichte Frankreichs eine Übertragung US-amerikanischer Theorien unmöglich mache. Die Konsequenz daraus wäre – zugespitzt formuliert –, dass nur nationale Lesarten möglich seien bzw. eine Nation den Anspruch auf die Erklärungshoheit für ihre Dichter und Denker erheben kann. Hier bildet sich in Frankreich eine Gegenposition zum globalen wie hegemonialen Selbstverständnis der USA heraus; mit einer Skepsis, die durchaus berechtigt ist. Auch Frédéric Martel weist in The Pink and the Black: Homosexuals in France since 1968 auf die Problematik einer transnationalen Kategorisierung der Schwulen-, Lesben- und Queerbewegung hin: Who attempt to imitate the American model, unless they are prepared to completely dismantle the French model of integrating individuals, need to realize that such surgical operations could prove perilous in a country where no tradition of communitarianism exists, at least not yet.33
31 Jeannelle: „Introducing Queer Studies?“, S. 137. 32 Ebd., S. 143f. 33 Frédéric Mantel: The Pink and the Black: Homosexuals in France since 1968, Stanford 1999, S. 355. Crevulle/Rees-Roberts sehen erste Veränderungen, z.B. in Hinblick
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Nachdem die enge Verquickung der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen mit den Women oder Queer Studies nachgezeichnet wurde, soll deshalb im Folgenden in wenigen Worten die Spezifik der französischen Geschichte der Homosexualität skizziert werden. Schon im Code Civil (1802), dem Bürgerlichen Gesetzbuch Napoleons I., steht Homosexualität nicht explizit unter Strafe, kann aber als Verstoß gegen die öffentlichen Sitten geahndet werden. Frankreich ist daher um einiges liberaler als die Nachbarstaaten, so dass es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem beliebten Reiseziel oder auch Exil prominenter Homosexueller, wie Oscar Wilde, wird. Eine weitere Folge der liberalen Gesetzgebung ist dann auch, dass Autoren wie Marcel Proust seit Beginn des 20. Jahrhunderts (männliche) Homosexualität in der französischen Literatur thematisieren.34 Gerade um 1900 sind einschlägige Namen zu nennen wie Rachilde, Marcel Proust, André Gide oder auch Colette; es folgen dann Texte von René Crevel, Jean Cocteau und Jean Genet. Die genannten Autoren zählen heute zum französischen Kanon und bilden darüber hinaus aus identitätspolitischer Perspektive „a new canon itself“35, der eben auch außerhalb Frankreichs aus schwuler, lesbischer oder queerer Perspektive von Bedeutung ist. So existiert ein ‚queerer‘, transnationaler Kanon, der sich aus zahlreichen intra- und intermedialen Bezügen speist und immer weiter fortgeschrieben wird. Nichtsdestotrotz bleibt – wie eingangs notiert – auch die französische Gesellschaft eine heteronormative. Das Bewusstsein von Differenz wird vor allem von Normalisierungsprozessen hervorgebracht, die zur Selbststabilisierung jeder Gesellschaft gehören36 und im westlichen Abendland von der Heteronormativität ausgehen. Aus diesem Grunde gibt es trotz der jeweiligen nationalen Besonderheiten zeitgleich zu den USA, in Deutschland, Großbritannien oder in Frankreich in den 1970ern ebenfalls Bürgerrechtsbewegungen wie die Emanzipationsbewegung der Schwulen. Ihr Sprachrohr Guy Hocquenghem setzt sich in seinem 1972 veröffentlichten Manifest Le désir homosexuel mit französischen Normalisierungsprozessen auseinander. Er kritisiert die in Frankreich vorherrschende Deu-
auf die Bleu als „Black, Blanc, Beur“; vgl. Maxime Cervulle/Nick Rees-Roberts: Homo exoticus. Race, classe et critique queer, Paris 2010, S. 50. 34 Vgl. dazu: Sabine Schrader/Dirk Naguschewski: „Homosexualität – ein Thema der französischen Literatur und ihrer Wissenschaft“, in: dies. (Hrsg.): Homosexualität in der französischen Literatur, Berlin 2001, S. 7-32. 35 Florian Grandena/Cristina Johnston (Hrsg.): Cinematic Queerness. Gay and Lesbian Hypervisibility in Contemporary Francophone Feature Films, Oxford u.a. 2011, S. 23. 36 Vgl. dazu Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird [1997], Göttingen 2009.
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tungshoheit psychoanalytischer Theorien von Freud bis Lacan, die seiner Meinung nach den heteronormativen Dualismus festschreiben, in dem sie das ‚queere‘ Begehren als defizitär bestimmen.37 Homosexuelle seien daher trotz aller gesetzlichen Liberalität durch die Erklärungsmacht der Psychoanalyse Gefangene der heterosexuellen Matrix. Nicht nur die Psychoanalyse untermauert die heteronormative Norm. Schaut man in diesem Zusammenhang auf die bis in die 1980er Jahre gängigen biographischen Narrative der einschlägigen Autoren wie André Gide, René Crevel oder Jean Genet, die vielfach auch zur Textinterpretation herangezogen wurden, wird deutlich, dass dort Biographien in archetypische Narrative homosexueller Identitäten verdichtet werden. Gide gilt als ein unter seiner dominanten Mutter leidender Bürgerschreck, der gleichzeitig den exotisierenden Mythos des begehrenswerten nordafrikanischen Jungen fortschreibt, Crevel als experimentierfreudiger Surrealist und Genet als Inbegriff des Anderen in JeanPaul Sartres Philosophie des Existentialismus.38 Ihre Homosexualität wird jeweils explizit in Relation zu heteronormativen Kontexten gesetzt und ausgedeutet. Diese Lesart bzw. Konstruktion der Biographien könnte auf den ersten Blick als Zeichen der Selbstverständlichkeit gesehen werden, aus einer queeren Perspektive jedoch wird gerade über die Unterordnung bzw. das Zelebrieren des Anderen die heteronormative Matrix festgeschrieben.
E INE
UNIVERSELLE DIE FRANZÖSISCHE
U NRUHE UND A USNAHME
Der Aufsatz von Jeanelle liefert dann en passant einen zentralen Hinweis auf die französische Zurückhaltung gegenüber der Queer Theory. Jeannelle zitiert eine Passage aus Prousts Sodome et Gomorrhe, in der sich der Baron de Charlus, einer der Hauptfiguren des Romans, seines homosexuellen Begehrens bewusst wird:
37 Vgl. Guy Hocquenghem: Le désir homosexuel [1972], Paris: 2000. 38 Vgl. die Zusammenfassung in Sabine Schrader: ‚Mon cas n’est pas unique‘. Der homosexuelle Diskurs in französischen Autobiographien des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 263-291; Denis M. Provencher: Queer French. Globalization, Language, and Sexual Citizenship in France, Aldershot u.a. 2007, S. 55.
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Après l’avoir d’abord ignoré, il avait enfin, depuis un temps bien long déjà, appris que luimême ‚en était‘. [...] le baron se sentait torturé par une inquiétude de l’intelligence autant que du cœur.39
Für Jeannelle ist diese geistige und seelische Unruhe synonym mit dem USamerikanischen Begriff queer. Der Weg zur Universalisierung ist daher nicht weit: „Une expérience aussi universelle – qui ne l’as faite ?“40 Die rhetorische Frage von Jeanelle zielt auf die Unruhe, die in Proust auf das Bewusstwerden der nicht ‚ normativen‘ Lust hindeutet. Sie wird in „Introducing Queer Studies“ in ein existentielles Befinden umgedeutet. Ganz analog funktioniert übrigens auch die Umkonnotierung des homosexuellen Begehrens in Sartres Saint Genet, comédien et martyr (1952).41 Die Universalisierung des Anderen bzw. des ‚Besonderen‘ vernachlässigt die zwar dekonstruierbare, aber in einem konkreten historischen Moment real wirksame Differenz, die sich entweder durch das Gesetz oder die Normalisierungsprozesse vollzieht und Identitätsbildungen entscheidend beeinflusst. Diese Universalisierung hat in Frankreich historische Wurzeln. LA RÉPUBLIQUE UNE ET INDIVISIBLE lautet eine der staatstragenden Maximen der französischen Republiken, die in der Convention vom 25.9.1792 festgeschrieben ist. Gemeint ist die Gleichheit aller citoyens, unabhängig der individuellen Unterschiede. Auf der einen Seite steht also das ‚abstrakte‘ Individuum und auf der anderen Seite die Republik, deren Teil es ist.42 Hier liegt der Grund, warum in Frankreich kommunitaristische Bewegungen mit Misstrauen beäugt werden, denn diese nach kollektiver Identität strebenden Gruppen (seien es Homosexuelle, Transgender, oder auch der Beurs) stellen sich zwischen den Einzelnen und die Republik. Hier liegt ein historisch gewachsener Gegensatz zwischen der USamerikanischen und französischen Identitätspolitik, da letztere in ihrem Anspruch auf nationale Integration ‚Subformationen‘ bzw. ‚Subkulturen‘ verneint.43 Doch gerade das Gleichheitspostulat kann zur Diskriminierung führen. Eine der
39 o.A. zitiert nach Jeannelle: „Introducing Queer Studies?“, S. 139. 40 Ebd., S. 141. 41 Jean-Paul Sartre: Saint Genet, comédien et martyr, Paris 1952; vgl. dazu Schrader: ‚Mon cas n’est pas unique‘, S. 143. 42 Gino Raymond: „The Republic Ideal and the Reality of the Republic“, in: Alistair Cole/ders. (Hrsg.): Redefining French Republic, Manchester/New York 2006, S. 5-24, hier S. 12f. 43 Fassin, Éric: „Same Sex, Different Politics: ‚Gay Marriage‘ Debates in France and the United States“, in: Public Culture 13/2 (2001), S. 215-232, hier S. 215.
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wenigen französischen Gendertheoretikerinnen, die Soziologin Marie-Hélène Bourcier, macht hier eine Ursache des Verwischens tatsächlicher Hierarchien aus. Der Anspruch auf die vermeintliche Gleichheit ist ihrer Meinung nach nichts anderes als „la défense de l’universel blanc masculin hétérosexuel“.44 Interessanterweise reiht Bourcier hier nicht zu Unrecht auch die Arbeiten von Michel Foucault ein („Tout se passe comme si, pour lui, il n’y avait qu’un genre, le masculin homoérotique“45), die dann allerdings in der US-amerikanischen Rezeption der Queer und Men’s Studies kommunitaristisch aufgeladen werden, was wiederum von Jeannelle und anderen französischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Missverständnis und nicht als produktive Rezeption gedeutet wird. Die sich liberal verstehende, französische Identitätspolitik hat folgerichtig Konsequenzen für die wissenschaftliche Analyse von Identitätspolitik, wie sie nicht nur die Gender und die New Gender Studies erforschen, sondern auch die Cultural Studies, die sich kritisch mit Identitäts-, Gedächtnis- oder Raumkonzepten kollektiver Identitäten auseinandersetzen. So folgern die französischen Kulturwissenschaftler Armand Mattelart und Érik Neveu: Mettre en lumières le feuilleté des identités, l’importance du genre (gender), la marque à long terme de l’histoire coloniale, le caractère problématique d’une culture nationale décrite comme unifiée, tout cela ne manque pas de susciter le raidissement des gardiens du temple. Ils existent chez les défenseurs des entités à majuscule que sont la Culture classique, l’Homme et le Citoyen.46
Das Misstrauen gegenüber der Queer Theory, die sich mit der Differenz auseinandersetzt, diese radikalisiert und politisiert, ist also in der politischen Kultur Frankreichs selbst verankert, die wiederum auf die Wissenschaftspolitik zurückwirkt. Einst vom bürgerlichen Gleichheitsgedanken motiviert, zeigt sich aber auch die Kehrseite der Medaille – nämlich ein alles zu schlucken drohender Universalismus, der Differenzen zu negieren versucht, wie sie sich beispielsweise in queeren Kanones oder Fragestellungen niederschlagen. Ein Blick in die jüngere Geschichte zeigt erneut weitere Konsequenzen des fehlenden Kommunitarismus. Frankreich hat sich im westeuropäischen und US-amerikanischen Vergleich mangels ‚Lobby‘ (= der in der Regel eine Identitätspolitik vorausgeht) erst sehr spät der AIDS-Aufklärung angenommen, die bekanntlich entscheidend für
44 Marie-Hélène Bourcier: Queer Zones. Politique des identités sexuelles, des représentations et des savoirs, Paris 2001, S. 10. 45 Ebd., S. 80f. 46 Mattelart/Neveu: Introduction aux Cultural Studies, S. 74.
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die Verhinderung der Ansteckung von AIDS war und ist,47 und dabei durch die Verspätung auch eine Diskussion um eine „république des minorités“ angestoßen.48
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AMERIKANISCHE
F EIND
Die Ablehnung der Queer und Men’s Studies schreibt sich aber darüber hinaus noch in einen anderen nationalen Diskurs ein, den ausgeprägten Antiamerikanismus Frankreichs, der heute vor allem von den Intellektuellen gepflegt wird.49 Frankreich sieht sich bekanntlich stärker als andere europäische Länder vom USamerikanischen Kultur- und Wissenschaftsimperialismus bedroht und versteht sich als ein Gegengewicht zu der von den USA dominierten Globalisierung, was auch für die homosexuelle bzw. queere Kultur in Anschlag gebracht wird. Die USA haben daher schon einen ‚schlechten Leumund‘. Herausragendes Beispiel in diesem Kontext ist einer der französischen Schlüsselromane der AIDSLiteratur, Hervé Guiberts À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie (1990), in dem der Protagonist Muzil (alias Michel Foucault) sich in der gay community in San Francisco mit HIV infiziert hat und der US-amerikanische Forscher Bill als Inbegriff der Unmenschlichkeit und der Profitgier der US-amerikanischen Medizinforschung und Pharmaindustrie dargestellt wird. Frankreich wird ein weiteres Mal gegen die USA in Position gesetzt. Die zeitgenössische, skeptische Perspektive auf die vermeintlichen „global gays“ findet aber auch konkrete historisch und ökonomisch wirksame Differenzen als Ursache.50 Dennis Provencher hat in seiner Arbeit von 2007 gezeigt, wie die mit bestimmten US-amerikanischen Konzepten einhergehenden Begriffe wie Gay oder Coming out, Eingang in die französische Sprache gefunden haben, aber eine Schieflage bilden. Cervulle/Rees-Roberts weisen deshalb völlig zu recht auf die Inkompatibilität bestimmter Bilder und Narrative der US-ameri-
47 James Agar: „Queer in France. AIDS disidentification in France“, in: Lisa Downing/Robert Gillett (Hrsg.): Queer in Europe: Contemporary Case Studies, Farnham/Burlington 2011, S. 57-70, hier S. 65. 48 Cristina Johnston: „(Post) queer citizenship in contemporary France“, in: Contemporary French and Francophone Studies 12/1 (2008), S. 89-97. 49 Vgl. dazu – wenn auch manchmal etwas zugespitzt: Philippe Roger: L’ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002, S. 580. 50 Dennis Altman: „The Globalization of Sexual Identities“, in: ders.: Global Sex, Chicago 2001, S. 86-105, hier S. 91.
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kanischen Gay and Lesbian-Bewegung hin, die die französischen Worte nicht zu ersetzen vermögen: Le coming out, la visibilité et le placard sont des tropes euroaméricains et on ne peut envisager d’appliquer littéralement ces métaphores à contextes sociaux, culturels et politiques réfractaires à leurs présupposés.51
Schließlich impliziere beispielsweise das Coming out eine konkrete Form der Unterdrückung, die es so in Frankreich nicht gegeben habe, angemessener wäre stattdessen das französische s’assumer, da Frankreich eben in Hinblick auf das gleichgeschlechtliche Begehren eine vergleichsweise liberale Gesetzgebung aufgewiesen hat, das Coming out aber dennoch in seiner Sichtbarmachung des ‚Anderen‘ von kollektiver Verantwortung zeugt und eben nicht selbstverständlich ist. Ein weiterer Aspekt gesellt sich dazu: Die US-amerikanisch exportierte Queer Culture ist oftmals eben nicht vielfältig, sondern vielmehr homonormativ, d.h., dass zum einen weiterhin Frauen unterrepräsentiert sind, zum anderen der bürgerliche Gay Mainstream sich durchsetzt,52 worunter man mit Lisa Duggan die Gleichsetzung von queerem Begehren mit homosexuellen, weißen, körpergestylten, erfolgreichen, dem Jugendwahn verfallenen Männern verstehen kann. Diese Form von bürgerlicher Homonormativität bringt dann im neuen Jahrtausend die Institutionalisierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (PACS seit 2007, Eheschließung seit 2013) mit sich, die in Frankreich wie den USA aus queerer Perspektive umstritten war und ist, weil sie eben auch als ein Schritt zur ‚Verbürgerlichung‘ und ‚Uniformierung‘ gesehen werden kann.53 Der Begriff queer kann daher auch mit dieser Brille gesehen werden, kann er doch besser als das mit den Forderungen der Bürgerrechtsbewegung aufgeladene Gay oder Lesbian Liberation als ‚schöne, bunte, lebensfrohe (und dennoch bürgerliche) Welt‘ vermarktet werden – eine Vermarktung, die eben unter USamerikanischer Hegemonie steht und sich jenseits der Queer Theory bewegt. Queer ist deshalb aus französischer Perspektive oftmals nur ein weiterer Teil des US-amerikanischen Kulturimperialismus und wird entsprechend kritisch wahr-
51 Cervulle/Rees-Roberts: Homo exoticus, S. 38; vgl. auch Provencher: Queer French, S. 85, 114ff. 52 Lisa Duggan: „The New Homonormativity: The Sexual Politics of Neoliberalism“, in: Russ Castronovo/Dana D. Nelson (Hrsg.): Materializing democracy: Toward a revitalized cultural politics, Durham/NC 2002, S. 175-194, hier S. 175. 53 Vgl. zur französischen Debatte Fassin: „Same Sex, Different Politics“; Cervulle/ReesRoberts: Homo exoticus, S. 24-34.
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genommen.54 Die sogenannte Gay Community im Pariser Marais (die ja lange auch so etwas wie einen Schutzraum darstellte) wurde beispielsweise oftmals als negativ konnotierte Form der Ghettoisierung bezeichnet bzw. als ein weiteres Zeichen der Kommerzialisierung und damit auch der McDonaldisierung der französischen Kultur. So notiert der US-amerikanische Französist und Genderforscher Lawrence Schehr „que le discours états-unien est omniprésent et qu’on le veuille ou non impérialiste“.55 Provencher nennt entsprechend sein erstes Kapitel auch „Globalization, Americanization, and The French (Gay)“.56 Die Differenz zwischen den kommunitaristischen und liberalen Kulturen der beiden Länder bleibt bestehen. Der ‚global gay‘ wird so im weitesten Sinne zur Bedrohung der nationalen Identität.57 Die Sorge vor einem Kulturimperialismus ist natürlich nicht ungerechtfertigt. Die auf André Malraux zurückgehende exception française von 1956 führt zu einer in Europa einzigartigen politischen und ökonomischen Förderung der nationalen Sprache und Kultur – nicht zuletzt liegt hier beispielsweise eine der Ursachen der erfolgreichen französischen Filmkultur, die sich im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern mit einem Marktanteil von knapp 40% gegen Hollywood behaupten kann.58 Folgt man aber den Interventionen der Queer Theory, fordert ja gerade das queere Denken dazu auf, alle Normalisierungsstrategien kritisch zu hinterfragen, was genau in solchen Kontexten ansetzen könnte. So kann man es einerseits begrüßen, dass die ‚unbeugsamen Franzosen‘ nicht aufhören, der Globalisierung Widerstand zu leisten. Anderseits aber bedeutet queer nicht zwingend ‚Wissenschaftsimperialismus‘ der USA, sondern fordert vielmehr zur kritischen Dekonstruktion von Normalisierungsstrategien auf, zu denen ohne Frage auch die Idee des universellen ‚Französischen‘ gehört und setzt an dessen Stelle das Crossover bzw. transkulturelle, hybride Verfahren.
54 Ebd., S. 23ff.; das ist auch die Ausgangshypothese von Provencher: Queer French, S. 2. 55 Lawrence R. Schehr: „Relire les homotextualités“, in: ders. (Hrsg.): Aimez-vous le queer? Amsterdam 2005, S. 5-11. 56 Provencher: Queer French, S. 3-11. 57 Vgl. auch William J. Poulin-Deltour: „French Gay Activism and the American Referent in Contemporary France“, in: The French Review 78/1 (2004), S. 118-125, hier S. 119. 58 Vgl. zur Kritik Françoise Benhamou: Les dérèglements de l’exception culturelle, Paris 2006. Kultur sei ihrer Meinung nach in Frankreich nicht selbstregulierend, sondern läge in den Händen von Bürokraten, so dass eine eigenartige Mischung von privatöffentlich entstehe, die das Publikum einenge.
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Eng daran geknüpft ist ebenfalls die Idee des Männlichen als universeller Kategorie: Zu den Hauptanliegen der Men’s Studies gehört immer noch das Aufbrechen einer tradierten Denkart, welche die Hypostasierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen vollzieht, wie sie bereits 1911 von Georg Simmel beschrieben wurde. Dies funktioniert im Französischen – wie auch im Englischen – schon auf rein sprachlicher Ebene bestens, wenn man sich nur die Bedeutung von ‚homme‘ = Mensch / Mann ansieht. Erst durch die Problematisierung von Männlichkeit im Sinne einer tatsächlich geschlechtlichen Kategorie, durch ihr Auffächern in verschiedene Männlichkeiten, durch die Historisierung dieser Kategorie kann die Dekonstruktion dieses universalen grand récit, den die Männlichkeit immer noch darstellt, in Angriff genommen werden. Erst mit der Markierung von Differenzen kann man sich endgültig von den grands récits, den Universalisierungs- bzw. Totalisierungsprojekten verabschieden, um eine verantwortungsvolle Praxis der Repräsentationen zu ermöglichen, auch wenn natürlich diese Repräsentationen in gewisser Weise das Repräsentierte immer erst herstellen und folglich an den hegemonialen Normalisierungsdiskursen teilnehmen.
Machos – gauchos – sissies – maricones Lateinamerikanische Maskulinitätsentwürfe um 1900 D IETER I NGENSCHAY
‚K RISEN ,
DIE
L ATEINAMERIKA
ERSCHÜTTERN ‘
Dass Männlichkeiten spätestens in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in eine Krise geraten sind, ist ein Gemeinplatz. Daher hat Sabine Sielke einem Artikel darüber die Nachfrage „Crisis? What Crisis?“ vorangestellt. Ihr Aufsatz befindet sich in einem Sammelband zu ‚Männern und Männlichkeiten‘ mit dem Titel Väter. Soldaten. Liebhaber,1 und mit dieser Trias sollen die vier Nomina in der Überschrift dieses Artikels aus Sicht der Lateinamerikanistik korrespondieren.2 Viel gerätselt wurde über die ‚Natur‘ der Krise der Männlichkeiten; Spezialisten wie Walter Erhart haben das Krisenhafte als intrinsische Erscheinung des
1
Sabine Sielke: „Crisis? What crisis? Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität“, in: Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hrsg.): Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas, Bielefeld 2007, S. 43-61.
2
Dabei verstehe ich die Aufzählung von vier Nomina als Hommage an einen Satz von Eve Kosofky Sedgwick über Männlichkeitsstudien, in dem sie ‚Männer‘ denkbar weit fasst und die von Maurice Berger und Simon Watson vorgegebene Trias: „men of all ages and cultures – heterosexual, gay, bisexual“ folgendermaßen ergänzt: „men of all ages and cultures – heterosexual, gay, bisexual, and female“ (meine Herv.; Eve Kosofsky Sedgwick: „Gosh, Boy George, You Must Be Awfully Secure in Your Masculinity“, in Maurice Berger/Brian Wallis/Simon Watson (Hrsg.): Constructing Masculinitiy, New York 1995, S. 11-20, hier S. 13).
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Männlichen aufgefasst,3 doch folge ich eher Elahe Haschemi Yekani, die hegemoniale Männlichkeit nicht von den Narrativen der Krise abhängig macht, sondern von deren performativer Konstruktion; und: „Crisis“, schreibt sie, „should not become the ‚universal‘ answer to the ‚problem‘ of masculinity“.4 Ferner stimme ich Haschemi ebenfalls zu, wenn sie darauf hinweist, dass die Krisenrhetorik zu zwei konkreten Zeitpunkten den öffentlichen Diskurs beherrscht: gegen Ende des 19. Jahrhunderts und seit den 1980er Jahren.5 Für beide Zeitspannen lassen sich auch und gerade in Lateinamerika konkrete Anzeichen dafür finden, dass der Rekurs auf Krisen von Männlichkeiten sinnvoll ist: einmal in Folge der Erfahrungshorizonte von AIDS und den Postdiktaturen seit den 1980er Jahren6 und ein Jahrhundert zuvor in Kontexten der Nationenbildung, die darzustellen sein werden, also um die Wende zum 20. Jahrhundert, als die ersten Staaten Lateinamerikas ihre junge, aber problematische nationale Findungs- und Selbstdefinitionsgeschichte zu reflektieren beginnen und Kuba als letztes Land des Subkontinents allererst eine nahezu prekäre Selbstständigkeit gewinnt. Deutlicher als die USA lässt sich Lateinamerika als ein postkolonialer Raum verstehen, auch wenn diese Auffassung durchaus nicht unumstritten ist und sich nur dann sinnvoll aufrecht erhalten lässt, wenn man einer ganzen Menge von Besonderheiten Rechnung trägt. Zwar hatte der bekannte Theoretiker des Postkolonialismus, Bill Ashcroft, schnell der Bitte eines Kollegen entsprochen, das writing back der Autoren des ehemaligen britischen Empires auf die Situation der so produktiven Lateinamerikaner zu übertragen.7 Auf der anderen Seite ist etwa der in den USA lehrende, aus Mexiko stammende Kulturkritiker Jorge Klor de Alva, um nur ihn zu nennen, einer derjenigen, welche die Landkarte Lateinamerikas
3
Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht. ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/2 (2005), S. 156-232, hier S. 222.
4
Elahe Haschemi Yekani: The Privilege of Crisis. Narratives of Masculinities in Colonial and Postcolonial Literature, Frankfurt/M. 2011, S. 18.
5
Vgl. ebd., S. 19.
6
Zur Rolle der AIDS-Thematik in lateinamerikanische Literatur siehe Dieter Ingenschay: „Sida y ciudadanía en la literatura gay latinoamericana“, in: ders. (Hrsg.): Desde aceras opuestas. Literatura/cultura gay y lesbiana en Latinoamérica, Madrid/Frankfurt/M. 2006, S. 161-182.
7
Siehe Bill Ashcroft: „Modernity’s first-born: Latin America and Post-Colonial Transformation“, in: Alfonso de Toro/Fernando de Toro (Hrsg.): El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica. Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano, Madrid 1999, S. 13-30.
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nicht als Ergebnis eines Dekolonialisierungsprozesses auffassen, sondern als Resultat interner Gruppenkämpfe zwischen indigenen, kreolischen und neu immigrierten Bevölkerungsteilen mit je eigenen Strategien, Hegemonien und Eliten.8 Unbestreitbar ist, dass (ganz im Sinne Bhabhas) Strukturen der spanischen Kolonialherrschaft – machismo, Christianisierung, Misogynie usw. – sich nur perpetuieren konnten, indem sie in die Dynamik neuer kultureller Kartographien traten, die notwendig die Prozesse der politischen Selbstständigkeit begleiteten. Die für und in Lateinamerika seit Ende der 1980er Jahre zunehmend erfolgreich arbeitenden Masculinity Studies widmen sich im Zug der Erfassung und Beschreibung von Maskulinitäten primär der Gegenwart, etwa der Rolle der Arbeitswelt, der Migration usw. an der Schwelle zum 21. Jahrhundert; seltener stehen, wie hier, Männlichkeitsentwürfe um 1900 im Zentrum. Für die Frage nach Maskulinitätsmodellen an der Wende zum 20. Jahrhundert möchte ich die These, Lateinamerika sei ein postkolonialer Raum, aus zwei Gründen verteidigen: Erstens deshalb, weil Männlichkeitskonzepte in Lateinamerika im Kontext jener gesellschaftlich-kulturellen Notwendigkeit standen, die man als nation building bezeichnet. Da wir seit Homi Bhabha um den Zusammenhang von nation und narration wissen, kann man gerade im Kontext von Erzählungen aus dem weiteren Umfeld der sogenannten foundational fictions, welche Doris Sommers Studie9 ausführlich analysiert, Prägungs- und Entwicklungsprozesse von Männlichkeitsmodellen untersuchen. Der zweite Grund liegt in der Interpretation der finisekulären ‚Krise der Männlichkeiten‘ sub specie einer Gender und Ethnie Rechnung tragenden queer theory, die zunehmend postkoloniale Gesellschaften in ihrer Spezifik in den Blick genommen hat, und zunehmend – trotz des Hauptfokus auf dem anglophonen Ex-Empire – auch Lateinamerika. Die reichlich vergossenen Tränen des jüdischen Medizinstudenten Efraín in Jorge Isaacs María, dem meistgelesenen lateinamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts, oder das wütig eifersüchtige Rasen des für seine mulatti-
8
Siehe Jorge Klor de Alva: „The Postcolonization of the (Latin) American Experience: A Reconsideration of ‚Colonialism‘, ‚Postcolonialism‘, and ‚Mestizaje‘“, in Gyan Prakash (Hrsg.): After Colonialism. Imperial Histories and Postcolonial displacements, New Jersey 1995, S. 241-275.
9
Doris Sommer: Foundational Fictions: The National Romances of Latin America, Berkeley 1991. Eine ausführliche Anwendung der Sommer’schen Kategorie auf Männlichkeitsdarstellungen im argentinischen Roman der frühen Selbständigkeitsphase findet sich bei Adrián Melo: Historia de la literatura gay en Argentina. Representaciones sociales de la homosexualidad masculina en la ficción literaria, Buenos Aires 2011, S. 26 ff.
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sche Angebetete Cecilia mordenden Afrokubaners Pimienta in Cirilo Villaverdes Cecila Valdés o la Loma del Ángel, dem bekanntesten Roman aus dem Kuba des 19. Jahrhunderts, würden Material für die ethnische Blickrichtung liefern, die hier, da es dem Gender in seinen männlichen Varianten gilt, lediglich in vereinzelten intersektionellen Rekursen auftauchen wird, aber auch auftauchen muss, da die Frage nach der Rolle indigener, mestizischer oder afroamerikanischer Männer sich je nach Kontext unterschiedlich stark, aber unvermeidlich stellt. Postkolonial in einem vordergründig definitorischen Sinne sind die Länder Lateinamerikas deshalb, weil sie ihre Selbständigkeit zwischen 1810 und 1820 erreichten; eine Ausnahme bildet das erwähnte Land Kuba, das bis 1898 spanische Kolonie bleibt. Das anschließende nation building weist postkoloniale Charakteristika auf und ging oft mit traumatischen Erfahrungen einher; man denke an den Frieden von Guadalupe Hidalgo von 1848, in dem Mexiko nahezu die Hälfte seines Territoriums an die USA abtreten musste. Was dies für die Ausprägung gegebener Formen von hegemonialer Männlichkeit bedeutet, möchte ich anhand einiger lateinamerikanischer Länder aufzeigen. Aufgrund der Fülle des Materials konzentriere ich mich auf (nur) drei Länder, die, so hoffe ich, in gewisser Weise wenn nicht repräsentativ, so doch aussagekräftig sind: die Cono Sur-Länder Argentinien und Chile sowie Kuba.
M ASKULINITÄT IN C HILE : DIE ‚ GOTISCHEN A RAUKANER ‘
ALS WAHRE
M ÄNNER
Innerhalb des frühpostkolonialen nation building Chiles, einer damals von Landwirtschaft und Handel geprägten Region, kommt der Guerra del Guano y Salitre (1879-1883), in alten deutschen Geschichtsbüchern als „Salpeterkrieg“ festgehalten, eine besondere Rolle zu. Diese grausam geführte kriegerische Auseinandersetzung um die im Grenzgebiet zwischen Chile, Peru und Bolivien lagernden Naturressourcen kann exemplarisch zeigen, dass mit der Entlassung in die sogenannte Unabhängigkeit keineswegs eine stabile Landkarte erreicht war. Die Guerra del Guano y Salitre hat mindestens drei Konsequenzen gezeitigt: Neben der Steigerung der ‚nationalen‘ Ressourcen hat sie auch die Stärkung der Rolle der siegreichen chilenischen Nation gegenüber den unterlegenen Ländern gefördert, und letztlich hat sie die Konstruktion von Männlichkeitskonzepten innerhalb der jungen chilenischen Nation modifiziert. Bei George L. Mosse ist in Nationalism and Sexuality über den spezifischen Kontext zwischen Krieg und Männlichkeit nachzulesen: „War was an invitation to manliness […] in the trauma of war, nationalism strengthened its cult of youth, the sense of beauty and
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camaraderie.“10 Besondere Profiteure des chilenischen Sieges sind jene Gruppen, die diesen (für sie) positiven Ausgang des Krieges mit gestaltet hatten, insbesondere große Teile der ärmeren ländlichen männlichen Bevölkerung. Inspiriert durch diesen Sieg reflektiert der Schriftsteller, Kulturtheoretiker und Politiker Juan Rafael Allende deren Beitrag zur Formierung einer „raza chilena“, die er als ein viriles, kriegerisches Volk neu bestimmen will. Im Jahre 1887, so berichtet Óscar Contardo,11 gründet Allende die sogenannte Demokratische Partei („Partido Demócrata“), eine Partei für Arbeiter und Handwerker, die selbstbewusst ein neues Männlichkeitsideal propagiert, welches, gegen alle hispanischen Hegemonialmodelle von Blutsreinheit und iberischer Superiorität, die Virilität gerade des Mestizen unterstreicht. Damit setzt sich Allende in Differenz sowohl zum angeblich ‚verweichlichten‘ Spanier als auch zum vermeintlich femininen Indigenen,12 der den kolonialen Überlegenheitsdiskurs seit der conquista beherrscht hat: El progreso para Allende pasaba por la masculinidad de la sangre mestiza y el rigor del arrabal como forjador de un modo de ser recio y aguerrido. Era un progresismo nacionalista que enfrentaba el desprecio y el temor que la elite sentía por la población más pobre con un discurso de premeditada insolencia.13
Wenn Homi Bhabha im postkolonialen Diskurs sowohl eine Replik als auch eine Infragestellung des kolonialen Systems vorfindet, so trifft dies auf Juan Rafael Allende in spezifischer Weise zu. Gegen eine ‚europäische‘ Bestimmung der alten Eliten setzt Allende einen ‚autochthon chilenischen‘ Männlichkeitsbegriff, der allerdings sein zentrales Negativbild mit dem der Kolonialherrn teilt: den
10 George L. Mosse: Nationalism and Sexuality. Middle-Class Morality and Sexual Norms in Modern Europe, Madison 1985, S. 116. 11 Óscar Contardo: Raro – una historia gay de Chile, Santiago de Chile 2011. 12 Zur ‚Homosexualisierung‘ der indigenen Bevölkerung siehe bes. Jonathan Goldberg: Sodometries. Renaissance Texts, Modern Sexualities, Stanford 1992. 13 Contardo: Raro, S. 120. Dt. Übersetzung des Zitats: „Fortschritt verlief für Allende über die Maskulinität des mestizischen Blutes und die Strenge der Vorstädte als Schmiede einer harten und kriegerischen Lebensweise. Es war eine nationalistische Fortschrittsidee, die der Verachtung und der Angst, welche die Elite für die ärmste Bevölkerung empfand, mit einem Diskurs der kalkulierten Unverschämtheit beantwortete.“ (Diese und alle weiteren Übersetzungen aus dem Span. von mir).
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‚verweiblichten Mann, diese dreckige Missgeburt der Natur‘14 – namentlich den Homosexuellen, der im Zeichen des kolonialistischen Katholizismus ohnehin intensiver Verfolgung ausgesetzt war. So sind die letzten Fälle von Verbrennung homosexueller Männer auf dem Scheiterhaufen in Chile aus dem Jahr 1847 überliefert; schon 1875, also kurz vor dem Salpeterkrieg, wird durch Aufnahme des Artikels 365 in das Strafgesetzbuch Homosexualität strafbar. Die Kraft des hegemonialen Konzepts heteronormativer Männlichkeit zeigt sich z.B. darin, dass es nicht nur diskursive Überlegenheit signalisiert, sondern von Allende auch gezielt dazu eingesetzt wird, politische Gegner (mit dem Schimpfwort maricueca) als ‚Schwuchteln‘ zu diffamieren. Was das konkret implizieren konnte, werden wir später anhand des kurzen argentinischen Romans El matadero sehen. 1886 wettert er in einem Artikel „El mariconismo en Chile“ (etwa: ‚Schwulitäten in Chile‘) in satirischer Form gegen die Verbreitung homosexueller Praktiken. Bemerkenswert im heute streng katholischen Chile ist, dass er später insbesondere die von der katholischen Kirche betriebenen Lehranstalten beschuldigt hat, Brutstätten der Verweiblichung und gleichgeschlechtlicher Praktiken bei Männern wie Frauen zu sein.15 Contardo berichtet ferner von einem in der Tageszeitung El Socialista 1901 veröffentlichten Artikel, in welchem Allende die Verführung eines chilenischen Jungen durch einen spanischen Priester aufdeckt;16 hier bekommt der Gegensatz zwischen dem männlich selbstdefinierten postkolonialen Subjekt und dem Hass-Objekt des weibischen Spaniers, des ehemaligen Kolonialherrn, spezifisches Relief. Wenn José Esteban Muñoz in seinem Buch Disidentifications17 die Subjektivität der latinos/as als diskursive Performanz sieht, welche heteronormative, rassistische Nationen-Diskurse retextualisiert, könnten wir Juan Rafael Allendes Privilegierung des virilen Mestizen als Beispiel einer recht eigenwilligen Performanz nationaler Virilität auffassen. Dies ist eine Antwort auf jene Homosexualisierung und Marginalisierung der indigenen Bevölkerung, die seit den frühen Chronisten weite Teile des spanischen Südamerika-Diskurses bestimmt hat, in der die Homosexualisierung der prototypisch Anderen, der moros, (also der auf der iberischen Halbinsel bis 1492 ansässigen arabischen Spanier) nach deren Vertreibung auf die Bevölkerung der neu entdeckten ÜberseeGebiete projiziert wurde.
14 „[E]l afeminado [...], ese sucio aborto de la naturaleza“, wie er 1882 in einem Artikel in der Zeitschrift El Padre Cobos schreibt, zit. nach Contardo: Raro, S. 120. 15 Vgl. ebd., S. 124. 16 Siehe ebd. 17 José Esteban Muñoz: Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999.
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Allende ist mit dieser eigenwilligen Form von Mimikry nicht allein. Eine – aus heutiger Sicht – noch kuriosere und wild rassistisch spekulierende Position vertritt sein Landsmann und Zeitgenosse, der Arzt und Autor Nicolás Palacios (*1858). Innerhalb seiner eigenartigen Mischung rassistischer Theoreme konstatiert er einen angeblich hohen Einfluss ‚nordischer‘ (‚westgotischer‘) Ethnien im Immigrationsprozess nach Chile. So konstruiert er zwar keinen ‚Arier‘, aber einen den anderen Ethnien überlegenen „gótico araucano“, einen gotischen Araukaner18, in dem offensichtlich die als ‚gotisch‘ bezeichneten Charakteristika des Zentral- bzw. Nordeuropäers mit den positiven Eigenschaften der indigenen Bevölkerung konvergieren sollen, die hier noch nicht mit der heute üblichen Selbstbenennung „mapuche“, sondern mit dem auch literarisch notorischen Begriff „araucano“ bezeichnet wird. In seinem Buch Raza chilena: Libro escrito por un chileno para chilenos19 koppelt er sein rassistisches Modell überdies mit den Ideen der Sozialhygiene und der Eugenesie. Folge ist ein Hygienewahn, der im Nachbarland Argentinien noch stärker als in Chile über Jahrzehnte den öffentlichen Diskurs bestimmen wird.20 Auch wenn empirisch arbeitende Literaturhistoriker festgestellt haben, dass die Verherrlichung von Gewalt in den niedrigen sozialen Klassen ein Thema gerade der volkstümlichen Dichtung Chiles am Beginn des 20. Jahrhunderts ist,21 tritt das hegemoniale Männlichkeitsmodell, das Juan Rafael Allende geprägt hat, in den Folgejahren zurück hinter transnationale, durch die Hegemonialmächte Spanien und USA geprägte Männlichkeitsideale. Dennoch wäre es wohl zu einfach, das Auftauchen eines ersten einigermaßen offen homosexuellen Dichters und Romanciers, Augusto Thomson, schon als Ende der postkolonialen nationalen Findungskrise zu werten. Thomson, Sohn eines französischen Seefahrers und, wie alle Schriftsteller im Chile der Jahrhundertwende, frankophil, gründet
18 Zum Folgenden siehe Kap. 4 von Contardo: Raro, S. 147-198. 19 Nicolás Palacios: Raza chilena: libro escrito por un chileno y para los chilenos, Valparaíso 1904. 20 Rassistische Modelle werden den Diskurs der sog. lateinamerikanischen Identitätsfindung noch sehr lange begleiten; sie finden einen gewissen Höhepunkt in dem von dem Mexikaner José Vasconcelos in den 1920er Jahren unterbreiteten Konzept einer überragenden „raza cósmica“, einer ‚kosmischen‘ Mischung, fähig, die Welt zu beherrschen und die künftig in Lateinamerika entstehen könnte. Vasconcelos, dessen Modell bis heute zu den Standardwerken der Identitätsdiskussion zählt, hat sich dann später für die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie samt ihrer Rassentheorie in Mexiko eingesetzt. 21 Vgl. dazu Contardo: Raro, S. 109.
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mit meist jüngeren Künstlern nahe Valparaíso eine autarke Kommune, die Colonia Tolstoyana, von der letztlich nur ein Männerpaar übrig bleibt: er und sein Freund Fernando Santibáñez. Als dieser Thomsons Schwester heiratet, überwerfen sich die beiden Oscar Wilde verehrenden Ästheten; Thomson wählt das Pseudonym D’Halmar und schreibt 1902 mit Juana Lucero den ersten ‚naturalistischen‘ Roman Chiles, verarbeitet seine Beziehung zu Santibáñez in La lámpara y el molino. Bekannt aber wird ein Roman, Pasión y muerte del cura Deusto, der die in der antiklerikalen satirischen Presse gepflegten Angriffe auf homosexuelle Priester in den Romandiskurs überträgt. D’Halmar wird nach Gründung des chilenischen Nationalpreises für Literatur dessen erster Träger sein; er ist natürlich kein ‚offen schwuler‘ Autor im heutigen Sinne, sein Leben und sein Werk zeigen aber den Wandel von der martialischen Araukaner-Ideologie Allendes und Nicolás Palacios’ zu diversifizierten Männlichkeitskonzepten, in denen z.B. sexuelle Beziehungen unter Männern zumindest einen gewissen Platz finden. D’Halmar hat hier die Funktion, diesen Diskurs zu initiieren, indem er uns über die Existenz einer frühen homosexuellen Subkultur in Valparaíso ab den 1920er Jahren informiert. Übrigens wird sich, um die Historisierung der Krisenrhetorik weiter zu verfolgen, im ausgehenden 20. Jahrhundert eine weitere Krise der Männlichkeiten in Chile nach dem Ende der Diktatur Augusto Pinochets mit großer Gewalt Bahn brechen und zu vehementen Gegensätzen zwischen den konservativ-katholischen und den aufgeklärten Intellektuellen auch innerhalb der schwulen community führen, worauf an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen werden kann.
A RGENTINIEN : D IE ERSTE P OSTDIKTATUR DER F LUCH DES F ORTSCHRITTS
UND
In Argentinien bestimmt nicht ein Ereignis wie der Salpeterkrieg jene Krise der Männlichkeiten, die wir in Chile festgestellt hatten, sondern eher die Reaktion auf die grausame Diktatur Juan Manuel de Rosas’ (1829-1852) und seiner allmächtigen, allgegenwärtigen, gewalttätigen Geheimpolizei, der mazorca. Gegner Rosas’ war auch der junge Autor Esteban Echeverría (1805-1851), dem das Privileg zukommt, mit El matadero (in den 1830er Jahren entstanden, aber erst 20 Jahre nach dem Tod des Autors veröffentlicht) das erste Beispiel des bis heute in Lateinamerika florierenden literarischen Genres des Diktatorenromans verfasst zu haben. Im uruguayischen Exil schrieb er, gespickt mit Metaphern und christlicher Symbolik, diese Novelle über einen jungen Oppositionellen, der in der Karwoche in die argentinische Hauptstadt kommt und letztlich
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ausgerechnet am Schlachthof Opfer der Folter der diktatorischen Schergen, der mazorqueros, wird. Auf den sexuellen Unterton der Folter haben verschiedene argentinische Kultur- und Literaturkritiker von David Viñas bis Joé Jitrik verwiesen, aber erst Jorge Salessi benennt die mit einer Rasur beginnenden Folterpraktiken konkret als anale Vergewaltigung.22 Der Delinquent wehrt sich noch („Primero degollarme que desnudarme, infame canalla“, ‚Eher tötet ihr mich als dass ihr mich auszieht, gemeines Pack‘), doch wird er – „boca abajo“, mit dem Gesicht nach unten – mit Händen und Füßen an die vier Tischbeine gefesselt.23 Die Entkleidung des Opfers ist ein Element homophober Performanz, das sich häufig in den Texten von gaucho-Liedern findet; Salessi und Melo liefern zahlreiche Beispiele aus der populären Kultur jener Jahre. Ferner zitiert Salessi zeitgenössische Quellen, die Echeverría, dem Autoren, selbst homosexuelle Praktiken unterstellen.24 In dieser grausamen Erniedrigung des Anderen, wie sie hier geschildert wird, sieht man, welches Schicksal jene politischen Gegner erwartet haben könnte, die Juan Rafael Allende als maricuecos beschimpfte. Mit der Verachtung und Verspottung der Homosexualität geht das Zelebrieren machistischer Performanzen einher, wenn etwa die Schlächter in El matadero den getöteten Stieren die Hoden entreißen und diese als Symbol der Männlichkeit in Szene setzen. Für den Widerstand gegen Rosas und für das Entstehen einer modernen, an europäischen Vorbildern orientierten argentinischen Nation steht am Rio de la Plata bis heute der Name des Schriftstellers und Politikers Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888), dessen monumentales Grab auf dem Recoleta-Friedhof in Buenos Aires das zweite Pilgerziel neben der weit bescheideneren Ruhestätte Evita Peróns ist. Sarmientos hybrides Werk Civilización y barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga (1845) wendet sich gegen die romantische Verherrlichung des gaucho, den er als schlecht charakterisiert („gaucho malo“) und den er
22 Siehe Jorge Salessi: Médicos maleantes y maricas. Higiene, criminología y homosexualidad en la construcción de la nación Argentina, Rosario 2000. Dies schließt Salessi aus folgender Textpassage: „Abajo los calzones a ese mentecato cajetilla, y a nalga pelada denle verga, bien atado sobre la mesa.“ (etwa: ‚Zieht dem blöden Büttel die Hosen runter, und gebt dann dem nackten Hintern die Rute, gut festgebunden auf dem Tisch‘), zit. nach der Ausgabe Esteban Echeverría: La cautiva / El matadero, Buenos Aires 1999, S. 172). 23 Ebd. Siehe dazu auch das Material in dem Kapitel „Pánico y fascinación homosexual“ bei Melo: Historia de la literatura gay, S. 43-50. 24 Salessi: Médicos maleantes y maricas, S. 64.
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in der Nähe des Diktators Rosas, eines reichen, aber unzivilisierten Großgrundbesitzers und Viehzüchters, ansiedelt. Zugleich aber ist Facundo ein nachdrückliches Plädoyer für die Auslöschung der indigenen Ethnien, die Sarmientos Fortschrittspläne durch ihren angeblich barbarischen Charakter durchkreuzten. Dabei lag ihm das Wohl der ‚fortschrittlichen‘ argentinischen Nation sehr am Herzen, und er wusste, dass dieses nur durch eine gute Bildung zu erreichen war; so hatte er als Erziehungsminister in kurzer Zeit die Zahl der Schüler von 30.000 auf 100.000 angehoben. Während die wilden gauchos auf dem Land in dem von José Hernández gedichteten Nationalepos El gaucho Martín Fierro (1872) als Inbegriff der freiheitsliebenden, naturverbundenen Argentinier gefeiert worden waren, spricht Sarmiento diesen groben Burschen ohne Schulbildung das Existenzrecht ab. Er scheut nicht vor der Forderung zurück, deren Blut zu vergießen, auch wenn dies das einzig Menschliche an ihnen sei. Wenige Jahrzehnte später wird der realistische Romancier Ricardo Güiraldes in Don Segundo Sombra einen zwar immer noch düsteren, rauen gaucho darstellen, ihn aber ‚in die Schule schicken‘, um ihm eine (auch staatsbürgerliche) Bildung zu vermitteln, über die er wohl Ende der 1920er Jahre verfügte, als Borges in seinem berühmten Aufsatz über ‚den argentinischen Schriftsteller und die Tradition‘ („El escritor argentino y la tradición“) den gaucho, der den nationalen Findungsprozess samt ihrer literarischen Wildwüchse überlebt hat, durchaus als nationale Referenzfigur gelten lässt, aber eben nur und gerade den literarisierten gaucho. Zurück zu Sarmientos Epos Facundo: Während er einerseits unverhohlenen zu Meuchelmord und Genozid an den ‚Unzivilisierten‘ aufruft, beklagt er wenige Seiten später ein Massaker der mazorca, der Schlägertruppe Rosas’, des ungebildeten Viehzüchters aus der Pampa. Sarmiento ist ein pro-europäischer Intellektueller; um seine Forderung nach einer starken Zentralregierung, welche die Modernisierung Argentiniens konsequent voranzutreiben in der Lage wäre, zu unterstützen, dient ihm ein auf der Dichotomie gesund vs. ungesund basierendes Analysemodell, das in eine Theorie des sog. Hygienismus mündet. Als zwischen den 1860er und 1870er Jahren das Gelbfieber und andere Epidemien die Stadt am Río de la Plata heimsuchten, verdichtete sich ‚das Kranke‘ zum Feind Nummer eins, verstärkt in der Folge noch durch die Entdeckungen Listers und Pasteurs. Salessi schildert in seiner eingehenden Studien beispielreich die HygieneKampagnen der von Sarmiento (und später von dem Präsidenten Roca) angeführten argentinischen Regierungen und ihre Rhetorik des Körperlichen im Kontext der Nationenbildung. Die Gesundung der Nation als oberstes Ziel klingt nicht nur nach rassistischem Substrat, sie mündet auch direkt in rassistische Praxis. Obwohl Sarmiento und seine Anhänger einerseits die Einwanderung europäischer Juden nach Argentinien explizit und nachhaltig förderte (Alberto Ger-
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chunoffs Buch über die jüdischen Gauchos, Los gauchos judíos von 1910, legt Zeugnis davon ab), richtete er eine Politik der prophylaktischen Auslöschung gegen die verbliebenen indigenen Stämme besonders in Patagonien, eine Praxis des systematischen Genozids, dessen Ausmaß bis heute in Argentinien recht nachhaltig verschwiegen wird, obwohl sie ein wiederkehrendes Thema des Facundo ist. Dass aber auch argentinische Literaten die von Mosse eingehend beschriebene Kombination von Homophobie und Antisemitismus25 pflegten, legt Melo anhand von Julián Martels Roman La Bolsa (1891) dar, in welchem einem deutschstämmigen jüdischen Protagonisten mit gekauftem Adelstitel alles Üble zuzutrauen ist, selbst eine verwerfliche Beziehung zu einem jüngeren Glaubensgenossen...26 Die hygienistisch-rassistische Politik fördert durchaus – wie angedeutet – die Immigration, solange es sich um (Nord-)Europäer handelt. Die aufstrebende Nation sucht den Schulterschluss mit den europäischen Wissenschaftskonzepten, appliziert die Erkenntnisse einer positivistischen Medizin aus Europa, operiert z.B. zum ersten Mal ganz massiv mit Quarantänen für Einwanderer, so dass Adrián Melo gar von „Biopolitik“ spricht.27 Auch in Argentinien liefert der literarische Naturalismus die Entsprechung der positivistischen Wende in den Naturwissenschaften und appliziert gerade die sexualwissenschaftlichen Thesen und Konzepte des Maskulinen auf literarische Gesellschaftsmodelle, wie sie der bedeutendste argentinische Naturalist, Eugenio Cambaceres, entwirft. Nach Melo bildet José González Castillos Drama Los invertidos (1891), das eine naturalistische Ästhetik mit Referenzen auf Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) verbindet, einen Höhepunkt der Literarisierung von ‚wissenschaftlich‘ inspirierten Maskulinitätsmodellen.28 Auch in Buenos Aires bildet sich – wie etwa in Mexiko – ein wissenschaftsorientiertes Athenäum, dem berühmte Wissenschaftler und Politiker jener Jahre angehören, darunter Francisco de Veyga, Eugenio Díaz Romero sowie José Ingenieros, Autor einer Patología de las funciones psicosexuales, in der auch Homosexualität diskutiert wird. Im Schnittfeld von Administration, Wissenschaft und Literatur ist ein Sohn reich gewordener deutscher Einwanderer von besonderer Relevanz, Carlos Octavio Bunge, der mit seinen Geschwistern Delfina und
25 Siehe dazu George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt/M. 1997. 26 Melo: Historia de la literatura gay en Argentina, S. 72-85. 27 Siehe ebd., S. 34. 28 Siehe ebd., bes. das Kapitel „Los invertidos: la homosexualidad como aberración de la burguesía“, S. 92-103.
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Roberto die schriftstellerische Berufung teilt, deutlicher aber als jene die Spuren spätpositivistischer Wissenschaftskonzepte in sein essayistisches wie auch sein fiktionales Werk einfließen lässt.29 Gemäß der von Sarmiento geforderten Priorität der Volksgesundheit widmet sich Bunge der Erforschung der ‚Degeneration‘. Als Professor für Jura und Erziehungswissenschaft legt er ein besonderes Augenmerk auf die Reformen von Universität und Schule; er besucht Europa im Regierungsauftrag und trifft preußische Autoritäten. An Bunge, dem Einwanderersohn, der seine beispiellose dandyhafte Lebenspraxis durch einen inszenierten Traditionalismus ergänzt und dessen widersprüchliches Maskulinitätsmodell sicher auf eine Krise der Männlichkeiten hinweist, lassen sich zugleich das Ausmaß und die verheerenden Folgen des Kolonialismus aufzeigen – vielleicht auch so etwas wie eine spezifisch lateinamerikanische Krisenerfahrung. Wissenschaftlich verortet Bunge sich selbst als Vollender des Positivismus, er kritisiert Darwin als einen materialistischen Atheisten und will – ganz im Sinne des damaligen argentinischen Präsidenten Roca und ganz anders als der laizistische Juan Rafael Allende in Chile – gegen die erstarkende Arbeiterschaft den Schulterschluss mit der katholischen Kirche suchen, auch wenn er schulischen Religionsunterricht nicht befürwortet, da es keine argentinische Religion gebe. Programmatisch fordert Bunge den Ausschluss von ‚Anormalen‘ aus der Gesellschaft; er hängt einem normativen Zivilisationsprojekt an, das auf rassistischer Basis und mit geographischem Determinismus verschiedene zivilisatorische Evolutionsgrade feststellt und die lateinamerikanische Politik als Resultat einer kollektiven Psychologie interpretiert. Dabei ist Bunge ein Ästhet, der sich als Patrizier in Szene setzt. In seinen fiktionalen Werken treten sein Dandytum und sein verstiegenes Wissenschaftsmodell zu einer besonderen Mischung zusammen. Ging es in einem seiner Essays zur Degeneration um einen hermafroditismo intelectual, den er – mit Verweis auf die lateinische Antike – als Degenerationssymptom wertete, so greift er dies in dem Erzählband Viaje a través de la estirpe y otras narraciones (1908) wieder auf. In „La sirena“, der zweiten von acht Erzählungen, setzt Bunge das Phänomen der Verweiblichung von als männlich konzipierten Gesellschaften zum Auftauchen sogenannter ‚Sirenen‘ in Bezug, die nicht schlicht ‚neue (oder starke) Frauen‘ sind, sondern bedrohliche fleischfressende wilde Tiere.30 In einer anderen Erzählung („Un valiente“) geht es um den Maskulinisierungsprozess des jungen Peralta, eines kleinen, schwächlichen, kränklichen
29 Die Darstellung Bunges folgt hier Salessi: Médicos maleantes y maricas, S. 184-201, dort weitere Details. 30 Siehe ebd., S. 192.
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Jungen, also einer Figur, die alle Merkmale der antisemitischen Typisierung in sich vereint. Dieser Peralta tötet in einem Kampf von Mann zu Mann den nichtsnutzen Ganoven José Riera und wird dadurch (bzw. durch eine Art anschließender Suggestionstherapie) zum „valiente“, zum ‚Tapferen‘. Bunges panische Angst vor verweichlichten Männern und amazonischen Frauen, eine sehr eigene Form von Gender trouble, kommt wohl am evidentesten in seinem Roman Los envenenados (1908) zum Ausdruck, in dem er maskuline Frauen und feminine Männer auftauchen lässt und die großbürgerlichen Damen sich im Tango mit den armen italienischen Einwanderern einlassen. Die ‚Krankheit‘, an der diese Gesellschaft leidet, brachte die mondäne Protagonistin Lina, Vertreterin einer ‚Welt aus Hysterie und Perversion‘ („mundo de histerismo y perversión“31) aus Europa mit. Spanien gegenüber war Bunge eher gleichgültig; die im Zeichen der nationalen Selbstständigkeit häufig anzutreffende Ablehnung des früheren Mutterlandes fand er absurd, vielmehr forderte er eine Vereinigung der aufgeklärten, europäischen und weißen Kräfte gegen die irrationalen Instinkte des niedrigen, eingeborenen, indigenen, afrikanischen und mestizischen Volks. Ganz im Gegensatz also zu Allendes Inszenierung des Mestizen oder des ‚Araukaners‘ als virile Kraft Chiles, bleibt in der von europäischen Einwanderern bestimmten argentinischen Gesellschaft die hegemoniale Potenz in den Händen der ‚gesunden‘ Weißen; sie teilen indes ein heteronormatives und hygienistisch ausgerichtetes Männlichkeitskonzept, das im weiteren 20. Jahrhundert die Zunahme von Manifestationen homosexueller Praxis nicht verhindert; Argentinien bekommt 30 Jahre später einen schwulen Staatspräsidenten und im frühen 21. Jahrhundert, im Zeichen des laizistisch ausgerichteten Neo-Peronismus der Kirchners, als erstes Land der Amerikas das uneingeschränkte Recht zu Heirat und Adoption für gleichgeschlechtliche Paare.
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ZWISCHEN DEM SEÑOR BARROCO UND DEM HOMBRE NUEVO Bezüglich des (relativen) Dekolonialisierungsprozesses ging Kuba bekanntlich insofern einen Sonderweg, als dort nicht – wie etwa in Mexiko – das von Carlos Fuentes benannte „trauma de la Conquista“ den Autonomieprozess begleitete und dass auch das für die mexikanische Selbstfindung charakteristische Anknüpfen an präkolumbine Kulturen nicht möglich war, weil diese nahezu vollständig ausgerottet waren. In der Kulturgeschichte Kubas hatte sich, so beschreibt
31 Zit. nach ebd., S. 192.
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es José Lezama Lima in dem ersten der unter dem Titel La expresión americana 1955 als Vortragsreihe verfassten Essays (mit dem Titel „La curiosidad barroca“), der Typ des señor barroco durchgesetzt, eines spanischstämmigen, wohlhabenden Herrn mit beeindruckender Bibliothek und hoher kultureller wie menschlicher Kompetenz. Ihm mag es geschuldet sein, dass die kubanischen Eliten fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch bezüglich der Loslösung vom Mutterland noch unentschiedener blieben als in der leidigen Abolitions-Frage. Ob der señor barroco, wie ihn Lezama schildert, sich der Zustände in den Baracken der Sklaven bewusst war, wissen wir nicht. Aus Cirilo Villaverdes Cecila Valdés o la Loma del Ángel, dem Habanenser Großstadtroman des 19. Jahrhunderts schlechthin, kennen wir aber durchaus die rivalisierenden Maskulinitätsmodelle, wenn etwa die wunderhübsche titelgebende Mulattin, die fast, aber eben nur fast, eine Weiße sein könnte, von dem weißen, aber bösen Leonardo, Sohn des hacendero, verlassen wird, und sie Pimienta, den Schwarzen, der sie vergeblich aber innig liebt, zum Mord an ihm anstachelt. In der Auflösung der Intrige am Ende wird sich Leonardo natürlich auch noch als ihr Halbbruder erweisen, um dem melodramatischen plot auch noch die Pikanterie des Inzests hinzuzufügen. Offensichtlich schildert Villaverde eher einen verlotterten señor barroco, der ein ethnisch differenziertes ‚Frauenbild‘ bestätigt, wie es Víctor Fowler für die kubanische Gesellschaft jener Zeit beschrieben hat: die Weiße für die Heirat, die Schwarze für die Arbeit und die Mulattin fürs Bett.32 So einfach geht es allerdings unter Männern nicht. In ihrem Aufsatz „Héroes nacionales, Estado viril y sensibilidades homoeróticas“33 geht Beatriz González Stephan zwar nicht auf diese Genealogie des señor barroco ein, doch stellt sie die hegemoniale Position einer weißen, spanischstämmigen, teils aristokratischen Elite heraus, einer falocracia de letras, einer phallokratischen Intellektuellen-Kaste, die im Augenblick der allzu spät erreichten nationalen Selbstständigkeit buchstäblich in die Krise gerät. Literarisch war die Krise der Elite vorbereitet bzw. begleitet von einer ganzen Schar literarischer Figuren aus dem modernistisch-dekadenten fin de siglo-Roman34: von scheiternden Helden, krank, verweichlicht und nicht selten ruiniert durch eine finanziell oder – noch besser – se-
32 Víctor Fowler: La maldición: una historia del placer como conquista, La Habana 1998. 33 Beatriz González Stephan: „Héroes nacionales. Estado viril y sensibilidades homoeróticas”, in: Anna Peluffo/Ignacio M. Sánchez Prado (Hrsg.): Entre hombres. Masculinidades del siglo XIX en Latinoamérica, Madrid/Frankfurt/M. 2010, S. 23-58. 34 Vgl. dazu Klaus Meyer-Minnemann: Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, Tübingen 1979.
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xuell nie zu befriedigende Frau (so etwa in Manuel Díaz Rodríguez’ Ídolos rotos, um nur ein Beispiel anzuführen). Im Zeichen all der an Krankheit, Wahnsinn und Verweichlichung leidenden Männer spricht Beatriz González Stephan explizit vom Mann als einer „figura en crisis“35. Auch der kubanische Revolutionsheld und Autor José Martí gehörte dieser weißen privilegierten Schicht an, und auch er schrieb mit Amistad funesta (1885) einen modernistischen Roman über einen schwachen, in der ungezügelten Liebe zu einer Frau aufgehenden und scheiternden Mann. Im nordamerikanischen Exil allerdings lernt Martí, dass der Dekadenzdiskurs besser durch ein Lob des Optimismus zu ersetzen sei.36 Sein bekannter programmatischer Essay „Nuestra América“ (1891), ein wahres Manifest und Vorbild all der massenhaft folgenden Selbstdefinitionsbestrebungen der sogenannten lateinamerikanischen Identität, spricht nicht von der Krise, sondern von dem Erreichten. Anders als unter der kapitalistischen Unmenschlichkeit Nordamerikas habe sich das ehemals spanische Amerika eine tiefe Menschlichkeit bewahrt; in Kuba etwa sei der Befreiung der afrokubanischen Sklaven deren völlige Gleichstellung gefolgt. Dass dies wohl recht weit von der Wahrheit entfernt war, ist ebenso wichtig wie der politische und kulturhistorische Wille, der diese Aussage und ihre performative Wirkung bestimmt und begründet. Es ist eine mutig behauptete Gegenreaktion gegen die manifesten Krisendiskurse, die sich nicht nur im fin de siglo-Roman finden, sondern in der Präsenz und Performanz von Trägern einer dekadenten, spätmodernistischen Ästhetik, für die symptomatisch der Name Julián del Casal steht. Der prototypische kubanische Dandy der Jahrhundertwende, der in einen seidenen Kimono gewandet den nicaraguanischen Modernisten Rubén Dario im orientalistischen Interieur seiner Wohnung empfängt, provoziert das politisch erwachte Havanna; wir können in ihm den diskursiven Gegenspieler Martís (gemäß der Interpretation von Francisco Morán37) sehen. Casal wird in der Folge als ein ‚kubanischer Oscar Wilde‘ Referenzpunkt der florierenden transgressiven Schwulen- und Transvestitenszene der Insel bleiben, anschlussfähiger im Diskurs des nationalen und internationalen mainstream wird jedoch Martí. Weil er den Freiheitskrieg über lange Zeit aus dem nordamerikanischen
35 Ebd., S. 29. 36 Vgl. zu den Überwindungsstrategien von Dekadenzdiskursen im Fin de Siècle auch den für den europäischen Kontext aufschlussreichen Text von Walburga Hülk und Britta Künkel in diesem Band. 37 Siehe Francisco Morán: „‚Telas raras‘, ‚turbantes inverosímiles‘: posando en el Barrio Chino de la escritura modernista“, in Peluffo/Sánchez Prado (Hrsg.): Entre Hombres, S. 167-189.
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Exil heraus verfolgte, bezeichnete sich Martí gern als „soldado de las letras“ (‚Soldat der Schrift‘) oder als „guerrero de la pluma“ (‚Kämpfer mit der Feder‘) und als solcher freilich stets „al servicio de la construcción de la patria“ (‚im Dienst des Aufbaus des Vaterlandes‘). Auch die sujetos letrados, die alte intellektuelle Elite, fordert Martí auf, ‚Waffenbrüder‘ zu werden. So bedient er in seinem kulturhistorischen Essay „Nuestra América“ gleich zwei persistente Feindbilder: Er wendet sich gegen das kolonialistische Spanien und gegen die imperialistischen USA zugleich. Sein Modell eines guten, egalitären und menschlichen, zugleich kampfbereiten Kuba bleibt auch noch für die Träger der Revolution von 1959 paradigmatisch, eine homosoziale Gesellschaft weißer Idealisten, die sich als Neue Männer, als hombres nuevos empfanden und definierten, denen die Alphabetisierungskampagne ebenso wichtig wie die Vergesellschaftung des Privateigentums war. Leider beförderte die Durchsetzung des vom máximo líder ausgegebenen Slogans „Dentro de la revolución, todo, fuera de la Revolución, nada“ (‚Innerhalb der Revolution alles, außerhalb nichts‘) den Glauben, dass es erlaubt sei, Tausende von Homosexuellen, die dem Ideal des hombre nuevo nicht entsprachen, als gusanos (‚Würmer‘) zu diffamieren und in die Arbeitslager und Gefängnisse zu werfen, bis erst vor wenigen Jahren ein grundlegender Richtungswechsel verordnet und erreicht werden konnte.38
W HAT
CRISIS ?
Aus den Rückblicken auf die drei geographisch, kulturell und historisch stark unterschiedlichen lateinamerikanischen Kulturräume Chile, Argentinien und Kuba lässt sich schwerlich eine einheitliche Entwicklungslinie abstrahieren. Dennoch finden sich in jedem der betrachteten Länder um die Wende zum 20. Jahrhundert manifeste Indizien einer ‚Krise der Männlichkeiten‘, deren besonderer Charakter aus den Bedingungen einer im Umbruch befindlichen postkolonialen Gesellschaft im Verbund mit der Reaktion auf den wissenschaftlichen Positivismus europäischer Prägung resultiert. Es handelt sich zum Teil um Krisenerfahrungen, die neue positive Perspektiven eröffnen, etwa Chancen auf tolerante-
38 Bestes Zeugnis der vollkommen veränderten aktuellen Maskulinitätspolitik ist das von dem Historiker und Kulturtheoretiker Julio César González Pagés geleitete Netzwerk „Red Iberoamericana y Africana de Masculinidades“, das die wissenschaftliche Erforschung von Maskulinitätsmodellen mit praktisch-didaktischen Zielrichtungen (Vermeidung von Misogynie, Homophobie, Gewalt im Sport usw.) verbindet; siehe www.redmasculinidades.com (Zugriff am 09.01.2014).
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re, respektvolle oder auch gesetzlich geregelte Umgangsformen mit Minderheiten, wie sie heute, ein Jahrhundert später, in allen drei Beispielländern in unterschiedlichem Maße anzutreffen sind. Zum größeren Teil allerdings sind es Krisen, die in der synchronen Perspektive von 1900 bestehende hegemoniale Männlichkeitsmodelle aufnehmen und neue entstehen lassen, zu denen sich sehr oft misogyne, rassistische oder kriegsverherrlichende Entwürfe hinzu addieren. In seiner Untersuchung Hombres in/visibles. La representación de la masculinidad en la ficción latinoamericana betont Mark Millington, dass die Krise der Männlichkeiten in Lateinamerika, die er über das 21. Jahrhundert hinweg verfolgt, nicht bloß eine Reaktion auf die zeitgenössische Krise der Männlichkeit in Europa sei.39 Er verweist auf Raewyn Connell, die explizit den Versuch verwirft, eine positivistische Wissenschaft von der Männlichkeit im Weg transkultureller Verallgemeinerungen zu produzieren. Dies gilt auch und gerade für die Zeit des nation building in Lateinamerika, eine Zeit der Infragestellung kolonialer Maskulinitäten und der Suche nach ‚neuen Männern‘ angesichts dynamischer Kategorien von Gender, Ethnie und politischer Hegemonie, die erst durch jüngere Forschungen allmählich in ihrer ganzen Vielschichtigkeit ausgelotet werden. Entsprechend war es das Ziel der vorausgehenden Überlegungen, die Krise der Maskulinitäten nicht als eine universelle Begleiterscheinung ‚des Männlichen‘ aufzufassen, sondern sie aus der Spezifik der historischen Situation Lateinamerikas heraus an literarischen Fallbeispielen zu kommentieren.
39 Siehe Mark Millington: Hombres in/visibles. La representación de la masculinidad en la ficción latinoamericana 1920-1980, Bogotá 2007, S. 14.
Dandys und Dandy-Fantasien Von Huysmans und Montesquiou zu Proust und den Ballets russes V OLKER R OLOFF
V ORBEMERKUNG Es geht um die Frage, wie weit die Figur des Dandys von literarischen Modellen und jeweils zeittypischen Diskursen bestimmt wird. Die Faszination des Dandys, die Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht, ist ein zentrales Thema bei dem Versuch, ‚Männlichkeiten um 1900‘ zu untersuchen und dabei insbesondere die kulturellen und sozialen Veränderungen, die Brüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu erfassen, Veränderungen, die zugleich auch mit ‚Medienumbrüchen‘ verbunden sind. Zu fragen ist weiter, ob die Figur des Dandys im 20. Jahrhundert überhaupt fortlebt und noch relevant ist, wie z.B. Susan Sontag in ihrem berühmten ‚Camp‘-Essay erläutert1 – oder ob der Dandy in der Zeit der sog. Massenmedien seine Existenz verloren hat, wie z.B. Roland Barthes und viele Dandy-Historiker behaupten.2
1
Susan Sontag: „Anmerkungen zum Camp“ [1961], in: dies.: Kunst und Antikunst, Frankfurt/M. 1999, S. 322-341.
2
Roland Barthes: „Le dandyisme et la mode“, in: ders.: Système de la mode, Paris 1967. Vgl. Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988; Günter Erbe: Dandys – Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des modernen Lebens, Köln 2002. Zur Frage der Aktualität des Dandy auch Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandy. Eine Archäologie, Bielefeld 2008, S. 307 ff.
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Eine wichtige Grundlage bilden die Arbeiten von Ursula Link-Heer und Gregor Schuhen, die sich vor allem mit Robert de Montesquiou, dem berühmten Dandy der Belle Epoque beschäftigen, und mit seinem literarischen Double, dem Baron de Charlus in Prousts A la recherche du temps perdu.3 Ich kann in meinem Beitrag daran anknüpfen und werde versuchen, einen weiteren Aspekt hervorzuheben: die Dandy-Fantasien bei Huysmans (A rebours), Oscar Wilde (The Picture of Dorian Gray)4 und in den Pariser Inszenierungen der Ballets russes, die nicht nur für Montesquiou und Proust, sondern für die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine beachtliche Rolle spielen. In diesem Zusammenhang entsteht – so mein Leitgedanke – ein ‚Szenario‘, das man, wie Nancy van Norman Baer im Blick auf die Ballets russes formuliert, als „androgynen Raum“ definieren kann,5 als einen Spielraum außerhalb fixierter, konventioneller Geschlechterrollen, verbunden mit einer ‚neuen Mythologie‘ der Avantgarden, die vor allem von den Surrealisten entwickelt wird. Die meist als dekadent bezeichneten Fantasien des Fin de Siècle führen nach der Jahrhundertwende zu neuen, grotesken Spielformen, zu Theater-, Film- und Medienexperimenten, die die jeweils neuen Medien
3
Ursula Link-Heer: „Robert de Montesquiou. Vom ikonisierten Leben zur Literatur oder das Problem der Preziosität”, in: Gerhard Härle/Wolfgang Popp/Annette Runte (Hrsg.): Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der männlichen und weiblichen Homosexualität in Literatur und Kunst, Stuttgart 1997, S. 251-290. Ursula Link-Heer: „Mode, Möbel, Nippes, façons et manières. Robert de Montesquiou et Proust“, in: Thomas Hunkeler/Luzius Keller (Hrsg.): Marcel Proust und die Belle Epoque, Hamburg 1999, S. 84-123; Ursula Link-Heer, „Sic transit gloria mundi. Marcel Proust und Robert de Montesquiou“, in: Jürgen Ritte/Rainer Speck (Hrsg.): Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz, Köln 2009, S. 141-158; Schuhen Gregor: „Der bewegte Mann. Proust und die Ästhetik des verschwindenden Körpers“, in: Ursula Link-Heer/Ursula Henningfeld/Fernand Hörner (Hrsg.): Literarische Gendertheorie. Eros und die Gesellschaft bei Proust und Colette, Bielefeld 2006, S. 149-166; Gregor Schuhen, „A Star is born. Charlus als Kunstfigur bei Proust, Schlöndorff und Ruiz”, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hrsg.): Proust und die Medien, München 2005, S. 129-144; Gregor Schuhen: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust, Heidelberg 2007.
4
Joris-Karl Huysmans: A rebours [1884], hrsg. von Marc Fumaroli, Paris 1977 (im Folgenden zitiert mit der Sigle AR und Zeitenzahl); Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray, London 1890 (dt. Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer, Frankfurt/M. 2006).
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Nancy Van Norman Baer: „Die Aneignung des Femininen. Androgynität im Kontext der frühen Ballets russes“, in: Claudia Jeschke/Ursula Berger/Birgit Zeidler (Hrsg.): Spiegelungen. Die Ballets russes und die Künste, Berlin 1997, S. 35-53, hier S. 39.
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miteinbeziehen. Dies findet man in Ansätzen schon bei Huysmans und Proust, besonders aber bei den Ballets russes in den Inszenierungen, an denen u.a. Apollinaire, Cocteau, Picasso, Satie und Tänzer wie Nijinski beteiligt sind. Die Figur des Dandys erscheint geradezu als Musterbeispiel für die Wechselbeziehungen historischer sowie kultureller und ästhetischer Entwicklungen, für die Verschachtelung des kollektiven und individuellen Imaginären: die Theatralität der Gesellschaft, und die Kunst einer besonderen, exzentrischen, individuellen Inszenierung. Bei den Dandys bzw. dem Modell des Dandys handelt es sich – wie Gregor Schuhen zu Recht betont – um „ein höchst artifizielles wie performatives Konstrukt“, dessen „wesentliche Grundeigenschaften […] streng genommen im Bereich der Bühnenkunst zu suchen sind: Maskerade, Affektkontrolle, Kostümierung, Redegewandtheit, Verstellungskunst.“6 Wenn man in diesem Sinne den Dandy als übersteigerte, theatrale Form der Selbst-Inszenierung, als Inszenierungskünstler versteht,7 so gelangt man zu einem erweiterten Begriff des Theaters, der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, seit Erwing Goffmans und Sartres Analyse der Alltagstheatralität, eine theoretische Basis gefunden hat, aber im Grunde mit dem Topos des theatrum mundi, der Welt als Bühne, eine lange Geschichte hat und von daher aktuelle Theatertheorien inspiriert.8 Das Theater, im ursprünglichen Sinne der Ort der Schaulust (theatron), hat seit langem die Bühne der Gesellschaft, ihre Inszenierungen, Feste, Rituale und alltäglichen Schauspiele erreicht – so wie umgekehrt Literatur, Theater und bildende Künste die Theatralität der Gesellschaft darstellen und reflektieren. Im 19. Jahrhundert sind es vor allem Romane, die von mir sog. ‚Theaterromane‘, die das
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Vgl. Gregor Schuhen, „Dandy, Dichter, Demagoge – Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoque“, in: Marijana Erstić/ders./Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 321-360, hier S. 325.
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Ebd., S. 331; vgl. Roman Meinhold: Der Mode-Mythos. Lifestyle als Lebenskunst, Würzburg 2005, S. 110ff.
8
Vgl. Volker Roloff: „Le Scénario Freud“, in: ders./Michael Lommel (Hrsg.): Sartre und die Medien, Bielefeld 2008, S. 79-107, hier S. 82ff. mit Bezug auf Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959. Vgl. Erika FischerLichte: „Inszenierung und Theatralität“, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft – ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 81-92.
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Bühnentheater und die Theatralität der Gesellschaft zusammenführen und kritisch analysieren, nach dem Modell der Comédie humaine von Balzac.9 So ist der Dandy eine Erfindung der Theaterromane des 19. Jahrhunderts, ein im Wesentlichen literarisches Phänomen, das insbesondere mit dem Roman als dem Leitmedium verbunden ist und erst allmählich weitere Medien wie z.B. Malerei und Fotografie, Modejournale und dann auch den Film erfasst. Dieser Gedanke ist nicht ganz neu; in vielen Studien wird deutlich, in welchem Maße z.B. Balzac, Stendhal, Barbey d’Aurevilly, Baudelaire, Wilde und Huysmans in ihren Romanen (sowie in Erzählungen und Essays) die Figur des Dandys schaffen und den Dandy-Kult hervorbringen. Auch die historischen Dandys von George Brummel bis zu Robert de Montesquiou, die ihrerseits die Moden beeinflussen, sind in diesem Sinne Produkte der Literatur. Nicht Brummel, sondern Balzac hat mit Henri de Marsay, so Hiltrud Gnüg, einen „Charakter erfunden, der dem klassischen Ideal des Dandys am reinsten entspricht.“10 Ich werde im Folgenden zeigen, wie sehr schon die spezielle Problematik des Dandy, die von Gregor Schuhen sog. „erotischen Maskeraden“, in den Theaterromanen angelegt ist – oder zumindest angedeutet wird. Die Dandy-Fantasien der fiktiven Dandys der Romane sind daher noch interessanter als die oft sehr detaillierten Beschreibungen ihrer Kleidung und Lebensweise; die Fantasien werden zum Angelpunkt der kritischen Reflexion und Impuls für neue Entwicklungen, die dann Anfang des 20. Jahrhunderts u.a. in den Avantgarden eine Rolle spielen.
H UYSMANS Als erstes Beispiel wähle ich Huysmans’ Roman A rebours aus dem Jahr 1884. Huysmans, als Schriftsteller im Kreis der sog. ‚Naturalisten‘ schon bekannt, hat keine Neigung, selbst als Dandy aufzutreten, aber er entwickelt ein Romanprojekt, in dem der Dandy eine zentrale Rolle spielt. Er schreibt seinem Freund Mallarmé von seinem neuen Romanprojekt:
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Vgl. Volker Roloff: „Prousts Recherche als Theaterroman“, in: Matei Chihaia/Katharina Münchberg (Hrsg.): Marcel Proust: Bewegendes und Bewegtes, München 2013, S. 113-126.
10 Gnüg: Kult der Kälte, S. 87; dazu auch Schuhen: „Dandy, Dichter, Demagoge“, S. 342f. zu Henri de Marsay. Vgl. bei Balzac z.B. auch die Dandys Lucien de Rubempré (bes. in Illusions perdues) und Eugène de Rastignac in vielen Romanen der Comédie humaine.
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Le dernier rejeton d’une grande race se réfugie, par dégoût de la vie américaine, par mépris de l’aristocratie d’argent qui nous envahit, se réfugie dans une définitive solitude. […] Il se consumera dans la lecture de Poe, de Baudelaire et Verlaine, dans l’admiration des œuvres de Mireau et d’Odilon Redon.11
Huysmans orientiert sich an dem Bild des Dandys, das Balzac, Barbey d’Aurevilly, Baudelaire u.a. geschaffen haben; und er übernimmt in seinem Romanprojekt die elitäre Kritik an der ‚Massenkultur‘ einer bürgerlichen Gesellschaft, der schon im 19. Jahrhundert sog. ‚Amerikanisierung‘ – in einer typischen Protesthaltung, in der die traditionelle restaurative Aristokratie mit vielen zeitkritischen Künstlern und Intellektuellen übereinstimmt. Huysmans ist fasziniert von diesem Typ des Dandys, aber er entwickelt in seinem Roman zugleich auch eine Distanz, die, wie zu zeigen bleibt, vor allem an den grotesken DandyFantasien seines Protagonisten deutlich wird. So entsteht der Spielraum für eine, wie man es nennen könnte, sekundäre Theatralität, eine scène de l’écriture, die die prinzipielle, ursprüngliche Theatralität, die allen Dandys eigen ist, steigert, überbietet und bereits ad absurdum führt. Anzumerken bleibt, dass Mallarmé das Projekt von Huysmans als „magnifique“ lobt und ihm zugleich mitteilt: „Et ce qu’il y a de plus singulier, c’est que le jeune homme, descendu d’un portrait ancêtre, est vivant dans un monde sacrifié des songes que nous aimons, existe à Paris.“12 Es handelt sich um den damals noch sehr jungen Robert de Montesquiou, den Mallarmé gut kannte. So erfährt Huysmans einzelne Details über Montesquiou, die er in seinem Roman verwenden wird, wie z.B. die vergoldete Schildkröte, die Montesquiou eine Zeit lang hatte und die von Des Esseintes, dem Dandy in A rebours, noch zusätzlich mit Brillanten geschmückt wird (AR, 127ff.). Die Vorlieben von Montesquiou und Des Esseintes sind schon deshalb weitgehend vergleichbar, weil sie in der Literatur und den Künsten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgegeben sind: die Lektüre von Balzac, Barbey d’Aurevilly, Poe, Baudelaire, Ruskin; die Faszination für die Bilder von Gustave Moreau, für japanische und orientalische Decors und Interieurs; das Interesse für exotische Blumen und Gärten, Parfums und Drogen. Des Esseintes ist aber in mehrfacher Hinsicht exzentrischer als Robert de Montesquiou. Während z.B. Montesquiou in der Tradition Brummels in der Öffentlichkeit eher diskret auftritt, mit elegantem dunklen Anzug, Spazierstock und Zylinder, „[...] s’acquit la réputation d’un excentrique qu’il paracheva en se
11 Robert de Montesquiou ou l’art de paraître, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Musée d’Orsay, Paris 1999, S. 23. 12 Ebd.
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vêtant de costumes de velours blanc, de gilets d’orfroi, en plantant, en guise de cravate, un bouquet de Parme dans l’échancrure décolletée d’une chemise“ (AR, 89) oder indem er z.B. ein luxuriöses Dîner veranstaltet mit Einladungskarten, die wie Todesanzeigen aussehen: „Le dîner de faire part, d’une virilité momentanément morte“ (AR, 90) und einem Orchester, das Trauermärsche spielt. Der gesamte Roman von Huysmans ist darauf angelegt, die Dandy-Fantasien und Extravaganzen bis zum Äußersten zu steigern. Bei Des Esseintes geht es aber nicht nur das mondäne Theater, sondern die Inszenierung des Rückzugs aus der Gesellschaft, um eine Ausweitung des inneren, subjektiven und imaginären Theaters, die Erfindung immer neuer bizarrer Rollenspiele, die Suche nach unbekannten Reizen und Nervenkitzel. Spektakuläre Beispiele sind zwei Bilder von Gustave Moreau, Salomé und L’apparition (AR, 141ff.), die Des Esseintes nicht nur erregen, sondern die er quasi vor seinem inneren Auge neu inszeniert, in Bewegung setzt, literarisiert und dramatisiert. So entsteht – avant la lettre – ein surreales, groteskes Theater, der Versuch, das Alptraumhafte, den Schrecken, das Unheimliche der Bilder in Theaterszenen zu verwandeln, d.h. in ‚scènes de l’écriture‘ im Zwischenraum zwischen den Medien Malerei, Theater und Literatur. Ähnliches geschieht mit den Dämonen und Gespenstern der Zeichnungen von Rodolphe Bresdin (Comédie de la mort), den Bildern von Odilon Redon und nicht zuletzt Goya (AR, 153ff.). Die Theatralisierung geht so weit, dass Des Esseintes eine Bauchrednerin für ein privates Schauspiel in sein Palais holt, damit sie ihm – nach dem Muster des grotesken ‚Liebesduells‘ in Flauberts Tentation de Saint Antoine – das Zwiegespräch zwischen Sphinx und Chimäre vorführt (AR, 210ff.). Es ist offensichtlich, dass in diesen und vielen anderen Szenen die Sexualität eine Rolle spielt, wobei die am Anfang des Romans erwähnte „effémination des mâles“ (AR, 78) schon der Vorfahren auch bei Des Esseintes zu androgynen Fantasien führt. Aber dahinter steht auch eine narzisstische Spielfreude, der Versuch eines Rollentauschs, besonders in der Beziehung zu Miss Urania, einer kräftigen muskulösen Zirkusakrobatin, deren Auftritte, so glaubt Des Esseintes, ein „artificiel changement de sexe“ zum Ausdruck bringen: „en un mot, après avoir tout d’abord été femme, puis, après avoir hésité, après avoir avoisiné l’androgyne, elle semblait se résoudre, se préciser, devenir complètement un homme“ (AR, 206). Des Esseintes versucht, ebenfalls die Rollen umzukehren, sich nun selbst in eine Frau zu verwandeln, um Uranias Liebe zu gewinnen, aber der Geschlechtertausch misslingt am Ende. Der Theaterroman von Huysmans bietet Anlass für weitere Analysen. Es handelt sich um das Psychogramm eines Dandys und neurotischen Ästhetikers,
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der – in der Sicht des Autors – als höchst problematischer Fall geschildert wird. Umso erstaunlicher ist aber die Wirkung in der Literatur und Kunst des Fin de Siècle: Huysmans hat – mit der Figur des Des Esseintes – das Modell des Dandys der Décadence geschaffen. Wie schon in der Zeit der Romantik sind die fiktiven Dandys, die auch schon bei Balzac eher kritisch gesehen werden, mit ihren Fantasien und Fantasmen eindrucksvoller und attraktiver als die meisten realen Nachahmer. Den zeitgenössischen Lesern, insbesondere den Literaten im Umkreis von Robert de Montesquiou, war sofort klar, dass Des Esseintes nur unter Vorbehalt mit Robert de Montesquiou vergleichbar ist. Ein zentraler Unterschied liegt darin, dass der introvertierte Des Esseintes, der sich von der Gesellschaft zurückzieht, in ein inneres, imaginäres Theater der Lektüre, Tagträume und Bilder gerät, im Gegensatz zu dem mondänen Montesquiou, der die Bühne der Gesellschaft, der Salons und Künstlerfeste sucht und dominiert. Aber die Wirkung von Huysmans’ Roman geht immerhin so weit, dass Montesquiou seinerseits verschiedene Merkmale und Neigungen Des Esseintes’ übernimmt und weiterverfolgt, z.B. das Interesse für die fantastischen und grotesken Zeichnungen von Rodolphe Bresdin, die Des Esseintes faszinieren, und die Montesquiou später (1912/13) zu zwei beachtenswerten Publikationen über Bresdin inspirieren.13 Der reale Dandy ist, wie bereits angedeutet, eine Kunstfigur, die von literarischen und künstlerischen Vorbildern und Moden abhängig ist. Der – neben A rebours – wichtigste Theaterroman des Fin de Siècle, Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890) reflektiert genau diesen Zusammenhang, in besonders anschaulicher und raffinierter Weise – zunächst dadurch, dass in dem Roman selbst die Lektüre von A rebours zum Schlüsselerlebnis für Dorian Gray wird und dessen Leben als Dandy radikal verändert. Die Figur Des Esseintes verführt Dorian Gray zu bizarren Nachahmungen, von den verdeckten homoerotischen bis hin zu den grausamen Fantasien, die schließlich seine Existenz zerstören – im Spiegel des magischen Bildes und in der Realität des Romans.14 Der Roman von Oscar Wilde bestätigt die ironischen Aphorismen von Lord Henry, die schon anfangs formuliert werden, z.B. dass das Theater (und auch die Literatur insgesamt) sehr viel wirklicher als das Leben sei.15 Dem entspricht auch ein Gedanke von Oscar Wilde selbst, der in seinem Dialog-Essay The Decay of Lying (1891) auf die Frage nach dem größten Un-
13 Vgl. Robert de Montesquiou: Rodolphe Bresdin, Paris 1912 und ders.: L’inextricable Graveur: Rodolphe Bresdin, Paris 1913. 14 Wilde: The Picture of Dorian Gray, Kap. 11. 15 Ebd., S. 112.
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glück in seinem Leben geantwortet hat: „Der Tod von Lucien de Rubempré [in Splendeurs et misères des courtisanes; V.R.] ist eine der größten Tragödien meines Lebens.“16 Proust kommentiert diese Äußerung als Antizipation des dramatischen Schicksals, das Oscar Wilde später selbst treffen wird: „quelques années plus tard, il devait être Lucien de Rubempré lui-même“17 – und Proust wird, mit der Figur von Charlus, auf die Problematik dieser für die Existenz des Dandys zentralen Formel in seinem Roman zurückkommen.18
M ONTESQUIOU Die Theaterromane von Huysmans und Oscar Wilde zeigen die fiktiven Dandys als faszinierende aber auch problematische Figuren, die hinter der Maske aristokratisch-distinguierter Männlichkeit zu alternativen Rollenspielen und surrealen Maskeraden neigen. In dieser Hinsicht sind reale Dandys wie Montesquiou und seine literarischen Doppelgänger – Des Esseintes und Charlus – verwandt. Die Fantasien der Dandys relativieren – auf Grund ihrer Theatralität – die Unterscheidung von Imagination und Wirklichkeit, Bühnenspiel und gesellschaftlichem Leben. Robert de Montesquiou gilt – ähnlich wie Brummel für die Zeit der Romantik – als Prototyp und Musterbeispiel des Dandys der Belle Epoque. Er gehört, anders als Brummel, wirklich zum höchsten, uralten Adel, der, wie man nicht vergessen sollte, zumindest bis zum Ersten Weltkrieg nach wie vor eine besondere Rolle in der französischen Gesellschaft spielt, trotz der zunehmenden Bedeutung der Bourgeoisie. Robert de Montesquiou betont seine aristokratische Herkunft, die Verwandtschaft mit Königen, er legt Wert auf Distinktion, Exklusivität, er verachtet den Geldadel, die neue Bourgeoisie – aber er versteht sich auch als Künstler, Intellektueller und Schriftsteller, als Repräsentant einer geistigen Elite, wie sein Vorbild Baudelaire. Als „Mécène et dandy“ fördert er nicht nur viele Künstler, sondern versucht selbst kreativ zu sein, als Autor, Maler, Zeichner, Sammler, Schauspieler, Designer, Gartenarchitekt, als Regisseur seiner eigenen Feste, Lesungen und Konzerte.19 Er sucht und erneuert ständig seine
16 Oscar Wilde: „Der Verfall der Lüge“, in: ders.: Werke, hrsg. von Rainer Gruenter, Bd. 1, München/Wien 61996, S. 403. 17 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, hrsg. von Pierre Clarac, Paris 1978, S, 273. 18 Vgl. im Folgenden Kap. 5 des vorliegenden Beitrags. 19 Vgl. im Einzelnen Patrick Chaleyssan: Robert de Montesquiou. Mécène et dandy, Paris 1992; Elisabeth de Clermon-Tonnerre: Robert de Montesquiou et Marcel Proust,
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Kontakte mit den wichtigsten Künstlern seiner Zeit.20 Eine besondere Vorliebe gilt dem Theater und der Oper, seit 1909 vor allem den Ballets russes. Robert de Montesquiou vereinigt viele Dandy-Traditionen und Dandy-Klischees, und er erweitert als ‚Inszenierungskünstler‘ das Spektrum. Er entspricht in perfekter Weise dem Ideal des Gentleman, der sich, wie Brummel und seine Nachahmer, comme il faut kleidet, mit betonter, vornehmer Männlichkeit, z.B. in den von ihm selbst bestellten Bildern von Boldini, Blanche und Whistler. Und hier kann man feine Unterschiede entdecken: interessanter und einfallsreicher sind aber die Rollenspiele und Maskeraden, die Montesquiou z.B. bei Maskenbällen und in seinen Foto-Alben präsentiert, in einer umfangreichen Sammlung, die er selbst ‚Ego image‘ nennt.21 Montesquiou erscheint hier in exotischen, orientalischen und japanischen Gewändern, in französischen Kostümen aus der Zeit von Louis XIV und XV, als Schauspieler in verschiedenen Rollen, oder auch in Sportkleidung, mit einer Vorliebe für groteske und surreale Inszenierungen. Die Pariser Ausstellung aus dem Jahr 2000 im Musée d’Orsay mit dem gut gewählten Titel „Robert de Montesquiou ou l’art de paraître“ bietet dafür viele Beispiele.22 Schon die Kleidung bei den öffentlichen Auftritten und die eher privaten Verkleidungen verraten eine Ambiguität, die – wie Gregor Schuhen, Barbara Straumann und Ursula Link-Heer betonen23 – scheinbar verschiedene Inszenierungsmodelle erkennen lässt, nämlich den traditionell „männlich codierten Selbstentwurf“ als vornehmer Dandy und auf der anderen Seite die Freude am Spiel, an originellen Kostümierungen, Maskeraden, Travestien, die das „klassisch-binäre Geschlechterparadigma“ unterlaufen, männliche und weibliche Züge verbinden.24 Es wäre m.E. zu einfach, dies nur auf die homoerotische Neigung von Montesquiou zurückzuführen, eher vielleicht auf eine narzisstische
Paris 1925; Philippe Jullian: Robert de Montesquiou. Un Prince 1900, Paris 1987 sowie Link-Heer: „Robert de Montesquiou“. 20 Z.B. mit Mallarmé, Leconte de Lisle, Rodenbach, Verlaine, A. France, Proust, Gide, Valéry, Cocteau, mit Malern wie z.B. G. Moreau, O. Redon, Boldini, J.-E. Blanche, Beardsley, Musikern wie Fauré, Debussy, R. Hahn, mit den Schauspielern, Tänzern und Regisseuren der Ballets russes und anderer Theater. 21 Robert de Montesquiou ou l’art de paraître, S. 35ff. 22 Ebd., S. 41, 42, 50, 53, 54, 55. 23 Schuhen: „Dandy, Dichter, Demagoge“, S. 322f.; Barbara Straumann: „Queen, Dandy, Diva – Eine Geschichte der theatralen Selbstentwürfe vom höfischen Schauspiel zur Photographie“, in: Elisabeth Bronfen/dies. (Hrsg.): DIVA – eine Geschichte der Bewunderung, München 2002, S. 69-87; Link-Heer: „Robert de Montesquiou“. 24 Schuhen: „Dandy, Dichter, Demagoge“, S. 323.
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Spielfreude, die verschiedene Formen der Sexualität verbindet, reale und imaginäre Rollenspiele, das mondäne, gesellschaftliche und das innere, subjektive Theater. Die Kunst der Inszenierung, „l’art de paraître“, führt bei Montesquiou zu einem aktiven, mondänen Leben, zu vielfältigen literarischen und künstlerischen Ambitionen, zur Selbstdarstellung auf den Bühnen der Gesellschaft. Robert de Montesquiou ist ein gutes Beispiel dafür, dass man – wie in den neueren Theatertheorien25 – die Begriffe ‚Theater‘, ‚Theatralität‘ und ‚Inszenierung‘ nicht nur auf das Bühnenspiel beziehen sollte, sondern auf die Rollenspiele, die innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden und die sich besonders gut in den Salons und Theaterlogen der Belle Epoque entfalten konnten. Zur öffentlichen Selbstinszenierung und Schauspielkunst gehört die Kunst der Rede, in der Montesquiou ein Meister war, eine Redekunst mit besonderer Gestik und Posen, mit einer Neigung zum Pathos, zur Verspottung und zur Ironie, die schon Proust und andere Zeitgenossen zur Parodie und zur Karikatur reizt.26 Abb.1: Giovanni Boldini: Robert de Montesquiou, 1897, Musée d’Orsay. Abb.2: Robert de Montesquiou, um 1895, BNF, Paris.27
25 Siehe Anm. 8. 26 Vgl. Schuhen: „Dandy, Dichter, Demagoge“, S. 337; Hörner: Die Behauptung des Dandys, S. 78ff.; Link-Heer: „Robert de Montesquiou“, S. 261 und dies.: „Sic transit gloria mundi“, S. 141ff. 27 Quelle beider Abb.: Chaleyssan: Robert de Montesquiou.
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Abb. 3: Robert de Montesquiou als Fledermausjäger, 1885, BNF, Paris.28
So erscheint es konsequent, dass sich Montesquiou sowohl für das Theater als auch für die Welt hinter den Kulissen begeistert, insbesondere für die Aufführungen der Ballets russes, die seit 1909 das Pariser Publikum faszinieren – mit Tänzern wie Nijinski und Ida Rubinstein, mit Inszenierungen, die nicht nur das Theater verändern, sondern zugleich auch einem „nouveau dandyisme“ der Avantgarden am Anfang des 20. Jahrhunderts Ausdruck verleihen.29 Das Theater bietet die Möglichkeit, jene Dandy-Fantasien, die in den Theaterromanen beschrieben oder angedeutet werden, auf die Bühne zu bringen. Die Ballets russes sind in dieser Hinsicht radikaler und phantasievoller als andere Theatergruppen; und so ist es kein Zufall, dass die Ballets russes sowohl die aristokratischen Dandys als auch die Künstler-Bohème der Zeit anziehen und zusammenführen, unter ihnen Montesquiou, der als engagierter Förderer auch direkt an einzelnen Projekten mitwirkt.
28 Quelle: Robert de Montesquiou ou l’art de paraître, S. 54. 29 Vgl. Claudia Jeschke/Nicole Haitzinger (Hrsg.): Schwäne und Feuervögel. Die Ballets russes 1909-1929. Russische Bildwelten in Bewegung, München/Berlin 2009; Chaleyssan: Robert de Montesquiou, S. 125ff.
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I NSZENIERUNGEN
DER
B ALLETS
RUSSES
Die Ballets russes von Sergei Diaghilev gehören zu jener ‚Konstellation der Moderne‘, die vor und während des Ersten Weltkrieges die Szenarien der Literatur und Kunst radikal veränderte. Die Pariser Inszenierungen von Shéhérazade (1910) und L’Oiseau de feu (1910), Le Dieu bleu (1912), L‘après-midi d’un faune (1912), Le Sacre du printemps (1913) bis hin zu Parade (1917) engagieren nicht nur die wichtigsten Künstler der Avantgarde (wie z.B. Strawinsky, Debussy, Satie, Cocteau, Apollinaire, Bakst, Picasso, Nijinski), sondern entwickeln experimentelle Spielformen, die sich immer weiter von den Traditionen und gewohnten Formen des Tanzes, der Musik und Malerei entfernen – einschließlich der Choreographien, Bühnenbilder, Kostüme, der Themen und literarischen Texte, die die Aufführungen prägen. Fast immer entstehen neue Kombinationen, überraschende, das Publikum verblüffende Kontraste, auch dort, wo ältere Spielformen des Theaters aufgenommen und aktualisiert werden: vom Märchenspiel (Féerie), der russischen Folklore, mythologischen Themen, der Commedia dell’arte, der Farce und Groteske bis hin zum symbolistischen Theater und zum europäischen Orientalismus. Abb. 4: Léon Bakst: Sergei Diaghilev, 1904-1906, Russisches Museum St. Petersburg.30
30 Quelle: Ivan Liška (Hrsg.): 100 Jahre Ballets russes, Ausstellungskatalog, München 2007.
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In der Vielfalt der Begriffe, mit denen die Ballets russes der Avantgarde zugeordnet werden, wie z.B. ‚Post-Impressionismus‘, Futurismus, Dada, Kubismus, scheint mir die Bezeichnung Surrealismus besonders passend, nicht nur, weil Apollinaire, der eigentliche ‚Erfinder‘ des Begriffs und der Ästhetik des Surrealismus, mehrere Inszenierungen der Ballets russes inspiriert und mitgeprägt hat, sondern vor allem, weil der Surrealismus, mehr noch als die anderen eng verwandten Avantgarde-Richtungen, die Grundlagen einer intermedialen Ästhetik entwickelt hat. Dabei geht es um die Wechselbeziehungen und Passagen zwischen den verschiedenen Künsten, zwischen Musik, sprachlichem und körperlichem Ausdruck, zwischen Visualität und Bewegung, Abstraktion und Sinnlichkeit, um ein neues Konzept von Rhythmus und der Performance selbst. Die Bühne wird zum Ort der Schaulust, der Rollenspiele, Maskeraden und Metamorphosen. Es handelt sich um ein Theater, das Elemente und Spielformen des Traums aufnimmt: das mimetische Spiel der Träume, den Hang der Träume zur Dramatisierung und Visualisierung, ihren Rätselcharakter, die Sinnlichkeit und Synästhesien, das Groteske und Bizarre. Die Avantgarden entdecken den subjektiven, imaginären Raum des Theaters, das innere Theater, das sich in einem Übergangsbereich zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein abspielt. Genau darin liegen die vielfältigen Beziehungen zwischen den Szenographien der Theaterromane und dem Spiel auf der Bühne. Ich wähle zwei spektakuläre Inszenierungen der Ballets russes, um diesen Zusammenhang zu veranschaulichen: Shéhérazade und L’après-midi d’un faune. Es gehört zu den idées reçues, dass die Pariser Inszenierungen der Ballets russes in einer Endphase der Belle Epoque den Geschmack und die Moden der Zeit mitprägen, z.B. den Orientalismus, der in der Literatur, im Theater, in den Bildenden Künsten, der Musik bis hin zur Architektur, Kleidung und Decors in vielen Bereichen eine Rolle spielt.31 Die Aufführung von Shéhérazade in der Pariser Oper beruht, wie immer bei den Ballets russes, auf der Zusammenarbeit verschiedener Künstler und Künste; der Text stammt von Alexandre Benois und wurde von Bakst als ‚drame choréographique en un acte‘ ausgestaltet, mit der Musik von Rimski-Korsakow, dem Bühnenbild und den Kostümen von Bakst und der Choreographie von Fokine – mit den schon damals sehr berühmten Tänzern wie Nijinski in der Rolle des Schwarzen Sklaven, der Zobéide, die Frau des
31 Vgl. Thomas Hunkeler/Luzius Keller (Hrsg.): Marcel Proust und die Belle Epoque, Frankfurt/M./Leipzig 2002; Volker Roloff: Proust und Tausendundeine Nacht. Marcels Lieblingslektüren und der Orientalismus in der Recherche, Köln 2009 (Marcel Proust Gesellschaft, Sur la lecture IX).
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Sultans (gespielt von Ida Rubinstein), verführt.32 Es handelt sich um die Vorgeschichte der Erzählungen von Tausendundeiner Nacht, aber es werden nur einzelne Motive ausgewählt, die geeignet sind, das Unheimliche und Groteske des Geschehens hervorzuheben und zugleich gewohnte Vorstellungen der Geschlechterrollen in Frage zu stellen.33 Das Märchenspiel der Féerie, das in dem luxuriösen Harem des Königs Shariar zunächst scheinbar harmlos beginnt, verwandelt sich in eine Orgie und schließlich in einen Totentanz, ein grausames Gemetzel, in dem am Ende die untreue Königin und alle Beteiligten des Ehebruchs erdolcht werden. Das Phantastische des Dekors, die märchenhaften Bühnenbilder und die Kostüme der Tänzer kontrastieren mit einem bösen Schauspiel. Die Tänzerinnen, mit ihren „lasziven und rhythmischen Bewegungen“ und besonders Nijinski als schwarzer Sklave unterstreichen und steigern den Kontrast. Nijinski war schon durch seinen „Mangel an Männlichkeit“ nicht mit einem „echten Farbigen“ zu vergleichen; „er war halb Tier, halb Mensch und erinnerte mehr an eine Katze“34, im Gegensatz zu seiner Partnerin (Ida Rubinstein), die in eleganten, würdevollen und dominanten, eher männlichen Posen auftritt. Nijinski „erlaubte somit Zuschauern beiderlei Geschlechts, Phantasien sexueller Ekstase und Befreiung zu übertragen“, seine Interpretation unterläuft die „Konventionen der Geschlechterdefinition“ und erhebt Anspruch – so Nancy Van Norman Baer – „auf den androgynen Raum dazwischen, den Raum reiner und angstfreier Sinnlichkeit“35, in bewusstem Gegensatz zu der archaischen Handlung. In Shéhérazade, wie auch in weiteren Inszenierungen der Ballets russes, geht es darum, die Sinnlichkeit des Körpers und seiner Bewegungen so weit wie möglich zu steigern. So verwandeln sich Choreographien in „Bilder/Schriften“, Körperbewegungen in „abstrakte Transformationen von Bewegung“. „Die Aktionen und Reaktionen des Körpers sind ähnlich wichtige Ausdrucksmittel wie das Wort der Literatur oder der Ton der Musik.“36
32 Jean-Michel Nectoux: „Schéhérazade – Musik und Tanz“, in: Claudia Jeschke/Ursula Berger/Birgit Zeidler (Hrsg.): Spiegelungen. Die Ballets russes und die Künste, Berlin 1997, S. 105-112. 33 Vgl. Van Norman Baer: „Die Aneignung des Femininen“. 34 Isabelle Fokine in: Liška (Hrsg.): 100 Jahre Ballets russes, S. 7-58, hier S. 46. 35 Van Norman Baer: „Die Aneignung des Femininen“, S. 39. 36 Claudia Jeschke in: Schwäne und Feuervogel, S. 73,75.
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Abb. 5: Vaslav Nijinsky in Shéhérazade, 1910.37
Wie sehr schon in dieser Phase, zwischen Fin de Siècle und einer frühen Avantgarde, radikale Experimente und Tabubrüche mit im Spiel sind, zeigen nicht zuletzt auch die Reaktionen des Publikums, die sog. ‚Skandale‘ besonders bei den Aufführungen von Le Sacre du printemps und L’Après-midi d’un faune. Später z.B. in Jeux oder Parade werden dabei auch zeitgenössische Themen des Alltags und der neuen Freizeitindustrie miteinbezogen: die Welt des Sports, der Zirkus, das Kino und die Reklame, ähnlich wie in den Theaterstücken, Filmen und literarischen Texten der Surrealisten und Futuristen. Abb. 6: Léon Bakst: L’Après-midi d’un faune (Ausschnitt), 1912.38
37 Quelle: Elisabeth Ingles: Bakst 1866-1924, New York 2007. 38 Quelle: Liška (Hrsg.): 100 Jahre Ballets russes.
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L’après-midi d’un faune, 1912 uraufgeführt im Théâtre du Châtelet, scheint – mit dem Gedicht von Mallarmé und der Musik von Debussy, der Choreographie von Nijinski und dem Bühnenbild von Bakst – an typische Themen und Vorbilder des Fin de Siècle anzuknüpfen, insbesondere mit der Rückkehr zur griechischen Mythologie. Aber schon in Huysmans A rebours wird Mallarmés Gedicht für Des Esseintes zum Faszinosum: „une églogue, où les subtilités des joies sensuelles se déroulaient en des vers mystérieux et câlins […]“ (AR, 317). Das nicht als Ballett, sondern als ‚tableau choréographique‘ angekündigte Schauspiel kann, so Nicole Haitzinger, als „avantgardistische Inszenierung“ angesehen werden, als „erotisches Skandalon“39 und, wie Melanie Schmidt betont, als radikales Experiment einer Performance, das mit der „Fragmentierung des Körpers“ und einem „neuen abstrakten Bewegungs-Repertoire“ bereits die Technik des Kubismus umsetzt, z.B. mit der „Transformation von Raum in Fläche“, den „Licht-, Schatten- und Bewegungseffekten“, die schon Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907) kennzeichnen.40 Ein flötenspielender Faun beobachtet mehrere Nymphen und nähert sich ihnen. Die Nymphen fliehen, aber eine Nymphe bleibt zurück. Als der Faun sie umarmen will, eilt sie den anderen nach und lässt ihren Schleier in seinen Händen. „Er nimmt diesen mit auf seinen Felsvorsprung, liebkost ihn, legt ihn vor sich auf die Erde und bewegt sich über ihn in einem symbolischen Liebesakt“.41 Nijinskis Spiel betont das Animalische des Fauns, im Kontrast zu den Nymphen, die nach dem Vorbild der Figuren griechischer Vasen stilisiert sind. Trotz der – für die damaligen Zuschauer skandalösen Erotik, der Andeutung der Onanie – vermeidet Nijinski lebhafte Tanzgebärden; seine „gleichförmigen, schlürfenden Schrittbewegungen“ schaffen den „Eindruck einer fließenden Aneinanderreihung skulpturhafter Posen“, eines „regelrecht ‚filmisch‘ belebten Basreliefs.“42 Die Traum- und Märchenspiele der Ballets russes, z.B. auch Le Spectre de la Rose, Les Martyres de San Sébastien, Le Sacre du printemps, Daphnis et Chloé, Les Sylphides, L’oiseau de feu und Narcisse sind bereits auf dem Wege zu einer „neuen Mythologie“, die etwas später z.B. in L’ÂGE D’OR (Buñuel/Dalí) und bei
39 Nicole Haitzinger: „Reform, Revolution, Spektakel. Zu avantgardistischen Tanz- und Gesellschaftsentwürfen bei den Ballets russes“, in: http://www.corpusweb.net/reformrevolution-spektakel.html (Zugriff am 11.01.2014). 40 Melanie Schmidt: „Tanz in zwei Dimensionen: Das Konzept der performativen Körpertableaus in Nijinskis ‚L’après-midi d’un faune‘“, in: Erstić/Schuhen/Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität, S. 141-164, hier. S. 151f. 41 Ebd., S. 142. 42 Ebd., S. 143.
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Cocteau und Apollinaire zum Programm surrealistischer Theaterstücke und Filme gehört.43 Es wäre interessant, weitere Inszenierungen der Ballets russes zu vergleichen und zu zeigen, wie sehr die „Aura der Androgynität“ (Van Norman Baer) und die neue Sinnlichkeit das Spiel auf der Bühne und die Reaktionen des Publikums bestimmen. Dies gilt nicht nur für den Dandy, sondern, wie bereits angemerkt, für viele, Schauspieler, Schauspielerinnen und Tänzerinnen, die ihrerseits die konventionellen Geschlechterrollen überschreiten. Das Medium ‚Theater‘, hier die avantgardistische Ästhetik der Ballets russes und ihrer Nachfolger, führt zu Veränderungen, die in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts weiterwirken.
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Ich möchte zum Schluss auf die Dandys der Recherche näher eingehen. Die Ballets russes inspirieren viel mehr, als bisher bemerkt wurde, Prousts Roman, ein Werk, das man als ‚Theaterroman‘ neuen Typs bezeichnen kann, als eine umfassende Darstellung und Analyse der Theatralität und Metamorphosen der Gesellschaft und ihrer Protagonisten. Damit verbindet sich eine Kritik der traditionellen Figur und Rolle des Dandys, die bei Proust – im Vergleich mit Huysmans und Oscar Wilde – umfassender und radikaler erscheint. Das prominenteste Beispiel der Recherche ist Charlus, der in mehrfacher Hinsicht mit Montesquiou vergleichbar ist. Proust konzentriert sich bei Charlus vor allem auf die existentielle Problematik des Dandy, die Diskrepanz zwischen dem „männlich codierten Selbstentwurf“, dem vornehmen aristokratischen Dandy und den davon abweichenden Dandy-Fantasien, den Maskeraden- und Rollenspielen, deren Requisiten dem Bereich der Bühnenkunst entstammen.44 Dazu gehört bei Charlus das Preziöse, Affektierte und Künstliche, die Idolatrie der Literatur und Kunst, die wie Ursula Link-Heer gezeigt hat, auch für die literarischen Texte und Briefe von Montesquiou typisch ist. Zahlreiche Briefe, die Montesquiou an Proust schreibt, sind daher für Proust Anlass zur Ironie, zu einem „ästhetischen Wettbewerb höchst spielerischer Natur“, bis hin zu Parodien
43 Vgl. Volker Roloff: „Anmerkungen zur neuen Mythologie der Surrealisten“; in: Yasmin Hoffmann/Walburga Hülk/ders. (Hrsg.): Alte Mythen – neue Medien, Heidelberg 2006. S. 11-18. 44 Vgl. Schuhen: „Der bewegte Mann“ und Link-Heer: „Mode, Möbel, Nippes“.
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von Pastiche und zur Kritik der Idolatrie.45 Der Erzähler der Recherche beobachtet und analysiert die verschiedenen Seiten der Theatralität von Charlus, das mondäne, gesellschaftliche Theater, die Kunst, die Rede und den preziösen Stil der Texte und das heimliche, subjektive Theater, die oft komischen und grotesken Spielformen. Die komische Maskerade – so Rainer Warning – „verbirgt hier nichts, sondern sie ist identisch mit dem Imaginären homosexueller Existenz und homosexueller Sozialität, und dies auf der Ebene der Wahrnehmung höfischer Theatralität wie auf der ihrer Darstellung.“46 So entsteht das Paradox eines modernen Romans, „der auf einer höfischen Bühne spielt“.47 Wie sehr Prousts Recherche als Theaterroman an Figuren, Motive und Verfahrensweisen der Ballets russes, aber auch an die klassischen Komödien anknüpft, kann in diesem Zusammenhang, angesichts der Vielfalt der Bezüge, nicht ausgeführt werden.48 Die Szenen und Szenarien zeigen die grotesken, unheimlichen Seiten der Dramatik, die Surrealität der Alltagssituationen, der öffentlichen und heimlichen Schauspiele, vom ‚drame du coucher‘, den Theaterbesuchen Marcels bis hin zu den Salongesprächen, Voyeurszenen und dem ‚bal costumé‘. Ein Beispiel ist die von Marcel heimlich beobachtete Begegnung zwischen Charlus und Jupien. Die ‚Doppelpantomime‘ erscheint wie ein lang geprobtes Theaterstück49, oder auch wie die Szene einer Stummfilm-Groteske in Zeitlupe. Dieses Schauspiel hat, wie alle Szenen der Schaulust und des erotischen Theaters in der Recherche, pathetische und komische Seiten. Marcel bemerkt dazu: […] je ne peux m’empêcher de penser combien M. de Charlus eût été fâché s’il avait pu se savoir regardé; car ce à quoi me faisait penser cet homme qui était si épris, qui se piquait si fort de virilité, à qui tout le monde semblait odieusement efféminé, ce à quoi il me fai-
45 Link-Heer: „Robert de Montesquiou“, S. 261 und dies.: „Sic transit gloria mundi“, S. 141ff. 46 Rainer Warning: Ästhetisches Grenzgängertum. Marcel Proust und Thomas Mann, München 2012, S. 22. 47 Ursula Link-Heer: „‚Chi sprezza ama‘. Prousts Ars Erotica der Verstellung und Nonchalance“; in: Friedrich Balke/Volker Roloff (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Proust, München 2003, S, 211-227, hier S. 211. 48 Vgl. Roloff: „Prousts Recherche als Theaterroman“. 49 Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, hrsg. von Jean-Yves Tadié, 4. Bde., Paris 1987-1989, Bd. III, S. 3ff. (im Folgenden zitiert mit Bandangabe und Seitenzahl im Lauftext); vgl. Barbara Christmann: Das Theater in Marcel Prousts Roman ‚A la Recherche du temps perdu‘, München 1986 (Magisterarbeit), S. 86.
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sait penser tout d’un coup, tant il avait passagèrement les traits, l’expression, le sourire, c’était à une femme ! (III, 6)
Nach der ersten Verblüffung über Charlus – in der Rolle der Frau – erkennt der Erzähler darin „le spectacle de tout amour“. „Cette scène, n’était, du reste, pas positivement comique, elle était empreinte d’une étrangeté, ou si l’on veut d’un naturel, dont la beauté allait croissant (III, 7).“ Auch die groteske, sadomasochistische Szene im Bordell von Jupien, die Marcel wiederum ‚zufällig‘ beobachtet, gewinnt in der Reflexion des nachdenklichen Erzählers eine andere Dimension: „En somme son désir [le désir de Charlus,; V.R.] d’être enchaîné, d’être frappé, trahissait, dans sa laideur, un rêve aussi poétique que, chez d’autres, le désir d’aller à Venise ou d’entretenir des danseuses“ (IV, 419). Hinter der theatralen Szene, oder genauer ‚sous la pièce‘, steht die imaginäre und reale Dramatik der Recherche, in der der Voyeur (wie auch der Leser) immer schon Mitspieler und Hauptfigur ist. Man darf nicht übersehen, dass es sich in der Recherche wie in allen Theaterromanen, um Szenographien handelt, d.h. um erzähltes und kommentiertes Theater, an dem im Grunde vier verschiedene Figuren beteiligt sind, in einem komplexen Rollenspiel: in dieser Szene Charlus und Jupien als Protagonisten, Marcel als Beobachter und Mitspieler, aber auch als Erzähler, der das Geschehen im Rückblick in kritischer Distanz reflektiert – und nicht zuletzt der Leser, der quasi als verborgener Zuschauer mit seinen eigenen Überlegungen, Vermutungen und Fantasien mit im Spiel ist. In der neuen, überraschenden Situation verwandeln sich alle Beteiligten, und es tragen alle – von Charlus bis hin zum Leser – verschiedene ‚Masken des Begehrens‘, wie auch Marcel selbst, der sich in dieser Szene mit Haroun Al Raschid vergleicht „en quête d’aventures dans les quartiers perdus de Bagdad“ (IV, 388), dem Kalifen, der sich verkleidet, um, wie es in Tausendundeiner Nacht erzählt wird, das ‚wirkliche‘, ‚wahre‘ Leben kennenzulernen, jenseits der höfischen Theatralität in seinem Palast. Charlus spielt – nicht nur in diesen Szenen, sondern bei allen möglichen Gelegenheiten, besonders bei seinen Auftritten in der mondänen Gesellschaft – den Mimen; er re-präsentiert und parodiert nach und nach ein sehr großes Repertoire des europäischen Theaters. Das Repertoire seiner Rollen umfasst die Komödie ebenso wie Tragödie, das Melodram ebenso wie die Farce und Commedia dell’arte. Seine Spezialität ist der pathetische Monolog, der an der Grenze von Ernst und Lächerlichkeit laviert, die ebenso raffinierte wie groteske Inszenierung der eigenen Auftritte, ‚la mise en scène‘.
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Charlus liebt die große Pose (à jouer au roi) ebenso wie die Geste der Erniedrigung, er kennt den Zusammenhang von Schauspielkunst und Rhetorik. Der ständige Wechsel von Pathos und Wehleidigkeit entspricht u.a. der Rolle des Lear, die in einer tragikomischen, grotesken Weise abgewandelt wird. Charlus ist ohne Zweifel schon dadurch „zum Schauspieler prädestiniert, daß er seine Leidenschaft beständig vor der Gesellschaft verstecken muß.“50 Er ist kein naiver Schauspieler, der ahnungslos in die Klischees der Theatermodelle gerät. Charlus kennt genau die Vorbilder z.B. der Comédie humaine, besonders die Dandys, die ihn selbst, Produkt seiner Balzac-Idolatrie, geschaffen haben; er kennt die Theatralität und Künstlichkeit seiner eigenen Existenz, die unaufhebbare Konfusion von Spiel und Wirklichkeit. (III, 437f.) Es entspricht der karnevalesken Struktur des ‚bal costumé‘, der Matinée in Le Temps retrouvé, dass Charlus in der Revue der grotesken Figuren und Narren des theatrum mundi als erster präsentiert wird, dem Tode schon nah, mit der „majestée shakespearienne du roi Lear“, als kindlicher Greis in lächerlicher Unterwürfigkeit, dessen Pathos nunmehr, an der Grenze des Todes, zur „oraison funèbre“ gerät (IV, 439) – in einer Szene, die sich – wie alle Auftritte von Charlus in der Recherche – schließlich in groteske Komik verwandelt. Charlus will, wie er selbst sagt, in seiner comédie kein bürgerliches Mittelmaß, sondern „la tragédie classique ou la grosse farce. Pas de milieu, Phèdre ou Les Saltimbanques“ (IV, 409). Mit Charlus hat sich auch die Gesellschaft radikal verändert. Ihre Repräsentanten sind in ihren Perücken und Masken jetzt nur noch Karikaturen, Parodien ihrer selbst. Die Spielregeln und Werte des Ancien Régime sind, wie die ‚fête travestie‘ drastisch zeigt, zerfallen. Das passende Theatergenre ist jetzt, wie im Avantgardetheater, die groteske, surreale Farce. Damit ist auch deutlich, dass die Rolle der traditionellen Dandys des 19. Jahrhunderts – in Anbetracht der radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – so nicht mehr möglich ist. Die Frage bleibt aber, ob gleichwohl – in Folge dieser Metamorphosen – neue Variationen auftauchen. In der Recherche erscheint Saint-Loup, der Neffe von Charlus, als ein Dandy, der als „Beispielfigur der Avantgarde“51 angesehen wird und, so scheint es, einen neuen Typ, den Dandy der Avantgarde, repräsentiert. Dazu passt z.B. seine für Marcel auffällige Garderobe: „vêtu d’une étoffe souple et bleuâtre comme je n’aurais jamais cru qu’un homme eût osé en porte […]. A cause de son ‚chic‘, de
50 Ebd., S. 72. 51 Luzius Keller: „Proust und die Avantgarde“, Vortrag Universität Wuppertal 21.07.2011 (Ms. S. 13); Schuhen: „Der bewegte Mann“; ders.: Erotische Maskeraden, S. 176ff.
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son impertinence de jeune ‚lion‘, à cause de son extraordinaire beauté surtout, certains lui trouvaient même un air efféminé, mais sans le lui reprocher, car on savait combien il était viril et qu’il aimait passionnément les femmes“ (II, 88f.). Aber – wie bei Charlus – täuschen auch hier die ersten Eindrücke; auch Saint-Loup erweist sich im Laufe des Romans, für Marcel ebenso wie für den Leser, als „parfait comédien“, der verschiedene Rollen spielt und seine wahren Neigungen verschleiert: „comme un parfait comédien, il pouvait dans sa vie de régiment, dans sa vie mondaine, jouer l’un après l’autre des rôles différents“ (II, 474). Aufschlussreich ist z.B. eine Szene, in der Saint-Loup – nach dem Besuch eines Theaters, in dem seine Freundin Rachel als Schauspielerin auftritt – den Eifersüchtigen spielt, als Rachel mit einem Tänzer der Theatergruppe flirtet: „un jeune homme en toque de velours noir, en jupe hortensia, les joues crayonnées de rouge comme une page d’album de Watteau […] tellement d’une autre espèce que les gens raisonnables en veston et en redingote au milieu desquels il poursuivait comme un fou son rêve extasié […] sa personne humaine apparaissait sous le sylphe qu’il s’exerçait à être“ (II, 475f.). Rachel ist fasziniert von seinen graziösen, weiblichen Handbewegungen: „Moi qui suis une femme, je ne pourrais pas faire ce qu’il fait là“ (II, 477). Es ist offensichtlich, und auch von den Kommentatoren bemerkt worden, dass Proust hier auf Nijinski anspielt. In den Entwürfen der Recherche wird der Bezug noch deutlicher und konkreter: „C’était un célèbre et génial danseur d’une troupe étrangère qui avait en ce moment un si grand succès à Paris qu’on adjoignait souvent un acte de Ballet à des spectacles différents“ (II, 1155). Der Erzähler der Recherche vermeidet den Namen, weil es hier nicht um autobiographische Referenzen geht, sondern um ein zentrales Problem der gesamten Recherche: die Unsicherheit der Geschlechterrollen, die Faszination des Rollenwechsels, der erotischen Maskeraden, der überraschenden Metamorphosen und Konfusionen. Der Tänzer Nijinski ist auch hier – wie in seinen Auftritten in den Ballets russes – eine Figur, die den Mythos des Hermaphroditen, die Kunst androgyner Rollenspiele repräsentiert. Genau dies motiviert die Eifersucht von SaintLoup, der selbst, was der Leser dieser Stelle des Romans noch nicht ahnen kann, zu jenem „parfait comédien“ wird, der – ähnlich wie Charlus – seine wahren homoerotischen Neigungen auf Grund der gesellschaftlichen Konventionen maskiert. Erst der letzte Akt des Theaterabends, schon auf dem Heimweg mit Marcel, bietet Anlass für weitere Kombinationen; obwohl diese Szene, so scheint es zunächst, keinen Zusammenhang mit Rachel erkennen lässt. Saint-Loup verprügelt
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einen ‚schlecht gekleideten Mann‘, der ihn – an einem bekannten Treffpunkt für Homosexuelle – angesprochen hatte (II, 480).52 Die Szene, die Marcel beobachtet, ähnelt, wie Luzius Keller anmerkt53, einem kubistischen Bild, „tout à coup, comme apparaît au ciel un phénomène astral, je vis des corps ovoïdes prendre une rapidité vertigineuse toutes les positions qui leur permettaient de composer, devant Saint-Loup, une instable constellation“ (II, 480). Die eigentlichen Gründe dieser Szene, für das, wie man es nennen könnte, Theater nach dem Theater werden hier noch nicht genannt, obwohl Saint-Loup, wie Gregor Schuhen im Einzelnen zeigt, schon vorher öfter als engelhaftes Wesen, als androgyne Gestalt, als ein Dandy erscheint, der hinter der Maske einer betonten Männlichkeit und Stärke weibliche Züge erkennen lässt.54 Sein Begehren nach Frauen trägt er dabei als Maske, die ihn vor Sanktionierung schützen soll – und die ihm vor allem dabei hilft, nicht als das zu erschienen, was er im Grunde ist. Mit anderen Worten: die Maske des „hommes à femmes“ verbirgt seine Identität des „homme-femme“.55
Die Recherche ist insgesamt durch eine Serie solcher coups de théâtre geprägt, durch überraschende Umkehrungen der Situation, Inversionen, Metamorphosen, Maskeraden und Enthüllungen, die dem Repertoire der ‚Féeries‘, aber auch der Komödie und grotesken Farce entstammen – also jener Genres, die in den Ballets russes und in surrealistischen Theater- und Filmexperimenten aktualisiert werden. Vor allem die Figur der ‚Inversion‘, der überraschenden Umkehrung der Geschlechterrollen, wird – wie Roland Barthes anmerkt – zum Strukturprinzip der Recherche56: „Presque aucun personnage proustien n’est définitivement fixé dans une forme de sexualité.“57 Die Frage, ob in der Recherche mit den Avantgarden ein neuer Typ des Dandy und damit auch neue Kombinationen im Rollenspiel der Geschlechter entste-
52 Vgl. Schuhen: „Der bewegte Mann“, S. 188f. 53 Keller: „Proust und die Avantgarde“, S. 14; vgl. auch eine weitere Szene der Recherche (IV, 389), die, so Gregor Schuhen, „deutlich futuristische Züge aufweist“ („Der bewegte Mann“, S. 193). 54 Schuhen, Erotische Maskeraden, S. 176ff. 55 Ebd., S. 190. 56 Roland Barthes: „Une idée de Recherche“ in: ders. (u.a.): Recherche de Proust, Paris 1980, S. 34-39. 57 Marie Miguet-Ollagnier: Artikel „Métamorphose“, in: Annick Bouillaguet/Brian R. Rogers (Hrsg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris 2004, S. 622.
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hen, führt zu einer weiteren Figur, die in der Recherche eine zunächst scheinbar marginale Rolle spielt, am Ende aber – überraschenderweise – als herausragender Künstler der Avantgarde in Erscheinung tritt: „Ce jeune homme fit représenter de petits sketchs, dans des décors et avec des costumes de lui, et qui ont amené dans l’art contemporain une révolution au moins égale à celle accomplie par les Ballets russes“ (IV, 184). Es handelt sich um Octave, eine Figur, die Marcel schon in Balbec kennenlernt, als modebewussten, arroganten und etwas lächerlichen Dandy, als Tango-Tänzer und Sportler, als eine Art Gigolo, ein Konkurrent Marcels, der mit Albertine flirtet, mit den Verdurins verwandt ist, später mit Rachel zusammenlebt und dann Andrée heiratet: eine Figur, die besonders deutlich zeigt, wie sehr die ersten Eindrücke Marcels täuschen können, und wie sehr sich die Figuren – im Bewusstsein des Erzählers, seiner flüchtigen Wahrnehmungen und Begegnungen – verändern. Octave ist ein Beispiel nicht nur für die Täuschungen, die Kontingenz und das Fragmentarische aller Eindrücke und Wahrnehmungen, sondern für die Unmöglichkeit eindeutiger Identifikation, die Unmöglichkeit die ‚réalité du moi‘ in Anbetracht der Diskontinuität und Metamorphosen des Ichs substantiell zu erfassen. Dies gilt im Prinzip für alle Figuren in der Welt der Recherche, von Charlus, Saint-Loup, Rachel, Berma und Albertine bis hin zum Erzähler selbst. Insofern sind die Versuche, Octave mit Cocteau zu identifizieren, naheliegend, aber ebenso fragwürdig wie die, Montesquiou direkt mit Charlus oder Marcel mit Marcel Proust zu vergleichen. Abb. 7: Jacques-Emile Blanche: Marcel Proust, 1892, Musée d’Orsay. Abb. 8: Jacques-Emile Blanche: Jean Cocteau, 1913, Musée des Beaux-Arts Grenoble.58
58 Quelle beider Abb.: Chaleyssan: Robert de Montesquiou.
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Auf der anderen Seite ist Cocteau, trotz dieser Vorbehalte, genau der Dandy und Künstler der Avantgarde, der nicht nur verschiedene Inszenierungen der Ballets russes von Le Dieu bleu (1912) bis zu Parade mitgestaltet, sondern schon seit 1912 durch eigene Texte, Gedichte und Theaterstücke, Filmszenarios und Zeichnungen hervortritt – als Avantgardekünstler, der vor allem, ähnlich wie Apollinaire und auch Picasso, die Ästhetik des Surrealen in Kooperation mit den Ballets russes auf seine Weise weiterentwickelt, vor allem durch intermediale Experimente und Kombinationen, die dann – im Anschluss an Parade – zu ganz eigenen surrealistischen Farcen führen, wie z.B. Le Bœuf sur le toit ou The Nothing Doing Bar; Les Mariés de la Tour Eiffel und die Theater- und Filmversionen von Orphée. Schon Le Bœuf sur le toit ist ein Stück, das man, wie viele Inszenierungen der Ballets russes, als eine Mischung von „Farce, Ballett, Melodram und Pantomime“59 bezeichnen kann. Es ist daher kein Zufall, dass Proust und Cocteau seit 1910 Kontakt haben und trotz einiger Irritationen ihre Bewunderung für die jeweiligen Neuerscheinungen signalisieren, Cocteau in Bezug auf Du côté de chez Swann als früher, passionierter Leser. Proust schon 1912, als Leser von Cocteaus Gedichtband La Danse des Sylphides und später auch als begeisterter Zuschauer der Inszenierungen Cocteaus, insbesondere von Parade und Le Bœuf sur le toit. In seinem Beitrag zu Cocteau im Dictionnaire Marcel Proust gelangt Jo Yoshida zu dem Schluss: „C’est Cocteau qui initie Proust à l’esprit nouveau ou cubiste et à l’art expérimental.“60 Es wäre ein eigenes Thema, die weiteren Beziehungen einerseits zwischen den Ballets russes und Cocteau zu verfolgen61 und darüber hinaus die ‚neue Mythologie‘ Cocteaus, seine intermediale, theatrale und filmische Ästhetik mit dem ‚Theaterroman‘ der Recherche zu vergleichen. Die hier angedeuteten Beziehungen zwischen den Ballets russes, Prousts Recherche und Cocteau gehören zu dem größeren Komplex der Avantgarden, insbesondere zu einer Ästhetik des Surrealen, die bis in die Gegenwart – in immer neuen Verwandlungen – eine zentrale Rolle spielt und dabei auch neue Möglichkeiten einer künstlerisch inspirierten, der Avantgarde zugewandten Dandy-Existenz andeutet, neue Spielformen zwischen Dandy und bohémien.
59 Jürgen Grimm: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930, München 1982, S. 114. 60 Jo Yoshida: Artikel „Cocteau“, in: Bouillaguet/ Rogers (Hrsg.): Dictionnaire Marcel Proust. 61 Vgl. dazu Caroline Surmann: Cinéma et théâtre chez Jean Cocteau. Intermédialité et esthétique, Paris 2012.
Crisis? What Crisis? Lob des Optimismus W ALBURGA H ÜLK / B RITTA K ÜNKEL
Als im Mai 2012 der New Yorker Künstler Maurice Sendak starb, wurde noch einmal sein berühmtestes Buch aus dem Jahr 1963 in Erinnerung gerufen: das Kinderbuch Where the Wild Things Are / Wo die wilden Kerle wohnen.1 Abb. 1: Cover Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen (1963)
Die berührende und erhabene Größe der prallen Bilder und kargen Worte vom wilden Max muss auch heute noch gerühmt werden, obwohl oder gerade weil dieses Buch, das 2009 schlecht verfilmt wurde, da Max nun in einer kaputten Familie lebt und deshalb außer Rand und Band ist, doch so ganz und gar gegen jenen medizinischen und pädagogischen Zeitgeist gerichtet ist, der jungen Kerlen im Wolfspelz lieber Ritalin verordnet als ihnen auch dann noch das Abend-
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Maurice Sendak: Where the Wild Things Are, Zürich 1963; dt.: Wo die wilden Kerle wohnen, ins Deutsche übers. von Claudia Schmölders, Zürich 1967.
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essen warmzuhalten, wenn sie ausschweifend wüste Dinge tun oder träumen und sich als Könige aller barbarischen Reiche gebärden. Abb. 2: Detail aus Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen (1963)
Die biopolitische und soziale Praxis, schwierige junge Menschen, die in der Regel Jungs sind, durch Medikamentierung stillzustellen, entspricht einem Trend der Mittelschicht, Kinderkriegen, Kindererziehung und Kinderkarrieren zum wichtigsten und streng regulierten Start-Up-Unternehmen der Gegenwart, vorzugsweise in gentrifizierten Stadtvierteln, zu machen. „Unsere Systeme sind für Jungen unfreundlich geworden“, sagt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung und ehemaliges Mitglied des Selbstverständigenrats für Gesundheit: „Jungen versuchen Grenzen zu überschreiten, das gilt in unserem System als auffällig.“2 Die Beobachtung, Kontrolle und Korrektur dessen, was früher als genuin jungenhaftes oder männliches Verhalten galt, ist aber auch, und diese Simultaneität oder Analogie mag erstaunen und provozieren, zur Chefsache wissenschaftlicher Strömungen geworden, die den Kulturwissenschaften, namentlich den Gender, Queer und Men’s Studies, entstammen und die, unter Berufung auf Monique Wittigs „pensée straight“, Judith Butlers Gender Trouble und Bodies That Matter sowie Robert Connells, der seit 2007 als Frau lebt und Raewyn Connell heißt, Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘, Kritik üben am binären Geschlechterschema, an historisch dominanten, heterosexuellen Geschlechterpositionen und -praktiken und damit an Männern, die risikobereit waren, Aufmerksamkeit, Anerkennung erzwangen und solcherart patriarchalische Strukturen aufrechterhielten. „Crisis, What Crisis?“ – Männlichkeiten um 1900 – unter diesem Thema beschäftigte sich die diesem Band vorausgegangene Ta-
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Siehe zu dieser Praxis: Christiane Hoffmann/Antje Schmelcher: „Wo die wilden Kerle wohnten“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.2.2012, S. 6.
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gung mit Krisen der Männlichkeit als Krisen dieses vorherrschenden Modells und der daraus resultierenden Herrschaft, um auch nach alternativen Männlichkeitsmustern und Legitimationsentwürfen in Literatur und Gesellschaft zu fragen, die es freilich stets, wenngleich zumeist unter prekären Bedingungen, gegeben hat. In der Wissenschaftsgeschichte hingegen gibt es immer wieder turns, die anthropologischen Anspruch haben und deshalb zentral auch die Frage nach der Wahrheit des ‚Geschlechts‘ erörtern. In der Regel verhandeln sie damit das Thema des Verhältnisses von ‚nature‘ und ‚nurture‘, für das es, wie mir scheint, bislang keine eindeutige Klärung gibt und wohl auch nicht geben kann, und das nicht nur, weil die jeweilige Gewichtung dieses Verhältnisses historischen Diskursformationen unterliegt, sondern auch, weil die Natur selbst sich, wie man heute weiß, noch da, wo sie Natur ist, mit der Umwelt stetig verändert – vor allem das Gehirn als operationelles Zentrum des Imaginären, der Erfahrung und jener mobilen Identitäten, die sich trotz der Unterschiede von „pink brain, blue brain“3 herausbilden. Was freilich möglich ist, und das schlägt sich nieder im Programm dieses kulturwissenschaftlichen Bandes, ist es, Diskurse zu beobachten, die mal in die eine, mal in die andere Richtung ausschlagen und entweder Natur oder Kultur der menschlichen Verfasstheit bevorzugen. Für den wilden Max verbindet sich das mit der Frage, warum er so wild ist – Gene? Schlafende Hormone? Erziehung? Die Weisheit des Kinderbuches ist es, im Unterschied zur Verfilmung, die Frage nicht zu beantworten. Die Durchschlagskraft und Langlebigkeit der Codierungen zugunsten eines durch ‚nature‘ oder ‚nurture‘ begründeten Geschlechts jedoch waren und sind umso auffälliger, je kategorischer diese sich konstituieren. Im Hinblick auf den hier erörterten Gegenstandsbereich seien beispielhaft zwei Paradigmen benannt: 1.) Im Ausgang des 19. Jahrhunderts und mit der Emergenz der Lebenswissenschaften formierte sich eine biologistisch basierte, deterministische Anthropologie, der wir, bis hinein in die Literatur, ein düsteres Bild der Geschlechterkonstitution, der Geschlechterverhältnisse und ebenso der conditio humana generell verdanken. Dieses Paradigma war Teil einer gesamtgesellschaftlichen Krisendiagnostik und Kulturkritik, die sich insgesamt naturalistischer Denkmuster bedienten: Metaphern der Dekadenz und Mortalität, der vorzugsweise männlich codierten Erschöpfung und Nervenschwäche gehören ebenso hierher wie
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Lise Eliot: Pink Brain, Blue Brain: How Small Differences Grow into Troublesome Gaps – and What We Can Do about It, Boston 2010.
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die Fokussierung auf Normalität und Demographie, auf den élan vital und auf Muster des Primitiven, ja Bestialischen. Die Verlustgeschichte der Moderne wurde zur Problemgeschichte des Mannes und der Männlichkeiten – seiner dégénérescence (ein ungutes Wort an sich), seiner Neurasthenie oder seiner ungezähmten Energie, alle biologisch basiert, jede mit negativen Konsequenzen. Zur Problemgeschichte des Mannes aber musste sie auch werden, weil es ja auch der Mann war, der seit unvordenklichen Zeiten als Erzeuger von Leben und Kultur gesehen wurde. 4 2.) Ein Jahrhundert später etablierte sich, mit dem radikalen Kulturalismus, die Auffassung, das Geschlecht sei nichts anderes als der Effekt der sozialen und imaginären Zuschreibungen und Zumutungen, die Kindern, und namentlich Mädchen, mit dem Augenblick der Geburt auferlegt werden. Judith Butlers „It’s a girl“ bezeichnete die Performativität der Geschlechtsidentität und war zugleich der Gründungsakt der konstruktivistischen Gender und Queer studies, einer längst fest etablierten Tendenz der Kulturwissenschaften.5 Butlers Diktum war zum einen eine notwendige politische Aktion, die zum Anders-Denken aufforderte, und sie war ein Befreiungsschlag, der einlud in Spiel- und Lebensräume jenseits des dichotomischen Geschlechtermodells, das von jeher für ebenso herrliche wie verheerende Beziehungen zwischen Männern und Frauen gesorgt und zugleich Beziehungen unter Männern oder unter Frauen auf skandalöse Weise schwierig gemacht hatte. Und doch: Unter dem Aspekt „Crisis, What Crisis?“, scheint dieser Akt, das biologisch basierte Geschlecht, kurzgeschlossen mit der heterosexuellen Hegemonie, unter Generalverdacht gestellt und zuletzt verworfen zu haben, dennoch auch teilzuhaben an Krisen der Männlichkeit und damit der Geschlechterbeziehungen, die z.B. unter dem Stichwort ‚Generation Unentschlossenheit/Unverbindlichkeit‘ diskutiert werden und bei nicht wenigen jungen Männern und in nicht wenigen Verhältnissen vor allem junger Menschen schmerzhafte Spuren hinterlassen. Aus der zwingenden Lizenz, dem Goethe’schen, zuvörderst bedrohlich norma-
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Vgl. dazu auch Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie, Frankfurt/M. 2008, S. 13: „Das Unbehagen an der Moderne wird zum Unbehagen am Mann und umgekehrt.“
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Nachzulesen in Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt/M. 1997, S. 29f.
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tiven Gebot der ‚Berufs- und Gattenwahl‘ nicht Folge zu leisten, resultieren nicht zwangsläufig mehr Freiheit, Glücksbegabung, oder einfach nur sprezzatura in den vielfältigen Beziehungen von Männern und Frauen. Es scheint, als müsse das „Unbehagen der Geschlechter“6, das Butler so radikal äußerte, auch ein „Unbehagen an Butler“ aushalten können. Auf eine aktuelle Publikation soll hier kurz verwiesen werden: Die französische Philosophin Sylviane Agacinski – langjährige heimliche Gefährtin Jacques Derridas und Gattin Lionel Jospins – stellt in ihrem bei Seuil erschienenen Buch Femmes entre sexe et genre7 Butlers Theorie auf den Prüfstand. Butler wurde ja erst 2005 ins Französische übersetzt.8 In guter französisch-aufklärerischer Tradition fragt Agacinski vor allem danach, ob der radikale Kulturalismus dazu beigetragen habe, die historisch gewachsenen, philosophisch konstruierten und gesellschaftlich praktizierten Herrschafts- und Hierarchieverhältnisse zwischen Männern und Frauen zu analysieren. Ihr Urteil lautet: Er hat es nicht, weil er selbst verfiel in ein Denken in Kategorien, das Natur und Kultur, Biologie und soziale Rolle, sex und gender in Konkurrenz zueinander setzt, statt beharrlich ihre komplexen und dynamischen Wechselverhältnisse und Verstrickungen zu beobachten. Butler, die sich längst auf die konkreten Leistungen des historischen Feminismus und den Wandel der Lebensstile seit den 1960er Jahren habe stützen können – also vor allem die Befreiung von den traditionellen Geschlechterrollen –, habe einen einseitigen theatralischen gender-Begriff hervorgebracht, comme si féminité et masculinité étaient des panoplies culturelles dont chacun pouvait s’équiper indépendamment de son sexe / als wenn Weiblichkeit und Männlichkeit eine kulturelle Kleidung / Waffensammlung seien, mit der sich jeder oder jede unabhängig von seinem / ihrem Geschlecht ausstatten könne.9
Butler, so Agacinski, verfalle damit strukturell in den gleichen Fehler wie die wirkmächtige platonische Philosophie, die den mythisch ausgefalteten Andro-
6
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt/M 1991.
7
Sylviane Agacinski: Femmes entre sexe et genre, Paris 2012.
8
Vgl. zur späten Butler-Rezeption in Frankreich den Aufsatz von Sabine Schrader in diesem Band.
9
Agacinski: Femmes entre sexe et genre, S. 9, Übersetzung Walburga Hülk.
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zentrismus10 und den daraus resultierenden Hegemonieanspruch des Mannes nur auf den Sexus gegründet habe, und sie mache mit dem Vorschlag frei flottierender Geschlechter nichts anderes, als diesen Absolutismus umzukehren. In Wirklichkeit seien die Gründe für die so viele Jahrhunderte lang gültige Vorherrschaft des Mannes und die Unterwerfung der Frau und auch für variable oder neue Muster der Geschlechterkonstituierung immer komplizierter gewesen, vor allem aber abhängig von der irreduziblen und konsekutiven Kopplung von sex und gender, ohne die auch jedes Gespräch über Generation im Sande verlaufen müsse. Agacinskis Buch ist Butler-bashing, keine Frage. Der polemische Ton, mit dem sie einem ganzen Forschungszweig unseriöse Voraussetzungen attribuiert, mag verärgern, zumal die raschen Schlussfolgerungen durchaus Fragen offen lasen und der Komplexität der Butler’schen Überlegungen, vor allem in Bodies That Matter, vielfach nicht gewachsen sind. Ne pas conclure / Keine Schlüsse ziehen – Flauberts Diktum sollte auch hier Richtlinie epistemologischer Demut sein, zumal dann, wenn es ums Ganze geht, sagen wir: die große Erzählung vom ‚Menschen‘. Und doch: Das Insistieren Agacinskis auf der Unhintergehbarkeit des Sexes und damit eines biologischen Substrats, das mehr ist als der Effekt von Diskursen, Performanzen, Neigungen oder des „Gebrauchs der Lüste“11, ist ebenso wenig neu wie unzeitgemäß – auch Gianni Vattimo hatte z.B. auch darauf bestanden –, und es lädt dazu ein, noch einmal hinter Wittig und Butler zurückzugehen und zu überprüfen, was überhaupt gemeint ist, wenn von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ oder eben von ‚Männlichkeiten‘ und ‚Weiblichkeiten‘ die Rede ist. Auf die Gefahr hin, mit dem Schimpfwort ‚essentialistisch‘ belegt zu werden, muss die Frage erlaubt sein, ob die „Biologismuskritik, [die als] unhintergehbarer Stand der Forschung [gilt]“12, nicht in einen hyperrealen Dogmatismus verfällt, der an der Realität des Mann-Seins und Frau-Seins vorbeigeht. Eine solche Realität wäre im Sinne des Marx’schen und Bloch’schen Materialismus keine statische Entität, sondern immer schon gebunden an Temporalität und Praxis13 ohne deshalb an Materialität einzubüßen, auch wenn das Geschlecht aufgeladen ist mit Kultur oder einem ‚flow‘ kommunikativer Praktiken. Das macht vielleicht einen nur kleinen Unterschied, ist aber doch ein entscheidender Einsatz, der zu
10 Vgl. ebd., S. 73ff. 11 Vgl. hierzu Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1989. 12 Barbara Schütze: Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte: Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung, Bielefeld 2010, S. 39. 13 Vgl. Butler: Körper von Gewicht, S. 343f.
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koppeln ist mit dem konstruktivistischen, im Kern nominalistischen Begriff Butlers, hinter den sie in gewisser Weise selbst zurückfällt, wenn sie dem Signifikaten eine primäre Materialität zuschreibt, die er seit Lacan niemals mehr gehabt haben wird.14 Es sei an diesem Punkt unserer Überlegungen die Frage gestellt, ob vielleicht Helmuth Plessners feine philosophische Anthropologie, entwickelt seit dem Buch Die Stufen des Organischen von 1928 und damit lange vor jeder Idee des doing gender, für die Gender Studies fruchtbar zu machen ist, weil sie nämlich eine interessante Position darstellt im Hinblick auf das ‚Doppelwesen‘ Mensch. Plessner, dessen Bücher wenig übersetzt und deshalb in der englisch- und französischsprachigen Forschung so gut wie nicht rezipiert sind, geht davon aus, dass der Mensch ein „Leib ist“ und einen „Körper hat“, d.h. die Begabung und das Begehren, die bei anderen Lebewesen unhinterfragte Leib-Identität zu reflektieren und in Organisationsformen „exzentrischer Positionalität“ zu praktizieren: Anders als die subjektphilosophische Tradition, bindet Plessners biophilosophischer Ansatz Selbstreflexivität und Praxis nicht an einen zuletzt metaphysischen Kern des „Subjektiven“, sondern an die Erfahrung des individuellen Körpers, dessen „Nacktheit“, Ausgesetztheit und Bedürftigkeit zur „Offenheit“, zum Spiel und zur Maskerade drängen, während er zugleich markiert wird von Macht- und Wissensdiskursen. Unergründlichkeit, Unbestimmtheit und stets wechselnde Grenzen werden zur Signatur des Lebens, das in der Verschränkung von gegebener Materialität, Ordnungen und Selbstentwürfen in Raum und Zeit unablässig dynamisch ist.15 Ob diese und andere Gedanken Plessners, die eine
14 Eine sehr besonnene Einschätzung liefert Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 30/2 (2005), S. 156-232, hier S 230f.: „Ähnlich unproduktiv wie das alte Unterfangen, die Geschlechterdifferenz zu biologisieren, scheint es heute zu sein, sie zu einem aufzulösenden Restbestand patriarchalischer Epochen zu erklären oder sie in ein jedem und jeder zur Verfügung stehendes Spiel zu verwandeln, das beliebig zu beginnen oder auszusetzen wäre. Statt ein frei wählbares Repertoire anzubieten, bleibt die Zuordnung von Männlichkeit und Weiblichkeit zu Personen offensichtlich an die Existenz einer differenten geschlechtlichen Identität gebunden.“ 15 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 31975, S. VIIIff. und S. 132ff.; Ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 2009, S. 8ff.; vgl. auch Hans-Peter Krüger/Gesa Lindemann (Hrsg.): Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert (Reihe: Philosophische Anthropologie, Bd. 1), Berlin 2006;
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reflexive, ästhetische oder auch operationelle Distanz – das wären hier: ‚Männlichkeiten‘, ‚Weiblichkeiten‘ – zum Unhintergehbaren, Gegebenen – Mann oder Frau zu sein – notwendig einschließen, zur Überprüfung gesetzter genderPositionen taugen, kann hier nicht entscheiden werden. Wir möchten stattdessen, zurückkommend auf den Titel „Crisis? What Crisis?“, an zwei Beispielen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts skizzieren, dass die Bewunderung der ‚Männlichkeit‘ und die ihr zugewandte Neigung sich gleichermaßen körperlicher Identifizierung wie kultureller Codierung verdanken. Das Denkmuster ‚hegemoniale Männlichkeit‘ lässt sich hier vielleicht besonders deutlich feststellen. Es handelt sich um Hippolyte Taines Kunstphilosophie aus den 1860er Jahren und Pierre de Coubertins Neu-‚Erfindung‘ der Olympischen Spiele in den 1890er Jahren. Beide Beispiele lassen sich lesen als Gegenstrategien zum Dekadenzbewusstsein und stellen den grassierenden Diagnosen der körperlichen und geistigen Schwäche des Mannes einen Kult der Energie und Form gegenüber: eine Bewunderung des nackten athletischen Körpers, der kräftezehrende Mühsal auf seine Schultern nimmt, und der geistigen Spannkraft, beide gebunden an den Kult des Mannes und der Antike, der mit Winckelmanns Vorstellung von der Schönheit der griechischen Skulptur ab 1755 ihren prägnanten Neu-Einsatz und klassischen Höhepunkt erreichte. In einer frühen Version der Ekphrasis zum Torso von Belvedere heißt es bei Johann Joachim Winckelmann: Abb. 3: Apollonios von Athen, Torso von Belvedere, 1. Jh. v. Chr.16
darin Ulle Jäger: „Plessner, Körper und Geschlecht. Exzentrische Positionalität im Kontext konstruktivistischer Ansätze“, S. 215-234. 16 Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Torso_Belvedere_01.jpg (Zugriff am 03.02.2014).
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Torso. Bey dem ersten Anblick dieses Stückes wird man nichts anders gewahr als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die Ruhe angenommen, und sich fixiret auf dieses Stück, so verliehret das Gedächtniß den ersten Anblick des Steins und scheinet er weichliche zarte Materie zu sehen [werden]. Ob dieses Stück schon ohne Kopf, Arme noch Beine ist, so bildet die Vollkommenheit des übrigen in unseren Gedanken schönere Glieder, als wir jemahls gesehen haben. Die Gottheit und Vollkommenheit erscheinet so wohl durch die Form als Zärtlichkeit der mächtigen Muskeln des vergötterten Helden. Derjenige so einen Begrif von der Großheit der Griechischen Künstler hat, wird in seinen Gedanken leicht die verlohrnen Theile ersetzen. Denn da man im gantzen Körper keine Nothdürftige theile als Härte der Knochen, angespannte Sehnen Nerven oder Adern siehet, so stellt man sich leicht vor, wie in dem Haupt die Gottheit des Vaters gewesen sey, [auf?] den übbliebenen Schultern ersiehet man die Stärcke deßen der nach der Poeten Beschr den Himmelsglob getragen.17
Hörbar ist ein schwärmerischer und doch handfester (hier homoerotisch grundierter) Ton, der das Ideal der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘ zuletzt aus der Physiologie des Auges und der Einbildungskraft entbirgt, die das Athletische als Erhabenes („Großheit“), und damit aus der ästhetischen Distanz heraus konstruieren: Es ist der auf das Wesentliche reduzierte Torso, der ausdrucksvoll die Materialität des männlichen Körpers zur Anschauung bringt, und es ist diese Anschauung oder auch Imagination, die in der französischen Kunstphilosophie des 19. Jahrhunderts, von der Romantik bis zum Fin-de-siècle, von Stendhal bis Rodin, weiter dynamisiert wurde, z.T. über den Doppelschritt der Rezeption antiker und frühneuzeitlicher Kunst. Sie brachte einen Kult der zur Form drängenden Materie und Energie hervor, der unverkennbar im Dienste einer Korrektur des Modernen und Dekadenten und damit jener Auflösungsprozesse steht, die in den Köpfen der Kulturkritiker und Dekadenz-Künstler stattfanden. Die Fokussierung auf den männlichen Körper – die mythisch rückgebundenen Attribute des Athletischen und Nackten (des Athleten/Wettkämpfers und der Gymnastik / Nacktkunst, verkörpert im Sportler) – als Träger der anatomischen, physiologischen und psychischen Energie, dominiert. Selbst „Jesus ist ein muskulöser Mann“ – so lautet der knackige Titel eines Beitrags von Paul Ingendaay über Tintorettos Malerei anlässlich der großen Ausstellung 2007 im Prado.18 Er trifft
17 Helmut Pfotenhauer/Markus Bernauer/Norbert Miller (Hrsg.): Bibliothek der Kunstliteratur in vier Bänden, Bd. 2: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, Berlin 1995, S. 168f. 18 Paul Ingendaay zur Madrider Tintoretto-Ausstellung 2007: „Jesus ist ein muskulöser Mann“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.1.2007, S. 37.
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damit sehr gut einen Akzent, den schon Hippolyte Taine in den 1860er Jahren in seiner aus Antikensehnsucht und Italienliebe entbundenen Kunstphilosophie setzte. Beginnend mit Les jeunes gens de Platon (1855) über Voyage en Italie (1866) und Philosophie de l’art (1865/82), bot er gegen die papierene und ältliche Gelehrtheit und Müdigkeit der unsinnlichen französischen Philosophie das platonische Ideal von Jugend und Form auf. Er entdeckte diesen Impuls wieder auf Bildern der venezianischen Maler, in den Bewegungsmustern von Figuren, die aussehen, als hätte Anthropotechnik eine Reihe von Trainingseinheiten – sie befähigt zum körperlichen und geistigen Schwung. Abb. 4: Tintoretto: Il miracolo di San Marco, 1548, Gallerie dell’Accademia19
Abb. 5: Tintoretto, Il battesimo di Cristo, 1570, Museo del Prado20
19 Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Tintoslave.jpg (Zugriff am 03.02.2014). 20 Quelle: http://it.wikipedia.org/wiki/File:Jacopo_Tintoretto_033.jpg (Zugriff am 03. 02.2014).
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Taine, einer der schillerndsten Intellektuellen und epistemologischen Grenzgänger des 19. Jahrhunderts, wurde stets einseitig und verkürzt vereinnahmt als Protagonist des Naturalismus und damit eines starren, hereditär begründeten Determinismus. Was ihn stattdessen und hauptsächlich interessierte, war Kunst, und auch die Ermöglichungsbedingungen schöpferischer Kraft, denen er in einem komplexen Suchprogramm nachspürte. Zu diesem gehörten der rege Dialog mit Physiologen und Psychologen und die Lektüre ihrer Schriften ebenso wie der Kontakt zu den Malern von Barbizon und ein aufschlussreicher Briefwechsel mit Flaubert, mit dem er 1869, Arm in Arm, zum Begräbnis des Literaturpapstes Sainte-Beuve schritt. Die Kippfigur von Dekadenz und Salutogenese bestimmte dabei zweifelsohne sein Denken, und insofern hatte er auch teil an Diskursen, die Ideale von ‚Männlichkeit‘, stellvertretend für Kultur überhaupt, konstruierten und von seinen Schülern – Paul Bourget, Maurice Barrès – in einen nicht unproblematischen ‚culte du moi‘ übersetzt wurden. Dieses gilt mehr noch für Pierre de Coubertin. Der 1863 geborene französische Adlige Baron Pierre de Coubertin gilt als der Erneuerer der Olympischen Spiele. 1889 war der Pädagoge von der französischen Regierung mit einer Studie über moderne körperliche Erziehung und Ertüchtigung beauftragt worden, woraus schließlich das Konzept der modernen Olympischen Spiele entstand. Coubertins Ziel war es, die Muskeln, d.h. den Körper, an der sittlichen Ausbildung in Frankreich teilhaben zu lassen, wobei er sich an der englischen Erziehung orientierte, die er als ‚kräftig‘ und ‚mannhaft‘ bezeichnete. Abb. 6: Pierre de Coubertin, um 189421
21 Quelle:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pierre_Fr%C3%A9dy_Baron_de_
Coubertin.png ( Zugriff vom 03.02.2014).
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Um seine pädagogischen Ideen langfristig zu etablieren, schien ihm die Erneuerung der Olympischen Spiele mit internationalem Charakter der einzige Weg. Dabei betonte er immer wieder die Bedeutung der Verbindung von Körper und Geist, zu der er bemerkte: Montaigne hat an irgendeiner Stelle gesagt, man müsse den Leib und die Seele als zwei Pferde ansehen, die an die gleiche Deichsel gespannt sind. Ich ziehe es vor, vier anzuspannen, und nicht nur zwischen Leib und Seele zu unterscheiden, das wäre zu einseitig, sondern auch zwischen den Muskeln, der Urteilskraft, dem Charakter und dem Gewissen.22
Coubertin wollte bei der Entwicklung, bzw. bei der Erziehung des Menschen – d.h. hier des Mannes – auch den Charakter, das Gewissen, das freie Urteilsvermögen und die Ausbildung des Physischen berücksichtigen und dies in Verbindung mit dem Sport und den ‚höheren‘ Künsten. Der Mensch sollte sich durch den Sport verbessern, weiterentwickeln, ‚menschlicher‘ werden. Jedem sollte der Zugang zu einer allgemeinen sportlichen Erziehung gewährt sein, die „gesäumt von männlichem Schneid und ritterlichem Geist, vermischt mit ästhetisch und literarisch orientierten Veranstaltungen“23 im Leben jedes einzelnen den Mittelpunkt darstellen soll, als „Motor für das Leben der Nation.“24 Die Hypostasierung des Männlichen zum allgemein-menschlichen Prinzip, das Georg Simmel erst 1911 konstatieren wird, liegt diesen Überlegungen unhinterfragt zugrunde. An dieser Stelle wird dies besonders deutlich durch die In-Einssetzung von ‚männlichem Schneid‘ und dem ‚Motor für das Leben der Nation‘. Hier ist vom Schreckgespenst der Dekadenz, wie es in den literarischen und kulturkritischen Zeugnissen der Zeit allerorts zu beobachten ist, nichts zu spüren – wenn überhaupt, dann als unmarkierter Gegen-Diskurs zum Krisenbewusstsein des Fin de Siècle, das vor allem auch die Männlichkeit erfasst hatte. Um sein Vorhaben weiter zu rechtfertigen, hob Coubertin auch die Vorteile für Sportler in der Wehrdienstzeit hervor und betonte, die Athletik könne gleichzeitig Frieden festigen und Krieg vorbereiten.25 Coubertin bemerkte, es sei „sehr
22 Pierre de Coubertin: „Mein Programm“, in: Olympisches Lesebuch, hrsg. von Deutsche Olympische Gesellschaft, Hannover u.a. 1971, S. 14-15, hier S. 14. Das Bild des Pferdewagens geht jedoch nicht ursprünglich – wie Coubertin meint – auf Montaigne zurück, sondern auf Platons Wagenlenker-Gleichnis, das er im Phaidros entwickelt. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd. 25 Vgl. Pierre de Coubertin: Olympische Erinnerungen, Berlin 1987, S. 25.
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groß und sehr schön, sich mannhaft in der Absicht zu üben, die Heimat besser schützen, seine Pflicht als Staatsbürger besser erfüllen zu können.“26 Coubertin stellte sich demnach vehement gegen das Dekadenzbewusstsein seiner Zeit, orientierte sich stattdessen an Themen wie Kraft und Gesundheit und schöpfte seine Ideen aus dem Rückgriff auf die Antike, mit der er sein Interesse an Sport und Leibeserziehung verband. Tatsächlich war es auch die allgemeine Antikenbegeisterung der Zeit, die die Wiedereinführung der Olympischen Spiele schließlich möglich machte. Coubertin zufolge ist es durchaus denkbar, christliche Erwartungen und die Ausbildung körperlicher Anlagen miteinander zu vereinen. Dies wurde seiner Meinung nach im Mittelalter völlig falsch dargestellt. Man hätte den menschlichen Körper nicht zu einem bloßen Gegenstand degradieren und so das Leben verachten dürfen. Erst später habe die Menschheit die Notwendigkeit und den Wert der Antike erkannt und nun sei es wichtig, dass die Archäologie sie zur Bildung und Belehrung ans Tageslicht zurückbringe.27 Mit archäologischen Funden im alten Olympia wurden Ende des 19. Jahrhunderts Werke griechischer Kunst zu Tage gefördert und somit literarische und künstlerische Schöpfungen wiederentdeckt, die insbesondere den männlich-athletischen Körper in den Mittelpunkt rückten. Dabei wurde festgehalten, dass man sich nicht mehr nur auf das bloße Studium und die bloße Bewunderung der Meisterstücke der alten Literatur und der alten Kunst beschränken, sondern mit dem gleichen Eifer auch praktische Lehren aus dem Leben der Alten ziehen sollte.28 Man wollte das 20. Jahrhundert „mit den schönsten Blüten der alten [K]ultur geschmückt […] betreten.“29 Coubertin wollte zeitgemäße Spiele, d.h. er orientierte sich zwar an den Olympischen Spielen der Antike und wollte diese wieder zum Leben erwecken, sie jedoch an die Neuzeit anpassen. In der Antike ging es auch schon um Körperlichkeit, Ästhetik und Idealisierung des männlichen Körpers. Der Fünfkampf30 stand im Mittelpunkt der antiken Olympischen Spiele. Der Sieger dieses Wettbewerbs wurde als vollkommen angesehen. Darüber hinaus galten die Fünf-
26 Pierre de Coubertin: Les Jeux Olympiques, zit. nach Klaus Ullrich: Coubertin. Leben, Denken und Schaffen eines Humanisten, Berlin 1982, S. 39. 27 Vgl. ebd., zit. nach Ullrich: Coubertin, S. 44. 28 Vgl. Spuridon P. Lambros/Nikolaos G. Polites: Die Olympischen Spiele 776 v. Chr. – 1896 n. Chr. Erster Theil: Die Olympischen Spiele im Altertum, Athen 1896, S. 1, abrufbar unter: http://www.la84foundation.org/6oic/OfficialReports/1896/1896part1.pdf (Zugriff vom 03.02.2014). 29 Ebd. 30 Speer, Diskus, Sprung, Lauf und Ringen.
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kämpfer als die schönsten Menschen und als Leitbilder: Sie mussten gleichzeitig biegsam und hart, kräftig und leicht sein31, woran sich auch Coubertin orientierte. Er machte außerdem deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen, wie sie in der Antike üblich gewesen waren. Coubertin war anfangs strikt gegen die Teilnahme von Frauen bei den Olympischen Spielen. Frauensport galt zunächst als unästhetisch und unangebracht. So waren auch in Athen 1896, bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, keine Frauen zugelassen. Doch wollte Coubertin die Antike nicht einfach kopieren, sondern etwas Modernes schaffen auf der Grundlage des olympischen Gedankens der Antike: nämlich „die Heiligung des Festes im Zeichen des Friedens, die Weihe an den Idealismus und die Aufgabe menschlicher Vollendung.“32 Die Spiele sollten geprägt werden von der Neuzeit und wandelbar sein, damit sie auch in Zukunft noch lange existieren könnten. Um die Vereinigung von Körper und Geist zu vollziehen und dem Sport einen Platz im alltäglichen Leben einzuräumen, wollte Coubertin außerdem Kunstwettbewerbe in das Olympische Programm integrieren, was er schließlich bei den Olympischen Spielen von 1912 in Stockholm durchsetzte. Denn genau diese Kunstwettbewerbe waren gemeint, als er schon zu Beginn seines Vorhabens davon sprach, „männlichen Schneid und ritterlichen Geist“ mit ästhetisch und literarisch orientierten Veranstaltungen zu vermischen. Coubertin erteilte dem IOC den Auftrag, in den fünf Bereichen Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei Kunstwettbewerbe durchzuführen, in denen alle vier Jahre während der Olympischen Spiele unveröffentlichte Arbeiten, die unmittelbar vom Sport inspiriert wurden, ausgezeichnet werden sollten.33 In der Kategorie Literatur gewann 1912 die Ode an den Sport von Georges Hohrod und Martin Eschbach: Der Vorsitzende des IOC bezeichnete die Ode als Inspiration in Bezug auf die Forderungen der Richtlinien. Die Idee des Sports werde im Kern erfasst und ausgedrückt. Der Sport werde in zwei Formen verherrlicht, künstlerisch und sportlich. Alle Strophen würden vom lebendigen sportlichen Empfinden durchströmt. Die Ode zeichne sich nicht nur durch Bildhaftigkeit aus, sondern durch ihre harmonische und tadellose Struktur.34
31 Vgl. Ernst Wilhelm Eschmann: „Die Wettkämpfe im antiken Olympia“, in: Olympisches Lesebuch, S. 85-87, hier S. 85. 32 Vgl. Carl Diem: Der Olympische Gedanke. Reden und Aufsätze, Schorndorf 1967, S. 22. 33 Vgl. Richard Stanton: The Forgotten Olympic Art Competitions. The Story of the Olympic Art Competitions of the 20th Century, Victoria 2000, S. 10f. 34 Vgl. Ullrich: Coubertin, S. 102f.
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I. O Sport, Du Göttergabe, du Lebenselixier! Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit, Der du ein Bote bist der längst vergangenen Tage. Wo die Menschheit lächelte in Jugendlust, Wo der aufsteigende Sonnengott die Gipfel der Berge rötete Und scheidend den Hochwald in leuchtende Farben tauchte. II. O Sport, Du bist die Schönheit! Du formst den Körper zu edler Gestalt, Hältst fern von ihm zerstörende Leidenschaft Und stählst ihn durch dauernde Übung. Gibst schöne Harmonie seinen Gliedern Und gefälligen Rhythmus seinen Bewegungen. Du verbindest Grazie mit Kraft Und Geschmeidigkeit mit Stärke. III. O Sport, Du bist die Gerechtigkeit! Vergeblich ringt der Mensch nach Billigkeit und Recht In allen sozialen Einrichtungen; Er findet beide nur bei Dir. Um keinen Zoll vermag der Springer seinen Sprung zu höhen, Nicht um Minuten die Dauer seines Laufs. Die Kraft des Leibes und des Willens Spannung ganz allein Bestimmen die Grenzen seiner Leistung. IV. O Sport, Du bist der Mut! Es gibt nur eine Losung für die Kraft der Muskeln und des Willens Und die heisst: wagen! Der wahre Mut ist nicht tolkühne unbesonnene Verwegenheit Ist nur, Vertrauen auf die erworb‘ne Kraft, Dem Zufall überläßt sich nur der freche Spieler; Dein Wagen ist Berechnung, ist Verdienst!
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96 | W ALBURGA H ÜLK / B RITTA K ÜNKEL V. O Sport, Du bist die Ehre! Von Dir gespendet hat Lob und Zeugnis vollen Wert, Weil nur in wahrer Redlichkeit gewonnen. Unlautrer Wettbewerb und unerlaubter Kunstgriff Sind streng verpönt. Und mit Verachtung würde der bestraft, Der nur mit List und Täuschung die Palme sich erringen wollte. VI. O Sport, Du bist die Freude! Sobald Dein Ruf ertönt, erbebt der Leib in Wonne, Das Auge glänzt und stürmisch Blut durchströmt die Adern, Klar fliegen die Gedanken ätherwärts Die Seele ist gelöst von jedem Druck Und jubelt laut im Vollgenuß des Lebens. VII. O Sport, Du bist die Fruchtbarkeit! Auf zielbewußten Wegen veredelst Du des Menschen Rasse, Weißt kranke Keime zu ersticken und Flecken auszuwischen, Die ihre Reinheit zu vergiften drohen. Und kraftgeschwellt hegt der Athlet Verlangen, Sich Söhne zu erzeugen, die fähig sind wie er, Ruhmvollen Lorbeer zu erringen. VIII. O Sport, Du bist der Fortschritt! Wer Deinem Dienste würdig sich will zeigen, Muß fortgesetzt an Leib und Seele sich verbessern, Muß jedes Übermaß vermeiden; Und seine Leistungen zu steigern stets bestrebt sein, Und doch das höchste Gut Gesundheit sich bewahren, Des alten Spruches eingedenk: „Gesunde Seele will in gesundem Körper wohnen.“ IX. O Sport, Du bist der Friede! Du schlingst ein Band um Völker,
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Die sich als Brüder fühlen in gemeinsamer Pflege Der Kraft, der Ordnung und der Selbstbeherrschung. Durch Dich lernt Jugend selbst sich achten, Und auch Charakter Eigenschaften anderer Völker Schätzen und bewerten. Sich gegenseitig messen, übertreffen, das ist das Ziel Ein Wettstreit in dem Frieden35
Coubertin kritisierte den Text, weil er in den Sprachen Deutsch und Französisch eingereicht wurde, weshalb die Eindeutigkeit des Ursprungs des Werks zu gering sei. Zu diesem Zeitpunkt wusste allerdings noch niemand, dass Coubertin selbst der Verfasser der Ode war und sie unter Pseudonym eingereicht hatte. So setzte er seine Kritik fort und warf die Frage auf, ob die Schriftsteller andeuten wollten, dass Olympische Literatur bei der Pflege der Schönen Künste Völker zusammenführen soll, wozu er meinte: „Die Absicht scheint gut, birgt aber eine gewisse Gefahr in sich. Denn es ist zu wünschen, daß in einem internationalen Wettbewerb auch die Werke der Literatur den ausgeprägten Stempel eines nationalen Genies tragen und nicht versuchen, die Eigenart der Völker zu verwischen.“36 Diese Rede erhielt Beifall, bevor Coubertin ergänzte, dass es eventuell ein kleines Geheimnis bleiben werde, wer die beiden Künstler seien, da man die Ode lediglich als gedrucktes Dokument erhalten habe, ohne Hinweise auf die Identität der Autoren, die auch nicht auf die Bühne kamen, als sie aufgerufen wurden. Es gebe zwar Gerüchte um die Herkunft des Werkes, doch befasse sich das IOC nicht mit Gerüchten.37 In der Ode an den Sport sieht Coubertin den Sport als Gott gegebenes Elixier des Lebens an. Der Sport stelle darüber hinaus einen hoffnungsvollen Gegenpol zur harten Arbeit dar, eine Chance aus besseren Tagen. Aus einer Zeit, die man nicht mit jener der aufkommenden Industrialisierung vergleichen kann, eine Zeit nach deren alten Tagen, nach deren Natur und Farben man sich sehne. Es wird die Schönheit eines Mittels betont, das durch die Verbindung von Grazie, Kraft, Rhythmus und Anmut den menschlichen Körper gesund und fit erhält und ihn formen kann zur Perfektion. Der Sport stärke den Körper gegen schädliche Leidenschaften, härte ihn durch kontinuierliches Training ab und setze ihn in kunst-
35 Georges Hohrod/Martin Eschbach: Ode an den Sport [1912], in: Bernhard Kramer: Die Olympischen Kunstwettbewerbe von 1912 bis 1948. Ergebnisse einer Spurensuche, Weimar 2004, S. 77f. 36 Ebd., S. 103. 37 Vgl. ebd.
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volle Harmonie. So finde der Mensch der Ode zufolge auch das Mindeste, was er sich ersehne, nämlich natürliche Rechte, im Sport und nicht in irgendwelchen sozialen Einrichtungen. Denn allein in der sportlichen Auseinandersetzung erreiche man seine Ziele durch die Kräfte des Geistes und die des Körpers. So gilt der Sportler, der trainierende Mensch auch als der wahre tapfere Mensch. Denn ein wahrhaft tapferer Mensch sei kein kopfloser Draufgänger, sondern ein überlegter Typ, der in sein Training und seinen Willen vertraue. Man verlasse sich nicht auf den Zufall, sondern bekomme seinen wahren Lohn im Wagnis der Herausforderung. Nur ein Narr verlasse sich auf sein Glück und trainiere nicht richtig. Beim Sport sei das Wagnis der Gewinn. Die Ehren, die der Sport einem Menschen zumessen kann, seien schier grenzenlos, denn die Zuneigung der Sportverehrer könne nur jemand erringen, der sich vorbildlich verhalten und keine Regel verachtet habe. List und Betrug werden als Schande angesehen, für die Verachtung die Strafe ist. Die reine Freude am Sport werde als ein freier, losgelöster Zustand betrachtet, bei dem man sich ganz der Sache des Sports widme und Alltägliches vergesse. In diesem Fall wird das Leben zu einem leichten Genuss. Geist und Körper werden belebt, die Gedanken sind losgelöst und man genießt Leben ohne Alltagssorgen. Die siebte Strophe der Ode an den Sport hebt noch einmal die vitalisierende Wirkung des Sports, der für Fruchtbarkeit und Gesundheit stehe, hervor. Die Ode sagt dem Athleten ein gesundes Sexualverlangen nach. Denn der Sport könne dazu dienlich sein, den menschlichen Köper nicht nur zu einem wohldefinierten, statuarischen Äußerem zu verhelfen, d.h. und ihn veredeln, sondern er könne dem Mann auch behilflich sein, potent zu bleiben. Der Athlet erhalte die Kraft und Potenz, Söhne zu zeugen, die wiederum fähig und gewillt seien, sportliche Ehren zu erringen und zu erkämpfen. Besonders aussagekräftig ist in diesem Passus, in dem es immerhin um die Fortpflanzung geht, die völlige Ausblendung von Weiblichkeit nach dem Motto: ‚Männliche Sportler zeugen Söhne‘. Die Idealisierung des Sports und damit der männlichen Potenz erweckt den Eindruck, als sei der perfekte Sportler dazu in der Lage, ohne das Zutun der Frau Nachwuchs zu zeugen. Hier erscheint die gedankliche Nähe zu den misogynen Diskursen eines Otto Weiningers oder aber der italienischen Futuristen auf, die ebenfalls in der Weiblichkeit ein Symptom der Kulturgefährdung sehen.38
38 Vgl. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien/Leipzig 1903; vgl. auch diverse Schriften aus dem Umkreis des italienischen Futurismus, so den im Hinblick auf das Thema der ‚Junggesellengeburt‘ besonders drastischen Roman Mafarka le futuriste von F.T. Marinetti (1909).
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Weiter wird Sport als Werkzeug des Fortschritts für den Körper betrachtet. Mithilfe des Sports müsse man sich kontinuierlich verbessern, Übermaß dabei aber vermeiden. Das höchste Gut, nämlich die Gesundheit sollte bewahrt werden. So beruft sich die achte Strophe auf die Redewendung: „eine gesunde Seele will in einem gesunden Körper wohnen.“ Die letzte Strophe betont noch einmal ein wichtiges Ziel Coubertins bei der Wiedereinführung der Olympischen Spiele: Sport als Annäherung der Völker und Bewahrer des Friedens. Der Sport soll Nationen miteinander vereinen und sie zu Brüdern werden lassen. In einem friedlichen Wettstreit sollen sich die Menschen messen und gegenseitig übertreffen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ode an den Sport auch als ‚Ode an die Männlichkeit‘ zu verstehen ist. Nahezu sämtliche Attribute tradierter, ‚hegemonialer Maskulinität‘ werden lobend aufgerufen: Körper von edler Gestalt, Kraft, Stärke, Gerechtigkeit, Leistung, Mut, Willen, Ehre, Fortschritt, Leistung, Ordnung, Selbstbeherrschung und Wettstreit. Weiblichkeit wird entweder ausgeblendet – besonders deutlich in Strophe VII – oder in das eigene Programm idealisierter Männlichkeit aufgenommen (so die eher weiblich codierten Kategorien ‚Grazie‘ und ‚Geschmeidigkeit‘). Damit liefert Coubertin – ähnlich Taine, wenn auch weniger subtil – einen eindeutigen Gegendiskurs zum krisenhaften Männlichkeitsbild des Fin de Siècle. Er setzt den Schwanengesängen der Dichter – von Huysmans über Clarín bis Thomas Mann – ein zutiefst romantisches Lob des Optimismus entgegen, das interessantereise auf den antiken Kult des Athletenkörpers und ein klassizistisches Formenrepertoire zurückgreift und im Sport sowie der notorischen Abwehr alles Weiblichen die Mittel zur Überwindung von Dekadenz, den Schlüssel zur kulturellen Salutogenese sieht.
Der junge Kaiser, das Dichterkind und der Bohemien Männlichkeit und Jugend um 1900. Deutsch-französische Streifzüge G REGOR S CHUHEN
P REUSSISCHE V ERJÜNGUNGSKUR Im Jahr 1888 vollzieht sich in der deutschen Monarchie ein beispielloser Generationenwechsel. Am 9. März um 8.22 Uhr nimmt die beschleunigte Kursfahrt ihren Lauf: Kurz vor seinem 91. Geburtstag stirbt Wilhelm I., der seit 1871 auf dem deutschen Kaiserthron gesessen hatte, seit 1861 preußischer König war und nicht weniger als vier Attentate auf seine eigene Person überlebt hatte. Sein Sohn, Friedrich III., mit dem sich Wilhelm im Hinblick auf politische Zielsetzungen zeitlebens heftige Auseinandersetzungen geliefert hatte, besteigt sodann den Thron. Zu diesem Zeitpunkt jedoch ist Friedrich bereits völlig verstummt aufgrund einer tödlichen Erkrankung an Kehlkopfkrebs und stirbt am 15. Juni desselben Jahres nach nur 99 Tagen Amtszeit. Die Chancen auf einen politischen Kurswechsel zugunsten liberal-parlamentarischer Innovationen innerhalb der deutschen Monarchie verpuffen im Augenblick seines Todes. Denn sein eigener Sohn, Wilhelm II., steht im Hinblick auf die politische Ausrichtung des Kaisertums klar auf der Seite seines Großvaters. Somit bleiben die liberalen Bestrebungen des ewigen Kronprinzen Friedrich und dessen Frau Viktoria, Tochter der englischen Königin Victoria, folgenlos. Die Thronbesteigung ihres gemeinsamen Sohnes vollendet schließlich das in vielfacher Hinsicht schicksalhafte Dreikaiserjahr: Am 15. Juni 1888 tritt der erst 29-jährige Wilhelm II. seine Herrschaft als letzter deutscher Kaiser an.
102 | G REGOR S CHUHEN Er trat mit der Aura des jugendlichen Helden in die Geschichte ein. Sie gehört zu seinem Kaiserimage, so, wie er es wollte, so, wie man es von ihm erhoffte. Auch noch nach fünfundzwanzigjähriger Regierungszeit war er „unser junger Kaiser“.1
Dabei ist die Aura des „jugendlichen (Männer)helden“ trotz seines Lebensalters durchaus keine Selbstverständlichkeit. Denn Wilhelm wurde am 27. Januar 1859 nach schwerer Geburt mit einer körperlichen Behinderung geboren: Sein linker Arm ist gelähmt und stellt auf diese Weise sowohl die Formel der dynastischen Unversehrtheit als auch die der tadellosen Männlichkeit des Monarchen in Frage. Beides vermag Wilhelm von Anfang an aufgrund seiner physischen Disposition nicht zu erfüllen. Die Tagebücher von Mutter Viktoria sprechen eine deutliche Sprache angesichts des Bildes des ‚verkrüppelten Thronfolgers‘, der wohlgemerkt ihr Sohn ist: Ich kämpfe gegen die Enttäuschung und den nagenden Kummer, denn sein Arm verbitterte mir das Leben – und ich kam nie zur Freude über seinen Besitz. […] Ich habe ihn nie so besessen – und er hat nie so an mir gehangen. Es gibt wohl Bindungen, die so viel enger und zärtlicher sind.2
Und in einem Brief an ihre Mutter Queen Victoria heißt es gar: Seine Zukunft bereitet uns in der Tat die größten Sorgen […] Sein bedauernswerter Arm ist für ihn ein trauriger Nachteil – eine Behinderung auch für seine Erziehung – und wird Einfluß auf die Entwicklung seines Charakters ausüben – er wird nie männlich und selbständig sein wie andere Jungen.3
Mit aller Vehemenz versucht man, dieser Behinderung mit medizinisch-orthopädischer Methodik entgegenzuwirken. Das ganze Ausmaß der quälerischen Heilbehandlungen hat John C. G. Röhl nachgezeichnet: Wechselbäder, Gymnastik, Stromstöße und neuartige Streckmaschinen gehören zum Alltag des heranwachsenden Thronfolgers – Ziel der Behandlung: die Herstellung preußischvitaler Männlichkeit. Obwohl die Torturen nicht den erwünschten Erfolg zeitigen, schafft es Wilhelm, mit seiner Behinderung ein Leben zu führen, das dem
1
Nicolaus Sombart: Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996, S. 45.
2
Zit. nach John C.G. Röhl: Wilhelm II., Bd. I: Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993, S. 94ff.
3
Zit. nach Roger Fulford (Hrsg.): Your Dear Letter. Private Correspondence of Queen Victoria and the Crown Princess of Prussia 1865-1871, London 1976, S. 26.
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anderer aristokratischer Heranwachsender seiner Zeit nicht unähnlich ist. Trotz der Verkrüppelung wird Wilhelm bereits im frühen Jugendalter zum passionierten Jäger: 1872 erlegt er voller Stolz seinen ersten Fasan und erwirbt für sich über diese traditionelle Form adeliger Freizeitbeschäftigung erstmalig den herbeigesehnten „Ausweis der Männlichkeit“4. Wilhelm ist stets darauf bedacht, seine Behinderung durch typisch männliche Aktivitäten zu kaschieren, so gehören Reiten, Schießen oder Tennisspielen zu seinem Freizeitprogramm, um dem mütterlichen Orakelspruch bezüglich seiner drohenden Verweiblichung vorzubeugen. Dadurch hat er es zumindest physisch geschafft, „eine Fassade soldatischer Männlichkeit aufzubauen.“5 Diese übertriebene, ja geradezu kompensatorische Männlichkeitsperformance prägt viele Bereiche seiner späteren Regierungszeit. Unter anderem wird er sich kurz nach seinem Amtsantritt für eine Reform des Schulsystems einsetzen, womit er für öffentliches Aufsehen sorgt, weil er sich damit über die Agenda des langjährigen Bildungsministers Gustav von Gossler hinwegsetzt. Wilhelm bekräftigt in einer der längsten Reden seiner Laufbahn, dass er vor allem eine „kräftige Generation“ brauche, dass die Lehrpläne der Zukunft mehr körperliche Ertüchtigung und eine Reduktion des Lernstoffes vorgeben sollten. Auf diese Weise solle die Jugend gegen die beiden Viren Sozialdemokratie und Verweiblichung immunisiert werden. Wilhelm schließt sein Plädoyer mit dem Aufruf, die Schulen müssten „junge nationale Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer.“6 Die angestrebte Bildungsreform fiel am Ende nicht ganz so drastisch aus wie gefordert, „[a]ber der Deutschunterricht wurde auf Kosten von Griechisch und Latein erhöht, und es wurden mehr Stunden für die Leibeserziehung vorgesehen.“7 Somit verknüpft Wilhelm seit Beginn seiner Amtszeit nationale, soziale und pädagogische Fragen, um die Generation der männlichen Jugend in eine Form zu pressen, die den eigenen Erfahrungen in diesen Bereichen erstaunlich nahe kommt. Um das nachzuvollziehen, sei ein weiterer Exkurs in die Kindheit und Jugend des Kaisers unternommen. Als Ergänzung zum körperlichen Drill stellen Wilhelms Eltern 1866 den Hauslehrer Georg Ernst Hinzpeter ein, der bis 1877
4
Christian Graf von Krockow: Kaiser Wilhelm und seine Zeit. Biografie einer Epoche, Berlin 1999, S. 24.
5
Sombart: Wilhelm II., S. 48.
6
Zit. nach Anton Oskar Klaußmann: Kaiserreden. Reden und Erlasse, Briefe und Telegramme Wilhelms des Zweiten. Ein Charakterbild des Deutschen Kaisers, Leipzig 1902, S. 288f.
7
Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S. 92.
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der Erzieher des jungen Thronfolgers sein wird. Sein pädagogisches Konzept setzt auf eiserne Disziplin, den Ausschluss musischer Fächer sowie die Isolation seines Schülers von Gleichaltrigen. Wilhelm wird in seinen Memoiren resümierend festhalten, dass seine Erziehung bei Hinzpeter alles andere als fördernd war. Er schreibt: Lob spendete er nie […]. Dieser streng durchgeführte Grundsatz, nicht zu loben, war der Ausfluß eines pädagogischen Systems mit ganz bestimmter Zielsetzung: er verlangte vom Schüler das Unmögliche. […] Da nun das (unmögliche) Ziel natürlich nie erreicht wurde, konnte logischerweise auch kein Lob als Zeichen der Zufriedenheit verabfolgt werden. […] Man mag über die Hinzpetersche Pädagogik denken, wie man will, – daß aber ein Unterricht, dem die Freude fehlt, von falschen psychologischen Voraussetzungen ausgeht, erscheint mir außer Zweifel. Denn freudlos wie das Wesen des pedantischen und herben Mannes mit der hageren dürren Figur und dem Pergamentgesicht, der im Kalvinismus groß geworden war, ebenso freudlos war seine Erziehungsmethode und freundlos die Jugendzeit, durch die mich die harte Hand des ‚spartanischen Idealisten‘ geführt hat.8
Hinzu kommt noch die Tatsache, dass der junge Wilhelm in einem höfischfamiliären System aufwächst, das „in regelmäßigen Abständen von Kämpfen um Macht und Einfluss aufgeheizt wurde.“9 Diese politischen Grabenkämpfe fanden statt zwischen der Seite der ältesten Generation, die im Wesentlichen aus Wilhelm I. und Otto von Bismarck besteht, und der mittleren Generation, die durch seine eigenen Eltern vertreten wird. Der politische Machtkampf ist daher unbedingt auch als Generationskonflikt zu verstehen. Es verwundert angesichts der schwierigen, ja lieblosen Beziehung, die den jungen Wilhelm insbesondere mit seiner Mutter verbindet, kaum, dass die jüngste Generation sich wiederum gegen die mittlere auflehnt und sich gegen sie mit der ältesten verbündet. Jugendliche Rebellion macht folglich selbst am Kaiserhof keine Ausnahme, führt dort jedoch erstaunlicherweise zur Weiterführung der Tradition, was wiederum für einen typischen Eltern-Sohn-Konflikt eher ungewöhnlich ist. Doch was bleibt dem jungen Thronfolger anderes übrig als sich mit der Ideologie seines Großvaters (und seiner Großmutter, Queen Victoria) zu identifizieren, wo doch andere Möglichkeiten nicht vorhanden sind oder verwehrt bleiben? Kontakt zu Gleichaltrigen gibt es für den Heranwachsenden so gut wie gar nicht und die liberalen elterlichen Werte gilt es, mit aller jugendlichen Kraft zu bekämpfen. Für Christopher Clark ist der Generationskampf das charakteristische Strukturmerkmal am Hofe
8
Wilhelm II.: Aus meinem Leben. Die Jahre 1859-1888, Berlin 1927, S. 4ff.
9
Clark: Wilhelm II., S. 39.
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Wilhelms der 1880er Jahre, also „das gleichzeitige Nebeneinander dreier erwachsener Generationen, das es ermöglichte, dass die älteste und die jüngste gemeinsame Sache gegen die mittlere machen.“10 Das Dreikaiserjahr besiegelt gewissermaßen den natürlichen Höhe- und Endpunkt dieses Konfliktes und des damit verbundenen ‚Dramas der übersprungenen Generation‘. Man kann in den Ereignissen, d.h. den grundlegenden Umwälzungen am kaiserlichen Hof, die zwischen März und Juni 1888 ihren Verlauf nehmen, eine beschleunigte Abfolge beobachten, an deren Ende der vorzeitige Durchbruch der jungen Generation steht. Innerhalb eines Zeitraums von knapp einhundert Tagen verjüngt sich die deutsche Monarchie von neunzig auf neunundzwanzig und das in einem Land, das nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71 und der daran anschließenden Reichsgründung selbst noch in den Kinderschuhen steckt. Unterstützend im Hinblick auf die deutliche Zukunftsorientierung der geschichtlichen Zeitläufe sollte sich eine von Wilhelms ersten entscheidenden Taten als junger deutscher Monarch auswirken: Im März des Jahres 1890 verbannt er den eisernen Kanzler Otto von Bismarck aus dessen Amt. Schon kurz nach Wilhelms Thronbesteigung hatte er geäußert: „Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst.“11 Bismarck, der nach außen als Garant für Erfahrung, Kontinuität und preußische Disziplin gilt, äußert sich seinerseits skeptisch über seinen jungen Kaiser und bezeichnet ihn als „Brausekopf“, dem er vorwirft, er „könne nicht schweigen, sei Schmeichlern zugänglich und könne Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es zu ahnen und zu wollen.“12 Gleichgültig wie viel prognostische Wahrheit dieses Urteil des Älteren besitzen mag – feststeht, dass wir es auch auf politischer Ebene mit einem Generationskampf zu tun haben, der zugunsten der jüngeren Generation ausgeht. Blickt man nun auf Wilhelms weitere Handlungen als deutscher Monarch bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so erhält man insgesamt den Eindruck, dass mit ihm die Jugend mit all ihren positiven und negativen Zuschreibungen Einzug in die deutsche Staatspolitik gehalten hat: Auf der einen Seite Neugier, Innovationslust und Wissenschaftsbegeisterung, auf der anderen Seite fehlende Weitsicht, Impulsivität und Wankelmütigkeit. Das Ausmaß der Schuld Wilhelms und des Deutschen Reiches am Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist immer noch kontrovers diskutierter Gegenstand innerhalb der Geschichtswissenschaft und
10 Ebd., S. 25. 11 Zit. nach Gordon A. Craig: Deutsche Geschichte 1866-1945, München 32006, S. 198. 12 Zit. nach Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 1997, S. 117.
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soll an dieser Stelle vernachlässigt werden.13 Fest steht jedoch, dass in dieser Diskussion immer wieder Kategorien wie Erfahrungslosigkeit, übersteigerter Narzissmus sowie Fremdbestimmung für die politischen Aktivitäten des Kaisers geltend gemacht werden, d.h. Zuschreibungen, die sich mit den sozialgeschichtlichen Konstruktionen von – vorwiegend männlicher – Jugend bis in die heutige Zeit in Einklang bringen lassen.
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ALS LITERARISCHE
F IGUR
Die Frage lautet nun: Wie muss diese radikale Verjüngungskur der Reichsführung auf das deutsche Volk gewirkt haben? „Der Kontrast zur sinistren Gestalt Bismarcks, zur Märtyrerfigur des edlen Dulders, seines Vaters, zum greisen Großvater war frappierend, aber in ihm kündigte sich der Epochenwechsel an, der Schritt vom Alten zum Neuen, von der Vergangenheit zur Zukunft.“14 Und tatsächlich feierten die Deutschen ihren jungen Kaiser und sahen in ihm eine Symbolfigur für eine zukunftsorientierte Führung des deutschen Reiches in das unmittelbar bevorstehende 20. Jahrhundert. Die Bevölkerung nimmt regen Anteil an den Umwälzungen am kaiserlichen Hof. So schreibt die ehemalige Missionarin Marie Hesse geb. Gundert im baden-württembergischen Calw in ihr Tagebuch: 7. Februar Kehlkopfschnitt am Kronprinzen. 9. März Kaiser Wilhelm entschlafen. 15. Juni Kaiser Friedrich nach unsäglich schwerem Leiden entschlafen und nun der junge, hoffnungsvolle Kaiser Wilhelm II. auf dem Thron.15
Zusammen mit ihrem Mann Johannes und ihren vier Kindern reist sie im Juni 1888 nach Stuttgart um den neuen Kaiser aus der Ferne zu bejubeln. Eins der Kinder ist der 10-jährige Hermann, ein in jeder Hinsicht schwieriges Kind, das nur drei Jahre nach der Thronbesteigung des neuen Kaisers aufgrund seiner vielversprechenden geistigen Anlagen in das evangelisch-theologische Seminar in Maulbronn eintreten wird. Der junge Hermann Hesse bleibt dort nur wenige Monate. Am 7. März 1892, flieht er aus dem Seminar, weil er entweder „Dichter
13 Vgl. dazu Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. 14 Sombart: Wilhelm II., S. 45. 15 Zit. nach Birgit Lahann: Hermann Hesse – Dichter für die Jugend der Welt. Ein Lebensbild, Frankfurt/M. 2002, S.19.
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oder gar nichts“16 werden möchte und sich von den Methoden und Zielsetzungen des wilhelminischen Erziehungssystems erdrückt fühlt. 23 Stunden irrt der 14jährige „in Württemberg, Baden und Hessen herum“17 und wird schließlich in beklagenswertem Zustand von den Landjägern aufgelesen. Seine streng gläubige Mutter Marie schreibt während den dramatischen Stunden der Ungewissheit in ihr Tagebuch: Zuerst hatte mich die Angst, Hermann sei in besondere Sünde und Schande gefallen, es sei dem Entweichen etwas besonders Böses vorausgegangen, ganz qualvoll gefolgert, so dass ich ganz dankbar wurde, als ich endlich das Gefühl bekam, er sei in Gottes barmherziger Hand, vielleicht schon ganz bei ihm, erlöst, gestorben. In einem der von ihm so bewunderten Seen ertrunken? „Heran, heran, was wiegen kann!“ Schuberts Müllerlied sumste mir im Kopf und ich meinte schon, das Kind im Grunde des tiefen Sees liegen zu sehen. Und doch kam dabei Frieden und Ergebung in meine Seele.18
Die Mutter zieht den frühen Tod einer moralischen Degradation ihres Sohnes vor. Diese Episode liefert deutliche Aufschlüsse über das pietistische Weltbild, das Hesses familiäres Umfeld nachhaltig prägt und von dem er sich zeitlebens zu befreien sucht. Die Flucht aus dem Internat ist daher als besonders einschneidende Erfahrung zu bewerten – dies auch im Hinblick auf die geistige Entwicklung des Heranwachsenden: Seine Lehrer attestieren dem rebellischen Schüler „partielle Geistesverwirrung, etwas Krankhaftes“19; er landet schließlich nach misslungener Wiedereingliederung in das Internatsleben im Mai desselben Jahres in einer Nervenheilanstalt, wo er drei Monate lang therapiert wird. Eine dramatische Selbstmorddrohung verlängert diesen Aufenthalt bis zum Oktober. Hesse wird all diese schmerzhaften Erfahrungen aus der eigenen Jugendzeit in seinem ersten großen Roman Unterm Rad verarbeiten, der im Jahr 1906 erscheint. Jenes Entwicklungsdrama um den jungen Hans Giebenrath gilt bis heute als mustergültige Anklageschrift gegen das System und die Methoden des wilhelminischen Erziehungskodex. Im selben Jahr erscheint mit den Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil ein weiterer Internatsroman, der jedoch mit Hesses Adoleszenzgeschichte nur wenig gemein hat. Das Thema des schwie-
16 Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse ‚Unterm Rad‘. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen des Autors, Frankfurt/M. 2008, S. 35. 17 Ebd., S. 161. 18 Zit. nach Adele Gundert: Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse, Frankfurt/M. 1977, S. 208. 19 Michels (Hrsg.): Hermann Hesse, S. 162.
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rigen Übergangs dient Musil eher als erzählerischer Vorwand, um ein stark subjektiviertes Zeugnis über die aktuelle Krisenhaftigkeit der geistigen Welt abzulegen – insbesondere ihres männlichen Teils. Die Jugend fungiert in diesem Rahmen als eine Art Epochensignatur20, die das allgemeine zeittypische Krisengefühl beinahe mikroskopisch an einer Gruppe männlicher Heranwachsender in einer k.u.k.-Kadettenanstalt exemplifiziert. Auch im Jahr 1906, genau am 20. November, wird an den Berliner Kammerspielen ein Stück uraufgeführt, das aus verschiedenen Gründen lange Zeit mit dem Etikett ‚unaufführbar‘ versehen gewesen war. Vor allem aufgrund des vermeintlich obszönen Inhalts hatte die wilhelminische Zensur viele Jahre lang den Riegel vor jedwede öffentliche Inszenierung geschoben. Die schlussendliche Genehmigung überrascht nicht zuletzt den Autor des Stücks, der in einem Brief verwundert zum Ausdruck bringt: „Bis zur Aufführung durch Reinhardt galt das Stück als reine Pornografie. Jetzt hat man sich dazu aufgerafft, es als trockenste Schulmeisterei anzuerkennen. Humor will noch immer niemand darin sehen.“21 Es geht in diesem skandalumwitterten Stück um drei befreundete Heranwachsende – Melchior, Wendla und Moritz –, von denen am Ende zwei tot sind. Melchior und Wendla haben nach fehlender Aufklärung gemeinsam ihre erwachende Sexualität entdeckt, woraufhin die vierzehnjährige Schülerin schwanger wird. Um sich vor dem Gerede der Leute zu schützen, zwingt Wendlas Mutter ihre Tochter zur Abtreibung, an dessen Folgen das Mädchen stirbt. Moritz wiederum verpasst in der Schule die Versetzung und tötet sich, um seinen Eltern die Scham über sein eigenes Versagen zu ersparen. Eine Kindertragödie heißt Frank Wedekinds Frühlings Erwachen im Untertitel, das ihm völlig unerwartet nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Zensurbehörden schließlich die ersehnte Anerkennung als seriöser Dramatiker beschert. Nahezu zeitgleich, genauer 1905, veröffentlicht der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, von denen sich gleich zwei mit der frühmenschlichen Sexualität auseinandersetzen: Abhandlung II: „Die infantile Sexualität“ und Abhandlung III: Die „Umgestaltungen der Pubertät“. Freud zufolge ist es ein „folgenschwerer Irrtum“22 zu denken, dass der Kindheit jeglicher Geschlechtstrieb fehle und dass das Vorhandensein eines solchen ein „abschreckendes Beispiel
20 Vgl. Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln/Weimar/Wien 2006. 21 Zit. nach Georg Hensel: „Nachwort“, in: Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie, Stuttgart 2000, S. 106. 22 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt/M. 1991, S. 75.
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voreiliger Verderbtheit“23 darstelle. Allerdings sei der frühkindliche Geschlechtstrieb primär autoerotisch, während zu Beginn der Pubertät ein externes Sexualobjekt ins Spiel kommt – mit den Worten Freuds: der Sexualtrieb wird „altruistisch“24. Die Veröffentlichung der Abhandlungen brachte Freud wie kein anderes Werk in Verruf: Er musste sich mit seinem psychoanalytischen Konzept fortan dem Vorwurf des Pansexualismus, d.h. „alles Menschliche auf Sexuelles zurückzuführen“25, stellen. Die Tatsache, dass Freud mit seiner Sexualtheorie gleichsam das Ende der kindlichen Unschuld einleitete, stieß auf besonders viel Empörung seitens einer erregten wilhelminischen Öffentlichkeit. Interessant ist es nun, Freuds Abhandlungen mit Wedekinds Kindertragödie in einen Dialog treten zu lassen. Es scheint, als ob Wedekind genau jenen „folgenschweren Irrtum“, von dem Freud spricht, in ein dramatisches Kunstwerk transformiert habe. Die stoische Ignoranz der Erwachsenengeneration gegenüber kindlich-pubertärer Triebentwicklung stellt das Grunddilemma von Frühlings Erwachen dar. Es sind genau diese moralischen Ignoranzmechanismen sowie die damit verbundenen Normvorstellungen, die auch Freud problematisiert und als „Dämme [der] Erziehung“26 deutet, d.h. als kulturelle, keineswegs biologische Gegebenheiten. Wie Freud musste sich auch Wedekind zeitlebens mit dem Vorwurf des Pansexualismus konfrontiert sehen; sein Werk wird nahezu durchgängig begleitet vom unbarmherzigen Wirken der Zensurbehörden.27 Die direkte Gegenüberstellung von Frühlings Erwachen und den Abhandlungen aber ist für den gegebenen Kontext besonders aufschlussreich, da letztere in gewissem Sinne die theoretische Folie für das Erste bereitstellt. Entstanden aber ist Frühlings Erwachen bereits in den Jahren 1890/91, genau in jener Zeit also, als der junge Hesse mit dem realen Alltag des deutschen Erziehungssystems kämpfte. Das bedeutet, dass die Kunst der Wissenschaft in diesem Fall vorausgeht, der Öffentlichkeit aber beide als zeitgleich erscheinen.
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Die hier vorgestellten Beispiele illustrieren auf unterschiedlichen Ebenen, dass die Themen Männlichkeit und Jugend im jungen Deutschland um 1900 hervor-
23 Ebd. 24 Ebd., S. 108. 25 Reimut Reiche: „Einleitung“, in: Freud: Drei Abhandlungen, S. 7-30, hier S. 7. 26 Freud: Drei Abhandlungen, S. 80. 27 Vgl. dazu Anatol Regnier: Frank Wedekind. Eine Männertragödie, München 2008.
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gehobene Rollen im öffentlichen Diskurs einnehmen. Jugend wird erstmalig als eigenständiger Lebensabschnitt aufgefasst, der jedoch, so scheint es, besonders vielen Gefahren, Verführungen und Anfeindungen ausgesetzt ist. Somit eignet sich die männliche Jugend vorzüglich als Projektionsraum gesamtgesellschaftlicher Gefühlslagen, oszillierend zwischen Ängsten und Wünschen. Die Optimisten sehen in der Jugend einen Garanten für Zukunftsorientierung, Fortschritt und Innovation; auf Seiten der Pessimisten stellt die Jugend eine Bedrohung dar für die kulturelle Traditionswahrung, für politisches Gleichmaß und künstlerische Werte. Auch wechselt der öffentliche Diskurs über Jugend zwischen Täter- und Opfervorstellungen hin und her. Einerseits, so z.B. in den Werken von Musil, Hesse und Wedekind, werden junge Männer als Opfer einer repressiven und konservativen Gesellschaftspolitik vorgeführt; andererseits sind Jugendliche nicht selten aktive Störfaktoren des öffentlichen Lebens und Geschmacks. Allgemein lässt sich daher vorläufig festhalten, dass die Einschätzungen von Jugend stets zwischen den beiden Polen Krise und Ideal verlaufen und gleichsam von so extremen Ausprägungen gekennzeichnet sind wie der Lebensabschnitt Jugend selbst. Die deutsche Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde von Lothar Gall als „Laboratorium der Moderne“28 bezeichnet, was bedeutet, dass die wilhelminische Ära eine Schwellenepoche markiert, eine „Zeit der Gärung, eine Zeit des Umbruchs und der tiefgreifenden Veränderungen auf allen Lebensgebieten.“29 Eine wichtige Kampfansage dieser Zeit ist der radikale Aufbruch nach vorne, der dem vorherrschenden Bewusstsein geschuldet ist, auf dem Weg in eine ganz neue Welt zu sein. Besonders lautstark erfolgt diese Zukunftsorientierung im Februar 1909 auf der Titelseite des französischen Figaro, wo die italienischen Futuristen unter der Ägide von F.T. Marinetti ihr Erstes Futuristisches Manifest veröffentlichen, das jeglicher Form eines in die Vergangenheit gerichteten Sicherheitsdenkens eine massive Abfuhr erteilt. Die Ausrichtung des modernen Laboratoriums ist daher deutlich als Zukunftsentwurf zu verstehen und die männliche Jugend, um im Bild zu bleiben, dient darin als probates Versuchsobjekt. Denn dort, wo so nachdrücklich eine „entschiedene Abkehr von der Welt der Väter“30 propagiert wird, da muss der generationelle Weg frei gemacht werden für die Träger gesellschaftlicher Zukunft, doch die wiederum müssen erst einmal beobachtet, erkundet und geformt werden, damit die jugendliche Energie nicht zerstörerisch, sondern schöpferisch fruchtbar gemacht werden kann für einen geglückten Übergang in die neue Welt des 20. Jahrhunderts.
28 Lothar Gall: Walther Rathenau. Porträt einer Epoche, München 2009, S.7. 29 Ebd. 30 Ebd.
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Es verwundert angesichts dessen kaum, dass um 1900 ein wissenschaftlicher Teilbereich immer mehr an Bedeutung gewinnt, dessen Zuständigkeitsanspruch genau abgestimmt ist auf die Beobachtung, Erkundung und Formung der jugendlichen Generation. Die Pädagogik empfiehlt sich als adäquates Untersuchungsinstrument zur zielgerichteten Bändigung eines jugendlichen élan vital. Auffallend dabei ist, dass der pädagogische Diskurs um 1900 ähnlich heterogen ist wie die gesamtkulturellen Befindlichkeiten. So gilt auf der einen Seite die pädagogische Praxis des wilhelminischen Schulsystems als Musterbeispiel dessen, was man im Nachhinein als ‚Schwarze Pädagogik‘ bezeichnet hat. Dieser Begriff wurde in den späten 1970er Jahren von der Soziologin Katharina Rutschky in ihrem gleichnamigen Buch entwickelt und beschreibt die gängigen Erziehungsmethoden des 18. und 19. Jahrhunderts, die primär darauf abzielen, dem zu Erziehenden einen eigenen Willen auszutreiben, also genau das, was lapidar als ‚kindlicher Eigensinn‘ bezeichnet wird.31 Die Methoden reichen von der repressiven Suggestion bis zur Todesdrohung und schrecken vor körperlicher Züchtigung nicht zurück. Die von den Erziehern ausgehende massive Disziplinierung sollte im Kind wiederum zur Implementierung von Selbstdisziplin führen, was im preußischen Wertekanon stets als höchst erstrebenswerte Tugend galt. Der Alltag der ‚Schwarzen Pädagogik‘ und deren negative Folgen werden in den bereits genannten Texten von Hesse und Musil, aber auch in Rilkes Erzählung Die Turnstunde (1902) sowie in Robert Walsers Jakob von Gunten (1909) geschildert. Körperlicher und geistiger Drill, machtvolle Repression, Disziplinierung, Wissensvermittlung nach dem Modell des Nürnberger Trichters – das sind die praktischen Grundpfeiler der ‚Schwarzen Pädagogik‘. Hierbei handelt es sich um Begriffe, die zentral sind in Michel Foucaults Theorie der Subjektbildung, der zufolge das Subjekt durch gesellschaftliche Macht unterworfen wird im Sinne eines sub-iectums, gleichzeitig aber dadurch erst als solches hervorgebracht wird. Gesellschaftliche Macht wäre diesem Verständnis nach repressiv und produktiv zugleich.32 Die Schwarze Pädagogik aber stellt ohne Zweifel ein Ungleichgewicht her zwischen der Repression und Produktion gesellschaftlicher Subjekte. Dieses Ungleichgewicht verdankt sich wiederum der widersprüchlichen Beobachtung, dass der zu formende
31 Vgl. Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, München 82001. 32 Vgl. Michel Foucault: Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005; darin bes. die Aufsätze „Die Maschen der Macht“ (S. 220-239) sowie „Subjekt und Macht“ (S. 240-263).
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Jugendliche im ‚heiligen Krieg der Erziehung‘33 als bedrohlicher Feind gilt, da auf der Jugend allgemein die Verantwortung lastet für die Zukunft der Gesellschaft. Dieser unauflösliche Widerspruch, der sicherlich auch heute noch Gültigkeit besitzt, verdeutlicht das pädagogische Dilemma und erklärt für die ambivalente Zeit um 1900, dass die Disziplinierung der Jugend als durch und durch positiv empfunden wird, de facto als gesellschaftserhaltendes Instrument oder mit Jon Savage gesprochen: „[A]m Umgang mit der Jugend wurden die Ängste Erwachsener sichtbar.“34 Es wäre jedoch zu einseitig und wissenschaftsgeschichtlich schlichtweg falsch, den pädagogischen Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ausschließlich repressiv, militärisch und autoritär zu bewerten. Dies gilt sicherlich für große Teile der pädagogischen Praxis, aber so disparat die gesamtgesellschaftlichen Stimmungen sind, so heterogen ist auch die erzieherische Theoriebildung. Paul Valéry beschreibt in seiner kulturkritischen Programmschrift La crise de l’esprit / Die Krise des Geistes (1919) das synkretistische Durcheinander der geistigen Welt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.35 Das ‚geistige Chaos‘, das Valéry als schöpferische Unruhe und gefährliche Bedrohung zugleich empfindet, bestimmt ihm zufolge nahezu alle gesellschaftlichen Teilbereiche – immerhin ist die Zeit um 1900 auch die Zeit der großen Reformbewegungen: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Lebensreform, künstlerische Avantgarden wären nur einige Beispiele, die abheben auf die radikale Überwindung tradierter bzw. traditioneller Lebens- und Wissensbereiche. Der Historiker Phillip Blom beschrieb in seinem gleichnamigen Buch das Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts als den „taumelnden Kontinent“36, was eine sehr schöne, da zutreffende Metapher darstellt, weil der Zustand des „Taumels“ die zentralen Beschreibungs- und Empfindungskategorien Bewegung und Beschleunigung, Kraft und Ermüdung sowie Schwindel und Rausch paradigmatisch mitführt. Dieser sozialenergetische Tumult macht vor der Jugend allgemein und der Pädagogik im Besonderen freilich keinen Halt. Zwei Konzepte waren vor allem in Deutschland bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Gegenstände eines fruchtbaren Austausches: Reformpädagogik zum einen und Jugendbewegung zum anderen.
33 In Anlehnung an J. Sailer: „Die Erziehung, ein ewiger, doch heiliger Krieg“ [1809], in: Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik, S. 149-150. 34 Jon Savage: Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875-1945), Frankfurt/M./New York 2008, S. 30. 35 Paul Valéry: „La crise de l’esprit“ [1919], in: ders.: Œuvres, Bd. 1, hrsg. von Jean Hytier, Paris 1957, S. 988-1014. 36 Phillip Blom: Europa 1900-1914. Der taumelnde Kontinent, München 2009.
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Beide Konzepte sind ausgerichtet auf eine Erneuerung des pädagogischen Systems, sind auf den ersten Blick grundverschiedene Lösungsversuche desselben Problems, jedoch bei näherer Betrachtung unauflöslich miteinander verbunden. Der Begriff ‚Reformpädagogik‘37 umschließt eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze die Schule, den Unterricht und die Erziehung allgemein zu revolutionieren. Es handelt sich dabei um eine progressive Erziehungsbewegung verschiedenster, theoretisch disparater Strömungen, die sich gegen den Intellektualismus, die Lebensfremdheit und den Autoritarismus der sog. ‚Pauk-Schule‘ wendet. Einig aber sind sich die Reformpädagogen in der Überwindung der traditionellen Schule als eine Zwangs-Lern-Anstalt. Die Reformpädagogen wettern gegen eine zu starke Formalisierung des Unterrichts und eine intellektuelle Einseitigkeit, die den Schüler zwangsweise in eine passive Rolle drängten. Als Offenbarung erweist sich die Wiederentdeckung Rousseaus, der in seinem Émile bekanntlich gefordert hatte, dass jede Form von Erziehung nicht vom Erzieher, sondern vom Kinde ausgehen sollte. Die Reformpädagogik übernimmt Rousseaus Forderungen nicht 1:1, aber lehnt sich doch in wichtigen Punkten daran an. So werden nicht nur die Schülerzentrierung und der Eigenwert von Kindheit und Jugend in die reformpädagogischen Reformulierungen integriert, sondern ebenso Rousseaus Topos von der stadt- und damit gesellschaftsfernen Erziehung. Der Zögling wird demzufolge in seiner Kindheit von allen kulturellen Einflüssen abgeschottet. Jegliche direkte Einflussnahme von außen wäre laut Rousseau demnach zu vermeiden. So sei auf die zahlreichen Landschulprojekte aufmerksam zu machen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sukzessive ein Gegenmodell zur herkömmlichen Stadt- oder Dorfschule entwerfen. Einer der Theoretiker dieses Modells ist der Reformpädagoge Gustav Wyneken, der gleichzeitige Initiator der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, deren Gründung interessanterweise auch auf das Jahr 1906 datiert. Wyneken, der in späteren Jahren mehrfach des sexuellen Missbrauchs von Schülern beschuldigt wird38, setzt neben der stadtfernen Erziehung auf aus damaliger Sicht bemerkenswert fortschrittliche Erziehungsprinzipien, wozu u.a. Sexualaufklärung und Selbstbestimmungsrecht der Schüler gehören. Im Gegensatz zum christlich-klerikal geprägten Unterricht in herkömmlichen Schulen legt der Atheist Wyneken einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die künstlerische, besonders die musische Erziehung, was freilich als deutlicher Ge-
37 Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Entstehungsgeschichten einer internationalen Bewegung, Zug 2010, S. 10ff.; Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung, München 2010, S. 45ff. 38 Vgl. hierzu Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim u.a. 2011, bes. S. 224ff.
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gen-Diskurs zu den Erziehungsidealen des Kaisers verstanden werden muss. Auch das Verhältnis von Erziehern und Zöglingen soll nach Wyneken einer grundlegenden Neubestimmung unterzogen und verortet werden zwischen den homosozialen Polen von Führertum und Kameradschaft. Hier wiederum lassen sich deutliche Analogien aufstellen zur Jugendbewegung, die in Deutschlands Geschichte der Jugend eine signifikante Rolle spielt, ja in der historischen Aufarbeitung als „typisch deutsches“39 Phänomen etikettiert wird. Reformpädagogik und Jugendbewegung sind eng miteinander verzahnt, jedoch nicht als gleichwertig zu betrachten. Joachim H. Knoll stellt dieses Wechselverhältnis folgendermaßen dar: [E]s ist auffällig, daß Jugendbewegung […] sich nur in deutschen Ländern entfalten konnte. […] Und dies koinzidiert mit der Reformpädagogik, in die die Jugendbewegung geistesgeschichtlich-pädagogisch zu integrieren ist, sie hat sie beeinflußt, sie ist mit ihr zusammen entstanden und die Wechselwirkungen sind belegbar. Zwischen Jugendbewegung und Reformpädagogik besteht gewiß ein inniger Zusammenhang, obwohl man Jugendbewegung nicht primär auf eine pädagogische Erscheinung reduzieren kann.40
Es mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, dass einerseits die Jugendbewegung in die Reformpädagogik zu integrieren sei, andererseits aber die Jugendbewegung über die Reformpädagogik hinausgehe. Letzteres lässt sich vergleichsweise leicht belegen, da die Jugendbewegung weit über den schulischen Alltag hinausreicht und vielmehr auf den Anspruch auf Eigenerziehung und Eigenverantwortlichkeit einer vorwiegend bürgerlichen Generation junger Männer abzielt. Dieser Anspruch muss jedoch, was seine Einlösung betrifft, dezidiert kritisch betrachtet werden. Ist es doch so, dass die Jugendbewegung – zumindest aus heutiger Perspektive – nur mit Einschränkung als genuin jugendliches Projekt anzusehen ist, wie es beispielsweise der Wandervogel-Theoretiker Hans Blüher verstanden haben will, wenn er sagt, die Jugendbewegung sei „ganz und gar aus der Jugend selber geboren.“41 Tatsächlich aber waren sämtliche jugend-
39 Vgl. Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988. 40 Joachim H. Knoll: „Typisch deutsch? Die Jugendbewegung. Ein essayistischer Deutungsversuch“, in: ders./Schoeps (Hrsg.): Die Jugendbewegung, S. 11-34, hier S. 17. 41 Hans Blüher: Wandervogel – Geschichte einer Jugendbewegung. Erster Teil: Heimat und Aufgang, Berlin 1912, S. VI. Vgl. dazu u.a. Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 187ff.
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bewegte Gruppierungen ausgestattet mit charismatischen Führerfiguren, die in der Regel deutlich dem Jugendalter entwachsen sind. Die zentrale Forderung Wynekens nach erzieherischem Führertum und männerbündischer Kameradschaft realisiert sich sozusagen in der Jugendbewegung im außerschulischen Bereich. Damit wären die typologischen Grenzen abgesteckt. Zu fragen wäre nun nach der eigentlichen Phänomenologie der Jugendbewegung. Zuallererst muss die Jugendbewegung gedeutet werden als bürgerliche Antwort „auf die sozialen und geistigen Krisen und Umbrüche jener Zeit der Hochindustrialisierung“42, von denen schon die Rede war. Als Ursprungsort der Bewegung wird üblicherweise das Gymnasium Steglitz bei Berlin genannt, wo Ende des 19. Jahrhunderts Schülergruppen, männliche Stenographie-Schüler um genau zu sein, unter der Führung des Lehrers Hermann Hoffmann das Wandern für sich entdeckten: „So harmlos und naiv war das, was sich dann wie eine kulturrevolutionäre Bewegung über das ganze Reich ausbreitete.“43 1901 wurde schließlich der „WandervogelAusschuß für Schülerfahrten e.V.“ im Rathaus Steglitz gegründet, der sich wiederum nach 1904 aufgrund interner Querelen in verschiedene Einzelbünde aufspaltet. Man hatte in dieser Jugendszene romantische Vorstellungen vom mittelalterlichen Scholarentum, nannte sich ‚fahrende Schüler‘ oder ‚Kunden‘, die Führer ‚Bachanten‘ und ‚Oberbachanten’, entwickelte einen eigenen Stil der ‚Fahrt‘, auch als Abgrenzung gegen die zeitgenössischen Wander- und Touristenvereine; man übernachtete in Bauernhäusern und Scheunen und kochte im Freien, baute Burgruinen, Stadttürme und verlassene Hütten zu ‚Nestern‘ aus. Und diese neue Jugendkultur erfreute sich, der Blüherschen Deutung vom Kampf der ‚unerträglich belasteten Jugend‘ gegen die ‚Generation ihrer Väter und Erzieher‘ zum Trotz, zumeist der wohlwollenden Tolerierung und sogar aktiven Förderung durch Elternhäuser und progressiv gesonnene Schullehrer, Philosophen, Schriftsteller, Verleger.44
Die Jugendbewegung zeichnet sich demnach vor allem durch folgende Parameter aus: Naturverbundenheit und Stadtflucht, Traditions- und Nationalbewusstsein, Fortschrittsskepsis, neoromantische Wanderlust und Kamerad-
42 Winfried Mogge: „‚Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’…‘ Das Phänomen ‚Jugend‘ in der deutschen Jugendbewegung“, in: Knoll/Schoeps (Hrsg.): Die Jugendbewegung, S. 35-54, hier S. 39. 43 Ebd. 44 Ebd.
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schaft. In einer Zeit militaristischer Aufrüstung, technischen Fortschritts, künstlerischer Avantgarde, Verstädterung und großstädtischer Nervosität wirkt die Jugendbewegung als ausgesprochener Anachronismus, als Bollwerk gegen Modernisierung. Hinzu kommt noch, dass man die Jugendbewegung – wie auch den Jugenddiskurs um 1900 überhaupt – zumindest in ihren Anfängen als rein männliches Phänomen sehen muss. D.h. im Klartext, dass es sich bei der Jugendbewegung und ihren diversen Subgruppierungen zunächst um das handelt, was man klassischerweise als Männerbund bezeichnen würde. Der Männerbund ist um 1900 die vielleicht typischste Form gesellschaftlicher Gruppen- und Elitenbildung, angefangen beim kaiserlichen Heer, seiner Beratungsentourage bis hin zu den beliebten Turnvereinen zurückgehend auf Friedrich Ludwig Jahn. Dieser Punkt wiederum bringt der Jugendbewegung immer wieder Probleme ein. Durch die fast durchgängige Ausblendung alles Weiblichen und die dadurch entstehende Gratwanderung zwischen platonisch-kameradschaftlicher Homosozialität und als pervers empfundener Homosexualität und -erotik gibt es immer wieder kleine und größere Skandale, die in der Regel das Verhältnis von Führerfiguren und ihren Untergebenen betreffen. Der Vorwurf der Homosexualität scheint dem Männerbund gewissermaßen apriorisch mit eingeschrieben. Die Affäre um den engsten Berater des Kaisers Philip Fürst zu Eulenburg in den Jahren 1907/08 ist sicherlich das prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang, wenn auch hier der Bezug zum Jugenddiskurs fehlt, wohingegen der Kreis um den Dichter Stefan George durchaus strukturell – nach dem Muster ‚charismatische Führerfigur und ergebene Jünglinge‘45 – mit der Jugendbewegung vergleichbar ist; auch der George-Kreis sah sich immer wieder mit Vorwürfen, die auf homoerotische Neigungen abzielten, konfrontiert. Von daher lässt sich konstatieren, dass die Frühgeschichte der Jugend auch eine Problemgeschichte der Männlichkeit mitschreibt. Somit bleibt vorläufig Folgendes festzuhalten: Wenn sich die Reformpädagogik zu großen Teilen Rousseaus voraufklärerischer Erziehungsutopie des Émile zuwendet, so muss für die Jugendbewegung geltend gemacht werden, dass ein Großteil ihrer Ideale, Vorstellungen und Zielsetzungen auf die Epoche der deutschen Romantik zurückgeht. Mittelalterversessenheit, Naturerlebnis und Nationalbewusstsein gehören allesamt zu den Topoi romantischer Lebens- und Kunstphilosophie. Aber auch Lebensbejahung, Vitalismus und körperliche Bewegung
45 Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 396ff. Karlauf bringt auf überzeugende Weise den Einfluss Georges auf seinen jugendlichen Kreis mit Max Webers Konzept der ‚charismatischen Herrschaft‘ in Einklang.
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treffen sowohl auf die Jugendbewegung als auf die Romantik zu. Die um 1900 vorherrschende Lebensphilosophie findet zweifellos in Nietzsche, dessen Zarathustra die Bibel der Jugendbewegung ist, ihren wichtigsten Vordenker. Darauf macht auch Rüdiger Safranski in seiner Kulturgeschichte der Romantik, die er bezeichnenderweise, jedoch unzulänglich als „deutsche Affäre“ beschreibt, aufmerksam: ‚Leben‘ wird zur Losung der Jugendbewegung, des Jugendstils, der Neuromantik, der Reformpädagogik.“46 Das wiederum bedeutet, dass es sich sowohl bei der Reformpädagogik als auch bei der Jugendbewegung um deutlich rückwärts gewandte, also retrogarde Protestformen handelt. Das Thema Jugend, soviel wurde deutlich, bildet im Deutschland der vorletzten Jahrhundertwende ein omnipräsentes, deutlich männlich konnotiertes Faszinationsmuster. Nahezu alle gesellschaftlichen Wissens- und Lebensbereiche widmen den Heranwachsenden erstmalig in dieser ausgeprägten Form ihr Interesse. Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key verkündet in ihrer 1902 bei S. Fischer auf Deutsch erschienen, gleichnamigen Schrift das Jahrhundert des Kindes. Mit Stanley Halls 1904 erschienener, zweibändiger und ad hoc ins Deutsche übertragenen Studie Adolescence erhält die Generation Jugend ihren ersten gewichtigen, wissenschaftlichen Diskurs. Eduard Spranger veröffentlicht seine wegweisende Psychologie des Jugendalters (1924) und der junge, ebenfalls jugendbewegte Walter Benjamin schreibt in seinem frühen Aufsatz „Das Dornröschen“ (1911) folgende Hoffnung auf: „Wir leben im Zeitalter des Socialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? […] Die Jugend […] ist das Dornröschen, das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien.“47 Es verwundert angesichts dessen kaum, dass in der Jugendgeschichtsschreibung häufig davon die Rede ist, dass um 1900 die Jugend als solche erfunden wird: Lutz Roth spricht von der Erfindung des Jugendlichen48 und der englische Jugendforscher Jon Savage versieht seine Studie Teenage mit dem Untertitel: Die Erfindung der Jugend (1875-1945). Was aber wird hier genau erfunden und, wichtiger noch, von wem? Jugendliche hat es immer gegeben, d.h. es wurde ein bestimmtes Konzept von bzw. ein Diskurs über Jugend erfunden. Die Jugend wurde also nicht als real existierende Kohorte von etwa gleichaltrigen Heranwachsenden erfunden, sondern als ein gesellschaftlich konstruiertes generationelles Konzept. Die Frage nach dem „wer?“ liegt dabei quasi auf der Hand: Das
46 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 303f. 47 Walter Benjamin: „Das Dornröschen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M.: 1977, Band II.1, S. 9-12, hier S. 9. 48 Vgl. Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983.
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Jugendkonzept 1900 ist das Produkt der älteren Generation und erweist sich dadurch weniger als jugendkulturelles Selbstbild, sondern vielmehr als „Fremdbild von Jugend“49, hergestellt von Schriftstellern, Politikern, Pädagogen, Soziologen und Psychologen. Alles andere macht wenig Sinn, wie Lutz Roth weiß: „Ein Jugendkonzept ist das Gegenteil von Jugend. Konzepte fixieren, legen fest, schränken ein, schreiben vor, verbieten, kanalisieren, biegen zurecht. Jugendleben dagegen ist unberechenbar, widersprüchlich, wechselhaft, verunsichernd – eben lebendig.“50 Das bedeutet grosso modo, dass wir es, wenn wir über die Blütezeit deutscher Jugendbewegung um 1900 reden, mit etwas zu tun haben, das nur mit den allergrößten Einschränkungen mit Jugendkultur im Sinne jugendlicher Selbstwahrnehmung, Eigenkreation und Eigenverantwortung zusammenfällt.
M ÄNNLICHE R EBELLION : ‚J UGEND -K ULTUR ‘ IN F RANKREICH Anfänge sind bereits schon von ihrer Natur her problematisch; Geschichten über den Anfang entsprechen eher Konstruktionen als wohl fundierter Herkunftsforschung. Das gilt auch für die Jugendkultur in Frankreich, deren Wurzeln, so der Eindruck, überraschenderweise nicht in Paris zu suchen sind, sondern in einem muffigen Klassenzimmer in der Provinzstadt Charleville im Departement Ardennes, gleich an der französisch-belgischen Grenze. Dort macht ein frühreifer Musterschüler von sich reden, der bereits im zarten Alter von zehn Jahren erste Prosastücke schreibt, mit 14 formvollendete, preisgekrönte Gedichte in lateinischer Sprache und ab dem 15. Lebensjahr schließlich nur noch französischsprachige Lyrik verfasst. Sein Vater, ein Hauptmann der französischen Infanterie, verlässt die Familie, als der Junge sechs Jahre alt ist, und seine Mutter, geborene Vitalie Cuif, bezeichnet sich seither als Witwe und alleinerziehende Mutter von vier Kindern. Davon ist der junge Dichter das zweitälteste Kind. Bezeichnend ist bereits sein erstes französisches Gedicht mit dem programmatischen Titel Les Étrennes des orphelins / Die Neujahrsgeschenke der Waisen aus dem Jahr 1869; der Junge hatte kurz zuvor seinen 15. Geburtstag gefeiert. So wie sich seine Mutter nach dem Weggang ihres Mannes als Witwe empfindet, so fühlt sich ihr schwieriger Sohn mitten in der Pubertät als „orphelin“, als Vollwaise:
49 Ebd., S. 141. 50 Ebd.
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„Plus de mère au logis! – et le père est bien loin!...“51 Eine komplizierte Familienkonstellation also, ein nicht minder kompliziertes Verhältnis zur eigenen Mutter, ein Leben in einer der randständigsten Regionen Frankreichs und eine außerordentliche dichterische Begabung sind die Grundvoraussetzungen eines Werkes, das in der französischen Literaturgeschichte seinesgleichen sucht und maßgeblichen Einfluss üben sollte auf das, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig mit dem Etikett ‚Jugendkultur‘ versehen wird. Ob der Doors-Sänger Jim Morrison, ob Bob Dylan oder Patti Smith – gemein ist diesen drei Ikonen der modernen Popkultur, dass sie sich auf ein gemeinsames Vorbild berufen: auf Arthur Rimbaud, dessen literarische Schaffensperiode gerade mal sechs oder weniger Jahre umfasst (ganz genau weiß man es nicht), die exakt koinzidieren mit dem, was man gemeinhin als ‚Jugend‘ bezeichnet: Rimbaud verfasst seine Œuvres complètes im Alter von 15 bis vermutlich 21 und wird danach bis zu seinem Tod nie wieder ein literarisches Wort zu Papier bringen. Er stirbt 1891 im Alter von 37 Jahren an den Folgen einer Knochenkrebserkrankung, nachdem er seine letzten Lebensjahre als Handelsangestellter in Äthiopien verbracht hatte. Waffen hatte er zum Schluss verkauft, bis ihn schließlich ein stechender Schmerz im Knie überkommt und das Ende seines kurzen Lebens einläutet. „Mit 16 Jahren war Rimbaud der archetypische Provinzjugendliche, der seiner Familie und seiner Heimatstadt entwachsen war.“52 Seine frühen Gedichte handeln, ähnlich den Orphelins, genau von dieser Ort- und Zeitlosigkeit, vom Erträumen (noch) romantisch inspirierter Surrogatwelten, der Sehnsucht nach Liebe, die ihm seine vom Leben gezeichnete Mutter nicht imstande ist zu geben. In Sensation aus dem Jahr 1870 identifiziert er sich bereits als „bohémien“53, eine Selbstattribuierung des Herumirrens, des Vagabundierens und des Fliehens, die für Leben und Werk prägend bleiben wird. Obwohl die komplette Dauer von Rimbauds Schaffenszeit nur maximal sechs Jahre beträgt, redet man in der Forschung üblicherweise von zwei Phasen: die erste, noch stark von der Romantik beeinflusste, reicht von 1869 bis Mitte 1871. Die weiteren vier bis sechs Jahre umfassen Rimbauds ‚Spätwerk‘ und lassen seine Dichtungen immer düsterer und esoterischer werden. Insbesondere die beiden letzten Sammlungen Une saison en enfer sowie die Illuminations zeugen von hermetischen, aufwühlenden und zerstörerischen Bildwelten, die nicht primär darauf angelegt sind, dechiffriert und
51 Arthur Rimbaud: Sämtliche Werke. Französisch-deutsch, übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann, Frankfurt/M. 1992, S. 16. 52 Savage: Teenage, S. 40. 53 Rimbaud: Sämtliche Werke, S. 20.
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verstanden zu werden. Den Wendepunkt innerhalb dieser rasanten dichterischen Entwicklung markiert eine Serie von programmatischen Briefen, die in der Rezeptionsgeschichte gewöhnlich die Lettres du voyant genannt werden, und in denen Rimbaud seinen beiden Vorbildern, dem Lehrer Georges Izambard und dem Dichter Paul Demeny, sein dichterisches Selbstverständnis mitteilt. Den zweiten dieser beiden Briefe, den er am 15. Mai 1871 an Demeny richtet und der die wichtigsten Passagen des ersten wieder aufgreift und erweitert, eröffnet Rimbaud mit einem selbstbewussten „J’ai résolu de vous donner une heure de littérature nouvelle.“54 Es folgt sodann eines seiner neuen Gedichte Chant de guerre parisien und danach wiederum die nicht minder selbstbewusste Ankündigung: „Voici de la prose sur l’avenir de la poésie.“55 Das Neue ist also dem dichterischen Programm von vornherein eingeschrieben; die Fesseln der Vergangenheit werden ostentativ abgestreift, allen voran Racine und Musset, die Rimbaud aufs Tiefste verabscheut ganz nach dem Motto „libre aux nouveaux d’exécrer les ancêtres.“56 Auffällig ist an dieser Stelle erneut, dass Rimbaud sich stets als ahnenlos imaginiert, so auch im Prosagedicht Mauvais sang aus der Saison en enfer, wo es lautet: „Si j’avais des antécédents à un point quelconque de l’histoire de France ! Mais non, rien.“57 Was hier passiert, ist klar: Indem nämlich Rimbaud jegliche Form eigener Herkunft verleugnet, sozusagen eine Ursprungslosigkeit vorgaukelt, kann er sich und seine Kunst als das absolut Neue setzen, das all seine Energie aus sich selbst schöpft und eindeutig in die Zukunft gerichtet ist. Es mag von weitem betrachtet reichlich naiv, ja kindlich erscheinen, wenn sich ein 16-jähriger als der große Neuerer der französischen Dichtkunst inszeniert. Streift man jedoch den pathetischen Gestus von den Seher-Briefen ab, so entfaltet Rimbaud eine bemerkenswert moderne Poetik, die darin besteht, „dass modernes Dichten mit gleichwertiger Reflexion über das Dichten einhergeht.“58 Dieses Ziel kann Rimbaud nur erreichen, indem er sich selbst zum Seher, zum voyant, macht: Je veux être poëte, et je travaille à me rendre voyant. Il s’agit d’arriver à l’inconnu par le dérèglement de tous les sens. Les souffrances sont énormes, mais il faut être fort, être né
54 Arthur Rimbaud: Œuvres complètes, hrsg. von Rolland de Renéville und Jules Mouquet, Paris 1954, S. 269. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Rimbaud: Gesammelte Werke, S. 306. 58 Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts [1956], Reinbek 2006, S. 61.
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poëte, et je me suis reconnu poëte. Ce n’est pas du tout ma faute. C’est faux de dire : Je pense. On devrait dire : On me pense.59
Was passiert in dieser Passage genau, die unmittelbar einmündet in das berühmteste und am häufigsten interpretierte Rimbaud-Zitat überhaupt „Car JE est un autre“60? Am Anfang steht die Berufung, nämlich die Berufung Dichter zu werden. Zu diesem Zeitpunkt ist der Dichter noch kein Seher, so wie es vielleicht in mythologischen Seher-Modellen der griechischen Antike noch der Fall war. Das Sehertum muss erarbeitet werden, ist also das Ergebnis eines voluntaristischen Prozesses. Die Berufung liefert lediglich die notwendige „force“, die es braucht, diesen „travail“ zu meistern.61 Wir haben nun den Auslöser und den Prozess, aber worin besteht das Ergebnis, die „voyance“? Die „voyance“ ist genau dieser Prozess, d.h. es gibt keinen finalen Zustand, sondern die Arbeit selbst konstituiert das Sehertum, das wiederum durch die ‚Entgrenzung aller Sinne im Unbekannten‘ manifest wird. Diese knappe Passage ist gespickt mit ästhetisch-philosophischen Begrifflichkeiten, zentral stehen jedoch „force“ und „travail“ – Kraft und Arbeit bzw. Vermögen. Wie Christoph Menke dargestellt hat,62 kreist die gesamte ästhetische Diskussion seit ihren Anfängen bei Descartes, Leibniz und Baumgarten immer wieder um genau diese Grundbegriffe und führen geradewegs zu Nietzsches Modell des Dionysischen und des Apollinischen, das er in seiner Geburt der Tragödie entwickelt – ein Buch übrigens, das exakt zur gleichen Zeit entsteht wie Rimbauds Lettres du voyant. Es ist tatsächlich ein weiter Weg vom cartesianischen Modell des Cogito ergo sum bis zu Rimbauds On me pense – JE est un autre, den ich hier nur skizzieren kann. Es war Leibniz, der erkannte, dass das Subjekt keineswegs ein rein rationales Verstandswesen ist, sondern dass dem Subjekt ein ‚inneres Prinzip‘ inhärent ist, das man als Kraft begreifen muss und zwar als Kraft der sinnlichen Eindrücke:
59 Rimbaud: Œuvres complètes, S. 268. 60 Ebd. 61 Zur Dichotomie von „force“ und „travail“ in Rimbauds Poetik vgl. Karin Westerwelle: „Force und travail in den Lettres du voyant und in Une Saison en enfer“, in: Thorsten Greiner/Hermann H. Wetzel (Hrsg.): Die Erfindung des Unbekannten. Wissen und Imagination bei Rimbaud / L’invention de l’inconnu. Science et imagination chez Rimbaud, Würzburg 2007, S. 187-212. 62 Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/M. 2008.
122 | G REGOR S CHUHEN Die Tätigkeit des inneren Prinzips, die die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt, kann Strebung (appetitus) genannt werden. Es ist war, dass der Appetitus nicht ganz und gar zu der Perzeption gelangen kann, auf die er angelegt ist, aber er erlangt immer irgend etwas und dringt zu neuen Perzeptionen vor.63
Das „innere Prinzip“ wäre demnach die Strukturierung des Residuums sinnlicher Wahrnehmung, die durch dauerhafte Bewegung geprägt ist und die dunklen Kräfte vorbewusster Tätigkeiten zu umschreiben versucht. Wir nähern uns damit wieder Rimbaud und seiner Konzeption des Unbekannten. Vorher aber sei ein weiterer Passus aus einem Traktat von Leibniz zitiert, das sich mit der TheodizeeFrage auseinandersetzt: Jede gegenwärtige Vorstellung zielt auf eine neue Vorstellung hin, wie jede Bewegung, die sie vorstellt, auf eine andere Bewegung hinzielt. Unmöglich aber kann die Seele klar und bestimmt ihre ganze Natur erkennen und wahrnehmen, wie jene unzähligen kleinen Vorstellungen, die in ihr aufeinandergehäuft oder vielmehr zusammengedrängt sind, sich darin zu bilden: um das zu können, müsste sie das ganze Universum gänzlich kennen, das darin erhalten ist, d.h. ein Gott sein.64
Hier liegt die Antwort begründet auf die Frage, worin Rimbauds Konzeption des Sehertums besteht, nämlich genau das zu können: die Natur der Seele in Gänze zu erkennen mitsamt ihren noch kleinsten Vorstellungen. Der ‚Seher‘ bei Rimbaud wäre der ‚Gott‘ bei Leibniz, der durch die Entgrenzung aller Sinne schließlich im Unbekannten, d.h. im Endeffekt bei sich selbst angelangt ist – Rimbaud spricht bezeichnenderweise auch von der „force surhumaine“65 des Sehers. Der Begriff der „force“, der Kraft also, ist bei Rimbaud, wie übrigens auch bei Leibniz, synonym von „Vorstellungskraft“ / „imagination“, die freilich in diesem Sinne schon prominent bei Baudelaire auftaucht, auf den sich Rimbaud, aller angestrebten Ahnenlosigkeit zum Trotz, immer wieder beruft. Die Erkundung dieser vorbewussten Tätigkeiten des perzeptiven Apparats ist also die Erkundung
63 Gottfried Wilhelm Leibniz: „Principes de la philosophie ou Monadologie – Die Prinzipien der Philosophie oder Monadologie“, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 1, hrsg. von Hans Heinz Dolz, Darmstadt 1965, S. 439-483, hier S. 445. 64 Gottfried Wilhelm Leibniz: „Essais de Théocidée sur la bonté de dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal – Versuch der Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 2, hrsg. v. Hans Heinz Dolz, Darmstadt 1965, S. 245-247. 65 Rimbaud: Œuvres complètes, S. 270.
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des Unbekannten durch den Seher und muss im unmittelbaren Zusammenhang des Seher-Briefes sowohl als Subjekttheorie als auch als poetologisches Konzept verstanden werden. „Die voyance ist [nämlich] kein a priori gegebener Zustand; es bedarf der Poetologie, sie zu erzeugen“66, d.h. einer reflexiven Subjektivität, die als „travail“ gekennzeichnet wird. JE est un autre wäre demnach die Einsicht in eine nicht vorhandene Einheit des Subjekts, die nach Rimbaud nur über die Kunst wieder hergestellt werden kann, wenn überhaupt. JE est un autre verweist darüber hinaus auf den kraftvollen, energetischen menschlichen Urgrund des Vor- oder Unbewussten, von Nietzsche als Dionysisches, von Freud später als Residuum der Triebe, als ES lokalisiert. So betrachtet lesen sich Rimbauds Lettres du voyant keineswegs mehr als kindlich-naive Äußerungen eines 16-jährigen. Sie schreiben sich vielmehr in eine philosophisch-ästhetische Debatte ein, die im 19. Jahrhundert bereits in vollem Gange ist und nicht weniger leistet als die sukzessive Dekonstruktion von Einheit und Selbstbestimmung des menschlichen Subjekts. Die Texte Rimbauds sind nicht mehr aber auch nicht weniger als der poetologische Beitrag zu diesem Dekonstruktionsprozess. Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Rimbaud immer wieder seine eigene Herkunft verleugnet, seine Ursprünge programmatisch verschleiert, was streng genommen diesen Beobachtungen zuwider laufen würde, da seine Äußerungen keineswegs aus dem Nichts entstanden sind. In diesem Widerspruch liegt für mich einer der Gründe, warum ich in Rimbaud einen möglichen Ursprung der Jugendkultur sehe. Durch die deutliche Ausrichtung seiner poetologischen und anthropologischen Vorstellung auf die Zukunft, durch die nahezu vollkommene Negation des Vergangenen, ja das Verfluchen der Ahnen erzeugt Rimbaud einen wohl kalkulierten Traditionsbruch, der so offensiv bis dato noch nicht vollzogen wurde und der das Hauptcharakteristikum dessen ist, was man unter Jugendkultur verstehen kann. Rimbaud tut dies wohlgemerkt aus der Perspektive eines Jugendlichen, er wühlt auf, er provoziert, er rebelliert, revoltiert und zerstört und verfolgt dabei nur ein Ziel: nach vorne zu schreiten, ohne zurück zu schauen, und das in einem Tempo, das seinesgleichen sucht. Hugo Friedrich kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen: „Die provozierende Absonderung Rimbauds von Publikum und Epoche wird folgerichtig eine ebensolche von der Vergangenheit.“67 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die voyance per definitionem ohnehin nur auf die Zukunft ausgerichtet sein kann, was sehr schön
66 Westerwelle: „Force und travail“, S. 197. 67 Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 64.
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auch in Rimbauds zweiter Selbstattribuierung zum Ausdruck gelangt. Der Seher nämlich, der er selbst werden will, ist zudem ein „multiplicateur du progrès“68. Zu fragen bliebe nun, welche Auswirkungen Rimbauds Sehertum mit sich bringt, denn bliebe es bei diesen Forderungen, dann erschöpften sich die quasi manifestatorischen Äußerungen im Selbstzweck. Die Antwort auf diese Frage kann nur etappenweise erteilt werden. Zum einen beeinflussen die Briefe unmittelbar Rimbauds weitere Kunst, d.h. „[d]as Programm deckt sich mit der zweiten Phase seines eigenen Dichtens“69, die man mit Walburga Hülk als künstlerische Umsetzung des „Begriff[s] der Bewegung, alternativ de[s] Begriff[s] der Energie oder Intensität“70 interpretieren kann. Zum Zweiten weitet sich der freche und provozierende Gestus des dichterischen Rebellen immer mehr aus auf seine aktuelle Lebenssituation. Es folgen verzweifelte Fluchtversuche in die Metropole Paris, wo er zunächst im Gefängnis landet, weil er ohne Fahrschein gefahren war, später dann aber dauerhaft Fuß fassen kann. Damit wäre zum Dritten zu verweisen auf die Auswirkungen seiner Revolten auf sein persönliches Umfeld. Die nämlich tragen nicht wenig zur Mythenbildung um die Person des jungen Dichters bei. Als Rimbaud im Herbst 1871 auf Einladung des Dichters Paul Verlaine nach Paris kommt, „feiert ihn die literarische Bohème als Wunderkind. Statt den Älteren mit gebührendem Respekt zu begegnen, reagiert der [inzwischen] 17-jährige mit Kraftausdrücken und Fäkalsprache auf das, was er als Bevormundung empfindet. Er stört Lesungen, schikaniert seine Gastgeber, gießt einem Freund Schwefelsäure in dessen Getränk und verletzt den Fotografen Etienne Carjat“71, dem wir das berühmte Porträt zu verdanken haben. „Während der darauffolgenden vier Jahre hat Rimbaud eine leidenschaftliche Affäre mit Verlaine, die alle Stadien der Ausschweifung, Armut und sozialen Ächtung durchläuft und schließlich in Gewalt und Erschöpfung endet.“72 Erschöpfung – vielleicht liegt hier der Grund für Rimbauds Verstummen als Dichter, über das schon so viel gemutmaßt wurde. Zum Zeitpunkt der Seher-Briefe stand er noch am Anfang seiner Entwicklung – dichterisch sowie lebenszeitlich. In den dazwischenliegenden Jahren hat er nahezu alles ausprobiert, um seinem Ziel der Entdeckung des Unbekannten näher zu kommen und somit seine Sinne
68 Rimbaud: Œuvres complètes, S. 272. 69 Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 61. 70 Walburga Hülk: „Die chemische Metapher im 19. Jahrhundert: Wissen und Dichtung (Goethe, Stendhal, Rimbaud)“, in: Greiner/Wetzel (Hrsg.): Die Erfindung des Unbekannten, S. 49-61, hier S. 57. 71 Savage: Teenage, S. 41. 72 Ebd., S. 41f.
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immer mehr zu entgrenzen: durch Rauscherfahrungen jeglicher Art, durch Überschreiten sämtlicher Grenzen, durch ein Leben in rasanter Beschleunigung. Am Ende steht er da mit der Einsicht, dass das Unbekannte eben nur annäherungsweise erkundbar bleibt, seine „force“ hat sich verbraucht und was davon übrig bleibt, ist ein dichterisches Werk, das auf seine Zeitgenossen und Nachahmer wirkt wie eine „Explosion“73, was für Hugo Friedrich ohnehin das Schlüsselwort dieses schmalen Werks ist.
P ARISER B OHÈME
ALS
M ÄNNERBUND ?
Das Stichwort ‚Bohème‘ ist nun aufgetaucht und tatsächlich bewegt sich Rimbaud während seiner Paris-Aufenthalte fast ausschließlich in bohemistischen Kreisen. Es gilt in der etablierten Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung als verbürgt, dass es sich bei der Bohème um den Vorläufer der Jugend- und Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts handelt.74 Der Begriff in seiner modernen Verwendung, d.h. eine antibürgerliche Subkultur von intellektuellen Randgruppen bezeichnend, geht zurück auf Henri Murgers Roman Scènes de la vie de bohème (1851), hat aber auch, wie Helmut Kreuzer dargestellt hat, bereits Wurzeln in der Romantik.75 Wenn heute von Bohème die Rede ist, dann geschieht das häufig in einem nostalgisch-melancholischen Ton, der Bezug nimmt auf längst vergangene Zeiten. Viele der Bohème-Gruppierungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden stark verklärt, wozu wahrscheinlich auch Behandlungen des Stoffes beigetragen haben, so z.B. Puccinis La Bohème (1896) oder aus jüngerer Zeit Baz Luhrmanns MOULIN ROUGE (USA 2001). Der reale Alltag der Bohémiens war jedoch nicht immer so romantisch, wie es oftmals in der Retrospektive den Anschein hat. Man muss vorab darauf hinweisen, dass es ohnehin nicht die Bohème im Sinne einer einzigen Gruppe gab. Bohème ist vielmehr der
73 Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, S. 59. 74 Vgl. zu dieser Genealogie u.a. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld 2009, S. 30-49; Elizabeth Wilson spricht von einer „commercialization of Bohemia“ durch die Jugend- und Popkultur des 20. Jahrhunderts, in: dies.: Bohemians. The Glamorous Outcasts, London/New York 2003, S. 221; vgl. Gregor Schuhen: „Bohemian Style. Die Bohème als Ornament in der Popkultur“, in: Walburga Hülk/Nicole Pöppel/Georg Stanitzek (Hrsg.): Die Bohème nach 1968, Berlin 2014 (in Druckvorbereitung). 75 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1968], Stuttgart 2000.
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Dachbegriff für ein disparates Konglomerat aus antibürgerlichen Splittergruppierungen, die in der Regel ausschließlich jungen Männern vorbehalten sind. Rimbaud beispielsweise verkehrt im Cercle des poètes Zutiques. Gegründet wird diese Dichtergruppe im Oktober 1871 von Charles Cros, zunächst unter dem Namen Vilains Bonhommes. Treffpunkt ist ein kleiner Raum im Dachgeschoss des L’Hôtel des Étrangers am Boulevard Saint-Michel in Paris. Zum Kreis gehören neben Cros, Rimbaud und Verlaine die Dichter Germain Nouveau, Jean Richepin und der Fotograf Etienne Carjat. In diesem Kreis werden Gedichte rezitiert, gesungen und Klavier gespielt, aber auch umfangreich Absinth, Haschisch und Opium konsumiert. Als Gemeinschaftsprojekt entsteht das Album Zutique, ein Sammlung von 24 meist groben und obszönen Parodieversen. Die Bohème inszeniert sich ihrem Selbstverständnis zufolge als jugendlichmännerbündische Protestkultur gegen bürgerliche Werte wie Dummheit, Gewinnsucht, Borniertheit, scheinheilige Moralität und Untertanengeist. Das Ideal der ‚heiligen Armut‘ verbietet im Grunde jegliche berufliche Erwerbstätigkeit, was Rimbaud auch in seinem Seher-Brief betont: „Travailler maintenant, jamais, jamais ; je suis en grève.“76 Arbeit im Sinne Rimbauds und auch anderer Bohemiens besteht einzig in der Hervor-bringung von Kunst. Dieser Punkt ist allerdings als nicht unproblematisch zu bewerten. Im Fall Rimbaud darf man sicherlich bis zu seinem ‚zweiten‘ Leben als Handelsvertreter von einem gleichsam ‚erfolgreichen‘ Leben als arbeitsloser Bohemien sprechen, aber der Großteil der bohemistischen Existenzen arbeitet und zwar vornehmlich im journalistischen Bereich, um einigermaßen einen Mindesterwerb abzusichern. Das ist es, was man der Bohème zuweilen als eigene Doppelmoral vorwirft: auf der einen Seite übt man lautstarke Kritik am gesellschaftlichen System, insbesondere auch an der sich herausbildenden Massenpresse, auf der anderen Seite sind die Bohemiens existenziell auf die Arbeit in diesem System angewiesen. Die Bohème – verstanden als männlich-homosoziale Inszenierungsstrategie des Andersseins – spiegelt daher auf exemplarische Weise die Wechselwirkung und gegenseitige Bedingtheit von Randständigkeit und Massenkultur, bleibt sie doch im Rahmen bohemistischer Erwerbsarbeit, als ‚prekäres‘ Milieu, existentiell auf die Erzeugung und Verstetigung von Nachfrage seitens des Boulevards angewiesen – genauso wie umgekehrt die Boulevardmedien auf berichtenswerte Informationen über das ‚Fremde‘, ‚Randständige‘. Auf diese Weise bringt sich die Bohème natürlich auch verstärkt und lautstark ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, was dazu führt, dass um 1900 nicht minder lautstarke Debatten, regelrechte Grabenkämpfe um den Wert der ‚littérature nouvelle‘ bzw. über die ‚jeune littérature‘ aus bo-
76 Rimbaud: Œuvres complètes, S. 268.
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hemistischer Produktion geführt werden. Diese Debatten finden hauptsächlich in der Tagespresse statt und erinnern im Kern an die Querelle des anciens et des modernes zweihundert Jahre zuvor. Die Bohème-Kritiker stammen allesamt aus einem bildungsbürgerlichen und nationalistischen Milieu und sehen in der Bohèmekultur eine massive Gefahr für das ‚patrimoine national‘ der französischen Kultur. Zu den selbst ernannten Verfechtern französischer Tradition gehören Universitätsprofessoren, Journalisten, Schulpolitiker und auch Schriftsteller wie z.B. Maurice Barrès, der zwar ursprünglich auch Mitglied der Bohème war, in seiner späteren Phase aber zunehmend nationalistische und antisemitische Texte publiziert und sich selbst, auch im Kontext der Dreyfus-Affäre, als ‚poète national‘ inszeniert. Hier sei vor allem seine Trilogie Roman de l’energie nationale (1897-1902) genannt, dessen erster Teil, Les Déracinés, eine Gruppe männlicher Provinzjugendlicher darstellt, die im modernen, multikulturellen Paris ihre nationalen Wurzeln verlieren und schließlich auf dem Schafott enden. Es ist, wie es der Literatursoziologe Denis Pernot ausdrückt: „[L]a société française du tournant de siècle se méfie de sa jeunesse.“77 Das zeigt sich auch daran, dass in der Presse vermehrt und ausführlich über den vermeintlichen Anstieg von Jugendkriminalität berichtet wird; daran auch, dass Schulpolitiker eine Rückkehr zu den französischen Klassikern fordern und damit sind keineswegs kanonische Vertreter des 19. Jahrhunderts gemeint, sondern tatsächlich die Klassiker aus dem ‚Grand Siècle‘. Die Bohème-Literatur wird gemeinhin als Symptom kulturellen Niedergangs gefürchtet – das Gespenst der Décadence ist allgegenwärtig und wird häufig gleichgesetzt mit Jugend, jugendlicher Lebenswelt und junger Literatur. Dass aber auch die Bohème mit positiven Eigenschaften wie Erfindungsgeist, Innovation und Nutzbarmachen lukrativer Nischen assoziiert wird – im Übrigen allesamt Qualitäten, die inzwischen der Jugendkultur zugesprochen werden –, diese Einsicht hat sich erst später durchgesetzt, vor allem zur Zeit der künstlerischen Avantgarden. Und tatsächlich sind aus der Bohème die erstaunlichsten Karrieren hervorgegangen: So ist z.B. der bereits genannte Dichter Charles Cros nicht nur als Komponist von Gedichten in die Literaturgeschichte eingegangen, die auf mündlichen Vortrag angelegt sind, sondern als ‚BeinaheErfinder‘ des Grammofons – Edison war der schnellere Patentanmelder – und als Entwickler neuer Methoden im Bereich der Farbfotografie.
77 Denis Pernot: La jeunesse en discours (1880-1925). Discours social et création littéraire, Paris 2007, S. 10.
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D ER B OHEMIEN
UND DIE
K AISERIN
Nicht minder kurios ist der Werdegang des Dichters Jules Laforgue, der wie sein Kollege Cros einer Kanonisierung seitens der französischen Literaturkritik größtenteils entgangen ist. Ein Schicksal, das nebenbei bemerkt, die meisten der Bohème-Autoren ereilt hat, was zur Vermutung führt, dass die Bohème vielleicht eher aufgrund von antibürgerlicher Lebensführung und ihrer Impulse auf die Avantgarden in die Kulturgeschichte eingegangen ist als aufgrund ihrer Werke. Man muss aber zu diesem Punkt auch sagen, dass die Werke der französischen Bohème sich primär in den Gattungen Lyrik und Autobiographie erschöpfen – zwei Bereiche also, die es neben der Großgattung Roman vergleichsweise schwer haben, kanonisiert zu werden. Zurück aber zu Laforgue: geboren 1860 in Montevideo/Uruguay als zweites von insgesamt elf Kindern, 1866 mit seiner Familie nach Tarbes in Südwestfrankreich zurückgekehrt und 1876 umgezogen nach Paris. Laforgue war aufgrund seiner enormen Schüchternheit ein mittelmäßiger Schüler: zwar sehr gut im Schriftlichen, aber eher mäßig im Mündlichen, was dazu führt, dass er zweimal durch die mündliche Abiturprüfung fällt und am Ende ohne Abschluss bleibt. Er versucht daraufhin, bei diversen Zeitungen als freier Journalist Fuß zu fassen, was ihm aber nur mit geringem Erfolg glückt. Nebenbei arbeitet er bereits als Dichter, was ihm der einzig sinnvolle Beruf zu sein scheint. 1880 schließt er sich dem bohemistischen Zirkel der Hydropathes an, wo er wiederum auf Charles Cros trifft, dessen Cercle des Zutiques sich bereits nach kurzer Zeit wieder aufgelöst hatte. Stammcafé der Hydropathes ist das legendäre Chat Noir auf dem Montmartre, das bis heute das schlechthinnige Ziel Pariser BohèmeTouristen geblieben ist. In diesen Kreisen lernt Laforgue eine Reihe von Künstlern kennen, darunter den symbolistischen Dichter und Zeitungsverleger Gustave Kahn, der zeitlebens sein engster Vertrauter bleiben wird, und den Schriftsteller und Essayisten Paul Bourget, der um 1900 in Frankreich ein vielgelesener Autor ist. Durch Vermittlung der beiden wird Laforgue im darauffolgenden Jahr Sekretär von Charles Ephrussi, seines Zeichens Herausgeber der Gazette des Beaux Arts und überaus reicher, aus der Rothschild-Linie stammender Kunstsammler und Mäzen. Bourget ist es schließlich, der erfahren hatte, dass die Stelle des französischen Vorlesers bei der deutschen Kaiserin Augusta, Frau von Wilhelm I., vakant sei. Er empfiehlt daraufhin mit der Unterstützung des einflussreichen Ephrussi Laforgue als potentiellen Inhaber dieses Postens, und so wird der ehemalige Elendsbohemien am 18. November 1881 Vorleser der deutschen Kaiserin mit einem Jahreseinkommen von immerhin 9000 Francs, freier Kost und Logis
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und einer täglichen Arbeitszeit von durchschnittlich 1-2 Stunden Lektüre. Laforgue ist zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt. Laforgue wird diese Stelle sechs Jahre zur größten Zufriedenheit seiner Arbeitgeberin ausfüllen. Er begleitet die Kaiserin überall hin: in ihre Heimat Koblenz, zu Kuraufenthalten nach Bad Homburg und Schlangenbad und hat zudem eine Wohnung direkt am kaiserlichen Hof. Die wenigen Arbeitsstunden lassen dem jungen Dichter genügend Zeit, seine dichterischen Ambitionen zu verfolgen. Er steht durchgängig mit Gustave Kahn in Kontakt, der viele von Laforgues Gedichten in seinen eigenen kleinen Zeitungsprojekten unterbringt, aber auch Artikel über die deutsche Kunstszene in größeren Tageszeitungen. Nach und nach aber beginnt ihn die Stelle als Vorleser zu langweilen, außerdem wird sein Heimweh nach Paris immer größer. Ohne eine Absicherung kündigt er 1886 seinen Posten und kehrt nach Paris zurück, wo er nur ein Jahr später 27-jährig an Tuberkulose stirbt. In der Zeit zwischen dem Weggang von Berlin und seinem Tod entstehen noch zwei Prosawerke. Zum einen die Moralités légendaires, ein Erzählband, in dem Laforgue einige wohlbekannte Figuren wie Hamlet, Salome und Lohengrin ihres mythischen Ballasts befreit und parodistische Alternativbiographien verfasst. Diese Sammlung stand auch bei der Diskussion um den Wert der neuen französischen Literatur mehrfach im Kreuzfeuer und würde von den akademischen Eminenzen als besonders gefährdend, als „déculture“78, abgeurteilt. Hamlet wird beispielsweise von Laforgue als arrivistischer Akademiker ausgestellt, was von Seiten der konservativen Kritik als „déclassement du patrimoine littéraire“79 empfunden wird. Das zweite, kurz vor dem Tod fertig gestellte Werk trägt den vielsagenden Titel Berlin. La Cour et la Ville und ist ein Bericht über Laforgues Leben und Beobachtungen am kaiserlichen Hof in Berlin. In diesem hoch interessanten, weitgehend vergessenen Büchlein, das teilweise an Madame de Staëls De l’Allemagne erinnert, befinden sich neben einem kurzen Porträt des nur um ein Jahr jüngeren Prinzen Wilhelm, den Laforgue für „affektiert“, „verwöhnt“ und „unecht“80 hält, recht indiskrete Passagen über die Auseinandersetzungen innerhalb der kaiserlichen Familie, d.h. über den vorherrschenden Generationskonflikt am Hof: Heute machen der Kaiser und die Kaiserin ihrerseits Gebrauch von ihrer Autorität gegenüber dem Kronprinzen, und vor allem gegenüber seiner Frau, […] manchmal mit unwahr-
78 Zit. nach ebd., S. 218. 79 Ebd., S. 231. 80 Jules Laforgue: Berlin, der Hof und die Stadt, Frankfurt/M. 1970, S. 31, 49.
130 | G REGOR S CHUHEN scheinlicher Strenge. […] Andererseits versteht sich der Kronprinz nicht sonderlich gut mit seinem Sohn, Prinz Wilhelm, der ihn durch seinen öffentlich gepflegten Kaiserkult um die Beliebtheit in der Armee gebracht hat. Für das alte Herrscherpaar ist das Grund genug, den Enkel und sein Haus sichtbar zu verwöhnen. Das Ergebnis ist eine ununterbrochene Folge von Nadelstichen und sogar vor dem Publikum der Hofbälle zur Schau getragene Kränkungen. Wie das alles enden wird, ist leicht zu erraten.81
Wie wir gesehen haben, täuscht sich hier der sonst so scharfsinnige Beobachter. Nur zwei Jahre später, 1888, ein Jahr nach Laforgues Tod, überschlagen sich unvorhersehbar die Ereignisse am Hof. Der kaiserliche Staffellauf beginnt und die Jugend trägt unerwartet den Sieg davon.
S CHLUSS Die hier vorgenommene, im Geiste des New Historicism teils assoziativ-anekdotische Gegenüberstellung deutscher und französischer Jugendentwürfe, -kultur und -bewegungen zeigt exemplarisch auf, dass die wiederentdeckte, neoromantische Figur des ‚Jünglings‘ um 1900 eine janusköpfige Gestalt ist: Sie kann sowohl dem allgegenwärtigen Krisen- und Dekadenzbewusstsein der Jahrhundertwende zugerechnet werden als auch dem optimistisch-fortschrittsgläubigen Geist vitalistischer Nietzscheaner und Reformpädagogen. Der Jüngling ist sowohl – als literarische Figur – Opfer gesellschaftlicher Strukturen als auch – als Teil homosozialer Künstlergruppierungen –Schreckgespenst der Traditionalisten und zuletzt die – teils homoerotisch aufgeladene – Faszinationsfigur jugendbewegter Dichter und Gesellschaftstheoretiker. Die literarischen Konstruktionen stehen häufig – so bei Wedekind, Thomas Mann, Hesse oder Huysmans – im Zeichen von Erschöpfung, Degeneration und Nervosität, während die außerliterarischen Entwürfe dem gleichsam mit Vitalität, Naturverbundenheit, Kameradschaft und Nationalgeist begegnen. Abgesehen von den kraftvollen künstlerischen Erzeugnissen – von Rimbaud bis zu den jungen Bohemiens – bleibt der männliche Jugendliche, und damit das Phänomen Jugend selbst, ein homosozial geprägter Projektionsraum, in dem nichts weniger auf dem Spiel steht als die Zukunft der Gesellschaft. Sowohl im Sozialgefüge der Männlichkeiten um 1900 als auch in den literarischen Zeugnissen der Zeit kommt dem Jugendlichen, soviel steht fest, die größte Aufmerksamkeit zu.
81 Ebd., S. 31f.
Uhu, Dame, Querschnitt oder Von Keun bis Keilson Männlichkeitskonzepte in den Zwanziger Jahren M AREN L ICKHARDT
P ROGRESSIVE W EIBLICHKEIT VS . RETROSPEKTIVE M ÄNNLICHKEIT IM R ÜCKBLICK AUF DIE Z WANZIGER J AHRE Projektionen von Weiblichkeit in der Populärkultur und den Massenmedien der Zwanziger Jahre sind bestens vertraut: Es ist die Neue Frau in verschiedenen Varianten, wie das girl, der flapper oder hin und wieder die garçonne,1 die zeitgenössisch wie auch in der Forschung immer wieder als Umbruchsphänomen zur Debatte steht: Die Neue Frau gilt als Zeichen des Aufbruchs im Rahmen eines neuerlichen gesellschaftlichen Modernisierungsschubs,2 aber auch als fremdbestimmte, klischeebesetzte weibliche wie männliche Wunschphantasie oder Schreckensvision,3 außerdem als ‚geistig obdachloses‘, konsumorientiertes Op-
1
Lynne Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne? Weimar Science and Popular Culture in Search of the Ideal New Woman“, in: Katharina von Ankum (Hrsg.): Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997, S. 12-40.
2
Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur, Köln 2005, S. 181; Barbara Drescher: „Die ‚Neue Frau‘“, in: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hrsg.): Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld 2003, S. 168, 172.
3
Renny Harrigan: „Die emanzipierte Frau im deutschen Roman der Weimarer Republik“, in: James Elliot/Jürgen Pelzer/Carol Poore (Hrsg.): Stereotyp und Vorurteil in der
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fer der Unterhaltungsindustrie,4 die sie auf ihrer Oberfläche mit hervorgebracht oder kanalisiert hat.5 Gemeinsam ist allen Varianten die Verankerung in den Goldenen Zwanzigern: der Zeit der relativen wirtschaftlichen Stabilisierungsphase, aber auch noch der Weltwirtschaftskrise und deren Nachwehen. Natürlich entsprach die Neue Frau nicht eins zu eins der empirischen Realität und wo sie es tat, trat sie in den Zwanzigern nicht aus dem Nichts auf, aber ausgehend von dem populärkulturellen und massenmedialen Diskurs ist das, was aus heutiger Perspektive ins Auge fällt und in der Forschung immer wieder betont wird, die Neuartigkeit dieser speziellen Weiblichkeitskonzeption in den Zwanziger Jahren – im Licht der Öffentlichkeit. Aus populärkulturell-massenmedialer Perspektive ist die Neue Frau neu, weil sie nun im großen Rahmen ins Berufsleben tritt und damit als Produzentin und Konsumentin am Wirtschaftsleben teilhat, und weil sie nach Erhalt des Wahlrechts 1918 bei der Wahl zur deutschen Nationalversammlung 1919 erstmals politisch partizipiert. Öffentliche und öffentlich ausgehandelte Weiblichkeitsentwürfe sind in den Zwanziger Jahren geradezu notgedrungen neu und progressiv, also bejahend in die Zukunft gerichtet6, weil für die
Literatur. Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1978, S. 70; Hanne Loreck: „Auch Greta Garbo ist einmal Verkäuferin gewesen. Das Kunstprodukt ‚Neue Frau‘ in den zwanziger Jahren. Einige Überlegungen zu einer Photo- und Skulpturausstellung im Georg Kolbe Museum in Berlin“, in: Frauen, Kunst, Wissenschaft 9/10 (1990), S. 22f.; Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne?“; Stefana Lefko: Female Pioneers and Social Mothers. Novels by Female Authors in the Weimar Republic and the Construction of the New Woman, Mass. 1998, S. 11f.; Vibeke Rützou Petersen: Women and Modernity in Weimar Germany. Reality and Representation in Popular Fiction, New York 2001, S. 136. 4
Siegfried Kracauer: „Asyl für Obdachlose“, in: ders.: Die Angestellten, Frankfurt/M. 1971, S. 95.
5
Vgl. FN 3, außerdem Patrice Petro: Joyless Streets. Women and Melodramatic Representation in Weimar Germany, Princeton 1989, S. 79-139; Katharina Sykora u.a.: „Die Neue Frau. Ein Alltagsmythos der Zwanziger Jahre“, in: dies. (Hrsg.): Die Neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre, Berlin 1993, S. 11; Katharina von Ankum: „Karriere – Konsum – Kosmetik. Zur Ästhetik des weiblichen Gesichts“, in: Claudia Schmölders/Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 179f.
6
Wobei anzumerken ist, dass gerade nach Erhalt des Wahlrechts Zukunftsentwürfe z.B. seitens der Frauenbewegung vage blieben, weil diese in ihrer bürgerlichen Variante zunächst einmal über das erreichte Ziel hinaus keine Forderungen hatte (Friedrun Bastkowski/Christa Lindner/Ulrike Prokop: Frauenalltag und Frauenbewegung im 20.
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Frau in der Öffentlichkeit kaum alte Vorbilder existieren und kein Rückgriff auf breiter Basis möglich ist.7 Schließlich ist die Neue Frau schon deshalb neu, weil sie so heißt, weil es also einer zeitgenössischen Programmatik folgt, neu zu sein, mit Vorbildern und Traditionen zu brechen, um sich in der jungen Weimarer Kultur öffentlich zu positionieren. Dagegen scheinen sich Männer mit der neuen Zeit schwer zu tun. Kurt Pinthus’ berühmtes Diktum, die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik sei ‚männlich‘,8 skizziert auf den ersten Blick ein Männlichkeitsbild auf der Höhe der Zeit: Männlichkeit wird in typisch anti-expressionistischer Manier mit einer positiv besetzten Rationalität, Nüchternheit und kühlen Souveränität gleichgesetzt. Aber selbst wenn ohnehin fraglich bleibt, ob dieses Ideal einholbar ist, artikulieren sich in diesem selbst schon Ermächtigungsphantasien, die sich noch
Jahrhundert. 1890-1933. Materialsammlung zu der Abteilung 20. Jahrhundert im Historischen Museum Frankfurt, Frankfurt/M. 1980, S. II/8). Vielleicht ist es also weniger der Zukunftsbezug als Gegenwärtigkeit, die das Frauenbild der Zwanziger Jahre prägte. Zudem zeigt natürlich gerade die Geschichte der Frauenbewegung die historische Dimension der Neuen Frau, die aber als das Massenphänomen, als das sie in den Zwanzigern galt, dennoch keine direkten Vorläufer hatte. 7
In der Krise ganz am Ende der Weimarer Republik, nachdem also die hier zu behandelnde Männlichkeitskrise um sich gegriffen hatte, kommt es allerdings sehr wohl wieder zu Restaurierungen ‚älterer‘ Frauenbilder, d.h. es kann jederzeit wieder ein Rückgriff auf traditionelle Weiblichkeitskonzepte erfolgen, was die progressiven Weiblichkeitsimaginationen Mitte der Zwanziger Jahre umso mehr unterstreicht. „Der Garҫonnetyp ist als zukunftsfrohes Symbol der modernen, selbständigen, versachlichten Frau begrüßt oder abgelehnt worden. Ist es ein Zufall, daß um 1930, zur Zeit der Krise, plötzlich wieder ‚weiche Weiblichkeit‘, mit längeren Haaren und Röcken, körpernahen Schnitten und betonter Taille gefragt ist?“ (Ausstellungskatalog: Frauenalltag und Frauenbewegung. 1890-1980, hrsg. v. Historischen Museum Frankfurt/M., Basel/Frankfurt/M. 1981, S. 57).
8
Kurt Pinthus: „Männliche Literatur“, in: Das Tage-Buch 10 (1929), Nr. 1, S. 903-911. Gleichwohl gesteht Pinthus einigen Schriftstellerinnen einen ähnlichen ‚Vermännlichungsgrad‘ zu, weshalb Ulrike Baureithel davon spricht, dass sich geschlechtliche Zuschreibungen in dem Kontext schon von ihren „biologischen Trägern“ lösen (Ulrike Baureithel: „Masken der Virilität. Kulturtheoretische Strategien zur Überwindung des männlichen Identitätsverlustes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Die Philosophin 8 (1993): Paradigmen des Männlichen, S. 24-35). Dennoch bleibt es bei der Kategorie ‚männlich‘ unabhängig von der Zuordnung der biologischen Geschlechter, die seitens männlicher Autoren zum Leitbild der Sachlichkeit erklärt wird.
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am Ersten Weltkrieg abarbeiten.9 Während der Krieg mit dem expressionistischen Erbe gleichgesetzt wird und vehement abgeschnitten werden soll, bleibt die Wunde doch auch oder gerade in der Wegbewegung noch deutlich bestimmend für Pinthus; und nicht nur für Pinthus. Wo in der Weimarer Republik von Sachlichkeit die Rede ist, ist nicht selten ein Verlustgestus zu bemerken, der letztlich sogar in Sentimentalität umschlägt, und zumeist den Ersten Weltkrieg im Blick hat: Wir leben in einer nüchternen, klareren und ehrlicheren Welt und fühlen uns wohl darin. […] Die lebendigen Menschen der Zeit selbst suchen nach den Stürmen Häuser zu bauen; sie wollen das Maß, die lebendige und klare Ordnung der Dinge.10
Die „klare Ordnung der Dinge“ setzt in männlichen Beschreibungen der eigenen Zeit also „Stürme“ voraus. Und so werden auch in der Forschung zur Weimarer Republik von Klaus Theweleit bis Helmut Lethen vor allem soldatischer Heroismus und verwundete Kreatürlichkeit11 als das körperlich verankerte Spannungsfeld fokussiert, in dem eine gravierende Destabilisierung von Männlichkeit zum Ausdruck kommt und gleichzeitig um Restabilisierungen gerungen wird. Ein Einbruch der Männlichkeit, wie sie im Spiegel des Ersten Weltkrieges gese-
9
„[T]he myth of masculinity“ wurde nach beiden Weltkriegen gepflegt. Selbst wenn ein Bewusstsein für dessen Aufgesetztheit vorlag, bildete er durchaus den Maßstab für Diskussionen um Männlichkeit nach den Weltkriegen (vgl. Margaret Randolph Higonnet u.a.: „Introduction“, in: dies. [Hrsg.]: Behind the Lines. Gender and the Two World Wars. New Haven/London 1987, S. 11), sodass nicht zu Unrecht von einer speziellen ‚Nachkriegs-Virilität‘ gesprochen werden kann, wie es die Forschung zur Weimarer Republik unermüdlich tut.
10 Erich Troß: „Die neue Sachlichkeit“, in: Frankfurter Zeitung vom 11.09.1925, abgedruckt in: Sabina Becker: Die Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente, Köln 2000, S. 27. Die Hervorhebungen liegen im Originaltext vor. 11 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994. Klaus Theweleits Studie zu ‚Männerphantasien‘ nimmt schon in Bezug auf die von Männern entworfenen Objekte als Basis und Ausgangspunkt das soldatische Subjekt (Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977). Sein zweiter Band Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors war schließlich diskursbildend für die Fokussierung auf das „Ich des soldatischen Mannes“ (ders.: Männerphantasien. Bd 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors [1977], München 1995, S. 206) in Bezug auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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hen wird,12 sowie Versuche der Bewältigung dieses Traumas durchziehen die kulturellen Selbstbeschreibungen und historischen Verortungen der Weimarer Republik. Wenn es um Projektionen von Männlichkeit geht, erscheint sie fast immer als Nachkriegszeit, also in einem retrospektiven Modus.13 Und bleibt vor allem der Erste Weltkrieg die Hintergrundfolie für männliche Identitätsentwürfe, ist es kein Wunder, dass körperliche Vitalität und mentale Kälte den Maßstab für Souveränität und Funktionalität bilden. Damit kann auch der neuen Bedrohung durch die Neue Frau begegnet werden, weil eine klischeehafte, biologistisch verankerte geschlechtliche Grenzziehung zementiert wird.14 Es ergeben sich in den Zwanziger Jahren aber ganz neue Chancen und Risiken für Männlichkeit, die im Folgenden erörtert werden sollen.
G EGENDERTE K ORPUSBILDUNG Jenseits des Gegenstandes ist dazu auch die Beobachterperspektive unter dem Blickwinkel des Genders zu betrachten. An den eingangs skizzierten Konstruktionen von Männlichkeit sind Frauen kaum beteiligt. Weibliche wie männliche Autoren oder Beobachterinnen arbeiten sich an der Neuen Frau ab, aber es scheinen vorwiegend männliche Blickwinkel zu sein, die Anteil an Projektionen der Männerbilder haben, die heute in der Forschung zur Weimarer Republik beachtet werden und die ihrerseits auf männlichen Selbstzuschreibungen in den Zwanzigern beruhen. Wenn nun im Folgenden die Konstruktion von Männlichkeit vor allem seitens einer eher weiblichen Perspektive in den Blick genommen
12 Annette Dorgerloh: „‚Sie wollen wohl Ideale klauen…?‘ Präfigurationen zu den Bildprägungen der ‚Neuen Frau‘“, in: Sykora u.a. (Hrsg.): Die Neue Frau, S. 25-50, S. 25: „Das Kaiserreich mit seinen gerüsteten Helden war auf den Schlachtfeldern untergegangen, und mit den alten Institutionen hatten auch deren Symbole ihre Kraft eingebüßt. Angesichts der Schmach der besiegten Krieger und der entthronten Autoritäten vermochten die alten Bilder männlicher Macht für eine begrenzte Zeit nicht mehr integrierend wirken. […] Das Titelblatt der Neujahrsnummer [des Simplicissimus, M.L.] setzte eine Allegorie des Neuanfangs dagegen: Die ‚Hoffnung‘ ist eine junge Frau […].“ 13 Ansonsten hat – bei einer groben Durchsicht von Männlichkeitstypen dieser Epoche – das Arsenal der Jahrhundertwende überlebt: Es gibt den Bohemien und den Dandy noch, und aus Wiener Kaffeehausschriftstellern wurden Berliner Kneipenjournalisten. 14 Ähnliches konstatiert Hans Ulrich Gumbrecht in Bezug auf die populäre Figur des Boxers (vgl. ders.: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt/M. 2001).
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wird, geht es aus verschiedenen Gründen nicht um Autorinnen, also Schreibende weiblichen Geschlechts, sondern unabhängig vom biologischen Geschlecht der Textproduzenten und -produzentinnen soll ein weiblich konnotierter Diskursraum in den Blick genommen werden: Es wird auf Beiträge aus den Mode- und Lifestylemagazinen Die Dame und der Uhu aus den Zwanziger Jahren eingegangen werden sowie auf den Feuilletonbeitrag System des Männerfangs15 von Irmgard Keun aus dem Querschnitt von 1932. Mit der Dame und dem Uhu soll ein Korpus auf Konzepte von Männlichkeit hin befragt werden, das zwar nicht zwingend von Frauen produziert wird, aber entweder eher an Frauen adressiert ist – Dame – oder in der Forschung immer wieder zu Rate gezogen wird, um Frauenbilder zu extrahieren – Uhu. Das erscheint vor allem deshalb interessant, weil Verhandlungen von Männlichkeit in diesem eher ‚weiblichen‘ Kontext nicht selbstverständlich implizit mitgeführt werden. Vielmehr stellt Männlichkeit eine deutlicher umgrenzte, fremde Sphäre dar. Ausgehend von diesem Blickwinkel soll abschließend auf Hans Keilsons neusachlichen Roman Das Leben geht weiter eingegangen werden. Dabei ist zu erörtern, wie viel von der von Pinthus als kühl und stark beschworenen Männlichkeit, aber auch den ganz anderen, spezifisch ‚weiblichen‘ Anforderungen an diese, am Ende der Weimarer Republik übrig ist.
M ÄNNERBILDER IN DEN M AGAZINEN U HU , D AME UND Q UERSCHNITT Im Querschnitt, der nicht in dem im vorliegenden Kontext so bezeichneten ‚weiblichen Diskursraum‘ anzusiedeln ist, scheint häufiger als in Uhu und Dame ein an körperlicher Kraft und Attraktivität orientiertes Männerkonzept verhandelt zu werden.16 Skizzen und Bilder nackter Männerkörper, die mehr enthüllen, als wir heute gewohnt sind, sind keine Seltenheit. Und diese Körper sind muskulös bzw. athletisch, was von sportlichen Posen unterstrichen wird und im Detail
15 Irmgard Keun: „System des Männerfangs“, in: Stefanie Arend/Ariane Martin: Irmgard Keun. 1905-2005. Deutungen und Dokumente, Bielefeld 2005, S. 138-141. Künftig zitiert mit der Sigle SM und der Seitenangabe. 16 Allerdings liegen im vorliegenden Kontext bis auf Irmgard Keuns Beitrag ausschließlich Ausgaben aus den frühen Zwanziger Jahren vor, während aus dem Uhu und der Dame auch spätere Ausgaben berücksichtigt werden. Ein streng synchroner Vergleich würde zeitliche Verschiebungen als Drittvariable ausschließen, was bei einer quantitativen Analyse notwendig wäre.
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nachvollzogen werden kann.17 Im Zuge der Weimarer Sportbegeisterung erscheinen zudem im Querschnitt sehr häufig die ‚kriegerischen‘ Varianten, also Box- oder Stierkämpfe.18 Natürliche, biologisch-körperlich verankerte Vitalität und Virilität werden vielmals zur Schau gestellt. Aber auch das Spannungsfeld von Natürlichkeit und Kultiviertheit wird anhand männlicher Figuren sogar im Uhu beispielsweise in einer Werbung für ein Verjüngungsmittel aufgegriffen, das vor kultureller Degeneration schützen soll.19 Abb.1: Werbung Lukutate ‚Verjüngungs-Frucht‘ (1927)
17 Der Querschnitt durch 1922, hrsg. v. Alfred Flechtheim u.a., Berlin u.a. 1922, S. 37. 18 Ebd., S. 65 u. 124. Auch im Uhu, dessen Zielpublikum aus Männern und Frauen bestand, finden sich allerdings durchaus ähnliche Darstellungen (Uhu, Heft 1, 3. Jg. Oktober 1926, S. 68ff). Gumbrecht würde ganz im Gegensatz zur vorliegenden Analyse schon den Stierkampf als Ausdruck einer Destabilisierung der männlichen Geschlechtsrolle in der Figur des Stierkämpfers sehen, weil dieser mit dem „Attribut der weiblichen Unterlegenheit verknüpft“ ist (Gumbrecht: 1926, S. 423). 19 Uhu, Heft 10, 3. Jg., Juli 1927, S. 133.
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Der nackte, muskulöse Mann mit der Keule wird mit dem Anzug- und Aktenträger auf dem Weg zur Büroarbeit sowie dem Herrn in Frack und Hut bei der Tischgesellschaft entgegengestellt. Dabei bildet der übergroße ‚Naturmensch‘ den Maßstab, der den dekadenten und degenerierten Kulturmenschen unter die Lupe nimmt, ihn also erst vergrößern muss, um ihn aus seinem Blickwinkel zu beobachten und sezieren. Im Spiegel kraftvoller Männlichkeit erscheint der zeitgenössische Mann klein und schwach und unter dem Anzug geradezu körperlos.20 Die moderne Männlichkeitskrise, wie sie im allgemeinen Diskurs der Zwanziger Jahre erscheint, rankt sich unter anderem um den Gegensatz von Natur und Kultur.21 Dass dieser Gegensatz aber in den Zwanziger Jahren sehr wohl aufgehoben, ausgehebelt oder zumindest sehr stark umbewertet wurde, zeigen beispielsweise gerade der Uhu und vor allem Die Dame. In diesen Magazinen werden insgesamt ganz unterschiedliche Männlichkeitskonzepte thematisiert und abgebildet, die an die entsprechenden Mode-, Lifestyle- und Unterhaltungsthemen gebunden sind. Wesentlich ist, dass beide Magazine die Atmosphäre der Goldenen Zwanziger aufgreifen oder transportieren. Männer aus kreativen oder bürgerlichen Berufen oder mondänen Gefilden sind zu diesem Zweck sehr beliebt. Es geht insgesamt sehr zivil zu, was auch die häufige Thematisierung von Tennis, Pferderennen, Golf und Autorennen als Sportarten zeigt. Natürlich sind die Männertypen an die jeweils aufgegriffenen Themen gebunden, aber der Generaldirektor taucht in seiner boulevardesken Variante als Männertypus unabhängig von wirtschaftlichen Fragestellungen auf. Der Generaldirektor ist das männliche Pendant zu und der Traum einer jeden Privatsekretärin, die sich von einer Heirat mit ihrem Chef ein komfortables Leben verspricht. Im Mode-, Lifestyle- und Unterhaltungsbereich gilt als einprägsame Formel für eine positiv besetzte Männlichkeit: Generaldirektor statt General und Frack oder Anzug statt Militäruniform.22 In
20 Vgl. dazu auch den Beitrag von Barbara Vinken in diesem Band. 21 Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994. 22 Vgl. z.B. verschiedene Bilder und Karikaturen des Generaldirektors in Ferber, Christian: Uhu. Das Magazin der 20er Jahre. Nachdruck der Erstveröffentlichungen aus den Original-UHU-Bänden von 1924-1933. Frankfurt/M. 1979, S. 17 u. 181; Uhu. Heft 9, Juni 1925, S. 81. So findet sich auch im Uhu die Erzählung „Herr Generaldirektor Woellermann entdeckt die Gymnastik“ (Uhu. Heft 2, 6. Jg., November 1929, S. 74ff.). In Frauenzeitschriften wird sehr deutlich, dass die Zwanziger Jahre nicht mehr die Welt des Kaisers oder des Krieges ist, sondern des Kapitals und der Aktien. Dem wird in dem gegenwartszugewandten Uhu unter dem Titel 200 Worte Deutsch, die Sie vor
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der Frauenmodezeitschrift Dame finden sich zahlreiche Abbildungen von eleganter Herrenmode.23 Aber auch Gemälde von Georg Kirsta werden abgebildet, in denen der Künstler Männer in profanen Arbeitsanzügen porträtiert und die nach den Initialen der Herren benannt werden. Der nun im Anzug uniformierte Mann erhält auch keinen individualisierenden Namen mehr.24 Jedoch schimmert keine Wehmut durch in dieser Reihe, die sich ganz dem durchschnittlichen Alltags-Mann widmet. Die Pose wirkt ebenso erhaben wie ähnliche Porträts in Roben oder Militäruniform. Bei aller Verschiedenheit der Männerbilder, die in Uhu und Dame zu sehen sind, erscheint doch vorwiegend der kultivierte, bekleidete Mann, der die Frau auf Sport- und Abendveranstaltungen sowie auf Reisen begleiten kann. In der Werbung zeichnet sich am deutlichsten das aktuell kursierende Spektrum von Männlichkeitskonzepten ab, zumeist in der idealisierten Variante. Abb. 2: Werbung Dr. Dralle: Dandy (1926)
zehn Jahren noch nicht kannten Rechnung getragen. Der „Altbesitz“ wird erläutert als „Wertpapiere, die der Inhaber schon vor Kriegsende besaß“, „Aufwertung“ als „[t]eilweise Entschädigung für entwertete Papiermark-Forderungen“ (Ferber: Uhu, S. 230). All dies soll den Blick nicht darauf verstellen, dass in der Literatur auch von Frauen, so z.B. bei Keun, Kriegsversehrte auftauchen, aber dieser stellt nur einen, und nicht den prominentesten neben zahlreichen Männertypen dar. 23 Vgl. z.B. Die Dame, 2. Novemberheft, Heft 4, 54. Jg. 1927, S. 10f.; Die Dame, 1. Aprilheft, Heft 14, 54. Jg. 1927, S. 6; Die Dame, 2. Aprilheft, Heft 15, 55. Jg. 1928, S. 6f.; Die Dame, 3. Aprilheft, Heft 16, 53. Jg. 1926, S. 14f. 24 Die Dame, 1. Maiheft, Heft 16, 54. Jg. 1927, S. 14.
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Abb. 3: Werbung Dr. Dralle: Angestellter (1927)
Des metrosexuellen Manns der Zwanziger oder des Dandys „tägliche Freude“ ist Dr. Dralle’s Birken-Haarwasser25, das aber an anderer Stelle ebenso dem einfachen Angestellten empfohlen wird,26 d.h. das gleiche Produkt richtet sich an zwei männliche Leitbilder: den mondänen Herrn, den man sich beim Freizeitvergnügen vorstellen kann, und den Angestellten in seinem Arbeitsalltag. Beide Männerbilder, also sowohl die elegante als auch die durchschnittliche Variante, haben allerdings Anzug (hier ohne Jackett) oder Frack, also ein betont bürgerliches und ‚unkörperliches‘ Auftreten gemeinsam, und beide sind über die Tatsache hinaus, dass sie in der Werbung auftauchen, mit kommerziellen Momenten verknüpft: Die Werbungen erzählen Geschichten von Geld haben, ausgeben oder verdienen. Gut und wohlhabend aussehende, elegant gekleidete Herren rauchen außerdem beispielsweise Halpaus Mocca27 oder Kolibri28 Zigaretten, und ein attraktiver Gentlemen in Smoking empfiehlt seinem jüngeren, seinen Kopf stüt-
25 Die Dame, 2. Aprilheft, Heft 15, 53. Jg. 1926, S. 41. 26 Uhu, Heft 8, Mai 1927, S. 109. 27 Die Dame, 2. Januarheft, Heft 8, 54. Jg. 1927, Titelrückseite. 28 Uhu, Heft 12, 6. Jg., September 1930, Umschlaginnenseite hinten. Vgl. auch Peri Rasier-Creme-Werbung in: Uhu, Heft 1, 6. Jg., Oktober 1929, S. 97.
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zenden Freund Satyrin, ein Mittel für den gesunden Säure-Base-Haushalt.29 Dass ein aufwändiger und ungesunder Lebensstil diesen aus dem Tritt gebracht hat, klingt in der Abbildung an: Es ist leicht vorstellbar und soll evoziert werden, dass vornehmlich der Champagner die Übersäuerung verursacht hat, die nun mit Satyrin behoben werden soll. Berufstätigkeit ist ein wesentliches Merkmal zahlreicher männlicher Werbefiguren. So enthüllt ein erfahrener Geschäftsmann seinem jüngeren Kollegen in einer Kaffee Hag-Werbung als „Geheimnis [s]eines Erfolges“ Ruhe und Gelassenheit dank des entkoffeinierten Kaffees.30 In einer Werbung für Mouson Zahncreme wird deren Gebrauch einem beruflichen Aufsteiger nahe gelegt. Eingeleitet wird die Werbung mit der Märchen-Floskel: „Es war einmal ein junger Mann… intelligent genug, um es zu etwas zu bringen […].“ Es wird sehr deutlich auf Aufstiegsträume als unhinterfragte männliche Wünsche oder unhinterfragte Zuschreibungen an Männlichkeit verwiesen, die dann an die Verwendung der Zahncreme gebunden werden.31 Außerdem taucht der moderne, gepflegte, elegante Mann der Zwanziger häufig neben oder im Hintergrund von Damen auf. Gut gekleidete Paare – die Männer also in Frack – finden sich in der Werbung von Kaloderma-Seife32, Dulmin-EnthaarungsCrème33, Leichner-Compact-Puder34 und Riquet-Pralinen35, aber auch Autos wie dem achtzylindrigen Audi usw. usf.36 Beruflicher Erfolg oder Eleganz und Kultiviertheit bilden die Möglichkeiten, als Mann attraktiv zu sein. Hierbei zeigt sich zunächst weniger der Mann, mit dem sich Männer identifizieren, als der Traummann für Frauen. Die Werbung selbst thematisiert die Tatsache, dass Männer als derartige Objekte von und für Frauen eingesetzt werden. In der Reklame für Odol dient die Verwendung des Mundwassers der Steigerung der Attraktivität für die Frau: „Schon wieder ein Korb – Tabakgeruch aus dem Munde des Tänzers schreckt jede Dame ab.“37 Eine Kupferberg Gold-Werbung bringt es in dem begleitenden, kommentierenden Text schließlich auf den Punkt: „Was
29 Uhu, Heft 6, März 1925, S. 130. 30 Uhu, Heft 7, 6. Jg., April 1930, S. 1. 31 Die Dame, 1. Aprilheft, Heft 14, 54. Jg. 1927, S. 47. 32 Die Dame, 1. Dezemberheft, Heft 5, 56. Jg. 1928, S. 65. 33 Uhu, Heft 2, 6. Jg., November 1929, S. 103. 34 Uhu, Heft 7, April 1925, S. 123. 35 Uhu, Heft 1, Oktober 1924, S. XIII. 36 Die Dame, Automobil-Heft, 1. Novemberheft, Heft 3, 56. Jg. 1928, S. 55. 37 Die Dame, 2. Dezemberheft, Heft 6, 54. Jg. 1927, S. 35.
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denkt ‚sie‘ von Ihnen? Die Dame, welche Sie einladen, beobachtet Sie vielleicht genauer als Sie glauben.“38 Abb.4: Werbung Kupferberg Gold (1927)
Die Werbung indiziert mit dem eleganten Herrn nicht nur ein gängiges, positiv bewertetes Männerbild, sondern auch, aus welcher Perspektive es projiziert wird, denn nicht nur die Dame in dieser Werbung beobachtet ihr männliches Gegenüber, sondern auch die Zeitschrift Die Dame sondiert Männerbilder nach Verwendbarkeit für Frauen, aber erst Recht die Rezipientinnen tragen einiges zur Bewertung und Diffusion von Männlichkeitskonzepten in den Zwanziger Jahren bei. Sie wird zu einem Maßstab für Männlichkeit, wie auch Männer – das lehren die Women’s Studies – die Definitionsmacht über Weiblichkeitsimaginationen inne haben.
38 Die Dame, 2. Juliheft, Heft 21, 54. Jg. 1927, S. 45.
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Das Beobachten und anschließende Bewerten war insgesamt ein wesentlicher Bestandteil der Weimarer Kultur. In der Wissenschaft und in populärwissenschaftlichen Publikationen, Ratgebern und Zeitschriften kursierten Orientierungshilfen, die auf alltägliche Bereiche des Lebens Bezug nahmen.39 Auf Basis äußerlich-behavioristisch beobachtbarer Phänomene40 wurden zahlreiche Typologien entwickelt, in denen Bewegungsabläufe, Essgewohnheiten oder ein Kleidungsstil dazu dienten, Menschen zu klassifizieren oder normieren. Als entsprechende Objekte wurden immer wieder Frauen angeführt und untersucht.41 Es kam allerdings auch vor, dass derartige Typologien umgekehrt werden: Männer wurden von Frauen taxiert, kategorisiert und beurteilt. So kann sich die Frau den Mann in einem Uhu-Artikel selbst zusammensetzen, in dem viele Seiten mit Photographien von Männergesichtern in drei Teile zerschnitten sind, sodass beim Blättern unzählige Kombinationsmöglichkeiten bleiben, ein männliches Gesicht zu kreieren: 500 Männer nach Ihrer Wahl. Ein lustiges Zusammensetzspiel für die Damen oder: Der Mann, den Sie sich wünschen. […] Kurz, spielen Sie ein wenig lieber Gott, und schaffen Sie sich den Mann nach Ihrem Wohlgefallen.42
Feste typische Merkmale und deren Variation und Kombination passen allzu gut in die auf visueller Basis wertende Weimarer Kultur. Schließlich erörtert die
39 Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 36. 40 Ebd., S. 195. 41 Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne?”, S. 13-15; Uhu, Heft 4, 7. Jg., Januar 1931, S. 4654: „Die Frau, die zu Ihnen paßt – der Mann, der zu Ihnen paßt. Ein neues psychologisches Fragespiel für Verliebte, Verlobte, Verheiratete, Zufriedene und Unzufriedene. Vgl. auch den Uhu-Artikel: „Blond oder brünett? Von Franz Xaver Kappus. Mit Bildern“ (Uhu, Heft 1, Oktober 1925) oder: „Welche Frau ist am begehrtesten? Eine Bilderreihe zu einem ewigen Problem. Von Vicki Baum“ (Uhu, Heft 1, 7. Jg., Oktober 1930, S. 64-74). 42 Uhu, Heft 11, August 1929, S. 52-60. Im Uhu findet sich z.B. eine Bilderstrecke mit dem Titel: „Das fesselnde Männer-Gesicht. Eine Sammlung von Charakterköpfen. Wie eine Frau sie sieht“ (Uhu, Heft 6, 7. Jg., März 1931, S. 9-16). Die „Charakterköpfe“, die nicht nur Frauen faszinieren und ein Archiv von Männlichkeit seiner Zeit repräsentieren, sind nicht unbedingt jung, attraktiv oder ‚männlich‘.
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Dame die Frage „Welcher Mann ist für die Frau kleidsam?“ und kommt zu folgendem Schluss: Die Wirkung einer Frau hängt im öffentlichen Leben beträchtlich von dem sie begleitenden Mann ab. […] Ihrer Kleidsamkeit wegen besonders beliebt sind: der tiefschwarze gelblich getönte Exote, der breite untersetzte Mann mit der Intelligenzbrille, der magere, lässig schleichende Typ mit den ironischen Mundwinkeln, der feine alte Herr mit der Rosette im Knopfloch […]. Für sachlich eingestellten Geschmack kommt noch hinzu: der korpulente Nabob mit dem geröteten Gesicht und dem Stock mit Malachitkopf. Auf jeden Fall unkleidsam ist: der ungepflegte Mann mit der schlechten Haltung, der geckenhaft gekleidete Schaufensterjüngling.43
Zwar steht auch der Körperbau der Männer zur Debatte, aber kleidsame Männer sind in jedem Fall gut gekleidet und bewegen sich souverän in der Gesellschaft. Männer werden außerdem in ihrem Flirtverhalten auf das Genaueste beobachtet. Dabei werden die Rollen von Eroberer und Eroberter insofern umgekehrt, als die Männer gerade aufgrund ihrer Aktivität leicht einer Taxierung zugänglich sind. In dem Flirtspiel scheinen die Frauen also, so suggeriert es ein Uhu-Artikel, die Oberhand zu haben, weil sie die Klischees männlichen Balzverhaltens längst als solche durchschaut haben. Sie [die Platte, M.L.] rollt bei jeder Frau wieder von vorn ab, mit denselben Wendungen und denselben Pausen, mit derselben Resignation und demselben Aufwand von Gefühl. Achten Sie darauf, ob sie bei Ihren Freunden eine Platte feststellen. Die Entdeckung wird sie sehr amüsieren und Ihnen von vornherein eine große Ueberlegenheit sichern.44
In Irmgard Keuns Feuilletonartikel System des Männerfangs kommt zum Beobachten noch die aktive Selektion und Eroberung von Männern hinzu. System des Männerfangs ist eine Anleitung für den Männerfang, die eine Systematik von Männertypen voraussetzt. Der Text selektiert und klassifiziert eroberungswürdige Männer nach weiblichen Standards. Indem die Frau als Beobachtungssubjekt und Agens inszeniert wird, werden Männer als Objekte weiblicher
43 Die Dame, 1. Aprilheft, Heft 14, 55. Jg. 1928, S. 7. 44 Vgl. „Was Männer so reden… Zu jeder Frau dasselbe. Einige Sprechplatten von Männern aus der Sammlung einer jungen Frau“, in: Uhu, 7. Jg., Januar 1931, Heft 4, S. 64-72.
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Fremdzuschreibung behandelt.45 Aber: Um diese Männer zu erobern, müssen sie manipuliert werden. Dadurch werden Frauen zu Seismographen für mehr oder weniger heimliche männliche Selbstbilder, denn diesen gilt es für einen erfolgreichen Beutezug zu schmeicheln. Am Ende ist daher nicht nur zu fragen, welche Männerbilder entworfen werden, sondern wer hier letztlich wirklich souverän über die maßgebliche Beobachterperspektive verfügt oder überlegen ist. Unter römisch I. lernt der Leser, vor allem aber die Leserin, schon einiges über männliche Selbstbilder und wie man ihnen entgegen kommt. Als „[a]llgemeine Regeln“ formuliert Keun z.B.: „der Eitelkeit des Mannes Futter geben“ (SM 138), oder sie stellt fest: „Jeder Mann legt Wert darauf, ein im Grunde ‚einsamer Mensch‘ zu sein. Man respektiere das. Ihn sentimental sein lassen. Männer brauchen das – und können es nur bei einer Frau sein“ (SM 138). Die spezifischen Regeln für den ‚Männerfang‘ sind gebunden an den als Ziel gewählten Männertyp, der nach Berufen klassifiziert wird, denen prinzipiell die größte Bedeutung beigemessen wird: „Den Mann behandeln als Mann seines Berufes. Vor allem: Interesse für seinen Beruf“ (SM 139). Es wird eine männliche Identifikation mit dem jeweiligen Beruf unterstellt, der es zu schmeicheln gilt. Hinter dieser Regel verbirgt sich aber keinesfalls Heuchelei, denn Frauen haben in der Tat Interesse für die Berufe der zur Debatte stehenden Männer. Unter A werden dann künstlerische Berufe wie Schauspieler, Maler, Schriftsteller und auch Redakteure aufgelistet. Unter B fallen „BÜRGERLICHE BERUFE“ (SM 140), die Keun absteigend nach Sozialprestige und Einkommen ordnet. Hier finden sich in der genannten Reihenfolge Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Kaufleute und Beamte. Kategorie römisch II. groß B. klein d) in Keuns pseudo-wissenschaftlicher und den Objektstatus der Männer zementierender Klassifikation bilden beispielsweise die Kaufleute, von denen Folgendes gesagt wird: d) Kaufleute. Kaufleute wollten eigentlich „was andres werden“, Kaufleute sind zuweilen gern lyrisch und haben ihren Beruf verfehlt. Was nicht hindert, daß sie an ihrem Beruf hängen wie die Kletten. Man bewundere ihr Auto und bemerke nicht, wenn es geliehen ist. (SM 140f.)
Von Kaufleuten wird, wie eigentlich von allen Männern, behauptet, dass sie an „ihrem Beruf hängen wie die Kletten“. Das scheint auch auf dem finanziellen Ertrag des Berufs zu basieren, denn dem Kaufmann ist das Auto wichtig, das – ob
45 Stefanie Arend/Ariane Martin: „Nachwort“, in: Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, hrsg. v. Stefanie Arend u. Ariane Martin, Berlin 2005, S. 227. Im Folgenden zitiert mit der Sigle KM und der Seitenangabe.
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zu Recht oder Unrecht – als sein Besitz, als ihm zugehörig angesehen werden soll. Materieller Besitz scheint also dem männlichen Selbstwert zu dienen, und das ist es, was Männer auch erst für Frauen interessant macht. Hier sind sich Frauen und Männer bei der Fremd- und Selbstzuschreibung einig. Überlagert wird dies von der sehr ironischen Behauptung, dass der Kaufmann „zuweilen gern lyrisch“ ist. Während demzufolge gemäß der männlichen Selbsteinschätzung der eigentliche, wahre, innere Kern der männlichen Identität etwas nicht näher Bestimmbares ist, das als „lyrisch“ gefasst wird, vollzieht sich aus weiblicher Perspektive die Umkehrung, dass Frauen als oberflächliche Strategie „lyrisch“ verfahren müssen, auch wenn es tief im Innersten eigentlich beiden um das Auto geht. Inszeniert wird der Gegensatz von männlicher Sentimentalität und weiblichem Pragmatismus, aber materialistisch sind Männer und Frauen Keuns Text zufolge am Ende gleichermaßen. Indem das ‚Lyrische‘ und das Auto hinsichtlich der Frage, was ‚eigentlich‘ oder ‚tiefer‘ zu dem Mann gehört, vertauscht werden, dynamisieren sich Vorstellungen von Essenz und Akzidenz. Eine ähnliche, je nach Perspektive verschobene Zuordnung von Essenz und Akzidenz wird beispielsweise auch in Bezug auf die Nabobs diskutiert, die unter C. folgen. C. NABOBS. (Gibt es noch welche?) Geld hat einem gleichgültig zu sein, der Nabob auch – „man will ihn gar nicht“ –. Nabobs sind mißtrauisch. Ein gutes Rezept: man tue, als halte man ihn für einen Hochstapler und armen Schlucker – und was man an ihm bewundert, sind seine rein männlichen Reize und Vorzüge. Im ersten Stadium der Bekanntschaft weise man jedes Geschenk zurück. (SM 141)
Primär und essentiell männlich aus männlicher Sicht ist Geld gemäß Keun hier zunächst einmal nicht. Der Kaufmann verweist noch auf das ‚Lyrische‘, das aber schon ein wenig vorgeschoben wird; der neureiche Erfolgsmensch, der Nabob will tatsächlich ‚um seiner selbst Willen‘ oder ‚an sich‘ begehrt werden, wenn man seine „rein männlichen Reize“ bewundern, seinen Besitz also aus taktischen Gründen gering schätzen soll. Aus weiblicher Perspektive ist das natürlich nur der Auftakt: Der Mann ist entweder Mittel zum Zweck oder mit dem Geld, den Konsumartikeln oder Luxusgütern zu identifizieren. Es gibt aus dieser Perspektive keine tieferen, ‚reinen‘ metaphysischen Hinterwelten männlicher Substanz mehr, die die Kaufmänner und Nabobs doch gerne bemühen. Hierin zeigt sich die eingangs skizzierte Ungleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Perspekti-
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ven auf Anforderungen an Männlichkeit.46 Das männliche Selbstbild ist gemäß Keun noch nicht ganz im Wirtschafts-, Konsum- und Unterhaltungsdiskurs der Zwanziger Jahre angekommen. Insgesamt impliziert die Weimarer oder Neue Sachlichkeit Sentimentalität, die Keun gerade Männern zuschreibt, denen in diesem Habitus von weiblicher Seite, wie bereits zitiert, entgegenzukommen ist (vgl. SM 138). Selbst unter der positiven Bedingung, die Erwartungen erfüllen zu können, changiert das männliche Selbstbild zwischen Annahme und Ablehnung dieses Männlichkeitsbildes, und in Keuns Feuilletonbeitrag klingt als Begründung für diese Ablehnung durch, dass das neue, sachliche ‚weibliche‘ Männerbild der Zwanziger Jahre ein sicheres ‚Eigentliches‘ verwehrt. Es wird allzu offenbar, dass das, was zugeschrieben, auch wieder abgezogen werden kann. Männern werden nun offener kulturelle Konzepte zugewiesen, die als äußerliche Rolle in ihrer performativen Dimension durchschaubar werden. Die Grenze zwischen außen und innen, die im Ersten Weltkrieg so klar war wie das soldatische Männlichkeitsbild, verschwimmt. Konstitution und Bedrohung der männlichen Identität sind nun beide akzidentell, nicht mehr ‚substantiell‘ oder ‚natürlich‘. Ebenso handelt es sich nun bei den Ansprüchen an den Mann auch nicht mehr um die Forderung aus dem 19. Jahrhundert nach dem Versorger, der immerhin geheiratet hat, also auf Dauer als ganzer Mann wahrgenommen wird. Vielmehr ist der Mann nur noch Accessoire seines Geldes in unverbindlicheren Beziehungen oder Begegnungen, die so lange währen wie dieses Geld reicht. Aus weiblicher Perspektive scheint das zunächst einmal kein Problem zu sein und wird zumindest in Keuns Artikel gnadenlos inszeniert: Männer fallen ganz einfach aus der Kategorie Mann raus, wenn sie nicht über finanzielle Potenz verfügen – oder wenigstens noch Künstler sind. Aber in der Hinsicht sei bemerkt, dass auch hier die Berufe zählen und dass nicht etwa der mittellose Bohemien mit dem Künstler
46 Keun beschreibt in ihrem Feuilletonbeitrag den Austausch von Gütern, wie er in Bezug auf die Weimarer Republik bestens im Kontext der Women’s Studies bekannt ist: Geld gegen Schönheit und Wohlverhalten. Nun ist es aber der Mann, der als Objekt seine Qualitäten, also vor allem seinen materiellen Wert in die Waagschale zu legen hat. Damit die Frau souveränes Beobachtersubjekt bleiben kann, folgt unter Punkt römisch III. Keuns oberster Rat, sich nicht zu verlieben, weil man dann in dem Ringen um Macht unterliegt (SM 141). Allerdings stellt Keuns Text als Ganzes und in seinen einzelnen Beschreibungen von männlichem und weiblichem Verhalten schon die Replik auf einen männlichen Diskurs dar und macht dadurch möglicherweise aus der Not eine Tugend. Ob es sich um eine genuin weibliche Perspektive auf den Spielgegner handelt, wenn männliche Vorlagen existieren und erst eine männliche Perspektive ermittelt und angelegt werden muss, bleibt letztlich fraglich.
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gleichgesetzt wird, sondern z.B. der Verleger, der nicht unbedingt zum Prekariat zählt. Geld wird auf diese Weise für Frauen, aber letztlich auch für Männer selbst schon zu einem primären Aspekt von Männlichkeit. Kein Wunder, dass der Hochstapler47 und der Heiratsschwindler48 Konjunktur haben, wobei man keineswegs den Umweg über oder Rückgriff auf den Ersten Weltkrieg nehmen oder tätigen muss, wie Helmut Lethen es tut, um deren Aufkommen zu erklären. Dieses an Geld geknüpfte Männerbild ist, auch wenn man dieses selbst nicht bereits als Symptom krisenhafter Männlichkeit auffasst, sehr anfällig für oder abhängig von äußerlich bedingten Problemen. Das zeigt sich auch in Keuns Roman von 1932 Das kunstseidene Mädchen: Und Therese riet mir zu Jonny Klotz, den wir kennen lernten in der Palastdiele – und riet das, weil er ein Auto hat […]. Ich sagte nur: du hast keinen Blick für Männer und heutige Zeit Therese – was heißt Mann mit Auto, wo es doch nicht bezahlt ist? Wer heutzutage Geld hat, leistet sich Straßenbahn, und 25 Pfennig bar sind ein solideres Zeichen als Auto und Benzin auf Pump. (KM 29)
„Blick für Männer“ zu haben, bedeutet auch in dem Roman, sie im Hinblick auf ihren finanziellen Status taxieren zu können. Deutlicher als in Bezug auf den Kaufmann wird bei Jonny Klotz zu Vorsicht geraten. Das Auto könnte „auf Pump“ sein, und dann bleibt fraglich, ob es überhaupt zu einer Einladung zum Abendessen reicht. Auf dem Luxussektor unter den Männern hat ein Aussterben des Nabobs eingesetzt, von dem Keun ja in ihrem Feuilletonartikel fragt, ob es ihn noch gibt. Nun könnte im Hinblick auf das Zitat eingewendet werden, dass sich die Krise dabei in Grenzen hält. Nicht für die Gesellschaft, die Wirtschaft oder die politische Stabilität, aber für Projektionen auf Männlichkeit. Wohlstand ist relativ und weil 25 Pfennige zum Zeichen finanzieller Potenz werden können, besteht auch für die Männlichkeit ihres Besitzers immer noch eine Chance. Letztlich geht die Umkehrung der Perspektiven in dem Geschlechterspiel auch nicht ganz auf, denn mit der gleichen Schönheit und dem gleichen Wohlverhalten muss die Frau sich nun eine Straßenbahnfahrt erarbeiten, wo zuvor noch ein Luxusurlaub zu erwarten gewesen wäre. Insgesamt wird eine äußerst prekäre Weiblichkeit beschworen, die sich selbst in Abhängigkeit von Männern inszeniert. Gerade im Kunstseidenen Mädchen erscheint die Ich-Erzählerin als Pika-
47 Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 150-162. 48 Uhu, Heft 4, Januar 1925, S. 35 u. 139.
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ra,49 die sich selbst tatsächlich getrieben vom Hunger zur Dienerin vieler Herren macht, also sich mithilfe episodischer Prostitutionsverhältnisse über Wasser hält. Für sie ist jede lineare Entwicklung ausgeschlossen, die auf Bildung oder bildungsbürgerlichen Maßstäben basiert. Dialektische Synthesen mit der Umwelt, die eine positive Entwicklung, Progression oder Fortschritt garantierten, wären unmöglich bzw. wirkten angesichts des Handlungsspielraums der Erzählerin verlogen, wie sie selbst in einem langen reflektierenden Monolog bekundet, der – nebenbei bemerkt – als Replik auf Siegfried Kracauers Kritik an den „kleinen Ladenmädchen“50 angelegt ist (KM 171-174). Angesichts der pikaresken Struktur, die die Prekarität der Erzählerin betont, mag es verwundern, den Roman im Kontext einer Männlichkeitskrise zu diskutieren. Selbstverständlich muss von einer weiblichen Krise, einer Identitätskrise sowie einer finanziellen oder materiellen Krise und ebenso von der sozialen Krise einer ganzen Schicht gesprochen werden, aber eben nicht von einer Krise der Weiblichkeit als Genderkonzept, die durch die pikaresken Gaukelspiele51 der Erzählerin in keiner Weise getrübt oder in Frage gestellt wird. Im Zuge der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik ist es nicht Weiblichkeit, die als Erstes zur Debatte steht oder bedroht ist, auch wenn Frauen natürlich auch zu den Opfer gehörten, sondern zunächst sind Männer nicht nur konkret, sondern in ihrer Männlichkeit zutiefst getroffen.
M ÄNNLICHKEITSKRISE IN T EXTEN DER N EUEN S ACHLICHKEIT Zahlreiche Selbstmorde im Zuge des Börsenkrachs von 1929 zeugen davon, dass letztlich auch Männer ihre Identität und Wertigkeit an ihr Vermögen geknüpft hatten, auch wenn das in den Zwanziger Jahren in großem Maß aus einer ‚weiblichen‘ Perspektive in den Diskurs eingespeist wurde. Die Krise der Männlichkeit als Umbruchsphänomen mit Risiken und Chancen, die sich zwischen sub-
49 Heinrich Detering: „Les vagabondes. Le retour des héroïnes picaresques dans le roman allemand“, in: Études littéraires 26 (1993/94), H. 3, S. 29-43; Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik, Köln 2003, S. 184-186. 50 Siegfried Kracauer: „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino [1927]“, in: ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1977, S. 279-294. 51 Livia Wittmann: „Erfolgschancen eines Gaukelspiels. Vergleichende Beobach-
tungen zu Gentlemen prefer Blondes (Anita Loos) und Das kunstseidene Mädchen (Irmgard Keun)“, in: Carleton Germanic Papers 11 (1983), S. 35-49.
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stantiellen und offen performativen Geschlechterzuschreibungen sowie zwischen Erstem Weltkrieg und relativer wirtschaftlicher Stabilisierung auftut, wandelt sich mit dem Niedergang der Wirtschaft letztlich in eine Katastrophe, weil bei aller Sentimentalität und Nostalgie schließlich doch die neue Herausforderung angenommen und in das männliche Selbstbild integriert wird. Dem entsprechend ist der ‚Neue Mann‘ der Zwanziger Jahre am Ende der doppelt geschwächte Mann, weil sich zuerst sein Identitätskonzept in der Abkehr vom Ersten Weltkrieg verflüchtigt oder verfremdet, und es dann versagt oder sich als uneinholbar erwiesen hat. Ablesbar ist die Katastrophe (der Männlichkeit) auch an neusachlichen Romanen, in denen von Kälte, Dynamik und Souveränität nichts zu spüren ist. Vielmehr sind es die kleinen Buchhalter, Kaufleute und Werbetexter, die der neuen Welt aus ihrer ohnehin schon marginalen oder nischenhaften Perspektive nicht gewachsen sind und unter anderem vom Wirtschaftssystem in seiner Krise geradezu zermalmt werden.52 Hans Falladas Buchhalter Pinneberg aus Kleiner Mann – was nun? ist seiner Ehefrau und seiner Tochter treu ergeben. Der Leser oder die Leserin kann ihn dabei verfolgen, wie er rührende Haushaltspläne aufstellt und sich seiner Verantwortung für die Familie stellt, aber am Ende des Romans muss die Familie in eine Gartenlaube ziehen und unter schlechtesten finanziellen Bedingungen leben. Erich Kästners Fabian aus dem gleichnamigen Roman bewegt sich passiv durch die Handlung. Positiv wird immer formuliert, er bilde dadurch die Sonde, die dem Erzähler als Medium dient, um seine Zeit darzustellen. Aber eigentlich wird er vom Fluss der modernen Zeit getrieben, bis er am Ende ertrinkt, als er bezeichnenderweise als Nicht-Schwimmer einen Jungen aus einem Fluss rettet. Der zu Unrecht weniger bekannte Hans Keilson konstruiert in Das Leben geht weiter den anständigen Kaufmann Seldersen, der in eine Kredit- bzw. Schuldenfalle gerät. Herr Seldersen erklärt seinem Sohn ganz kleinschrittig das Prinzip: […] wenn der Arbeiter hier kein Geld hat, muß er eben borgen, denn die Ware muß er haben, er muß etwas auf dem Leibe tragen. Aber mir fehlt das Geld, und ich bleibe meinen Lieferanten die Zahlung schuldig, die die Ware vielleicht auch erst irgendwoher beziehen. So gibt es bis oben hinaus eine Stockung, bis zu den Fabriken, die die Ware herstellen, und den Banken, die die Kredite bewilligen. Sieger bleibt der, der die stärkste Lunge hat,
52 Dorothee Kimmich: „Moralistik und Neue Sachlichkeit. Ein Kommentar zu Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft“, in: Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmut Lethen (Hrsg.): Plessners Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 160-182, hier S. 171, S. 180-182.
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es am längsten aushalten kann, gewöhnlich eben der, der Kapital hinter sich hat. Nur wer heute Kapital hinter sich hat, hält durch, die anderen werden zugrunde gehen.53
Überleben im neusachlich-kapitalistischen Wirtschaftssystem erscheint fast direkt als darwinistisches survival of the fittest, weil es die „stärkste Lunge“ ist, die am Ende übrig bleibt. So ganz geht es offenbar nicht ohne eine körperlichbiologische Verankerung, wenn der Überlebenskampf in der Weltwirtschaftskrise beschrieben werden soll. Derartige semantische Überlagerungen legen oft eine Naturalisierung und damit Legitimierung des Bildempfängers nahe. In diesem Fall ist die Erzählung aber auf der Seite der schwachen Lungen, also auch einem Protagonisten, dem die fitness fehlt. Das geht im Roman explizit mit Scham einher. Zuerst war es Scham, Herr Seldersen schämte sich vor sich selbst, vor seiner Frau und den Kindern, vor allen übrigen Menschen, daß es so mit ihm stand. Was sollte er denn tun, er hatte alles getan, was in seiner Macht lag. Dennoch schämte er sich. (LW 89)
Die Scham resultiert zumindest aus eigener Perspektive nicht aus einem aktiven Fehlverhalten oder einer Schuld – an anderer Stelle sagt er: „Mich trifft keine Schuld“ (LW 120).54 Die Scham indiziert vielmehr eine nach außen als Gesichtsverlust oder nach innen als Identitätsproblem wirksame Differenz zwischen der Realität und einem Ideal bzw. Wertmaßstab, und sie setzt eine eigene und fremde Identifikation mit diesem Wertmaßstab voraus,55 in diesem Fall also das Wirtschaftssystem, innerhalb dessen man sich als funktional erweisen, sich beweisen muss. Scham sagt im vorliegenden Kontext weit mehr aus als die Thema-
53 Hans Keilson: Das Leben geht weiter [1933], Frankfurt/M. 2011, S. 78. Im Folgenden zitiert mit der Sigle LW und der Seitenangabe. 54 Sighard Neckel unterscheidet Scham und Schuld anhand der internen oder externen Verankerung. Schuld resultiert demnach aus inneren moralischen oder existentiellen Nöten, während Scham von außen evoziert werden kann und einen Mechanismus der sozialen Kontrolle darstellt (Sighard Neckel: „Achtungsverlust und Scham“, in: ders.: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000). Im vorliegenden Beispiel der Männlichkeitskonzepte zeigt sich, dass sich Scham zwar anhand von Maßstäben einstellt, die von außen herangetragen werden, dass aber gerade deren Internalisierung, also eine Verbindung oder Überlagerung von Fremdzuschreibung und Selbstbild, fatal sind. 55 Vgl. eine ähnliche Bestimmung der Scham bei Georg Simmel: „Zur Psychologie der Scham [1901]“, in: ders.: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1986.
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tisierung einer konkreten Not, von der auch oder sogar viel mehr weibliche Figuren betroffen sind. Die Scham impliziert den wirtschaftlichen Erfolg als einen Aspekt des Selbstbildes, und damit erkennt sie an, dass die Wirtschaft zum Maßstab für männliche Identitätskonzepte geworden ist. Das Versagen am Ende ist fatal genug, aber prinzipiell ist die Verstrickung mit einem Gegner demütigend, der eine Freund-Feind-Unterscheidung nicht mehr zulässt, der Aspekte der eigenen Identität oder deren Ideal formiert und gleichzeitig äußerlich und fremd unerbittlich gegenüber steht. Hat der Mann ein ‚materialistisches‘ Bild seiner selbst angenommen, kann er nur noch nach der Bedingung seines Gegners kämpfen oder überhaupt leben. Und dabei ist er nicht mehr eigenmächtig seines Glückes Schmied wie versprochen oder erwartet, weil in der komplexen Konstellation praktisch kein Zusammenhang mehr zwischen der eigenen Handlung und den Folgen sichtbar wird. Das ist bei biologistischen Männlichkeitszuschreibungen meist noch anders. Aber ebenso wie sich Männlichkeitskonzepte in weiten Teilen des Weimarer Diskurses schon längst vom soldatischen Heros gelöst hatten, bezieht sich auch die Scham als Epochensignatur im Gegensatz zu Lethens Beobachtungen sehr häufig nicht auf den Ersten Weltkrieg. Auch Seldersen hat den Krieg überstanden: „[S]eine Kraft war ungebrochen“, „er packte tüchtig mit an, überall hieß es eben wieder aufbauen“ (LW 15). Am Ende der Weimarer Republik sieht das anders aus. Es zeichnet sich ein Niedergang ab, der nur noch Scham lässt. Und ganz am Ende ist auch die Scham ein Luxus, den sich Seldersen kaum noch leisten kann. In dem Gespräch mit seiner Frau, in der er dies enthüllt, konstatiert wiederum sie als weibliche Protagonistin: „Du hast keine Kraft mehr. Er nickt traurig: ‚Nein‘. ‚Du bist kein Mann mehr.‘ ‚Nein.‘ Schweigen“ (LW 173). Kraft bezieht sich hier auf Kapital, auf Zahlkraft und Kreditwürdigkeit, an die für die Ehefrau das Mannsein gebunden ist. Die Ehefrau ist weniger beschädigt. Sie ist es auch, die Seldersen später davon abhält, sich zu erschießen und die noch aktiv den wirtschaftlichen und sozialen Abstieg aufzuhalten versucht. Auch die weiblichen Protagonisten leiden, wie bereits gesagt, an der Wirtschaftskrise, jedoch ohne diesen schamhaften Habitus. Der eigene wirtschaftliche Erfolg bildet auch nicht das Ideal der Weiblichkeit, und so können die Protagonistinnen oft noch spielerisch, kokett oder pragmatisch mit den Problemen umgehen, was zumindest der Weiblichkeit oder den Klischees von Weiblichkeit nicht den geringsten Abbruch tut. Die männlichen Protagonisten sind die Versager, und zwar nicht nur, weil sie als beruflich Aktive konkret versagt haben, sondern weil es in den Zwanziger Jahren ganz forciert dem männlichen Ideal oder der Männlichkeit entspricht, sich auf dem Wirtschaftssektor zu beweisen.
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Z USAMMENFASSUNG In den Zwanziger Jahren werden aus zeitgenössischer weiblicher Perspektive Männer oder Vorstellungen von Männlichkeit nicht in einem ‚natürlichen‘, sondern einem kulturellen bzw. kultivierten Koordinatensystem verankert. Wo die öffentliche Frau androgyn wird und sich von biologischen Konstruktionen ihres Geschlechts löst, ist aus weiblicher Sicht auch weniger Platz für ein solches Männerbild. Nun erstaunt es heute nicht, wenn von kulturellen Zuschreibungen zu einem Geschlecht die Rede ist. In der Weimarer Republik vollzieht sich damit aber ein krisenbesetzter Umbruch von essentiellen Geschlechterbildern zu performativen Kategorien. Im Kontext der Goldenen Zwanziger Jahre implizieren die besagten, im weiblichen Diskursraum entworfenen Männlichkeitskonzepte im Speziellen fast automatisch eine Abhängigkeit zum Wirtschaftssystem. Es ist sachlich, Männer daran zu bemessen, was sie an materiellem Wohlstand einbringen. Selbstverständlich liegen hierbei zahlreiche Abstufungen vor. Während die Werbung kein Interesse an Ironie und Doppelbödigkeit haben kann, sondern Frauen materielle Anforderungen an Männern ganz ungebrochen aus Eigennutz souffliert, liegt beispielsweise in Keuns Artikel ein Bewusstsein für die Klischeehaftigkeit und Frechheit der Aussagen vor, die letztlich nur einem Minoritätenbewusstsein entstammen können, wodurch fraglich bleibt, wie machtvoll der besagte ‚weibliche‘ Diskurs letztlich wirklich ist oder ob nicht aus der Not eine Tugend gemacht und im Grunde nur männliche Selbstbilder gespiegelt werden. Im Ergebnis läuft die aufgezeigte kommunikative Dynamik allerdings auf das Gleiche hinaus: Männlichkeit bedeutet finanzielle Potenz, und diese Korrelation schafft ganz neue, ganz profane moderne männliche Identitäten und Probleme. Männlichkeit kann mit dem Aktienkurs fallen, wodurch sich eine männliche Schamkultur ausbildet, die direkt in den Zwanziger Jahren wurzelt. Wie auch immer der ‚weibliche‘ Anteil hinsichtlich seiner Eigenständigkeit an der zeitgenössischen Konstruktion von Männlichkeit im Detail zu bewerten ist: es ist lohnend im Rahmen der Men’s Studies und der Forschung zur Weimarer Republik diesen Diskursraum als Beobachterperspektive in den Blick zu nehmen. Männlichkeit konstituiert sich in der wechselseitigen Projektion von Selbst- und Fremdbildern, also auch im Spiegel weiblicher Interessen. Zum einen wirkt sich dies schon in der zeitgenössischen Interaktion auf den Gegenstandsbereich aus bzw. konstituiert gerade die wechselseitige Perspektivierung erst den Gegenstand selbst – und zwar nicht nur Männlichkeit, sondern auch deren Krise: Die fremde, ‚weibliche‘ Perspektive auf Männer, aus der Zuschreibungen und Anforderungen kommen, kann allein schon als Krise bewertet werden. Vielleicht ist es ja die größte Männlichkeitskrise der Zwanziger Jahre, dass
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Männer nun ganz ostentativ nicht die einzigen sind, die über die Definitionsmacht von Männlichkeit verfügen. Zum anderen kann in der Forschung ein weitaus größeres Korpus bzw. ein deutlich breiteres Spektrum zu Rate gezogen werden – dessen bisherige Ignoranz gerade im Kontext der Zwanziger Jahre ebenfalls unter gendertheoretischen Gesichtspunkten problematisiert und zum Reflexionsgegenstand erhoben werden müsste: Es wäre innovativ, im Rahmen der Men’s Studies Männlichkeit in ihrer Abhängigkeit von Weiblichkeit zu untersuchen. Immerhin nehmen die Women’s Studies ja geradezu ihren Ausgangspunkt im fremden Blick auf die Frau. Man könnte, wie schon mehrfach in dem vorliegenden Beitrag geschehen, einwenden, dass der Einsatz des männlichen Blicks in den Women’s Studies schließlich mit konkreten Machtkonstellationen zusammen hängt, da der weibliche Blick auf den Mann möglicherweise selbst bereits in Abhängigkeit von männlichen Perspektiven eingestellt ist. Dennoch und bei aller anzuratenden Vorsicht, dabei nicht in geschlechtliche Essentialismen zu verfallen, ist es aber auch im Rahmen der Men’s Studies fruchtbar, die weibliche Perspektive zu berücksichtigen. Immerhin zeigt zumindest das vorliegende Beispiel neue Facetten von Männlichkeit in den Zwanziger Jahren, und gleichzeitig enthüllt sich der blinde Fleck der bisherigen Forschung, die Männlichkeit in dieser Zeit als Zwischenkriegskategorie auf Basis eines nur ‚halben‘, nämlich ‚männlichen‘ Korpus festgeschrieben hat.
Männer sind die neuen Frauen? B ARBARA V INKEN
Mode, das ist die Hypothese, ist seit der Moderne immer cross dressing.1 Klasse oder Stand und Geschlecht – auch Rasse, aber das ist jetzt nicht mein Thema – sind die Parameter. Dieses cross dressing folgt Regeln. Mode ist weder tyrannisch, noch unvorhersehbar. Modewandel hat System. Beginnen wir mit den neuen Beinen der Frauen. Bei den weiblichen Silhouetten geht es seit gut zehn Jahren nur um Beine, Beine, Beine. Lange, sehr lange Beine, die oft bis zum Schritt und unteren Po sichtbar sind. Beine in Leggings oder engen Hosen. Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts oder sehr kurzen Röcken. Dazu Stiefel in allen Längen, oft bis übers Knie. Die langen Stiefel sind meistens flach. Die kürzeren Stiefel, weit in Falten fallend oder grob klotzig, fast martialisch, haben einen kantigen Absatz. Oft werden die Beine, die dann noch endloser wirken, durch Plateausohlen verlängert. Mit solchen Schuhen trippelt und stöckelt man nicht; man tritt bestimmt auf. Die Stiefel in weichen Falten gemahnen an Landsknechte. Diese Beine sind offensichtlich das Gegenstück zu den ‚klassischen Frauenbeinen‘, die selbst in durchsichtigen, hauchdünnen Strümpfen durch das Spiel von Nacktheit und Verhülltsein bestimmt sind. Generell sind die Nylonstrümpfe in den letzten 30 Jahren durch ‚Phantasiestrümpfe‘ verdrängt worden. Netz und Häkel, aufwendige Spitze, raffinierte Muster und bestickte Strümpfe, dicke bunte Wollstrumpfhosen, Leggings und Over-Knees haben den Strümpfen und Strumpfhosen ein größeres Eigengewicht gegeben. Nicht das Bein, das seidig nackt erst durch den Nylonstrumpf wird, sondern das angezogene, geschmückte,
1
Vgl. Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1993. Der vorliegende Beitrag folgt in Teilen meinen Überlegungen in: Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart 2013.
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bestickt bestrickende Bein betrat die Bühne. Damit wurde die Frage: Wie hoch kann man das Bein sehen? Wie kurz oder wie hoch geschlitzt ist der Rock ? ad acta gelegt. Die Frage, ob man beim Schaukeln, Sitzen oder Bücken gar unter den Rock gucken kann, ob er zu hoch heraufrutscht, ob er enganliegend zu viel preisgibt, zu durchsichtig ist, oder duftend schwingend gar über den Kopf geweht wird, hat sich erledigt. Marilyn Monroe im heißen New Yorker Sommer auf dem U-Bahn-Schacht, dessen kühle Luft ihr den Rock hochbläst, wurde zu der erotischen Ikone des letzten Jahrhunderts. Abb.1: Marilyn Monroe in THE SEVEN YEAR ITCH (USA 1955).2
Das Sichtbarwerden des Schenkels signalisierte, dass man am Ziel seiner Wünsche angekommen war. Von Marlene Dietrich im BLAUEN ENGEL (1930) bis zu MAD MEN (seit 2007) – in den sechziger Jahren ist der Straps zur Kurzformel fürs Liebemachen geworden. Abb.2: Marlene Dietrich in DER BLAUE ENGEL (D 1930), Ausschnitt.3
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Quelle: http://www.gallerym.com/work.cfm?ID=201, © Associated Press.
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Quelle: Screenshot DVD Josef von Sternberg: DER BLAUE ENGEL, D 1930 (UFA); Universum Film 2012.
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Dieses Spiel zwischen Entblößung und Verhüllung, das das Geschlecht im Blick hält, ist für die neuen Frauenbeine, die jetzt seit gut zehn Jahren das Straßenbild bestimmen, merkwürdig irrelevant geworden. Bisher sind alle Versuche, diese Silhouette durch eine andere zu ersetzen – Schlaghosen, länger werdende, das Knie umspielende Röcke, schwingende Glockenröcke –, fehlgeschlagen. Dass der klassische Rock 2012 im nostalgischen Vespasetting plissiert pastellfarben schwingend etwa von Prada an die Frau gebracht werden sollte, zeigt mehr als alles andere, dass dies eine verflossene Form geworden ist. Als Zitat, als Vintage kann und wird er wiederkommen. Abb. 3 & 4: Prada-Kampagne; Frühjahr 2012.4
Die neuen Beine der Frauen entpuppen sich als die alten Beine der Männer. Vor der Mode der sog. ‚Sans-culottes‘ rückten die Männer ihre schönen Beine reizvoll selbstbewusst ins rechte Licht, bevor sie sie in langen Hosen verbargen. Diese schönen, engbestrumpften, vorrevolutionären Männerbeine sind im Moment die neuen Beine der Frauen; sie bewegen sich damit so frei, so zielstrebig raumgreifend reizvoll wie die Männer der Renaissance. Auf die Männer und ihre Beine verweist auch das Umgehen mit der Sichtbarkeit des Geschlechtes oder anders gesagt das Aufgeben der klassischen weiblichen Schamzone. In den neuen Beinen der Frauen wird die alte Opposition – zeigen (männlich) versus verstecken (weiblich) – durch Gleichgültigkeit gegen das Sehen des Geschlechts, welches an die Stelle der vorigen Scham tritt, abgelöst. Diese neuen Beine verdanken sich einem, und vielleicht sogar dem bestimmenden Prinzip der Damenmode in der Moderne: der systematischen Übertragung nämlich von Herren- in Damenmode. Dieses Prinzip wird allerdings eigenartig verrückt. Normalerweise wird die Herrenmode der Moderne übertragen: die Herrenmode, wie sie sich im 18. Jahrhundert zuerst in England entwickelte und
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Quelle: http://fashion.erdbeerlounge.de/fotos/Prada-Kampagne-Fruehling-2012/94635 /2/; Photo: Steven Meisel, © Prada.
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die bis heute bestimmend geblieben ist. In die Damenmode übertragen wird, um es kurz zu sagen, der moderne Herrenanzug. So, und nur so – das ist das Credo der ‚fortschrittlicheren‘ Designer –, kann die Damenmode endlich ihren Anachronismus ablegen und modern werden. Die aktuelle Mode überträgt jedoch die Männermode vor der Revolution. Für die Männermode bis zur Revolution galt, was heute Devise für Frauenmode geworden ist: Beine sind zum Zeigen da. Abb. 5: Hyacinthe Rigaud: Louis XIV en costume de sacre, 1701; Paris, Louvre.5
Bein, noch mehr Bein, noch schönere, längere, wohlgeformtere Männerbeine zeigen Bilder aus Mittelalter und Renaissance. Bein zu zeigen war ausschließlich den Männern vorbehalten. Schon der Anblick eines Damenknöchels versetzte die Männer in helles Entzücken. Der moderne Mann verzichtet vielleicht vor allen Dingen darauf, Bein, viel Bein, Bein bis zum Schritt und vielleicht sogar Po und Geschlecht zu zeigen. Heute sind die ausgefallensten Damenstrümpfe nicht raffinierter gemustert als die hautengen, vorrevolutionären Leggings. Das lange,
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Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louis_XIV_of_France.jpg.
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durch die Schuhe noch optisch verlängerte Bein, dessen Silhouette durch farbige, kühn gestreifte oder weiß schimmernde Strümpfe aufs Vorteilhafteste unterstrichen wird, finden wir auf Bildern der flämischen und italienischen Renaissance: selbstverständlich bei den Herren. Zur Zeit Karl V. ragt dieses lange, schlanke, bestrumpfte Bein jetzt weniger farbenfroh monochrom, aber nicht weniger klar konturiert unter einem ganz kurzen Ballonrock, der ‚Heerpauke‘, oder unter einer enganliegenden, kurzen Oberschenkelhose hervor. Abb. 6: Tizian: Kaiser Karl V. mit Hund, 1533; Madrid, Prado.6 Abb. 7: Rogier van der Weyden: Bladelin-Altar, linker Seitenflügel (Ausschnitt), um 1450; Berlin, Gemäldegalerie.7
Diese ‚Heerpauken‘ wurden so voluminös, dass im britischen Parlament unter Elizabeth I. die Sitze verbreitert werden mussten, um den Herren den nötigen Platz einzuräumen. Kaiser Karl V. zeigte in kostbaren, feingestrickten Strümpfen ‚wunderschöne‘ Beine. Diese Strümpfe, auch ‚Tricothosen‘ genannt, zeigten hin und wieder sogar zarte Stickereien.
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Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Titian_-_Charles_V_Standing_with _His_Dog_-_WGA22946.jpg.
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http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rogier_van_der_Weyden__Bladelin_Triptych_-_WGA25617.jpg.
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Alles drehte sich um das Männerbein. Der spanische Hof beschenkte Heinrich VIII. gar mit dem Prachtstück einer seidenen Strumpfhose. Technische Revolutionen kamen nicht wie etwa die Erfindung der ohne Naht herstellbaren Nylonstrumpfhose den Frauenbeinen, sondern den Männerbeinen zugute: Spanien verlor sein Monopol auf die Herstellung der gestrickten Strumpfhosen 1589 an England, wo der mechanische Handwerksstuhl erfunden wurde. Um die Tricotstrümpfe der Männer wurde damals ein ähnliches Aufheben gemacht wie in Europa und Amerika zwischen den 1950er und den 1980er Jahren um die Seidenstrümpfe. Deren Schimmer und Sitz, deren Feinheit und Schmiegsamkeit beschäftigte Heerscharen von Forschern und Ingenieuren. Von der Laufmasche bis zum Strumpfhalter, vom faltenlosen Sitz bis zur retrofaltigen Seidenoptik wurden sie zum pars pro toto weiblicher Erotik. Für die vorrevolutionären Männer waren nicht nur die Beine Vorzeigeobjekte; auch das nützlichste Glied der menschlichen Gesellschaft verstanden sie hervorragend zu inszenieren. Die Herren der Schöpfung verhüllten und versteckten ihr Geschlecht nicht, sondern ließen es durch die ‚Braguette‘, die Schamkapsel, eindrucksvoll vergrößert und reich verziert hervorragen. In der Schamkapsel, gutgepolstert, anscheinend ständig erigiert, wurde es mit Bändern und Schleifen verziert und wie die Tricotstrümpfe hin und wieder reich bestickt. ‚Heerpauke‘ und Hosenlatz ließen es zwar an diesem Naturalismus fehlen, aber auch sie lenkten verwegen geschlitzt, gepolstert, wattiert und geschmückt das Augenmerk auf diese phallische Zone, die zu einer knalligen Lustbeule anschwoll. Mit den ‚Sans-culottes‘, mit dem Ende der Kniebundhose war es mit Gockelei und Potenzgeschrei vorbei: nach der Französischen Revolution verkümmerte das gute Stück und wurde zur Röhre glattgebügelt.8 In den Hosen, die im Empire getragen wurden, hatte es ein kurzes Nachleben. In den mit einem Stegreif unter dem Schuh in Spannung gebrachten, ganz hellen, fleischfarbenen Hosen, die das männliche Bein fast so eng wie Tricothosen umfassten, lebte es zwar nicht zu alter, aufgeprotzter Herrlichkeit auf, zeichnete sich dafür aber umso naturalistischer ab. Wie Napoleon die Frage jedes Herrenschneiders, ob man Rechts- oder Linksträger sei, beantwortet hätte, daran kann nach dem Gemälde von Jean-Léon Gérôme, Napoléon en Egypte, nicht der geringste Zweifel bestehen (siehe Abb. 8). Die Physiognomie des so siegreichen wie melancholischen Kaisers zeichnet sich vor orientalischem Hintergrund in seinen enganliegenden, hellen Beinkleidern klar ab.
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Vgl. Gundula Wolter: Die Verpackung des männlichen Geschlechtes. Eine illustrierte Kulturgeschichte der Hose, Marburg 1988.
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Abb. 8: Jean-Léon Gérôme: Napoléon en Egypte, um 1867; Princeton, Princeton University Art Museum.9
Einzig die Jeans, ursprünglich eine Hose der Goldgräber, wie sie Marlon Brando in den 1950er Jahren gesellschaftsfähig machte, erlaubt es den Männern auch nach der Revolution Geschlecht und Hintern in Maßen zu betonen. Mit der alten Herrlichkeit war es jedoch vorbei; mit der Mode der Moderne haben die Männer ihre klassische erotische Zone verloren. Abb. 9: Marlon Brando in THE WILD ONE (USA 1953), Ausschnitt.10
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Quelle:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jean-L%C3%A9on_G%C3%A9r%
C3%B4me_002.jpg. 10 Quelle: http://everyguyed.com/lookbook/wild-dress-part/. © Brando Enterprises.
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Die Geschichte unserer Mode, der Mode der Moderne beginnt, sagen wir grob, um die Französische Revolution herum. Während die Mode bis dahin die Stände – die Adeligen und den Klerus vom dritten Stand, den dritten Stand von den Bauern – trennte die Mode nach der Revolution weniger die Stände oder die Klassen als die Geschlechter. Alle Menschen werden Brüder, bloß die Frauen nicht. Die wurden dafür ganz Frau, unbeschreiblich weiblich. Der Unterschied, sich in Bezug auf sein Geschlecht anders anzuziehen – markierte Sexualität bei den Frauen, unmarkierte bei den Männern –, der uns als die natürlichste Sache der Welt erscheint, entsteht erst mit dieser Kleiderordnung der Moderne. Es ist das, was die Mode der Moderne definiert. Aristokratische Zurschaustellung des Körpers und seiner erotischen Reize ist nach der Revolution Privileg – oder Bürde – der Frauen geworden. Was passiert mit dem männlichen Körper in diesem Moment? Die Männermode konstituiert sich mit dem bürgerlichen Zeitalter als Antimode im betonten Gegensatz zu all dem, was adelige Mode im Ancien Régime ausmachte. Und im Gegensatz zu all dem, was weibliche Mode in der Moderne ausmachen sollte. Prachtentfaltung und Körperbetontheit sind verpönt: der bürgerliche Mann macht sich nicht zum Spektakel. Der Anzug wird zum ikonischen Zeichen, das die moderne Subjektnorm und die bürgerlichen Werte ausdrückt und dies nur kann, indem er sich selbst unsichtbar macht. Männer sind nicht modisch. Der moderne Anzug beginnt mit der Übernahme der Kleider des Tiers état. Hier trug man gedeckte Farben, mit den niedrigeren Klassen konnotierte Stoffe wie Leinen und Wolle und keine glänzende, schwere Seide wie der Adel. Der Körper wurde nicht ostentativ zur Schau gestellt. Der moderne, klassische Anzug, der sich aus dieser Kleidung entwickelte, modelliert den Körper nicht eng, sondern idealisiert ihn in die antike V-Form. Mit schmalen Hüften und breiten Schultern wird der Bürger zum athletisch-antiken Helden. Gesäß und Geschlecht verschwinden unter der Anzugjacke. Es gibt kein Spiel zwischen nackter Haut und Stoff; bis auf die Hände und das Gesicht ist der Körper bedeckt. Die Körperumrisse werden verschliffen; der Körper wird in seiner Fleischlichkeit unsichtbar. Keine Wade, kein Schenkel zeichnet sich in seinen Muskelkonturen in straff sitzenden Seidenstrümpfen ab. Die männliche Silhouette wird – Schulterpolster, lose fallender, den Formen des Körpers vage folgender Stoff – idealisierend überformt. Sie verdeckt das Fleisch vorteilhaft, verbirgt Bauch und Hüftpolster, macht die Schultern breiter. Der ideale Anzug schmiegt sich den Bewegungen des Körpers an, ohne dabei seine formgebende Funktion, fast unsichtbar durch Schnitt und Fall des Stoffes gezaubert, zu verlieren. Männer ziehen sich alle ähnlich unauffällig an. Variationen – Hemdkragen, Manchettenknöpfe – sind minimal. Es macht keinen Sinn, hundert verschiedene
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Smokings zu haben, weil sie alle so ähnlich aussehen, dass es kaum jemandem auffallen würde, trüge man jeden Abend einen neuen. Abb. 10: Adolph Menzel: Ballsouper, 1878; Berlin, Alte Nationalgalerie.11
Die Distinktion ist deswegen in der Männermode Insiderwissen; es geht um das Erkennen der feinen und feinsten Unterschiede. Die Schmuckfunktion wird auf die Krawatte, von denen man allerdings nie genug haben kann, weil jede offensichtlich anders aussieht und zudem – wie der Psychoanalytiker Flügel so nett sagte – phallische Verweisfunktion besitzt, reduziert. Männer schminken und schmücken sich nicht mehr; sie tragen keine Absatzschuhe – jedenfalls üblicherweise nicht, sieht man von Sarkozy oder Mitterrand ab, die in französischnapoleonischer Tradition sehr klein waren. Wie sehr das Schminken des Männerkörpers noch immer tabuisiert ist, zeigte die Debatte um die gefärbten Haare von Altkanzler Gerhard Schröder. Bei keiner Politikerin wäre so etwas ein Thema. Im Ganzen ist die Männermode eine gradlinige, eine schnörkellose Angelegenheit. Sie will sich funktional: form follows function. Was die Männermode anging, so gerieten die, die ihren Körper wie die Höflinge reizend zur Schau stellten, mit der Aufklärung und a fortiori mit dem 19. Jahrhundert in den Geruch des Weiberhelden oder des Schwulen. Männlichkeit, richtige Männlichkeit tritt von nun an betont antitheatralisch in Erscheinung. Weiberhelden und Schwule hingegen sind nicht Herren ihrer Erotik, sondern ihr unterworfen. Wer sich so herausputzte, wer sein Äußeres mit Parfüm und Schminke inszenierte, wer sich so flamboyant in Szene setzte, konnte kein rich-
11 Quelle:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adolph_Menzel_-_Das_Ballsouper
_-_Google_Art_Project.jpg.
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tiger Mann sein.12 Sich als Mann anzuziehen, hieß sich wie alle bürgerlichen Männer als selbstbestimmte und -bewusste Subjekte, als Bürger anzuziehen. Das war eine Kunst, die beherrscht sein wollte. Die Frage, die die Männermode von nun an begleitet, wird nicht mehr die sein, ob er prunkvoll, schön, reizend oder standesgemäß, sondern die, ob er richtig angezogen ist. Distinktion besteht darin, Distinktion unsichtbar zu machen; augenfällig nicht ins Auge zu fallen. Kunstvoll will die Kunst verborgen sein. Die Mode sollte die Person und das Individuum unterstreichen, den Geschlechtskörper aber, den die höfische Mode betont hatte, aufheben. Der Körper darf sich nicht mehr als schöner, sondern als starker, muskulöser, ganz männlich funktionaler Körper artikulieren – und das Zeigen dieses Körpers ist auch eher den Klassen vorbehalten, die einen solchen Körper zum Einsatz bringen: denen, die mit dem Körper arbeiten. Man kann in der männlichen Mode nur noch ein aristokratisches Moment ausmachen: die ‚sprezzatura‘ nämlich, die den vollkommenen Höfling Castigliones auszeichnet. Vollkommene Grazie liegt darin, dass sie natürlich wirkt. Der gefällt, dem die Anstrengung des Gefallen-Wollens nicht anzumerken ist. Die männliche Mode, die Klassenmode blieb – white collar and blue collar; Blue Jeans versus Flanellhosen, T-Shirt versus Hemd –, wurde von nun an vom Schatten des Fob, des Fag, des Gay, des Schwulen begleitet. Dem Anzug war ein globaler Siegeszug beschert. Zu Recht hat Anne Holländer ihn als das Kleidungsstück der Moderne definiert. Die niedrigeren Klassen konnotierten Stoffe wie Leinen und Wolle.13 Fast klassisch ist der Anzug den Zyklen der Mode kaum unterworfen. Während sich die weibliche Silhouette in den letzten zweihundert Jahren radikal verändert hat, zeichnet sich die Silhouette des Mannes durch eine erstaunliche, man ist versucht zu sagen: klassische Konstanz aus. Der klassische Herrenanzug wird sowohl im öffentlichen Raum, in der Stadt, als auch bei der Arbeit, im Büro, getragen. Alternativ dazu gibt es in ursprünglich ländlichen Räumen die Tracht. Die Abendkleidung besteht für Herren, auch da in den Variationen übersichtlich, im Frack oder im Smoking. Sehen wir uns jetzt wie im Zeitraffer die Entwicklung der Frauenmode an. Sie ist – und das ist vielleicht das Ausschlaggebende – zum ersten eindeutig anachronistisch: ein aristokratischer Überrest im bürgerlichen Zeitalter. Das mag verwundern, da die Mode ja geradezu etymologisch mit der Moderne verschwis-
12 Über die feinen Unterschiede, die oft an nichts als an einer Farbnuance hängen, kann man sich informieren bei Gregor Schuhen: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust, Heidelberg 2007, bes. S. 105ff. 13 Vgl. Anne Hollander: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, Berlin 1995.
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tert und immer mit den Avantgardebewegungen in Verbindung gebracht worden ist. Wie der Adel ehedem stellen jetzt die Frauen – und nur noch die Frauen – ihre erotischen Reize in den Vordergrund. Sie machen klar, dass ihr Markt der Heirats- und nicht der Arbeitsmarkt ist. Ihr Wirkungsfeld ist nicht die öffentliche Sphäre, sondern das Private: die zwischengeschlechtliche, erotische Attraktion. Am schärfsten hat Adolf Loos das auf den Punkt gebracht: Obszön grotesk, anachronistisch unreformierbar, hoffnungslos zurückgeblieben findet er die weibliche Mode, kurz, ein „grässliches Kapitel der Kulturgeschichte“.14 Gegen sämtliche ästhetische Prinzipien der Moderne verstoßend, ist sie nichts weniger als ein ästhetisches Verbrechen. So schamlos wie skrupellos appelliert sie an das Tier im Mann. Aber das ist – Kulturkrankheit – eben leider nicht mehr gesund, sondern pervers. Sonst wären die Menschen schlicht nackt. Schuld an all diesem moralischen wie ästhetischen Elend, von dem man am liebsten angeekelt die Augen abwenden möchte, ist die Geschlechterordnung der Moderne. Die Frau ist hier nichts für sich; im Gegensatz zu den Männern hat sie sich das Recht auf freie Arbeit nicht erworben und ist dazu verdammt, nichts als ein Geschöpf der Wollust des Mannes zu sein. Solange Frauen nicht mit Männern auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren können, sondern um Männer konkurrieren müssen, sind alle hoffnungslos naiven Versuche, die Frauenkleider nach den modernen Kunstprinzipien zu reformieren, zum Scheitern verurteilt. Ist der Motor der Männerkleidung die Distinktion, dann der der Frauenkleidung die wechselnden perversen sinnlichen Vorlieben der Männer. Nach dem Masochismus die Pädophilie: von der Domina zur Kindfrau. So streng wie zu seiner Zeit, meint Loos, hat die Mode die Geschlechter nie geteilt. Denn während es in der männlichen Mode nur darum geht, im Herzen der Kultur in der kulturell bestimmenden Schicht um keinen Preis aufzufallen, muss es den Frauen darum gehen, den Männern ins Auge zu stechen. Während er sich chamäleonartig an die Umwelt anpasst und durch seine Kleidung nichts als strikteste Normenkonformität ausdrückt, wird sie zum Lockvogel. Den Weg in die Moderne, den die Männer schon lange in die Selbstbestimmung gegangen sind, können die Frauen erst gehen, wenn auch sie alles bloß Ornamentale abgelegt haben. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, auch wenn die Radfahrerin – zwar noch berockt, nicht bein-, aber doch immerhin fußfrei – die Richtung weist. Diese weibliche Emanzipation beschwört Loos mit lyrischer Intensität:
14 Adolf Loos: „Damenmode [1898]“, in: ders.: Die Schriften 1897-1900, hrsg. von Adolf Opel, Wien-Klosterneuburg 2004, S. 207-214, hier S. 207.
166 | B ARBARA V INKEN Nicht mehr die durch den appell an die sinnlichkeit, sondern die durch arbeit erworbene wirtschaftliche unabhängigkeit der frau wird eine gleichstellung der frau mit dem manne hervorrufen. Wert oder unwert der frau werden nicht im wechsel der sinnlichkeit fallen oder steigen. Dann wird die wirkung von samt und seide, blumen und bändern, feder und farben versagen. Sie werden verschwinden.15
Wie die Kleidung des Adels bleibt die weibliche Mode bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes raumgreifend. Die Kleider bleiben dreidimensional. Wie im Ancien Régime werden Hüften oder Po und Dekolleté ausgestellt. Wie im Ancien Régime verschönerten Putzmacherinnen, die es bei den Männern nicht mehr gibt, die Oberfläche mit Rüschen und Schleifen. Auch in der Moderne bleibt die Frau Schmuckstück, Ausstellungsstück, Vorzeigeobjekt; Idol, um mit Baudelaire, Halbgöttin, um mit dem Modephotographen Gouge zu sprechen, durch die Mode auf den Sockel zur Anbetung gehoben.16 Ornament steht gegen Funktion. Das Ornamentale liegt nicht zuletzt darin, funktionsunfähig zu machen. Die ‚konservativ‘ angezogene Frau an seiner Seite stellt vor allem – und immer wieder, Stichwort New Look, Stichwort High Heels und Bleistiftrock – eines zur Schau: einen in seiner Bewegungsfreiheit entweder altmodisch durch Corsagen, den ‚Cul de Paris‘ oder modern durch hohe Absätze, Bleistiftrock so kunstvoll hergerichteter wie massiv behinderter Körper, der seine Distinktion aus dem ständigen, sündhaft teuren Wechsel der Moden vor aller Augen inszeniert. Einzig den Frauen – und den schwulen Geliebten – obliegt bis heute die Funktion, reiner Schmuck, einfach schön zu sein. Die Mode der Moderne ist seit ihrer Geburtsstunde weiblich oder mindestens weibisch, dandyesk, schwul konnotiert. Eigentliche Männer interessiert sie nicht. Die Frauenmode tut sich schwer mit der Moderne; sie will modern nicht werden und erleidet immer wieder schreckliche Rückfälle. Was aber heißt für die Frauenmode modern? Coco Chanel, eine der Pionierinnen der neuen, endlich modernen Frau, hat das auf den Punkt gebracht: „Mein Leben lang habe ich nichts getan, als Männerkleider Stück für Stück in Frauenkleider zu übersetzen.“17 Die Übertragung also des Prinzips des modernen Herrenanzugs auf die
15 Ebd. Kleinschreibungen im Original. 16 Vgl. Charles Baudelaire: „Éloge du maquillage“, in: ders.: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres Œuvres critiques de Baudelaire, hrsg. von Henri Lemaitre, Paris 1962, S. 489-494. 17 André Parinaud: The Unspeakable Confession of Salvador Dali, New York 1981, S. 212, zitiert nach Valerie Steele: Women of Fashion. Twentieth-Century Designers, New York 1991, S. 41.
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Damenmode – das macht Damenmode modern. Wie schon Poiret gab Chanel, wie in der Männerkleidung üblich, jegliche Korsettierung auf. Aus dreidimensionalen wurden zweidimensionale Kleider. Das äußere Gerüst musste durch ein inneres ersetzt werden. Sport und Gymnastik wurden so wichtig wie vielleicht nie zuvor. Die Metamorphose von Fleisch in Silhouette, von raumgreifender Oberfläche in Bewegung – das ist vielleicht die beste Beschreibung für die Entwicklung der weiblichen Mode. Aus einer eher statisch-üppigen Drei- wird eine bewegte, schlankschnelle Zweidimensionalität. Ein anderer Meilenstein, der ebenfalls auf der Übertragung eines Prinzips der Männer- auf die Frauenmode beruhte, war das berühmte ‚Kleine Schwarze‘. Im ‚Kleinen Schwarzen‘ wird wie im Anzug das Gesicht betont. Nicht das Kleid lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, sondern die Person. Zwar lässt das ‚Kleine Schwarze‘ den Körper in den Hintergrund ein, schafft jedoch anders als der Anzug bei Bewegung eine messerscharfe, körpernahe Silhouette. Stellt sich die Frage: Unisex? Zunächst ginge dieser, wenn denn das Wort das Phänomen richtig beschreiben würde, nur in eine Richtung: von der Männermode nämlich zur Frauenmode. Bis heute kann sie abends seinen Schlafanzug und morgens seinen Pullover anziehen, er würde hingegen in ihren UGGs, ihren T-Shirts und ihren Pullovern komisch aussehen. Wenn sich Frauen wie Männer anziehen, ziehen sich dann beide gleich an? Oder: Ist es etwas anderes, ob ein Mann oder eine Frau eine Hose, einen Businessanzug trägt? Ein Prinzip hat Chanel bei der Übersetzung der Herren- in die Damenmode nicht übertragen: die Auflösung des Körpers im Kollektiv, das Verschleifen der körpergebundenen Silhouette durch den modernen Anzug. Und auch den Schritt zur uniformierenden Kollektivierung, den der Herrenanzug leistet, ist sie nicht mitgegangen. Was also tatsächlich in der Mode der Moderne passiert ist, war weniger Unisex als die Übertragung der männlichen erotischen Zone in die Frauenkleidung. Denn Hosen und immer kürzer werdende Röcke zeigten zum ersten Mal, was die aristokratische Herrenmode verführerisch zur Schau stellte, die Damenmode bis dahin aber streng verbarg: Beine. Der Minirock zeigt sie bis zum Schritt und in den Hosen zeichnen sich Schenkel und Po ab. Die Unisexmode ist so alles andere als Unisex. Sie profiliert im Gegenteil gerade das, was die Geschlechter trennt: Denn während die Männer im bürgerlichen Zeitalter ihren Körper nicht mehr erotisch zur Schau stellen, definiert sich die weibliche und ausschließlich die weibliche Rolle darüber, dass sie eben dies tut. Der vermeintliche Unisex führt also – unter falscher Flagge gewissermaßen – zu einer Verschärfung des Gegensatzes Mann/Frau. Anders gesagt führt der Unisex von den Zehenspitzen bis zu den jetzt offen getragenen Haarlocken zu einer durchgehenden Erotisierung des weiblichen Körpers.
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Die hier skizzierten Entwicklungen haben verschiedene Interpretationen erfahren: Auf der einen Seite hat Flügel das Schlagwort von der ‚großen männlichen Entsagung‘ geprägt.18 Die Männer in der Moderne entsagen, laut Flügel, dem narzisstischen Vergnügen, einen schönen Körper zu zeigen, sich herauszuputzen und zum Schmuckstück zu machen. Das überlassen sie ganz den Frauen. Diese Entsagung war nötig, meint Flügel, weil in einer Demokratie die Gleichheit aller Grundlage der Institutionen wird, an deren Aufbau ausschließlich die Männer beteiligt sind. Diese Entsagung, so Flügel, müssten auch die Frauen in Zukunft leisten, wenn sie stärker an Arbeitsmarkt und öffentlichem Leben teilhaben würden. Thorstein Veblen sieht hingegen in der Mode einen Rest Tyrannei und verwerfliche Aristokratie im bürgerlichen Zeitalter, wo eigentlich Freiheit und Gleichheit auch zwischen den Geschlechtern und nicht ostentative Verschwendung und Versklavung herrschen sollte. Er sieht in der weiblichen Mode nicht ungehemmten Ausdruck des Narzissmus und Unwilligkeit zum Triebverzicht, den die Männer im Namen der Gleichheit und im Dienste der Allgemeinheit bereits geleistet haben. Vielmehr schmückt sich der Mann stellvertretend mit der Frau an seiner Seite. Die Frauen, meint Veblen recht unprosaisch, würden, von der Macht ausgeschlossen, als oberste Dienerin des Haushaltes zur ‚mobilia‘ des Mannes – so wie ein besonders luxuriöses Auto, ein Maserati. Er genießt die öffentlich inszenierte Schönheit der Frau und sonnt sich in ihrer sorgfältig inszenierten Weiblichkeit. In ihren Frauen stelle die Leisure Class stellvertretend ihre finanzielle Potenz aus: im schnellen, und deshalb teuren Wechsel der Moden, in einem Körper, der offensichtlich arbeitsunfähig ist und vor aller Augen kundtut, dass er unterhalten werden muss. Die Frauen inkarnieren deshalb den Warenfetischismus, sie werden zum Inbegriff des Luxusgutes hergerichtet, Weiblichkeit und Ware werden synonym.19 Sehr schön hat Friedrich Theodor Vischer den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Mode in der Moderne 1878 gefasst: „Das männliche Kleid soll überhaupt nicht für sich schon etwas sagen, nur der Mann selbst, der darin steckt, mag durch seine Züge, Haltung, Gesicht, Worte und Taten seine Persönlichkeiten geltend machen.“20 Gleichzeitig markiert Vischer den Umbruch zwischen aristokratisch und bourgeois geprägten Gesellschaften:
18 Vgl. John C. Flügel: The Psychology of Clothes, London 1930. 19 Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1924. 20 Friedrich Theodor Vischer: „Mode und Zynismus“, in: Silvia Bovenschen (Hrsg.): Die Listen der Mode, Frankfurt/M. 1986, S. 33-79, hier S. 63.
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Unseren Großvätern noch galt als ganz natürlich, dass der eine durch einen roten Rock mit Goldborten und blaue Strümpfe, der andere durch einen grünen mit Silberborten und pfirsichrotgelbe Strümpfe sich hervortun mochte. Wir sind damit rein fertig, gründlich blasiert gegen alles Pathetische, wir haben nur ein müdes Lächeln, wenn einer durch anderes, als sich selbst, in seiner Erscheinung sich herausdrängen will. [...] Obwohl diese Scheinlosigkeit des Männerkostüms wenig über ein halbes Jahrhundert alt ist, kann man doch sagen, sie bezeichne recht den Charakter der Mode, nachdem aus ihr geworden, was ihrer Natur nach im Laufe der Zeit werden mußte.21
Der männliche, bürgerliche Männerkörper bleibt in bestimmter Negation auf den Adel bezogen: er ist, weil er nicht scheint. Unauffällig, schmucklos, neutral tritt alle Oberflächenverzierung hinter die abstrakt-idealisierende Konstruktion, den als solchen nicht in Erscheinung tretenden Schnitt, die niemals sichtbare Unterfütterung zurück. Die schmucklose Nüchternheit, die diszipliniert vollkommene Strenge, das Hervortreten einzig der ‚Persönlichkeit‘ in ihrer ungeschminkten Wahrheit doppelt die bürgerliche Ethik. In diesem Sinne ist der Anzug AntiMode.22 Die constantia der Person, die ihr Mäntelchen prinzipientreu nicht in den Wind hängt, wird durch die Beständigkeit des Anzugs, der saisonal nur minimalen Variationen unterliegt, unterstrichen.23 Der Anzug konstituiert den Bürger, im Gegensatz zum sich am Schein ergötzenden Aristokraten, als natürlich, authentisch Seienden. Mit Barthes gesprochen, konnotiert dieses Kleidungsstück nicht willkürlich wechselnde Künstlichkeit, also Mode, sondern Funktion und bekommt damit die Selbstverständlichkeit von Natur. Zur zweiten Natur, meint dann auch Théophile Gautier, sei der Anzug dem Mann geworden, die seine erste Natur, seine reale, einzigartige Fleischlichkeit völlig vergessen gemacht hat: „Le vêtement, à l'époque moderne, est devenu pour l’homme une sorte de peau dont il ne se sépare sous aucun prétexte et qui lui adhère comme le pelage à un animal, à ce point que la forme réelle du corps est de nos jours tout à fait tombée en oubli“.24 Er ist ihm nichts Äußerliches, sondern zum Teil seiner selbst geworden. Modisch ist am Anzug gar nichts mehr; die hohe Kunst liegt darin, ihn zur natürlichsten Sache der Welt zu machen. Und doch hat er eine politisch ähnlich repräsentative Funktion, wie es die ostentative Kleidung des Adels hatte.
21 Ebd. 22 Vgl. Hollander: Anzug und Eros, S. 31-45. 23 Mit Barthes gesprochen ist das Signifikat der Männermode eben nicht Schein, sondern Sein. Vgl. Roland Barthes: Système de la mode, Paris 1967, S. 44. 24 Théophile Gautier: De la mode, Arles 1993, S. 11.
170 | B ARBARA V INKEN Wenn der prächtige Krönungsmantel des Königs von einer Ordnung von Gottes Gnaden zeugt, steht der schwarze, schlichte Dreiteiler des postrevolutionären Bürgertums für eine Ordnung der Demokratie. Das streng metaphysische Element des Gottesgnadentums kann und darf nicht fortbestehen, an seine Stelle tritt nun, in Abwesenheit eines wahrhaft transzendenten Prinzips, die Apotheose eines säkularisierten bürgerlichen Körpers. Eine Abweichung von dieser Ordnung und damit eine ‚freie‘, und im Kern subversive Gestaltung der Garderobe ist hier wie dort kaum möglich.25
Denn wie der Körper der Adeligen die kosmische Ordnung des Gottesgnadentums inkarniert, so bildet der bürgerliche männliche Körper als Kollektivkörper den Staatskörper – und das gerade insofern dies ein Körper Gleicher ist, aus dem niemand heraussticht. Der männliche Anzug ist die conditio sine qua non der Demokratie und das habit noir sein einziger legitimer Ausdruck. Bürgerlich gibt er Tag aus Tag ein das Spektakel des Unspektakulären zum Besten: Rhetorik der authentischen A-Rhetorik. Der Anzug individualisiert die Person, das Subjekt, indem er alles, was die Aufmerksamkeit auf das Kleid lenken würde, unterbindet und damit allein das Gesicht, ungeschminkt (!), in den Fokus rückt. Nicht aufzufallen, nicht herauszufallen ist das Gesetz, unter dem der Anzug steht. Der geschlechtliche Körper wird im Kollektiv aufgehoben. Der individuelle Körper wird durch die Abstraktionsleistung des Schnitts und durch die durchgehende Uniformierung in einen nicht mehr fleischlichen, sondern allgemeinen Kollektivkörper eingebunden. Abb. 11: European Council, 2010.26
25 Nora Weinelt: Minimale Männlichkeit oder Dressing up. Arbeit am Anzug, Magisterarbeit LMU, München 2012, S. 21. 26 Quelle: http://archive.merrionstreet.ie, Government Copyright (Irland), Informationen unter: http://psi.gov.ie.
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Der Anzug nivelliert, neutralisiert, egalisiert: kurz er ent-sinnlicht. Der einzelne Körper inkarniert die Institution: er tritt in seiner Besonderheit hinter sie zurück, geht in ihr auf. Idealerweise wird er als Kleid unsichtbar, so wie er das Fleisch unsichtbar macht: „Die bekleidete Form war jetzt eine Abstraktion der nackten Gestalt, ein neuer idealer nackter Mann, nicht in Bronze gegossen oder in Marmor gehauen, sondern in natürliche Wolle, in Leinen und Leder gehüllt.“27 Sind wir noch im 19. Jahrhundert? Entspricht das der Art, wie sich Männer und Frauen anziehen, noch heute? Sie macht sich zum auffälligen Schmuckstück, sinnlich, er kleidet sich funktional, eher schlicht? Sie für den Heirats- oder Sexmarkt, er für den Arbeitsmarkt? Diese Frage liegt dezidiert nicht im Trend, sind doch selbst die Musen mit Baptiste Giabiconi längst männlich geworden. Das Süddeutsche Magazin läutet nach dem Höhepunkt der androgynen Mode in den 80ern jetzt durch die Photos von Jürgen Teller die ‚vollends geschlechtslose‘ Mode mit Andrej Pejić, einem weiblichen Modell mit einem männlichen Geschlecht, ein – und widerlegt die ‚geschlechtslose Mode‘ im selben Atemzug, wenn sie Pejić verkünden lässt, er/sie sei als Frau „eher sexy, als Mann schlicht“.28 Schöner hätte man doch den Unterschied zwischen Mann und Frau, den die Mode macht, gar nicht auf den Punkt bringen können. Denn dass es dabei nicht um das natürliche Geschlecht, sondern dessen symbolische Funktion geht, könnte selbst dem in diesen Dingen theoretisch notorisch unterbelichteten Süddeutsche Magazin aufgefallen sein. Vieles spricht dafür, dass wir uns noch immer in der Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts befinden, die wie die Ständeordnung selbstverständlich auch von Natur keine Spur hat. Die Gattin eines Bankund Geldmenschen, Schwabing, die ihren Mann zu einer Dinnerparty begleitete, sagte das sehr nett: „ich muss ja nur schön sein.“ Ratgeber in Sachen how to dress for success bestehen für Frauen hauptsächlich darin, aufzulisten, welche erotischen Reize nicht ausgespielt werden dürfen, denn: „Weniger Fleisch heißt weniger Angriffsfläche“.29 Soziologische Untersuchungen zum Modeverhalten junger Leute zeigen, dass sich Mädchen und Jungen keinesfalls gleich anziehen, wenn sie dasselbe, nämlich T-Shirt und Hose, tragen, körperbetonte Mode ist für Mädchen ein must, bei Jungen hingegen wirkt sie nach eigenen Aussagen
27 Vgl. Hollander: Anzug und Eros, S. 148. 28 http://www.sueddeutsche.de/stil/die-erfolgreichsten-maennermodels-maenner-schoenwie-maedchen-1.1419979-3 (Zugriff am 13.01.2014). 29 Marion Knath: „Die Machtfrage“, in: Der Spiegel 5, 31. Januar 2011, S. 60.
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schwul.30 In den bürgerlichen Vierteln zeigen Frauen durch ihre Kleidung, dass sie, auch wenn sie vielleicht sehr viel und erfolgreich arbeiten, nicht arbeiten und sich in kein Kollektiv fügen müssen. Ihre Kleidung, hübsch, kleidsam, lässig, gibt sich als Bricolage, anscheinend dem Zufall geschuldet. Vor allen Dingen aber – umweht vom Glück der Ferien, deren Duft es in den Alltag trägt – das krasse Gegenteil von Berufskleidung. Und Uniformierung. Obwohl kein Stil so uniform erfolgreich war wie dieser weibliche Stil des absoluten Individualismus, wo Jacke und Hose eben nicht mehr zusammengehören und nichts mehr ganz genau zusammenpassen muss, sondern alles frei kombinierbar wird. Weibliche modische Norm ist die vollkommene Freiheit von den Normen und Zwängen des Alltags geworden. Imaginär immer ein bisschen Sand zwischen den Zehen, völlig ungezwungen. Kollektiv zeigen die Frauen ganz individuell, dass sie nicht wie die Männer verkollektiviert, nicht Teil der uniformierten, arbeitenden, entfremdeten Bevölkerung sind.31 Und trotzdem. Metrosexuals. Frankfurter Bahnhof. Die Frauen in den schwarzen, engen Businessanzügen, mit weißem Hemd. Junge Männer in denselben knabenhaft schlanken Anzügen. Sehen wir uns noch einmal kurz die – oder jedenfalls eine – Entwicklung des Anzugs an. Unter der Oberfläche hat sich etwas getan. Zum einen ist der klassische Herrenanzug nicht mehr die Norm. Die technischen, die intellektuellen, die kreativen Eliten erscheinen nicht mehr im Anzug. Er ist damit nicht mehr allgemeines bürgerliches Kleidungsstück, nur von der proletarischen Arbeitskleidung abgesetzt. Vielmehr ist er zur Klassenuniform, nämlich zum Kleid von Macht und Geld geworden: Business, Banker, Politiker, hohe Verwaltungsbeamte tragen Anzug. Kurz, Anzug zu tragen ist heute nicht mehr unmarkiert. Gleichzeitig ist die Mode dem Prinzip des Anzugs, dem ikonischen Kleidungsstück der bürgerlichen Demokratien, in den letzten zwanzig Jahren massiv zu Leibe gerückt. Wurden bisher männliche Prinzipien in die weibliche Mode übertragen, so werden darin Prinzipien weiblicher Mode in die männliche übertragen. Ostentativ nämlich gibt es bei den Herrenschneidern eine Entwicklung, die den Körper, abstrahiert zur Linie, betont, und damit auf ein weibliches, vorbürgerliches Prinzip zurückgreift. Pierre Cardin mit seinen enganliegenden Bleistiftanzügen war Vorreiter. Das unkonstruierte Jackett von Armani, gerne auch, aus irgendeinem Missverständnis heraus, das ‚dekonstruierte Jackett‘ genannt, war ein wichtiger Schritt in dieser Entwicklung. Ein Meilen-
30 Alexandra König: Kleider schaffen Ordnung. Regeln und Mythen jugendlicher SelbstRepräsentation, Konstanz 2007, S. 231ff. 31 Vgl. Barbara Vinken: „Marie Antoinettes Ibiza-Hip“, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, August 2010, S. 118-119.
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stein waren auch die ganz schmal geschnittenen Anzüge von Mugler, die fast wie Ballettkleidung wirkten. Boss’ kleine schwarze Anzüge gehen in dieselbe Richtung. Tom Fords Anzüge saßen wie angegossen. Die neue, schmale Linie von Helmut Lang und jetzt von Raf Simons für Jil Sander ist die Vollendung dieses Stilprinzips. Abb. 12 & 13: Raf Simons für Jil Sander, Herbst 2012.32
Als androgyn werden diese Anzüge oft bezeichnet, als Mode für knabenhafte Männer. Diesem neuen Männertyp eignet etwas ganz Unmännliches, NichtPhallisches, ja A-sexuelles, so dass die übliche Distinktion schwul/hetero nicht greift. Es ist eher ein Narzisstyp, der steril-liebesunwillig in sich selbst abgeschlossen, fasziniert gefangen ist. Er stellt einen Jüngling aus, der nicht zum Mann reift und etwas Jungfräuliches hat, ohne unschuldig zu sein. Das Pendant zu diesem neuen Mann war vielleicht die Lesbierin des 19. Jahrhunderts. Der extremen Schlankheit des Körpers bleibt etwas Asketisches. Eben diese extreme Schlankheit treibt der neue Anzug hervor. Diese Form der raffinierten Silhouettierung, die scherenschnittartig die Biegsamkeit des Körpers und seine auf die Linie gebrachte Körperlichkeit betont, übersteigt das Funktionale. Hier geht es nicht um Funktion, sondern um Ästhetik, die Funktion nur noch als Zitat mitführt. Sie lassen den ganzen Körper in der Abstraktion zum Ornament werden. Insofern ist hier ein, ja vielleicht das Moment der weiblichen Mode par excellence, die Ästhetisierung des Körpers nämlich und sein Hervortreiben durch Mode, in die Männermode gewandert. Ahnen dieser Anzüge sind die Mods, eine englische Jugendkultur der 1960er Jahre. Dass alles Neue, wirklich Revolutionierende aus dem klassischen Land
32 Quelle: http://www.style.com, Photo: Marcus Tondo / GoRunway.com.
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der Dandys kommt, kann nicht verwundern. Das interessante an den Mods war nun, that they did not dress down, but that they dressed up. Und auch das verband sie mit den Dandys, die als Snobs, als nicht adelige Männer, ihrem Körper so viel ostentative Aufmerksamkeit schenkten, wie das nur dem Adel und nach der Revolution den Frauen vergönnt war. Als Arbeiterkinder oder aus dem Kleinbürgertum stammend, als Söhne der Lower oder Lower Middle Class, zogen die Mods in einer Art Klassentravestie die Uniform der Großbourgeoisie, des Geldadels an: tadellos sitzende, maßgeschneiderte Anzüge. Sie warfen sich groß in Schale. Think David Bowie. Aber was passierte mit dem Anzug in dieser Klassentravestie? Blieb er einfach der Anzug? Alle Modekritikerinnen heben beim Beschreiben der neueren Kollektionen dasselbe hervor: eine im wahrsten Sinne des Wortes unpassende Körperlichkeit. Hören wir für einen Moment Ingrid Loschek über Helmut Lang: „enge Hüfthosen, Mäntel und Jacken, so eng am Körper liegend, als wären sie zu klein“.33 Über Tom Ford, der als Herrenschneider angefangen hatte: „Hosen aus Stretchsatin, die drei Nummern zu klein wirkten“.34 Abb. 14 & 15: Hedi Slimane für Dior Homme, Herbst 2007.35
Und der klassische Topos wird angeführt, der das Geheimnis weiblicher Mode, wenn nicht das Geheimnis des weiblichen Geschlechtes im Ganzen ausmacht: „Die Unverfrorenheit des Nichts“.36 Solche Schnitte waren natürlich in dem üb-
33 Ingrid Loschek: Modedesigner. Ein Lexikon von Armani bis Yamamoto, München 2002, S. 123. 34 Ebd., S. 94. 35 Quelle: http://www.style.com, Photo: Marcio Madeira. 36 Loschek: Modedesigner, S. 123.
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lichen Material – Tweed, Wolle, Cord, Leinen – gar nicht mehr zu machen und setzten auf neue, synthetische Stretchmischungen. Tatsächlich wurde der männliche Körper in seiner strikten Reduktion auf die Linie zum Ornament. Und so war es ironischerweise Helmut Lang, der ja gerne immer wieder zur Unterstreichung seines Minimalismus auf Adolf Loos als seine Inspiration verwies – Das Ornament als Verbrechen –, der die Funktion nur noch scheinbar in den Mittelpunkt stellte, de facto die Mode auf einen rein ornamentalen Charakter gebracht hat: eine Arabeske, abstrakte Bewegung im Raum. Damit ist die Männermode dem Prinzip der Frauenmode, dem Prinzip des Ornamentalen nämlich, das allerdings minimalistisch abstrakt auf die Linie reduziert wird, gefolgt. Und erst, als das passiert war, konnte die Frauenmode ohne sich männlich zu verkleiden, eben diesen neuen Männeranzug wie das ‚Kleine Schwarze‘ tragen. So gesehen und so verstanden liegt minimalistischer Unisex, jetzt allerdings wirklich sexy, weil auf einer Übertragung eines weiblichen Prinzips in die Herrenmode beruhend, im Trend. Ostentativ darf der Körper jetzt für beide Geschlechter nur um den Preis seiner Reduktion auf eine schmieg- und biegsame Linie ins Licht, in den Vordergrund gerückt werden. Seine Funktionalität ist dabei nur noch Deckmantel für die Arabeske der Moderne. Insofern sind Männer die neuen Frauen.
II. Texte: Literarische Fallbeispiele
Negotiating Masculinity in Late Victorianism Die Dekonstruktion phallischer Männlichkeit in Thomas Hardys Roman The Mayor of Casterbridge (1886) und die Frage nach dem New Man S TEFAN H ORLACHER
T HOMAS H ARDY
ZWISCHEN
P ROTO -F EMINISM us
TENDENZIELLER
M ISOGYNIE
UND
Noch immer gilt Thomas Hardy vielen LiteraturkritikerInnen als eine gefährliche Kombination aus Feminismus und Sexismus,1 ist er berüchtigt, „both for his revolutionary protests against social conventions that restrict women’s freedom […] and for the blatantly sexist remarks that are scattered throughout his œuvre like some kind of sexist graffiti.“2 Oder, mit den Worten Margaret R. Higonnets: „Hardy’s texts [...] have been censored for their sexual content, admired for their frankness, decried as misogynist, and described as feminist.“3 „From the first, his representation of relationships between men and women – and the gendering of
1
Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an: Stefan Horlacher: Masculinities. Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence, Tübingen 2006.
2
Judith Mitchell, „Hardy’s Female Reader“, in: Margaret R. Higonnet (Hrsg.): The Sense of Sex. Feminist Perspectives on Hardy, Urbana/Chicago 1993, S. 172-187, hier S. 172.
3
Margaret R. Higonnet, „Introduction“, in: dies. (Hrsg.): The Sense of Sex, S. 1-13, hier S. 5.
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representation itself – have provoked controversy.“4 Als spätviktorianischer Autor, der in einer von Elaine Showalter als „decades of sexual anarchy“5 bezeichneten historischen Epoche zwischen traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen, Entwürfen der New Woman, des Dandy und des New Man zumindest potentiell in einer ‚weiblichen Tradition‘ schreibt und eine Überkreuzung sowohl traditioneller Geschlechterrollen als auch der mit ihnen verbundenen Attribute vornimmt, stellt Hardy für viele KritikerInnen auch heute noch ein Paradoxon dar.6 Es ist deshalb umso erstaunlicher, dass „Hardy’s use of female characters and qualities to enhance male characters“7 erst seit kurzem (wieder) in den Blickpunkt des Interesses gerückt ist: Writing in a century which saw both the emergence of the female novel, contrasting the realities of women’s situation in a patriarchal society and the romantic conventions of the novel; and the establishment of the male historical novel of Sir Walter Scott, with its concentration on male authority, strength and physical prowess, Hardy developed the novel tradition still further by creating characters whose strengths and weaknesses were highlighted by qualities traditionally associated with the opposite sex, and whose roles crossed traditional sex boundaries, thereby anticipating the merging of distinct sex roles which was to characterise the fin de siècle.8
In der Tat zeigt bereits ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte, dass zu Beginn von Hardys schriftstellerischer Karriere sogar Verwirrung über das Geschlecht des Autors herrscht, seine Texte mit der gleichen Unsicherheit empfangen werden, wie sie auch für die unter Pseudonym erfolgten Veröffentlichungen von Jane Eyre und Adam Bede charakteristisch ist. So wird Hardys Roman Far from the Madding Crowd, der 1874 als Fortsetzungsroman im Cornhill erscheint, überwiegend George Eliot zugeschrieben, und Leslie Stephen stellt in einem
4
Ebd., S. 3.
5
Elaine Showalter: Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, London 1991, S. 3.
6
Siehe Elaine Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, in: Dale Kramer (Hrsg.): Critical Approaches to the Fiction of Thomas Hardy, London/Basingstoke 1979, S. 99-115.
7
Jane Mattisson, „Gender as a relational notion in Thomas Hardy’s Far from the Madding Crowd and The Mayor of Casterbridge“, in: Yvonne Hyrynen (Hrsg.): Voicing Gender – Essays on Gender as a Relational Notion, Tampere 1996, S. 143-150, hier S. 143.
8
Ebd.
N EGOTIATING M ASCULINITY IN L ATE V ICTORIANISM
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Brief an Hardy fest, „[that] the supposed affinity to George Eliot […] consists, I think, simply in this that you have both treated rustics of the farming class in a humorous manner.“9 Doch in Wirklichkeit gehen die Parallelen zu George Eliot weit über inhaltliche Ähnlichkeiten hinaus und umfassen auch „similarities in psychological portraits, especially of women“: Hardy’s remarkable heroines, even in the earlier novels, evoked comparisons with Charlotte Brontë, Jane Austen, and George Eliot, indicating a recognition (as Havelock Ellis pointed out in his 1883 review-essay) that ‚the most serious work in modern English fiction … has been done by women.‘10
Hardys spätere Romane sprechen noch direkter zu einer weiblichen Leserschaft: So erhält Hardy nach der Publikation von Tess of the d’Urbervilles mit seiner zentralen Fallen Woman-Thematik zahlreiche Briefe von Frauen, die ihn um Treffen und Ratschläge bitten, und dass in einem Roman wie Jude the Obscure Reflexionen zur marriage debate sowie zur New Woman-Thematik von Bedeutung sind, ist mehr als offensichtlich. Showalter argumentiert, dass Hardy in seiner Zeit über ein extensives Wissen „of the themes of feminist writing in the 1880s and 1890s“ verfügt und dass er viele der „minor women novelists of his day“ kennt und schätzt, bspw. Katherine Macquoid, Rhoda Broughton, Mary Braddon, Sarah Grand, Mona Caird, Evelyn Sharp und Charlotte Mew.11 Bei der Lektüre von Hardys Texten fällt zudem auf, dass er oft weibliche Erzählerstimmen sowie Frauenfiguren als Sprachrohr benutzt – Showalter spricht von „a consistent element of self-expression through women [in Hardy’s career]“12 – und schließlich seine eigene Autobiographie unter dem Namen seiner
9
Leslie Stephen, Brief an Thomas Hardy vom Februar 1874, zit. nach Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 99.
10 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 99. 11 Ebd., S. 100. Darüber hinaus arbeitet Hardy mit Florence Henniker zusammen an einer Kurzgeschichte und überarbeitet höchstwahrscheinlich zahlreiche Texte seiner weiblichen Protegés. Zu Hardys Bedürfnis, eine „literary lady – not his wife“ zu haben, „whom he could mastermind, and who would appreciate him in return“, siehe Robert Gittings: The Older Hardy, London/Boston 1978, S. 77ff. 12 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 101. Siehe auch ebd.: „Hardy not only commented upon, and in a sense, infiltrated, feminine fictions; he also understood the feminine self as the estranged and essential complement of the male self.“
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zweiten Frau schreibt. Doch was im 19. Jahrhundert einigen Frauen eine starke Identifikation mit Hardys Protagonistinnen ermöglicht, schreckt andere nachhaltig ab, so dass Edmund Gosse 1890 sogar von der „unpopularity of Mr. Hardy’s novels among women“ schreibt und zu dem Schluss kommt, „[that i]f he had no male admirers, he could almost cease to exist. … Even educated women approach him with hesitation and prejudice.“13 Unter besonderer Berücksichtigung von Hardys Romanen der 1890er Jahre bzw. der Darstellung ihrer Protagonistinnen schließt A.O.J. Cockshut sogar auf unüberbrückbare Differenzen zwischen Hardys Position und derjenigen der Fin de Siècle-Feministinnen: Hardy decisively rejects the whole feminist argument of the preceeding generation, which was the soil for the growth of the idea of the ‚New Woman‘ à la Havelock Ellis and Grant Allen; and this is his final word on the matter. The feminists saw the natural disabilities as trivial compared with those caused by bad traditions and false theories. Hardy reversed this, and he did so feelingly. The phrase ‚inexorable laws of nature‘ was no cliché for him. It represented the slowly-garnered fruits of his deepest meditations on life. It was an epitome of what found full imaginative expression in memorable descriptions, like that of Egdon Heath. The attempt to turn Hardy into a feminist is altogether vain.14
Anhand dieser Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass sich Hardys Texte in einer double bind-Situation befinden, dass sie wichtige inhaltliche und formale mit einer Tradition weiblichen Schreibens verbundene Elemente aufweisen, sich jedoch in einem umstrittenen Raum zwischen proto-feminism und tendenzieller Misogynie situieren.15 Ähnlich wie bspw. das Werk von D.H. Lawrence umstritten ist, das heißt von feministischen KritikerInnen gleichzeitig gelobt und ‚bekämpft‘ wird, bleibt auch die Einschätzung von Hardys Werk hochambivalent, da zumindest Teile davon eine „distanced and divided attitude towards women“ sowie „a sense of an irreconcilable split between male and fema-
13 Edmund Gosse: „Thomas Hardy“, in: The Speaker II (1890), S. 295. 14 A.O.J. Cockshut: Man and Woman: A Study of Love and the Novel 1740-1940, London 1977, S. 128f. 15 Hardys Jude the Obscure nimmt einen der obersten Ränge in der Porträtierung einer New Woman-Heldin ein, und Hardy selbst wurde bereits von einigen seiner eigenen Zeitgenossen als profeministisch eingestuft. Siehe Gail Cunningham: The New Woman and the Victorian Novel, London 1978, S. 89; vgl. auch die damalige Kritik von Mrs. Oliphant, die Jude the Obscure zusammen mit The Woman Who Did als führend in der ‚Anti-Marriage Leage‘ kritisierte.
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le values and possibilities“16 aufweisen. Es ist deshalb angebracht, einen der großen tragischen Romane Hardys exemplarisch auf seine Konzeption von Männlichkeit hin zu untersuchen und in einem zweiten Schritt bezüglich der Charakterkonzeption der männlichen Protagonisten nach Verbindungen zur Problematik des New Man wie auch zu Hardys spätem Meisterwerk Jude the Obscure zu fragen.
„[T HE ] FULLEST NINETEENTH - CENTURY P ORTRAIT M AN ’ S INNER L IFE “ ZWISCHEN V IRILITÄT UND A SEXUALITÄT
OF A
Für die Auswahl von The Mayor of Casterbridge als exemplarischem Analyseund Kontextualisierungsgegenstand sprechen zahlreiche Argumente: Hardy selbst sieht in Michael Henchard „one of his most complex creations“17, und in der Tat ist Henchard der erste von Hardys Protagonisten, der einen Roman in einer Art und Weise dominiert, wie dies später nur noch bei Tess und Jude (bzw. Sue) der Fall sein wird, wobei bezüglich der Konstruktion von Männlichkeit, sowohl was Jude the Obscure als auch Tess of the d’Urbervilles betrifft, klare Einschränkungen im Vergleich zu The Mayor of Casterbridge gemacht werden müssen: Zwar erscheint der männliche Protagonist von Jude the Obscure im Titel des Romans, in der Regel verblasst er jedoch hinter der charismatischerratischen Sue Bridehead; und bei Tess of the d’Urbervilles wird die Romanheldin bereits durch den Titel in den Vordergrund und die Frage nach der Konstruktion von Männlichkeit in den Hintergrund gerückt. Mit The Mayor of Casterbridge verhält es sich jedoch grundlegend anders. Hier dominiert Michael Henchard, der „Mayor of Casterbridge“, den gesamten Roman nicht nur dem Namen nach, sondern auch durch seinen Charakter, sein Handeln und seine enorme Präsenz.18 Showalter spricht nicht ohne Grund von the „fullest nineteenth-century portrait of a man’s inner life – his rebellion and his suffering, his loneliness and jealousy, his paranoia and despair, his uncontrollable unconscious“19, und Geoffrey Thurley nennt The Mayor of Casterbridge „Hardy’s
16 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 100. 17 Julian Wolfreys: „Introduction“, in: ders. (Hrsg.): New Casebooks. The Mayor of Casterbridge, Houndmills/London 2000, S. 1-20, hier S. 2. 18 Siehe u.a. Marjorie Garson: Hardy’s Fables of Integrity, Oxford 1991, S. 94. 19 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 101.
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greatest single novel“, erklärt dies aus seinen „psychological preoccupations“20 und konstatiert, [that t]here is no absolute difference between the fate of Michael Henchard and that of Tess, or Giles Winterborne, or Jude Fawley. But none of these other characters comes up against reality in the form of his own spiritual, archetypal opposite quite so starkly as Michael Henchard does.21
Last but not least entwirft Hardy in The Mayor of Casterbridge mit Michael Henchard und Donald Farfrae zwei Protagonisten, die ebenso prononcierte wie gegensätzliche Konzeptionen von Männlichkeit vertreten und als Repräsentanten einer Old sowie einer New Order gelesen werden können, während der von der Kritik z.T. vernachlässigte Roman gleichzeitig „the beginning of what was to be the richest period in Thomas Hardy’s twenty-five-year career as a novelist“22 markiert. Da sich The Mayor of Casterbridge auf einer ersten Ebene als ein Text voller literarischer Anspielungen erweist, wurden von der Kritik nicht nur die unterschiedlichsten Tragödienkonzeptionen, sondern bezüglich des Protagonisten auch zahlreiche Vergleiche an das Werk herangetragen. So wird Michael Henchard nicht selten mit Ödipus, mit alttestamentarischen Gestalten, mit King Lear, John Miltons Satan oder etwa der Hauptfigur der Fortuna-Tragödien verglichen, und zu Recht schreibt Marjorie Garson, „[that t]he common impression that The Mayor of Casterbridge is the most controlled and shapely of Hardy’s novels depends upon the reader’s recognition of the conventions of classical and Shakespearian tragedy.“23 Als ein ebenso erstaunliches wie spezifisches Kennzeichen für Hardys Text erweist sich zudem die Tatsache, dass er eigentlich ‚gewagtes‘ Material wie „pregnancy, illicit sexual relationships, illegitimacy, and even the possibility of homoerotic attraction“ auf eine Art und Weise behandelt, „that the text has traditionally been judged particularly appropriate for teaching to high-
20 Geoffrey Thurley: The Psychology of Hardy’s Novels, St. Lucia/Queensland 1975, S. 130. 21 Ebd., S. 133. 22 Keith Wilson: „Introduction“, in: Thomas Hardy: The Mayor of Casterbridge. The Life and Death of a Man of Character, London 1997, S. xxi-xli, hier S. xxi. Alle Zitate aus The Mayor of Casterbridge sind aus dieser Ausgabe und werden im Folgenden direkt im Text mit der Sigle M plus Seitenzahl abgekürzt. 23 Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 94.
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school students.“24 Angesichts der hieraus resultierenden vermeintlichen ‚Ungefährlichkeit‘ und ‚Asexualität‘ von Hardys The Mayor of Casterbridge stellt sich die Frage, ob ein Roman über einen explizit patriarchalen Titelhelden, ein Roman, der sich unter Novalis’ Diktum „Character is Fate“ darauf konzentriert, den Showdown zweier gegensätzlicher Männer und Charaktere zu demonstrieren, wirklich ohne ‚Männlichkeit‘ bzw. männliche Sexualität auskommt oder ob sich diese nicht vielmehr in einer indirekten, das heißt uneingestandenen, sublimierten oder transformierten Form durch den Roman zieht. Wenn J. Hillis Miller The Mayor of Casterbridge als „a nightmare of frustrated desire“ bezeichnet, Ian Gregor in dem Roman „one of the very few major novels“ sieht, „where sexual relationships are not [...] the dominant element“, und Robert Langbaum „a minimum of sexual feeling in the novel as a whole and almost an absence of it in the main character Henchard“25 auszumachen glaubt und darüber hinaus von einem für Hardy atypischen „turn away from sexuality“ spricht, so muss gefragt werden, ob die bei einem patriarchalen Charakter wie Henchard ebenso latente wie virulente Problematik sexueller Identität vielleicht nur durch die den Blick des Literaturkritikers eventuell monopolisierenden literarischen Anspielungen sowie die verschiedenen Tragödienkonzeptionen verdeckt wird, sich in Wirklichkeit jedoch auf einer weniger offensichtlichen subtextuellen Ebene Bahn bricht. Nicht ohne Grund stimmen viele Kritiker darin überein, dass Hardy mit Michael Henchard eine der eindrucksvollsten Gestalten seines Gesamtwerks entworfen hat: Todd E. Jones sieht in Henchard „the most tragic of Hardy’s male characters“26, und Albert Guerard vergleicht ihn mit Joseph Conrads Protagonist Lord Jim und konstatiert, er stehe „at the very summit of his creator’s achievement; his only tragic hero and one of the greatest tragic heroes in all fiction.“27 Garson bezeichnet Henchard als „eminently male“ und als „‚constructed upon too large a scale‘ to observe the minutiae of female behaviour.“ Sie fügt hinzu, „[that t]he novel encodes Henchard as a real man by setting him against the
24 Ebd., S. 96. 25 J. Hillis Miller: Thomas Hardy. Distance and Desire, London 1970, S. 148; Ian Gregor: „Introduction“, in: Thomas Hardy: The Life and Death of the Mayor of Casterbridge. A Story of a Man of Character, The New Wessex Edition, London 1991, S. xixxviii, hier S. xv; Robert Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality in The Mayor of Casterbridge“, in: The Thomas Hardy Journal 8/1 (1992), S. 20-32, hier S. 20. 26 Todd E. Jones: „Michael Henchard: Hardy’s Male Homosexual“, in: Victorian Newsletter 86 (1994), S. 9-13, hier S. 9. 27 Albert Guerard: Thomas Hardy, New York 1964, S. 146.
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smaller, younger, more ambiguous figure“28 namens Donald Farfrae. Für Frank R. Giordano Jr. ist „Hardy’s realization of his [Henchard’s] virility [...] justly admired and praised“29 und Hardy’s splendid male creation [...] worthy to stand beside his Tess Durbeyfield and Eustacia Vye. With his audacious sale of his wife, Michael Henchard seizes command of the novel in the opening chapter at the furmity tent, and with his virility, aggressive energy, and ambivalent passions dominates the book.30
Dass gerade Henchard über eine starke Sexualität verfügt, die wie auch immer umgelenkt, verdrängt oder sublimiert wird,31 macht der Roman exemplarisch anhand der Szene deutlich, in der ein wildgewordener Bulle Lucetta und ElizabethJane bedroht, Henchard diesen mit seiner reinen Körperkraft unterwirft und ihm fast das Genick bricht: Aware of the ‚brute force‘ of his own passions, sexual and otherwise, Henchard is the ‚father‘ who reverences ‚insemination‘ by recognizing that the energy of passion is not to be expunged from his being, but to be wrestled under control, so that desire does not ravish its object.32
Völlig zu Recht weist Jones darauf hin, dass Henchards Tragödie auf einer ersten Ebene „unconsciously […] through a punitive and self-destructive impulse“ heraufbeschworen, dass sie jedoch erst auf einer zweiten Ebene, nämlich „in its derivative sexual context“, wirklich verstehbar wird.33 Trotz der Kritik von Langbaum, Hillis Miller und Gregor scheint also für eine Vielzahl von Kritikern die Virilität von Henchard mehr als evident zu sein, und selbst Hardy schreibt in seinem Vorwort: „The story is more particularly a study of one man’s deeds and character than, perhaps, any other of those included in my Exhibition of Wessex life“ (M, 379). Durch die umstrittene Koin-
28 Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 97 (Herv. von mir). 29 Frank R. Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘. Thomas Hardy’s Self-Destructive Characters, Tuscaloosa 1984, S. 94. 30 Ebd., S. 78 (Herv. von mir). 31 Siehe Perry Meisel: Thomas Hardy. The Return of the Repressed. A Study of the Major Fiction, New Haven/London 1972, S. 96. 32 Earl G. Ingersoll: „Writing and Memory in The Mayor of Casterbridge“, in: English Literature in Transition/ELT 33/3 (1990), S. 299-309, hier S. 306. 33 Jones: „Michael Henchard“, S. 9.
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zidenz der Präsenz eines scheinbar übermächtigen und energiegeladenen männlichen Protagonisten mit der vermeintlichen Absenz männlicher Sexualität ist The Mayor of Casterbridge für eine Untersuchung aus Perspektive der Masculinity Studies ebenso interessant wie durch die von T.R. Wright konstatierten Fakten, dass im Roman die Beziehung zwischen den Männern, nämlich Henchard und Farfrae, im Vordergrund steht, dass Henchards Beziehung zu Farfrae „never an avowedly homosexual relationship“ darstellt, sich dem jedoch stark annähert, und dass Henchards Männlichkeit letztlich wesentlich komplexer ist als er selbst und viele seiner Kritiker einzuräumen bereit sind.34 So nennt Showalter Henchard sogar explizit einen New Man, meint damit jedoch weniger ein ‚Gegenstück‘ zur New Woman als einen die phallogozentrische symbolische Ordnung verkörpernden Patriarchen, der zahlreichen Kastrations- und Lernprozessen unterworfen wird. Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, dass The Mayor of Casterbridge als ein Text, in dem das Wort „unmanned“ bezeichnenderweise gleich mehrfach auftaucht, sehr wohl die Frage nach „the nature of ‚manliness‘“ stellt und in seiner „exploration of the whole spectrum of human sexuality“ sowohl „traditional gender-roles“ als auch jede „conventional morality“ unterminiert.35
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VERKAUFTE W EIBLICHKEIT UND DIE U NTERDRÜCKUNG MÄNNLICHEN B EGEHRENS Bereits zu Beginn des Romans erscheint Michael Henchard als „a classic male chauvinist“36, der sich von seiner Frau und seiner Tochter bewusst absondert und es beim gemeinsamen Fußmarsch vorzieht zu lesen. Seine Frau Susan, die sich „as close to his side as was possible without actual contact“ (M, 4) hält, ist eindeutig an diese Art der Behandlung gewöhnt. Könnte man dieses Verhalten Henchards vielleicht noch spekulativ durch eine zu große, den Mann zum Außenseiter machende Nähe zwischen Mutter und Tochter erklären, so legt Henchards in der nächsten Szene erfolgender Verkauf seiner Frau und Tochter auf dem Markt von Weydon eindeutig die Machtverhältnisse klar. Zwar ist Hardys Protagonist beim Verkauf seiner Familie alkoholisiert, doch entschuldigt dies
34 S.T.R. Wright: Hardy and the Erotic, Houndmills 1989, S. 78; siehe auch Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S.114 sowie die Ausführungen bei Jones: „Michael Henchard“ sowie Ingersoll: „Writing and Memory“. 35 Wright: Hardy and the Erotic, S. 72. 36 Ebd., S. 73.
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sein Handeln nicht, da er eine schon des Öfteren geäußerte Drohung wahrmacht, mehrfach versucht, einen Käufer zu finden, und seine Frau zum Objekt in einer peepshow degradiert, indem er sie auffordert: „Now then, stand up, Susan, and show yourself“ (M, 11). Das im Zelt der „furmity woman“ stattfindende male bonding wird durch eine gemeinsame Ablehnung von Weiblichkeit erreicht, und auch die den Verkauf der Ehefrau begleitenden Gesprächsthemen der Männer sind eindeutig misogyn und stempeln die Frau – und somit Weiblichkeit per se – als für den Mann und seine Entwicklung schädlich ab: The conversation took a high turn, as it often does on such occasions. The ruin of good men by bad wives, and, more particularly, the frustration of many a promising youth’s high aims and hopes and the extinction of his energies by an early imprudent marriage, was the theme. (M, 9)
Übereinstimmend argumentieren Kritiker wie Irving Howe, Elaine Showalter und T.R. Wright, Henchard agiere mit diesem Verkauf „a deep masculine wish“ und „a common ‚male fantasy‘“ aus.37 Der bereits vorher angedrohte, kalkulierte und auch im Nachhinein nie wirklich bereute Verkauf der Ehefrau spiegelt the male longing to exercise his property rights over women, to free himself from their burden with virile decision, to simplify his own conflicts by reducing them to ‚the ruin of good men by bad wives‘.38
Indem es Henchard als einziger Mann in dem Zelt tatsächlich wagt, eine ‚Männerphantasie‘ auszuagieren, erreicht er eine unmenschliche Hypermaskulinität, die sich aus der absoluten Kontrolle des zum Verkauf angebotenen anderen Geschlechts speist. Indem jedoch der Frau vorgeworfen wird, den Mann seiner
37 Irving Howe: Thomas Hardy, London 1968. Ebd., S. 84: „To shake loose from one’s wife; to discard that drooping rag of a woman, with her mute complaints and maddening passivity; to escape not by a slinking abandonment but through the public sale of her body to a stranger, as horses are sold at a fair; and thus to wrest, through sheer amoral willfulness, a second chance out of life – it is with this stroke, so insidiously attractive to male fantasy, that The Mayor of Casterbridge begins.“ 38 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S 102; siehe auch Kevin Z. Moore: „Death against Life: Hardy’s Mortified and Mortifying ‚Man of Character‘ in The Mayor of Casterbridge“, in: Ball-State-University-Forum/BSUF 24/3 (1983), S. 13-25.
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Aufstiegschancen und Energie zu berauben, ihn also zum Opfer zu machen, wird im Umkehrschluss auch deutlich, dass der Mann, wenn überhaupt, dann Opfer seiner eigenen Sexualität wird. Was Henchard jedoch in dieser kurzen, von Alkohol dominierten Szene offenlegt39 und was er in nüchternem Zustand nur in sehr viel abgeschwächter Form manifestiert, sind neben seiner später direkt eingestandenen Misogynie auch seine „ambiguous sexuality“ und sein „need for male bonding“, wenn nicht mehr.40 Zwar darf dies offiziell weder von Henchard noch vom Text eingestanden werden, doch bleibt dieser in seiner Darstellung des Protagonisten bemerkenswert ambivalent, wenn er zeigt, dass Henchard nur halbherzig versucht, seine Frau wiederzufinden,41 im Grunde die Verantwortung für ihren Verkauf zurückweist bzw. erst den Alkohol und dann das Opfer selbst für die Geschehnisse verantwortlich macht. Bereits hier arbeitet Henchard sehr stark mit Projektionen, die sich letztlich gegen ihn selbst wenden,42 da er immer
39 Vgl. ebd., S. 18f.: „His oath not to drink liquor for twenty years is, itself, a strong indication that he is energized by the Death Wish. Liquor, that Dionysian intoxicant, is, for Henchard, a Hermetic drug. Under its influence, he speaks his deepest wish, to be free of woman, of family, of Eros. All one need do to realize just how perverse a wish Henchard is granted […] is to imagine the usual erotic course of events: a man drinks too much and usually desires to procure a woman. But Weydon is a fabulous place of inversions, where the drunken man rids himself of Love.“ 40 Vgl. Jones: „Michael Henchard“, S. 10, der auf die Wirkung der Droge Alkohol verweist, die die Zensurschranke bzw. die Unterdrückungsmechanismen der Psyche lockert und latent vorhandene Tendenzen wie „hidden homosexual inclinations“ erkennbar werden lässt. Siehe auch Leon Salzman: „‚Latent‘ Homosexuality“, in: Judd Marmor (Hrsg.): Sexual Inversion, New York 1965, S. 234-247, hier S. 238. 41 M, 18. Vgl. Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 81. 42 „Invariably the break in a relationship occurs when Henchard, giving in to his passion, is ‚not in his senses.‘ Always, the ‚other person‘ is blamed for the break – at first. Lucetta’s indiscretion, Farfrae’s arrogation of Henchard’s authority and influence, Elizabeth’s scandalous language and attraction to Farfrae: all provide Henchard with temporary justification for his ill treatment of them. But his tendency to exonerate himself and conceal his errors gives way to the essentially moralistic mayor’s greater need to repair his wrongs and punish himself“ (ebd., S. 82f.). Vgl. auch Jane Lilienfeld: „‚I Could Drink a Quarter-Barrel to the Pitching‘: The Mayor of Casterbridge Viewed as an Alcoholic“, in: dies./Jeffrey Oxford (Hrsg.): The Languages of Addiction, Houndmills/London 1999, S. 225-244, hier S. 234. Lilienfeld argumentiert, „[that] Henchard also handles his depressions by formulating external situations as the problem and becoming enraged about them.“
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wieder die Schuld für seine Handlungen beim Anderen sucht, sich dann jedoch regelmäßig selbst anklagt, um zu büßen.43 Im Gegensatz zum eher unterkühlt wirkenden Schotten Donald Farfrae, seinem späteren Widersacher, wird der ‚herzliche‘ Henchard, ähnlich wie Heathcliff in Wuthering Heights, durch Metaphern aus dem Bereich des Geologischen charakterisiert, was auf eine ihm unbewusste und von ihm nicht kontrollierbare Tiefen- bzw. Triebstruktur schließen lässt. Im Text ist von „the unruly volcanic stuff beneath the rind“ (M, 110) seiner Persönlichkeit die Rede, werden Lavaströme ‚heraufbeschworen‘, die sich in mächtigen Eruptionen Bahn brechen, sobald die von Henchard etablierte symbolische Ordnung des cash nexus und der strikten Sublimierung sexuell-emotionaler Regungen brüchig wird. Dem entspricht, dass Henchards Wutausbrüche gegenüber den vernachlässigbaren ‚Unzulänglichkeiten‘ seiner Stieftochter Elizabeth-Jane vom Text als „small protruding needle-rocks“ (M, 128) bezeichnet werden und der Erzähler Henchard auch an anderer Stelle als „the kind of man“ bezeichnet, „to whom some human object for pouring out his heat upon – were it emotive or were it choleric – was almost a necessity“ (M, 122). Nicht nur aus diesen Gründen attestiert Kevin Z. Moore Henchard eine „incoherence on the level of identity“ und ein „self [which] is a mixed metaphor of qualities which are partially bound and always in the process of unbinding, thus prohibiting a stable, synthesized cogito.“44 Indem sich Henchard von seiner Frau trennt, wird es ihm ermöglicht, ein neues Leben zu beginnen, ohne dass er auf andere Menschen Rücksicht nehmen muss. Gleichzeitig versucht der Text durch Sympathielenkung zumindest ansatzweise den männlichen Leser zu seinem Komplizen zu machen. Dies verdeutlicht Howe, wenn er „the depths of common fantasy, [which] […] summons blocked desires and transforms us into secret sharers“, betont und unterstreicht, „[that] we have been drawn into complicity with the forbidden.“45 Und in der Tat hat die Hardy-Kritik den Verkauf der Frau wohl, den der Tochter jedoch kaum kommentiert; auch wäre das Echo sicherlich empörter ausgefallen, hätte Henchard statt seiner Tochter einen Sohn verkauft. Wenn der Roman nicht so weit geht, dann nur deshalb, weil der Verkauf eines Sohnes nicht mehr das Ausagieren einer Männerphantasie, sondern ein direkter Verstoß gegen die patriar-
43 Vgl. Giordani Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 82f. 44 Moore: „Death against Life“, S. 20; vgl. ebd.: „His overdetermined, polysemous character marks him as unformed, deformed, and always in the act of de-forming, of undoing himself.“ 45 Howe: Thomas Hardy, S. 85.
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chale Gesellschaftsordnung gewesen wäre.46 Es gilt von daher festzuhalten, dass Henchards doppelter Verkauf von Weiblichkeit ihn in die Lage versetzt, zum „new Adam, reborn, self-created, unencumbered“47 zu werden, der sein ‚neues‘ Leben einer reinen Männergesellschaft widmen kann, da er mit dem Verkauf seiner Familie auch seine eigenen ‚weiblichen Anteile‘, seine ‚Bindungsenergie‘ sowie sein Bedürfnis nach Nähe, Wärme und Zuneigung aufgegeben hat.48 Paul Goetsch argumentiert richtig, dass Henchards „Sündenfall“ einen „Triumph des rücksichtslosen Individualismus“ darstellt, „den er selbst als Sieg seiner Männlichkeit interpretiert“ und der „neben seiner Tüchtigkeit Voraussetzung für seinen Erfolg im kapitalistischen System“ ist. Darüber hinaus hat der Verkauf von Frau und Tochter die Unterdrückung von Henchards Liebesverlangen „zur Folge und erzeugt Schuldgefühle, die sein Streben nach bürgerlicher Respektabilität verständlich machen.“49 Vereinfacht und systematisiert könnte man formulieren, dass das Symbolische hier an die Stelle des Semiotischen tritt und der Text dies von Anfang an vorbereitet: Herrscht bereits in der Eröffnungsszene zwischen Mutter und Kind eine Beziehung der Nähe und Wärme, so vermeidet Henchard nicht nur während des Fußmarsches jeglichen Kontakt und zieht das gedruckte Wort der Unterhaltung vor; auch der Verkauf seiner Familie erfolgt kraft des (Herren-)Wortes, dem sich seine Frau unterwirft und dessen Bedeutung für sie über Jahre hinweg ungebrochen bleibt, da sie den Verkauf für juristisch bindend hält. Signifikanterweise ist Henchard am Tag nach dem Verkauf auch weniger um den Verbleib seiner Frau als darum besorgt, dass er seinen Namen genannt haben könnte – „‚Did I tell my name to anybody last night, or didn’t I tell my name?‘ he said to himself; and at last concluded that he did not.“ (M, 17) –, und schwört dann – wieder eine Tat des Wortes –, 21 Jahre lang keinen Alkohol mehr zu trinken. Durch seinen auf den Herrenworten der Bibel erfolgten Schwur (M, 18) unterwirft sich Henchard einer strengen symbolischen Ordnung, die seinen Aufstieg zum reichen Kornhändler und Bürgermeister von Casterbridge erst ermöglicht. Henchard geht also einen keineswegs uneigennützigen Pakt ein: Einerseits will er durch Enthaltsamkeit und den Verzicht auf ein sexuelles Ausleben seiner Libido Buße tun, andererseits erwartet er dafür finanziellen Erfolg, der ihn wiede-
46 Vgl. Charles K. Hofling: „Thomas Hardy and The Mayor of Casterbridge“, in: Comprehensive Psychiatry 9 (1968), S. 428-439, hier S. 431. 47 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 103. 48 Vgl. Wright: Hardy and the Erotic, S. 73. 49 Paul Goetsch: Hardys Wessex-Romane. Mündlichkeit, Schriftlichkeit, kultureller Wandel, Tübingen 1993, S. 220f.
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rum als Mann aufwertet.50 Hierbei stellt sich die Frage, ob Henchards Versuch, Erfolg zu haben und seine Emotionen wie auch Mitmenschen zu kontrollieren, in Verbindung mit seiner ‚Hypermaskulinität‘ – er ist nicht nur der ‚männlichste‘ Mann in Weydon, sondern im gesamten Roman, da er nicht nur mit Weizen, sondern auch mit Frauen handelt – vielleicht aus seiner Ablehnung von Weiblichkeit gespeist wird. Henchards vom Text belegte Misogynie – Stichwort: „woman-hater“ (M, 76) – könnte ihrerseits als eine Überkompensation zahlreicher Schwächen und Ängste angesehen werden, die sich aus einer unsicheren männlichen Identität speisen, denn in der Tat bricht Henchards ‚Reich‘ erst zusammen, als sich Farfrae51 sowie Susan, Elizabeth-Jane und Lucetta als Verkörperung des Semiotischen, des Ausgegrenzten und Verdrängten der patriarchalen Ordnung eines als naturfeindliche männliche Festung und metonymische Extension von Henchard beschriebenen Casterbridge nähern.52 Den ankommenden Frauen wird der „Mayor of Casterbridge“ als das Ergebnis seines frühen „cursed pride“ und seiner „mortification at being poor“ vorgestellt, als ein „celebrated abstaining worthy of that name“, ein „powerful mind“ und „a lonely widow man“ (M, 34). Henchards „haughty indifference to the society of womankind, his silent avoidance of converse with the sex“ (M, 80) sind stadtbekannt und seine „emotions [...] rusty, peering out with difficulty through heavy bars of repression.“53 Moore arbeitet als „the narrative’s generative and operative intention, the organizing awareness that produces and structures the narrative […] one infinitive phrase and its complement“ heraus, nämlich „to sell Eros, to buy Thanatos“. Er argumentiert, Henchard habe mit seiner Frau und seiner Tochter auch seinen Eros – verstanden als „the fundamental coalescing energy of self and of society“ – verkauft, ohne den jedoch „existence, order, harmony, and sta-
50 „Financial success, in the mythology of Victorian manliness, requires the subjugation of competing passions. If it is marriage that has threatened the youthful Henchard with ‚the extinction of his energies‘ […] a chaste life will rekindle them.“ (Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 105). 51 Dass auch Farfrae nicht verdrängte, jedoch klar ‚kanalisierte‘ semiotische Elemente aufweist, wird sowohl anhand seiner Musikalität als auch seines Umgangs mit Mitmenschen, beispielsweise der Schäferfamilie, sowie explizit durch seine „famous twostranded nature“ verdeutlicht. Vgl. Dale Kramer: „Character and the Cycle of Change in The Mayor of Casterbridge“, in: Tennessee Studies in Literature 16 (1971), S. 111120. 52 Zu den Analogien zwischen Henchard und Casterbridge siehe ausführlich Horlacher: Masculinities, S. 508f. 53 Wright: Hardy and the Erotic, S. 75.
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bility“54 nicht möglich sind. Durch den frühen Verkauf seiner ‚weiblichen Anteile‘ und die Unterdrückung seiner Sexualität – „being by nature something of a woman-hater, I have found it no hardship to keep mostly at a distance from the sex“ (M, 76; vgl. auch 77) – transformiert Henchard diese im wahrsten Sinn des Wortes in Geld.55 Problematisiert wird diese Lebensweise jedoch durch das von ihm nicht kontrollierbare ‚Drängen des Verdrängten‘, durch die Interaktion mit Männlichkeit und Weiblichkeit, die als Donald Farfrae sowie als seine verstoßene Frau Susan, deren Tochter Elizabeth-Jane und seine frühere Geliebte Lucetta ebenso überraschend wie geballt in sein Leben eingreifen. Langbaum argumentiert zu Recht, es sei unglaubwürdig, „that a man so virile in body and in superabundance of energy should show so little [sexual] interest“ und verweist darauf, dass sich die Bürger von Casterbridge bei Henchards Sturz wundern, „how admirably he had used his one talent of energy to create a position of affluence out of absolutely nothing“ (M, 218). Langbaum ist auch zuzustimmen, wenn er spekuliert, Henchards „violently explosive behaviour might be attributed to sexual repression.“ Seine Schlussfolgerung, dass diese Spekulation jedoch unwahrscheinlich sei,56 muss allerdings ebenso hinterfragt werden wie Dale Kramers These, „[that] Henchard’s needs do not include sexual or romantic love“57, wobei einzuräumen ist, dass Henchard gezielt jegliche Beziehungen vermeidet, die sein männliches Selbstbild und seine Macht erschüttern könnten, und dass seine einzige Liebesbeziehung, die Affäre mit Lucetta, aus seiner Erkrankung bzw. einem Schwächezustand resultiert.58 ‚Verletzlich‘ ist Henchard nur, wenn er „symbolically unmanned by a fit of illness and depression“59 ist und sich seine ebenso eruptiven wie depressiven Schichten Bahn brechen: „I sank into one of those gloomy fits I sometimes suffer from, on ac-
54 Moore: „Death against Life“, S. 13. 55 „When we first see him, he is not a man erotically alive, but a function plugged into the machinery of the town. […] At Casterbridge, Henchard’s connections are always and most significantly cash-nexus, never love-bonds“ (Ebd., 15). 56 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 21. 57 Dale Kramer: „Introduction“, in: Thomas Hardy: The Mayor of Casterbridge, New York 1987, S. xiv. 58 Siehe M, 77 sowie Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 108: „At these moments, his proud independence is overwhelmed by the woman’s warmth; he is forced into an emotionally receptive passivity. Yet affection given in such circumstances humiliates him; he needs to demand or even coerce affection in order to feel manly and esteemed.“ 59 Ebd.
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count o’ the loneliness of my domestic life, when the world seems to have the blackness of hell, and, like Job, I could curse the day that gave me birth“ (M, 77). Vor allem diese seinem Antagonisten Farfrae unbekannten emotionalen Schwankungen zeugen, wenn nicht von einer medizinisch diagnostizierbaren Erkrankung,60 so doch zumindest von der Abspaltung und Unterdrückung von Henchards weiblichen psychischen Anteilen, so dass er der von ihm abgewehrten weiblichen Elemente förmlich bedarf, um sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen. Bewusst wird ihm dies jedoch nicht, vielmehr bleibt sein Verhalten von einem Zwang geprägt, zu kontrollieren und zu dominieren. Jones spricht diesbezüglich von Henchards „compulsive need for power over women“, was weniger auf Frauenhass, denn auf tiefliegende Unsicherheiten bzgl. seiner männlichen Identität schließen lässt: „There is an obvious insecurity in Henchard’s struggle to avoid any gender ambiguity in his personality or behavior.“61 Jones verweist weiter auf Henchards „faltering sense of masculinity“, der sich in Form einer als rigider asexueller Schutzpanzer entworfenen symbolischen ‚Männlichkeit‘ manifestiert. Henchards misogyne Tendenzen allein reichen jedenfalls nicht aus, um seine absolute Distanz zur Weiblichkeit und seine starke Einbindung in den cash nexus einer patriarchalen Ordnung völlig zu erklären. Wenn dessen ungeachtet aber Henchards sexuelle Energien in sein aggressives Streben nach Erfolg und finanziellem Reichtum umgelenkt werden – „his ‚heat‘ had been poured out upon business“62 –, so stellt sich angesichts der Tatsache, dass Henchard eindeutig männliche Gesellschaft bevorzugt und zu Farfrae eine mehr als ambivalente Beziehung aufbaut, die Frage, welcher Art das von ihm sublimierte Begehren eigentlich ist.
60 Von Teilen der Hardy-Kritik ist Henchard abwechselnd als alkoholabhängig, masochistisch, suizidal, melancholisch oder manisch-depressiv eingeschätzt worden. Vgl. Wilson: „Introduction“, S. xxiv, der von „a constitutional rather than situational cause for his [Henchard’s] gloom“ ausgeht. Zur Alkoholabhängigkeit vgl. Lilienfeld: „‚I Could Drink a Quarter-Barrel to the Pitching‘“, zur Melancholie vgl. Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 79f. 61 Jones: „Michael Henchard“, S. 10; vgl. ebd.: „Especially careful of his masculine identity, he avoids any discourse in which the balance of power might threaten his feelings of control and superiority.“ 62 Kramer: „Introduction“, S. xv.
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H OMOEROTISCHES B EGEHREN , TAKES MY FANCY HE TAKES IT
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ODER :
„ WHEN A MAN STRONG “ (M, 63)
Kontrolliert Henchard sowohl Casterbridge, seine Mitmenschen als auch seine eigenen Gefühle, so wird dieses Regime durch das Auftauchen von Donald Farfrae erschüttert. Wobei der sich zum Antagonisten von Henchard entwickelnde Farfrae entgegen der Aussage des Erzählers – „Farfrae’s character was just the reverse of Henchard’s“ (M, 112; vgl. auch 77) – nicht rein antithetisch zu Henchard konzipiert ist. Kramer spricht von „remarkable parallels in the constitution of these characters [which have] been largely overlooked by generations of readers“63, denn einerseits kommt Farfrae wie ein deus ex machina Henchard uneigennützig zu Hilfe als dieser wegen seines verdorbenen Weizens in Bedrängnis gerät, andererseits haben weder Henchard noch Farfrae eine Vergangenheit. Während Henchard diese bewusst verschweigt, ist von Farfrae nur bekannt, dass er nach Amerika auswandern will, es eilig und als Gepäck nur eine mysteriöse Reisetasche hat. Durch ihren Werdegang entsprechen beide Protagonisten den ‚Lieblingsfiguren des viktorianischen Romans‘, nämlich gesellschaftlichen Aufsteigern und self-made men. Wie Henchard ist Farfrae ein Neuankömmling in Casterbridge, wie Henchard wird er Kornhändler, Bürgermeister, geht Bindungen mit denselben Frauen ein, wohnt im gleichen Haus und wird ein Repräsentant der gesellschaftlichen Entwicklung. Zudem ist beiden die Gefühlskontrolle und Affektbeherrschung wichtig. Während Farfrae oft als kalt oder emotionslos erscheint und in der Regel zwischen Gefühlen und Geschäften trennt, verdankt Henchard seinen gesellschaftlichen Aufstieg ausschließlich seinem Schwur, seiner Energie und seiner Verdrängung von Weiblichkeit. Goetsch sieht in beiden Protagonisten „berechnende Kaufleute. Henchard ist freilich emotionaler und zugleich je nach Situation herzlicher wie rücksichtsloser. Farfraes von Gefühlskontrolle gekennzeichnete Art läßt ihn oberflächlicher und distanzierter erscheinen, ist andererseits aber für einen zivileren Umgang mit anderen Menschen verantwortlich.“64 Wenn Henchard, ähnlich wie Farfrae, stellenweise psychologisch blass bleibt, so liegt dies nicht (allein) daran, dass er in The Mayor of Casterbridge wenig detailliert beschrieben würde; es liegt vielmehr an seiner durch Verdrängung erreichten Abwesenheit von Emotionen, die in ihm eine in seinen Augen nur materiell und über Machtrelationen zu füllende Leere schafft:
63 Kramer: „Character and the Cycle of Change“, S. 114. 64 Goetsch: Hardys Wessex-Romane, S. 222f.
196 | S TEFAN H ORLACHER It is an absence of feeling which Henchard looks to others to supply, a craving unfocused loneliness rather than a desire towards another person. Henchard does not seek possession in the sense that he desires the confidences of others; such reciprocity as he requires, he coerces. What he wants is a ‚greedy exclusiveness‘ […], a title; and this feeling is stimulated by male competition.65
Doch Henchards Mittel, sein Begehren zu lindern, sind inadäquat, da sie ähnlich wie auch seine Charakterkonzeption66 im Habens- statt im Seins-Modus operieren67 und er einen manque à être mit einem manque à avoir verwechselt. Seinem dem Habens-Modus verhafteten Denken entspricht, dass er seine Frau zurückkauft, dass er dabei aus seiner moralischen Verpflichtung und seinem Verantwortungsbewusstsein, nicht aber aus Liebe heraus handelt, und dass er Lucetta Geld schickt, als er realisiert, dass er sie nicht heiraten kann. Henchard führt, so könnte man mit D.H. Lawrence argumentieren, eine Existenz des death-inlife, in der menschliche Beziehungen immer dem Gesetz des Tauschwertes unterworfen sind. Dem entspricht, dass die Frau, die Henchard schließlich ein zweites Mal heiratet, selbst kaum mehr als ein Geist – „Mrs. Henchard was so pale that the boys called her ‚The Ghost‘“ (M, 80) –, „a mere skellinton“ (M, 82) und eine „pale creature“ (M, 81) ist, für die er keine Liebe empfindet, weshalb auch seine ‚Werbung‘ um sie „with business-like determination by the Mayor, who seemed to have schooled himself into a course of strict mechanical rightness towards this woman“ (M, 79f.), durchgeführt wird und völlig ohne „amatory fire or pulse of romance acting as stimulant“ (M, 81) auskommt. Vor diesem Hintergrund wird schnell deutlich, dass Farfrae bei Henchard mehr Gefühle der Zuneigung, wenn nicht sogar der Liebe auslöst als irgendeine weibliche Figur.68 Zu Beginn ihres Zusammentreffens sieht Henchard in Farfrae einen jüngeren Bruder und sogar potentiellen Nachfolger – „Your forehead, Farfrae, is something like my poor brother’s – now dead and gone; and the nose,
65 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 106. 66 „In entering into economic transactions, Henchard is put into a process of becoming a man of ‚character‘, ‚credit‘ and ‚standing‘, which three figures are virtually synonymous“ (Wolfreys: „Introduction“, S. 17). 67 „Henchard’s external soul effectively metaphorizes an entire cultural malaise generated by getting and spending. The mayor of Casterbridge is, in all his incarnations, the epitome of Homo economicus, whose character is predicated upon filthy lucre and the position and power it can buy“ (Moore: „Death against Life“, S. 21). 68 Siehe auch Simon Gatrell: „The Mayor of Casterbridge: The Fate of Michael Henchard’s Character“, in: Wolfreys (Hrsg.): New Casebooks, S. 48-79, hier S. 62.
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too, isn’t unlike his“ (M, 47) –, dem seine tiefsten Gefühle gehören „[and] with whom he quickly contracts a business relationship that has the emotional overtones of a marriage.“69 „To be sure, to be sure, how that fellow does draw me“ (M, 56), murmelt Henchard, als er vor Farfraes Hotel steht und dessen Gesang signifikanterweise durch „the heart-shaped holes in the windowshutters“ (M, 56; Herv. von mir) hört. Zwar versucht der Protagonist, seine Gefühle für den Schotten zu rationalisieren – „I suppose ’tis because I’m so lonely“ (M, 56) – und seine Emotionen als „male camaraderie“ auszugeben, doch sind sie ebenso eindeutig – „when a man takes my fancy he takes it strong“ (M, 63; vgl. auch 56) – wie seine Versuche, Farfrae zum Bleiben zu bewegen. Natürlich ist von Henchards Seite – „there is more [...], hang it, Farfrae, I like thee well!“ (M, 63) – mehr als nur pekuniärer Eigennutz im Spiel. Die Tatsache, dass Farfraes Hand während der ganzen Zeit passiv in der von Henchard ruht (M, 62f.), trägt genauso zur Zweideutigkeit der Situation bei wie Farfraes Erröten und seine Bezugnahme auf die Vorsehung: „His face flushed. ‚I never expected this – I did not!‘ he said. ‚It’s Providence! Should any one go against it? No; I’ll not go to America; I’ll stay and be your man!‘“ (M, 63). Your man or your wife? müsste man eigentlich fragen, denn Henchard reagiert wie ein erhörter Liebhaber: „The face of Mr. Henchard beamed forth a satisfaction that was almost fierce in its strength. […] Henchard was all confidence now.“ (M, 63) Da er sich jedoch schon viel früher von seiner (verkauften) weiblichen Seite beziehungsweise den Bindungskräften des Eros getrennt hat, kann er „the romantic Scot“ auch nur „a business deal in place of genuine friendship, a contract that is the first of four attempts to buy love“70, anbieten. Dass er seine neue ‚Errungenschaft‘ – ähnlich wie Susan und Lucetta über einen Ehevertrag – vertraglich zu binden sucht,71 überrascht deshalb genauso wenig wie sein Insistieren darauf, dass Farfrae in seinem Haus wohnen soll (M, 64; siehe auch 110f., 58). Verweist Langbaum darauf, „[that] Henchard’s sudden passion for Farfrae, which is striking after his coolness toward women, suggests homosexuality on his side“72, so betont auch Giordano Jr. die Komplexität der Beziehung zwischen den beiden Männern:
69 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 106. 70 Moore: „Death against Life“, S. 21. 71 M, 63; vgl. Moore: „Death against Life“, S. 22: „In purchasing the brothersubstitute, he tries to acquire his lost fraternal past, his familial Eros. […]. He never captures Farfrae’s heart; he tries to buy it. Their relationship is aptly described by the narrator as a ‚mechanical friendship‘ […], as indeed it is, for it is bonded by the artificial ties of a business contract.“ 72 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 22.
198 | S TEFAN H ORLACHER Farfrae is more than an employee, more than a business competitor, more than a sexual rival; and Henchard’s feelings for him have the additional force of a brotherly link. However, in finding a surrogate brother – someone to abolish his gloom and loneliness – Henchard dismisses Jopp, a candidate for the position Farfrae is imposed on to take. […] Henchard also turns Farfrae into an antagonist and an avenger, but, unlike his relations with Jopp, his conflict with Farfrae is complicated by his ambivalent feelings for the young Scot.73
Auf genau diese „ambivalent feelings“ bezieht sich Wright, wenn er die sexuelle Komponente der Beziehung betont: „It is in the presentation of Henchard’s relationship with Farfrae that Hardy goes furthest in undermining conventional notions of ‚manliness‘, for there can be little doubt that the love Henchard bears for the slender and delicate Scot has a sexual component.“74 In der Tat bringt Henchard den singenden Schotten gleich mehrfach in eine weibliche Position, ignoriert dessen Gefühle, versucht dessen Zuneigung zu kaufen und macht ihn damit zum Objekt.75 Wright charakterisiert die Beziehung zwischen Farfrae und Henchard wie folgt: „It is never an avowedly homosexual relationship, but Henchard’s manliness is clearly more complex than he cares to admit“76, und Langbaum sieht in Henchards Interesse für Farfrae, „if not homosexuality at least the inevitable homoerotic element in male bonding.“77 Tatsächlich geht Henchards Enthusiasmus für Farfrae weit über eine rein geschäftliche Beziehung hinaus, was der Text dadurch verdeutlicht, dass die beiden Männer unzertrennlich werden. Während sich Farfrae langsam um mehr Distanz bemüht, entgegnet ein ungeduldiger Henchard nur: „I like a fellow to talk to. Now come along and have some supper, and don’t take too much thought about things, or ye’ll drive
73 Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 85; dieser spricht auch davon, Farfrae sei „both an alter ego, who completes the working side of Henchard, and a brotherly companion to fulfill the mayor’s need for social and emotional ties“ (Ebd. 84). 74 Wright: Hardy and the Erotic, S. 76. 75 Dies ist von Bedeutung, weil Farfrae dadurch nachhaltig feminisiert wird, da Henchards Beziehungen zur Weiblichkeit primär über Geld, d.h. über Kaufen und Verkaufen funktionieren. Vgl. Moore: „Death against Life“, S. 21; siehe auch M, 66f.: „He sat down at the table and wrote a few lines, next taking from his pocket-book a five-pound note, which he put in the envelope with the letter, adding to it, as by an afterthought, five shillings. [...] The amount was significant; it may tacitly have said to her that he bought her back again“ (Herv. von mir). 76 Wright: Hardy and the Erotic, S. 78. 77 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 22.
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me crazy“ (M, 88). Bezeichnend ist auch, wie der Erzähler Henchards Erinnerung an sein erstes Treffen mit Farfrae darstellt, wenn von „that time when the curious mixture of romance and thrift in the young man’s composition so commanded his heart that Farfrae could play upon him as on an instrument“ (M, 271) die Rede ist. Ein weiteres Indiz für das starke homoerotische Element in der Beziehung kommt von der allerdings nur bedingt als unparteiische Beobachterin fungierenden Elizabeth-Jane,78 die die Männer um ihre Freundschaft beneidet: „Friendship between man and man; what a rugged strength there was in it, as evinced by these two“ (M, 95). Auch an anderer Stelle wird sich Elizabeth-Jane der Stärke der Beziehung zwischen Henchard und Farfrae bewusst, die schon bald einen körperlichen Ausdruck findet.79 Manifestieren sich Henchards Emotionen zunehmend in körperlicher Nähe und einer gelegentlichen „cannonade of laughter“, so reagiert Farfrae im Kontrast hierzu wenig emotional (M, 317f.). Henchard wird zum dominanten Partner und Farfrae fast schon zum Opfer von Henchards „tigerish affection for the younger man“. Sieht Elizabeth-Jane aufgrund ihrer kulturell kodierten Wahrnehmungsschemata nur eine ‚Männerfreundschaft‘, so ist sie doch über deren „rugged strength“ und Henchards „tendency to domineer“ erstaunt. In der Tat akzeptiert Henchard Farfrae zu keiner Zeit als gleichwertig, wobei sich letzterer nur langsam aus seiner weiblich-passiven, durch seine finanzielle Abhängigkeit und körperliche Unterlegenheit bedingten Position befreien kann. Doch statt dass Henchard Farfrae in seinem Anderssein respektiert, reagiert er auf dessen geistige Überlegenheit mit Minderwertigkeitsgefühlen, die er „durch die Betonung der eigenen körperlichen Stärke und seiner Männlichkeit“80 zu kompensieren sucht. So bewundert Henchard zwar Farfraes Intelligenz und seine buchhalterischen Fähigkeiten, er hebt jedoch immer wieder seine eigene körperliche Konstitution hervor (M, 47) und beginnt fast, Farfrae für seine Genauigkeit zu verachten (vgl.
78 Zur Rivalität zwischen Elizabeth-Jane und Henchard um Farfraes Zuneigung siehe Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“; siehe auch Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 109: „One of these purposes is the simultaneous expression and disguise of homoerotic feeling. There is a sense in which Farfrae’s flirtation with ElizabethJane at once doubles and blurs his relationship with her stepfather.“ 79 „She saw that Donald and Mr. Henchard were inseparables. When walking together Henchard would lay his arm familiarly on his manager’s shoulder, as if Farfrae were a younger brother, bearing so heavily that his slight figure bent under the weight.“ (M, 87). 80 Goetsch: Hardys Wessex-Romane, S. 218.
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M, 74).81 Und je mehr sich Henchard seiner Unterlegenheit bewusst wird, desto gezielter versucht er, Farfrae erst zu feminisieren82 und später dann mit ihm zu rivalisieren. Tatsächlich ist Henchards Zuneigung für Farfrae eindeutig an seine Position der Dominanz gebunden, und sobald Farfrae aus seiner weiblichen Position heraustritt, beispielsweise in der Auseinandersetzung um Abel Whittle (M, 97f.), zeigt Henchard völlig irrational-infantile und von Eifersucht gezeichnete Reaktionen, die in eine offene Rivalität umschlagen (M, 110f.). Erklären lässt sich dieses überzogene Verhalten, wenn man sich die gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominierenden Definitionsmodelle für Homosexualität, die als „gender-transitive“ und „gender-intransitive“ umschrieben werden können, vor Augen führt und auf den Text appliziert: Das gender-intransitive Definitionsmodell konzipiert den Homosexuellen „as an ultra-masculine embodiment of male-centered desire“83, der eine Abneigung gegenüber dem weiblichen Geschlecht aufweist. Hierbei postuliert ein separatist-feminist interpretive framework, wie es von Eve Kosofsky Sedgwick in Epistemology of the Closet darlegt wird, same-sex desire as being at the very definitional center of each gender, rather than as occupying a cross-gender or liminal position between them. Thus, women who loved women were seen as more female, men who loved men as quite possibly more male, than those whose desires crossed boundaries of gender.84
Natürlich bietet The Mayor of Casterbridge keine offene Darstellung von Homosexualität, doch finden sich zahlreiche Anzeichen für ein – wenn auch verdräng-
81 Vgl. Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S 123. 82 „Henchard’s consciousness proceeds to recover mastery by ‚feminizing‘ such scrupulousness as a schoolmarmish concern for neat handwriting. Henchard’s ‚feminizing‘ of writing as mere penmanship will later cause him to criticize Elizabeth-Jane for inappropriate handwriting“ (Ingersoll: „Writing and Memory“, S. 302). 83 Jones: „Michael Henchard“, S. 10. 84 Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, New York 1991, S. 36. Entsprechend dieser Theorie wurde männliche Homosexualität auch „as the practice for which male supremacy was the theory“ angesehen (ebd.); vgl. auch Jones: „Michael Henchard“, S. 10: „Also relevant to an understanding of Henchard might be the earlytwentieth-century psychoanalytic theory of latent homosexuality, according to which homosexuality lies dormant in the human mind until it is aroused by instinct or experience. Once aroused, homosexuality, though no longer latent, may be repressed or sublimated.“
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tes – homosexuelles Begehren, das anhand von Farfrae sichtbar wird, dem Henchard bereits zu Beginn ihrer Freundschaft wie ein frisch Verliebter seine intimsten Geheimnisse anvertraut, nämlich den Verkauf der Frauen und seine Affäre mit Lucetta. Allerdings sollte The Mayor of Casterbridge auch nicht aus dem Kontext seiner Entstehungszeit herausgelöst und vorschnell einem für das späte 20. und beginnende 21. Jahrhundert typischen, nicht selten von Homophobie und homosexual panic (Kosofsky Sedgwick) geprägten Blick unterworfen werden, schreibt Robert Gittings unter Bezug auf Hardys Privatleben doch zu Recht, „[that m]odern thought is apt to deal heavy-handedly with the topic of Victorian male affection.“85 Aber selbst wenn man in diesem Sinn für das 19. Jahrhundert die weitgehende bewusste oder unbewusste Abwesenheit jener von Kosofsky Sedgwick konstatierten Ängste und somit die Existenz einer „reciprocated affection without overt sexuality“ als „characteristic of some male friendships“ akzeptiert, so muss doch festgehalten werden, „[that] affectionate bondings between young men frequently led, then as now, into some form of homosexual experience.“86 Wobei jedoch die Freundschaft und der soziale Stand von Henchard und Farfrae nicht dem typischen homosexuelle Erfahrungen begünstigenden ‚viktorianischen Modell‘ entsprechen. Vielmehr – und hier schließt sich der Kreis zur antiken Tragödie – weist Henchard sowohl in seiner Charakterkonstruktion als auch in seiner Sexualität und seiner persönlichen Geschichte starke griechische Einflüsse auf.87 Da Henchard und Farfrae zu Beginn ihrer Freundschaft alles andere als einander gleichgestellt sind, entspricht ihr Verhältnis, sowohl was die Verbindung zwischen Ares und Eros angeht als auch was Farfraes Alter betrifft, durchaus griechischen Vorbildern,88 mit dem für Henchard fatalen Unterschied jedoch, dass
85 Gittings: The Older Hardy, S. 182. Das Stichwort Horace Moule muss hier genügen. 86 Jones: „Michael Henchard“, S. 11; vgl. auch Robert Pearsall: The Worm in the Bud. The World of Victorian Sexuality, Toronto 1969, S. 452: „For many of the upper classes, homosexuality approached them in stocking feet via the passionate friendship that was the done thing in the public schools. Homosexual experiences were the rule rather than the exception (Herv. von mir).“ 87 Vgl. Kramer: „Introduction“, S. xiv: „Henchard lays fair claim to being the most Greek-like hero of the Victorian novel, bearing analogies at once with Oedipus, Creaon, Agamemnon, and the Prometheus of Aeschylus.“ 88 Vgl. Jones: „Michael Henchard“, S. 11; siehe auch Eva Cantarella: Bisexuality in the Ancient World, New Haven 1992.
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sich Farfrae hartnäckig verweigert.89 Zeigt Henchards Lebensweg, dass sich für ihn Erfolg und Liebe (zu Frauen) ausschließen, so scheint dies in letzter Konsequenz auch für seine Liebe zu Männern zu gelten, denn durch Farfraes Fähigkeiten, durch dessen Aktivität statt Passivität, fühlt sich Henchard benachteiligt – das subjektive Erfolgsempfinden und die Möglichkeit der Dominanz und Kontrolle fehlen –, so dass er – wie schon zuvor Susan und seine Tochter – auch Farfrae ‚verstoßen‘ muss. Signifikanterweise bringt Henchards vermeintliche Niederlage gegen Farfrae beim Ausrichten des Dorffestes, das vom Text als suggerierter pubertärer Vergleich ihrer „erections“ dargestellt wird, die entscheidende Wende: Nachdem Henchard eingefettete Kletterpfähle hat errichten lassen – „They erected greasypoles for climbing“ (M, 101; Herv. von mir) –, betrachtet er „the unattractive exterior of Farfrae’s erection in the West Walk“,90 nur um feststellen zu müssen, dass der „in the costume of a wild Highlander“ tanzende Farfrae „the poetry of motion“ (M, 104) beherrscht. Als Henchard die sich „in the women’s faces“ abzeichnende „immense admiration for the Scotchman“ bemerkt – „he had an unlimited choice of partners, every girl being in a coming-on disposition“ (M, 103f.) –, begreift er, dass der mit Musik und dem Bereich des Semiotischen konnotierte und von Frauen ‚bedrängte‘ Schotte nicht nur nicht als Partner(in) zur Verfügung steht – ihn als Liebhaber also verschmäht –, sondern in den Augen der Bevölkerung auch wesentlich erfolgreicher und beliebter ist als er selbst. Als Folge hiervon fühlt sich der ‚vulkanische‘ Henchard (M, 110) zurückgesetzt und in seiner Männlichkeit verletzt. Er beginnt nun offen mit Farfrae zu rivalisieren, den er entlässt und dämonisiert (M, 104), wobei die bis dahin als male cameraderie getarnte male love durch völlig irrationale contests of manliness ersetzt wird: Hardys Protagonist zwingt Farfrae in einen sich aus männlicher Rivalität speisenden Machtkampf und läutet damit seinen eigenen Untergang ein. Gleichzeitig tritt eine Henchards Charakter prägende selbstzerstörerisch-masochistische Tendenz deutlich zu Tage, die sich bereits in seinem asketischen Schwur und in seiner ohne Liebe erfolgten zweiten Heirat mit Susan angedeutet hatte und die es
89 Die Assoziation „between masculine aggression and (homo)sexuality is [...] evident in Henchard’s competitive urge toward superiority with Farfrae, in his ‚tendency to domineer‘, the aspect of his affection that the Scotsman most clearly resists“ (Jones: „Michael Henchard“, S. 11). 90 M, 102, Herv. von mir; siehe auch Jones: „Michael Henchard“, S. 12 sowie die Szene in Hardys The Return of the Native, in welcher der „May Pole“ als Symbol männlicher Fruchtbarkeit funktionalisiert wird.
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ihm ermöglicht, den Kontakt mit Farfrae in Form von Feindlichkeit aufrechtzuerhalten: When Farfrae refuses to remain in his stranglehold, the mayor veers away from his dependence to a haughty independence that cloaks a fantasy of fused dependence on Farfrae, so that the majority of his actions relate either symbolically or directly to the young man.91
Dass sich Henchard seiner selbstzerstörerischen Anteile nicht wirklich bewusst ist, wird deutlich, als er sich auf die ‚Suizid-Brücke‘ begibt – „The lugubrious harmony of the spot with his domestic situation was too perfect for him, impatient of effects, scenes, and adumbrations“ (M, 125) –, ohne jedoch zu realisieren, warum er dies tut: „Why the deuce did I come here!“ (ebd.) Diese Henchard eingeschriebene Ambivalenz und Unkenntnis der eigenen Beweggründe wird auch anhand der letztlich unentschlossen geführten Rivalitätskämpfe, anhand der Auseinandersetzung um den Besuch der „Royal Personage“ sowie anhand des Ringkampfes mit Farfrae deutlich. Diese Beispiele sollen im Folgenden sowohl aus einer nach Henchards masochistischen Anteilen und ihrer Bedeutung fragenden als auch aus einer nach weiteren Indizien für eine latente Homosexualität suchenden Perspektive analysiert werden. Während des Besuchs der „Royal Personage“ unternimmt Henchard den Versuch, Farfrae lächerlich zu machen, doch weicht er im letzten Moment vor Farfraes körperlicher Gewalt zurück, obwohl er sich leicht hätte durchsetzen können (vgl. M, 263). Langbaum betont zu Recht, „[that w]hat matters is Farfrae’s physical dislodgment of Henchard“92, denn dessen Nachgeben auf körperlicher Ebene zeigt, dass sich die Machtverhältnisse verschoben haben. Es zeugt aber auch von weiteren Ambivalenzen in Henchards Charakter, die ergänzend zur latenten Homosexualität unter den Stichwörtern Bruderkampf und Fratrizid gefasst werden können: Wenn Henchard, wie er zu Beginn seiner Freundschaft mit Farfrae explizit einräumt, in ihm einen Bruder sieht, so kann er diesen nicht attackieren, ohne ein Tabu zu brechen, dadurch die gleichen Mechanismen wie beim Verkauf seiner Frau in Gang zu setzen und schließlich mit Schuld und Autodestruktion zu reagieren. Wenn Karl A. Menninger konstatiert, Melancholiker töten in der Regel nur sich selbst, „although their driving motive is the wish to kill someone else“93, so ist es signifikant, dass sich Henchard keineswegs erst nach der Attacke auf Farfrae gegen sich selbst wendet, kommt doch bereits sein
91 Lilienfeld: „‚I Could Drink a Quarter-Barrel to the Pitching‘”, S. 232. 92 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 23. 93 Vgl. Karl A. Menninger: Man Against Himself, New York 1966, S. 55.
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Angriff auf den Schotten als alter ego-Figur einer selbstzerstörerischen Handlung gleich, da der Wunsch, zu töten, identisch ist mit dem Wunsch, getötet zu werden: Inasmuch as Henchard considers Farfrae an alter ego, the self-destructive nature of his animus is obvious: attacks on the „second self“ are tantamount to attacks on oneself. In nourishing murderous wishes, Henchard runs the risk of being condemned by his conscience, which demands a penalty of a corresponding magnitude. That such wishes can compel the psyche to the self-punitive act of murder has become an established truth in Western psychology, and has dwelt at the heart of Western religions and ethical systems for centuries. Psychologists call this unconscious exaction the lex talionis, or law of talion. Since the wish to kill is unconsciously equivalent to the act of murder, and since murder is a capital offense, the one who wishes to kill, deserves to be killed; whether there is an actual killing is more or less superfluous. This need for death is the essence of masochism, and Henchard begins to fulfill his unconscious need as soon as he engages to starve Farfrae out.94
Sowohl die Anzeichen von Masochismus als auch die einer latenten Homosexualität werden schließlich durch den Ringkampf bestätigt, durch den Henchard zumindest auf einer Oberflächenebene seine alte Machtposition mit Hilfe seiner überlegenen Physis zurückzugewinnen hofft. Doch wie er Farfrae bereits bei einer früheren Gelegenheit nicht aus dem Speicher stoßen konnte, so scheitert er auch dieses Mal. Dies wirft die Fragen auf, warum sich Henchard gleich zwei Mal dazu entschließt, seinen Gegner nicht zu töten, warum er sich vor dem Kampf sogar noch eine Hand auf den Rücken bindet, und warum er Farfrae dann auch noch eine Liebeserklärung macht. Zwar verraten die zahlreichen Gesten und Aussagen, die auf eine latente Homosexualität Henchards schließen lassen, eine von der Verehrung von „male
94 Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 86f.; siehe auch Menninger: Man Against Himself, S. 50-57. Als sich Henchard mit Musik gegen Farfrae wendet, d.h. versucht, den Schotten mit seinen eigenen Waffen zu schlagen (M, 230), macht er sich wieder selbst zum Opfer, denn der Inhalt des erzwungenen Liedes bzw. der Verwünschung trifft ihn selbst. Vgl. Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 88 u. 84: „Henchard’s temper and drunkenness are not the causes but the symptoms of his self-destructiveness. In portraying a character obsessed by guilt and committed to his own destruction, Hardy recognized intuitively at least, that the guilty may also punish themselves unconsciously and cause their own ‚bad luck‘.“ Vgl. auch Meisel: Thomas Hardy, S. 93.
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power“ und von einer „scornful opinion of women as weak“ geprägte Grundeinstellung,95 doch herrscht auch in seinem Ringkampf mit Farfrae Ambiguität vor. Zwar sucht Henchard eine körperliche Auseinandersetzung und eine Demonstration seiner Stärke, doch ‚kastriert‘ er sich schon vor dem Kampf mehr oder weniger selbst.96 Signifikant ist auch, dass Hardy in dieser Szene, die latent enthält, was Lawrence später in Women in Love in dem nackt stattfindenden Kampf zwischen Rupert Birkin und Gerald Crich explizit darlegen wird, statt einer symbolischen oder indirekten eine körperliche Auseinandersetzung wählt und Farfrae als Objekt des Begehrens – wie in zahlreichen anderen erotischen Szenen in The Mayor of Casterbridge – und als vom warmen Licht der untergehenden Sonne beschienen porträtiert. Zudem singt Farfrae, als er die Scheune betritt, das gleiche Lied, das er sang, als Henchard ihn zum ersten Mal traf, wodurch Henchards emotionale Seite direkt angesprochen wird: „Nothing moved Henchard like an old melody. He sank back. ‚No, I can’t do it!‘ he gasped“ (M, 267). Langbaum sieht in „Henchard’s susceptibility to music, one of his endearing characteristics“, ein Zeichen seiner „continuing love of Farfrae“, und in der Tat starrt Henchard selbst während des verzweifelten Kampfes in „the lowered eyes of his fair and slim antagonist.“97 Zwar betont Langbaum, die Details des Kampfes „lead our thoughts away from eros toward power“, doch ist eine Darstellung des kämpfenden Paares als „rocking and writhing like trees in a gale“ (M, 269) oder eine Beschreibung wie „this part of the struggle ended by his forcing Farfrae down on his knees by sheer pressure of one of his muscular arms“ (M, 269), das heißt die Unterwerfung des schließlich knienden Gegners mit nur einer Hand, keineswegs so unverfänglich, wie Langbaum den Leser Glauben machen möchte. Auch Farfrae umklammert seinen Gegner – „[he] locked himself to his adversary“ (M, 269) –, und eine Aussage wie Langbaums „[i]n Henchard the desire for power replaces sexuality; he seeks to possess completely the people he loves, or is unable to distinguish the pleasure of love from the pleasure of proprietorship“98 übersieht gerade die enge Verzahnung zwischen Sexualität (inklusive ihrer sadistischen und masochistischen Ausprägungen) und (nicht nur) patriarchaler Macht, wie sie bereits früh in der Feststellung der Erzählinstanz, „[that]
95 Siehe Dale Kramer: Thomas Hardy: The Forms of Tragedy, Detroit 1975, S. 87f. 96 Wobei einzuräumen ist, dass die Fixierung seiner Hand Henchards Sieg über Farfrae als Ausdruck seiner Männlichkeit noch mehr Glanz verliehen hätte, da selbst ein ‚kastrierter‘ Henchard immer noch ‚männlicher‘ wäre als ein unbehinderter Farfrae. 97 M, 269. Vgl. hierzu Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 22, der dies als „an initial homoerotic detail“ wertet. 98 Ebd., S. 22.
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Henchard’s tigerish affection for the younger man, his constant liking to have Farfrae near him, now and then resulted in a tendency to domineer“ (M, 88), deutlich wird. Doch nachdem Henchard den „central male contest of the novel – rivalries over business and women resolved by hand-to-hand combat“99 – für sich entschieden hat, kann er seinen Plan, Farfrae zu töten, nicht umsetzen und gesteht stattdessen seine Liebe: „Now“, said Henchard between his gasps […]. „Your life is in my hands.“ „Then take it, take it!“ said Farfrae. „Ye’ve wished to long enough!“ Henchard looked down upon him in silence, and their eyes met. „O Farfrae – that’s not true!“ he said bitterly. „God is my witness that no man ever loved another as I did thee at one time ... And now – though I came here to kill’ee, I cannot hurt thee!“ (M, 271)
„The cadences of that declaration“, so Langbaum, „suggest continuing love.“100 Eine Liebe, der Henchard mit „my heart is true to you still“ (M, 282) nochmals Ausdruck verleiht, als er Farfrae von der Notwendigkeit überzeugen will, zur im Sterben liegenden Lucetta zurückzukehren. Wie stark Henchards Deklarationen seiner Liebe zu Farfrae ebenso wie seine Rivalität mit diesem an Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit gebunden sind, macht wiederum der Erzähler deutlich, der Henchard nach seiner sich selbst zugefügten Niederlage in einer eindeutig femininen Position darstellt: „So thoroughly subdued was he that he remained in a crouching attitude, unusual for a man, and for such a man. Its womanliness sat tragically on the figure of so stern a piece of virility“ (M, 271). Argumentiert man aus einer die homosexuellen Aspekte des Romans privilegierenden Perspektive, so ist Henchards Position in dieser den Machtkampf beendenden Szene eindeutig weiblich, was in völligem Widerspruch zu den ihn bis dahin prägenden ‚griechischen Strukturen‘, auch der Homosexualität, steht:101 In accordance with the Hellenistic homosocial model, Farfrae’s rejection of Henchard’s superiority necessarily precludes the reception of his erotic and condescending affection. Having first refused his love, Farfrae then engages Henchard in a competition of mascu-
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Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 111.
100 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 24. 101 Wie Cantarella: Bisexuality in the Ancient World, S. 46, ausführt, gab es keine „interchangeability of roles between Greek couples. Following the model of the pederastic couple, couples consisting of two adults assumed that only one of them would take on the receptive role.“
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linities that ultimately displaces power, forcing Henchard into a passive position relative to Farfrae that is to the older man as destructive as it is unusual.102
Doch vielleicht ist es die eigene Weiblichkeit, die Henchard unbewusst sucht, ist es der eigenen Konzeption von Männlichkeit, der er entgehen will. Vielleicht kämpft Henchard nicht gegen Farfrae – kann diesen gar nicht erreichen, da er Henchards Emotionen nicht auf gleicher Ebene erwidert103 –, sondern – auch aus tragödientechnischen Gründen – gegen sich selbst.104 Zudem zeugen Henchards Skrupel von der zunehmenden Bedeutung der durch die Rückkehr der Frauen sowie indirekt durch Farfrae wiedererweckten weiblichen Anteile seiner Psyche. Wright argumentiert diesbezüglich, „[that] Henchard is horribly diminished in his own eyes by discovering such ‚womanly‘ qualities in himself“105, und Showalter spricht sogar von einer „regressive, almost foetal, scene in the loft“106, die weit von jener Virilität entfernt ist, die bis zu diesem Zeitpunkt das Hauptcharakteristikum von Henchard war; einer paradoxen Virilität, wohlgemerkt, die vielleicht gerade deshalb von einer Abwesenheit sexuellen Begehrens geprägt ist, weil dieses Begehren eine stark homosexuelle Komponente aufweist und deshalb
102 Jones: „Michael Henchard“, S. 11; vgl. ebd., S. 12: „Henchard’s subjective experience of the loss of masculinity becomes evident in his feminine posturing, which is not merely unbecoming for a man, but is significant symbolically as the unbecoming of a man.“ 103 „Henchard is [...] paradoxically unmanned, shamed, and enervated. The sense of Farfrae’s indifference to him, the younger man’s resistance to even this ultimate and violent coercion of passion, robs Henchard of the thrill of his victory. Again, it is the apparently weaker antagonist who prevails; and in the emotional crisis, roles are reversed so that Farfrae is the winner.“ (Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 111). 104 Vgl. Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 84: „Henchard’s apparent victimization by coincidence and bad luck may be seen as the outcome of circumstances he has created in order to punish himself.“ Vgl. ebd., S. 83: „His isolation and his private goals and interests determine his conduct, regularly overcoming his moralistic impulses. In the absence of social control, and because of the inadequacy of the self as a sustaining goal, Henchard experiences the depression and apathy suffered by Eustacia and other egoists – emotions Durkheim attributes to their exaggerated individualism.“ 105 Wright: Hardy and the Erotic, S. 78. 106 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 112.
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nicht einmal vom Text eingestanden werden darf;107 ein Begehren, dessen Dechiffrierung dadurch erschwert wird, dass sich der Text dieser homosexuellen Ausrichtung entweder nicht bewusst ist oder sie – genau wie Henchard – zu verdrängen sucht. Hierdurch erklärt sich auch, warum das Zusammenleben von Henchard mit Elizabeth-Jane, einer zwanzigjährigen Frau, die im häuslichen Bereich die Rolle der Ehefrau übernimmt und von der Henchard, der Erzähler und der Leser wissen, dass sie nicht seine Tochter ist, unter den zahlreichen HardyKritikern sowie der viktorianischen Leserschaft keinen Skandal ausgelöst hat.108
T HE P ROCESS OF U NMANNING , ODER : D ER F ALL DES M ICHAEL H ENCHARD Henchards Temperament, „which would have no pity for weakness, but would be ready to yield ungrudging admiration to greatness and strength“ (M, 32), seine als Macht- und Geldgier sublimierte Sexualität und seine verdrängte und zu Beginn des Romans buchstäblich verkaufte Weiblichkeit sind es, die seine Niederlagen gegen Farfrae bedingen. Während der Schotte über beide Register, das symbolische wie das semiotische (vgl. M, 92), über Ratio und Emotion verfügt, ohne als gefühlskalt zu gelten, gibt es für Henchard jenseits der symbolischen Ordnung nur irrationale vulkanische Eruptionen. Seine Versuche, sich durch den Verkauf der Frauen, durch die Unterordnung unter den Schwur und durch die Hypostasierung einer patriarchal-kapitalistischen Ordnung von seiner emotionalirrationalen Seite zu trennen, vor allem aber seine durch die Rückkehr der Frauen sowie durch Farfrae erzwungene ‚Bereitschaft‘, sich mit dieser Seite auszusöhnen und mit ihr umzugehen, unterwerfen ihn einem von Showalter als „pilgrimage of ‚unmanning‘“ bezeichneten Prozess, der sich als eine Bewegung hin zu „both self-discovery and tragic vulnerability“109 erweist. Wenn mit Lacan erst der Eintritt in die symbolische Ordnung den Menschen zur Welt und zu seinen Mitmenschen öffnet, wenn sich die Kultur der symbolischen Ordnung verdankt und diese die Anerkennung des Du als Du und als Kon-
107 „The tragedy of the mayor of Casterbridge cannot be fully grasped without an awareness that the protagonist’s sexuality is not only sublimated, but is primarily homoerotic, a repressed homosexuality“ (Jones: „Michael Henchard“, S. 10). 108 Kramer: The Forms of Tragedy, S. 87, sieht in diesem „lack of scandal incited by their living arrangement“ ein überzeugendes „testimony to Henchard’s amorphous sexual quality“; vgl. auch Moore: „Death against Life“, S. 22. 109 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 102.
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sequenz dessen die Verwirklichung des Subjekts als Subjekt ermöglicht,110 so ist es auch die symbolische Ordnung, der Henchard seinen sozialen Aufstieg verdankt. Dass dies die Existenz einer vor- oder außersprachlichen Realität nicht notwendigerweise ausschließt, lässt sich über die Analogie von Henchards Charakterkonzeption zeigen, deren von einer Ego-Schwäche111 geprägte phallischvereinfachte Konstrukthaftigkeit phasenweise einem emotional-irrationalen, sich aus dem Vorsprachlichen speisenden Bereich nachzugeben scheint. Deutlich wird dieses Übergreifen der von Henchard ausgegrenzten, aber mit der symbolischen Ordnung letztlich kopräsenten Elemente in Grenzsituationen, z.B. als er von Farfraes geplanter Selbständigkeit erfährt und sein erbostes Brüllen die ganze Stadt erfüllt: [H]is voice might have been heard as far as the town-pump expressing his feelings to his fellow councilmen. These tones showed that, though under a long reign of self-control he had become Mayor and churchwarden and what not, there was still the same unruly volcanic stuff beneath the rind of Michael Henchard as when he had sold his wife at Weydon Fair.112
Wie sehr Hardys Text – wenn auch implizit – einen verdrängten, sich manchmal Bahn brechenden emotionalen Bereich postuliert, wird auch an anderer Stelle deutlich, z.B. wenn Henchards Wutanfälle mit „[t]hese domestic exhibitions were the small protruding needlerocks which suggested rather than revealed what was underneath“ (M, 128) umschrieben werden. Ob man in diesen Eruptionen Anzeichen eines Durchbruchs einer ‚körperlich-materiellen Realität‘, einer ‚semiotischen Chora‘ oder eines ‚psychotischen Realen‘ sehen will, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Allerdings mag ein kurzer Rekurs auf Friedrich Nietzsche, D.H. Lawrence und John Fowles verdeutlichen, welche Mechanismen The
110 Vgl. Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 31998. 111 „Discussions of the mayor’s weak ego illuminate Henchard’s inability to interact with others as an adult human being. He lost his position in Casterbridge for many reasons, but drunk or sober, his rages consistently cost him allies“ (Lilienfeld: „‚I Could Drink a Quarter-Barrel to the Pitching‘“, S. 230). 112 M, 110; Lilienfeld: „‚I Could Drink a Quarter-Barrel to the Pitching‘“, S. 230, sieht hierin eine Illustration von Henchards „lack of self-care skills, as observed in the intolerable and thus uncontrollable nature of his rage, and his inability to recognize and accept long term consequences of ill-advised behavior.“ Vgl. auch Meisel: Thomas Hardy, S. 93.
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Mayor of Casterbridge anhand von Henchard ‚durchexerziert‘: Folgt man Nietzsche und Lawrence, so kann die „death-activity busy in the service of life“113 stehen, sind Kreativität und Zerstörung nicht voneinander zu trennen und ist das Zerstörerische „keine äußere Macht, sondern jeder dynamischen Struktur inhärent.“114 Dementsprechend erscheint Henchard nur sekundär als Opfer der Gesellschaft oder gar von Farfrae und primär als Opfer seiner selbst.115 Verweist Nietzsche auf die Priorität des Unbewussten als „evolutionary force of life“116 und argumentiert er weiter, dass man „noch Chaos in sich haben [muß], um einen tanzenden Stern gebären zu können“117, so steht außer Zweifel, dass Henchard über einen entsprechenden als chaotisch oder semiotisch zu umschreibenden Bereich verfügt. Während sich jedoch ein Protagonist wie Henry Breasley in Fowles’ Novelle „The Ebony Tower“ der radikalen Inkommensurabilität seiner Erfahrungen und existentiellen Wahrheiten öffnet und diese in Kunst transformiert, das heißt die semiotischen Vorgänge als Quelle der Kreativität nutzt und bewusst mit einem Bereich Kontakt aufnimmt, der im Rückblick „als dunkler Ursprung, als Chaos, das sich jedem Zugriff entzieht“, und als „Schmelztiegel des Sinns“118 erscheint, kann Henchard zu keiner Zeit kreativ mit diesen Kräften umgehen. Wo sich Fowles’ Protagonist im Schöpfungsakt an die Grenzen zwischen dem Symbolischen und dem Semiotischen vorwagt und dabei in seiner Malerei einem ausgegrenzten und verdrängten Wissen eine Sprache verleiht, bemüht sich Henchard zwar bedingt, fängt dann aber an zu brüllen, um schließlich zu verstummen und zu sterben. Wie Henchards, so ist auch Breasleys Eintauchen in die ‚eigene Natur‘ nicht freiwillig und kann als Auseinandersetzung mit einer symbolisch verstandenen Weiblichkeit interpretiert werden, die sich jeder positiven Festlegung entzieht und subjektive Identität und gesell-
113 D.H. Lawrence: Fantasia of the Unconscious and Psychoanalysis and the Unconscious, London 81988, S. 163. 114 Vgl. Inge Suchsland: Julia Kristeva zur Einführung, Hamburg 1992, S. 13; vgl. auch ebd., S. 94ff. sowie die dortigen Verweise auf Freud; vgl. Stefan Horlacher: „Wege zum Leben – Wege zur Kunst: Intertextuelle Überlegungen zu John Fowles’ Novelle The Ebony Tower unter besonderer Berücksichtigung von D.H. Lawrence und Friedrich Nietzsche“, in: Anglia 118/3 (2000), S. 373-404. 115 Vgl. auch Gatrell: „The Mayor of Casterbridge“, S. 67. 116 Vgl. Alexander Jacob: De Naturae Natura. A Study of Idealistic Conceptions of Nature and the Unconscious, Stuttgart 1992, S. 141-145. 117 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954-56, Bd. 2, S. 284. 118 Suchsland: Julia Kristeva, S. 111; vgl. auch ebd., S. 92 u. 117f.
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schaftliche Strukturen unterminiert. Doch wo Breasley sich in jedem Schöpfungsakt selbst riskiert und seine Subjektposition in einem quasi existentialistischen Akt immer wieder neu entwirft, verweigert Henchard diese Herausforderung, so dass er von seinen eigenen verdrängten, durch Farfrae und die verschiedenen Frauen aus seiner Vergangenheit symbolisierten Seelenanteilen eingeholt wird. Wenn nur die symbolische Ordnung gegen die „Übermacht der Natur“ jenen Schutzwall errichtet, der es dem Subjekt ermöglicht, „dem bloßen Ausgeliefertsein an ein erzeugendes wie verschlingendes Chaos zu entrinnen“119 , so verdeutlicht Hardys Roman, dass ein ‚einfaches‘ Verdrängen unmöglich ist, dass das Semiotische zwar eine ständige Bedrohung für das Subjekt darstellt, allerdings auch eine seiner Ermöglichungsbedingungen ist. Folgt man der überwiegenden Mehrheit der Hardy-Kritik – und dies bedeutet, dass man die bereits diskutierte homoerotische Beziehung zwischen Henchard und Farfrae weitgehend ausblendet –, so wird die Schleifung der von Casterbridges kantigem Stadtbild symbolisierten männlichen ‚Festung‘ namens Henchard durch die erneute Heirat mit Susan eingeleitet. In den Augen der Bevölkerung verliert Henchard an Macht, da seine Mitbürger glauben, „[that] the masterful, coercive Mayor of the town was raptured and enervated by the genteel widow“ (M, 80). Zwar bleibt Henchards Verhalten gegenüber Frauen noch lange von Besitzdenken und von Manipulationsstrategien geprägt,120 doch wird sein Halt im Symbolischen zunehmend brüchig, geraten die Mechanismen männlicher Macht und emotionaler Selbstgenügsamkeit, die bereits von Farfrae ‚angegriffen‘ wurden, weiter unter Beschuss. Henchard lässt sich zu einer immer stärkeren Rivalität und Irrationalität hinreißen und verliert seine entscheidenden Duelle mit Farfrae, aber auch mit Lucetta, die er erst erpresst, der er dann aber nachgibt, wobei der Erzähler explizit von „unmanned“ spricht: Her figure in the midst of the huge enclosure, the unusual plainness of her dress, her attitude of hope and appeal, so strongly revived in his soul the memory of another ill-used woman who had stood there and thus in bygone days, had now passed away into her rest, that he was unmanned, and his breast smote him for having attempted reprisals on one of a sex so weak. (M, 247; Herv. von mir)
119 Ebd., S. 111. 120 „He trades in women, with dictatorial letters to Farfrae, and lies to Newson, with an ego that is alive only to its own excited claims“ (Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 108f.).
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Einerseits beginnt Henchard, Sympathie für die weibliche Position zu empfinden, und kann vor seinem Gewissen nicht mehr kompromisslos hart agieren, andererseits wird seine ‚Schwäche‘ jedoch auch aus seiner vermeintlichen männlichen Überlegenheit heraus gespeist, seinem „old feeling of supercilious pity for womankind in general“ (M, 248), mit dem er auf Frauen herabschaut und deshalb nicht realisiert, dass Lucetta ihn manipuliert und bewusst dahin bringt, dass er Farfrae seinen ‚Besitz‘ nicht mehr aus männlicher Rivalität heraus neidet.121 Der Verlust von Susan, Lucetta, Farfrae und Elizabeth-Jane, die er gleich zweifach von sich entfremdet, lässt Henchard in seiner Handlungsfähigkeit so lange relativ unberührt, wie er noch über die Insignien der Macht, seine Position innerhalb der symbolischen Ordnung und seinen Reichtum verfügt. Erst als auch diese entscheidenden Stützen seines Egos wegbrechen, sich die Kastrationsszenen122 im Sinne von Verlusterfahrungen häufen, Henchard aus einer reduktiven patriarchalen Männlichkeit herausgelöst und ihm seine Humanität und Liebesfähigkeit zurückgegeben werden, realisiert er seine innere Leere. Ausschlaggebend hierfür ist die „furmity woman“ als fleischgewordene Vergangenheit, denn als Henchard, Ex-Bürgermeister, Magistrat und Friedensrichter in einer Person und somit Repräsentant und Inkarnation der patriarchalen Ordnung, von einer von der Casterbridger Gesellschaft als aussätzig behandelten alten Frau ob seiner Vergangenheit angeklagt wird, zeigt sich endgültig die brüchige, auf Verdrängung des Weiblichen gegründete Basis sowohl des patriarchalen Gesetzes als auch seines prominentesten Vertreters.123 In schneller Abfolge verliert Henchard sein Amt, sein Ansehen und sein Vermögen, das er durch seine männliche Rivalitätslogik verspielt, auf deren (selbst-)zerstörerischen Charakter der Erzähler zudem explizit hinweist. Wenn er nämlich konstatiert, „[that Henchard’s] subordinate position in an establishment where he had once been master might be acting on him like an irritant poison“ (M, 236), so zeigt dieser Ver-
121 Weckt Lucetta zuvor wegen ihrer „slight inaccessibility“ (M, 174) sein Begehren, so führt ihr wenig attraktives Aussehen dazu, „[that Henchard] no longer envied Farfrae his bargain“ (M, 248). 122 „‚The Unmanning of the Mayor of Casterbridge‘, of course, the breaking down of his conventional notions of manliness [...], is not simply a matter of sexual orientation. It affects all aspects of his behaviour. He is first described as ‚unmanned‘ when he allows his impulse for revenge over Lucetta to be softened by pity and sympathy [...]. Even more significant is the softening of his heart towards Elizabeth-Jane, his recognition of his need of affection from her“ (Wright: Hardy and the Erotic, S. 78). 123 Vgl. auch Gatrell: „The Mayor of Casterbridge“, S. 59.
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gleich „the mortal danger created not only for Farfrae but also for Henchard“.124 Zudem wird Henchard der Illusion beraubt, Elizabeth-Janes Vater zu sein und verliert seine väterlichen Rechte. Wie wichtig diese ‚Rechte‘ für Henchards phallogozentrische Logik sind, zeigt sich gleich mehrfach, nämlich in seinen wiederholten Versuchen, Elizabeth-Jane dazu zu bewegen, seinen Namen anzunehmen (M, 86f., 119ff., 128), in seinem Versuch, sie davon zu überzeugen, dass sie seine leibliche Tochter sei, sowie im Verschweigen ihrer wahren Herkunft und in seiner Lüge gegenüber Newson. Showalter sieht in Henchards Entwicklung eine Bewegung von „romantic male individualism“ zu einer „more complete humanity“, die ihm die tragische Erfahrung ermöglicht, und erkennt richtig, „[that] sex-role patterns and tragic patterns in the novel connect.“125 Henchards Herauslösung aus seiner unmenschlichen Ordnung kann, zumindest auf der Handlungsebene des Romans, als ein langer Kastrationsprozess aufgefasst werden – „It is the completion of his unmanning – a casting-off of the attitudes, the empty garments, the façades of dominance and authority“126 –, der ihn zur Welt hin öffnet und seinen unterdrückten weiblichen Anteilen Raum zugesteht. Ein erster Aspekt dieser fortschreitenden ‚Feminisierung‘ besteht darin, dass Henchard lernen muss, Gefühle für andere Menschen zuzulassen und aus einer potentiell unterlegenen Position heraus zu verbalisieren.127 Interpretiert man mit der Mehrzahl der Hardy-Kritik die „effigy which Henchard sees floating in Ten Hatches Hole, whence he has fled in suicidal despair after the encounter with Newson“, als „the symbolic shell of a discarded male self“128, so scheint sich Henchard gegen Ende des Buches tat-
124 Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 89. 125 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 104. 126 Ebd., S. 112. 127 „Henchard has finally crossed over psychically and strategically to the longrepressed ‚feminine’ side of himself“, schreibt Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 112, „[when he] has declared love for the first time to another person, and accepted the meaning of that victory of the weak over the strong.“ 128 Gerade weil die im Wasser treibende Puppe des „skimmity-ride“ nicht sein Spiegelbild ist, kann sie ihn ein Stück aus seiner imaginären Verkennung herauslösen. Vgl. auch Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 125: „When Henchard [...] looks [...] into the water, he sees himself as seen by Somebody else. This, the text suggests, is how the genders are constructed: he for Somebody only, she for Somebody in him.“ Siehe auch Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 112; Wright: Hardy and the Erotic, S. 79; Moore: „Death against Life“, S. 23.
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sächlich einer weiblichen Ordnung zu unterwerfen: Nach seinem Verzicht auf den Suizid kehrt er nach Hause zurück, „[d]edicating himself to the love and protection of Elizabeth-Jane“129, deren Einfluss stetig zunimmt und die zu einer Art neuer Gesetzgeberin wird: „In going and coming, in buying and selling, her word was law“ (M, 297). Henchard bereitet seiner vermeintlichen Tochter Tee mit einer geradezu „housewifely care“ (M, 286) zu, wird als „netted lion“ (M, 297) und „fangless lion“ (M, 303) beschrieben, wagt es nicht mehr, eine direkte Konfrontation zu riskieren, und ist „forced into psychological indirection, to feminine psychological manœuvres.“130 Seine (durch den Habens-Modus sublimierte) phallische Maskulinität weicht in einer von ihm als erniedrigend empfundenen, ihn jedoch aus einem reduktionistisch-inhumanen Konstrukt befreienden Lehrzeit in menschlicher Sensitivität einer Abhängigkeit vom Semiotischen – Langbaum spricht von der „moral ‚feminisation‘ of Henchard“131 –, das im Roman traditionell vor allem durch das weibliche Geschlecht repräsentiert wird. Bemerkenswert ist hierbei die Entsprechung von Henchards psychischem und physischem Zustand, denn ist er in der ersten Hälfte des Romans in power und nie krank, so ändert sich dies gegen Ende des Romans, wobei signifikanterweise die alleinige physische Präsenz seiner Tochter ausreicht, um überraschende Heilungserfolge zu erzielen.132 Von daher erstaunt es wenig, dass Henchard in sein Exil Erinnerungsstücke an Elizabeth-Jane mitnimmt, nämlich „gloves, shoes, a scrap of her handwriting“ (M, 312).
129 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 112. 130 Ebd. Vgl. auch Wright: Hardy and the Erotic, S. 78f. Siehe auch Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 24: „The novel traces a process of ‚unmanning‘ that marks Henchard’s decline but also a change to feminine values which makes him capable of tragic sympathy with suffering. […] It is in his return to Elizabeth-Jane, whom he cast out after learning she was not his daughter, that his feminisation is complete, for ‚he schooled himself to accept her will ... as absolute and unquestionable‘“. 131 Langbaum: „The Minimalisation of Sexuality“, S. 28. 132 „The effect, either of her ministrations or of her mere presence, was a rapid recovery“ (M, 225). Zu Henchards Krankheitsverlauf siehe Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 94. Aus Henchards Genesung folgt, „that Elizabeth-Jane’s love is all the medicine that Henchard’s body and spirit require, and from this time forward, the application or withdrawal of her love will affect his health and will to live“ (Ebd., S. 96).
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Retracing his past, he has chosen to burden himself with reminders of womanhood, and to plot his journey in relation to a female centre. Even the circle he traces around the ‚centripetal influence‘ […] of his stepdaughter contrasts with the defended squareness of the Casterbridge he has left behind, the straight grain of masculine direction.133
Wenn Hardys Erzähler feststellt: „It happened that the centrifugal tendency imparted by weariness of the world was counteracted by the centripetal influence of his love for his step-daughter“ (M, 313), so stellt dies in den Worten von Moore eine ‚Externalisierung‘ des Kampfes zwischen Eros und Thanatos in Henchards Psyche dar. Henchards (allerdings nicht in allen Ausgaben von The Mayor of Casterbridge enthaltene) letzte Reise zur Hochzeit von Elizabeth-Jane und Farfrae ist schließlich eine Wiederholung der Reise, die Elizabeth-Jane und Susan zuvor angetreten hatten, um ihn wiederzufinden. Analog zu der frühen Szene, in der seine Frau und seine Stieftochter zusehen müssen, wie er als Bürgermeister die Versammlung in der Golden Crown dominiert, muss Henchard jetzt zusehen, wie Elizabeth-Jane über die Hochzeitsfeierlichkeiten herrscht. Und analog zum ersten Impuls von Susan und Elizabeth-Jane, die angesichts von Henchards Machtfülle unerkannt verschwinden wollen, tut dies nun Henchard, der die Hochzeit verlässt, ohne gesehen zu werden. Inwiefern sich Henchard wirklich entwickelt, das Symbolische mit dem Semiotischen aussöhnen und zu Showalters New Man werden kann, darf angesichts seines prämortalen Verhaltens sowie seines Testaments bezweifelt werden. So argumentiert Kramer, „[that i]n relation to the pattern of tragedy, the ‚feminine‘ Henchard is by his own definition a weakened man“134 , und Giordano Jr. und Jones sehen in Henchards ‚Feminisierung‘ sogar seinen langsamen Tod begründet:135 As Elizabeth’s love is necessary for his existence, he imagines himself as „a fangless lion“, living in her home after her marriage, even putting up with Farfrae’s abuse just to be near her. The narrator speaks accurately when he says Henchard is „denaturalized“ by his
133 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 113. 134 Kramer: The Forms of Tragedy, S. 87. 135 „Without a hyper-masculine identity, he immediately falls into assuming a femininity that becomes as equally severe in its passivity. Having lost not only the man he loves, but also, in his competition against him, the affection of Lucetta, ElizabethJane, and the community, Henchard now loses his sense of self, which was profoundly genderal, and will ultimately result in his premature loss of life“ (Jones: „Michael Henchard“, S. 12).
216 | S TEFAN H ORLACHER love for Elizabeth! His decline into stealthiness and timid, agonizing concern for her feelings suggests he is suffering a kind of chronic suicide, whereby Henchard dies slowly, inch by inch.136
Betrachtet man die zu Henchards Tod führende Infektion unter Berücksichtigung seiner sozialen Lage und seines psychischen Zustands, so kann man „the apparently senseless wandering that caused Henchard’s infection“ mit Emile Durkheim seiner „anomie, his exasperation at the reversal of all his habits“ zuschreiben und schließen, dass die von Henchard erfahrene Deregulierung seines Lebens zu einem so starken Ausmaß an „disturbance and agitated discontent“ führt, „[that he] ultimately seeks solace in acts of destruction against the self.“137 Gestützt wird diese Interpretation u.a. durch Wilhelm Strekels Konzept einer chronischen Suizidalität, die nicht zu einem abrupten, sondern graduellen, von „a series of deprivations“ bewirkten Tod führt.138 Moore vergleicht in seiner Interpretation Henchard, „[whose character] might not inaptly be described as Faust has been described – as a vehement gloomy being who had quitted the ways of vulgar men without light to guide him on a better way“ (M, 112), mit Little Father Time aus Jude the Obscure, dessen Suizid, folgt man den Spekulationen des herbeigerufenen Arztes, von einem „universal wish not to live“ motiviert ist, und interpretiert die Erzählung von Henchards Leben als „an extended metaphorsentence which sees Henchard as the instinct to sever, the Death Drive“: Entropy is the end result of Henchard’s life. His last will and testament undoes any and all remaining bindings in his life. With it, his very identity and remembered presence upon the landscape are erased. All along, his drive was towards annihilation, not sustenation; his energy spent in the process of de-energizing. […] After his unnaming testament on Egdon’s edge, he exists nowhere for nobody. His life’s trend is diametrically opposed to Tess’s or Jude’s or, for that matter, to that of any other central figure in Hardy’s fiction.139
136 Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 92; vgl. auch Paul Friedman (Hrsg.): On Suicide. Discussions of the Vienna Psychoanalytic Society, New York 21967, S. 81109, hier S. 90. 137 Giordano Jr.: ‚I’d Have My Life Unbe‘, S. 95; vgl. auch Emile Durkheim: Suicide, Glencoe/Ill. 1951, S. 271 u. 285. 138 Vgl. Friedman (Hrsg.): On Suicide, S. 90f.; Menninger: Man Against Himself, S. 78f. 139 Moore: „Death against Life“, S. 24; siehe auch Gatrell: „The Mayor of Casterbridge“, S. 63.
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M ÜNDLICHKEIT VERSUS S CHRIFTLICHKEIT , V ON DER O LD O RDER ZUR N EW O RDER
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ODER :
Wenn in The Mayor of Casterbridge jemand oder etwas triumphiert, dann sind es die Werte von Farfrae und seiner besonnenen Ehefrau Elizabeth-Jane, von der aber keinerlei neue oder für Farfrae wesensfremde Impulse ausgehen (M, 322). Da auch die Rollen der anderen Protagonistinnen eher eingeschränkt und konservativ bleiben, gehört The Mayor of Casterbridge – gerade im Vergleich zu Jude the Obscure – sicherlich nicht der New Woman-Literatur an, als deren spinoff product der New Man häufig dargestellt wird. Allerdings wird auch das von Henchard sehr plakativ verkörperte Konzept einer patriarchalen Old Order bzw. eines Old Man vom Roman nicht bestätigt, sondern in seiner Defizienz vorgeführt und demontiert. Dies geschieht auch, vielleicht sogar primär, anhand der Bedeutung sowohl des gesprochenen als auch des geschriebenen Wortes, oder, wie King ausführt: „To have a good name is to be regarded as a good person“, und: „[t]here is no killing in the novel – except by word of mouth.“140 Fast scheint es, als antizipiere The Mayor of Casterbridge das Epigramm „the letter killeth“ aus Jude the Obscure und verdeutliche auf besonders anschauliche Art und Weise sowohl die überragende Bedeutung der sprachlichen Realität als auch ihre potentiell tödliche Wirkung, so dass die eigentliche Gefahr in The Mayor of Casterbridge vielleicht viel stärker von der Sprache als von einer körperlichmateriellen Realität oder semiotischen Tiefenstruktur ausgeht.141 In der Literaturkritik ist Henchard wiederholt als Repräsentant einer alten und Farfrae als Vertreter einer neuen Ordnung charakterisiert worden.142 So sieht Goetsch in dem Kampf von Henchard und Farfrae eine Auseinandersetzung „zwischen der ländlichen Unterschicht und dem Bürgertum, zwischen einem
140 Jeannette King: „‚The Mayor of Casterbridge‘: Talking About Character“, in: The Thomas Hardy Journal 8/3 (1992), S. 42-46, hier S. 43. 141 Vgl. Horlacher: Masculinities, S. 537ff. 142 Vgl. Wolfreys: „Introduction“, S. 16, der „the figure of Henchard himself“ sogar als „a manifestation of the rural, medieval myth of the Wild Man, momentarily controlled by the organised social forces of Casterbridge, but eventually to return to the natural world“ bezeichnet. Meisel: Thomas Hardy, S. 91, sieht in Hardys Roman „the steadily developed decline of a protagonist who incarnates the older order, and whose decline is linked, more and more clearly, with an inner misdirection, an inner weakness.“ Siehe auch ebd., S. 95: „Farfrae is ‚of the age‘ like Stephen – the scientific, advanced businessman, the material representative of a new order that destroys the symbol of the old, Henchard.“
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primitiv-rücksichtslosen Wirtschaftsindividualismus und einem bürgerlich-disziplinierten Kapitalismus.“143 Allerdings stehen Henchard und Farfrae nicht nur für nach Goetschs Meinung eher graduell voneinander differierende ökonomische Systeme und Einstellungen gegenüber dem technischen Fortschritt, sondern auch für verschiedene Arten sowohl mit Emotionen als auch mit Mitmenschen umzugehen. Sie erscheinen als Stellvertreterfiguren für soziale Ordnungen und – in Analogie zu Jude the Obscure – einen radikal differierenden Umgang mit dem Medium Sprache sowohl in seiner mündlichen als auch schriftlichen Form. Im Gegensatz zu Henchard, dem ‚Mann des Wortes‘, der einer phonozentrischen Metaphysik der Präsenz verhaftet bleibt und nie wirklich realisiert, dass er die Bedeutung seiner Worte nicht kontrollieren kann, dass weniger die Worte sein Produkt sind als dass er im doppelten Sinn, nämlich als Mensch sowie als Charakter in Hardys Roman, das Produkt von Worten bzw. der Sprache ist, stellt Farfrae eine Figur dar, die sich nicht festlegen lässt. Farfrae arbeitet in den interstices und soft spaces, symbolisiert Flexibilität und entzieht sich – im Gegensatz zu Henchard, der zu einfache und zu bequeme, auf Projektion, Macht und Verdrängung basierende Grenzlinien zwischen sich und seiner Umwelt, dem Symbolischen und dem Semiotischen errichtet – wiederholt einer klaren Zuordnung: While intuitively aware of borders, Farfrae is untroubled by them; he can move from Scotland to England, from song to calculation, from one idiom to another, in a way which keeps all his options open. Master of many discourses, he not only has a ‚special look when meeting women‘ […] but also two distinct ways of talking: a simple, single, manly language with men and a coy, suggestive style with women – a pastiche of secondhand lyrics and sentiments.144
Vielleicht entspricht dieses angebliche „pastiche of secondhand lyrics and sentiments“ genau der vom Roman zu vermittelnden Einsicht, dass es keinen Ursprung und kein ‚Ur-Wort‘, sondern immer nur Differenzen gibt und dass selbst die von Garson in ihrer Kritik implizit geforderte Authentizität nicht mehr als ein Effekt der Signifikanten ist. Das für eine Analyse von Jude the Obscure so wichtige Bibelzitat „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott
143 Goetsch: Hardys Wessex-Romane, S. 221. 144 Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 107. Vgl. ebd., S. 107f.: „So firmly is this contrast established that Hardy can amusingly suggest a flash of real feeling in Farfrae simply by having him get his languages crossed – when during his first meeting with Lucetta he suddenly finds himself bursting into an unpremeditated paean to the joys of trading.“
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war das Wort“145 sowie der Kommentar des Polykarp von Smyrna: „Darum laßt uns die Torheit der Vielen und ihre falschen Lehren preisgeben, und zu dem Wort zurückkehren, welches uns von Anfang an übermittelt wurde“, trifft auch auf Henchard zu, denn er ist es, der das eine Wort sucht, das ihm für immer die Verdrängung seiner Vergangenheit und somit die Aufrechterhaltung ‚seiner‘ symbolischen Ordnung ermöglichen würde; einer ebenso patriarchalen wie interessengeleiteten Ordnung, die durch ihre metaphysische Begründung unhinterfragbar und Henchards Identität als Bürgermeister sicherstellen würde. Zwar hat die Hardy-Kritik Farfrae wiederholt Oberflächlichkeit und eine eingeschränkte Gefühlswelt vorgeworfen, im Gegensatz zu Henchard versucht er jedoch zu keinem Zeitpunkt, falsche Tatsachen vorzuspiegeln oder eine auf der freien Anerkennung des Anderen basierende symbolische Ordnung einseitig zu funktionalisieren. Farfrae verhandelt nach allgemeingültigen Regeln, hart aber fair und mit Respekt für den Anderen, während Henchard sich zwar der gleichen Sprach- und Tauschordnung bedient, diese jedoch gezielt dazu benutzt, seine Frauen zu verkaufen und Farfrae zu ruinieren. Doch wo Henchard direkt und indirekt zu sehr von seinen semiotischen Anteilen bestimmt wird, weist Farfrae zu wenige auf, um dem Leser als Mensch sympathisch werden zu können. So wird er vom Erzähler nicht über seine menschlichen Qualitäten, sondern über seine enorme Flexibilität und kreative Anpassungsfähigkeit charakterisiert, bspw. wenn er zwar den Kauf einer Sähmaschine initiiert, bezeichnenderweise nicht aber selbst durchführt, oder wenn er kurz darauf als ein singender Bestandteil innerhalb der als seltsames Zwitterwesen umschriebenen Maschine erscheint (vgl. M, 168).146 Da Farfrae zu keiner Zeit die direkte Auseinandersetzung mit Henchard sucht und auch Henchards Betrieb zwar umorganisiert und optimiert, jedoch für diesen weiterführt, da Farfrae einerseits in die alte patriarchale Ordnung von Wessex und Casterbridge ‚eindringt‘, andererseits aber von Henchard fast gegen seinen Willen zum Bleiben gezwungen wird, ist er ebenso schuldlos wie maßgeblich an Henchards ‚Tragödie‘ beteiligt, so dass man ihn als eine nicht
145 Siehe Stefan Horlacher: „From a Metaphysics of Presence to the Blessings of Absence: The Medial Construction of Masculine Identity in Thomas Hardy’s Novel Jude the Obscure“, in: JMMS – Journal of Men, Masculinities and Spirituality 1/2 (2007), S. 116-136, http://www.jmmsweb.org/; vgl. auch Horlacher: Masculinities, S. 245ff. 146 Kontrastiert und vom Text implizit affirmiert wird Farfraes Interesse für die neue Technologie durch Henchards ebenso emotionale wie irrige Äußerung: „The thing – why ’tis impossible it should act. ’Twas brought here by one of our machinists on the recommendation of a jumped-up jackanapes of a fellow who thinks---“ (M, 167).
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wirklich zuordenbare, Flexibilität mit Pragmatismus und Intelligenz verbindende hybride Figur umschreiben kann, die sich fern von jeder Metaphysik unterschiedslos der Diskurse wie der Körper annimmt: As Farfrae appropriates discourse, so too does he appropriate bodies. Farfrae puts on a role as he dons a Highland costume; he takes possession by getting inside – taking from Henchard his business, which Henchard insisted he enter, Lucetta, whom he impregnates, and his house, into the heart of which Henchard had originally conducted him. Emblematic of this facility is the image of Farfrae inside the agricultural machine […] humming one of his Scottish songs. Like the figures in a Jonsonian antimasque, who metamorphose into emblems of their ruling passions, Farfrae easily assumes the body of the horse-drill – the wooden horse by which technology is being smuggled into Casterbridge? – and speaks for it. His incorporation into a technology which will obviate the old pieties (‚the romance of the sower is gone for good‘) […] points not only to his identification with the modern but also to his power to enter and withdraw from whatever machinery he puts in motion.147
Wie schwer Farfrae einem Pol zuzuordnen ist, verdeutlicht auch die bereits angerissene Frage, ob er im Gegensatz zu Henchard für eine New Order sowie ein auf Schriftlichkeit basierendes System steht. Nach Goetsch ist Farfrae keinesfalls revolutionär und führt auch kein neues Wirtschaftssystem ein, so dass Goetsch weniger einen Riss zwischen Henchard und Farfrae als ein Kontinuum sieht.148 Allerdings kann diese an manchen Stellen zutreffende, an anderen Stellen jedoch stark harmonisierende Lesart nicht über dem Text tiefenstrukturell zugrundeliegende Oppositionen wie ‚archaisches versus modernes Wirtschaftssystem‘ oder ‚Mündlichkeit versus Schriftlichkeit‘ hinwegtäuschen. So liest Perry Meisel – im Gegensatz zu Goetsch – Hardys Roman als „the steadily developed decline of a protagonist who incarnates the older order“,149 Bruce Johnson sieht in Farfrae
147 Garson: Hardy’s Fables of Integrity, S. 108. 148 Vgl. Goetsch: Hardys Wessex-Romane, S. 220; vgl. hierzu Douglas Brown: Thomas Hardy, London 1961; Gregor: „Introduction“, S. xxv; siehe auch Wilson: „Introduction“, S. xxv, der von „the recurrent critical tendency to read Henchard and Farfrae as existing in simple opposition – Henchard embodying tradition, superstition, passion, body, the spoken word, instinct and community, Farfrae figuring modernity, science, reason, mind, the written word, calculation, and society“ spricht. 149 Meisel: Thomas Hardy, S. 91 (Herv. von mir); vgl. ebd., S. 101: „Farfrae’s prosperity as a merchant in his own right signifies the advent of the new order in its material form, the result of the decline of the old community as embodied in Henchard’s fall.
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„an uncanny portrait of what might be called, in comparison with the Industrial Revolution, the Managerial Revolution“,150 Dale Kramer spricht von „Farfrae’s command of modern machinery and business techniques“151, und auch Ingersoll argumentiert, dass Farfrae durch sein Wissen über den Umwandlungsprozess des verdorbenen Weizens als „the exponent of a new technology“ erkennbar wird. Zwar mag diese Technologie auch Nachteile mit sich bringen152, doch darf nicht vergessen werden, dass die anhand von Henchard dargestellten „traditional notions of human relationships“ in der Regel weit weniger human sind als der von Farfrae eingeführte Umgang. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass das mit Farfrae verbundene ‚Eindringen‘ einer neuen Technologie, eines paradoxerweise gefühlskälteren, aber humaneren Miteinanders und einer emotionslosen Ökonomie – „’tis a shilling a week less“ (M, 219) – ganz wesentlich an das Medium der Schrift gekoppelt ist.153 In der Tat bringt Farfraes sich aus einem schriftlich fixierten Wissen heraus speisende Überlegenheit Henchard, den ‚Antigraph‘ und Mann des gesprochenen Wortes – „I am a poor tool with a pen“ (M, 128) –, in eine für ihn ungewohnte und mit Weiblichkeit konnotierte Position der Schwäche und Abhängigkeit. Zwar erahnt Henchard das enorme Potential der schriftlichen Kodierung und besteht wiederholt darauf, dass sich Elizabeth-Jane in diese Ordnung einfügt, ihr eigentlicher Funktionsmechanismus bleibt ihm jedoch wesensfremd, so dass sich Farfraes ursprüngliches Geschenk letztlich als echtes Pharmakon im Sinne von Heilmittel/Gift erweist und Henchards Abstieg zumindest mitbedingt. Garantiert das Blatt aus Farfraes „pocket-book“ Henchards Überleben in der ‚Weizen-Affäre‘ und ermöglicht Farfraes Überarbeitung seiner Bücher den vorläufigen Aufschwung des „Mayor of Casterbridge“, so ist es letztlich Henchards Unfähigkeit, sich selbst dieses Mediums zu bedienen oder es zumindest zu verstehen, die für sein Scheitern verantwortlich ist. Die Schrift als Pharmakon trägt erst zu Henchards Genesung bei, um ihn dann mit ihren Nebenwirkungen zu töten. Dabei hätte er nur den Beipackzettel lesen müssen, was bedeutet hätte, sich der Schrift und ihren von Farfrae symbolisierten Prinzipien der Distanz, Absenz und Demokratie unterzuordnen, den Anderen nicht zu vereinnahmen, sondern als
‚The character of the town’s trading had changed from bulk to multiplicity‘“; siehe auch Thurley: The Psychology of Hardy’s Novels, S. 147. 150 Bruce Johnson: „The Mayor of Casterbridge“, in: Wolfreys (Hrsg.): New Casebooks, S. 31-39, hier S. 36. 151 Kramer: „Character and the Cycle of Change”, S. 119. 152 Vgl. Ingersoll: „Writing and Memory“, S. 301. 153 Vgl. Horlacher: Masculinities, S. 546ff.
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Anderen anzuerkennen und sein auf emotionalen Ausbrüchen, körperlicher Überlegenheit und einem unreflektiert-essentialistischen Verständnis von Männlichkeit basierendes Dominanzverhalten aufzugeben. Henchards sich im Medium der Schrift niederschlagender Kategorienfehler zeitigt vor allem deshalb so tragische Folgen, weil er verkennt, dass es kein Außerhalb der Schrift gibt und dass erfolgversprechende Lösungen einen subversiven Charakter aufweisen und aus dem Inneren des Systems selbst stammen müssten. Stattdessen bleibt Henchard einer Opposition von immateriellem Gedächtnis, Stimme und vermeintlicher Sinnpräsenz versus materiellem Gedächtnis, Schrift/Zahlen und Absenz verhaftet, wird über ihn die Thematik der Mündlichkeit und des Erinnerns an ein ebenso metaphysisches wie patriarchal-konservatives Werte- und Machtsystem gekoppelt. Indem Farfrae versucht, Naturprozesse besser zu kontrollieren154 – „No more sowers flinging their seed about broadcast, so that some falls by the wayside and some among thorns, and all that. Each grain will go straight to its intended place, and nowhere else at all“ (M, 168) –, ersetzt er „the leaping of the sower’s seed with a calculated implanting“155 und im übertragenen Sinn Henchards unkontrollierte Wutausbrüche und Irritationen durch Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit. Kann man argumentieren, dass Henchard im Gegensatz zu Farfrae einer ‚natürlichen‘, an D.H. Lawrence erinnernden Ordnung angehört, so ist diese, zumindest in der von Henchard repräsentierten wandlungs- und kompromissunfähigen Form, dem Untergang geweiht.156 Wie antagonistisch sich Henchard zur New Order der Schrift verhält,157 wird besonders anhand seines letzten Willens deutlich, eines Schriftstücks, das Henchard als den Mann fest-
154 Von daher könnte man Farfrae durchaus auch als Vorläufer einer instrumentalisierenden Naturwissenschaft bezeichnen. Im Gegensatz zu Henchard kann Farfrae vor allem deshalb natürliche Prozesse manipulieren, weil er einem metaphysischen, Natur mit Authentizität und Tiefe verbindenden Diskurs weitgehend entzogen bleibt, weil er aus textstrategischen Gründen stärker einer symbolischen als einer mythischen Ordnung der Zeichen angehört und weil er in vielen Aspekten zwar antithetisch zu Henchard, jedoch ähnlich hyperbolisch wie dieser entworfen ist. 155 Ingersoll: „Writing and Memory“, S. 305. 156 Vgl. Johnson: „The Mayor of Casterbridge“, S. 38; siehe auch Joe Fisher: „The Mayor of Casterbridge: Made of Money“, in: Wolfreys (Hrsg.): New Casebooks, S. 132-152, hier S. 135, und vgl. kritisch Thurley: The Psychology of Hardy’s Novels, S. 148. 157 Statt dass Henchard Farfrae als Schwiegersohn in sein Unternehmen aufnimmt, schreibt er einen seiner wenigen Briefe und untersagt ihm, Elizabeth-Jane weiter zu sehen. Die Konsequenzen dieses Schreibens erweisen sich für Henchard als fatal.
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schreibt, an den sich alle erinnern, und vor allem deshalb erinnern, weil sich niemand erinnern soll – „[T]hat no man remember me. To this I put my name. MICHAEL HENCHARD“ (M, 321). Darüber hinaus ist Henchards Testament voller Orthographiefehler und wirkt wie mündliche Rede: Although it is a written text, Henchard’s will privileges speaking over writing. It is as though Henchard himself is aware that writing may relieve the writer of the obligation to remember what has been written. At the same time this writing is a pharmakon because of its indeterminacy: it is a writing pretending to be written speech, a speech intended not to valorize but to eradicate memory.158
H ARDYS P ROTAGONISTEN UND DIE F RAGE NACH DEM N EW M AN Signifikanterweise gehören die letzten Seiten des Romans nicht Henchard, sondern Farfrae und Elizabeth-Jane, ihrer ruhigen Sachlichkeit und Besonnenheit, ihrer „message of domestic serenity“ und ihrem „Victorian feminine wisdom of ‚making limited opportunities endurable‘“.159 Was auf den ersten Blick als eine konventionell-genügsame Lösung erscheinen mag, erhält vor dem Hintergrund patriarchaler Machtsysteme des 19. Jahrhunderts schnell eine eigene Dimension, verbinden sich doch Weiblichkeit und Männlichkeit, das Semiotische und das Symbolische, sei es durch die Nähe des Schotten zum Tanz und zur Musik oder durch Elizabeth-Janes Charakterisierung, „[that] her word was law“ (M, 297; Herv. von mir). In der Tat verändert sich unter der neuen Führung von ElizabethJane und Farfrae, dem neuen „Mayor of Casterbridge“, der Charakter der Stadt hin zu einer fortschrittlicheren „gentled community, its old rough ways made civil, its rough edges softened.“160 Das dabei vom Text entworfene Modell einer neuen Partnerschaftlichkeit läuft den Wunschphantasien der Anhänger einer essentialistisch konzipierten ‚natürlichen‘ Männlichkeit diametral entgegen, nähert beide Geschlechter in einem sowohl intra- als auch interpsychischen Prozess der
158 Ingersoll: „Writing and Memory“, S. 307. 159 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 113; vgl. auch M, 322. 160 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 113.
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negotiation einander an161 und bindet sie in die symbolische Ordnung und somit in die Gesellschafts- und Machtprozesse ein. Allerdings macht dies Hardys Roman nicht automatisch zum Bestandteil einer bis heute weitgehend ignorierten und auch wissenschaftlich eher oberflächlich aufgearbeiteten Reihe von Texten, die sich mit dem New Man befassen, erweisen sich die vermeintlichen New Men doch häufig als alles andere als von männlichen Schriftstellern ausgehende Reflexionen über das eigene Geschlecht. Was bei dem Entwurf des neuen, angeblich „idealen Mann[es]“162 auffällt, ist erstens eine europäische Dimension, findet er sich doch im französischen – genannt sei hier nur Marcelle Tinayres Hellé (1899) – genauso wie im holländischen – bspw. in Cecile de Jong van Beek en Donks Frauen, die den Ruf vernommen – oder im englischsprachigen Roman163, und zweitens die Tatsache, dass der New Man primär als Teil der New Woman-Literatur auftaucht. The new moral order envisaged […] would be brought into being first by women’s recognition, development, and assertion of their own special nature as the mothers of the race, and, second, by women’s transformation of men, from whom the New Woman must ‚banish the brute‘. The crucial gender redefinition in this particular renovatory model is the redefinition of masculinity and male sexuality. Men, whom the social-purity feminists saw as (in their normal social state) aggressive, selfish, and prone to ‚unbridled sensuality‘, must become spiritualized. In short, men must become more like women.164
161 „Hardy [...] investigated the Victorian codes of manliness, the man’s experience of marriage, the problem of paternity. For the heroes of the tragic novels – Michael Henchard, Jude Fawley, Angel Clare – maturity involves a kind of assimilation of female suffering, an identification with a woman which is also an effort to come to terms with their own deepest selves.“ (Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 114); vgl. auch ebd.: „[In] The Mayor of Casterbridge the feminist critic can see Hardy’s swerving from the bluff virility of the Rabelais Club, and the misogyny of Gosse, towards his own insistent and original exploration of human motivation. The skills which Henchard struggles finally to learn, skills of observation, attention, sensitivity, and compassion, are also those of the novelist; and they are feminine.“ 162 Vgl. Livia Z. Wittmann: „Träume, Utopien und Wege zur Verwirklichung. Entwürfe der ‚neuen Frau‘ in Romanen des Auslands um 1900“, in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 2, München 1988, S. 205-220. 163 Siehe auch die Romane Hermione und In Revolt der Neuseeländerin Edith Searle Grossmann. 164 Lyn Pykett: Engendering Fictions, London u.a. 1995, S. 39.
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In diesem Sinn argumentiert Stephanie Forward, „[that] female writers generally refrained from depicting all the male characters in their books as absolutely evil and selfish: common sense told them that men were not to blame for all of the problems experienced by women“,165 und zeigt, dass es gerade die Autorinnen der heute eher unbekannten New Woman-Romane sind, „[who] gave much thought to the positive qualities required in men if relationships between the sexes were to improve.“166 Dass die Konzeptionen der New Men trotzdem oft farblos bleiben167, mag einerseits mit der Problemstellung, andererseits aber auch mit der uneinheitlichen Qualität der New Woman-Literatur zusammenhängen. Stellt man Hardy in eine Reihe mit Autorinnen wie Olive Schreiner, Sarah Grand, George Egerton und Mona Caird,168 so weist Farfrae durchaus Ähnlichkeit mit einem New Man auf, „[who] desires ‚companionship and co-operation rather than passive submission […]. Indeed, ‚A certain mental camaraderie and community of impersonal interests is imperative in conjugal life in addition to a purely sexual relation, if the union is to remain a living and always growing reality.‘“169 Allerdings erscheinen gerade bei Sarah Grand und Olive Schreiner die Konzeptionen der New Woman und des New Man als rückwärtsgewandte Konstrukte bzw. „reincarnations of an ancient type, combining the best qualities of older times with the best of contemporary society.“170 Und von Mona Cairds Wissenschaftler Grierson Elliot aus The Great Wave (1931), der als Beispiel eines „convincing New Man“ angeführt werden könnte – „a sensitive soul, who chooses to be a vegetarian, refuses to shoot or hunt, and who regards women with respect. He finds it incomprehensible that freedom should be denied to women“171 –, ist Farfrae ziemlich weit entfernt, so dass der von Showalter in Bezug auf The Mayor of Casterbridge ins Spiel gebrachte New Man-Begriff nicht problemlos mit dem Konzept des New Man als Gegenstück zur New Woman in den Texten von Grant, Egerton, Schreiner oder Caird gleichzusetzen ist. Zudem handelt es sich bei letzteren um Texte, die analog zu den ihnen zugrundeliegen-
165 Stephanie Forward: „The ‚New Man‘ in Fin-de-Siècle Fiction“, in: Women’s Writing 5/3 (1998), S. 437-456, hier S. 437. 166 Ebd., S. 437. 167 Vgl. ebd. 168 Für Sekundärliteratur zur New Woman- und New Man-Thematik siehe die bibliographischen Angaben bei Horlacher: Masculinities, S. 189. 169 Forward: „The ‚New Man‘“, S. 439. 170 Ebd., S. 441. 171 Ebd., S. 452.
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den theoretischen Ansätzen einen starken Lebenswelt- und Realismusbezug aufweisen, den aber gerade Hardy immer wieder selbstreflexiv, metaphorisch oder allegorisch transzendiert.172 So ist die Frage, ob es sich bei Donald Farfrae und später auch Jude Fawley um als Gegenstück zur New Woman konzipierte New Men handelt angesichts der gerade für Hardys Texte komplexen Auffassungen von Textualität, Fiktionalität und Realität wie auch von männlicher und weiblicher Identität nur dann sinnvoll, wenn man den New Man nicht vereinfachend als Gegenstück zu einer über feste Kriterien und somit zwar für die Entstehungszeit feministisch-fortschrittlichen, letztendlich jedoch wieder über Dichotomien gedachten New Woman versteht, sondern wenn man einen Schritt weiter geht und unter dem Konzept des New Man die eventuell auch medial-zeichenhafte Konstruktion einer Maskulinität subsumiert, die sich möglichst frei von traditionellen Dichotomien bzw. von jeder Fiktion eines vorgängigen stable meaning oder stable self entwirft173 und die sich deshalb auch nicht notwendigerweise gegen eine New Woman abgrenzen muss, um überhaupt entstehen zu können. Zwar werden in The Mayor of Casterbridge anhand von Henchard eine plakative phallische Maskulinität wie auch sicher geglaubte stabile Definitionen von Männlichkeit nachdrücklich kritisiert, zwar ist Farfrae im Vergleich zu Henchard eindeutig fortschrittlich konzipiert, da er seine Männlichkeit und Identität sehr viel weniger als dieser unreflektiert essentialistisch begründet und auch nicht mehr als phallisch-rigide entwirft, doch ist Farfrae auch von mangelnder psychologischer Tiefe geprägt, weist Entwurfcharakter auf und bleibt so zweidimensional, dass er als Protagonist nicht überzeugen kann. So harmonisch und vielleicht auch fortschrittlich die gegen Ende des Romans porträtierte „message of domestic serenity“174 erscheinen mag, Simon Gatrell sieht in dem Romanende eher „the success of the mediocre“175 und hat insofern Recht, als es den das Buch dominierenden Eindruck Henchards nicht auslöschen kann und der Entwurf eines überzeugenden New Man Hardy zumindest in diesem Roman nicht gelingt.
172 Vgl. Stefan Horlacher: „‚…and he took it literally‘ – Literatur als Instrument der Lebenskunst. Konzeptionen (in)adäquater Lektüre in Thomas Hardys Roman Jude the Obscure“, in: Annegreth Horatscheck u.a. (Hrsg.): Literatur und Lebenskunst. Reflexionen zum ‚guten Leben‘ im britischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts, Trier 2008, S. 139-174. 173 Vgl. Horlacher: „The Medial Construction of Masculine Identity“. 174 Showalter: „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, S. 113. 175 Gatrell: „The Mayor of Casterbridge“, S. 67.
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Es ist zwar richtig, dass Hardys Roman trotz aller Sympathielenkung zugunsten von Henchard keinesfalls der von diesem symbolisierten Old Order nachtrauert und Henchard seine Transformation hin zu einer flexibleren und fortschrittlicheren männlichen Identität nicht überlebt, sondern nicht zuletzt dank seines Testaments geradezu spektakulär scheitert, doch verblassen die anderen Romanfiguren neben seiner energievoll-egomanen und irrationalen Gestalt, bleibt Farfrae, der als rational-verlässlicher Repräsentant einer neuen Ordnung des technischen Fortschritts und eines emotionslos-respektvollen Umgangs mit Alterität steht, viel zu oberflächlich, mechanisch und konzepthaft. Mit den im Roman angebotenen, die traditionell patriarchalen Strukturen modifizierenden Lösungen wird die Stadt Casterbridge einen tanzenden Stern sicher nicht gebären können, erweist sich Farfrae doch viel zu sehr als ein offensichtliches Denkkonstrukt bzw. eine ästhethisch und psychologisch wenig überzeugende Konkretisierung eines diskursiven Werteensembles. Ordnet man abschließend The Mayor of Casterbridge in die zeitliche Abfolge Hardys großer Romane ein, so kann Farfrae als Hardys früher blueprint eines New Man (im weiteren Sinne) und als Ausgangspunkt einer eigenständigen Entwicklungslinie gesehen werden, die über Giles Winterbourne (The Woodlanders) und Angel Clare (Tess of the d’Urbervilles) schließlich zu Jude Fawley (Jude the Obscure) als einem psychologisch enorm differenzierten Charakter führt.176 Vor allem Jude weist die für eine entsprechende Problematisierung männlicher Identität notwendige psychologische Komplexität auf, wobei er und Farfrae auf binnenfiktionaler Ebene entschieden differieren, da Judes Konzeption sehr viel stärker als Farfraes den traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen und Dichotomien widerspricht und Jude stärker als Farfrae traditionell weiblich konnotierte Charaktereigenschaften aufweist. Im Gegensatz zu Farfrae verfügt Jude mit Sue Bridehead auch über das Gegenstück einer potentiellen New Woman, ermöglicht er dem Leser Identifizierungen sowie eine emotionale Beteiligung, so dass die in The Mayor of Casterbridge bereits angedachte Aufhebung reduktionistischer Grenzen und klassifikatorischer Schemata wie auch die Einsicht, „that all labels that ‚ticket‘ a person, especially the most common ones of gender and class, are
176 Hardy unter traditioneller New Woman- oder New Man-Literatur kategorisieren zu wollen, ist problematisch, stark verkürzend und wird der komplexen Auffassung von Textualität, Fiktionalität und Realität, die seine Romane prägt, nicht gerecht. Sicherlich existieren durchaus Analogien, doch weisen die weiblichen und männlichen Charaktere zumindest seines Spätwerks eine bemerkenswerte psychische Komplexität auf, die ganz neue und andere Fragen eröffnet.
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false“177 , erst in Hardys letztem Roman anhand des ebenso dynamischen wie tragisch-dekonstruktiven Zusammenspiels zwischen Jude und Sue überzeugend in Szene gesetzt werden.
177 Higonnet: „Introduction“, S. 4.
Der Held als Soziopath Verbrechen und Krankheit in Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Erzählungen L UCIA K RÄMER
I’m not a psychopath, Anderson, I’m a highfunctioning sociopath. Do your research. SHERLOCK HOLMES IN A STUDY IN PINK AUS DER REIHE SHERLOCK
Die preisgekrönte Fernsehfilm-Reihe SHERLOCK der BBC, welche Fälle und Figuren aus Arthur Conan Doyles spätviktorianischen Sherlock-Holmes-Erzählungen kongenial in das London der 2010er Jahre überträgt, hat zusammen mit den erfolgreichen Action-Komödien SHERLOCK HOLMES (2009) und SHERLOCK HOLMES: A GAME OF SHADOWS (2011) von Regisseur Guy Ritchie in den vergangenen Jahren zu einer deutlich spürbaren Holmes-Renaissance in der britischen Populärkultur geführt. Dabei fällt auf, dass Sherlock Holmes in all diesen Adaptionen ein äußerst ungewöhnliches Sozialverhalten an den Tag legt. In SHERLOCK bezeichnet er sich, wie das oben stehende Zitat zeigt, gar selbst als Soziopath, charakterisiert sich also selbst als eine Person, die bezüglich ihres Sozialverhaltens als krank einzustufen sei. In der Tat ist dieser Holmes nur eingeschränkt empathiefähig, missachtet soziale Normen, hat eine sehr niedrige Frustrationsschwelle und ist weitgehend unfähig, zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen und aufrecht zu erhalten. Zwar sind diese Eigenschaften in Doyles Texten angelegt, doch werden sie in den Adaptionen besonders betont. Ihre primäre Funktion ist es, Holmes als liebenswerten Exzentriker zu charakterisieren. Sie erzeugen eine häufig komische Distanz gegenüber der Figur, wobei der sehr
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augenzwinkernde Umgang mit der Vorlage und das Spiel mit dem Vorwissen des Zuschauers den Kunstcharakter der Figur unterstreichen. Wenden wir uns der literarischen Vorlage, also Arthur Conan Doyles Erzählungen, zu, so fehlt diese durch den Adaptionsprozess entstehende Distanz natürlich. Holmes’ Exzentrik jedoch bleibt und wirft in Anlehnung an die jüngsten TV- und Filminkarnationen des Meisterdetektivs die Frage auf, ob bzw. inwiefern auch der literarische Holmes eventuell als krankhaft einzustufen sei. Tatsächlich versucht der vorliegende Beitrag aufzuzeigen, dass der Detektiv Holmes aufgrund des im britischen Spätviktorianismus üblichen diskursiven Konnexes von Verbrechen und Krankheit in Doyles Geschichten zwangsläufig im Dunstkreis des Pathologischen operiert. Dabei erweist sich Holmes allerdings als eine äußerst ambivalente, ja gespaltene Figur. Einerseits löst er Verbrechen und Probleme und stützt so zumindest scheinbar den Rechtsstaat und somit implizit die gesellschaftliche Ordnung. Stellen wir den Bezug zur Metapher vom Verbrechen als Krankheit her, so wirkt er also als Arzt, der ein soziales Übel heilt. Andererseits machen Holmes’ Brillanz, Exzentrik, Asexualität und Solipsismus ihn aber auch zum gesellschaftlichen Außenseiter. Er bewegt sich darüber hinaus jenseits offizieller Strafverfolgung und Rechtsprechung. Aufgrund dieser Eigenschaften entspricht Holmes keineswegs der ‚gesunden‘ spätviktorianischen Lebensnorm. Die Figur schwankt somit zwischen Pathologisierung und hegemonialer ReAffirmation – eine Ambivalenz, welche überdies dadurch unterstrichen wird, dass Doyle in Holmes mit man of action und decadent zwei scheinbar inkompatible stereotype Männlichkeitsentwürfe vereint. Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Erzählungen – es handelt sich dabei um vier Romane und 56 Kurzgeschichten, von denen die meisten zunächst im Magazin The Strand erschienen – entstanden zwischen 1887 und 1927. Trotz dieses Zeitraums von 40 Jahren strahlen die Texte insgesamt eine sehr spätviktorianische Aura aus, denn zwei Drittel der Erzählungen erschienen zwischen 1887 und 1903, und bis auf sehr wenige Ausnahmen spielen alle Geschichten in der Spätphase von Königin Viktorias Regierungszeit.1 Holmes ist oft als Antwort auf Ängste des Spätviktorianismus interpretiert worden, in welchem der Optimismus der früh- und hochviktorianischen Phase angesichts besorgniserregender Entwicklungen auf innen- und außenpolitischer Ebene einem wachsenden Pessimismus wich. So verschärfte etwa eine lang andauernde Rezession in den 1880er Jahren die ohnehin schon prekären Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, führ-
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Rosemary Jann: The Adventures of Sherlock Holmes: Detecting Social Order, New York 1995, S. 3.
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te zu Streiks und mancherorts sogar zu Aufständen. Feministische Bestrebungen und der Beginn der Suffragetten-Bewegung2 nagten an der etablierten Geschlechterordnung. Mehrere Polizeistreiks und -skandale in den 1870er und 1880er Jahren sowie die Mordserie von Jack the Ripper im Jahr 1888 erschütterten das Vertrauen in die Effektivität der öffentlichen Ordnungshüter und das Sicherheitsgefühl. Letzteres umso mehr als es irischen Nationalisten gelang, mit Sprengstoffanschlägen den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands bis in die britische Hauptstadt zu tragen. Irland war damit der im Mutterland am unmittelbarsten präsente Konfliktherd des Empire, dessen Erhaltung sich zur Jahrhundertwende hin als eine stetig wachsende Herausforderung erwies. Darüber hinaus war Großbritanniens internationale Vormachtstellung durch die wachsende ökonomische Stärke Deutschlands und der USA bedroht.3 Mit diesen Krisen ging ein zunehmendes Interesse an physischer und moralischer Degeneration einher, bezogen sowohl auf das Individuum als auch auf Kultur und Gesellschaft. Die Darwin’sche Evolutionstheorie hatte ein Bewusstsein für die Phänomene Vererbung und Auslese geschärft und somit den Blick auf Erscheinungen gelenkt, die als Zeichen von Degeneration gedeutet werden konnten. Dieser Diskurs hat deutliche Spuren in den Sherlock-Holmes-Erzählungen hinterlassen. In The Hound of the Baskervilles zum Beispiel fallen die Mitglieder der Familie Baskerville vererbten Herz- und Nervenschwächen zum Opfer4, in „The Adventure of the Copper Beeches“ stellt Holmes bei einem Jungen einen vererbten Hang zu unnormaler Grausamkeit fest5, und es gibt mehrere Beispiele dafür, dass junge Sprösse adeliger Familien, d.h. junge Menschen mit vermeintlich hervorragendem Erbmaterial, trotz bester Ausbildung bewusst zu Verbrechern werden.6 In der üblichen Lesart fungiert Holmes in diesem Kontext der Krise als Verkörperung von Initiative und Unternehmergeist, von Kraft, Vernunft, Recht und Stabilität.7 Der Verbrecher dagegen verkörpert die Gefahr, den Fortschritt der
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Vgl. die Gründung der National Union of Women’s Suffrage Societies im Jahr 1897.
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Vgl. Joseph A. Kestner: Sherlock’s Men: Masculinity, Conan Doyle, and Cultural History, Aldershot u.a. 1997, S. 7-12; John Pemble: „Gaslight and Fog“, in: London Review of Books 34/2 (2012), S. 21-22, hier S. 21.
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Vgl. Catherine Wynne: „Sherlock Holmes and the Problems of War: Traumatic Detections“, in: ELT 53/1 (2010), S. 29-53, hier 39.
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Arthur Conan Doyle: The Penguin Complete Sherlock Holmes, London 2009, S. 330. Im Folgenden zitiert mit der Sigle SH und der Seitenzahl.
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Kestner: Sherlock’s Men, S. 19f.
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Pemble: „Gaslight and Fog“, S. 21.
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Gesellschaft zu bremsen oder ihn gar umzukehren. Dabei erscheint die Kriminalität aufgrund der engen diskursiven Verzahnung der semantischen Felder ‚Krankheit‘ und ‚Verbrechen‘ im Spätviktorianismus metaphorisch als eine Krankheit der Gesellschaft; Ordnungshüter und Detektive rücken als Vertreter der Institutionen in die Rolle heilender Ärzte. Maria Cairney weist in ihrem Aufsatz „The Healing Art of Detection“ (2008) die diskursive Verzahnung von Krankheit und Verbrechen im Spätviktorianismus nach, indem sie aus Texten englischer Sozialreformer zitiert. So bezeichnete etwa Andrew Mearns in seinem Pamphlet The Bitter Cry of Outcast London (1883) die Londoner Slums als „hotbeds of vice and disease“ und als „plague house of sin and corruption“; er vermittelt also den Eindruck, moralisches Fehlverhalten sei übertragbar wie eine ansteckende Krankheit. William Booth, der Gründer der Heilsarmee, stellt in In Darkest England and the Way Out (1890) ebenso eine Verbindung zwischen Krankheit und Verbrechen her, wenn er von der Gefahr einer Ansteckung ehrlicher Personen durch Kriminelle spricht.8 In der Tat durchzieht die Metapher von ‚social disease‘ oder ‚social malady‘ die sozialreformerische Literatur Großbritanniens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie bezeichnete die Armut und menschenunwürdigen Lebensumstände weiter Bevölkerungsteile, die aus der rapiden Industrialisierung des Landes im Lauf des 19. Jahrhunderts erwachsen waren. Im größeren Rahmen dieser ‚social disease‘ ist dabei häufig die Rede von ‚moral disease‘, womit die als unmoralisch verstandenen Verhaltensweisen gemeint sind, die als Konsequenzen des Elends entstanden.9
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Maria Cairney: „The Healing Art of Detection: Sherlock Holmes and the Disease of Crime in the Strand Magazine“, in: Clues: A Journal of Detection 26/1 (2008), S. 6274, hier S. 64.
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Vgl. z.B. Octavia Hill: Homes of the London Poor and Andrew Mearns. The Bitter Cry of Outcast London: An Inquiry into the Condition of the Abject Poor, London 1970, S. 18, 27 [ursprüngl. 1875 (Hill) und 1883 (Mearns)]; Anon.: „Is It not Time?“ Pall Mall Gazette, 16. Okt. 1883, in: Andrew Mearns: The Bitter Cry of Outcast London. With Leading Articles from the Pall Mall Gazette of October 1883 and Articles by Lord Salisbury, Joseph Chamberlain and Forster Crozier, hrsg. von Anthony S. Wohl, Leicester/New York 1970, S. 81-84, hier S. 83; Lord Salisbury: „Labourers’ and Artisans’ Dwellings“, in: The National Review 9, Nov. 1883, in: Andrew Mearns: The Bitter Cry of Outcast London, S. 113-129, hier S. 113, 118, 127; Joseph Chamberlain: „Labourers’ and Artisans’ Dwellings“, in: The Fortnightly Review 204 (New Series), 1. Dez. 1883, in: Andrew Mearns: The Bitter Cry of Outcast London, S. 137153, hier S. 139-40; Thomas Henry Huxley: Social Diseases and Worse Remedies:
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Anders als Cairneys Text vermuten ließe, bezieht sich die Metapher von ‚moral disease‘ neben der vermeintlichen allgemeinen moralischen Verrohung der Gesellschaft vor allem auf Aspekte der Sexualmoral. Sie schließt in erster Linie die Prostitution ein, aber zum Beispiel auch sexuelle Promiskuität und jene Fälle von Inzest, die als Konsequenz der durch Wohnungsnot in den Slums verursachten beengten Wohnverhältnissen zu beobachten waren.10 Für den Nachweis des spätviktorianischen diskursiven Konnexes von Verbrechen und Krankheit liefert die sozialreformerische Literatur, auf welche Cairney verweist, also zwar einige wenige Nachweise. Eine noch fruchtbarere Quelle für entsprechende Sprachbeispiele sind aber zeitgenössische Texte über das britische Gefängniswesen. Der Strafvollzug in viktorianischen Gefängnissen basierte nämlich grundlegend auf der Vorstellung, dass kriminelle Verderbtheit wie eine ansteckende Krankheit an andere übertragen werden könne. So war im so genannten ‚separate system‘ und ‚silent system‘ den Gefangenen jeglicher Kontakt untereinander verboten, um zu verhindern, dass sie einander negativ beeinflussten und ihre moralische ‚Krankheit‘ an harmlosere Mitgefangene weitergaben. Die Gefangenen saßen in Einzelhaft, es war ihnen untersagt, miteinander zu sprechen, und während der einen Stunde täglich, in der sie im Hof hintereinander im Kreis marschierten, oder wenn sie die Messe besuchten, trugen sie Masken, die das Erkennen und die Kontaktaufnahme verhindern sollten.11 Die zeitgenössische Literatur über das britische Gefängniswesen ist voller Textbeispiele für diese diskursive Pathologisierung von Verbrechen (und Verbrechern). Michael Davitt etwa unterscheidet in Leaves from a Prison Diary (1885) zwischen „hardened criminals and those less infected with moral disease“, welche voneinander getrennt gehalten werden müssten, um die Gefahr von „contamination“ möglichst gering zu halten.12 Jabez Spencer Balfour beschreibt in My Prison Life (1907) das Ziel, „to keep first offenders from the degradation
Letters to the Times on Mr. Booth’s Scheme, Bibliobazaar 2010. [Nachdr. von 1891], S. 50f. 10 Vgl. z.B. Hill: Homes of the London Poor sowie Josephine Butler: The Constitution Violated: An Essay, Edinburgh 1871. 11 http://nationalarchives.gov.uk./documents/education/victorian_prison.pdf (Zugriff am 12.01.2014). Es ist wenig überraschend, dass dieses Einzelhaftsystem, insbesondere wenn es mit völlig sinnloser Zwangsarbeit (z.B. Tretmühle, Handkurbel, Zupfen von Werg) verbunden war, viele Häftlinge in den Wahnsinn trieb. 12 Michael Davitt: Leaves from a Prison Diary, or, Lectures to a Solitary Audience, London 1885, S. 226, 229.
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and contamination of association with habitual criminals”13 und charakterisiert die Gefangenen zudem als „unhealthy natures“14. Auch Edmund F. Du Cane greift in An Account of the Manner in which Sentences of Penal Servitude are Carried out in England (1882) in seiner Beschreibung des Einzelhaftsystems auf den Begriff „contamination“ zurück: „we provided that every convicted prisoner should be lodged in a separate cell where he should eat and sleep alone, unable to contaminate others or be contaminated himself.“15 Ebenso erläutert Arthur Griffiths in Memorials of Millbank, and Chapters in Prison History (1884): „In the silence of the cell contamination cannot be received or imparted“.16 Er bezeichnet das Übergreifen von Fehlverhalten innerhalb der Haftanstalt von Schwerkriminellen auf andere Gefangene darüber hinaus als „contagion“17. Wenn das Verbrechen nun aber wie in diesen Textbeispielen als „disease“ und der Verbrecher als „unhealthy“ und als Gefahr von „contamination“ und „contagion“ gesehen wird, welche Rolle fällt dann in fiktionalen literarischen Texten über Verbrechen und Verbrecher dem Ermittler zu? Cairney beantwortet diese Frage in Bezug auf die zwölf Sherlock-HolmesGeschichten im ersten der Holmes-Sammelbände, The Adventures of Sherlock Holmes (1892). Sie beobachtet, dass durch den Gebrauch von mehrdeutigen Begriffen wie etwa „outbreak“ und „symptoms“ in diesen Erzählungen wiederholt die krankhafte Natur von Verbrechen und Verbrechern betont oder zumindest evoziert wird.18 Dadurch findet laut Cairney immer wieder eine „category slippage between ‚criminal‘ and ‚patient‘ and, by extension, ‚doctor‘ and ‚detective‘“ statt sowie eine “frequent slippage between metaphors of heredity and those of contagion.“19 Verbrechen erscheint also nicht nur als übertragbare Krankheit, sondern sogar als genetischer Verfall oder Erbkrankheit. Darüber hinaus findet diskursiv keine klare Trennung zwischen beidem statt. Holmes schlüpft in dieser
13 Jabez Spencer Balfour: My Prison Life, London 1907, S. 45. 14 Ebd., S. 346. 15 Edmund Frederick Du Cane: An Account of the Manner in which Sentences of Penal Servitude are Carried out in England, London 1882, S. 13. 16 Arthur Griffiths: Memorials of Millbank, and Chapters in Prison History, London 1884, S. 143. Die Metapher der ‚contamination‘ ist auch zu finden in: John William Horsley: Jottings from Jail: Notes and Papers on Prison Matters, London 1887, S. 175 und in: Oscar Wilde: Children in Prison and Other Cruelties of Prison Life, London 1898, S. 10. 17 Griffith: Memorials of Millbank, S. 117. 18 Cairney: „The Healing Art of Detection”, S. 67, 71. 19 Ebd., S. 63, 69.
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Konstellation laut Cairney in die Rolle des Genesung versprechenden Arztes. Wenn Verbrechen medizinisch codiert ist, eröffnet das ja die Hoffnung auf eine Heilung von Verbrechen durch Wissenschaft,20 und in der Tat geht Holmes bei seinen Fällen mit derselben Methodik klinischer Diagnostik vor wie ein Arzt.21 Doyle unterstreicht die Wissenschaftlichkeit von Holmes – und damit implizit seine Autorität – indem er ihn in den Erzählungen immer wieder chemische Experimente durchführen lässt. Außerdem insistiert Holmes auf der Wissenschaftlichkeit seiner Deduktionsmethode (z.B. SH 636, 774). Die implizite Charakterisierung von Holmes als Arzt wird dabei zum Beispiel in der Geschichte „The Problem of Thor Bridge“ explizit, als sein Kunde Holmes’ Arbeit an einem Fall mit der eines Mediziners vergleicht, der zuerst alle Smyptome kennen will, bevor er seine Diagnose abgibt – einer Charakterisierung, der Holmes voll zustimmt (SH 1060). Die Überschneidung der Kategorien ‚Krankheit‘ und ‚Verbrechen‘ und somit Holmes’ implizite Rolle als Arzt, wird auch in „The Adventure of the Dying Detective“ deutlich, wo der Schurke Culverton Smith Holmes mit den Worten charakterisiert: „He is an amateur of crime, as I am of disease. For him the villain, for me the microbe“ (SH 937). In „The Adventure of the Blanched Soldier“ besteht des Rätsels Lösung gar darin, dass Holmes einen Fall von Lepra diagnostiziert. Cairneys Analyse der indirekten Charakterisierung von Holmes als Arzt ist also durchaus zuzustimmen. Dennoch kehrt ihre einseitige Lesart von Holmes als sozialem Heiler auch einige Ambivalenzen der Texte unter den Teppich, insbesondere wenn man anders als Cairney nicht nur den ersten Band, sondern die gesamten Erzählungen betrachtet.22 Doyle selbst warnt gar indirekt vor einer solch eindeutigen Interpretation, wenn Sherlock Holmes in „The Adventure of the Speckled Band“ verlauten lässt, Ärzte, die vom rechten Weg abkämen, seien
20 Ebd., S. 71. 21 Wynne: „Sherlock Holmes and the Problems of War“, S. 48. Doyles Modell für Holmes war in der Tat ein Arzt: Es handelt sich um Dr. Joseph Bell, Doyles Professor am königlichen Krankenhaus in Edinburgh, der seine Studenten mit der Fähigkeit beeindruckte, von der Sprechweise oder dem Schmutz an den Schuhen seiner Patienten Informationen über ihren Beruf, ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten abzulesen (vgl. Jann: The Adventures of Sherlock Holmes, S. 46). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Carlo Ginzburgs Diskussion von Holmes’ Methode nach dem Modell medizinischer Semiotik (in: Spurensicherung: Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus dem Italienischen von Gisela Bonz und Karl F. Hauber, Berlin 1995, S. 14f., 31). Herzlichen Dank an Gregor Schuhen für diesen Hinweis. 22 Vgl. Pemble: „Gaslight and Fog“, S. 22.
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die effektivsten Verbrecher: „When a doctor does go wrong he is the first of criminals. He has nerve and he has knowledge“ (SH 270). Die Ambivalenz der Holmes-Figur zeigt sich besonders deutlich in drei eng miteinander verbundenen Aspekten der Figur, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Erstens zeichnet Doyle seinen Protagonisten wiederholt als „dual nature“ (SH 185), als eine Art gespaltene Persönlichkeit mit Doppelleben also, wodurch der Meisterdetektiv anderen spätviktorianischen Figuren wie Stevensons Dr Jekyll und Mr Hyde sowie Wildes Dorian Gray erstaunlich nahe steht. Zweitens führen die Affinitäten sowohl zum Typus des man of action als auch zum Typus des decadent zu einer „double-valenced masculinity“23 der HolmesFigur. Drittens ermöglichen die soziopathischen Diskrepanzen zwischen Holmes’ Verhalten und den geltenden sozialen (und juristischen) Normen eine Charakterisierung von Holmes als potentiellem Verbrecher. Watson wird nicht müde, den scheinbaren Widerspruch in Holmes’ Charakter zwischen „man of action“ und „languid dreamer“ (SH 689) oder gar kränklichem „pallid dreamer“ (SH 547) zu betonen. In „The Red-Headed League“ beschreibt er diese „dual nature“ von Holmes ausführlich folgendermaßen: All the afternoon he sat in the stalls wrapped in the most perfect happiness, gently waving his long, thin fingers in time to the music while his gently smiling face and his languid, dreamy eyes were as unlike those of Holmes, the sleuth-hound, Holmes the relentless, keen-witted, ready-handed criminal agent, as it was possible to conceive. In his singular character the dual nature alternately asserted itself, and his extreme exactness and astuteness represented, as I have often thought, the reaction against the poetic and contemplative mood which occasionally predominated in him. The swing of his nature took him from extreme languor to devouring energy; and, as I knew well, he was never so truly formidable as when, for days on end, he had been lounging in his armchair amid his improvisations and his black-letter editions. (SH 185)
Beiden Seiten seines Charakters gibt Holmes sich vollständig hin, so dass sein Verhalten – ganz im Gegensatz zum viktorianischen Ideal der Mäßigung – von Extremen geprägt ist, welche Watson dementsprechend kritisch kommentiert und wiederholt mittels medizinischen Vokabulars pathologisiert. In seinen energischen Phasen entwickelt Holmes laut Watson demnach eine dämonische Kraft, welche sich in einem „paroxysm of energy“ (‚Energie-Krampf‘) Bahn bricht (SH 661). Für die Lösung eines Falls gibt Holmes alles, ja lässt sogar zu, dass ein
23 Kestner: Sherlock’s Men, S. 62.
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Problem ihn geradezu verschlingt („This infernal problem is consuming me“, SH 130). Angesichts dieser Extreme bezeichnet Watson Holmes’ Phasen der Energie als Anfälle; er spricht von Holmes’ „working fit“ (SH 20) oder „energetic fit“ (SH 27). Holmes beutet seine körperlichen Reserven dabei gelegentlich so sehr aus, dass er in Ohnmacht fällt oder einen Nervenzusammenbruch erleidet; er wird Opfer einer tiefen Depression („prey to the blackest depression“, SH 398) oder nervlicher Erschöpfung („nervous prostration“, SH 398).24 Wynne argumentiert vor diesem Hintergrund: […] a language of nervous collapse emerges in the Holmes stories set in the late-Victorian period. This corresponds with contemporaneous medical discourse that was, Janet Oppenheim argues, immersed in a vocabulary of ‚shattered nerves or broken health‘ and of ‚nervous collapse, exhaustion or prostration‘ until such language was replaced by neurasthenia by the end of the century. (SH 38)
Auch die Phasen der Trägheit treibt Holmes bis zum Exzess, und wieder spricht Watson in diesem Zusammenhang von Anfällen, sei es solchen der Apathie (SH 27) oder der finstersten Depression (SH 97). Ebenso wie seine Tatkraft und sein Handlungsdrang nimmt auch diese Seite von Holmes’ Persönlichkeit selbstzerstörerische Züge an, da er den ennui (SH 190), welchen er bei mangelnder intellektueller Stimulation verspürt, durch mehr oder weniger schädliche Aufputschmittel zu verdrängen sucht. Zu seinem von ihm selbst so genannten „poisining“ durch Tabak (SH 960) kommt Holmes’ Kokainkonsum. Das Rauchen setzt Holmes gezielt als Hilfsmittel bei der Lösungsfindung seiner Fälle ein; die Kokaininjektionen dagegen dienen ihm allein dazu, die „dull routine of existence“ (SH 90) erträglicher zu machen. Der Mediziner Watson warnt, „it is a pathological and morbid process which involves increased tissue-change and may at least leave a permanent weakness“ (SH 89); er benennt damit explizit die Gefahr und Tatsache der Degeneration als Folge einer Überreizung („overstimulation“, SH 774) durch Kokain. Holmes selbst bleibt von dieser Mahnung weitgehend unbeeindruckt, ist sich allerdings trotzdem bewusst, dass Menschen jederzeit vom Rang des Menschlichen auf eine niedrigere Seinsstufe herabsinken können. In einer Formulierung, die sogar noch mehr an die Hierarchie der chain of being aus dem Weltbild der
24 Vgl. hierzu auch Holmes’ Selbstcharakterisierung: „I get in the dumps at times, and don’t open my mouth for days on end“ (SH 19) und seine Notwendigkeit „ [to] lay aside all his cases and surrender himself to complete rest if he wished to avert an absolute breakdown“ (SH 955) in „The Aventure of the Devil’s Foot“.
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Renaissance als an Darwin’sche Vorstellungen von Evolution und Selektion erinnern, stellt Holmes nämlich fest: „When one tries to rise above Nature one is liable to fall below it. The highest type of man may revert to the animal if he leaves the straight road of destiny” (SH 1082). Vor diesem Hintergrund rücken die zahlreichen Tiervergleiche in Doyles Geschichten Holmes gefährlich nahe an das Phänomen der Degeneration. Auf der Spur nach des Rätsels Lösung wird Holmes nämlich oftmals geradezu zum Tier, dominiert von seinem Instinkt und seinen ungewöhnlich ausgeprägten Wahrnehmungssinnen (z.B. SH 491, 1007). Laut Watson gleichen seine Augen jenen eines Vogels, seine Bewegungen jenen eines Jagdhundes (SH 112, 212, 920), und er reagiert auf Entdeckungen und Unterbrechungen mit lautem Freudenschrei („crow of delight“, SH 112) oder mit ungeduldigem Knurren („impatient snarl“, SH 211). Wie bei einem Jagdhund weitet sich scheinbar seine Nase „with a purely animal lust for the chase“ (SH 211).25 Nicht nur in diesen Tiervergleichen aber hallt ein Subtext der Degeneration wider; angesichts der Skepsis und Ablehnung, welche der Dekadenzbewegung in England entgegenschlugen, haben jene Elemente der Erzählungen, die indirekt Affinitäten zwischen Holmes und den Décadents herstellen, eine ähnliche Wirkung. Natürlich ist Holmes in Doyles Erzählungen vor allem ein physisch starker Mann der Tat, Kämpfer und Jäger und schreckt, ähnlich einem Soldaten, nicht davor zurück, zu töten, wenn ihm selbst nach dem Leben getrachtet wird (z.B. SH 106, 121). Er verkörpert Askese, Rationalismus und Logik, zeigt Initiative und Mut – alles Eigenschaften, die in der viktorianischen Kultur eindeutig maskulin konnotiert waren.26 Auch wenn Holmes nicht zu den versehrten Männerkörpern gehört, die das Holmes-Universum so zahlreich bevölkern27 – das offensichtlichste Beispiel hierfür ist Watson mit seiner Kriegsverletzung –, zeigt er aber Affinitäten zu einer als dekadent verstandenen Lebensweise, die im moralisierenden hegemonialen Diskurs des Spätviktorianismus sehr häufig mit dem Adjektiv ‚unhealthy‘ bezeichnet wurde – als eine Bedrohung für die Gesundheit der Gesellschaft also. Als bedrohlich wurde nicht zuletzt die Verschiebung etablierter Geschlechterrollen empfunden. Dabei bildeten der schöngeistige Ästhet und der künstlichen Welten und exotischen Sinnesreizen verschriebene und
25 Ein weiteres Beispiel für eine entmenschlichende Darstellung Holmes’ ist seine Beschreibung als Automat. So bezeichnet Watson ihn als „the most perfect reasoning and observing machine that the world has seen“ (SH 161; vgl. auch SH 96). 26 Kestner: Sherlock’s Men, S. 2. 27 Ebd., S. 22, 59.
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dadurch lebensuntaugliche Décadent die effeminierten männlichen Pendants zur als ebenso gefährlich und unnatürlich empfundenen vermännlichten ‚New Woman‘. Holmes’ ennui und Drogenkonsum, seine „long, white, nervous fingers“ (SH 89), „far-way expression“ (SH 29) und „dreamy, lack-lustre eyes“ (SH 92), seine Unempfänglichkeit für Natur (SH 423) bei gleichzeitiger Vorliebe für Orientalisches (vgl. den persischen Pantoffel, in welchem er seinen Tabak aufbewahrt) und für das Außergewöhnliche (vgl. z.B. SH 28, 176) sind leicht als Metonymien für einen mit den Décadents assoziierten Lebensstil zu erkennen. Mit den Helden der Dekadenzliteratur verbinden Holmes darüber hinaus seine Zurückgezogenheit und seine Verachtung für Gesellschaft: Holmes, who loathed every form of society with his whole Bohemian soul, remained in our lodgings in Baker Street, buried among his old books, and alternating from week to week between cocaine and ambition, the drowsiness of the drug, and the fierce energy of his own keen nature. (SH 161)
Holmes’ Theatralik, die Kestner als Ausdruck des Wunsches nach einer ungewissen, nicht greifbaren, aber somit auch einer von Ordnungsprinzipien und -kategorien nicht zu fassenden Persönlichkeit interpretiert hat (SH 63), ist ein weiteres Bindeglied zu den Décadents, wie auch Holmes’ Schöngeist. Sein ästhetizistischer Blick gilt dabei nicht nur Dingen, die klassischerweise dem Bereich der Kunst zugeordnet werden, wie etwa Musik, Malerei oder Literatur. Ähnlich betrachtet er seine eigenen Recherchen, etwa wenn er ein chemisches Experiment mit dem Ausruf „Beautiful! Beautiful!“ (SH 18) bewertet oder wenn er das Lösen von Kriminalfällen als Kunst charakterisiert – eine Kunst, die er, wie wiederholt betont wird, um ihrer selbst Willen betreibt (SH 316f., 540, 559, 917, 1115). Holmes sucht sich seine Fälle gerade nicht nach moralischen Kriterien aus, sondern danach, ob ein Problem komplex und intellektuell interessant genug ist, um ihn herauszufordern. Vor allem aber betrachtet er auch Verbrechen wie ein Kunstkritiker. So urteilt Holmes über seinen Gegenspieler Moriarty: „My horror at his crimes was lost in admiration at his skill“ (SH 471). Die Tatsache, dass Holmes das Verbrechen zur Kunst erhebt, unterstützt den Eindruck moralischer Ambivalenz, welcher die Figur umgibt und sich auch in Holmes’ unorthodoxem Umgang mit dem Gesetz und dessen Institutionen äußert. In den Straßenjungen der Baker Street Irregulars hat Holmes sich zum Beispiel seine eigene Polizei geschaffen (SH 125), und maßt sich in „The Five Orange Pips“ diese Rolle sogar selbst an, wenn er sagt: „I shall be my own police“ (SH 228). Er ist zum Gesetzesbruch bereit, wenn er ihn für notwendig oder
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moralisch zu rechtfertigen erachtet (z.B. SH 169, 360, 576), und macht sich wiederholt des Einbruchs schuldig. Er schwingt sich sogar zum Richter auf, wie etwa in „The Adventure of the Abbey Grange“, wo er zusammen mit Watson eine Gerichtsverhandlung improvisiert, in der über das Schicksal des ‚Täters‘ entschieden wird, wobei Watson die Rolle der Jury einnimmt; Holmes lässt in seiner Richterrolle den ‚Angeklagten‘ laufen (SH 650). Insbesondere nutzt er auch die Tatsache, dass er kein offizielles Amt bekleidet, immer wieder gezielt aus („Our investigation has been independent, and our action shall be so also“; SH 970). Gelegentlich nehmen seine Methoden dabei moralisch durchaus problematische Züge an, etwa wenn er mit den Gefühlen eines Dienstmädchens spielt, es umwirbt und sich sogar mit ihm verlobt, um aus der jungen Frau Informationen über ihre Herrschaft herauszuholen (vgl. SH 576). Wenn er einem unwilligen Zeugen in „The Adventure of the Missing Three-Quarter“ erklärt, „I can hush up that which others will be bound to publish“ (SH 630), klingt dies außerdem weniger wie ein Versprechen als vielmehr eine erpresserische Drohung.28 Trotz eines starken moralischen Impetus bei Holmes, der sich zugute hält, dass er seine Fähigkeiten nie für die falsche Seite eingesetzt hat (SH 477), obwohl er, wie er selbst meint, als Verbrecher sicher eine erfolgreiche Karriere gehabt hätte (SH 913, 1120), identifiziert Haynsworth in den scheinbar auf Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung angelegten Geschichten Doyles aufgrund von Holmes’ Gesetzesüberschreitungen und vor allem seiner Selbstjustiz deshalb einen „fluid moral relativism“29. Darüber hinaus unterstreicht Doyle Holmes’ potentielle Nähe zum Verbrechen auch dadurch, dass er Moriarty als sein Alter Ego darstellt, da sich beide in intellektueller Brillanz und Aussehen erstaunlich ähneln.30 Jann argumentiert, dass Holmes, auch wenn er stets seinem individuellen Ehrenkodex und Gerechtigkeitsgefühl folgt, grundsätzlich stets konservativ den Status Quo bewahrt und die Interessen der Mittelklasse schützt.31 Allein die Tatsache, dass Holmes schon in der allerersten Kurzgeschichte, „A Scandal in Bohemia“, von einer als Mann verkleideten Frau übertölpelt und in seine Schranken verwiesen wird, unterstreicht allerdings, dass hegemoniale Strukturen und (Geschlechter-)Hierarchien im Holmes-Universum keineswegs so stabil sind wie
28 Vgl. Pemble: „Gaslight and Fog“, S. 22. 29 Leslie Haynsworth: „All the Detective’s Men: Binary Coding of Masculine Identity in the Sherlock Holmes Stories“, in: Victorians Institute Journal Digital Annex 38 (2010), o.S. 30 Beide Figuren werden außerdem (in unterschiedlichen Geschichten) als Spinnen bezeichnet, die ihre Fäden über ganz London gesponnen haben. 31 Jann: The Adventures of Sherlock Holmes, S. 74, 102.
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Jann es vorschlägt.32 Im rein maskulinen Kosmos von 221B Baker Street verschwimmen darüber hinaus die Grenzen zwischen public sphere und private sphere, wenn Holmes etwa in der Wohnung mit der Pistole schießt und seine Chemikalien, seine Aufzeichnungen und Unterlagen sowie nicht genauer spezifizierte „criminal relics“ sich unkontrolliert in der Wohnung ausbreiten. Watson bezeichnet diese Unordentlichkeit als Anomalie (SH 386), bedient sich also wiederum einer pathologisierenden Bezeichnung. Der auffälligste soziopathische Zug in Holmes’ Charakter ist aber seine Unfähigkeit, emotionale Beziehungen zu knüpfen. Holmes beherrscht zwar die gängigen Umgangsformen der Höflichkeit, den normierten Oberflächeneffekt des zwischenmenschlichen Miteinanders sozusagen. Die emotionale Substanz aber entzieht sich ihm, so dass Watson Holmes als „a brain without a heart, as deficient in human sympathy as he was pre-eminent in intelligence “ (SH 435) bezeichnet.33 Watson gibt sich außerdem keinerlei Illusionen hin, dass er selbst für Holmes mehr ist als eine Angewohnheit: He was a man of habits, narrow and concentrated habits, and I had become one of them. As an institution I was like the violin, the shag tobacco, the old black pipe, the index books, and others perhaps less excusable. […] I was a whetstone for his mind. I stimulated him. He liked to think aloud in my presence. His remarks could hardly be said to be made to me – many of them would have been as appropriately addressed to his bedstead – but none the less, having formed the habit, it had become in some way helpful that I should register and interject. (SH 1071)
Dadurch dass das englische Wort ‚habit‘ nicht nur eine Angewohnheit, sondern auch Sucht und Abhängigkeit bezeichnet, wird selbst die Beziehung zwischen Holmes und Watson hier wiederum als krankhaft konnotiert. Der Detektiv Holmes teilt aufgrund dieser soziopathischen Züge ironischerweise einige der typischen Eigenschaften, die Havelock Ellis in seiner anthropokriminologischen Abhandlung The Criminal aus dem Jahr 1890 eigentlich dem Verbrecher zugeschrieben hat. Ellis beschreibt zum Beispiel den durchschnittlichen Kriminellen als „often a more or less congenitally abnormal person, endowed with an ill-adjusted organism which fails to respond to the same social
32 Vgl. Kestner: Sherlock’s Men, S. 13. 33 Vgl. auch Holmes’ Selbstcharakterisierung in „The Adventure of the Mazarin Stone“: „ I am a brain, Watson. The rest of me is a mere appendix“ (SH 1014).
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stimuli as the organisms by which it is surrounded.“34 Trotz seines Beitrags zum Kampf gegen das Verbrechen, erscheint Holmes also aufgrund seiner ‚dual nature‘, seiner impliziten Dekadenz und seines schwierigen Verhältnisses zum juristischen Regelapparat und seinen Mitmenschen als eine zutiefst ambivalente Figur, die keineswegs eindeutig als Heiler zu identifizieren ist, sondern offensichtlich selbst krankt. Dass Holmes, der Solitär, sich aufgrund seiner charakterlichen Disposition nicht fortpflanzt, ist somit durchaus als Beitrag zur gesellschaftlichen Gesundheit von Doyles spätviktorianischem Großbritannien zu lesen.
34 Havelock Ellis: The Criminal, Nachdruck der 5. Ausg.: Montclair/NJ 1973 [Erstausg. 1890, 5. Ausg. 1914], S. xxxiv.
„Tu es un chiffre, un vilain chiffre“ Männlichkeiten im weiblichen Dandydiskurs des Fin de Siècle A NNE -B ERENIKE R OTHSTEIN
1.
„F IN
1.1
Geschlechterkampf als Spiegel der Gesellschaftskrise in Rachildes Monsieur Vénus und Madame Adonis
DE SIÈCLE
–
FIN DE SEXE “
„Fin de siècle – fin de sexe“ – Jean Lorrains1 komprimierte Darstellung der in der Dekadenz veränderten bzw. losgelösten Geschlechterverhältnisse und -grenzen bildet zugleich auch die vollständige Neu-Orientierung der Thematisierung von Gender-Konstellationen ab. War der realistische Roman noch auf die Verschleierung der Gender-Problematik beschränkt und vermied konfliktreiche Gebiete wie Gender und Fiktion, Rebellion gegen soziale Codes, Existenzunzufriedenheit und Perversionen, machen dekadente Texte genau diese Themen zum Zentrum des Geschehens. Der Geschlechterdiskurs der Dekadenz, der eine Umorientierung im Verständnis traditioneller Rollenzuschreibungen anstrebt, nimmt aber auch auf veränderte Gesellschaftsverhältnisse und veränderte poetologische Diskurse Bezug.
1
„La Décadence met au premier plan la singularité profonde de son mal-être que nous pouvons définir comme oscillation constante entre négation du sexe et confusion des genres. Dans les deux cas, ce qui est révélé, c’est toujours la prégnance de l’idéal androgyne en tant qu’expression obsessionnelle d’un Eros qui signifie ‚fin de sexe‘“ (Catherine Lingua: Ces anges du bizarre. Regard sur une aventure esthétique de la Décadence, Paris 1995, S. 24).
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Rachilde, „reine des décadents“2 und „homme de lettres“3 und ihre außergewöhnlichen literarischen Gender-Maskeraden gewinnen seit einigen Jahren in der Fin de Siècle“- und Gender-Forschung an Bedeutung. In ihren Werken werden nicht nur gesellschaftliche und Gender-Grenzen überschritten, sondern auch in poetologischer Hinsicht versucht Rachilde den gängigen literarischen Diskurs zu unterwandern. Somit zeichnen sich ihre Werke nicht nur durch eine radikal neue Definition von Gender aus, die vorrangig auf der Umkehrbarkeit der Gender-Rollen fußt und mit der sie erstaunlicherweise die Anliegen der späteren feministischen Literaturtheorie trifft,4 sondern sie propagiert auch eine ganz eigene (‚weibliche‘) Autonomie der Sprache, eine künstlerische Vermischung von Sprache, Literatur und Gender. Mit Raoule de Vénérande, schillerndem Handlungs- und Gesellschaftsmittelpunkt aus dem im 19. Jahrhundert als Skandalroman gehandelten Monsieur Vénus (1884)5, gelingt es Rachilde, eine geradezu einmalige Verkörperung des
2
Durch ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift L’École des femmes, ihre jahrzehntelange Arbeit beim Mercure de France (unter ihrer Mitwirkung entwickelte sich die berühmte Literaturzeitschrift zu einer angesehenen Institution der Décadence) und ihre provokativen Texte avancierte Rachilde (eigtl. Marguerite Eymery, 1860-1953) zur „Reine des Décadents“. Mit dem (Literatur-)Salon, den sie bis zum Tod ihres Mannes Alfred Vallette führte, bot sie bedeutenden Autoren der Zeit ein Diskussionsforum. Dank ihres ersten Romans Monsieur Vénus (1884), in dem sie literarische Konventionen der Décadence variiert und den Geschlechterdiskurs ins Zentrum stellt, erlangte Rachilde öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. Diana Holmes: Rachilde. Decadence, Gender and the Woman Writer, Oxford 2001).
3
In den Pariser Salons inszeniert sich Rachilde als weiblicher Dandy, verteilt Visitenkarten mit ‚Rachilde. Homme de lettres‘, um ihren literarischen Durchbruch in Paris zu beschleunigen und sich von anderen Schriftstellern abzusetzen. Sie propagiert dadurch nicht nur die für die dekadenten Schriftsteller so typische Auflösung der Grenzen zwischen Leben und Werk, sondern wirft auch die Frage nach ihrer Geschlechtszugehörigkeit auf und definiert sich bewusst als Literaten.
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Der dekonstruktive Feminismus hinterfragt die Oppositionsbildungen männlich/weiblich und die essentialistische Vorstellung der Geschlechtsidentität, „sei sie nun als biologische, gesellschaftliche, historische oder kulturell geprägte Positionalität gedacht“ (Gabriele Rippl: „Feministische Literaturwissenschaft“, in: Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger [Hrsg.]: Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 230).
5
Im Folgenden zitiert nach folgender Ausgabe: Rachilde: Monsieur Vénus. Roman matérialiste, Paris 1884. Zitate werden im Lauftext mit der Sigle MV gekennzeichnet und der entsprechenden Seitenzahl.
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weiblichen Dandys zu schaffen. Als „étrange beauté“ (MV, 34) lebt sie innerhalb der gehobenen Pariser Gesellschaft ein Leben in völliger Freiheit und pflegt dementsprechend ihre ‚männlichen‘ Hobbys (wie Reiten, Fechten, Lektüre der œuvres classiques); dazu gehört auch eine (nicht standesgemäße) attraktive Geliebte, die sie in Form des schönen Blumenhändlers Jacques Silvert findet und der sich immer mehr innerhalb eines zuweilen sado-masochistischen Gewaltverhältnisses seiner ihm zugedachten ‚weiblichen‘ Rolle hingibt. Dieses Spiel mit Geschlechterrollen lässt Rachilde im Wahnsinn und Tod der beiden Protagonisten enden. Madame Adonis (1888)6 kann als komplementärer Roman zu Monsieur Vénus gelesen werden, setzt er doch die in Monsieur Vénus entwickelte Gespaltenheit des weiblichen Dandys bzw. die ihm inhärente sexuelle Ambiguität zum weiblichen und männlichen Geschlecht konsequent fort. Auch hier stellt der weibliche Dandy den Mittelpunkt der Handlung dar – die sowohl als Mann als auch als Frau auftretende Marcel-le Désambres (ver-)führt die Ehepartner Louis und Louise zum Ehebruch – ist allerdings über den gesamten Roman gesehen weit weniger prominent als in Monsieur Vénus, denn bei Madame Adonis liegt der Schwerpunkt auf einer „satire sociale féroce“7. Beide Texte zeigen ein dynamisches Spiel mit Gender und Sexualität, das sich außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Grenzen bewegt (beide weiblichen Dandys verkörpern Perversion, Grenzüberschreitung und einen gespaltenen Charakter in ihrer Zuneigung zum anderen bzw. gleichen Geschlecht) und damit untergraben auch beide Texte jegliches Konzept des fixierten sexuellen Verhaltens. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle Männer oder Männlichkeiten im widersprüchlichen weiblichen Dandydiskurs spielen. Er zeigt auf, welche Ausprägungen von Männlichkeit im weiblichen Dandytum zu verorten sind und inwiefern sich veränderte Geschlechterverhältnisse als poetologisches Programm festmachen lassen. Dabei ist nicht nur der Geschlechtertausch entscheidend, sondern es werden auch literarische Konventionen bzgl. Gender Codes variiert oder umgekehrt und mit einer größeren Gesellschafts- und Geschlechterkritik kontextualisiert. Rachildes Texte beschreiben Gender und Begehren von einem weiblichen Standpunkt aus, der nun im Kontext der agie-
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Im Folgenden zitiert nach folgender Ausgabe: Rachilde: Madame Adonis, Paris 1888. Zitate werden im Lauftext mit der Sigle MA gekennzeichnet und der entsprechenden Seitenzahl.
7
Micheline Besnard-Coursodon: „Monsieur Vénus, Madame Adonis: sexe et discours“, in: Littérature 54 (1984), S. 121-127, hier S. 126.
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renden Männer und ihrer Funktion für das Geschlechterverständnis untersucht werden soll. 1.2
Femme dandy und homme objet
Der weibliche Dandy vereint kongenial den der Dekadenz eigenen, vielfältigen und widersprüchlichen Geschlechterdiskurs und ist Sinnbild der Zeit in seinen künstlich erschaffenen Paradies-Welten. Wie auch beim männlichen Dandy verkörpert der weibliche den L’art-pour-l’art-Gedanken mit seinen künstlichen Auftritten, seinem Ästhetizismus, seinen zerebralen Liebeskonzepten und Perversionen und zeigt damit seine Abkehr und Abscheu vor der bürgerlichen Gesellschaft. Weiblicher wie männlicher Dandy gelten als Verkörperung des Anderen, das gesellschaftliche Traditionen, kulturelle Konventionen und Moralvorstellungen mit seiner Lebensweise herausfordert.8 Bereits der männliche Dandy ist eine Kreation des Paradoxen, verschmelzen doch in ihm mit Hilfe der Maskerade Sein und Schein, Realität und Imagination, das Selbst und das/der Andere, das Männliche und Weibliche in einem einzigen Bewusstsein. Der weibliche Dandy stellt nicht nur eine (geschlechtsbedingte) Inversion des männlichen Dandys dar, sondern bietet an sich ein Oxymoron für das männliche Dandytum, das Kunst als männlich und Natur als weiblich definiert.9 Der weibliche Dandy bedient sich einer weiteren Maskerade (Maskerade als Abkehr von der Gesellschaft und Maskerade als Mann), wobei der weibliche Dandy Weiblichkeit und Männlichkeit gleichermaßen durch den Aufbau von Gegenbildern inszeniert. Das problematische Verhältnis des männlichen Dandys zur Frau10 wird durch den weiblichen Dandy parodiert, indem diese/r die Verkehrung von geschlechtsspezifisch
8
Vgl. hierzu den Protagonisten Jean Des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans’ Referenzwerk der dekadenten Literatur A rebours (1884), der sich in einem exklusiven Ästhetizismus als Gegengewicht zu dem als trivial verachteten Geschmacksempfinden des Bürgertums verliert; vgl. dazu auch den Beitrag von Volker Roloff in diesem Band.
9
Vgl. Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte: Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988, S. 12ff. Man denke auch an Baudelaires berühmte Charakterisierung: „La femme est le contraire du Dandy. Donc elle doit faire horreur. La femme a faim et elle veut manger. Soif, et elle veut boire. Elle est en rut et elle veut être foutue. Le beau mérite ! La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy“ (Charles Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, hrsg. von Claude Pichois, Paris 1976, S. 677).
10 Gnüg: Kult der Kälte, S. 12ff.
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besetzten kulturellen und sozialen Normen verkörpert. Somit wird ein Frauenbild entworfen, das sich selbst widerspricht und durch die (vom männlichen Dandy übernommene) Misogynie selbst unterläuft.11 Beide weiblichen Dandys, Raoule wie auch Marcel-le, sind ihren ausgewählten Liebhabern intellektuell überlegen, denn hierin besteht der Schlüssel für ihre Unfähigkeit, ihre ‚normale‘ weibliche Rolle auszuagieren.12 Im bis dahin männlich konnotierten Herrschaftsverhältnis kann der weibliche Dandy die männlichdominante Position übernehmen, indem er nun Kritik am kapitalistischen Reproduktionsdiskurs übt, eine offene Sexualität propagiert und die Beherrschung der Frau und ihres Körpers angeht. Während Raoules ‚Maskulinisierung‘ (in Form der Maskerade, der Lebensweise und den rhetorischen Bemächtigungsstrategien) als solche ein Zentralthema des Romans ist, wird Marcel-les Maskerade erst am Schluss von ihren beiden Liebhabern (Louis und Louise) und dem Zuschauer entdeckt. Marcel-le wird als Doppelwesen visualisiert, das die Geschlechterpolaritäten assimilieren kann. Rachilde zeigt bei beiden Romanen ein lustvolles Spiel mit Gender-Identitäten, allerdings enden beide weiblichen Dandys außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung in Wahn und Schizophrenie (Raoule de Vénerande) bzw. im Tod (Marcel-le Désambres). Verschiedene Männlichkeitstypen lassen sich im Bezug zum weiblichen Dandy unterscheiden: Männer, die ein (homo-)erotisches Begehren auf den weiblichen Dandy haben; Männer, die durch den weiblichen Dandy zur Frau transformiert werden; Männer, die gesellschaftliche Strukturen und Zwänge, in denen sich die Frauen befinden, verkörpern, und schließlich der weibliche Dandy selbst als Verkörperung eines literarischen Ideals, der als ‚homme de rêve‘, die (durch die Literatur evozierte) Vorstellung der perfekten Schönheit eines Mannes darstellt. In Monsieur Vénus und Madame Adonis fungieren die Körper der jeweiligen Liebespartner als Spiegel für die eigene (zumindest zeitweilige) sexuelle Aus-
11 Vgl. hierzu Anne-Berenike Rothstein: „Metamorphosen des Selbst – Rachildes Monsieur Vénus (1884)“, in: lendemains 35, Nr. 138/139 (2010), S. 155-170. Hier wird die Dekonstruktion der Geschlechtergrenzen innerhalb des Geschlechterdiskurses des 19. Jahrhunderts beleuchtet und in Zusammenhang mit einer kulturwissenschaftlichen Auffassung des Begriffs der Metamorphose gesetzt. Die Untersuchung beschäftigt sich im Kontext von Rachilde und ihrem Werk – auf der Grundlage des Paradigmenwechsels im Verständnis der Geschlechterrollen in der Dekadenz – mit der literarischen Umsetzung des weiblichen Dandys. 12 Wie Raoule de Vénérande so dominieren auch Mary Barbe (La Marquise de Sade, 1887) und Éliante Donalger (La Jongleuse, 1900) schwächere Männer.
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richtung. Louis’ Begehren nach Marcel-le in Madame Adonis beruht auf einem unterschwelligen Verlangen nach dem Männlichen. So möchte Louis v.a. männliche Züge in Marcel-les Nacktheit erkennen: „Vous ressemblez à un garcon de quinze ans, balbutia Louis, se penchant vers elle, l’air très intéressé“ (MA, 239). Louis ist überwältigt, geradezu „conquis“ (MA, 22), durch eine auch von ihm selbst wahrgenommene homoerotische Anziehungskraft gegenüber dem schlanken und eleganten jungen ‚Mann‘: „Il ne pouvait s’empêcher de constater, tout au fond de sa conscience, que ce gredin était beau comme une fille“ (MA, 29). Im Kontakt zu seiner Frau Louise wiederum bleibt die erotische Anziehungskraft aus, vielmehr bildet Louises Körper eine Projektionsfläche für Louis’ verkrampftes Verhältnis zur Sexualität.13 Und auch Jacques in Monsieur Vénus sucht – hier aufgrund seiner zunehmenden sexuellen Orientierungslosigkeit und Feminisierung – nach ‚männlichen‘ Merkmalen in Raoules Erscheinung. Hier verkörpert Jacques eine unbestimmte Sexualität als Vereinigung von Kontrasten in einem Neutrum. Seine Angstausrufe („Tu n’es donc pas un homme ? Tu ne peux donc pas être un homme ?“; MV, 198) lassen den Leser im Unklaren, ob die ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ Seite spricht. Die ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Charakteristika sind ebenfalls verschwommen, denn Jacques fühlt sich durch die oftmals in einem Double-cross-dressing-Prozess14 verkleidete Raoule betrogen, wenn diese zu ihrer weiblichen Seite zurückkehrt. Die Feminisierung des Mannes innerhalb des weiblichen Dandydiskurses wird wohl nirgends so konsequent verfolgt wie in Monsieur Vénus. In ihrer nicht standesgemäßen Liebesbeziehung zu einem Blumenbinder, der ihr finanziell, geistig und körperlich unterlegen ist, kostet Raoule de Vénérande ihr dandyistisches Überlegenheitsgefühl in vollen Zügen bis hin zur Perversion aus (vgl. MV, 144). Sie macht ihn psychisch und physisch nicht nur zu ihrer/m Geliebten und begibt sich in insze-
13 Hier lässt sich ein intertextueller Verweis auf Emma in Flauberts Roman Madame Bovary (1856) erkennen, in dem sich die Protagonistin, ähnlich wie Louise, nach leidenschaftlicher und emotionaler Liebe sehnt und nur in der Welt des Traumes dem Provinzleben und der Ehe entfliehen kann, indem sie sich dort das Ideal einer romantischen Liebe imaginiert. 14 „It [cross-dressing, A.-B. R.] ranges from simply wearing one or two items of clothing to a full-scale burlesque, from a comic impersonation to a serious attempt to pass as the opposite gender, from an occasional desire to experiment with gender identity to attempting to live most of one’s life as a member of the opposite sex“ (Vern L. Bullough/Bonnie Bullough: Cross Dressing, Sex, and Gender, Philadelphia 1993, S. VII).
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nierten Rollenspielen in die männliche Rolle, sondern drängt ihn in eine weibliche, letztlich sogar in eine reine Objekt-Rolle. […] Jacques Silvert, lui cédant sa puissance d’homme amoureux, devint sa chose, une sorte d’être inerte qui se laissait aimer parce qu’il aimait lui-même d’une façon impuissante. Car Jacques aimait Raoule avec un vrai cœur de femme. Il l’aimait par reconnaissance, par soumission, par un besoin latent de voluptés inconnues (MV, 107).
Als Verkörperung der gesellschaftlichen Zwänge von Gender-Vorstellungen ist ihr Bekannter und Verehrer Raittolbe entsetzt, als er sein Interesse an Jacques bemerkt, und geht mit ihm – in der Hoffnung, den verweiblichten Jacques zu seiner Männlichkeit zurückzuführen – in ein Bordell. Dort entdeckt Jacques, dass er nicht mehr länger im Stande ist, Frauen zu lieben, und verführt Raittolbe. Als Jacques Raittolbes Maskulinität angreift, stellt dies zugleich eine Bedrohung der gesellschaftlichen Strukturen dar, denn das Paar verkörpert ein Klassen- wie auch Gender-Grenzen überschreitendes verbotenes Begehren, ein homosexuelles Begehren, das Jacques offensichtlich auch bei anderen Männern auslöst (vgl. MV, 173). One could see in Raittolbe’s violent desire (and in that of the other nobles with their clenched fists) a hidden side of the Oedipus complex, for Raittolbe often allude to metaphorically as Jacques’s father, threatens the son, Jacques, because he desires him, and he kills the son to eliminate that desire: „ – Je suis un misérable! fit-il avec l’accent d’un père qui, par mégarde, aurait assassiné son fils (MV, 222).15
Die Bisexualität des Mannes wird nicht explizit angesprochen, denn als sich Jacques verweiblicht, verliert er zunehmend sein Interesse am weiblichen Geschlecht: „Pas une de ces filles, tu m’entends? pas une n’a pu faire revivre ce que tu as tué … Je les déteste, les femmes, oh! je les déteste!“ (MV, 209) und versucht Raittolbe zu verführen, ein Mann, der paradoxerweise Jacques’ ‚weiblichem‘ Verlangen entspricht. „It is as if the man’s bisexuality poses too great a threat […] by showing that, when a man accepts the narcissism of his desire, he risks losing all masculinity.“16
15 Dorothy Kelly: „Representation’s Others: Monsieur Vénus and Decadent Reversals“, in: dies.: Fictional Genders. Role and Representation in Nineteenth-Century French Narrative, Lincoln 1989, S. 143-155, hier S. 149. 16 Ebd., S. 150.
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In Madame Adonis versucht Louis die patriarchalisch-gesellschaftlichen Normen zu verkörpern, gegen die seine Frau zunächst rebelliert: Louis se vit sur le bord d’un abîme. Il y a des catéchismes provinciaux à l’usage des jeunes époux, qui conservent de famille en famille comme les scieries mécaniques, et ils y apprennent, dès le bas âge, que la femme doit être dirigée par le mari, sans que le contraire soit permis, ne fût-ce qu’une seconde (MA, 46).
Louise erklärt nicht nur u.a. dem kapitalistischen Machtdiskurs den Kampf, sondern ihr Zorn richtet sich auch gegen jegliche Instrumentalisierung („nous ne sommes pas de machines,“ MA 12) bzw. Entindividualisierung, wie sie Louis mit sich geschehen lässt: „Tu n’as pas de volonté, pas de courage, pas de sincère affection. Tu es un chiffre, un vilain chiffre, tiens!”; MA, 42). Als bloße „chiffre“ ist er beschreibbares Zeichen für den phallozentrischen Diskurs einer bürgerlichen Weltordnung, die interessanterweise von seiner Mutter Madame Bartau repräsentiert wird. Während Louise zunächst großen Einfluss auf ihren Mann hat, setzt nun Madame Bartau ihre Machtinteressen durch (vgl. MA, 74). So wie Raoule die Männer ihres Standes aufgrund deren Brutalität und Unfähigkeit ablehnt („Les hommes de ma classe sont d’une telle brutalité ou d’impuissance“; MV, 87), so durchläuft Louis am Ende eine Re-Virilisierung, denn Louis entwickelt sich von einem schwachen und impotenten Ehemann zu einem starken und dominanten Mann (eine beinahe ironische Wendung, da Rachilde in einem FastVergewaltiger und Mörder offensichtlich ‚männliche‘ Eigenschaften erkennt). Hierbei wird der Mord an Marcel-le zugleich zur Tötung von Sinnlichkeit und hebt die bis dahin etablierte Grenze zwischen Realem und Imaginärem auf. Damit schlägt Marcel-les Gender-Experiment fehl und kulminiert in der Wiedereinsetzung sozial akzeptierter Verhaltensnormen. Die einzigen Männer, die als wünschens- oder begehrenswert dargestellt werden (wirkliche ‚hommes de rêve‘) sind die weiblichen Dandys: Raoules Erscheinungsbild wird von Rachilde beschrieben als „un homme beau comme tous les héros de roman que rêvent les jeunes filles“ (MV, 191). Diesen Aspekt führt sie in Madame Adonis weiter aus, indem sie Marcel-le als Verkörperung von Louises Mädchenfantasien einführt. Louises Kommentar reflektiert die GenderAmbivalenz ihres zukünftigen Liebhabers, „le joli garcon“: […] ses yeux, magnifiques, très noirs, se dilataient comme ceux des félins, et, derrière des cils de femmes, ils n’étaient pas fort timides. Sa bouche, relevée aux coins par la virgule célèbre des bouches païennes, gardait une expression d’ironie amère. Qu’avait donc fait à cet Antinous la destinée traîtresse ? (MA, 26)
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Das Feld der sexuellen Ambiguität, innerhalb dessen die drei Hauptcharaktere beschrieben werden, wird durch einige Referenzen getragen: Hier ähnelt Antinous17 (Hadrians Favorit, wieder eine gängige Allusion in der dekadenten Literatur) dem Traumehemann der bovaresken Adoleszenzfantasie Louises in ihrem Konvent: […] elle rêvait les yeux ouverts, d’un futur mari […] ce prince de contes de fée, très bouclé de cheveux, très blanc de teint, avec de jolies mains douces, une voix de cithare, des lèvres carminées, une taille svelte, un pied de jeune page. (MA, 26f.)
Liebe, eheliche Treue und gesellschaftliche Konventionen (auch Mutter- und Vaterschaft) sind Angriffspunkte von Rachildes Satire, die sie durch ihren Protest gegen eine phallozentrische Welt demontiert. It is precisely this detachment and this hypothetical bent that allowed Rachilde to tackle broad matters of human behaviour in general, and of sexuality in particular, without bringing down storms of critical invective as Lorrain did.18
Das Ziel, jegliche Knechtschaft als Frau, die sich den Männern unterordnen muss, zu unterbinden, erreicht sie durch eine Reduzierung des Mannes zur „chiffre“, die beliebig be- und einschreibbar ist.
2.
D ER MÄNNLICHE K ÖRPER ALS E INSCHREIBUNGSFLÄCHE FÜR DEN WEIBLICHEN D ANDYDISKURS IN R ACHILDES M ONSIEUR V ÉNUS UND M ADAME A DONIS
Die Heldinnen von Rachilde repräsentieren eine Bedrohung für die komfortable Binarität von männlichem Subjekt und weiblichem Objekt. Entgegen den Normen des 19. Jahrhunderts geben sich die Frauen gerade nicht dem Mann hin und
17 Antinous dominiert jede Repräsentation von Jacques (wie sie auch symbolisch die Einrichtung Raoules bildet), bspw. MV, 155. Hier lässt sich ein Bezug zwischen Hadrian und Antinous und Raoule sowie Jacques sehen. 18 Will McLendon: „Rachilde: Fin-de-siècle Perspective on Perversities“, in: Barbara T. Cooper (Hrsg.): Modernity and Revolution in Late Nineteenth-Century France, Newark 1992, S. 52-61, hier: 60.
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manipulieren die Männer zu ihren eigenen Zwecken bzw. erhöhen deren Frustrationspotential, da sie letztlich unerreichbar bleiben. Durch zahlreiche Crossdressings und Maskeraden bleibt der Körper des weiblichen Dandys undefinierbar, ein ‚unsayable female body‘, wohingegen Männlichkeit bzw. der männliche Körper als scheinbar unbegrenzbare Einschreibefläche (hierauf werden sämtliche für das 19. Jahrhundert gängigen Frauenbilder übertragen) für den weiblichen Dandy dient. Rachildes Zugang zum weiblichen Körper kann sicherlich in den Konventionen der Prosafiktion des Fin de Siècle als ungewöhnlich angesehen werden. Im Gegensatz zu ihren männlichen Zeitgenossen lehnt Rachilde es ab, den Blick des Lesers auf den erotisierten und fetischisierten Körper des weiblichen Objektes der Begierde zu fokussieren. Der voyeuristische Blick wird zumindest bei Monsieur Vénus umgelenkt auf den männlichen Körper, bei Madame Adonis auf die ‚männlichen‘ Attribute der androgynen Marcel-le. 2.1
Paraphrasen, Parodien, Paroxysmen – die Entstehung eines intertextuellen nouvel homme
Rachilde schafft durch direkte Zitate aus der Literatur des 19. Jahrhunderts, durch eine Einbettung in Motivtraditionen, intertextuelle Verweise, Kursivierungen und schließlich eine metaphorische Text-Verkleidung einen auch textuellen nouvel homme. Dem Leser des 19. Jahrhunderts dürften die Vielzahl der genderbezogenen Topoi, die Rachilde verwendet, bekannt gewesen sein. Die Blumenhändlerin19, die zur Kurtisane wird, ist eine Idée reçue, die Blumenbinden mit loser Moral und Prostitution gleichsetzt.20 Als Raoule Jacques in die höhere Gesellschaft ein-
19 Eine andere intertextuelle Referenz ist die der Blumen, die in Monsieur Vénus als Vorboten der sexuellen Spannung (MV, 2), die sich mehr und mehr zwischen Raoule und Jacques im Roman aufbauen wird, dienen. Insgesamt fungiert die Blumenmetaphorik als Teil des poetologischen Programms Rachildes: „As such, the flower is a privileged emblem in Rachilde’s fiction, an emblem which is frequently associated with, indeed used to represent, the troubling urges of female desire. […] What is new in Rachilde’s writing, however, is her use of these [flower-]metaphors to replace, or displace, images of, and references to, the body. […] Rachilde displaces references to the body onto references to flowers“ (Hannah Thompson: „Rewriting the Perverse: Rachilde and the Erotic Body“, in: Nottingham French Studies 42/2 (2003), S. 26-34, hier S. 29, 31). 20 Vgl. z.B. Zolas L’Assommoir (1876) oder Nana (1880).
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führen will, ist seine unterwürfige Pose ebenfalls als Zitat anzusehen21: „Il resta couché au fond de la voiture, tout près d’elle, la tête abandonnée sur son épaule, répétant de ces bêtises adorables qui rendaient sa beauté plus provocante encore“ (MV, 109f.). Ein weiteres Zitat aus dem bekannten Gender-Code, der Ehefrau und Geliebte separiert, sind Jacques’ formulierte Bedenken, dass er eines Tages von Raoule wegen eines standesgemäßeren Partners verlassen werden wird: „Ah! disait-il souvent, se serrant contre elle avec effroi, tu te marieras, un jour, et tu me quitteras!“ (MV, 110). Anderson sieht in dieser Konstellation auch eine Inversion einer bekannten literarischen Form des 18. Jahrhunderts, in der die erotischen Abenteuer und sexuellen Befreiungen durch die Heirat mit einem sozial höher stehenden, einstmals dominierenden männlichen Protagonisten verbunden sind. Die Inversion bei Monsieur Vénus ist offensichtlich, erhält aber eine zusätzliche Wendung, indem der ‚Held“ aufgrund von Verrat stirbt.22 Die zwei markantesten intertextuellen Verweise in Monsieur Vénus beziehen sich auf das Venus- und das Pygmalion-Motiv. Bereits der Romantitel spiegelt den in Monsieur Vénus inszenierten ambivalenten Geschlechterdiskurs wider, denn sowohl Raoule (als ‚männliche‘ Frau) als auch Jacques (als ‚weiblicher‘ Mann) lassen sich als titelgebende Hauptfiguren definieren. Optisch jedoch kommt Jacques künstlerischen Umsetzungen der Liebesgöttin Venus recht nah: Er hat „bras rond“ (MV, 111), „épaules rondes“ (MV, 128) und Schenkel, die „possédaient une rondeur solide, qui effaçaient leur sexe“ (MV, 55). In der fast schon lautmalerisch anmutenden ersten Beschreibung (windende, schlangenartige Bewegungen) von Jacques entwirft Rachilde gleichsam die Ekphrasis eines Bildes von Jacques und verbindet Venus- und Eva-Bild in seinem Körper:23 Autour de son torse, sur la blouse flottante, courait en spirale une guirlande de roses, des roses fort larges de satin chair velouté de grenat, qui lui passaient entre les jambes, filaient jusqu’aux épaules et venaient s’enrouler au col“ (MV, 24).
21 Vgl. Janet Beizer: „Venus in Drag, or Redressing the Discourse of Hysteria: Rachilde’s Monsieur Vénus“, in: dies.: Ventriloquized Bodies. Narratives of Hysteria in Nineteenth-Century France, London 1994, S. 227-260, hier S. 236. 22 Vgl. Jean Anderson: „Writing the Non-Conforming Body: Rachilde’s Monsieur Vénus“, in: New Zealand Journal of French Studies 21 (2000), S. 5-17, hier S. 7. 23 Rosen und Äpfel als Sinnbild von Weiblichkeit und Verführung sind auch der Venus zugeschriebene Attribute (vgl. Irène Aghion/Claire Barbillon: Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, Ditzingen 2000, S. 51).
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Durch zahlreiche Anspielungen auf den Apfel der biblischen Versuchung wird der Eindruck einer Referenz auf den (weiblichen) Sündenfall verstärkt. Der Geruch von Äpfeln wird mehrfach im ersten Kapitel genannt, mit einer offensichtlichen Referenz zur Frucht der Erkenntnis und der Versuchung zur Sünde. Jacques verkörpert eine männliche Transformation einer Eva, die mit ‚natürlichweiblichen‘ Attributen (sein Name Silvert erinnert an „silva,“ er ist inmitten von Blumen zu finden und ihn umweht ein Duft von Äpfeln) genau das Bild inkarniert, das der männliche Dandy von einer Frau entwirft. Zunächst findet Raoule den Geruch abstoßend, dann aber ist „elle mangerait peut-être bien une de ces pommes“ (MV, 28) ein Zeichen dafür, dass sie sich von der männlichen Eva verführen lässt. Die Inszenierung von Raoules Eintritt zu dem Floristen, typisch dekadent in seiner erotischen Spannung, schildert in lebhaften Metaphern den Eintritt in den weiblichen Körper.24 Auf der Suche nach ihrem Begehren findet Raoule sich selbst in den Metaphern und ganz allgemein im Körper des verweiblichten Jacques, denn es ist exakt seine Weiblichkeit, die sie anziehend findet: „Et depuis quand Raoule de Vénérande, qu’une orgie laisse froide, se sent-elle bouillir le crâne devant un homme faible comme une jeune fille ?“ (MV, 56). Hannah Thompson sieht in Rachildes literarischen und metaphorischen Referenzen zu dekorativen Objekten eine Möglichkeit, das Verlangen des weiblichen Körpers zu artikulieren.25 Indem Rachilde das weibliche Verlangen nicht mit Hilfe des Körpers ausdrückt, sondern auf Blumen und Objekte transferiert, zeigt sie die schwierige Sexualität ihrer Heldinnen.26 Diese Verschiebung erlaubt es Rachilde, den weiblichen Körper und seine Leidenschaften zu diskutieren, ohne die geringste Beschreibung und ohne den voyeuristischen Blick des Lesers zu lenken und ihr Projekt, den Körper in Sprache umzusetzen, zu realisieren. Eine weitere biblische Referenz zu einer Frauenfigur ist die Szene, in der Jacques vor den Augen Raoules badet und damit nicht nur eine Inversion des erzählerischen Modells von Susanna im Bade zeigt, sondern auch Jacques’ Erkenntnis widerspiegelt, in Raoules Besitz übergegangen zu sein, „troublé subitement par la honte de lui devoir aussi la propreté de son corps“ (MV, 54). Der Kult um die Jungfräulichkeit – ein weiteres biblisches Frauenbild – wird auf Jacques übertragen, indem inmitten einer feminisierten Beschreibung von Jacques der Ausdruck in seiner männlichen Form und kursiv gedruckt integriert wird: „la candeur d’un
24 Vgl. auch Kelly: Fictional Genders, S. 146. 25 Vgl. Thompson: „Rewriting the Perverse“. 26 Rachilde bekleidet ihre weiblichen Charaktere mit einer Vielzahl von Kleidungsschichten. Anstatt dem Leser Zugang zu diesen Körpern zu gewähren, ersetzt sie die erotische Last durch zufällige Objekte, die die Heldinnen umgeben.
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vierge“ (MV, 123). Die Anspielungen auf Jungfräulichkeit dienen vorrangig dazu, die Heuchelei der Gesellschaft zu verdeutlichen (Raoules Tante ist überzeugt, dass „[u]ne Vénérande ne pouvait être que vierge“, MV, 42), aber auch, um Raoules Besitzanspruch und Verfügungsgewalt über Jacques zu zeigen; mit einem Strauß „des fleurs blanches immaculées“ (MV, 109) erinnert sie ihn jeden Tag an seine Jungfräulichkeit. Jacques wird an mehreren Stellen direkt als Venus bezeichnet27 und einer Venus Verticordia28 entsprechend mit keuscher Reinheit assoziiert, „pure comme un œuil de vierge“ (MV, 207) und „candeur d’un vierge“ (MV, 123). Durch seine „beauté presque surhumaine“ (MV, 99) wird er mit sämtlichen Gottheiten, die alle im Konnex von Liebe stehen, assoziiert (vgl. Eros: MV, 129; Adonis, MV, 169; Antinous: MV, 155). Die Bezeichnung von Jacques als „marbre antique“ (MV, 129) ist nicht nur bereits ein Hinweis auf die Elfenbeinstatue im Pygmalion-Mythos, sondern versinnbildlicht auch bereits seine Abtötung zum Kunstwerk. Raoule sieht sich selbst in der Rolle der Erschafferin („J’ai eu des hommes dans ma vie comme j’ai des livres dans ma bibliothèque, […] je n’ai pas écrit mon livre moi“, MV, 84), die das für ihre Ansprüche perfekte Kunstwerk (einen weiblichen Mann) schaffen will, eine Erschaffung, die mit der finanziellen Unterstützung Jacques’ beginnt (vgl. MV, 67) und mit dem Besuch des toten Jacques als Wachsstatue (vgl. MV, 227) endet. Das Verhältnis Künstler und Muse wird nicht nur durch den geschlechtsspezifischen Wechsel karikiert, sondern Raoule rächt sich an ihrer treulos gewordenen Muse (Jacques beginnt ein Verhältnis mit Raittolbe), indem sie diese zum Kunstwerk abtötet. Durch eine Mischung aus künstlichen Teilen und Leichenteilen entsteht eine artifizielle Venus: Le soir de ce jour funèbre, Mme Silvert se penchait sur le lit du temple de l’Amour et, armée d’une pince en vermeil, d’un marteau recouvert de velours et d’un ciseau en argent massif, se livrait à un travail très minutieux… Par instants, elle essuyait ses doigts effilés avec un mouchoir de dentelle. (MV, 224)29
27 „Vénus de Callipyge“ (MV, 55), „Vénus de Milo“ (MV, 47), „Vénus Impérial“ und „Vénus du Titien“ (MV, 169). Hierbei korrespondiert die Inneneinrichtung Raoules mit Venus-Statuen mit ihrem Idealbild Jacques. 28 Vgl. Hubert Cancik/Helmut Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 12/2, Stuttgart 2003, S. 19. 29 Diese Sezierung von Jacques’ Körper kann im Sinne der Dekonstruktion als Parodie des literarischen Prozesses gelesen werden.
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Rachilde komprimiert in ihren Schlussbildern mythologische und literarische Vorbilder, indem sie nochmals explizit auf die Erschaffung des Wunschpartners, wie es auch der Mythos vorgibt, verweist, aber auch durch eine Parodie der berühmten Geburt der Venus. Sur la couche en forme de conque, gardée par un Eros de marbre, repose un mannequin de cire revêtu d’un épiderme de caoutchouc transparent […] Ce mannequin, chef d’œuvre d’anatomie, a été fabriqué par un Allemand. (MV, 227)
Diese Anspielungen werden ironisch gebrochen, indem sich Jacques deutlich von E.T.A. Hoffmanns Olimpia, die durch den intertextuellen Verweis („Ce mannequin, chef d’œuvre d’anatomie, a été fabriqué par un Allemand“) evoziert wird, unterscheidet; er ist vielmehr ein schreckenerregender Cyborg, der durch einen Mechanismus bewegt werden kann: Les cheveux roux, les cils blonds, le duvet d’or de la poitrine sont naturels; les dents qui ornent la bouche, les ongles des mains et des pieds ont été arrachés à un cadavre. Les yeux en émail ont un adorable regard. (MV, 227)
Kritik und Karikatur zugleich vereinen sich in diesen letzten Worten des Romans: Kritik, wie auch bei Hoffmann, am selbstherrlichen und grenzenlosen Schöpferwillen eines perfekten Menschen, aber auch Karikatur des fehlgeschlagenen artifiziellen Ästhetikgedankens des Dandys. Damit werden literarische Konventionen zur Beschreibung von Frauen unverändert auf Jacques übertragen. Die Umkehrung spielt eine doppelte Rolle im Roman, nicht nur als formale Strategie, die auf Zitaten fußt, sondern sie ist selbst ein Zitat der Fin de Siècle“Clichés.30 Mario Praz hat aufgezeigt, dass in der Umkehrung, besonders in Gender-Umkehrungen, ein literarischer Gemeinplatz für die Literatur des 19. Jahrhunderts und in jedem Gewandwechsel zu erkennen ist.31
30 Weibliche Rollenklischees werden auch bei Frauen verwendet: Sämtliche Phasen der Hysterie werden von Raoule durchlaufen (permanente Referenzen an Charcot und seine Salpêtrière), sie zeigt sich gegenüber Raittolbe als kapriziös („woman does not conform to reason, woman is unpredictable, woman is mobile and capricious, woman is natural, woman is prisoner of her nerves“, in: Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 83); in Madame Adonis setzt der Arzt Hysterie und weibliche Erotik gleich, Louis’ ReVirilisierung von einem melancholisch-zurückhaltenden zu einem beherrschenden und letztlich gewalttätigen Mann entspricht einem männlichen Rollenklischee. 31 Vgl. Mario Praz: The Romantic Agony [1933], Oxford 1970.
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In Madame Adonis stellt sich Rachilde durch einen intertextuellen Verweis in eine direkte Tradition zu Théophile Gautier und seinen in Mademoiselle de Maupin (1835) entworfenen Gender-Maskeraden. Marcel-le gibt sowohl Louis als auch Louise Gautiers Roman zur Lektüre.32 Mademoiselle de Maupin dient nicht nur Marcel-le als literarische Richtlinie für ihre Verführung, sondern ist auch ein Hinweis für den Leser, Marcel-les doppeltes Spiel zu erkennen,33 zugleich eine Lektürehilfe von Marcel-le für beide Ehepartner, die damit ihre reale Verführung antizipiert.34 Bei beiden Romanen stellt der androgyne Selbstentwurf eine Herausforderung für die gesellschaftlichen Konventionen dar und es ist gerade die geschlechtliche Ambivalenz, die sexuelles Begehren erzeugt; bei Gautier jedoch nimmt der Leser an der geschlechtlichen Maskerade teil, bei Rachilde wird die Auflösung der Geschlechter erst im Finale erbracht.35 Der Reiz der Verführung liegt in Madame Adonis nicht nur in der Überwindung der Unerreichbarkeit der (verheirateten) Frau, sondern in der Überschreitung bürgerlicher Moralvorstellungen. Hier erinnert Marcel-le an eine donjuaneske Figur, indem auch für sie
32 Gautiers Liebesgeschichte beinhaltet an sich wieder einen intertextuellen Verweis auf Shakespeares As you like it, denn Mlle de Maupin inkarniert die Rolle der Rosalinde im Provinztheater und mimt eine ebensolche Doppelrolle in ihrer Beziehung zu D’Albert und Rosette. 33 Bei Gautier beschließt die Protagonistin, eine Doppelrolle auszuleben, und verführt als Madeleine Maupin den jungen Dichter und Maler D’Albert, als Théodore de Sérannes die schöne Rosette. Madeleine spielt in As you like it Rosalinde, deren Liebesspiel mit Orlando an die Beziehung zwischen D’Albert und Madeleine erinnert. 34 Bei Gautier allerdings bewirkt nicht nur die männliche Seite von Madeleine die Anziehungskraft auf D’Albert, sondern in ihr vervollkommnet sich auch das romantische Traumbild vollendeter Schönheit, ebenfalls ein Beispiel für Androgynität als vollkommenem Zustand. Ähnlich wie bei Rachilde verbringt auch Théodore-Madeleine mit beiden Partnern eine Liebesnacht, bricht jedoch direkt im Anschluss nach Paris auf, um von sich das Idealbild zu erhalten (vgl. Marlène Barsoum: Théophile Gautier’s Mademoiselle de Maupin. Toward a Definition of the ‚Androgynous Discourse‘, New York 2001). 35 Bei Gautier entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte zwischen Rosette, D’Albert und Madeleine-Théodore, bei der sich Homosexualität und Heterosexualität vermischen; in Madame Adonis ist es ein Beziehungsquartett zwischen Louise/Marcel, Louis/ Marcel-le, das sich erst bei Marcel-les Tod als Dreiecksgeschichte entpuppt. Bei Gautier gibt es eine stärkere Betonung der Beziehung zwischen D’Albert und ThéodoreMadeleine, also ein homosexuelles Begehren; bei Rachilde liegt ein stärkerer Fokus auf Louise und Marcel-le, also auf weibliche Homosexualität.
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der Reiz der Verführung in der verbotenen Qualität liegt und sie den (geistigen) Genuss des Intrigenspiels der Verführung genießt. Gleich zweimal überschreitet sie die bürgerlichen Moralvorstellungen, im Ehebruch und in einer homoerotischen Beziehung, „elle était mariée, l’amour d’autre, c’était le fruit défendu“ (MA, 186). Im Gender-Wechsel wird aber die Inkarnation von Männlichkeit karikiert, indem die donjuaneske Geschichte als homoerotische Beziehung zwischen zwei Frauen geschildert wird: „Aus dem phallozentrischen Repräsentanten Don Juan wurde eine weibliche Verführerin mit homoerotischen Neigungen.“36 Das Gendering von Kursivierungen stellt eine Mise an abyme der Differenzerfahrung der Geschlechter dar: Als Jacques mit dem kursiven Pronomen il bezeichnet wird oder Raoule durch das Nomen femme (MV, 70f. ), stellen die Kursivierungen den linguistischen Code oder die Konvention, die Gender bezeichnet, bereits in Frage. Aber wenn Jacques alternativ mit einem weiblichen Pronomen („elle,“ „la“, MV, 92) oder Raoule durch eine männliche Flektierung gekennzeichnet wird („‚Je suis jaloux‘, rugit-elle“, MV, 99), wird die Kursivierung zu einem vielschichtigen Cross-dressing. Damit verweisen die Kursivierungen nicht nur auf eine Umkehrung der Geschlechter, sondern auf eine nicht mehr eindeutig bestimmbare Referentialität. Die Bestimmung von Jacques als „elle“ hinterlässt eine gewisse Unsicherheit bzgl. der Verbindung zwischen Gender, Mensch und Sprache. Die Erzählstimme wird dadurch entfremdet, die Autorität destabilisiert, und es wird eine fundamentale Ununterscheidbarkeit von Ich und Anderem, Innen, Außen, Original und Zitat, Ernst und Ironie suggeriert.37 Durch ein Inversionsverfahren werden in Monsieur Vénus dekadente Themen und Motive umgedeutet und der weibliche Blick ins Zentrum gerückt, indem Geschlechteridentitäten umgekehrt oder aufgelöst werden und damit die von der Gesellschaft der Frau zugedachte Rolle zurückgewiesen wird. Nicht nur die Protagonistin Raoule de Vénérande verkleidet sich als weiblicher Dandy, sondern auch „der Textkörper weist analog zum Frauenkörper [auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene; A.-B. R.] eine rhetorische Form der Verkleidung auf.“38 In der bewussten Überschreitung der Gender- und Gesellschaftsgrenzen heiratet
36 Iris Ulrike Korte-Klimach: Rachilde: Femme de lettres – Homme de lettres. Weibliche Autorschaft im Fin de siècle, Marburg 2002, S. 169. 37 Die Kursivierung betont Andersheit, Differenzierung und einen Subdiskurs von Gender; beinahe die Hälfte aller Kursivierungen stellen Gender-Pronomina dar: das Gender betreffende Nomina, Adjektive, Verben und genderspezifische Termini (wie „Mlle,“ „neveu,“ „maîtresse“). Vgl. hierzu ausführlich Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 233ff., die unterschiedliche Typen von Kursivierung unterscheidet. 38 Korte-Klimach: Rachilde, S. 127.
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Raoule „Mme Jacques Silvert“ (MV, 154), der mit seiner sozial niedrigeren Schicht und Einfältigkeit das ‚feminisierte‘ Pendant zum intellektuell und raffiniert überlegenen (weiblichen) Dandy gibt – eine misogyne Umkehrung der gängigen Geschlechterkonventionen des 19. Jahrhunderts. Die Inversion oder Auflösung von Grenzen findet auch auf sprachlicher und grammatikalischer Ebene statt; bereits im Titel wird die Verbindung von männlich („Monsieur“) und weiblich („Vénus“) gezogen. In Raoules selbstbewussten Aussagen „Je suis amoureux d’un homme“ (MV, 88) oder „je serai son amant“ (MV, 90) lässt sich weniger eine Verweigerung ihres eigenen Geschlechts ablesen, sondern vielmehr ein Aufruf zu einer neuen Sexualität. Der Rollentausch – Jacques wird als „belle“ (MV, 197) bezeichnet – vervollkommnet sich mit der Eheschließung: „Mlle Jacques Silvert épouse M Raoule de Vénérande“ (MV, 154). Damit zeigt Rachilde durch die Wahl der jeweils konträr eingesetzten männlichen/weiblichen Form den Geschlechterwandel auch auf sprachlicher Ebene. 2.2
Verführung als Erschaffungs- und Zerstörungsprozess
„La séduction est partout et toujours ce qui s’oppose à la production. La séduction retire quelque chose de l’ordre du visible, la production érige tout en évidence.“39 Baudrillard definiert Verführung als spezifisch weibliche Macht im Sinne einer Negierung der phallischen Herrschaft und entwirft damit ein Weiblichkeitsmodell, das zwischen Misogynie und Idealisierung pendelt – in Rachildes Romanen ist aber nicht das Weibliche das Verführerische, sondern die geschlechtliche Ambivalenz bzw. die Androgynie der Protagonisten, die aus der Verschiebung des Machtgefälles resultiert. 2.2.1 Weibliche Bemächtigungs- und ‚feminine Vertextungsstrategien‘ Die Verführbarkeit des Mannes in Monsieur Vénus und Madame Adonis unterscheiden sich grundlegend: Dominanz und Gewalt beherrscht Raoules und Jacques’ Verhältnis in Monsieur Vénus,40 bei Madame Adonis dominiert ein doppel-
39 Jean Baudrillard: De la séduction. L’horizon sacré des apparences, Paris 1979, S. 55. 40 Raoules Name kann im Kontext der Verführung interpretiert werden: „Vénérande“ kann sowohl auf ‚la vénerie‘ (‚Hetzjagd‘) als auch auf ‚la vénération‘ (‚Verehrung‘), die sie bei Männern auslöst, zurückgeführt werden (vgl. Holmes: Rachilde, S. 40). Ein weiteres Indiz für die Konnotation mit der Jagd ist die Maske der Diana, die Raoules Zimmer schmückt (MV, 84), weitere Beinamen („agréable monstre,“ MV, 68; „petit
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tes Intrigenspiel: In ihrer Doppelrolle als Marcel-le will sie Louise bzw. Louis zu einer Flucht nach Paris verführen, fordert von den jeweiligen Ehepartnern die Scheidung und forciert jeweils den Ehebruch von Louis und Louise mit ihr selbst. Als sie bemerkt, dass Louis und Louise sich immer noch lieben, führt sie selbst die Liebesverhältnisse zusammen, indem sie beiden vom Ehebruch erzählt und in einer Klimax alle beteiligten Personen zusammenführt; sie schreibt Louis einen Brief und teilt ihm mit, wo und wann seine Frau mit Marcel Ehebruch begeht. Die Auflösung von Marcel-les Doppelwesen endet mit einem Doppelmord, denn Louis ersticht im Affekt Marcel und sowohl Louise als auch Louis erkennen in der weiblichen Anatomie („Ce n’était pas un homme, lui, mon amant“, MA, 291) Liebhaber und Liebhaberin zugleich. Die ambivalente Sexualität von Marcel-le ist deutlich der Fokus des Textes, doch erst im melodramatischen Schluss wird das ‚wahre‘ Geschlecht von Marcel-le enthüllt. Louis, der zur männlichen Autorität erzogen worden ist und sich vor jeder Alterität fürchtet, verfällt trotzdem Marcel-les Charme („De prés, cette femme le dominait; de loin, elle le révoltait comme une créature immonde“, MA, 252). Marcel-le bewegt sich wiederum in völliger Unabhängigkeit, für die exemplarisch ihre Rede beim Frühstückstisch bei der Hochzeit von Louis’ Mutter mit Louises Vater steht. Mit ihren mythologischen Referenzen und ihrer Poetik ist sie für das bürgerliche Publikum unzugänglich im Gegensatz zur Rede von Père Tranet mit seinen „principes socialistes et sociaux“ (MA, 277). Besnard-Coursodon konstatiert : „Ainsi s’opère la brisure de l’économie phallique, et de l’économie politique, dans la non-production, la non-consommation, sexuelle ou langagière.“41 Auf der Oberfläche übernimmt Raoule in Monsieur Vénus die (männliche) Machtposition und Jacques die (weibliche) Opferrolle, was mit einer Idealisierung der Männerrolle und einer Abwertung der Frauenrolle einhergeht und in den misogynen Diskurs der Dekadenz einzuordnen ist.42 Rachilde hat in ihren Texten das ‚weibliche‘ Begehren versteckt, indem sie die weibliche GenderIdentität und das Verlangen mit dekadenten Umkehrungen von ‚männlich‘ kon-
Faust,“ MV, 86 und „fille de Satan,“ MV, 189), assoziieren sie direkt mit dem Teufel, eine typische Charakterisierung für die Femme fatale des 19. Jahrhunderts (vgl. Elizabeth K. Menon: Evil by Design: The Creation and Marketing of the Femme Fatale, Chicago 2006, S. 94). 41 Besnard-Coursodon: „Sexe et discours“, S. 127. 42 Raoule de Vénérande lehnt alle Frauen, die sie umgeben, ab: Marie Silvert sieht sie lediglich als „une servante, rien de plus !“ (MV, 91) an, mit ihrer Tante Elisabeth bricht sie (MV, 114-120). Damit steht sie im Kontrast zu Marcel-les lesbischen Neigungen in Madame Adonis.
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notierten Identitäten und Begehren verwoben hat. Ihre Frauen begehren, aber auf eine ‚männliche‘ Art und Weise. In einem sadomasochistischen Machtverhältnis übt Raoule in Monsieur Vénus als femme perverse ihre Dominanz über Jacques, ihr „bel instrument de plaisir qu’elle désirait“ (MV, 34) unter Einsatz von Drogen43 oder Gewalt bzw. sadistischen Perversionen44 bis hin zum „vertige frénétique“ (MV, 144) aus. Doch nur vordergründig handelt es sich bei Monsieur Vénus um ein Spiel um Masochismus und Sadismus, auf der zweiten Ebene zeigen sich hier auch ‚feminine Vertextungsstrategien‘45, mit denen Rachilde versucht, auch auf textueller Ebene die Machtverhältnisse umzukehren. Bei Barbey d’Aurevilly konstatiert Rossbach den Akt des Schreibens und der Textproduktion als einen „virilen“ Akt, in dem die „diabolische“ Frau mit ihrer offenen Sinnlichkeit und aggressiven Sexualität in den Leerstellen zwischen den Worten und Zeilen angesiedelt werden muss.46 Analog zu Barbey d’Aurevillys Welt, in der der Erzähler sowohl den Textkörper dominiert, den er in präzise und komplexe
43 Raoule zwingt Jacques Drogen zu nehmen „[…] elle mit son bras autour de sa tête et une cuiller de vermeil à portée de sa bouche“, MV, 75). 44 Perversion ist eine Bezeichnung für eine zeit- und gesellschaftliche Abweichung von den allgemein als verbindlich geltenden kulturellen und sozialen Normen. Besonders im sexuellen Bereich spricht man bei der Bevorzugung unüblicher sexueller Praktiken (wie dem Sadomasochismus) von Perversion (vgl. Gerd Wenninger [Hrsg.]: Lexikon der Psychologie, Heidelberg 2001, „Perversion“, S. 246ff.). Schönheit, Unterwürfigkeit, Natürlichkeit etc. sind im Diskurs des 19. Jahrhunderts ‚weiblich‘ konnotierte Eigenschaften, die Raoule an Jacques begehrt und die ihn leicht zu ihrem Besitz machen. Dieses perverse Sexualverhalten resultiert zum einen aus ihrer Ablehnung von Frauen, zum anderen auch aus dem Hass gegenüber „la force de mâle“ (Maurice Barrès: „Complications d’Amour“ [Vorwort zu Rachildes Monsieur Vénus], S. 5-21, hier S. 19f.). 45 Der Begriff wird in Anlehnung an Susanne Rossbachs „virile Vertextungsstrategien“ verwendet, die sie in Barbey d’Aurevillys Schriften erkennt (Susanne Rossbach: „Blut, Schmerz und Tränen. Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im literarischen Werk Barbey d’Aurevillys“, in: Renate Kroll/Margarete Zimmermann [Hrsg.]: Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik, Stuttgart 1995, S. 135-153). Die erotische und „diabolische“ Heldin Barbeys, die sich den „virilen“ Vertextungsstrategien des Erzählers zu entziehen sucht, fällt seiner narrativen Gewalt zum Opfer. Der direkte physische Gewaltakt im Krieg wird in der Gesellschaft durch verbale Gewalt ersetzt, die „Virilität“ der Welt der Tat auf die des Wortes übertragen (vgl. ebd., S. 135). 46 Ebd., S. 147.
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narrative Formen gießt, als auch den Frauenkörper, der, passt er nicht in diese Formen, begehrt und zerstört wird,47 könnte man bei Monsieur Vénus konstatieren, dass der Mann inhaltlich und erzählerisch (zum Kunstwerk) abgetötet wird: Indem Raoule „honnête homme“ (MV, 70), „monsieur“ (MV, 84) und „maître“ (MV, 105) ist, wird Jacques analog hierzu als „épouse“ (MV, 115), „fiancée“ (MV, 84) und sogar „Madame de Vénérande“ (MV, 172) vorgestellt. Damit bietet Rachilde nicht nur eine reine Umkehrung der Geschlechterverhältnisse durch Sprache an, sondern zeigt hierin auch ein Mittel zur Machtausübung: Alle Attribute sind in Abhängigkeit zum weiblichen Dandy gewählt und als Umkehrung eines Erzählmodells und Umkehr von Verhalten eingesetzt. Raoule vermännlicht immer mehr innerhalb der Handlung, wird gewalttätig, Jacques’ weibliche Seite überwiegt stärker,48 ein Wechsel, der auch in der folgenden Beschreibung sinnfällig wird: „Les cuisses, un peu moins fortes que des cuisses de femme, possédaient pourtant une rondeur solide qui effaçait leur sexe“ (MV, 55). Der Text etabliert damit zügig ein umgekehrtes männlich/weibliches Verhaltensschema, in dem Erfahrung und Initiative von Raoule ausgehen, Unerfahrenheit und opferähnliche Antworten von Jacques,49 Ausgangspunkt für die umgedrehte Erzählung.50 Bei der Beschreibung von Raoule zeigt der Text insgesamt weniger Umkehrungen als bei Jacques – vielleicht weil sie tatsächlich bis zum Schluss zwischen den Geschlechtern wechselt. Obwohl sich Raoule gelegentlich als Mann verkleidet und von ihrer Tante als „neveu“ bezeichnet wird, konzentriert sich ih-
47 Ebd., S. 148. 48 Zeichen für Verweiblichung ist auch Verkindlichung: „Il avait l’air d’un petit enfant“ (MV, 45); „Il avait un rire d’enfant très doux“ (MV, 73); die Beziehung entwickelt sich zu einer Mutter-Kind-Beziehung: „Elle le serrait en le berçant entre ses bras, le calmant comme on calme les enfants au maillot.“ (MV, 126); „Elle le força à se coucher tout de suite […], comme s’il se fût agi d’un enfant au berceau“ (MV, 144). 49 Zahlreiche ‚weibliche‘ Verhaltensweisen lassen sich bei Jacques erkennen, wie „jeter un petit cri de plaisir“ (MV, 47), „se camper vis-à-vis la glace“ (MV, 48); überwältigt von Raoules Geschenken, „Jacques se vautra, baisant les houppes et les capitons, serrant le dossier, frottant son front contre les coussins […] fou d’une folie de fiancée en présence de son trousseau de femme“ (MV, 50). 50 Weitere Beschreibungen: „la pose embarrassée du garçon“ (MV, 24); Jacques nimmt eine Rose, „pour fermer sa blouse, qui s’écartait beaucoup sur sa poitrine“ (MV, 25). Sein verletzlicher Zustand wird durch weitere Beschreibungen betont: „immobile, béant, enfoncé dans sa joie“ (MV, 29); er lacht „niaisement, un peu déconfit“ (MV, 30); als Raoule die ersten offene sexuelle Annäherung initiiert, indem sie seine Brust streichelt, reagiert Jacques „tressaillit, confus“ (MV, 31).
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re Maskulinität v.a. auf den Intellekt, was nur durch die Lektüre von ‚ungeeigneten‘ Autoren deutlich wird, ihrem Gebrauch von Tabak, männlichen Kostümierungen, Fechten und einem gewissen Durchsetzungsvermögen: „elle l’empoigna par l’épaule“ (MV, 51) ; „elle envoya son manteau sur un fauteuil“ (MV, 51); „elle ressaisit la main de Jacques“ (MV, 52). Diese Vitalität wird im Roman bis zur Vergewaltigung oder zumindest bis zur sexuellen Gewalt gesteigert: „D’un seul bond, elle se précipita sur lui qu’elle couvrit de ses flancs gonflés d’ardeurs sauvages“ (MV, 105). Beide Romane repräsentieren eine Vielfalt von Gender-Verhalten, etablieren jedoch am Ende wieder die gesellschaftlichen Strukturen: Zwar bietet Monsieur Vénus ein Beispiel der weiblichen Bemächtigung, der verweiblichte Mann ist jedoch tot und die androgyne Frau schizophren. Der gesellschaftliche und genderkonforme Sieg der Gesellschaft wird im Tod der genderambivalenten weiblichen Protagonistin wieder eingeschrieben. Allerdings unterscheidet sich der Fokus der beiden Romane: Raoule ist dominantes Zentrum, der Leser teilt ihre Beobachtungen, ihr sexuelles Interesse wird sofort deutlich, ebenso die weiblichen Charakteristika für ihr baldiges Opfer. Die bisexuelle Marcel-le taucht in Madame Adonis nur in etwa der Hälfte des Romans auf, ihr Verhalten ist selbstsüchtig, rücksichtslos und stark auf die weibliche Homosexualität ausgerichtet. Diese wird von Raoule als vulgär und verachtenswert abgelehnt im Vergleich zu ihrer eigenen Suche nach einer neuen Heterosexualität, einer Beziehung zwischen Anderem und komplementärem Anderen.51 2.2.2 Hysterisierung und Ent-Hysterisierung Maurice Barrès’ berühmtes Vorwort zu Monsieur Vénus, der den Roman als „spectacle d’une rare perversité“52 klassifiziert, spiegelt nicht nur Konventionen und Normen des Lesens im 19. Jahrhundert wider, sondern dient auch als implizite Lektüreanweisung für den Leser. Anachronistisch verstanden kann der Roman als dekonstruktive Lektüre seines eigenen Vorwortes gelesen werden, denn er bringt die ideologisch begründeten Konventionen der Interpretation, die das Vorwort vorgegeben hat, durcheinander.53 Barrès’ Beobachtungen zum Roman
51 Dies erinnert an Joris-Karl Huysmans’ Des Esseintes aus A rebours (1884). Genau wie er, der mit Miss Urania zwar eine männlich-starke amerikanische Akrobatin findet, jedoch keine Komplementierung seiner selbst, so kann auch Raoule ihr Selbst nicht durch Jacques vervollständigen. 52 Barrès: „Complications d’amour“, S. 19. 53 Vgl. hierzu ausführlich Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 229f.
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haben wenig mit dem Roman an sich zu tun, sondern er stülpt seine Interpretation, die die Lektüre steuern soll, auf den Roman. Die Widersprüche im Vorwort von Barrès (einerseits bezeichnet er das Werk als jungfräuliche Fantasie, andererseits als Autobiographie einer seltsam-perversen Frau54) können durch die Kontextualisierung in den Geschlechter-Diskurs des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Barrès’ Kommentare zu Rachilde lassen sich in den Rahmen des Sexualitäts- und Machtkontextes der Werke Foucaults einordnen und Barrès’ Lektürestrategie dementsprechend als Hysterisierung des Textkörpers begreifen. Die Hysterisierung des weiblichen Körpers folgt einer dreistufigen Strategie, in der der weibliche Körper mit Sexualität gleichgesetzt, pathologisiert und mit dem Gesellschaftskörper identifiziert wird.55 „Verwerfung, Ausschließung, [...], Versperrung, Verstellung oder Maskierung“56 machen nach Foucault die negativen Konstituenten der Macht-Sexualitäts-Beziehung aus und zeigen sich klassisch in Madame Adonis an der weiblichen Sexualität, am Körper der kinderlosen Louise.57 In Monsieur Vénus hingegen zeigt sich, dass auch im Kontext der Körperlichkeit eine Umkehr gängiger Mechanismen stattfindet, denn der Körper, der hier im Zentrum steht, ist nicht der weibliche; es ist der manchmal travestierte, aber doch männliche Körper von Raoules Geliebtem. Damit teilt sich auch der Fokus des Hysteriediskurses auf. Raoule wird klar als Hysterikerin charakterisiert, einhergehend mit den Symptomen Nervosität, Launenhaftigkeit und abnormem Verhalten. Jacques’ Hysterisierung ist weniger in einem klinischen Sin-
54 Vgl. Barrès: „Complications d’amour“, S. 17ff. 55 „Die Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein dreifacher Prozeß: der Körper der Frau wurde als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert; aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie wurde dieser Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionelles Element mittragen muß) und mit dem Leben der Kinder (das er hervorbringt und das er dank seiner die ganze Erziehung währenden biologischmoralischen Verantwortlichkeit schützen muß): die ‚Mutter‘ bildet mitsamt ihrem Negativbild der ‚nervösen Frau‘ die sichtbarste Form der Hysterisierung“ (Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1983, S. 126; kursiv i.O.). 56 Ebd., 103. 57 In Madame Adonis konvergiert der sexuelle Körper, von dem Foucault in seiner Diskursanalyse des Sexualitätsdispositivs spricht, ausschließlich mit dem Frauenkörper (vgl. Korte-Klimach: Rachilde, S. 162).
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ne zu verstehen; vielmehr wird seine Person ganz auf seinen Körper reduziert, ein Charakteristikum, das sich zwar auch bei der Beschreibung der weiblichen Hysterie Louises zeigt, die aber zusätzlich sämtliche Merkmale der Hysterie durchläuft.58 Die Idee Rachildes, den feminisierten Jacques in den Hysteriediskurs des 19. Jahrhunderts zu stellen, gliedert sich in die gängige Vorstellung der männlichen Hysterie ein, denn diese wurde als weiblich wahrgenommen und eingeordnet:59 Jedes Symptom wurde gegen den Horizont des männlichen ‚Geschlechtercharakters‘ gestellt, wobei sich allenthalben zeigte, dass seine Identität – ‚nervenschwach‘ und ‚labil‘ – zum anderen Pol hinüber neigte. […] Überall diagnostizierte man die Verweiblichung, ja kindliche Regression des ‚starken‘ Geschlechts.60
58 Vgl. Anmerkung 55. Die Hysterie (gr.: hystéra = Gebärmutter) gilt bis zum Fin de Siècle als spezifisch weibliche Krankheit. Von körperlichen Begierden geleitet, wird die Frau zum Opfer der eigenen Gefühle, die sich bis zu epilepsieartigen Zuständen steigern können: „Raoule, s’écria Jacques, la face convulsée, les dents crispées sur la lèvre, les bras étendues comme s’il venait d’être crucifié dans un spasme de plaisir …“ (MV, 98). Im weiteren Sinn kann der Hysteriediskurs in Monsieur Vénus als kulturelles Phänomen betrachtet werden, das den gesamten Geschlechterdiskurs und die Epoche widerspiegelt: „To apprehend the phenomenon that I call hystericization of culture we must focus here on a historical moment experienced as anchorless and uncentered: a moment of crisis related to the razing political and social structures and, more significantly, the demolishing of a symbolic system. The body of the hysteric – mobile, capricious, convulsive – is both metaphor and myth of an epoch: emblem of whirling chaos and cathartic channelling of it“ (Renée A. Kingcaid: Neurosis and Narrative. The Decadent Short Fiction of Proust, Lorrain and Rachilde, Illinois 1992, S. 13f.). 59 Vgl. Dorion Weickmann: Rebellion der Sinne. Hysterie – ein Krankheitsbild als Spiegel der Geschlechterordnung (1880-1920), Frankfurt/M. 1997, bes. Kap. 5.2, S. 83107. 60 Ebd., S. 92.; vgl. auch S. 94: „Männern sollten Gefühle fremd sein, wer einzig seinem Herzen lebte stellte sich ins Abseits und führte die ganze Nation an den Abgrund. Aus dieser Logik heraus steigerte sich die Abartigkeit des hysterischen Mannes schließlich ins Ungeheuerliche, wenn er jenseits aller anderen Auffälligkeiten auch noch homosexuelle Liebschaften pflegte.“
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Die Hysterisierung Jacques’ kann in diesem Kontext aber auch als ironischer Verweis verstanden werden,61 da es sich im klinischen Sinn bei der männlichen Hysterie v.a. um Arbeiter und Kriegsveteranen handelte und Jacques als Blumenhändler weit weg von traumatischen Erlebnissen seiner Arbeit nachgeht. Bei Jacques dominiert sein Körper, und seine Sexualität durchläuft eine Pathologisierung, die diesen Körper zum semiotischen Körper um- und verwandelt, in dem sich medizinische (d.h. körperliche Zeichen) und soziolinguistische Semiotik überschneiden. Jacques’ Körper durchquert ein semiotisches Spektrum und wird abwechselnd zum Text, zum Gemälde, zur Skulptur, ein semiotisches Objekt, das gelesen, entziffert, interpretiert, angeschaut, geschrieben, gemalt und geformt wird. Damit reiht er sich in die große Tradition der Frauen-Darstellungen im 19. Jahrhundert ein, die mit Texten und anderen Kunstobjekten identifiziert werden.62 Weibliche Körper werden zu Textualität erstickt, in Kunstwerke gebannt oder, wie die bekannte Phrase von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar zusammenfasst, „killed into art.“63 Das Bild des künstlich konstruierten Körpers, eines Körpers, der nur dann ausgedrückt werden kann, wenn er von seinem originalen und lebenden Körper entfernt wird, fügt sich ein in Rachildes Konvention, Metaphern zu verwenden: So wird Jacques’ Körper mit seinen Blumenarrangements assoziiert, genauer Seidenblumen, und die Beschreibung von Jacques’ Körper schließt sich an deren Artifizialität an; seine Haut wird in Termini aus der Welt der Stoffe vorgenommen, „plus satinée que les roses de la guirlande“ (MV, 17). Jacques’ unnatürliche, tatsächlich artifizielle Existenz im Leben wird in seinem Tod fortgesetzt, sein Körper fragmentiert, separiert von sich selbst, um eine neue, artifizielle Replik des zu erinnernden Körpers darzustellen. Der erotische Körper kann nicht im Schreiben ausgedrückt werden. Dieser muss durch Blumen oder durch den Tod ersetzt werden. Damit wird Jacques zur reinen Kunstfigur, zum poetologischen Platzhalter für Rachildes neu entworfene Gender-Welt. Die semiotische Umkehrung von Jacques’
61 Rachilde schreibt, dass Raittolbe „avait le siècle“ (MV, 97); hier lässt sich die Kursivierung als kollektive Stimme erkennen, denn im Ausdruck „avoir le siècle“ zeigt sich Rachildes Variante von „la maladie du siècle“ (A. de Musset), ein Euphemismus für Hysterie und ein Fin de Siècle-Klischee der Selbst-Diagnose. Ihre Neuschöpfung betont die übertriebene Verbindung zwischen Geschichte und Krankheit durch die Pathologisierung der Ära. 62 Vgl. hierzu Beispiele bei Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 250. 63 Sandra M. Gilbert und Susan Gubar (The Madwoman in the Attic, New Haven 1979, S. 72) nennen den Akt der Verstummung weiblicher Romanfiguren bei männlichen Autoren „killing into art“.
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Körper nimmt eine poetische Form an (im Gegensatz zu Louises Körper, der Symbol für den Gesellschaftskörper bleibt), die noch dadurch verstärkt wird, dass tatsächlich eine Schrift auf seinen Körper aufgetragen wird: Bei Raoules Abwesenheit nähert sich Raittolbe Jacques. Das Gespräch endet darin, dass Raittolbe, verstört von Jacques’ und Raoules perverser Beziehung (und aufgrund seiner ihm plötzlich bewusst werdenden homosexuellen Anziehung für Jacques) Jacques brutal schlägt. Raittolbe versucht sich in einem Brief den Übergriff zu erklären, wohingegen Jacques keinen Kommunikationsbedarf sieht: Jacques n’ignorait pas l’adresse de Raoule, mais la pensée de se plaindre ne lui vint pas … Jacques, dont le corps était un poème, savait que ce poème serait toujours lui avec plus d’attention que la lettre d’un vulgaire écrivain comme lui. (MV, 139)
Jacques’ Körper ist nicht nur aufmerksam rezipiertes „poème“ und Botschaft, sondern verdrängt auch die Person hinter dem Körper. Die Textualisierung von Jacques’ Körper übernehmen Raittolbe und Raoule. Durch Raittolbes Markierung wird er zum ersten Mal lesbar, „zébrée de haut en bas de longues cicatrices bleuâtres“ (MV, 142). Bereits früher wird der Körper, allerdings hier noch allgemein, mit einem Gedicht assoziiert: Beim Anblick von Jacques’ nacktem Körper sinnt Raoule: „Poème effrayant de la nudité humaine, t’ai-je donc enfin compris, moi qui tremble pour la première fois en essayant de te lire avec des yeux blasés“ (MV, 55). Hier versucht Raoule noch die Botschaft zu entziffern, ihr gelingt es allerdings erst, als Raittolbe die Oberfläche beschreibt. Jacques ist Raittolbes Text und als Raoule die Inskription entziffert hat, befindet sie die Botschaft unzweideutig: Raoule, à genoux, comptait les traces brutales … ‚Assez‘, rugit Raoule … ‚cet homme t’a vu! Cela me suffit, je devine le reste … Il faut que j’efface chaque cicatrice sous mes lèvres ou je te reverrai toujours nu devant lui. (MV, 143f.)
Als Raoule ihn mit ihren Lippen, Zähnen und Nägeln bearbeitet, wird das Werk der Auslöschung durch eine gewaltsame Überschreibung vollendet, indem Narbe auf Narbe entsteht, blutige Spur über Spur.64 Jacques wird zum Palimpsest. Jac-
64 Vgl. auch die ähnliche Strategie, die Mary Barbe in La Marquise de Sade (1887) anwendet, um Besitzanspruch und Übernahme zu symbolisieren, ebenfalls eine Reminiszenz an die Vereinigung von Körper und Poesie: „Il [Paul] lui tendait ses bras pour qu’elle s’amusât à les labourer d’une épingle à cheveux, une pointe de métal cuivrée très mauvaise, elle le tatouait de ses initiales, appuyant d’abord doucement, puis écri-
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ques, der als Künstler nur mittelmäßig und weder Dichter noch Gedicht, Künstler oder Kunstwerk ist, wird zur kontinuierlich beschreibbaren Leinwand oder Tafel in einer fortgeführten Konversation zwischen Raoule und Raittolbe, woraufhin Raoule konstatiert: „Jacques n’est plus qu’une plaie, c’est notre œuvre“ (MV, 156). Die Brutalität gegenüber Jacques kann als Versuch des weiblichen Dandys angesehen werden, sich auf der Plattform und Projektionsfläche Jacques in den Geschlechterdiskurs einzuschreiben. Jacques wird zum Spielball zwischen dem weiblichen und dem männlichen Dandy, ein Ringen, das ein Hinweis auf den Geschlechterkampf insgesamt darstellen könnte. Hier imitiert das weibliche Schreiben, sowohl Raoules als auch Rachildes, nicht die Natur, sondern zeigt seine eigene Erneuerung auf, wenn es mit Konventionen spielt. Das Endprodukt des Schreibens ist die artifizielle Maschinenpuppe, eine Art Cyborg, der aus echten und artifiziellen Teilen zusammengesetzt ist. Jacques’ realer Körper wird zum Simulacrum, zu einer monsterähnlichen Kreatur. Damit wird Raoules ästhetische Metapher explizit realisiert, indem sie Jacques tatsächlich „kill[s] into art“. Jacques ist jetzt nicht nur bloßes Kunstwerk, sondern ein Kunstwerk, dessen abnorme Funktionalität betont wird: […] un mannequin de cire revêtu d’un épiderme de caoutchouc transparent. Les cheveux roux, les cils blonds, le duvet d’or de la poitrine sont naturels; les dents qui ornent la bouche, les ongles des mains et des pieds ont été arrachés à un cadavre. […] Ce mannequin, chef-d’œuvre d’anatomie, a été fabriqué par un Allemand. (MV, 227f.)
Das „chef-d’œuvre“ ist jedoch weniger als Bild der anatomischen Perfektion anzusehen, sondern es ist ein Körper in Teilen, eine Mischung aus Wachs- und toten Körperteilen; Haare, Zähne und Nägel sind von Jacques’ Körper und komplettieren die Darstellung und genauso zersetzen sie diese. Diese Art der Darstellung lässt verschiedene Interpretationen zu: Die Wachsstatue kann im Hysteriediskurs gelesen werden, denn Charcot ordnete in seinem atelier de moulage und musée de moulage in der Salpêtrière Mitte der 1870er Jahre an, dass die Krümmungsbewegungen der Patienten in Wachs festgehalten werden sollten: Pathologie als Kunstwerk. Aufgrund der Automatisierung des Mundes und anhand der nächtlichen Besuche Raoules, die ihn küsst und umarmt, lässt sich eine Form der Nekrophilie (ein ebenfalls beliebtes Motiv im 19. Jahrhundert) sehen. Durch den realistischen Anspruch, Jacques’ komplette Behaarung auf die Wachspuppe zu übertragen, lässt sich zugleich ein starker Fetisch erkennen: „We
vant la lettre dans la chair vive, l’empêchant de fuir en lui donnant un baiser par écorchure“ (Mary Barbe: La Marquise de Sade, Paris 1887, S. 272).
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might then be tempted to describe this labor of plucking and later reattaching hairs as fetishistic in the extreme.“65 Bei der Fetisch-Version von Monsieur Vénus wird die Geschichte zu einer der Perversion, Pathologie und pathologischer Narrativa (wie Barrès es sieht). Das Meisterwerk der Anatomie sollte aber auch als Versinnbildlichung der (literarischen) Repräsentation und Ästhetik Rachildes gelesen werden: Zum einen vereint das Kunstwerk unzählige Frauenkörper des 19. Jahrhunderts, die allesamt „killed into art“ wurden; d.h. die unterschiedlichen Materialteile sind zugleich eine Collage von Zitaten. Zum anderen ist Jacques eine Repräsentation von Fin de Siècle-Stereotypen und wird im Tod (d.h. in der Kunst) eine Kopie der Kopie, eine Repräsentation von sich als Repräsentation, der selbst-referentielle Klischee-Körper oder Rachildes Simulacrum. 2.3
Androgynität als männliches oder weibliches Ideal?
Im 19. Jahrhundert wird Androgynie – in Rückbesinnung auf die Antike66 – als Zeichen kreativer Kompetenz gewertet, in der Genie und Androgynie beim männlichen Autor eine Allianz bilden, die bspw. in Texten Baudelaires deutlich wird. Barbey d’Aurevilly beschreibt ein neuartiges, ganzheitliches und perfektes Wesen, das männlich und androgyn zugleich ist. Weiblichkeit bedeutet demgegenüber immer Unvollständigkeit und Unvollkommenheit. Die dandyistische Erzählstrategie zielt auf Verdunklung und Maskierung sowie auf Überraschungseffekte beim Leser ab.67 Androgynie als Symbol für den weiblichen Teil im männlichen Künstler ist somit eng mit der Misogynie als Affirmation von Männlichkeit verbunden: „[…] l’androgynéité de l’artiste est finalement le signe du pouvoir créateur et lui permet en même temps de retrouver sa virilité.“68 In Rachildes Romanen lässt sich eine Umkehrung des Androgynitätsdiskurses des 19. Jahrhunderts erkennen, denn sie sieht Androgynität sowohl als Ideal vorrangig im weiblichen Dandy vereint, als auch in der Gender-Konstellation insgesamt und letztlich in ihrer androgynen Schreibweise als Symbol für den weibli-
65 Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 257. 66 „Androgynie soll hier jene Relation zweier komplementärer Elemente heißen, die eins waren, eins sind oder eins sein möchten, insofern die Komplementarität geschlechtlich erkennbar ist“ (Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv, Köln 1986, S. 2). 67 Vgl. Rossbach: „Blut, Schmerz und Tränen“, S. 145. 68 Maryline Lukacher: Maternal Fictions: Stendhal, Sand, Rachilde, and Bataille. Durham 1994, S. 153.
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chen Künstler, bei dem Androgynität die Möglichkeit bietet, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In Madame Adonis ist Marcel-le als androgyne Figur angelegt: Als „l’autre“ ist sie auch Verkörperung des Ehebruchs und nicht konkretes männliches oder weibliches Wesen: „L’autre, enfin, était revenu, ce sinistre meurtrier du bonheur, l’autre dont il avait failli chercher le nom alors qu’il n’existait qu’à l’état de menace chimérique“ (MA, 283). Marcel-le verkörpert einen Gegenentwurf zu allen anderen Romanfiguren, vereinigt sie doch in sich gleich mehrere Geschlechterbilder der Décadence: Sie ist Androgyn (unweiblicher Körper) und in ihrer Exzentrik und Schönheit femme louve, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal von Ehefrau und Mutterschaft konträr entgegengesetzt werden kann, auch eine femme libre, die sich über „l’amour passion“ (MA, 261) und Freiheit definiert und damit zugleich das neue Selbstverständnis der weiblichen Künstlerin in der Décadence verkörpert. Marcel-le praktiziert eine bisexuelle Lebensweise, die heterosexuelles (Marcelle/Louis und Marcel/Louise) und homosexuelles (Marcel/ Louis, Marcelle/Louise) Begehren impliziert. Durch die Verdopplung der Namen (Louis und Louise und Marcel und Marcelle) könnte man insgesamt an einen Geschlechtskörper denken, der die (antagonistisch angelegte bürgerliche und dekadente) Gesellschaft symbolisiert. Interessanterweise fühlen sich die Eheleute zwar vom entgegengesetzten Geschlecht Marcel-les angezogen, sind aber von den jeweils gleichgeschlechtlichen Charakteristika beeindruckt: In ihrer Inszenierung als Marcel beeindruckt Marcel-le Louise durch eine zarte Frauenstimme (MA, 185) und eine mädchenhafte Schönheit (MA, 29), während Louis von dem knabenhaften Körper Marcelles und ihren „gestes viriles“ (MA, 252) hingerissen ist: „Un garçon de quinze ans tout à fait. Ni hanches ni poitrine, et cependant quelle peau fine, blanche, chaude ! Quelle chevelure, quelle bouche, quels yeux“ (MA, 252). Hinter dem Spiel einer heterosexuellen Ehebruchsgeschichte verbirgt sich ein homosexuelles Begehren. Die Trennung von Gender und Sexualität wird in dem Moment zerstört, als biologische Merkmale sichtbar werden (Louis ersticht Marcel-le und erkennt, dass „la poitrine de Marcel Carini était une poitrine de femme.– Ma maîtresse ! rugit Louis au comble de la stupeur,“ MA, 290). Nicht die ironische Qualität des Geschlechtertausches steht im Vordergrund, sondern die in der Verdopplung enthaltende Assimilation beider Geschlechterrollen, zugleich Ideal der Décadence mit ihrer ästhetischen, sexuellen und moralischen Ambivalenz. Während beide Ehepartner auf ihren Körper reduziert werden (Louise durch Hysterisierung, Pathologisierung, etc. – Louis als Verkörperung von Asexualität), gelingt Marcel-le durch den gezielten Einsatz ihrer Androgynität eine Trennung von Sexualität und Gender. Identität erweist sich im Roman
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mehr noch als in Monsieur Vénus als performativer Akt, der durch die jeweilige sexuelle Praxis bestimmt ist: in Relation zu Louis als Frau; in Beziehung zu Louise als Don Juan. In Madame Adonis werden Überschreitungen (Weiblichkeitsentwürfe und patriarchalische Konventionen) auf der Grundlage der bürgerlichen Weltordnung durch die Androgynität – der androgyne Körper Marcel-les und die Ambiguität des Textkörpers des Romans – verdeutlicht. Raoule präsentiert sich, in dandyistischer Selbstvergewisserung mit beständigem Blick in den Spiegel, der Pariser Gesellschaft in unterschiedlichen Kostümierungen, die die Geschlechterbandbreite abdecken: Als „étrange beauté“ (MV, 34) und „éphèbe grec“ (MV, 6) verkörpert sie in ihrem Nymphenkostüm (MV, 64f.), das sie sich von Jacques anfertigen lässt, die weibliche Rolle. Ihr Auftritt in der (männlichen) Dandyrolle mit distinguierten schwarzen Anzügen, mit Champagner und Zigarre sowie einer männlichen Stimme und ‚männlichen‘ Freizeitbeschäftigungen (Fechten, Sammeln von exquisiten Waffen, Philosophieren über den Eros in ihrem Herrenzimmer, „une académie masculine,“ MV, 36) verschafft ihr aber den Zugang zu einer exklusiven Männerwelt. Hier dient Androgynität vorrangig als Maskerade oder gar Kostümierung, um Raoule als exzentrisches, in der Gesellschaft sich einen gesonderten Platz erhoffendes Wesen darzustellen. Mit zunehmender Romanhandlung versucht aber Rachilde ein tatsächlich die Geschlechtergrenzen sprengendes Wesen zu erwecken: „[…] ils [Raoule und Jacques, A.-B- R.] riaient tous les deux, mais ils s’unissaient de plus en plus dans une pensée commune: la destruction de leur sexe“ (MV, 110). Zum „individu complet,“ einem die Geschlechtergrenzen vermischenden „unique monstre“ verschmelzen schließlich Raoule und Jacques in einem symbiotischen Tanz während eines Festes im Schloss der Vénérandes: Il ne cherchait pas à soutenir sa danseuse, mais il ne formait avec elle qu’une taille, qu’un buste, qu’un être. A les voir pressés, tournoyants et fondus dans une étreinte où les chairs, malgré leurs vêtements, se collaient aux chairs, on s’imaginait la seule divinité de l’amour en deux personnes, l’individu complet dont parlent les récits fabuleux des brahmanes, deux sexes instincts en un unique monstre. (MV, 171)
Die Kostümierung und Verkleidung als Dandy wird für Raoule zunehmend zu einer intensivierten Form des Transgendering und Cross-Dressing und mündet letztlich in den Identitätsverlust. Celle-ci vint une fois, vers minuit, vêtue d’un complet d’homme, le gardénia à la boutonnière, ses cheveux dissimulées dans une coiffure pleine de frisons, le chapeau haute forme, son chapeau de cheval, très avancé sur son front. (MV, 110f.)
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Die physische Verwandlung zeigt auch die innere Wandlung Raoules an, die in ihrer Beziehung zu Jacques den männlichen Part übernimmt. Ihr Wunsch jedoch, mit einem die beiden Geschlechter vereinenden Wesen die Geschlechter- und Gesellschaftsgrenzen zu sprengen, erfüllt sich erst in ihrer Schizophrenie, indem sie sowohl als Mann wie auch als Frau verkleidet die Wachspuppe des toten Jacques besucht: La nuit, une femme vêtue de deuil, quelquefois un jeune homme en habit noir, ouvrent cette porte. Ils viennent s’agenouiller près du lit et, lorsqu’ils ont longtemps contemplé les formes merveilleuses de la statue de cire, ils l’enlacent, la baisent aux lèvres. (MV, 227)
Ein Ende, das sardonisch nicht das erwünschte Ideal der Androgynität zeigt, sondern Hinweis darauf gibt, dass „the heroine’s triumphant desire has led only to the ritual enactment of mastery over a dead lover.“69 Obwohl Androgynität in Madame Adonis nur auf Seiten Marcel-les beschrieben wird, bringen sowohl Raoule als auch Marcel-le die subversive Qualität der Androgynie70 zum Ausdruck: In Rachildes Texten kann Misogynie als männliche Maskerade gedeutet werden, Androgynie hingegen als Möglichkeit, ihre geschlechtsspezifischen Erfahrungen als Autorin innerhalb eines männlich dominierten Literaturdiskurses zur Sprache zu bringen. Insofern bezeichnet die Androgynie bei Rachilde keine selbstbestimmte Artikulation, bei der sowohl die männliche als auch die weibliche Stimme als gleichwertig betrachtet werden kann.71 Androgynie stellt für Rachilde eine Möglichkeit dar, ein selbstbestimmtes (Künstler-)Leben zu führen; die Überschreitung der Geschlechtsidentität ist Darstellungsmöglichkeit für das Überwinden patriarchalisch-gesellschaftlicher Barrieren. Deshalb ist die Bezeichnung für Androgynität als „deux sexes instincts en un unique monstre“ (MV, 171) wohl ein von der Gesellschaft geprägtes Bild. Bei beiden Romanen handelt es sich um androgyne Romane (Atmosphäre der Ambiguität setzt bourgeoise Normen außer Kraft), die sich dem
69 Holmes: Rachilde, S. 120. 70 Mit der impliziten Ambivalenz der Androgynität werden naturalistische Kategorien wie Wahrheit, Entität, Faktizität, Realität, Identität und Geschlecht außer Kraft gesetzt. 71 Vgl. beispielsweise Virginia Woolfs Androgynie-Konzeption: „[…] Virginia Woolf was free to develop both sides of her nature, both male and female, and to create the appropriate kind of novel for the expression of her androgynous vision“ (Elaine Showalter: A Literature of Their Own. British Women Novelists from Brontë to Lessing, London 1978, S. 263).
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männlichen Literaturdiskurs entziehen und deren ambivalente Schreibweise mit einer die Gender-Grenzen überschreitenden Praxis korrespondiert und den weiblichen Autor als Doppelwesen zeigen.
3.
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Rachilde zeigt in ihren Romanen kaleidoskopartige Strukturen von homo- und heterosexuellem Begehren auf. „The decadent, upside-down world turns itself around so many times that one loses one’s bearings and after a while notices only the artificial machine of reversal, the artificial nature of gender identity itself.“72 Bei Rachilde verschwimmen die Grenzen zwischen weiblichen und männlichen Körpern. Was darüber hinaus übrig bleibt, ist das Verlangen. En ce jeu de miroirs, l’origine se perd, et l’identité; la ressemblance se fond en semblance, la marque sexuelle se perd sur les corps. Réversibilité du masculin-féminin qui thématise la réversibilité des signes. Butée de la représentation, pierre d’achoppement du réalisme.73
Die parodisierende Umkehrung, die den Stoff von Madame Adonis und Monsieur Vénus ausmacht, lädt zu einer Lektüre ein, welche die Stärke des nichtkonformen Weiblichen hervorbringt. Obwohl sich die Autorin explizit gegen den Feminismus positioniert hat (Pourquoi je ne suis pas féministe, 1928), gibt es doch ein unleugbares feministisches Element in ihren Romanen. Ein naturalistisches Literaturverständnis, das sich über eine exakte und komplette Reproduzierung des Faktischen definiert und sich naturwissenschaftlicher Methoden bedient, um vollständige Milieu- und Charakterstudien zu entwickeln, wird in den Romanen (v.a. in Madame Adonis) aufgenommen und bis zur Karikatur im Rahmen der dekadenten Merkmale ad absurdum geführt. Nach Beizer können sowohl der gesamte Roman (auch aufgrund seiner Kursivierungen) als auch seine Figuren als karikaturhaftes Zitat bzw. Karikaturen der Fin de SiècleStereotypen gelesen werden: „In other words […] if this text is indistinguishable from its social matrix, a competent reader must put the entire novel in quotes and engage in a sentence-by-sentence ironic reading.“74 Unterstrichen wird der artifi-
72 Kelly: Fictional Genders, S. 20. 73 Besnard-Coursodon: „Sexe et discours“, S. 127. 74 Beizer: Ventriloquized Bodies, S. 235.
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zielle Charakter dadurch, dass alle Charaktere durch ihr streng vorgezeichnetes Schicksal gesteuert werden.75 Die Krise der Geschlechter am Ende des 19. Jahrhunderts manifestiert sich in einer Krise der Männlichkeit, die sich in der Figur des weiblichen Dandys konkretisiert: Geschlechtliche und gesellschaftliche Emanzipationsbestrebungen der Frau konzentrieren sich in der Gestalt des weiblichen Dandys kongenial. Dabei wird im Geschlechterdiskurs der Mann zur bloßen Chiffre abgetötet; als Chiffre ist er ein überholt-antiquiertes Modell, das umgeformt werden muss. Dabei kommt dem weiblichen Dandy die Rolle der Erschafferin zu. Der Geschlechterkonflikt wird und kann aber damit nicht gelöst werden. Im weiblichen Dandytum als ästhetischem Produktions- und Konstruktionsprinzip findet in Rachildes Werken eine Neu-Definierung der différence sexuelle statt. Sowohl die gesellschaftlichen als auch die literarisierten Geschlechterverhältnisse werden bei Rachilde als marode entlarvt, indem weiblich konnotierte Stereotypen auf Männer übertragen werden. Damit wird der weibliche Dandy Ausgangspunkt aller Gender- und poetologischen Diskurse und der Mann zur bloßen Chiffre degradiert.
75 „Son [Raoule] père avait été un de ces débauches épuisés que les œuvres du marquis de Sade font rougir, mais pour une autre raison que celle de la pudeur. Sa mère … avait eu les plus naturels et le plus fougueux appétits“ (MV, 39); „Jacques était le fils d’un ivrogne et d’une catin. Son honneur ne savait que pleurer“ (MV, 58).
„Don Juan caído“, „dandy desengañado“ Ruinöse Männlichkeiten im spanischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts T ANJA S CHWAN
CAÍDO , CADUCO , DEGENERADO D ON J UAN IM FREIEN F ALL
–
Zu Beginn von Benito Pérez Galdós’ Tristana betritt in Gestalt des väterlichen Freundes und Hausgenossen der titelgebenden Protagonistin ein Männertypus die ‚Bühne‘ des Romans, der mit seinen vielen Namen und Gesichtern für Verwirrung sorgt: „un hidalgo de buena estampa y nombre peregrino, […] su catadura militar de antiguo cuño, algo así como una reminiscencia pictórica de los tercios viejos de Flandes“1 – „ein stattlicher Hidalgo mit wohlklingendem Namen“, dessen „militärisch geschnittene Gesichtszüge von altem Schlag […] Reminiszenzen an Darstellungen der berühmten alten Flandernregimenter erwecken mochten“2. Legenden ranken sich um die Person jenes „respetable y gallardo caballero, que parecía figura escapada del Cuadro de las Lanzas“ (T, 63; vgl. Abb. 1), „des respektablen und stattlichen Caballero […], der wie eine aus Velázquez’ Übergabe von Breda entsprungene Figur anmutete“ (TD, 70): Im Freundeskreis, so heißt es, habe man ihm das Pseudonym „don Lope de Sosa“ angetragen; er
1
Benito Pérez Galdós: Tristana, Madrid 21977, S. 7. Im Folgenden zitiert mit der Sigle T und der Seitenzahl.
2
Benito Pérez Gáldos: Tristana, aus dem Spanischen von Erna Pfeiffer, Frankfurt/M. 1989, S. 7. Im Folgenden zitiert mit der Sigle TD und der Seitenzahl.
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selbst hingegen bevorzuge „don Lope Garrido“, während sein Taufname von Amts wegen „don Juan López Garrido“ (T, 7) laute. Abb. 1: Diego Velázquez: El cuadro de las lanzas (Die Übergabe von Breda, 1634/35)
Durch und durch literarische Namen sind es, mit denen die Figur sich schmückt: mal ein „nombre que trasciende al polvo de los teatros o a romance de los que traen los librillos de retórica“ (T, 7), „ein Name, der nach Theaterschminke klingt oder nach einer jener Romanzen, wie sie in den Gedichtsammlungen vorkommen“, dann wieder einer, der, „wie ein kostbares kosmetisches Mittel, […] dem Bild der Persönlichkeit den letzten Schliff geben sollte“ (TD, 7), „como un precioso afeite aplicado a embellecer la personalidad“ (T, 7). Allzeit auf sein Image bedacht, kommt der Träger solch illustrer Namen wie eine Gestalt daher, die direkt der schillernden Welt des Als-Ob hinter Theaterkulissen entstiegen scheint. Mit seiner Maskerade der Männlichkeit weiß er das Karussell der Identitäten in Schwung zu halten, das dank der erzählerischen Vermittlung kursierender Gerüchte längst angesprungen ist, bevor der Vorhang sich lüftet und er in personam ins Rampenlicht rückt. Sein Renommee als „gran estratégico en lides de amor“ (T, 8) und „hombre de mundo“ (T, 9) – „großer Stratege in Liebesgefechten“ (TD, 8) und „wahrer Mann von Welt“ (TD, 9) – eilt dem Performer Butler’scher Prägung voraus. In der Facette des Don Juan kann er wie selbstverständlich mit der spätestens seit Mozart und Da Ponte obligaten Leporello-Liste aufwarten:
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Sus conquistas son tantas que no se pueden contar. […] Aristocracia, clase media, pueblo…, en todas partes dejó memoria triste, como Don Juan Tenorio […], y sus éxitos parecen obra del demonio. Sus víctimas no tienen número (T, 64). 3 Seine Eroberungen sind so zahlreich, daß man sich keinen Begriff davon macht. […] Adelige, Mittelstand, gemeines Volk…, überall hinterließ er traurige Erinnerungen, wie Don Juan Tenorio […], und seine Erfolge übersteigen alle Begriffe. Seine Opfer sind ohne Zahl (TD, 73).
Schon weitaus weniger beeindruckend wirkt das Ambiente, in dem diese so imposante Erscheinung ihr Leben fristet: Am nördlichen Stadtrand von Madrid residiert Don Lope „en plebeyo cuarto de alquiler de los baratitos, con ruidoso vecindario de taberna, merendero, cabrería y estrecho patio interior de habitaciones numeradas“ (T, 7), d.h. er bewohnt eine „Mietwohnung von der billigen Sorte, in geräuschvoller Nachbarschaft einer Taverne, einer Ausflüglerschenke und eines Ziegenstalls mit Molkerei sowie eines engen Hinterhofs mit numerierten Zimmern“ (TD, 7). Die vermeintliche Passgenauigkeit von Name und Figur erweist sich demnach als eine Finte des Erzählers, die nicht ohne ironische Untertöne auskommt. So detailliert die Beschreibung von Identität und Physiognomie Don Lopes im Text auch ausfällt, so wenig bekommt der Leser ihn als Person zu fassen. Mit den hageren Gesichtszügen, dem drahtigen Körperbau, „seiner hochgewachsenen Statur, seiner Höckernase […], dem angegrauten Schnurrbart und dem kecken kurzen Bärtchen“ (TD, 7), „con la espigada tiesura del cuerpo, con la nariz de caballete […], con el mostacho entrecano y la perilla corta, tiesa y provocativa“ (T, 8) gewinnt ein Bild vor unseren Augen Kontur, das die Romanfigur hinter einer Anhäufung quijotesker Attribute (vgl. Abb. 2) zum Verschwinden bringt.
3
Mit Tristana verlängert Don Lope die „ohnehin schon lange Liste von Schlachten, die er der Unschuld abgewonnen hatte.“ (TD, 23) – „[…] don Lope […] aumentó con ella la lista ya larguísima de sus batallas ganadas a la inocencia“ (T, 22).
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Abb. 2: Gustave Doré: Don Quichotte (1863)
Bis zur Unkenntlichkeit überdeckt von literarischen und künstlerischen Masken, präsentiert sich Don Lope nur mehr als Don-Juan-Darsteller. Seine besten Tage hat er unwiderruflich hinter sich und zehrt lediglich noch von früheren Erfolgen: „Ya gastado y para poco, no podía desmentir la pícara afición“ (T, 8) – „Bereits ausgedient und zu nicht mehr viel tauglich, konnte er doch keinen Hehl aus seiner frivolen Leidenschaft machen“ (TD, 8). Dabei passt es ins Bild des Überkommenen und Überlebten, dass er sein Alter so treffend wie unpräzise mit einer Zahl anzugeben pflegt, „die sich so unmöglich herausfinden ließ wie die Stunde an einer defekten Uhr, deren Zeiger nicht mehr weiterwollen“ (TD, 7f.). Obwohl sie sich längst jenseits der 50 eingependelt haben dürfte, bleibt die Uhr seines Lebens immerdar bei 49 stehen: La edad del buen hidalgo […] era una cifra tan imposible de averiguar como la hora de un reloj descompuesto, cuyas manecillas se obstinaran en no moverse. Se había plantado en los cuarenta y nueve (T, 8).
Auf gesellschaftlichem Parkett geriert sich der fesche Don Lope als Dandy. Stets erscheint er in ausgesuchter Garderobe, elegant gestriegelt und behandschuht. Stock und Hut steh’n ihm gut – allein seine Anzüge wählt er nicht ganz altersgerecht, greift er doch gerne zu „trajes más propios de la edad verde que de la madura“ (T, 8), „Anzügen, die mehr dem jugendlichen als dem reifen Alter angemessen waren“ (TD, 8).
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Anspruch und Wirklichkeit klaffen also auch in diesem Punkt auseinander. Überdeutlich tritt die Disproportion zutage, als Don Lope sich anschickt, dem Archiv seiner amourösen Abenteuer die ultimative Trophäe hinzuzufügen, indem er die seinem Schutz anbefohlene Waise Tristana zur Geliebten seiner alten Tage macht. Mit dieser Mesalliance Cranach’scher Manier (vgl. Abb. 3) offenbart sich einmal mehr „la ridícula presunción del anciano que, contraviniendo la ley de la Naturaleza, hace papeles de galán“ (T, 26f.), „erschien […] die Anmaßung des Greises, der, entgegen dem Gesetz der Natur, den galanten Liebhaber spielen will, noch lächerlicher“ (TD, 28).4 Von nun an häufen sich wenig schmeichelhafte Epitheta, die Don Lope als „el degenerado galanteador“ (T, 27), als „estropeado galán“ oder auch als „libertino averiado“ (T, 71) bzw. „inservible“ (T, 121) ausweisen – er ist „der heruntergekommene Charmeur“ (TD, 28) in der Gestalt „des lädierten Galan“ oder „eines ramponierten Lüstlings“ (TD, 80). Abb. 3: Lucas Cranach d.Ä.: Das ungleiche Paar (um 1530)
4
Vgl. auch die Szene in der Verfilmung von Luis Buñuel (TRISTANA, E/F/I 1970, 95 min., hier min. 00:03:25-00:03:45), in der Don Lope einer jungen Passantin auf der Straße spontan die Verlobung anträgt und sie das galante Angebot unter Verweis auf sein Alter dankend ablehnt („Trop vieux!“). Pedro Almodóvar wird jene emblematische Don-Juan-Parodie an fast gleicher Stelle zu Beginn von MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS
(E 1988, 85 min., hier min. 00:03:27-00:04:33) in einer
schwarzweiß gehaltenen Traumszene erneut karikieren, indem er den gealterten Herzensbrecher Iván entlang einer Reihe mehr oder weniger desinteressierter Frauen jeden Alters, aller Ethnien und verschiedener Berufsgruppen defilieren lässt, ohne dass auch nur eine einzige von ihnen gewillt wäre, auf seine Avancen näher einzugehen.
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Dies hält den „Don Juan caído“ (T, 33) oder „Don Juan caduco“ (T, 58), den „abgewirtschafteten“ (TD, 36) und „hinfälligen Don Juan“ (TD, 65) jedoch nicht davon ab, weiterhin lautstark seinem gewohnt bigotten Ehrenkodex5 zu huldigen: „Prefiero terminar trágicamente a ser ridículo en mi decadencia“ (T, 36). – „Lieber will ich tragisch enden, als mich im Alter lächerlich zu machen“ (TD, 40), erklärt er gegenüber Tristana, als er in deren jugendlichem Liebhaber Horacio einen Nebenbuhler wittert. Sogleich fühlt er sich genötigt, den gefürchteten Konkurrenten in seiner Männlichkeit abzuwerten – als „algún otro monigote de estos de ahora, […] de estos que no podemos llamar hombres sin acortar la palabra o estirar la persona“ (T, 73), „irgendeinen dieser Zieraffen von heute, […] einen von denen, die wir nicht Männer nennen können, ohne die Bedeutung des Wortes zu schmälern oder die des Betreffenden über Gebühr hochzuspielen“ (TD, 84). Der junge Kunstmaler wiederum mutiert, von Tristana zärtlich „señó Juan“ (T, 90) genannt, unfreiwillig zum kleinen Bruder des notorischen Schürzenjägers. Als dessen Bruder im Geiste sieht er sich jedenfalls längst – stachelt ihn die Herausforderung durch das heimlich bewunderte Vorbild doch zu eigenen Allüren an, die im „burlar al burlador“ (T, 65) gipfeln sollen, darin, „den Don Juan mit seinen eigenen Waffen zu schlagen“ (TD, 73) und den einst unbesiegbaren Verführer neben sich sprichwörtlich ‚alt aussehen‘ zu lassen. Tatsächlich aber bleibt auch Horacio – ungeachtet seines heroischen Namens und opernhaften Gebarens – im Roman merkwürdig blass. Über weite Teile des Textes hinweg glänzt er durch Abwesenheit und taucht lediglich als Phantasieprodukt und Projektionsfigur der Protagonistin auf. Mit zunehmender Verschuldung von Don Lopes Hausstand greifen seine körperlichen und geistigen Verschleißerscheinungen in wechselseitiger metaphorischer Verdichtung auch auf die armseligen Wohnverhältnisse des sonderbaren Konkubinats über:
5
„El punto de honor era, pues, para Garrido, la cifra y compendio de toda la ciencia del vivir“ (T, 14). – „Die Ehrenfrage war also für Garrido Inbegriff und Leitfaden jeglicher Lebenskunst“ (TD, 13). Für Neuschäfer ist Don Lope damit der „karikatureske Inbegriff traditioneller spanischer Männlichkeit: freidenkender, über moralische Einsprüche erhabener Don Juan, wenn es um seine Triebwünsche geht; eifersüchtiger und ehrenempfindlicher, die Freiheit in Ketten legender Calderonianer, wenn es um die Wünsche der Frau geht. Nie ist die spiegelbildliche Entsprechung der beiden […] nur scheinbar widersprüchlichen […] Männerbilder des Siglo de Oro scharfsichtiger aufgedeckt worden“ (Hans-Jörg Neuschäfer: „Die amputierte Frau. ‚Tristana‘ bei Benito Pérez Galdós (1892) und Luis Buñuel“, in: Franz-Josef Albersmeier/Volker Roloff (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Frankfurt/M. 1989, S. 505-521, hier S. 508).
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[…] la casa, en la cual lucían restos de instalaciones que fueron lujosas, se iba poniendo de lo más feo y triste que es posible imaginar; todo anunciaba penuria y decaimiento […]. Y si la casa declaraba, con el expresivo lenguaje de las cosas, la irremediable decadencia de la caballería sedentaria, la persona del galán iba siendo rápidamente imagen lastimosa de lo fugaz y vano de las glorias humanas. El desaliento, la tristeza de su ruina, debían de influir no poco en el bajón del menesteroso caballero, ahondando las arrugas de sus sienes más que los años (T, 34f.).6 Denn die Wohnung, die noch Spuren einstmals luxuriöser Einrichtungen aufwies, bot bald das häßlichste und traurigste Schauspiel, das man sich nur vorzustellen vermag; alles zeugte von Dürftigkeit und Verfall […]. Und so wie das Haus in der ausdrucksvollen Sprache der Dinge vom unabwendbaren Niedergang des seßhaften Rittertums kündete, so wurde die Person des Galans rasch zum Jammerbild der Vergänglichkeit und Eitelkeit menschlicher Glorien. Die Niedergeschlagenheit, die Betrübnis über seinen Ruin mochten nicht wenig zur Malaise des notleidenden Ritters beigetragen haben und vertieften die Falten an seinen Schläfen mehr als die Jahre (TD, 37f.).
Abb. 4: Juan de Valdés Leal: Finis gloriae mundi (El fin de las glorias mundanas, 1672)
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Man beachte den impliziten Verweis („imagen lastimosa de lo fugaz y vano de las glorias humanas“) auf das barocke Vanitas-Gemälde Valdés Leals, Finis gloriae mundi (Abb. 4), das in makabrer Weise die letzte ‚Behausung‘ des Menschen vor Augen stellt.
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Ein zweifach verspätetes Double des Ritters von der traurigen Gestalt, dessen chevalereske Gesinnung und Mission bereits bei Cervantes seltsam aus der Geschichte gefallen schienen, hat sich in die zeitgenössische Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts verirrt, wo alles Elend und Verfall atmet. Aus dem ruhmreichen Frauenhelden ist ein Maul- und Pantoffelheld geworden. Galt Don Lope im Roman zunächst immerhin noch als einer der letzten Virtuosen der im Aussterben begriffenen Kunst, mit Worten zu verführen,7 so reicht es am Ende nur mehr für eine folgenlose Gardinenpredigt, die er seinem Mündel Tristana in Hausschuhen hält. Längst nämlich hat das ehemals fügsame Püppchen sich angewöhnt, ihn hinter seinem Rücken despektierlich „don Lepe“ (T, 91) zu schimpfen und das Sammelsurium seiner Spitznamen damit um eine weitere Verballhornung bereichert. Vom lupus (dem Wolf) zum lepus (dem Hasen) ist es nur ein Buchstabe, doch markiert dieser den entscheidenden Umschwung vom Don Giovanni auf Freiersfüßen zu seinem Alter ego Leporello, dem Hasenfuß.8 Der bissige Erzählerkommentar tut ein Übriges, um die diskursive Autorität Don Lopes in die Schranken des Irrealis zu verweisen, denn ganz offensichtlich macht der bloß Theater – und das nicht einmal gekonnt: ¡Lástima que no hablara en verso para ser perfecta imagen del padre noble de antigua comedia! Pero la prosa y las zapatillas, que por la decadencia en que vivían no eran de lo más elegante, destruían en parte aquel efecto. (T, 70f.)9 Schade, daß er nicht in Versen sprach, denn dann hätte er das perfekte Inbild des edlen Vaters in der klassischen Theaters abgegeben! Aber die Prosa und die Pantoffeln, die der mißlichen Lage wegen, in der sie lebten, nicht gerade die elegantesten waren, taten diesem Effekt doch einigen Abbruch. (TD, 80)
7
„[…] don Lope, quien compensaba lo que los años le iban quitando con un arte sutilísimo de la palabra y finezas galantes de superior temple, de esas que apenas se usan ya, porque se van muriendo los que usarlas supieron.“ (T, 26) – „Don Lope, der das, was ihm mit den Jahren allmählich abging, mit einer äußerst subtilen Kunst des Wortes und galanten Aufmerksamkeiten kompensierte, von jener ausgesuchten Art, wie man sie kaum noch findet, denn die sich darauf verstanden, sterben nach und nach aus“ (TD, 27).
8
Es sei an dieser Stelle jedoch auch auf die positiven Konnotationen der spanischen Redewendung „saber más que Lepe“ (‚ein Schlauberger sein‘) hingewiesen.
9
Im Film Buñuels entsorgt Tristana die Hausschuhe – Symbole ihrer Knechtung, die sie ihrem Vormund so oft auf Knien übergestreift hatte – kurzerhand in den Müll (vgl. den Hinweis bei Neuschäfer: „Die amputierte Frau“, S. 516).
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Die Metaphorik des Ruinösen trifft indes nicht nur die Figur Don Lope, sondern mit ihm und durch ihn hindurch den literarischen Typus des Don Juan als solchen. Angesichts der schieren Frequenz seines Auftretens in Literatur- und Kulturgeschichte – Spaniens zumal – war er gegen 1900 kaum noch anders als im Stadium des Verfalls zu aktualisieren. Wenn ein ‚Spätgeborener‘ wie Don Lope die Würde des Tragischen für sich beansprucht und die Rollen des „Eifersüchtigen der Komödie“ oder des „Haustyrannen“ (TD, 80) in aller Entschiedenheit von sich weist („No quiero hacer el celoso de comedia, ni el tirano doméstico“; T, 70), irrt er sich daher schlicht im Genre. Angekränkelt und überaltert, eine Ruine seiner selbst, taugt er nur mehr zum Sujet einer Groteske. Unter der Feder der passionierten Briefschreiberin Tristana muss die hoch pathetische Ruinenpoesie des spanischen Barockdichters Rodrigo Caro herhalten, um Brüchigkeit und Zerfall der ‚läppischen‘ Figur Don Lope zu ironisieren. Waren in der „Canción a las ruinas de Itálica“ die Trümmerfelder der Geburtsstadt Kaiser Trajans („ante quien muda se postró la tierra“; v. 38) wie seines Nachfolgers Hadrian im Süden Spaniens Gegenstand einer Vanitas-Klage, so ist es nun das kulturelle ‚Monument‘ Don Lope alias Don Juan, das vor den Augen seines Opfers unaufhaltsam in sich einstürzt und zum bemitleidenswerten Objekt wird: Don Lope, el gran don Lope, ante quien muda se postró la tierra, anda malucho. El reuma se está encargando de vengar el sinnúmero de maridillos que burló, y a las vírgenes honestas o esposas frágiles que inmoló en el ara nefanda de su liviandad. ¡Vaya una figurilla!… Pues esto no quita que yo le tenga lástima al pobre Don Juan caído […]. ¡Pobre don Lepe! (T, 108) Don Lope, der große Don Lope, vor dem stumm die Erd’ sich neigete, ist kränklich. Das Rheuma übernimmt es nun, die Unzahl von Ehemännern zu rächen, deren er gespottet hat, sowie die ehrbaren Jungfrauen oder schwachen Gemahlinnen, die er auf dem schändlichen Altar seiner Lüsternheit geopfert hat. Was für ein Bild des Jammers! Denn trotz alledem tut mir der arme, gefallene Don Juan leid […]. Armer Don Läppchen! (TD, 122f.)
Mit dem Poeten und Archäologen Caro möchte man in das Klagelied einstimmen, das die traurige Bilanz von Einst und Jetzt zieht („¡oh fábula del tiempo, representa / cuánta fue su grandeza y es su estrago!“ v. 22/23) und auf die verfallene Stadt ebenso zutrifft wie auf den gefallenen Helden:
284 | T ANJA S CHWAN […] ¡ay dolor! […] Por tierra derribado yace el temido honor de la espantosa muralla y lastimosa reliquia es solamente. […] de todo apenas quedan las señales. […] las torres que desprecio al aire fueron a su gran pesadumbre se rindieron. […] welch ein Schmerz: […] Am Boden verstreut liegen Macht und Ehre, gewaltige Mauern sind nur klägliche Reliquien. […] Von alldem bleiben kaum noch Spuren. […] Türme, die sich stolz zum Himmel reckten, liegen nun im Leid darnieder.10
Wie vom stolzen Rom mit seinen vormals phallisch emporragenden Türmen11 nur kümmerliche Ruinen erhalten sind, zeugt von der sprichwörtlichen Potenz Don Juan López Garridos am Ende kaum mehr als sein geflügelter Name.
„ UNA
ENORME BOTELLA DE CHAMPAÑA “
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Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die in Tristana zur Charakterisierung Don Lopes und seines häuslichen Elends aufgebotenen Schlüsselbegriffe (decaimiento, decadencia, restos, ruina), so finden sich, wenig überraschend, genau
10 Rodrigo Caro: „Canción a las ruinas de Itálica / Auf die Ruinen von Italica“, in: Spanische Lyrik von der Renaissance bis zum späten 19. Jahrhundert. Spanisch/Deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Hans Felten und Augustín Valcárcel, Stuttgart 1990, S. 252-255 (Auszüge), hier S. 252f. 11 Den Erläuterungen im Anhang zur o.g. zweisprachigen Ausgabe zufolge stehen die beiden zuletzt zitierten Verse im Spanischen redensartlich für Impotenz (vgl. ebd., S. 389). 12 Leopoldo Alas „Clarín“: La Regenta, hrsg. von Juan Oleza, 2 Bde., Madrid 41989, Bd. I, S. 138. Im Folgenden zitiert mit der Sigle R, römischer Ziffer für die Bandangabe und Seitenzahl.
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diese Stichworte auch in einem anderen Romanwerk des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder – und auch dort lassen die Baufälligkeit der räumlichen Kulisse und die Anfälligkeit ihrer Bewohner für Krankheiten und Krisen wechselseitig aufeinander schließen. Damit scheint mir allerdings weniger die für den Naturalismus epochentypische Kontamination von Person und Milieu indiziert als vielmehr eine Krise der Repräsentation im Foucault’schen Sinne – suggeriert doch „el expresivo lenguaje de las cosas“ (T, 35), von dem bei Galdós die Rede war, dass unsichtbare Übertragungskanäle für eine geheime Verständigung zwischen Wörtern und Dingen sorgen. Nachdem schon Don Quijote am Anachronismus der Ähnlichkeiten gescheitert war, führen sowohl Tristana (1892) als auch – einige Jahre zuvor – Claríns La Regenta (1884/85) dieses Scheitern nun erneut vor. Wenn ich für den vorliegenden Beitrag ein achronologisches Vorgehen gewählt und meine Überlegungen mit dem historisch etwas jüngeren Text begonnen habe, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass Galdós seinen Roman gleichsam kammerspielartig auf ein reduziertes Personal zuspitzt, während La Regenta sich im Gewand schierer Monumentalität präsentiert: Das auch hier von einem amourösen Drei- bzw. Viereck besetzte Zentrum gerät – so es denn eines gibt – angesichts seiner Entgrenzung zugunsten eines schlechthin unüberschaubaren Gewimmels an Nebenfiguren über weite Strecken des Romans immer wieder aus den Augen. Es versteht sich daher von selbst, dass ich das reichhaltige Anschauungsmaterial, das der Text gerade im Hinblick auf periphere und prekäre Entwürfe von Männlichkeit bietet, im weiteren Verlauf meiner Ausführungen nicht einmal ansatzweise ausschöpfen kann. Noch bevor der Leser von La Regenta Bekanntschaft mit den Romanfiguren schließt, sieht er sich Peter Fröhlicher zufolge im micro-récit des Incipit mit einer regelrechten „Kartographie des Schmutzes“13 von Vetusta, dem fiktiven Handlungsort in der spanischen Provinz konfrontiert. Im Detail zu bestaunen gibt es aller Arten ästhetisch aufbereiteten Drecks: „remolinos de polvo, trapos, pajas y papeles que iban de arroyo en arroyo, de acera en acera, de esquina en esquina revolando y persiguiéndose“ (R, I, 135), „Wirbel aus Staub, Lumpen, Strohhalmen und Papierfetzen, die von Rinnstein zu Rinnstein, von Gehsteig zu Gehsteig, von Ecke zu Ecke tanzten, kreisten und hintereinander hertaumel-
13 Peter Fröhlicher: „Zur Kartographie des Schmutzes in Claríns Roman ‚Die Präsidentin‘“, in: figurationen: gender – literatur – kultur 2/2008, abrufbar unter: http://figurationen.ch/hefte/02-08/zur-kartographie-des-schmutzes (letzter Zugriff am 13.01.2014).
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ten“14. Über Alliterationen und Anaphern rotten sich die Schmutzpartikel zu Abfallhaufen zusammen – „turbas de pilluelos“ (R, I, 135), „Rudeln kleiner Gassenjungen“ (P, 7) gleich, die als Kollektive personifizierten Unrats jenem menschlichen Abschaum metonymisch vorausgehen, der bald darauf in Gestalt der stadtbekannten Lausebengel Celedonio und Bismarck in Erscheinung treten wird. Ihrerseits als „pillo[s]“ (R, I, 138) – Tunichtgute – eingeführt, sind diese Schmuddelkinder nach ihren anthropomorphen Vorboten die ersten Einwohner Vetustas, die wir als Leser zu Gesicht bekommen. Während Tristana als Tochter einer putzsüchtigen Mutter ausdrücklich gegen jede Affizierung durch Staub und Schmutz gefeit ist und sich selbst inmitten des häuslichen Befalls mit den Keimen krisenhafter Verunreinigung eine geradezu antiseptische Reinlichkeit bewahrt,15 gesellen sich im schäbigen Stadtbild Vetustas zu den Spuren des Ruins und des Zerfalls ganz konkret auch die des Ab-
14 Clarín: Die Präsidentin, aus dem Spanischen von Egon Hartmann, Frankfurt/M. 1987, S. 7. Im Folgenden zitiert mit der Sigle P und der Seitenzahl. 15 Tristana wird in ihrer makellosen Weiße als „Inbegriff der Reinlichkeit“ („el espíritu de la pulcritud“) eingeführt, „denn nicht einmal wenn sie sich zu den gröbsten Hausarbeiten erniedrigte, machte sie sich schmutzig. […] Ihrer ganzen Person wohnte der Eindruck einer angeborenen, elementaren Sauberkeit inne, die über jegliche Berührung eines ungepflegten oder unreinen Gegenstandes erhaben war. Wenn sie im Hauskleid, den Staubwedel in der Hand, auftauchte, wichen Staub und Schmutz vor ihr zurück“ (TD, 10) – „[…] pues ni aun rebajándose a las más groseras faenas domésticas se manchaba. […] Llevaba en toda su persona la impresión de un aseo intrínseco, elemental, superior y anterior a cualquier contacto de cosa desaseada o impura. De trapillo, zorro en mano, el polvo y la basura la respectaban“ (T, 10). Ihre Mutter Josefina litt im Alter an einem „krankhaften […] Reinlichkeitswahn“ (TD, 21), „la insana manía […] del aseo“ (T, 20); zu den „Abirrungen ihrer Witwenzeit“ („los disparates de la época de su viudez“), denen sie, „wie der sterbende Don Quijote“ („cual Don Quijote moribundo“; TD, 23 / T, 21), erst auf dem Totenbett abschwor, gehörte es, „sich mit Desinfektionsmitteln und Antiseptika“ („de desinfectantes y antsépticos“; TD, 20 / T, 19) zu umgeben und ihren Haushalt in einer „Sintflut von Seifenlauge“ („diluvio con jabón“; TD, 21 / T, 20), zu ertränken, „alles, was ihr in die Hände kam, zu waschen und zu scheuern, von […] tief verwurzelten Ekelgefühlen getrieben […]. Sie gab niemandem die Hand, aus Furcht, sie könne sich ansteckende Hautkrankheiten zuziehen […]. Einer Fliege wegen konnte sie außer sich geraten“ (TD, 19f.) – „en lavar y fregotear cuanto cogía por delante, movida de […] ascos hondísimos […]. No daba la mano a nadie, temerosa de que le pegasen herpetismo […]. Una mosca la ponía fuera de sí“ (T, 19).
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falls. Das Provinznest ist, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, ein Drecksloch, in dem mit dem schmutzbesudelten Celedonio, der zuerst und zuletzt auftretenden männlichen Figur des Romans, ein wahrer Ausbund an Hässlichkeit haust. Seiner monströsen Fratze und linkisch verzerrten Körperhaltung, die homoerotische Neigungen nur mühsam kaschieren, gilt der erste wie der letzte Blick des Lesers. Das Panorama – um nicht zu sagen: Panoptikum – skurriler Männlichkeiten, mit dem Vetusta in der Zwischenzeit aufwarten wird, versammelt sich unter der emblematischen Chiffre des zur „gewaltigen Champagnerflasche“ (P, 8) degenerierten Turms der Kathedrale, dem pervers verkehrten Monument für ins Groteske umgekippte Leitbilder des Virilen, das steil wie ein „steinerne[r] Zeigefinger“ (P, 8) – „índice de piedra“ (R, I, 136) – über den Dächern der Stadt aufragt. […] no era una de esas torres cuya aguja se quiebra de sutil, más flacas que esbeltas, amaneradas, como señoritas cursis que aprietan demasiado el corsé; era maciza sin perder nada de su espiritual grandeza (R, I, 138). Es war keiner jener Türme, deren Spitzen, eher schwächlich als schlank und geziert wie überelegante junge Damen, die sich zu eng schnüren, vor Zartheit wegzuknicken scheinen. Er war wuchtig, ohne dadurch etwas von seiner Erhabenheit einzubüßen (P, 8).
Erscheint der Kirchturm in seiner schmucklosen Robustheit „como fuerte castillo“, „[c]omo haz de músculos y nervios“ (R, I, 138), „wie eine wehrhafte Feste“, „[w]ie ein Bündel von Muskeln und Nerven“ (P, 8), so erfüllt er damit symbolisch die strengen Anforderungen an einen hegemonialen machismo, der seine exponierte Position als Speerspitze des Patriarchats der größtmöglichen Distanz von allem Weibischen und Verweichlichten verdankt. Sobald das Bauwerk sich jedoch in der ganzen Pracht seines Festtagsschmucks zeigt, wirkt es vom Virus der effeminatio – des „afeminamiento carnevalesco“ (R, I, 615), wie es im Text heißt –, nicht minder angesteckt als die jederzeit anfälligen Männer zu seinen Füßen. Aus einem Leuchtturm der phallischen Ordnung wird dann unversehens ein Seismograph der Krise. Der Anspruch des Romans auf Totalität und seine ausgeprägte Detailfreude machen aus ihm ein einzigartiges Inventar und ein kaum zu überbietendes Kuriositätenkabinett der Kippfiguren von Männlichkeit an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Das Typenrepertoire umfasst – um hier nur die prominentesten unter den vom Krisendiskurs Übermannten zu nennen – eine riesige Bandbreite: vom Mantel- und Degenhelden, den der Gerichtspräsident a.D. Don Víctor de Quintanar bettlägerig im Schlafrock mimt, während er nach dem Ehebruch sei-
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ner Gattin mit dem Part des médico de su honra calderonianischen Zuschnitts überfordert ist; über den von weltlichen Gelüsten geplagten Beichtvater der ‚Präsidentin‘, Fermín de Pas, der als Priester im Körper eines Athleten feststeckt und – gleichsam ein Echo auf die in Rodrigo Caros „Canción a las ruinas de Itálica“ nach dem Muster des ubi-sunt-Topos aufgeworfene Frage „¿Dónde está el atleta fuerte?“ (v. 28) – den Ruf nach dem ‚starken Mann‘ anklingen lässt; bis hin zu dem sein eigenes Klischee kultivierenden Melancholiker Don Saturnino Bermúdez, der in romantischer Versponnenheit dem Ewig-Gestrigen frönt. Gegen diese Verfallsprodukte treten als Hoffnungsträger Erfolg versprechendere Modelle an: Die ‚neuen Männer‘ des Romans repräsentieren der junge aufstrebende Nervenarzt Don Benítez ebenso wie der zupackende, lebenskluge Darwinist Don Tómas Crespo alias Frígilis.
V OM „ AUDAZ Y IRRESISTIBILE CONQUISTADOR “ ZUR „M ARGARITA G AUTIER DEL SEXO FUERTE “: F AMA UND F ALL DES D ON Á LVARO M ESÍA , „T ENORIO VETUSTENSE “ Im Folgenden möchte ich, wie schon eingangs in den Beobachtungen zu Tristana, die Don-Juan-Figur des Romans einer näheren Betrachtung unterziehen, denn im Anschluss an Uta Fenske, Walburga Hülk und Gregor Schuhen dienen gerade „moderne Mythen […] immer wieder als narratives Dispositiv von Krisen.“16 Stellte der abgehalfterte, mit Theaterschminke nur notdürftig überpinselte Schürzenjäger Don Lope bei Galdós lediglich eine längst ausgespielte Rolle nach, indem er sich der literarischen Masken einer fernen Vergangenheit bediente, so gewinnt Álvaro Mesía, „el don Juan de Vetusta“ (R, I, 355), dem altbekannten Typus darüber hinaus doch immerhin eine neue Qualität ab: Den urspanischen Don Juan versieht er mit dem modernen Anstrich eines in Pariser Chic gewandeten Dandy afrancesado – und codiert damit, wie Ursula Link-Heer anhand der Theaterszene in der Romanmitte überzeugend herausgearbeitet hat,17 die Figur doppelt. Ob ihm die Aufstockung um aus Feuilletonroman und Boulevardtheater französischer Provenienz entlehnte Attribute allerdings zur Ehre ge-
16 Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen: „Vorwort“, in: dies. (Hrsg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013, S. 7f., hier S. 7. 17 Vgl. Ursula Link-Heer: „Leopoldo Alas (‚Clarín‘): La Regenta“, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 21995, S. 272-297, hier S. 282.
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reicht, bleibt fragwürdig – steht doch mit dem Erzähler von La Regenta zu vermuten, „que don Álvaro no hacía más que imitar – y de mala manera […] –, a los héroes de aquellos libros elegantes“ (R, I, 375), „daß Don Alvaro nichts weiter tat, als die Helden dieser eleganten Bücher nachzuahmen, und zwar recht stümperhaft“ (P, 177). Auffällig ist indes, dass es Álvaro mit seinen donjuanesken Parolen und Imponiergesten zwar partout nicht gelingen will, den gewünschten Effekt auf die Frauenwelt, namentlich das lang ersehnte Objekt seiner Bemühungen, die Romanprotagonistin Ana Ozores, zu erzielen, dass er aber gleichwohl mit einigem Erfolg einen Fanclub aus jungen Nachäffern um sich zu scharen versteht. So mag Mesía innerhalb der städtischen Hierarchie von Vetusta als der wohl unumstrittene Aspirant auf den Titel eines in männerbündischem Konsens ausgehandelten Exempels hegemonialer Männlichkeit gelten. Die liminalen Exemplare gruppieren sich um ihn entsprechend ihrer relativen Nähe oder Ferne zu diesem Leitstern der Virilität. Aus ihrer Menge tut sich der Marquesito Paco de Vegallana, einer der glühendsten Verehrer und Kopisten Mesías, besonders darin hervor, die Fama Don Álvaros als Eroberer einer Vielzahl verflossener Liebschaften unter den stets auf den neuesten Klatsch versessenen Vetustensern zu verbreiten – seine von keinem Geringeren als dem Burlador de Sevilla Tirso de Molinas ererbte Reputation als „el conquistador a lo Alejandro, el que había rendido la castidad de una robusta aldeana en dos horas de pugilato, el que había deshecho una boda en una noche, para sustituir al novio, el Tenorio repentista“ (R, I, 370),18 als „der stürmische Draufgänger, der die Keuschheit eines drallen Bauernmädchens in zweistündigem Kampf zu Fall gebracht, der in einer Nacht ein Hochzeitspaar entzweit, um an die Stelle des Bräutigams zu treten, der Stegreif-Don Juan“ (P, 174f.). Da der junge Marqués jedoch ein begeisterter Konsument von Trivialliteratur ist, dichtet er seinem Idol in Verkennung der literarischen Tradition Spaniens den vermeintlichen Ehrentitel einer „Margarita Gautier del sexo fuerte“ (R, I, 375) an, einer „Marguerite Gauthier des starken Geschlechts“ (P, 177). Eine derartige Code-Entgleisung19 bezeugt nun nicht nur Pacos Unkenntnis
18 Bezeichnenderweise handelt es sich dabei durchweg um lange zurückliegende Eroberungen: „Sus aventuras actuales pocos las conocían; las que sonaban y hasta refería él siempre eran antiguas.“ (R, I, 371) – „Von seinen derzeitigen Abenteuern wußten die wenigsten etwas. Was sich herumgesprochen hatte und was er sogar selbst erzählte, waren alte Geschichten“ (P, 176). 19 Vgl. zur unfreiwilligen Durchsetzung – und Zersetzung – des sich gewollt gelehrt und dem einheimischen klassischen Erbe verpflichtet gebenden Vetustenser Diskurses, der jede Beschäftigung mit aus Frankreich importierter Unterhaltungsliteratur im Brustton
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der altehrwürdigen kanonischen Texte des Siglo de Oro, sondern bescheinigt dem allseits anerkannten „Tenorio de Vetusta“ (R, I, 371) darüber hinaus – und dies wiegt in der patriarchalen Restaurationsgesellschaft Spaniens am Ende des 19. Jahrhunderts ungleich schwerer – die Nehmerqualitäten einer Schwindsüchtigen: liebeskrank, opferbereit und schicksalsergeben; sämtlich Eigenschaften also, die üblicherweise mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wenn demnach selbst die Bewunderer aus den eigenen Reihen Álvaro Mesía zur Kameliendame entdonjuanisieren, scheint es mit den lokalen Stützpfeilern des Patriarchats nicht mehr weit her. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass die literarisch ambitionierte Titelheldin im Roman umgekehrt eine Aufwertung zur „Autorin in potentia“20 erfährt und bedenkt man weiter, dass ihre Wahrnehmung als Nachfahrin George Sands („Jorge Sandio“) in den Augen der braven Vetustenser einer Entwertung zum „ente híbrido“ (R, I, 303) oder gar „absurdo viviente“ (R, I, 304) gleichkommen muss, zu einem „Zwitterwesen“, weder ganz Frau noch Mann, sondern „lebender Widersinn“ (P, 125), so ist der Gender Trouble perfekt – hatte doch die Abwertung Álvaros zur traviata ihn zumindest in der Optik Pacos nobilitiert. In der Konkurrenz der Perspektiven, die der Text unvermittelt gegeneinander führt, wird damit nur einmal mehr offenbar, wie sehr die konkreten Performanzen des Gender – handelt es sich hierbei auch lediglich um fiktionale Konstrukte21 – von den historisch je sanktionierten, stets phantasmatischen Normvorstellungen abweichen können. Deutlich wird an ins Ironische gewendeten Überkreuz-Attribuierungen wie diesen aber auch – und nicht etwa zuletzt –, dass wechselseitige Durchlässigkeiten im Spiel der Geschlechter immer schon eher den Regelfall darstellen als ein per se alarmierendes Krisensymptom. Da sich brüchige männliche Identitäten allein vor der Folie traditioneller Bestimmungen von Männlichkeit überhaupt als ruinöse zu erkennen geben,
der Empörung von sich weist, mit aus ebendieser übernommenen Feuilletonfloskeln Kap. 1 in Stephanie A. Sieburth: Reading „La Regenta“. Duplicitous Discourse and the Entropy of Structure, Amsterdam/Philadelphia 1990, S. 11-24. 20 Ursula Link-Heer: „Pastiche und Realismus bei Clarín“, in: Wolfgang Matzat (Hrsg.): Peripherie und Dialogizität. Untersuchungen zum realistisch-naturalistischen Roman in Spanien, Tübingen 1995, S. 157-181, hier S. 173. 21 „[D]ass gerade literarische Figuren, die nicht in jeder Hinsicht ‚lebensecht‘ erscheinen, einen wichtigen Beitrag zur Inszenierung und Problematisierung von sex, gender und sexuality leisten können“, betont auch Marion Gymnich: „Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar 2004, S. 122-142, hier S. 127.
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verrät sich die oftmals allzu eilfertig heraufbeschworene Krisendiagnose demnach mitunter selbst als ein zutiefst konservativer, ja konformistischer Standpunkt, der „nostalgische und melancholische Züge trägt und den Status quo […] gewahrt sehen möchte“.22 „Außerhalb eines Systems von Geschlechterbeziehungen gibt es so etwas wie ‚Männlichkeit‘ überhaupt nicht“, lesen wir bei Robert/Raewyn Connell.23 Weder erschöpft sich La Regenta, wie zuvor skizziert, in der Funktion eines Krisen-Seismographen,24 noch – und auch dafür legt der Roman eindrucksvoll Zeugnis ab –, erscheint es mir sinnvoll oder auch nur möglich, Men’s oder Masculinity Studies jenseits von Gender Studies zu betreiben. Erst in Wechselwirkung mit den Virilisierungstendenzen der Protagonistin entfaltet sich die romanintern geführte Debatte um die Diskursfigur des Mannes in der Krise – ohne dass jedoch abschließend darüber befunden würde: Mithilfe komplexer Ambiguisierungsstrategien wird die Krise vielmehr konstatiert und unterlaufen zugleich. Was für die ‚Präsidentin‘ gilt, der Neider beiderlei Geschlechts das des-
22 Ines Kappert: Der Mann in der Krise oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur, Bielefeld 2008, S. 220. Die Autorin, Leiterin des taz-Meinungsressorts, beschreibt die allfällige Rede über den krisengebeutelten Mann „als Figuration einer als pervertiert apostrophierten Normalität“ (ebd., 214). Seit einigen Jahren, so ihre Beobachtung, raschelt es vernehmbar im deutschen Blätterwald, der den ‚Mann in der Krise‘ als Medienstar auserkoren hat. 23 Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 1999, S. 91. 24 Dagegen Reinstädler, die in den ‚Frauenromanen‘ des spanischen Realismus-Naturalismus die Behauptung vom ‚Mann in der Krise‘ sich ein weiteres Mal konsolidieren sieht und damit m.E. eine politisch korrekte Reduktion jener Diskursvielfalt vornimmt, welche die Romane selbst bieten: „Die (Titel-)‚Heldinnen‘ dienen somit zwar als Motivation der Erzählung, keineswegs aber als Motor der Handlung. […] Zudem ermöglicht die Darstellung der lieblos behandelten weiblichen Figuren, die eigene Position der Marginalisierung als liberaler Schriftsteller in der konservativen Restaurationsgesellschaft zu literarisieren“ (Janett Reinstädler: „‚¡Qué vida tan estúpida!‘ Ideale, frustrierte Frauen und der ‚realistische‘ Roman der Restauration“, in: Jochen Heymann/Montserrat Mullor-Heymann [Hrsg.]: Frauenbilder – Männerwelten. Weibliche Diskurse und Diskurse der Weiblichkeit in der spanischen Literatur und Kunst 18331936, Berlin 1999, S. 203-226, hier S. 225). Die krisengeschwächten Antihelden werden so zu Identifikationsangeboten für die männliche Leserschaft, zum normativen Zentrum ex negativo, das mittels der Krisenbehauptung die bestehenden Geschlechterverhältnisse restabilisiert.
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pektierliche Etikett einer Literatin anhängen wollen, ließe sich ohne Weiteres übrigens auch an der beinamputierten ‚Tristana‘ aufzeigen, die – entgegen Neuschäfer25 – nicht erst seit der Verfilmung des Romans durch Buñuel (vgl. Abb. 5) zur phallischen Frau geworden ist26 und somit ihrerseits die herkömmliche Geschlechterordnung herausfordert.
25 Buñuel zeigt uns Catherine Deneuve in der Rolle der Tristana, wie sie im Traum einen Kirchturm ‚besteigt‘ und den Glockenschwengel wie einen überdimensionierten Phallus anschiebt (vgl. die Abbildung in Neuschäfer: „Die amputierte Frau“, S. 506). Am Ende ist sie es, die aus dem ins 20. Jahrhundert transponierten calderonianischen Ehrendrama als Siegerin hervorgeht (vgl. ebd., S. 515). Neuschäfer sieht die Buñuel’sche TRISTANA damit im Vergleich zur Romanvorlage, in der er eine „adversative Seite“ und eine „konzessive […] ‚Kompromißstrategie‘“ unterscheidet, „entschieden radikalisiert“: „‚Frauenemanzipation‘ ist bei Buñuel kein freundliches Plauderthema mehr, sondern […] ein Machtkampf der Geschlechter“ (Ebd., 510f.). Zwar übersieht er nicht die ‚federführende‘ Rolle, die Tristana über weite Teile des Romans als Verfasserin hochliterarischer Liebesbriefe einnimmt – und die sie wie Ana Ozores als ver- bzw. ‚behinderte‘ Autorin ausweist –, doch leitet er in seiner auf inhaltliche Aspekte verengten Lektüre daraus nicht den Schluss ab, dass das ‚Thema‘ des Romans nur vordergründig eine (im Übrigen recht banale) Emanzipationsgeschichte ist, in einer vom Text ‚Tristana‘ ausgehenden autoreferenziellen Lesart hingegen das Schreiben selbst. So dient die erzählerische Ironie nicht etwa „zur Beschwichtigung“ (ebd., S. 507), sondern als metafiktionales Signal. 26 Vgl. das Kapitel „Amputation und Poetologie“ in Ulrich Prill: „Wer bist du – alle Mythen zerrinnen“. Benito Pérez Galdós als Mythoklast und Mythograph, Bern 1999, S. 247-255. Ein ideologiekritischer Deutungsstrang Tristanas, der von Galdos’ Zeitgenossin und ehemaliger Partnerin Emilia Pardo Bazán angeregt wurde und den noch Jutta Schütz nachbetet, wenn sie die Galdós’sche Tristana zum „zwischen Küche und Kirche“ gefangenen „Heimchen am Herd“ degradiert („Vom Ende her gesehen. Funktion der Schlüsse in einigen Romanverfilmungen Buñuels“, in: Ursula LinkHeer/Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 204-215, hier S. 210), vermag demgegenüber nicht zu überzeugen: „Tristana ist eben nicht plattes Symbol scheiternder Emanzipation, […] sondern […] fiktionales Konstrukt mit poetologischen Implikationen“; lediglich „gemessen an den Maßstäben des Außerliterarischen, ist Tristana […] nicht mehr […] als eine sprechende Puppe“ (Prill: Galdós, S. 244; 246f.). Auch die politische Lesart des Romans als Antizipation der ‚Amputation‘ des spanischen Kolonialreichs, die eine nationale Krise epochalen Ausmaßes auslösen sollte, wird seiner metafiktionalen Qualität nicht gerecht.
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Abb. 5: Szene aus Luis Buñuel: TRISTANA (E 1970)
Die Situierung beider Romanplots an der Peripherie der Peripherie – hier der tristen Außenbezirke von Madrid, dort der tiefsten Provinz Spaniens – mag begünstigen, was Wolfgang Matzat unter dem Begriff der „epistemologische[n] Unbestimmtheit“27 als den „diskursgeschichtlichen Ort des spanischen Realismus/Naturalismus“ gefasst hat: „Die Kritik an der kulturellen und diskursiven Hybridisierung wird“ dabei, so Matzat weiter, „zur Quelle des ästhetischen Vergnügens.“28 Sollte also, führt man diesen Gedanken mit Bezug auf unsere Fragestellung weiter, die schiere Unzahl an Männlichkeitsentwürfen in La Regenta nicht allein und quasi automatisch auf eine krisenhafte Befindlichkeit – und damit auf ein Manko – hindeuten, sondern ganz im Gegenteil für die Produktion literarischer Vielfalt stehen, für eine Lust an der Groteske? Indiziert jene ungebändigt wuchernde Überfülle zunächst ein verlorenes Zentrum, an dem ‚eigentlich‘ eine hegemoniale Männlichkeit ihren angestammten Platz zu finden hätte, so tritt an die Stelle dieses leeren Zentrums mit der Aufführung von José Zorillas Don Juan Tenorio in der Mitte des Romans ein geborgtes Drama, das Don Álvaro Mesía zum „poderoso rival“ (R, II, 104) gerät, zum „mächtigen Rivalen“ (P, 435)29 nicht nur um die Aufmerksamkeit Anas. Vielmehr rivalisiert er mit der
27 Wolfgang Matzat: „Natur und Gesellschaft bei Clarín und Galdós. Zum diskursgeschichtlichen Ort des spanischen Realismus/Naturalismus“, in: ders. (Hrsg.): Peripherie und Dialogizität, S. 13-44, hier S. 23. 28 Ebd., S. 43. 29 Und dies wohlgemerkt, obwohl Mesías eigener Aussage zufolge „der ‚Don Juan‘ Zorillas höchstens noch Stoff für Parodien abgab!“ (P, 438) – „¡Si el Don Juan de Zorilla ya sólo servía para hacer parodías…!“ (R, II, 108).
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Übermacht einer ganzen Diskurstradition, die ein einziges Modell von Männlichkeit absolut setzte und kann dabei – aus der Perspektive des gefallenen Don Juan betrachtet – nur verlieren. Folgerichtig versagt ihm, dem Verführer mit Worten, der sich die Devise „¡Yo y la ocasión!“ (R, I, 462)30 zu eigen gemacht hat, vor Angst die Sprache31 und es erfasst ihn ein jäher Fluchtinstinkt, sobald die lang erwartete Gelegenheit sich einstellt und er sich des Nachts unter Anas Balkon wiederfindet. Indes vermag allererst das Scheitern des modernen Don Juan an seiner amourösen Mission einen Einblick in die rigide Normativität zu eröffnen, in die er sich mit seiner Labilität und Fragilität nicht länger einpassen lässt. „Die Geschichte der Männlichkeit ist“, gemäß Walter Erhart und Britta Herrmann, „mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem keineswegs mehr so klar sein dürfte, was unter einem ‚Mann‘ eigentlich zu verstehen sei. Vielleicht war es das auch nie.“32 Anstatt ob dieses Befunds in Bedauern zu verfallen und dem mythischen Eldorado des machismo nachzutrauern, als das Spanien einst galt, sollten wir die neue alte Instabilität als produktive Situation begrüßen. Denn im Unterschied zu den Frauen, die man(n) im Gefolge der Aufklärung wieder und wieder zu definieren – und somit in ihren Möglichkeiten zu begrenzen – wusste, befinden sich die Männer, die um 1900 beginnen, ihres bis dahin fraglos gegebenen Status’ als „Ex-Norm-Subjekt“33 verlustig zu gehen, in einer immer noch vergleichsweise komfortablen Lage. Dass ‚der Mann‘ überhaupt zum Thema – und gelegentlich sogar zum Problem – wird, lässt alsbald Unkenrufe erschallen, wo Krisenszenarien verfehlt erscheinen, denn tatsächlich erweist sich die ‚Krise‘ als
30 „Ich und die Gelegenheit! war eine seiner Devisen“ (P, 242). 31 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Don Giovanni schon rund ein Jahrhundert früher bei Da Ponte nicht mehr vollumfänglich diskursmächtig ist, da er nur einen – nicht mehr zeitgemäßen – amourösen Code beherrscht: den der Liebe als Verführung (vgl. Hans Felten: „Don Giovanni impotente? A proposito dei discorsi amorosi nel Don Giovanni di Lorenzo Da Ponte [2006]“, erscheint in: ders.: Im Garten der Texte, Frankfurt/M. 2014 [im Druck]). Die Musik Mozarts steuert dieser Tendenz des Librettos jedoch entgegen, indem sie den Titelhelden noch ein letztes Mal als den rasenden Libertin feiert (vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: Don Giovanni oder die Wandlungen eines Libertin [1992], in: ders.: Das Aufsatzwerk, http://gams.uni-graz.at/o:usb-066171, S. 1-17, hier S. 17f. [Zugriff am 13.01.2014]). 32 Walter Erhart/Britta Hermann: „Der erforschte Mann?“, in: dies. (Hrsg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart/Weimar 1997, S. 3-31, hier S. 15. 33 Kappert: Der Mann in der Krise, S. 218.
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hausgemacht: Dem Paradox einer Hegemonie des Männlichen, dem das Privileg und die Bürde aufgegeben sind, sowohl ein geschlechtsloses Universelles zu verkörpern wie auch den vergeschlechtlichten Leib, ist sie als „Schieflage“ und „Sollbruchstelle“34 bereits eingeschrieben. Da die Erfüllung dieses Anspruchs kaum je gelingen kann und damit „die ‚Krise‘ regelrecht zum Konzept der Maskulinität […] gehört“, sie also „gewissermaßen ihr Funktionsprinzip“ ist,35 erübrigen sich periodisch wiederkehrende Debatten um den krisengeschüttelten Mann – repräsentiert er doch gleichsam den Normalzustand einer für beide Geschlechter restriktiven Subjekt- und Diskursordnung, deren allmähliche Verabschiedung wenig Anlass zur Trauer bietet. Eine Krise, so lautet daher mein Fazit, findet nicht statt – es sei denn, man redete sie herbei.
34 Ebd., S. 221. Vgl. auch Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 79. 35 Stefan L. Brandt: „Sex, Lügen und Video-Clips. Szenarien krisenhafter Männlichkeit in der zeitgenössischen Populärkultur“, in: Fenske/Hülk/Schuhen (Hrsg.): Die Krise als Erzählung, S. 189-204, hier S. 193.
Kriegswahn, Hysterie, Panerotismus Prekäre Männlichkeit in Benito Pérez Galdósʼ Roman Aita Tettauen (1905) C HRISTIAN VON T SCHILSCHKE
1.
K RISEN
DER M ÄNNLICHKEIT IN UND BEI G ALDÓS
S PANIEN –
Unter ‚Krisen der Männlichkeit‘ lässt sich – immer in Abhängigkeit davon, wer sie wahrnimmt oder ihre Existenz behauptet – die umfassende Erschütterung und Infragestellung der jeweils zu einer bestimmten Zeit und innerhalb eines bestimmten Kulturraums dominanten, ‚hegemonialen‘ Männlichkeitsvorstellungen verstehen. So verortet beispielsweise die französische Philosophin Elisabeth Badinter die entscheidenden historischen Krisen der Männlichkeit im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich und England und dann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zwischen 1871 und 1914, in Europa und den USA – abgesehen von der Gegenwart seit den 1970er Jahren.1 In Bezug auf die spanische Geschichte, die in historischen Darstellungen der Geschlechterverhältnisse der ‚westlichen
1
Vgl. das Kapitel „Les précédentes crises de la masculinité“ in: Élisabeth Badinter: XY. De l’identité masculine, Paris 1992, S. 24-41. Uta Fenske erinnert in diesem Zusammenhang an den wertenden Charakter des Begriffs ‚Krise‘ und gibt zu bedenken, dass ‚Krisen der Männlichkeit‘ erst dann prägnante und ergiebige Untersuchungsgegenstände abgeben, wenn sie nicht als historische Tatsachen, sondern als Thema entsprechender Rhetoriken und Diskurse aufgefasst werden. Uta Fenske: Mannsbilder. Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946-1960, Bielefeld 2008, S. 13f.
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Welt‘ bisher meistens ausgeblendet bleibt, lassen sich seit der Neuzeit ebenfalls drei trotz spezifischer nationaler Abweichungen durchaus analoge Krisenphasen der Männlichkeit identifizieren.2 Die erste Krise tritt um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein, als Frauen in Spanien verstärkt Zugang zu Öffentlichkeit und Bildung erlangen und Männer gleichzeitig neue Verhaltensweisen jenseits des herkömmlichen Männlichkeitsideals erproben, indem sie zum Beispiel gesteigerten Wert auf ein modisches Äußeres legen und das Zeigen von Gefühlen salonfähig wird. Parallel dazu verläuft in unterschiedlichen aufklärerischen Medien und Institutionen eine Debatte über die intellektuelle Gleichheit der Geschlechter und die daraus zu ziehenden praktischen Konsequenzen.3 Die zweite Krise umfasst die ‚Männlichkeiten um 1900‘, die im Mittelpunkt der Aufsätze des vorliegenden Bandes und der nachfolgenden Ausführungen stehen. Als sinnvolle Begrenzung für diese Krise lässt sich in Bezug auf Spanien der Zeitraum der bürgerlichen Revolution von 1868 bis zum Beginn des Bürgerkriegs und dem Ende der friedlichen Jahre der Zweiten Republik 1936 ansetzen.4 Getragen von der liberalen philosophischen Bewegung des Krausismo entwickelt sich ab 1870 eine anhaltende öffentliche Debatte über die Erziehung und Bildung der Frau sowie ihre ökonomische, rechtliche und soziale Stellung in der Gesellschaft. In diese Zeit fällt auch die Entstehung einer feministischen Bewegung, zu deren Wortführerinnen ab 1890 die mit Galdós eng befreundete Schrift-
2
Einen konzisen vergleichenden Überblick, der auch die Entwicklung in Spanien einschließt, liefert bislang nur Gregor Schuhen: „Männlichkeiten in der Literatur der Romania (Frankreich, Spanien, Italien)“, in: Stefan Horlacher (Hrsg.): Männlichkeitsforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014 (in Druckvorbereitung).
3
Vgl. dazu u.a. Kristina Heße: Männlichkeiten im Spanien der Aufklärung. Der Diskurs der Moralischen Wochenschriften „El Pensador“, „La Pensadora gaditana“ und „El Censor“, Berlin 2008 und Christian von Tschilschke: „Quer zu Queer. Transgressionen der Geschlechter im spanischen Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Uta Fenske/Gregor Schuhen (Hrsg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen 2012, S. 181-198.
4
Vgl. auf das weibliche Geschlecht zentriert Karl-Wilhelm Kreis: „Zur Entwicklung der Situation der Frau in Spanien vom Beginn der ‚liberalen Ära‘ der bürgerlichen Gesellschaft an bis hin zur zweiten Republik“, in: Jochen Heymann/Montserrat Mullor-Heymann (Hrsg.): Frauenbilder. Männerwelten. Weibliche Diskurse und Diskurse der Weiblichkeit in der spanischen Literatur und Kunst 1833-1936, Berlin 1999, S. 45-79.
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stellerin Emilia Pardo Bazán (1851-1921) gehört.5 Wie im übrigen Europa erfolgt in Spanien die ‚Bedrohung der Männlichkeit‘ jedoch nicht allein seitens der sich anbahnenden weiblichen Emanzipation, sondern ebenso durch eine Reihe tief greifender sozialer und politischer Krisen, die zu einer notorischen Schwächung der staatlichen Ordnung und des nationalen Selbstverständnisses führen und 1898 in der militärischen Niederlage gegen die USA gipfeln, mit der Spanien endgültig seinen imperialen Status als Weltmacht verliert.6 Als dritte Krisenphase ist schließlich die Dekade nach dem Ende der FrancoDiktatur ab 1975 zu nennen, in denen sich die Geschlechterverhältnisse in Spanien in nachholender Eile an die des übrigen Europas anpassen. Gleichzeitig werden die unterschiedlichsten Formen von Sexual- und Geschlechtsverhalten, das von der heterosexuellen Norm abweicht, erstmals mit zum Teil nicht nur für Spanien spektakulärer Offenheit thematisiert.7 In der zweiten Krisenphase, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, gibt es in Spanien wahrscheinlich keinen anderen männlichen Schriftsteller, der sich so umfassend und intensiv mit der gesellschaftlichen Situation der Frau, ihrem Bewusstsein und ihren Befindlichkeiten, gerade auch in Gestalt psychischer und psychosomatischer Krisen auseinander gesetzt hat wie der an Quantität, aber auch Qualität seines Werks alle anderen Autoren seiner Zeit überragende Benito Pérez Galdós (1843-1920). Insbesondere mit seinem Roman Tristana (1892) scheint Galdós im Hinblick auf die
5
Vgl. zum Einfluss des Krausismo und Krausopositivismo auf das Werk von Benito Pérez Galdós und Emilia Pardo Bazán Sabine Schmitz: Spanischer Naturalismus. Entwurf eines Epochenprofils im Kontext des „Krausopositivismo“, Tübingen 2000. Ausführlich dokumentiert ist die Frauendebatte in der Anthologie Catherine Jagoe/Alda Blanco/Cristina Enríquez de Salamanca (Hrsg.): La mujer en los discursos de género. Textos y contextos en el siglo XIX, Barcelona 1998.
6
Mit der Situation in Westeuropa und den USA um die Jahrhundertwende beschäftigen sich unter dem Gesichtspunkt einer fundamentalen ‚Krise der Männlichkeit‘ detailliert Annelise Maugue: L’identité masculine en crise au tournant du siècle 1871-1914, Paris 1987; Elaine Showalter: Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, London 1991, S. 1-18; Rita Felski: The Gender of Modernity, Cambridge, MA 1995 und George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, aus dem Amerikanischen von Tatjana Kruse, Frankfurt/M. 1997, S. 107-142.
7
Vgl. zu den Auswirkungen auf die Literatur Janett Reinstädler: Stellungsspiele. Geschlechterkonzeptionen in der zeitgenössischen erotischen Prosa Spaniens (19781995), Berlin 1996.
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radikalen emanzipatorischen Bestrebungen seiner Titelfigur, so Janett Reinstädler, „die fortschrittlichste Position in der Geschlechterdiskussion der realistischen Literatur einzunehmen“.8 Birgit Wolter kommt nach sorgfältiger Analyse der Empathiestrukturen in ausgewählten Romanen von Galdós gar zu dem Ergebnis, dass dieser durchaus zu Recht als „ein novelista de mujeres, ein Vorkämpfer in Frauenfragen, gleichsam ein Feminist“9 einzuschätzen sei. Weitgehende Einstimmigkeit herrscht andererseits aber auch darin, dass sich Galdós als männlicher Autor letztlich innerhalb der diskursiven Grenzen seiner Zeit bewegt, und, wie etwa Lou Charnon-Deutsch zu bedenken gibt, einer androzentrischen Perspektive verhaftet bleibt, in der die Darstellung von Weiblichkeit primär der Bearbeitung männlicher Identitätsprobleme dient.10 Angesichts der nicht mehr überschaubaren Literatur, die zur Gender-, Frauen- und Weiblichkeitsthematik bei Galdós mittlerweile vorliegt, ist es aber doch bemerkenswert, dass die entsprechenden Männlichkeitskonzepte, die freilich mehr oder weniger implizit bleiben, bisher nur sporadisch gewürdigt wurden. Wenn man sich primär darauf konzentriert, ‚Frauenbilder‘ gegen den Hintergrund von ‚Männerwelten‘ abzuheben, dann wächst jedoch – das Dilemma ist bekannt – die Wahrscheinlichkeit, das patriarchalische Apriori zu reproduzieren, das eigentlich demaskiert werden sollte.11 Damit wird natürlich nicht in Abrede gestellt, dass zum Beispiel die auffallende physische und seelische Schwäche vieler männlicher Charaktere oder das häufige Phänomen der Vaterlosigkeit der Hauptfiguren bei Galdós nicht bereits vielfach beim Namen genannt wurden. So spricht beispielsweise Jo Labanyi von der in Galdos’ Romanen allgemein zu beobachtenden „over-civilized menfolk’s ‚emasculation‘“12 und stellt fest: „It is Galdós’ female characters who mostly speak and act; his male characters are curiously given the traditional female attributes of physical debility, illness, and
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Janett Reinstädler: „‚¡Qué vida tan estúpida!‘ Ideale, frustrierte Frauen und der ‚realistische‘ Roman der Restauration“, in: Heymann/Mullor-Heymann (Hrsg.): Frauenbilder. Männerwelten, S. 203-226, S. 221.
9
Birgit Wolter: Geschlechterspezifik – Sprache – Literarische Konstruktion. Empathiestrukturen bei Emilia Pardo Bazán und Benito Pérez Galdós, Berlin 1997, S. 61, vgl. auch S. 69.
10 Lou Charnon-Deutsch: Gender and Representation. Women in Spanish Realist Fiction, Amsterdam/Philadelphia 1990, insbesondere S. 1-20. 11 Vgl. den Titel von Heymann/Mullor-Heymann (Hrsg.), Frauenbilder. Männerwelten, ohne diesem verdienstvollen Band damit zugleich die erwähnte Wirkung unterstellen zu wollen. 12 Jo Labanyi: „Introduction“, in: dies. (Hrsg.): Galdós, London 1993, S. 1-20, S. 12f.
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even (in the case of Maxi in Fortunata and Jacinta) hysteria.“13 Darüber hinaus sind diese Phänomene längst auch, zum Beispiel von Alda Blanco, nicht allein als Symptome einer spezifisch spanischen Konstellation, sondern der für das europäische Fin de siècle und die Epoche der Dekadenz insgesamt typischen „crisis de la masculinidad“14 gedeutet worden – wenn auch bisher nur knapp und unter Heranziehung einiger weniger Bespiele.15 Wenn also im Folgenden das Phänomen der ‚prekären Männlichkeit‘ bei Galdós ins Zentrum des Interesses gerückt wird, geschieht das in der Überzeugung, dass es nicht nur sinnvoll und wichtig, sondern auch überfällig ist, eine derartige Perspektive zu vertiefen.16 Dass dafür die Wahl auf den eher selten be-
13 Ebd., S. 13. Siehe auch Charnon-Deutsch: Gender and Representation, S. 148: „While most male characters are seen as too weak to take control of their lives and their wives, many female characters are too forceful, undisciplined, and unyielding to their husbands.“ Mit dem Aspekt der Vaterlosigkeit beschäftigte sich, allerdings aus einer dezidiert sozialgeschichtlichen Perspektive, früh schon Walter Bruno Berg: „Aspekte ‚vaterloser‘ Gesellschaft in den Novelas contemporáneas von Benito Pérez Galdós“, in: Iberoamericana 1 (1978), S. 21-40. Einen breiteren Fokus eröffnet Akiko Tsuchiya: Marginal Subjects. Gender and Deviance in Fin-de-Siècle Spain, Toronto/ Buffalo/London 2011, S. 13: „Moreover, manifestations of gender deviance in the fiction of the period are hardly limited to female characters. Emasculated or feminized men who challenge normative masculinity are also abundant and include examples such as Galdósʼ Nazarín, Maxi Rubín (Fortunata y Jacinta), Máximo Manso (El amigo Manso), Francisco de Bringas (La de Bringas), and José María Bueno de Guzmán (Lo prohíbido); Clarín’s Bonifacio Reyes (Su único hijo), and the acolyte Celedonio (La Regenta); Pardo Bazán’s Julián Álvarez (Los Pazos de Ulloa), Mauro Pareja (Memorias de un solterón), and Silvio Lago (La quimera); Father Gil in Placio Valdés (La fe) – the list goes on.“ 14 Alda Blanco: „Estudio preliminar“, in: Benito Pérez Galdós: Lo prohibido, Madrid 2006, S. 5-34, S. 32. 15 So widmet sich dem feminisierten Mann als Ausdruck der Krise der Männlichkeit im spanischen Fin de siècle etwa das Kapitel „Gender Trouble and the Crisis of Masculinity in the fin de siglo: Clarin’s Su único hijo and Pardo Bazan’s Memorias de un solterón“, in: Tsuchiya: Marginal Subjects, S. 112-135. 16 Das Paradigma der Men’s Studies in die Hispanistik eingeführt zu haben, beansprucht Paul Julian Smith: The Body Hispanic. Gender Sexuality in Spanish and Spanish American Literature, Oxford 1989, S. 5: „This book is offered as the first contribution to men’s studies in Hispanism.“ Seine an Lacan orientierte Lektüre von Galdósʼ Roman La de Bringas (1884) beschränkt sich jedoch auf die Analyse der ‚männlichen‘
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handelten Roman Aita Tettauen fällt, der 1901 konzipiert, zwischen 1904 und 1905 verfasst und 1905 veröffentlicht wurde, hat verschiedene Gründe. Zunächst ist hervorzuheben, dass Aita Tettauen nicht – wie etwa Doña perfecta (1876), Fortunata y Jacinta (1886/87) oder Tristana (1892) – zu den sogenannten Novelas contemporáneas gehört, also der Serie von Romanen, mit der sich Galdós der Erforschung der unmittelbaren zeithistorischen Gegenwart verschrieb und auf die sich auch die Genderforschung bisher hauptsächlich konzentrierte. Aita Tettauen ist vielmehr Teil der weniger bekannten und hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse bislang nicht hinreichend gewürdigten Episodios nacionales, des 46 Bände umfassenden Zyklus’ von historischen Romanen, in denen Galdós sukzessive die spanische Geschichte der Jahre 1805-1882 und damit die „Vorgeschichte der Gegenwart“17 aufarbeitete. Das historische Ereignis, das Galdós in Aita Tettauen aufgreift, ist der Spanisch-Marokkanische Krieg von 1859/60, in dem Spanien eine Provokation der Rif-Kabylen zum Vorwand nahm, um einen Teil Nordmarokkos zu besetzen. Der befremdliche Titel des Romans bedeutet daher auch nichts anderes als „Krieg in Tetuan“ auf Arabisch.18 Das Besondere ist, dass dieses historische Ereignis ganz im Licht der Gegenwart des Abfassungszeitpunkts, das heißt der Jahrhundertwende, des nationalen Traumas von 1898 und des Regeneracionismo, der Bewegung der Befürworter umfassender gesellschaftlicher Reformen dargestellt wird, zu denen auch der liberale Intellektuelle Galdós selbst gehörte. Mit anderen Worten: Galdós funktionalisiert die historischen Vorgänge für die kulturkritische Durchleuchtung einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart. Bei diesem Vorhaben spielen Genderkategorien und, wie näher gezeigt werden soll, vor allem der Aspekt der prekären Männlichkeit eine entscheidende Rolle.
Positionierung der weiblichen Hauptfigur Rosalía innerhalb der ‚phallischen Ordnung‘ (vgl. S. 69-104). Mittlerweile beginnt sich indessen eine Sichtweise durchzusetzen, die sich stärker auf die Männlichkeitskonstruktionen in der Literatur selbst konzentriert. 17 Hans-Jörg Neuschäfer: „Das 19. Jahrhundert“, in: ders. (Hrsg.): Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 32006, S. 231-314, S. 278. 18 Siehe zu den historischen Umständen ausführlicher Christian von Tschilschke: „Konvergenzen zwischen literarischen und bildlichen Darstellungen des Ersten SpanischMarokkanischen Kriegs (1859-1860): Alarcón, Fortuny und Galdós“, in: Anne Geisler-Szmulewicz u.a. (Hrsg.): Die Kunst des Dialogs – LʼArt du dialogue. Sprache, Literatur, Kunst im 19. Jahrhundert – Langue, littérature, art au XIXe siècle. Festschrift für Wolfgang Drost zum 80. Geburtstag – Mélanges offerts à Wolfgang Drost à lʼoccasion de son 80e anniversaire, Heidelberg 2010, S. 227-247.
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Es liegt auf der Hand, dass die Wahl des Settings, also die Kombination von Krieg und Kolonialismus, nicht nur der Genderthematik insgesamt eine interessante Facette hinzufügt, sondern gerade auch der Profilierung von Männlichkeit als Medium einer geschlechterorientierten Kulturkritik besonders förderlich ist. Die These, die für die weiteren Ausführungen maßgeblich ist, lautet daher, dass ‚prekäre Männlichkeit(en)‘ in Galdósʼ spezifischer Sicht auf die nationale Krisensituation, in der sich Spanien zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befindet, anders funktioniert, das heißt eine andere Wertung erfährt als in den Dekadenzdiskursen des Fin de Siècle, denen noch die jüngeren Autoren der 98er Generation weitgehend verhaftet bleiben, – und möglicherweise auch im Vergleich zu den Regenerationsdiskursen in den anderen europäischen Ländern. Als prekär lässt Galdós Männlichkeit in Aita Tettauen nämlich durchaus zu Recht erscheinen, und zwar in einem doppelten Sinn: weil in seinen Augen bestimmte Formen spanischer Männlichkeit für die Krise Spaniens mit verantwortlich sind und weil ein Ausweg aus der Krise für ihn nur durch die Überwindung traditioneller Männlichkeitsvorstellungen zu finden ist, die eine stärkere Integration und damit eine Aufwertung weiblicher Eigenschaften einschließt.19 Dabei ist im Auge zu behalten, dass es Galdós nicht darauf ankommt, die Krise so schnell wie möglich zu überwinden, also ein Heilsversprechen durch ein anderes zu ersetzen. Die Krise müsse vielmehr erst einmal zugelassen und ausgehalten werden. Diese These wird in drei Schritten entfaltet. Dabei werden allerdings nicht, wie es vielleicht naheliegt, die Männerrollen, die im Text vorkommen – Familienvater und Junggeselle, Soldat und Priester, Frauenheld und Kriegsheld, Dandy und Schriftsteller usw. – den Ausgangspunkt bilden. Um den Text noch stärker, als das bei einer motivgeschichtlichen Vorgehensweise möglich wäre, in den historischen Kontext der spanischen Jahrhundertwende zu stellen, wird er vielmehr als Schnittpunkt derjenigen zeitgenössischen politischen, medizinischen und philosophischen Diskurse betrachtet, die mit der Grundintention einer literarischen Krisenbewältigung für die Darstellung und Bewertung prekärer Männlichkeit in Dienst genommen werden. Die im Titel genannten Stichworte stehen jeweils für
19 Für den französischen Regenerationsdiskurs der III. Republik (1871-1940) postuliert beispielsweise Stephan Leopold im Gegensatz zu dem im Zeichen der Weiblichkeit stehenden Dekadenzdiskurs eine starke „Verschränkung von Männlichkeit und Heil“. Stephan Leopold: „Einleitung: Die III. Republik zwischen Kataklysmus und Heilserwartung“, in: ders./Dietrich Scholler (Hrsg.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy, München 2010, S. 9-20, S. 17.
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einen dieser Diskurstypen; sie bilden zugleich die zentralen Orientierungspunkte für die folgende Werkanalyse: Kriegswahn, Hysterie, Panerotismus.
2.
E RSCHEINUNGSFORMEN IN A ITA T ETTAUEN
2.1
Kriegswahn
PREKÄRER
M ÄNNLICHKEIT
Galdósʼ Roman Aita Tettauen beginnt mit der historisch exakten Beschreibung der überbordenden Kriegsbegeisterung, von der die Madrider Bevölkerung nach der Verkündung der Kriegserklärung an Marokko durch den spanischen Regierungschef und militärischen Oberbefehlshaber Leopoldo O’Donnell am 22. Oktober 1859 erfasst wird. Dass diese Kriegsbegeisterung als Ausdruck eines fragwürdigen und historisch überholten Männlichkeitsideals zu verstehen ist, macht Galdós gleich am Anfang exemplarisch deutlich. Als bei weitem fanatischste Patrioten werden ausgerechnet drei männliche Vertreter unterschiedlicher Generationen vorgestellt, die dem traditionellen ‚Musterbild‘ des Soldaten selbst am allerwenigsten entsprechen. Da ist zum einen das gehbehinderte und dickleibige, zugleich sensible und phantasievolle Kind Vicentito Halconero, dessen größte Freude es ist, den vorbeimarschierenden Soldaten vom Balkon aus zuzusehen und Diapositive mit Schlachtszenen aus dem französisch-algerischen Krieg zu betrachten. Zum anderen ist sein Vater zu nennen, der schon ältere, ebenfalls übergewichtige und kranke Vicente Halconero, der vor freudiger Erregung über die Mobilisierung der spanischen Truppen genau in dem Moment einen Schlaganfall mit tödlichen Folgen erleidet, als ihn auf dem Flur eine fröhliche Kinderschar verfolgt, die sich als Mauren verkleidet und die Gesichter mit Kohle geschwärzt hat. Der Ausdruck, mit dem der Erzähler den Gemütszustand von Vater und Sohn charakterisiert, ist derselbe: „delirio“;20 er kann beides bedeuten: ‚Begeisterung‘ und ‚Wahn‘. Im Fall des Vaters ist die Bedeutung ‚Wahn‘ schon insofern zutreffend, als dieser bis dahin auf gänzlich unkriegerische Weise, nämlich als Landwirt, und damit, wie der Erzähler unmissverständlich zu erkennen gibt, auch auf wesentlich nützlichere Art zum Wohl Spaniens beigetragen hat.21
20 Benito Pérez Galdós: Aita Tettauen, hrsg. von Francisco Márquez Villanueva, Madrid 2004, S. 100 und 142. Im Folgenden zitiert mit der Chiffre AT und der Seitenzahl. 21 Vgl. die zwar leicht ironische, aber durchaus ernst zu nehmende Lobrede des Erzählers auf den Toten: „Las tres serían cuando entregó a Dios su alma el bueno, el honrado, el sencillo labrador don Vicente Halconero, que jamás hizo mal a nadie, y a mu-
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Die dritte Figur ist der 25-jährige Juan Santiuste, der seinerseits als ein wenig „loco“ (AT, 115 passim) gilt, ein etwas orientierungsloser, künstlerisch begabter Freund der Familie, der als Journalist arbeitet und den Feldzug als Beobachter begleiten wird. Santiuste bemüht in flammenden Reden das gesamte Repertoire der imperialistischen Propaganda-Mythen Spaniens: die Ehre der Nation, die mit Blut reingewaschen werden müsse, die Wiederauferstehung des Cid, den Wagemut der Konquistadoren, die notwendige Ausdehnung Spaniens bis zum Atlasgebirge usw. (AT, 119-123). Wie man sieht, desavouiert Galdós anhand dieser drei männlichen Figuren auf verschiedenen Altersstufen ganz gezielt die Begeisterung für Soldatentum, Krieg und die Eroberung fremder Länder als Ausdruck kindlicher Unreife, als Kompensation eigener Schwäche und als wirklichkeitsfremde, theatralische Pose. Dass damit genuin männliche Haltungen am Pranger stehen, unterstreicht Galdós dadurch, dass er mit Lucila Ansúrez gleichzeitig eine weibliche Figur einführt, die als Mutter Vicentitos, Ehefrau Halconeros und heimlich von Santiuste Verehrte zu allen drei männlichen Figuren in einer Beziehung steht und dabei als perfekte Hüterin von Haus und Kindern vollkommen desinteressiert an Krieg und Militär dargestellt wird. So äußert sie gegenüber ihrem Sohn unter anderem: „Si no fueran tu delirio los soldados, yo ni los miraría siquiera“ (AT, 112) und „las guerras de hoy, como las de tiempos pasados, me importan un bledo“ (AT, 127).22 Wie sehr sich die herkömmliche patriarchalische Ordnung insgesamt in der Krise befindet, signalisiert das in seiner allgemeinen Bedeutung für Galdós bereits hervorgehobene Motiv der Vaterlosigkeit.23 Von den Vätern und dem, was sie verkörpern, ist im zeitgenössischen, krisenbehafteten Spanien keine Orientie-
chos bien sin tasa; varón de grande utilidad en la República, o por mejor decir, en el Reino, porque no devoraba porción ninguna del Tesoro Nacional, sino que creaba, con su labor de la tierra, nueva riqueza cada año. […] Su trabajo agrícola era un beneficio para España, y otro su inocencia, virtud preciada contra la invasión de maliciosos. Fecundaba la tierra, fecundaba el ambiente“ (AT, 144). 22 Allerdings lässt Galdós mit der für seine Figurenkonzeption charakteristischen Ambiguität immer wieder anklingen, dass Lucila Ansúrez als ehemalige Geliebte eines Offiziers dem Glanz des Militärs durchaus nicht immer so gleichgültig gegenübergestanden ist. Vgl. AT, 112, 114 und 129. 23 Dieses Motiv teilt Galdós unter anderem mit Dostojewskij, denn auch dieser „veranschaulicht die Krise der russischen Gesellschaftsentwicklung als Vaterlosigkeit“ (Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller. Vom „Toten Haus“ bis zu den „Brüdern Karamasow“, Frankfurt/M. 2013, S. 46).
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rung mehr zu erwarten. Nicht von ungefähr stirbt mit Vicente Halconero gleich zu Beginn des Romans ein Familienpatriarch. Sein Sohn Vicentito wird nun mit der ‚Abwesenheit des Vaters‘ und ohne dessen ‚Autorität‘ und ‚Schutz‘ leben müssen: „sintió el vacío de padre, la repentina ausencia de una suprema autoridad y custodia“ (AT, 145). Dadurch, dass Galdós die Worte „vacío de padre“ durch Kursivschreibung eigens hervorhebt, verleiht er ihnen gleichsam die Aura einer wissenschaftlich etablierten Diagnose. Die Tatsache, dass mit Juan Santiuste noch eine zweite männliche Figur Waise, und sogar Vollwaise, ist, gewinnt vor diesem Hintergrund zusätzliches symbolisches Gewicht und unterstreicht das Moment des von Galdós in die Geschichte zurückprojizierten Generations- und Traditionsbruchs, die historisch notwendige Delegitimation der Vergangenheit.24 Im weiteren Verlauf der Romanhandlung – der schrittweisen Eroberung der marokkanischen Stadt Tetuan durch die spanischen Truppen – bestätigt sich dann der Eindruck, dass Galdós den historischen Kriegs- und Eroberungsvorgang mit einer bestimmten Konzeption von Männlichkeit identifiziert bzw. umgekehrt eine bestimmte Konzeption von Männlichkeit als besonders kriegs-, eroberungs- und, wie im vorliegenden Fall, nicht zuletzt kolonialismusaffin erachtet. Diese Konzeption von Männlichkeit wird als traditionell spanisch markiert und, wie sich bereits gezeigt hat, von Anfang an in Zweifel gezogen, mittels Spott und Ironie unterlaufen und demnach als ‚prekär‘, das heißt als Spanien im Grunde unangemessen und abträglich, dargestellt. Die Übereinstimmung des politischen Verhaltens der Spanier als Kriegs- und Kolonialmacht mit einer bestimmten männlich konnotierten Mentalität verdeutlicht Galdós auf zwei Wegen. Zum einen wird die Eroberung und Inbesitznahme der fremden Stadt Tetuan allegorisch als Entjungferung der Braut in der Hochzeitsnacht beschrieben: „La Blanca Paloma, la virginal doncella Ojos de Manantiales quedó pronto a merced de su conquistador…“ (AT, 351). Galdós zitiert damit nicht nur einen Topos der Kriegs- und Reiseliteratur im Allgemeinen und der spanischen Marokkokriegsliteratur im Besonderen, sondern vor allem auch eine bekannte spanische Tradition, die bis auf die Romanzendichtung des Mittelalters zurückgeht.25 Zum zweiten stellt Galdós der militärischen Haupt- und
24 Vgl. zu diesem Motiv allgemein Dieter Thomä (Hrsg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Berlin 2010. 25 Vgl. zum Topos der männlichen Penetration des feminisierten fremden Raums im Kontext der kolonialen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts Michael C. Frank: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2006, S. 154f. Der für Galdósʼ Roman wichtigste Bezugstext ist das Kriegstagebuch Pedro Antonio de Alarcóns von 1860. Vgl. Pedro Antonio de Alar-
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Staatsaktion einen gewissermaßen privaten Handlungsstrang zur Seite. Darin wird erzählt, wie Santiuste die Liebe der schönen in Tetuan lebenden Jüdin Yohar Riomesta gewinnt. Beide Handlungsstränge werden zusätzlich über das Attribut ‚weiß‘ miteinander verknüpft, mit dem sowohl die Stadt Tetuan – „la blanca paloma“ (AT, 299) – als auch Santiustes auffallend hellhäutige jüdische Freundin – „la blanca Yohar“ (AT, 276) – charakterisiert wird. Die Parallelisierung dieser beiden Handlungsstränge lässt zwei Deutungen zu. Sie kann kontradiktorisch gedeutet werden im Sinne einer pazifistischen make love not war-Ideologie: Krieg und Liebe als sich ausschließende Formen der Fremdbegegnung. Sie kann aber auch komplementär verstanden werden im Hinblick auf das beiden Handlungssträngen zugrunde liegende Eroberungsmuster. Santiuste macht zwar ‚Liebe statt Krieg‘, bleibt aber in seinem – wie noch zu sehen sein wird – unverbesserlichen Don Juanismus demselben männlichen spanischen Verhaltensdispositiv verhaftet wie diejenigen, die ‚Krieg statt Liebe‘ machen. So wie sich die literarische Konstruktion nach Galdósʼ Willen darbietet, manifestiert sich in ihr unübersehbar der politische Diskurs der spanischen Regenerationsbewegung, die nach 1898 eine radikal anti-kolonialistische Politik nationaler Selbstbesinnung betreibt.26 Diese politische Intention zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es ihr notwendig erscheint, den Blick auch auf die aller Politik vorausliegenden spanischen Mentalitäten zu richten. 2.2
Hysterie
Wie bereits angedeutet, erfährt die Figur Juan Santiustes, den der Leser zu Beginn des Romans als enthusiastischen Kriegstreiber kennengelernt hat, in der Folge eine tief greifende Wandlung und wird schrittweise zu einem mit durchaus sympathischen Zügen ausgestatteten Wegbereiter einer alternativen, entmilitarisierten und pazifizierten Männlichkeit stilisiert, die ihn mit traditionellen Männlichkeitsnormen in Konflikt bringt. Der Wandlungsprozess, der Juan Santiuste tatsächlich zu dem messianischen „apóstol de la paz“ (AT, 187) und mystischen „sacerdote revolucionario“ (AT, 188) werden lässt, den sein Freund Pedro An-
cón: Diario de un testigo de la guerra de África, hrsg. von María del Pilar Palomo, Sevilla 2005. Alarcón kommt in Aita Tettauen auch als Figur vor. 26 Siehe dazu eingehender Christian von Tschilschke: „Das koloniale Imaginäre in der Krise. Narrative Modellierungen des spanischen Afrikadiskurses bei Pedro Antonio de Alarcón und Benito Pérez Galdós“, in: Kurt Hahn/Matthias Hausmann/Christian Wehr (Hrsg.): ErzählMacht. Narrative Politiken des Imaginären, Würzburg 2013, S. 147162, S. 157f.
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tonio de Alarcón früh schon in ihm erkennt, ist von Galdós, der sich wie sein französischer Kollege Zola stark für die Medizin interessierte, als psychosomatische Krise angelegt.27 Die Beschreibung dieser Krise orientiert sich am medizinisch-psychiatrischen Diskurs der Zeit, an der zuerst von Jean-Martin Charcot und später von Sigmund Freud vorgenommenen Übertragung des ursprünglich allein Frauen zugeschriebenen Krankheitsbildes der Hysterie auf Männer. Die entsprechenden Schriften waren auch in Spanien gut bekannt.28 Eine zweibändige Übersetzung von Charcots Leçons sur les maladies du système nerveux wurde in Spanien 1882 veröffentlicht. Die Studien über Hysterie von Sigmund Freud und Josef Breuer wurden noch im Jahr ihres Erscheinens (1895) ins Spanische übersetzt und damit früher als in jedem anderen Land. Fälle weiblicher Hysterie sind im realistisch-naturalistischen Roman Spaniens weit verbreitet. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Protagonistin von Leopoldo Alasʼ La Regenta (1884/85), Ana de Ozores. Bei literarischen Männerfiguren ist die Hysterie bzw. die zu Beginn der 1880er Jahre aufkommende Neurasthenie zwar seltener, kommt aber auch vor, in den Romanen von Galdós beispielsweise in Gestalt der Figuren José María Bueno de Guzmán in Lo prohibido (1884/85) oder Maximiliano Rubín in Fortunata y Jacinta (1886/87).29 Santiustes Verwandlung beginnt damit, dass sich als erstes sein Körper den Erwartungen an einen Soldaten und Kriegshelden verweigert: Nach einer stürmischen Überquerung der Straße von Gibraltar erreicht er Ceuta physisch bereits erheblich geschwächt. Auch die ihm überlassene Uniform will bezeichnenderweise nicht recht passen. Obwohl er sich auf eine reine Beobachterrolle beschränkt und ihm die ‚Männlichkeitsprüfung‘ des Kampfes erspart bleibt, ist er doch von einer so sensiblen Konstitution, dass er den Anblick der Leichenberge und der Verletzten in den überfüllten Lazaretten nicht erträgt. Anstatt sich von
27 Siehe zu Galdósʼ medizinischem Interesse, vor allem auch an psychischen Erkrankungen, Labanyi (Hrsg.): Galdós, S. 13f. 28 Vgl. zum medizinisch-psychiatrischen Diskurs in Spanien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jo Labanyi: Gender and Modernization in the Spanish Realist Novel, Oxford 2000, S. 133f. und 203f. sowie Jagoe/Blanco/Enríquez de Salamanca: La mujer en los discursos de género, S. 339-348. 29 Vgl. Charnon-Deutsch: Gender and Representation, S. 177-181; Labanyi: Gender and Modernization, S. 202-204 und zur männlichen Hysterie und Neurasthenie außerhalb des spanischen Kontextes Elaine Showalter: The Female Malady. Women, Madness, and English Culture, 1830-1980, London 1985, S. 135f. und 167-194; Showalter: Sexual Anarchy, S. 105-107 und Mosse: Das Bild des Mannes, S. 113-117.
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der optimistischen Prophezeiung seines Freundes Alarcón anstecken zu lassen, dass aus ihm schon noch ein ordentlicher Soldat werden würde – „te harás una naturaleza militar y un temple guerrero“ (AT, 182) –, verfällt Santiuste in einen Zustand tiefer Traurigkeit, Erschöpfung, Antriebsschwäche, Appetitlosigkeit und anhaltenden Fiebers. An den mentalen Ursachen dieser einschlägigen ‚hysterischen‘ Symptome, die er auch sachkundig als „enervante debilidad“ (AT, 239), „delirio“ (AT, 241), „absoluta confusión“ (AT, 241), „inquietud mecánica“ (AT, 242) und „éxtasis ambulatorio“ (AT, 242) beschreibt, lässt der Erzähler keinen Zweifel. Kurz bevor Santiuste auf Veranlassung seines Freundes Alarcón und seines Auftraggebers Beramendi nach Spanien zurücktransportiert werden soll, verlässt er jedoch aus eigenem Antrieb das spanische Lager und begibt sich auf feindliches Gebiet. Um nicht an seinem Aussehen und seiner Sprache als Spanier erkannt zu werden, kleidet er sich mit einem zum Turban gebundenen Tuch als Maure und stellt sich stumm. Nach einer Phase des ziellosen Umherirrens, in der nur seine Beine die Richtung angeben, schläft er ein. Wieder erwacht, wird er von drei Marokkanern niedergeschlagen und verletzt, ohne erkennen zu können, ob es sich um Männer oder Frauen handelt – ein im Hinblick auf die Gesamtbedeutung der Episode durchaus symbolträchtiges Detail. Er kann fliehen und wird schließlich von einer Gruppe sephardischer Jüdinnen aufgegriffen, nach Tetuan in Sicherheit gebracht und dort gesund gepflegt. Seine Sprache hat er nun tatsächlich verloren, wofür der Erzähler die folgende medizinische Erklärung bereithält: „La idea de fingirse mudo había obrado en su organismo con demasiada intensidad…“ (AT, 331).30 Erst mit Hilfe magischer kabbalistischer Heilpraktiken kann Santiuste die für die hysterische Reaktion typische Mimikry überwinden und seine Sprechfähigkeit zurückgewinnen. Seinen Retterinnen stellt er sich dann als neue, verwandelte Persönlichkeit vor: „yo soy Juan el Pacificador“ (AT, 244).31
30 Der Herausgeber des Textes, Francisco Márquez Villanueva, bemerkt zu dieser Stelle in einer Fußnote: „Galdós muestra ahí su estar al día en materia de lo que entonces consideraban efectos patológicos de la ‚histeria‘, según la escuela de Jean Martin Charcot“ (AT, 244). 31 Mit der Figur des Priesters Nazarín aus Galdós’ gleichnamigem Roman von 1895 hat Juan Santiuste eine ganze Reihe von Eigenschaften gemeinsam. So besteht Nazaríns fundamentale Ambivalenz unter anderem darin, dass sich auf den ersten Blick nicht erkennen lässt, ob er Mann oder Frau, Spanier oder Araber ist. Vgl. das Porträt Nazaríns in Benito Pérez Galdós: Nazarín, hrsg. von Juan Varias, Madrid 2001, S. 100103.
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Der allegorische Gehalt dieser halluzinatorischen Krisenerzählung, die an Fabrice del Dongos Erlebnisse auf dem Schlachtfeld von Waterloo in Stendhals Roman La chartreuse de Parme (1839) erinnert, liegt auf der Hand: Im Niemandsland zwischen den Fronten und Kulturen, in einem Zwischenreich aus Traum und Wirklichkeit, in dem auch die Geschlechtergrenzen verschwimmen – „por un momento dudó Juan si eran hombres o mujeres las estantiguas que veía“ (AT, 242), legt Santiuste sein altes, kriegerisches, spanisches und männliches Ich ab. Er verliert die Kontrolle über Körper und Geist, entledigt sich seiner Kleider und seiner Sprache und gibt nur noch unartikulierte Laute von sich. Nach dieser Regression in die Regionen des ‚Vorsymbolischen‘ wird er als neuer Mensch im Zeichen des Weiblichen wiedergeboren.32 Bezeichnenderweise vollzieht sich diese Metamorphose im Schoß der jüdischen Kultur, die traditionell mit dem Stigma des Außenseitertums und der Verweiblichung behaftet ist. Als Musterbeispiel prekärer Männlichkeit kann Santiuste zweifellos insofern gelten, als er eine ganze Reihe traditionell als weiblich erachteter Eigenschaften in sich vereint, die durch die Umstände seiner Transformation im Milieu der sephardischen Juden von Tetuan noch einmal symbolisch verstärkt werden: Mitleid, Sanftmut, Friedfertigkeit, Anpassungsbereitschaft, Wandelbarkeit, mangelnde Zielstrebigkeit, Sensibilität, Gefühlsbetontheit, Unvernunft, Wirrheit – nicht von ungefähr erhält Santiuste von seinen spanischen Freunden den Spitznamen „Confusio“ (AT, 417) –, Nervenschwäche und eine leicht erregbare Phantasie.33 All diese Merkmale einer Feminisierung der Maskulinität werden nun nicht etwa, wie es einer weit verbreiteten Einschätzung um die Jahrhundertwende entsprach, als Symptome einer degenerierten, kranken Gesellschaft gewertet, im Gegenteil: Sie werden, und das ist besonders zu betonen, als mögliche Grundlage für die dringend erforderliche Regeneration der spanischen Gesellschaft, als Absage an ein illusionäres martialisches Selbstbild und als heilsame Verabschiedung von vermeintlicher spanischer Größe und Stärke ins Spiel gebracht. Im
32 Eine Beschreibung dieses Vorgangs in der Begrifflichkeit Lacans drängt sich in der Tat auf und unterstreicht zudem das kulturkritische Potential dieser Episode, scheint hier doch eine vom ‚Gesetz des Vaters‘ beherrschte männliche Kultur dem weiblich und mütterlich konnotierten, der Subjektkonstitution vorausgehenden Bereich des Vorsymbolischen und Vorkulturellen gegenüberzustehen. 33 Vgl. zu Santiuste und dem Judentum in Aita Tettauen Sara E. Schyfter: The Jew in the Novels of Benito Pérez Galdós, London 1978, S. 101-116 und zu Juden als dem „Anti-Typus des hegemonialen Männlichkeitsmodells“ Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 231.
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Kontext der gesellschaftlichen Krise und der kulturellen Selbstkritik der Zeit muss daher auch das Leitmotiv des Kleiderwechsels gesehen werden, das Galdós vor allem mit der Figur Santiustes verknüpft. Santiuste schlüpft mit großer Leichtigkeit mehrfach in das Gewand eines Mauren oder Juden. Diese Form des kulturellen cross-dressing ist aus nahe liegenden Gründen mit Judith Butlers Theorie performativer Geschlechtsidentität in Verbindung gebracht worden.34 Von der tatsächlichen Funktion dieses Motivs im Text scheint der Hinweis auf Butler aber eher abzulenken, wirkt es doch als Korrektiv nach zwei Seiten: Sicherlich dient es zum einen dazu, gegen allzu stabile und selbstgewisse Identitäten aller Art ein ‚schwaches Subjekt‘ in Stellung zu bringen, das der Erfahrung der Relativität und Veränderbarkeit von Identitäten Raum gibt. Zum anderen kann dieses Motiv aber auch für den illusionären Charakter identitärer Performanzen allgemein sensibilisieren, insofern diese unter Umständen darüber hinwegtäuschen, dass bestimmte Identitätsmuster unter einer veränderten Oberfläche unverändert fortwirken können. Gerade im Hinblick auf die Geschlechtsidentität führt Galdós am Beispiel der Konversion Juan Santiustes genau diese Möglichkeit vor Augen. 2.3
Panerotismus
In seiner neuen Rolle als „Juan el Pacificador“ entwickelt sich Santiuste schnell zum ebenso eloquenten wie erfolgreichen Verkünder eines universalen humanistischen Friedens- und Liebesideals, eines Panerotismus, in dem sich mystische All-Liebe und konkretes sexuelles Begehren zwanglos miteinander verbinden. Dieses Ideal ist eindeutig durch den religiösen Pazifismus Lev Tolstojs und das Vorbild seines Lebens inspiriert.35 Darüber hinaus verweist die Art, wie Santius-
34 Vgl. Stephanie Fleischmann: „Das Andere anprobieren: kulturelle cross-dresser in der Guerra de África (1859-1860)“, in: Lidia Becker/Alex Demeulenaere/Christine Felbeck (Hrsg.): Grenzgänger & Exzentriker. Beiträge zum XXV. Forum Junge Romanistik in Trier (3.-6. Juni 2009), München 2010, S. 469-486, S. 470. 35 Galdós war mit dem Werk Tolstojs gut vertraut. Er besaß unter anderem ein Exemplar von Tolstojs Worin mein Glaube besteht (1883) in französischer Übersetzung (Ma religion); vgl. Labanyi (Hrsg.): Galdós, S. 14. Unter dem Einfluss Tolstojs habe Galdós, so Labanyi, eine Reihe seltsamer Heiligenfiguren geschaffen, zu denen, wie man hinzufügen muss, zweifellos auch Juan Santiuste gehört. In einem Punkt freilich würden sich diese von ihrem Vorbild unterscheiden: „[…] unlike Tolstoy, Galdós undercuts his heroes with a Cervantine irony that makes it impossible for the reader to know how to interpret them.“ (Ebd.) Siehe konkret zu Tolstoj und Santiuste: Vera Colin:
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te persönlich dieses Ideal in die Tat umsetzt, die praktische Verschmelzung von Spiritualität und Sexualität, von gelebtem Christentum und Erotik, ganz allgemein auf den philosophisch-literarischen Diskurs des europäischen Fin de siècle. Mit geradezu parodistischer Ausgewogenheit lässt Galdós seine Figur Beziehungen zu Frauen aus allen drei involvierten Ethnien und Religionen unterhalten: zu der spanischen Christin Lucila Ansúrez, der sephardischen Jüdin Yohar Riomesta und der muslimischen Haremsdame Erhimo. Am Beispiel des von Santiuste gepredigten und vorgelebten pazifistischen Liebesideals lässt sich die durchgehende Ambivalenz des Phänomens prekärer Männlichkeit in Aita Tettauen noch einmal sehr gut verdeutlichen. So erscheint der Panerotismus Santiustes durchaus geeignet, eine Reihe von Institutionen polemisch in Frage zu stellen, die in herausragender Weise die traditionelle nationalspanische – und das heißt immer auch männlich-patriarchalische Gesellschaftsordnung – repräsentieren: das Militär, die bürgerliche Ehe und die katholische Kirche, die von Santiuste insbesondere in Bezug auf das Zölibat der Priesterschaft attackiert wird. So äußert er beispielsweise gegenüber einem befreundeten Militärkaplan die Ansicht: „tengo por gravísimo mal el celibato eclesiástico“ (AT, 229). Gleichzeitig erweist sich dieser antimilitaristische, antibürgerliche und antikirchliche Panerotismus jedoch selbst in dem Maße als fragwürdig, wie auch er sich von den Strukturen der herkömmlichen Gesellschafts- und Geschlechterordnung nicht lösen kann. Das zeigt sich vor allem in der Beziehung Santiustes zu der Jüdin Yohar, die ihre Eltern verlässt und mit Santiuste vorübergehend eine sexuell erfüllte freizügig-bohèmehafte Existenz im besetzten Tetuan führt. Die Schilderung dieses Liebesverhältnisses, das typisch für die Dekadenzliteratur der Epoche mit dem Salome-Mythos verknüpft wird und Yohar in der Rolle der Femme fatale zeigt, erstreckt sich noch in den Folgeroman Carlos VI en la Rápita (1905) hinein.36 Das Scheitern dieser kurzzeitigen ‚interkulturellen Beziehung‘ wirft Santiuste in dreifacher Weise auf den herkömmlichen Habitus spanischer Männlichkeit zurück: Yohar konfrontiert Santiuste mit seinem Versagen als männlicher Ver-
„Tolstoy and Galdosʼ Santiuste. Their Ideology on War and Their Spiritual Conversion“, in: Hispania 53/4 (1970), S. 836-841. 36 Die entsprechenden Abschnitte sind Teil der hier zitierten Buchausgabe von Aita Tettauen. Was den Salome-Mythos angeht, die männliche Lust- und Schreckensvision weiblicher Dominanz, so wird Juan explizit mit Johannes dem Täufer verglichen (AT, 266), Yohars Vater fordert seinen abgeschlagenen Kopf (AT, 315), Yohars kräftige Hände (AT, 344) und ihre schlangenhafte Geschmeidigkeit (AT, 369) erinnern an Salome.
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sorger, Beschützer, Erzieher und Lehrmeister; sie weigert sich außerdem, zum Christentum überzutreten, wie Santiuste das von ihr verlangt, obwohl er selbst eine Konversion zum Judentum kategorisch ausschließt (vgl. AT, 328, 355 und 370); und sie verlässt ihn schließlich, dem Wunsch ihres Vaters gehorchend, zugunsten eines wohlhabenden Mannes aus ihrem eigenen Kulturkreis. Santiuste weiß darauf zunächst nur mit dem Gedanken an öffentliche Rache, das heißt im Rückgriff auf ein nicht nur überholtes, sondern auch angesichts des kulturellen Umfelds deplatziertes Verhaltensmuster zu reagieren: „Como español y como cristiano, no podía evadir el precepto de honor que a una venganza donosa y pública me obligaba“ (AT, 383). In dem Maße, wie sich ihm die orientalische jüdische Frau selbstbewusst entzieht, offenbart sich also im Verhalten des angeblich so gründlich erneuerten spanischen Mannes Santiuste ein unverbesserlich quijoteskes und donjuaneskes Substrat: idealistische Weltfremdheit, machtbewusster Eroberungsdrang, hilfloses Festhalten an einem anachronistischen Ehrenkodex.37 Und deshalb muss sich Santiuste aus dem Mund seines Freundes, des spanischen Renegaten El Nasiry am Ende auch die folgende Belehrung gefallen lassen, deren antikolonialistische Botschaft kaum deutlicher hätte formuliert werden können: „Pues en esta tierra, para que te vayas enterando, poco tienen que hacer los Quijotes y Cides. Y ya que los has traído contigo, vuélvanse contigo a España…“ (AT, 386).38
3.
M ÄNNLICHKEIT
ALS
M EDIUM
DER
K ULTURKRITIK
Die umfassende Kulturkritik, die Galdós in seinem Roman Aita Tettauen im Umweg über die spanische Geschichte und über die literarisch inszenierte Begegnung mit fremden Kulturen verfolgt, geht über Fragen geschlechtlicher Kodierung zweifellos weit hinaus. Sie schließt diese Fragen aber immer auch mit ein, denn die von Galdós implizit geforderte Selbstbesinnung der spanischen Gesellschaft kommt um die Notwendigkeit nicht herum, auch einen Blick auf die Strukturen hegemonialer Männlichkeiten in Spanien sowie auf ihre tatsächliche und mögliche Kehrseite zu werfen – jedenfalls dann, wenn man sich, wie
37 Vgl. zu Galdósʼ Kritik des Donjuanismus den Aufsatz von Tanja Schwan in diesem Band. 38 Vgl. zu Santiuste und El Nasiry Christian von Tschilschke: „Kulturelle Grenzgängerfiguren in der spanischen Afrikaliteratur vom 18.-20. Jahrhundert“, in: Susanne Greilich/Karen Struve (Hrsg.): „Das Andere Schreiben“. Diskursivierungen von Alterität in Texten der Romania (16.-19. Jahrhundert), Würzburg 2013, S. 119-132.
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Galdós, eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wünscht, sich aber gleichzeitig der Beharrungskraft von Mentalitäten, von bestimmten tief verwurzelten mentalen und affektiven Dispositionen, bewusst ist. Das Beispiel der Desillusionierung Santiustes macht das unmissverständlich deutlich. Gezeigt hat sich allerdings auch, dass aufgrund des gewählten historischen Gegenstandes, der kolonialen Kriegssituation um 1859/60, und der spezifischen um die Jahrhundertwende in Spanien allgegenwärtigen Selbstkritik, der weiblich-emanzipatorische Diskurs, der in anderen Romanen von Galdós breiten Raum erhält, bis auf wenige Ausnahmen – beispielsweise in der Figur der Jüdin Yohar – suspendiert wird. Stattdessen treten Formen von Männlichkeit in den Vordergrund, die durchweg als prekär charakterisiert sind und zu deren Kritik oder Verteidigung Galdós auf traditionell-archetypische Vorstellungen von Weiblichkeit rekurriert, die auf die ‚Domestizierung‘ und ‚Zivilisierung‘ des Mannes angelegt sind.39 Wenn man jedoch auf die weitere Entwicklung der spanischen Literatur im 20. Jahrhundert blickt, stößt man im Grunde erst wieder in den großen Romanen Juan Goytisolos aus den 1960er und 70er Jahren auf eine genderorientierte Form der Kulturkritik, in der prekäre Männlichkeit eine vergleichbar prominente Rolle spielt.
39 Die Vorstellung der „mujer como civilizadora del hombre“ ist, wie Joaquín Álvarez Barrientos: La novela del siglo XVIII, Madrid 1991, S. 295 betont, bereits im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts verbreitet.
Autoren und Autorinnen
Horlacher, Stefan ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der TU Dresden. Studium und Forschungsaufenthalte an den Universitäten Mannheim, Paris IV (Sorbonne), Strathclyde, die Cornell University, Kent State University und di EFLU Hyderabad. Monographien: Masculinities: Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence (2006); Visualität und Visualitätskritik im Werk von John Fowles (1998). Herausgeberschaften: Taboo and Transgression in British Literature from the Renaissance to the Present (2010, mit S. Glomb u. L. Heiler); Constructions of Masculinity in British Literature from the Middle Ages to the Present (2011); Post-World War II Masculinities in British and American Literature and Culture. (2013, mit Kevin Floyd); Metzler Handbuch Männlichkeitsforschung (mit Bettina Schötz u. Wieland Schwanebeck; in Vorbereitung). Hülk, Walburga ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley. 2008 Forschungsprofessur an der FMSH, Paris. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit, Dialog der Künste und Wissenschaften, Sozialgeschichte der Literatur. Bücher zum Feuilletonroman und zur Subjektivität in der französischen Literatur des Mittelalters, zahlreiche Herausgeberschaften und Aufsätze. DFG-Forschungsprojekte „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ (bis 2009). „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität“ (mit Georg Stanitzek, bis 2012). Buchpublikationen der letzten Jahre: Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung (hrsg. mit Gregor Schuhen, 2012), Bewegung als Mythologie der Moderne: Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry, 2012), Die Krise als Erzählung (hrsg. mit Uta Fenske und Gregor Schuhen, 2013). In Vorbereitung: Projekt und Monographie zum literarischen Leben im Second Empire.
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Ingenschay, Dieter ist seit 1995 Professor für Spanische und Lateinamerikanische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Romanistik und Anglistik an der Ruhr-Universität Bochum und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Université François Rabelais, Tours. 1990-1995 Professor für Romanistik in München. Zahlreiche Gastprofessuren (u.a. Cornell-University, Ithaca, N.Y., Universidad de Buenos Aires, Univ. Complutense Madrid). Hauptarbeitsfelder: Postdiktatoriale Kulturproduktion, Postmodernität und Postkolonialismus in den zeitgenössischen hispanischen Kulturen; Gender und Gay Studies; Metropole und Literatur. Jüngere Publikationen: „Männlichkeiten in der lateinamerikanischen Literatur und Literaturwissenschaft“, in Stefan Horlacher (Hrsg.): MetzlerHandbuch Männlichkeitsforschung, Stuttgart: Metzler 2014 (in Vorbereitung); – „Hispanic / Masculinities / Transition“, in: Rafael Mérida (Hrsg.): Masculinities (LBGTI) in Transition, New York: Peter Lang 2014 (im Druck); „Del machismo poscolonial a la metrosexualidad, los narcos y la homosexualidad diversificada. Desarrollos, desafíos y subversiones en las ‚nuevas masculinidades‘ latinoamericanas“, in: Dörte Wollrad/Juliana Gregor-Ströbele (Hrsg.): Espacio de género. Actas ADLAF, Buenos Aires 2013, S. 139-154. Krämer, Lucia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich britische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Neben einem literaturhistorischen Schwerpunkt im britischen Spätviktorianismus (vgl. ihre Dissertation Oscar Wilde in Roman, Drama und Film (2003) beschäftigt sie sich in ihrer Forschung in erster Linie mit der britischen heritage-Kultur, dem britischen Film und Fragen der Authentizität (vgl. den von ihr mitherausgegebenen Sammelband Fiktionen von Wirklichkeit: Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion, Bielefeld 2011). Seit Abschluss ihrer Habilitationsschrift Bollywood in Britain, die mit dem Britcult Award der Deutschen Gesellschaft für das Studium britischer Kulturen ausgezeichnet wurde, widmet sie sich in ihrer Forschung in erster Linie der Praxis und den Theorien von Adaption. Künkel, Britta, M.A., 2004-2009 Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften in Siegen mit den Schwerpunkten Italienisch, Französisch und Englisch; 2007-2012 freie Mitarbeiterin der Sprachenschule Siegerland; 20092012 wissenschaftliche Hilfskraft am Romanischen Seminar der Universität Siegen; 2010/2011 Lehrbeauftragte für wissenschaftliche Arbeitsmethoden an der Universität Siegen; 2011-2012 Promotionsstipendiatin an der Universität Siegen, Dissertation zum Thema Pierre de Coubertin und die Inszenierung der Olympischen Spiele der Neuzeit. Seit 2013 Volontärin im Bastei Lübbe-Verlag.
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Lickhardt, Maren ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Promotion: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik – Studien zum modernen Diskursroman (2009). Arbeitsschwerpunkte: Gattungstheorie, Pikareske Erzählverfahren, Literatur und Emotionen, Klassische Moderne, Literatur und Kultur der Weimarer Republik. Veröffentlichungen (Auswahl): „Joe Lederer und Irmgard Keun – Glück als Ästhetik der Oberfläche und Vergnügen bei der Lektüre“, in: Anja Gerigk (Hrsg.): Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010, S. 153182; „Narrative Strategien der Verinnerlichung im öffentlichen Raum. Vicki Baums Menschen im Hotel zwischen neusachlichem Funktionalismus und existentiellem Erleben“, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 15 (2011/12), S. 71-98. Roloff, Volker ist Professor i.R. für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; mit Schwerpunkten im Bereich der französischen und spanischen Literatur sowie der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche: Intermedialität; europäische Avantgarden; Proust; französische Literatur-, Theater- und Filmgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Proust und die Medien (hrsg. mit U. Felten), München 2005; Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust (hrsg. mit U. Felten), München 2008; Proust und Tausendundeine Nacht, Köln 2009; Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust (hrsg. mit C. von Tschilschke, S. Winter), Tübingen 2011. Rothstein, Anne-Berenike ist akademische Mitarbeiterin an der Universität Konstanz mit Gastprofessur für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Trauma- und Erinnerungsdiskursen, europäische Dekadenz, Gender in Film und Literatur und Filmisches Erzählen. Habilitation zum Thema „Mujeres transgresoras“ – Mythisierungen und Inszenierungen lateinamerikanischer Frauenfiguren. Dissertation über die Shoah in der französischen Literatur und im Film (Mon ombre est restée là-bas – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit, Tübingen 2008). Zuletzt erschienen u.a.: „The Making of Evita – Filmische Interpretationen zu Eva Perón“, in: Anne-Berenike Rothstein/Pere Joan Tous (Hrsg.): ‚Evita vive‘ – Estudios literarios y culturales sobre Eva Perón / Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zu Eva Perón, Berlin 2013, S. 163-193.
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Schrader, Sabine ist Professorin für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: medien- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft, französische und italienische Literatur des 19. und 20. Jh., Gender und Queer Studies, Film- und Fernsehgeschichte. Neuere Publikationen: La Scapigliatura – Italiens Weg in die Moderne, Winter 2013; TV glokal. Zur Vielfalt europäischer Fernsehserien, Marburg 2014 und The Cinemas of Italian Migration. European and Transatlantic Narratives, Cambridge 2013 (beide hrsg. mit Daniel Winkler); Futurismo 100% – Futurismus 100%, Innsbruck 2011 (hrsg. mit Barbara Tasser); Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich und frankophonen Ländern, Marburg 2008 (hrsg. mit Dirk Naguschewski). Schuhen, Gregor ist Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen. Nach dem Studium der Romanistik und Anglistik an den Universitäten Siegen und Paris XII wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen DFG-Projekten; 2005-2006 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 17. bis 20. Jh. im europäischen Kontext, Gender und Men’s Studies, Pop- und Jugendkultur, klassische Avantgarden, Wissenschaftsgeschichte. Seit 2011 Leiter der Forschungsstelle für Literatur & Men’s Studies (LIMES) an der Universität Siegen. Publikationen (Auswahl): Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust, Heidelberg 2007; Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012 (hrsg. mit Uta Fenske); „Das Madonna-System oder Eine Heilsgeschichte der Weiblichkeit“, in: I. Ritzer/M. Stiglegger (Hrsg.): Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2012, S. 211-231. Schwan, Tanja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin des Interdisziplinären Forschungsseminars „Codierungen von Gender in der Romania“ (CGR) am Institut für Romanistik der Universität Leipzig; Habilitationsprojekt Papierne Passionen: Leid und Leidenschaft in Roman und Oper des 19. Jahrhunderts; Promotion 2008 (Geschlechterperformanzen im historischen Umbruch: Renaissance und Avantgarde). Frühere Stationen als wiss. Mitarbeiterin in DFG-Projekten der Universität Siegen (Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung, Stuttgart/Weimar 2002 und Forschungskolleg „Medienumbrüche“) sowie am Romanischen Seminar der Universität Mannheim. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sowie zahlreiche Publikationen zur Modellierung von Körper, Gender und Affekten in der Romania von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Aktuell im Erscheinen: Pathos – zwischen Passion und
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Phobie. Schmerz und Schrecken in den romanischen Literaturen seit dem 19. Jahrhundert (hrsg. mit Isabel Maurer Queipo), Frankfurt/M. 2014. Tschilschke, Christian von ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft/Genderforschung an der Universität Siegen. Studium der Romanistik, Slavistik und Philosophie an den Universitäten Heidelberg und Lyon; 1994-2000 wiss. Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg; 20002006 wiss. Assistent am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Medien; französisches, spanisches und lateinamerikanisches Kino; französische und spanische Literatur der Gegenwart; spanische Literatur und Kultur des 18. Jhts.; Dokufiktion; spanischer Afrikadiskurs. Veröffentlichungen u.a.: Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen 2000; Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2009; „Quer zu Queer. Transgressionen der Geschlechter im spanischen Theater des 18. Jahrhunderts“, in: U. Fenske/G. Schuhen (Hrsg.), Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen 2012, S. 181-198. Vinken, Barbara ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der LMU München. 1989 in Konstanz und 1991 in Yale promoviert, habilitierte sie sich 1996 in Jena. Sie war Gastprofessorin an der New York University (zuletzt 2012), der Humboldt-Universität Berlin, der EHESS Paris, der Université Michel de Montaigne in Bordeaux, der Johns Hopkins University in Baltimore und an der University of Chicago. Bevor sie an die LMU wechselte, folgte sie Rufen auf die romanistischen Lehrstühle in Hamburg und Zürich. 2012/13 verbrachte sie mit einem Senior Researcher in Residence Fellowship am Center for Advanced Studies der LMU München. Sie veröffentlichte unter anderem Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos (2001), Flaubert. Durchkreuzte Moderne (2009), Bestien. Kleist und die Deutschen (2011), Angezogen. Das Geheimnis der Mode (2013).
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.
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