Vernakulare Moderne: Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung [1. Aufl.] 9783839416181

Dieses Buch eröffnet neue Perspektiven für die Moderne-Forschung in der Architektur. Von poststrukturalistischer Kulturf

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German Pages 328 Year 2014

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Inhalt
Einleitung: Von ›architektonischer Moderne‹ zu ›Architektur in der Moderne‹. Kulturelle Grenzüberschreitungen
Binnenexotismus und Binnenkolonialismus. ›Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe‹ auf der Wiener Weltausstellung
Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Zentrum und Peripherie: Hegemonialer Diskurs oder kreativer Dialog? Wien und die ›Volkskünste‹ 1878 bis 1900
Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege. Gerlachs fotografische Bildatlanten Volkstümliche Kunst I und II
Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs
Die ›disziplinierte Folklore. Josef Hoffmann und die Villa für Otto Primavesi in Winkelsdorf
Hans Poelzig in Schlesien –Heimatstil als rhetorische Figur
Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne. Der Reichskunstwart, der Deutsche Werkbund und die Strategien kulturpolitischer Identitätsbildung in der Weimarer Republik
Moderne zwischen Heimat und Globalisierung. Anmerkungen zum Deutschen Werkbund
Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle für die Architektur in Böhmen und Mähren um 1900
Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde. Le Corbusier, die Volkskunst und das einfache Bauen
Autorinnen und Autoren
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Vernakulare Moderne: Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung [1. Aufl.]
 9783839416181

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Anita Aigner (Hg.) Vernakulare Moderne

Architekturen | Band 6

Anita Aigner (Hg.)

Vernakulare Moderne Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900 Das Bauernhaus und seine Aneignung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Korrektorat: Tanja Jentsch Grafische Gestaltung: Stephan Pfeffer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1618-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http: //www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Mit freundlicher Unterstützung von: Österreichisches Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Kulturabteilung der Stadt Wien, MA 7/ Wissenschafts- und Forschungsförderung Dekanat der Fakultät für Architektur und Raumplanung, Außeninstitut und Institut für Kunst und Gestaltung der TU Wien

Inhalt

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Anita Aigner Einleitung Von ›architektonischer Moderne‹ zu ›Architektur in der Moderne‹ Kulturelle Grenzüberschreitungen

37

Elke Krasny Binnenexotismus und Binnenkolonialismus ›Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe‹ auf der Wiener Weltausstellung 1873

57

David Crowley Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

85

Diana Reynolds Zentrum und Peripherie: Hegemonialer Diskurs oder kreativer Dialog? Wien und die ›Volkskünste‹ 1878 bis 1900

117

Astrid Mahler Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege Gerlachs fotografische Bildatlanten Volkstümliche Kunst I und II

131

Georg Wilbertz Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

163

Rainald Franz Die ›disziplinierte Folklore‹ Josef Hoffmann und die Villa für Otto Primavesi in Winkelsdorf

181

Beate Störtkuhl Hans Poelzig in Schlesien – Heimatstil als rhetorische Figur

207

Christian Welzbacher Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne Der Reichskunstwart, der Deutsche Werkbund und die Strategien kulturpolitischer Identitätsbildung in der Weimarer Republik

231

Maiken Umbach Moderne zwischen Heimat und Globalisierung Anmerkungen zum Deutschen Werkbund

263

Vera Kapeller Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle für die Architektur in Böhmen und Mähren um 1900

287

Anita Aigner Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde Le Corbusier, die Volkskunst und das einfache Bauen

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Autorinnen und Autoren

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Anita Aigner

Einleitung Von ›architektonischer Moderne‹ zu ›Architektur in der Moderne‹ Kulturelle Grenzüberschreitungen

Moderne-Forschung meint im Feld der Architektur vor allem und noch immer eines: die Historisierung herausragender, kanonisierter AvantgardeProduzenten und derer »Werke«. Die Konventionen akademischer Wissens(re)produktion wie die »Erwartungen eines breiten Publikums« (das nationale Erbe, seine wichtigen Institutionen und großen Männer zu feiern) bringen es mit sich, dass nach wie vor Werkmonografien einzelner Architekten dominieren und Moderne immer noch vornehmlich als stilgeschichtliche Kategorie verstanden und spontan mit der avantgardistischen Flachdacharchitektur des frühen 20. Jahrhunderts in-Eins-gesetzt wird. Gewiss, die Erzählung und Vorstellung von einer monolithischen »klassischen Moderne« ist seit den 1990er Jahren im Zuge einer auf die Darstellung von Pluralitäten, Heterogenitäten und Gleichzeitigkeiten abzielenden kulturwissenschaftlichen Wende sukzessive aufgebrochen worden. Nicht nur eine stärker soziologisch ausgerichtete Forschung,1 auch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für »mittelmäßige«, »weniger moderne«, zumeist als Heimatstil klassifizierte Bauproduktion und ihre Kontextualisierung in der Lebensreformbewegung haben zu einer Revision und Korrektur der Hagiografie der architektonischen Moderne beigetragen.2 Was unter anderem bedeutet, dass 1. die legitime (das heißt innerhalb des Feldes vorherrschende

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Wichtige, in der kanonischen Literatur weitgehend unberücksichtigt bleibende Aspekte architektonischer Modernisierung – Durchsetzung der fordistischen Produktionsweise im Bauwesen, Rationalisierung, Professionalisierung und Spezialisierung der Architekturarbeit, Systematisierung des modernen Raum-Wissens – werden etwa behandelt von Prigge, Walter (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert. Frankfurt / New York: Campus, 1999; Guillén, Mauro F.: The Taylorized Beauty of the Mechanical. Scientific Management and the Rise of Modernist Architecture. Princeton / Woodstock: Princeton University Press, 2006. Kluetnig, Edeltraud (Hg.): Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1991. Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. Frauenfeld: Huber, 2005.

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und anerkannte, in ihrer Dominanz aber nicht erkannte und daher verkannte) moderne Avantgardeproduktion nicht mehr entsprechend der TabularasaTheorie ihrer sendungsbewussten Protagonisten und Kommentatoren als geschichts- und traditionslos erachtet wird; dass 2. der quantitativ ungleich stärker ins Gewicht fallenden illegitimen (im hierarchischen Symbolsystem des architektonischen Feldes untergeordneten und als minderwertig erachteten), auf vernakulare Traditionen zurückgreifenden Architekturproduktion inzwischen ebenfalls Reformcharakter zugestanden wird; dass 3. normativ dichotome Vorstellungen und Einteilungsschemata, wie sie mit der vereinfachenden (aus der früheren Durchsetzungs- und Klassifizierungsarbeit stammenden) Gegenüberstellung von »Moderne« und »Tradition« beziehungsweise »Moderne« und »Antimoderne« gegeben sind, einem Anspruch auf Differenzierung gewichen sind, dem es im Wesentlichen um zwei Dinge geht. Einerseits (im Sinne der Feldtheorie Pierre Bourdieus) um die Darstellung eines Kräftefeldes all jener zwischen modernistischem und traditionalistischem Pol sich aufspannenden reformerischen Positionen und Programme, die in Opposition zur Praxis des Historismus auszumachen sind. Andererseits (im Sinne einer epistemologischen Selbstreflexion) um den historisierenden Umgang mit Begriffen, der auch Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Differenzen bei der inhaltlichen Zuschreibung architektonischer Formen(sprachen) freizulegen vermag.3 Dennoch: die Erkenntnisse und auch Werkzeuge der neueren architekturgeschichtlichen Moderne-Forschung sind weder verallgemeinert (was etwa gängige Handbücher zur Architekturgeschichte und architekturgeschichtliche Überblicksvorlesungen im architektonischen Reproduktionsbetrieb bezeugen), noch sind sie ausreichend vertieft. Und vor allem: Auch im Fall der neueren, methodisch fortschrittlicheren Architekturgeschichtsschreibung handelt es sich noch immer nicht um eine Geschichte der gesamten Bauproduktion, die aufruhend auf einem breiteren ethnologisch-kultursoziologischen Verständnis von Architektur alle Bauten – jene der Architek3

In Österreich hat die architekturgeschichtliche Moderne-Forschung vor allem im Zuge des an der Universität Graz zwischen 1995 und 2005 durchgeführten Sonderforschungsbereichs »Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900« mit den Arbeiten von Antje Senarclens de Grancy wesentliche Impulse erfahren. Senarclens de Grancy, Antje/Uhl, Heidemarie: »Konstruktionen von Modernität und Tradition. Ambivalente Positionierungen in der zentraleuropäischen Moderne um 1900«, in: Newsletter Moderne. Zeitschrift des SFB Moderne 1 /1, 1998, S. 17–19 (http://www.gewi.kfunigraz.ac.at/moderne/heft1se.htm, 09. 08. 2009); Senarclens de Grancy, Antje: »Moderner Stil« und »Heimisches Bauen«. Architekturreform in Granz um 1900. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2001; dies.: »Heimatschutz und moderne Architektur. Ambivalente Beziehungen am Beispiel Graz vor 1914«, in: Uhl, Heidemarie (Hg.): Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. (Studien zur Moderne Bd. 4) Wien: Passagen Verlag, 1999, S. 197–242; dies.: »Reformbedarf und Traditionsbewußtsein. Ambivalenzen der Architekturreform um 1900«, in: Newsletter Moderne. Zeitschrift des SFB Moderne 3 /1, 2000, S. 10–13 (http: //www.gewi.kfunigraz. ac.at /moderne / heft4s.htm, 09. 08. 2009).

Einleitung

ten, Baumeister, Handwerker und Laien – gleichzeitig und in Beziehung aufeinander zu besprechen in der Lage ist. Nicht, dass der hier vorliegende Sammelband den Anspruch verfolgte oder auch nur ansatzweise einlösen könnte, eine derart umfassende Baugeschichte zu liefern. Doch zeigte ein solches, die unterschiedlichen (und teilweise auch ungleichzeitigen) Produktionsräume vor Augen habendes historisches Modell, wie einseitig und unzureichend eigentlich der Fokus auf modernistischer Architektur für ein Verständnis von Architektur in der Moderne4 ist. Es mag zwar bis vor kurzem innerhalb der Architekturgeschichte noch als Fortschritt gegolten haben, den ästhetischen Modernismus in seiner Vielfalt darzustellen,5 doch kritisch anzumerken ist, dass auch hier der Untersuchungsgegenstand nicht im größeren Gefüge des Gebauten gesehen wird und kulturelle Interferenzen, die sich aus der Überlagerung und Durchdringung verschiedener (vor allem vormoderner und moderner) Kulturen beziehungsweise Gesellschaftssphären ergeben, ausgeblendet bleiben. Jedenfalls bestünde ein bedeutender Fortschritt für die baugeschichtliche Moderne-Forschung einmal darin, von parallel existierenden, hierarchisierten Teilkulturen des Bauens innerhalb einer modernen Gesellschaft6 auszugehen. Damit würden nicht nur Aspekte der Klassenzugehörigkeit und Produktionsweise, die Relation von Produzenten- und Nutzergruppen, sondern auch die Frage der Vermischung und Durchdringung von (Bau)Kulturen stärker in den Vordergrund rücken. Dabei muss ein Zugang, der differente Produktionsräume des Bauens voraussetzt, nicht notwendigerweise bei der Beschreibung einzelner Baukulturen als geschlossener, statisch-homogener »Einheiten« ansetzen. Angesichts

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Auch wenn mit »Architektur um 1900« der ästhetische Begriff von Moderne im Raum steht, wird Moderne hier als Epochenbegriff verwendet, bezogen auf Institutionen und Formen des sozialen Lebens, die sich im Europa des 19. Jahrhunderts durchgesetzt haben. Vgl. Oechslin, Werner: Moderne Entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte. Köln: DuMont, 1999. Die Vorstellungen darüber, was eine moderne Gesellschaft kennzeichnet, hat wesentlich der sozialwissenschaftliche Diskurs geformt. Die klassischen soziologischen Theorien der Moderne, die den Übergang von traditionalen hin zu modern(er)en gesellschaftlich-kulturellen Formationen beschreiben, erachten vor allem Industrialisierung (Übergang von der handwerklichen Fertigung zur Massenproduktion), Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, Glaube an das emanzipatorische Potenzial von Wissenschaft und Technik, den Verlust der Legitimierungsfunktion von Tradition, das Auseinandertreten von Zeit und Raum und die reflexive Anwendung von Wissen als wesentliche Elemente der Moderne. Vgl. etwa Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989; Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity. Oxford: Polity Press, Blackwell, 1990; ders. / Beck, Ulrich / Lash, Scott: Reflexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Oxford: Polity Press u. Blackwell, 1994. Zu Struktur und Kritik des klassischen soziologischen Diskurses der Modernisierung vgl. Reckwitz, Andreas: »Moderne. Der Kampf um die Öffnung und Schließung von Kontingenzen«, in: Moebius, Stephan / Reckwitz, Andreas (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 226–244.

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der gegenwärtigen Debatte in den Sozialwissenschaften, die ausgehend von Phänomenen der kulturellen Globalisierung das Kontingente und Hybride an Kultur hervorhebt,7 liegt es nahe, von den verschwommenen Rändern, Einschlüssen und Überschneidungen, von der Frage nach dem Verhältnis und der Durchdringung verschiedener (Teil)Kulturen auszugehen. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Architekturforschung könnte sich an poststrukturalistischen Kulturanalysen inspirieren, die bei kulturellen Grenzüberschreitungen, Intertextualitäten und der Rekonstruktion hybrider Muster ansetzen.8 Ein solches Forschungsprogramm ginge von der Frage aus, wo und wie einander zeitlich, räumlich oder soziostrukturell differente (Bau)Kulturen überschneiden, kreuzen und wechselseitig transformieren, wie kulturelle Elemente zwischen verschiedenen sozialen Sphären wandern und bei Übernahme in ihrem Sinn und ihrer Form angepasst werden. Das poststrukturalistische Interesse für Praktiken und Diskurse, in denen die Grenzen zwischen gesellschaftlichkulturellen Formationen überschritten werden, betrifft nach dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz vor allem drei Konstellationen: 1. die Relationen zwischen differenzierten sozialen Feldern, 2. zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften und 3. zwischen westlichen und nichtwestlichen Gesellschaften.9 Für diesen Band besonders relevant sind die in Punkt eins und zwei angesprochenen Relationen. Die Prozesse beschleunigter ökonomischer und technischer Transformation haben im Europa des 19. Jahrhunderts zu sozialen Segmentierungen und Ungleichheiten (in Zentraleuropa verschärft durch eine ethnisch-kulturelle und sprachliche Heterogenität), aber auch zu neuen »hybriden Kulturen« geführt, die als ein Produkt von Aneignungs- und Austauschverhältnissen zwischen »oben« und »unten« wie auch zwischen »fortschrittlichem« Zentrum und »rückständiger« Peripherie zu sehen sind. Dabei interessieren speziell jene Intertextualitäten und hybriden Zonen, die sich aus der Aneignung der vormodernen Kultur der Bauern durch die moderne bürgerliche Kultur ergeben. Also der moderne Prozess der Entdek-

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In der neueren Ethnologie, Kulturanthropologie und Kultursoziologie werden Konzepte von Kultur und Gesellschaft gefordert, die nicht Ordnung, sondern Chaos, nicht kulturelle Grenzen, sondern Entgrenzungen, nicht Reinheit, sondern Vermischungen und Verunreinigungen betonen. Vgl. etwa Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis / Minn.: Univ. of Minnesota Press, 1996; ders. (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge / UK: Cambridge University Press, 1986. Zur Übersicht der Globalisierungsdebatte vgl. Robertson, Roland / White, Kathleen E. (Hg.): Globalization. Critical Concepts in Sociology. London / New York: Routledge, 2003. Zur Übersicht vgl. Reckwitz, Andreas: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript, 2008, bes. das Kapitel »Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus«, S. 301–320. Reckwitz: »Moderne. Der Kampf um die Öffnung und Schließung von Kontingenzen«, S. 240.

Einleitung

kung von »Volkskunst« und Bauernhaus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, oder mit Michel de Certeau gesprochen, das moderne Phänomen der Eroberung der diskurslosen Handwerkskünste durch das aufgeklärte Wissen,10 mit dem Fragen nach der symbolischen Nutzung und aneignenden Verwertung der materiellen Kultur der Bauern – nicht zuletzt vor dem Hintergrund europäischer Nationenbildung – aufgeworfen sind. Fragen also, die zwar eine Beforschung kanonischer Produkte und Produzenten nicht ausschließen, jedoch viel stärker auf der Seite des »großen Restes« ansetzen, bei der vernakularen Produktion und ihrer Einverleibung in das System der Künste. Mit der Verschiebung des Interesses von »architektonischer Moderne« zu »Architektur in der Moderne« ändert sich zwangsläufig Gegenstand und Ziel der Forschung. Nicht mehr (nur) das Subfeld der eingeschränkten Produktion, die zumeist isoliert behandelten, auf Bruch mit vorherrschenden Produktionsmustern ausgerichteten Erscheinungsformen architektonischer Modernität sind relevant, sondern auch die heterogene architektonische Alltagsproduktion. Nicht mehr die Würdigung einzelner Leistungen und Autoren steht im Vordergrund, sondern das Verstehen von Prozessen, bei denen materielles Kulturgut »übersetzt«, das heißt über zeitliche, soziale und räumliche Grenzen hinweg angeeignet und einer Transformation unterworfen wird. Nicht nur die Frage, welche Architekten sich (im Zuge der um 1900 um sich greifenden Begeisterung für die Bauernkultur) durch vernakulare Bauproduktion inspirieren ließen, sondern auch die Frage, wie sich im 19. Jahrhundert durch die Interessen des Staates (Erfassung des »Gesellschaftskörpers«, Modernisierung der Landwirtschaft, Ausbildung von Baufachleuten in der Provinz) neue Aufgabenfelder für Architekten formieren, wird relevant. Und hinsichtlich der Interpretation architektonischer Objekte: Nicht (nur) die Bauten selbst sind interessant, als vielmehr die Mechanismen ihres Sichtbar-Machens und ihres Bedeutens, die Denk-, Wahrnehmungs- und Wertungskategorien, die in die historische Wahrnehmung der Objekte (speziell der vernakularen) eingegangen sind. Was nun die wachsende Aufmerksamkeit für den großen, unsichtbaren Rest seitens der Architekten gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrifft, tritt zunächst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit seines »Entdeckens« auf den Plan. Wie ist es möglich, dass die Architektur als akademische Disziplin ihren Wahrnehmungshorizont erst im 19. Jahrhundert um vernakulare Bauweisen erweitert; dass Architekten und Architekturkommentatoren erst so spät vom Bauernhaus Notiz nehmen. Die Gründe und Motive dafür sind vielfältig – die Suche nach Alternativen und »gesunden« Vorbildern angesichts einer erstarrten historistischen Baupraxis; damit zusammenhängend, eine bisweilen romantisch akzentuierte Kulturkritik, die in der Tra10

Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: Merve, 1988, S. 136ff.

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dition Rousseaus das einfache Leben (auf dem Land) gegen das überfeinerte Kulturleben (in der Stadt) in Stellung bringt; das Gewahrwerden im Verschwinden begriffener (Bau)Kulturen, das den Wunsch nach Rettung, Dokumentation und Pflege der Relikte freisetzt; die Funktionalisierbarkeit der Bauernkultur als nationales Kunstgut, für die der Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts den Rahmen bot;11 das sich ausdifferenzierende, auf Alltagspraktiken und -gegenstände übergreifende System der Wissenschaft, allen voran die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisierenden Ethno- beziehungsweise »Volkstumswissenschaften«, die das Bauernhaus um 1900 nicht nur als prominenten Forschungsgegenstand etablieren, sondern auch als ästhetischen und politisch-ideologischen Gegenstand vorbereiten; das staatliche (agrarökonomische, sozial- und kulturpolitische) Interesse, das von Architekten nicht nur Erhebungsarbeit, sondern (für die im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft und der Modernisierung des ländlichen Raumes auftretenden neuen Bauaufgaben) auch pragmatische Entwicklungsarbeit fordert. Die wachsende Aufmerksamkeit für das Bauernhaus innerhalb des architektonischen Feldes war also von mehreren Faktoren bestimmt, wenngleich ein wesentlicher, nicht zu übersehender Aspekt mit dem spannungsreichen Auseinanderdriften von »Hochkunst« und »Volkskunst«, mit der Herausbildung des relativ autonomen Feldes der Architektur selbst zu tun hat. Wenn wir nämlich die schrittweise Herausbildung des architektonischen Feldes mit seinen spezialisierten Akteuren, seinen Institutionen (Publikationsorganen, Schulen, Berufsvertretungen) und seiner gesellschaftlich als »Architektur« verstandenen Produktion als Teil des mit Industrialisierung, Ausbildung des modernen Staatswesens und Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems einhergehenden Modernisierungsprozesses verstehen, so ist auch die in diesem Sinne moderne (bürgerliche) Hochkultur in ihrer Ablösung und Wegbewegung von vernakularen Traditionen zu sehen. Vergessen wird nämlich, dass sich die Hochkunst, speziell auch die Archi-

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Vgl. dazu Löfgren, Orvar: »The Nationalization of Culture«, in: Ethnologia Europaea 19, 1989, S. 5–24; Stoklund, Bjarne: »Ästhetisierung des Ethnischen – Nationalisierung des Ästhetischen. Die Rolle der Bauernhäuser und Bauernstuben (1850–1914)«, in: Johler, Reinhard / Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard (Hg.): Ethnische Symbole und ästhetische Praxis in Europa. Wien: Selbstverlag des Instituts für Volkskunde, 1999, S. 11–30; Hofer, Támas: »Historisierung des Ästhetischen. Die Projektion nationaler Geschichte in die Volkskunst« in: Johler et al. (Hg.): Ethnische Symbole und ästhetische Praxis in Europa, S. 108– 134; Johler, Reinhard: »›Ethnisierte Materialien‹ – ›materialisierte Ethnien‹. Zur Nationalisierung von Volkskunst und Bauernhaus in Österreich-Ungarn«, in: Moravánszky, Ákos (Hg.): Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2002, S. 61–94. Allgemein zur Architektur als Mittel der Konstruktion nationaler Identität vgl. Jones, Paul: »Architecturing Modern Nations: Architecture and the State«, in: Delanty, Gerard / Isin, Engin F. (Hg.): Handbook of Historical Sociology. London u. a.: Sage, 2003, S. 301–311.

Einleitung

tektur, im Kielwasser von Kunstwissenschaft und Ästhetik in einem ungeheuren Akt der Verdrängung, also gegen einen Großteil der Kulturproduktion konstituiert hat (und zwar basierend auf einem Prozess der Wiederaneignung jener historischen, bis in die Antike zurückreichenden europäischen Hochkulturen, die als Stilgeschichte verstehbar zu machen sich die im 19. Jahrhundert sich institutionalisierenden Wissenschaften der Archäologie und Kunstgeschichte zur Aufgabe gemacht haben). Diesen mit der Genese des architektonischen Feldes einhergehenden Mechanismus der Ausblendung beziehungsweise Verdrängung von vernakularer Produktion gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn von den Bedingungen der Möglichkeit einer »Entdekkung« des Bauernhauses innerhalb der Architektur gesprochen werden soll. Was Bernward Deneke für die Volkskunst zwischen 1870 und 1914 in Anschlag bringt, dass es nämlich im Laufe der Jahrzehnte immer mehrere Kraftfelder zugleich waren, die ihr in unterschiedlicher Akzentuierung Aufmerksamkeit sicherten,12 das gilt auch für das Bauernhaus. Weshalb für eine Untersuchung der verschiedenen Wertungen und Verwertungen vernakularer Bauproduktion alle relevanten »Kraftfelder« beziehungsweise Institutionen, die vormoderne vernakulare Baukultur zum Bezugspunkt werden lassen – vom Ausstellungs- und Kunstgewerbeschulwesen über die Kulturpublizistik und die ethnografische Wissenschaft bis hin zum Feld der Architektur – in den Blick zu nehmen sind. Dabei ist einschränkend anzumerken, wenn nicht sogar als Mangel anzusehen, dass sich die in diesem Band ausgebreiteten Überlegungen zur Aneignung und Verwertung vormoderner Bauproduktion nur auf die Produkte und Diskurse der Gebildeten beschränken. Also mehr oder weniger einseitig nur die Wahrnehmung der Bauernkultur »von oben« zum Gegenstand wird und die Wahrnehmung der ländlichen Bevölkerung wie auch die Formen der Aneignung »von unten« (wie sie etwa mit der Umbildung von »Werken« aus der Monumentalarchitektur in das sogenannte Primitiv gegeben sind) unberücksichtigt bleiben. Dies hat natürlich mit der Bemächtigung des Gegenstandes selbst zu tun. Denn es waren die Mitglieder der modernen, urban-bürgerlichen Kultur, die der Bauernkultur aus unterschiedlichen Motivlagen heraus Aufmerksamkeit geschenkt haben und folglich – auf Schrift und andere, zum Teil neue Medien der Erfassung (wie Fotografie oder Plandarstellung) gestützt – genau jene Objekte, Texte und Bilder produziert haben, auf die wir bei unseren Untersuchungen heute ganz selbstverständlich zurückgreifen. Diese nicht zuletzt (aber nicht nur) aus der Asymmetrie der Quellenlage sich ableitende Einseitigkeit in der Forschung ist jedoch nicht zu beklagen, sondern nur ein-

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Deneke, Bernward: »Volkskunst und nationale Identität 1870–1914«, in: Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard (Hg.): Volkskunst. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1995 in Wien. Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 1997, S. 13–38.

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mal als das zu sehen, was sie ist: ein Produkt und zugleich eine Fortschreibung von Ordnungsstrukturen und Machtverhältnissen (die es im Prozess der Forschung mitzudenken gilt). Immerhin kann – dabei die Postkoloniale Theorie und eine kritisch-reflexive Ethnologie wie Kultursoziologie vor Augen habend13 –, die Einverleibung der Bauernkultur in das System der modernen westlichen Kultur aus machttheoretischer Perspektive herausgearbeitet werden. Dabei sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass alle Formen der Aneignung von einer dominanten »ersten Kultur« ausgehend verlaufen. Speziell im Bereich des Bauens lassen sich immer auch Prozesse der wechselseitigen Aneignung, also Übernahmen von Formen in beide Richtungen nachweisen: Nicht nur Architekten haben sich um 1900 an der vernakularen Bauproduktion inspiriert, auch gegenläufig sind im vernakularen (vormodern- bäuerlich wie modern-kleinbürgerlich geprägten) Bauen immer schon Elemente der Herrschaftsarchitektur assimiliert worden14 – hat sich also das ereignet, was mit Naumann in der historischen deutschen Volkskunde als »gesunkenes Kulturgut« bezeichnet worden ist.

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Kulturen bzw. Gesellschaften hinsichtlich ihrer Machtbeziehungen zu anderen Kulturen bzw. Gesellschaften zu untersuchen, ist ein zentrales Moment der postcolonial studies. Vgl. etwa Bhabha, Homi: The Location of Culture. London u. a.: Routledge, 1994; für eine Übersicht siehe Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript, 2005. Zur kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit den taxonomischen, epistemologischen und politischen Dimensionen ethnologischer Forschung (bisweilen zusammengefasst unter dem Titel »Krise der Repräsentation«) vgl. etwa Fabian, Johannes: »The Other and Anthropological Writing«, in: Critical Inquiry 16/4, 1990, S. 753– 772; Clifford, James: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 1988; zur Übersicht vgl. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999. Dass die »Entdeckung« vormoderner Baukulturen im Europa des 19. Jahrhunderts problematischer Weise mit einer romantischen Idealisierung und Überschätzung ihrer Urwüchsigkeit einherging, ist darauf zurückzuführen, dass ausgeblendet wurde, dass das sog. traditionelle Bauen bereits lange Zeit Austauschprozessen und auch obrigkeitlicher Einflussnahme ausgesetzt war. Vgl. dazu Spohn, Thomas (Hg.): Bauen nach Vorschrift? Obrigkeitliche Einflussnahme auf das Bauen und Wohnen in Nordwestdeutschland (14. bis 20. Jh.). Münster u. a.: Waxmann, 2002; Poss, Uta: »Verwaltete Volkskultur – verordnete Architektur«, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 21, 1998, S. 30–56; Brückner, Wolfgang: »Die verwaltete Region. Das 19. Jahrhundert als Quellenproblem der Volkskunde« in: Köstlin, Konrad/Glaser, Renate (Hg.): Historische Methode und regionale Kultur. Berlin: Vilseck, 1987, S. 25–52; Moser, Oskar: »Bautradition und Zentraldirigismus in der jüngeren historischen Entwicklung unserer Hauslandschaften«, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 121, 1991, S. 11–22; Schendel, Adelheid: »Veränderungen traditioneller Bauformen durch obrigkeitliche Einflüsse in Brandenburg um 1800«, in: Rach, Hans-Jürgen (Hg.): Vom Bauen zum Wohnen. 20 Jahre Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung in der DDR. Berlin: 1989, S. 93–108; Erixon, Sigurd: »Zentralgeleitete und volkstümliche Baukultur« in: Dölker, Helmut (Hg.): Festschrift für Will-Erich Peuckert. Berlin / Bielefeld / München: Schmidt, 1955, S. 79–85.

Einleitung

Transfer und Transformation vernakularer Formen

Wesentlich ist, dass in beiden Fällen das Kulturgut umgeformt und im jeweiligen kulturellen Kontext eingeschmolzen wird. Selbst da, wo die Objekte keine Veränderung erfahren, wo Gebäude einfach nur in eine andere Umgebung, einen anderen gesellschaftlichen Raum transferiert werden (wie das etwa bei der Translozierung eines Bauernhauses in einen herrschaftlichen Park oder in ein Freilichtmuseum der Fall ist), ändert sich der Funktionsbeziehungsweise Gebrauchszusammenhang und damit die Bedeutung der Objekte. In der Regel aber werden Formen für neue Bauaufgaben adaptiert, den Bedürfnissen und Gewohnheiten einer anderen Kultur angepasst und dabei oft in eine andere Größe und in ein anderes Material übersetzt. Dieser Übersetzungs- und Transformationsprozess ist da, wo vernakulare Formen begonnen haben, im System der Architektur beziehungsweise im Raum der bürgerlichen Kultur zu arbeiten, in Europa höchst unterschiedlich verlaufen. Er bewegte sich, je nachdem, ob und wie stark bäuerliche Kultur im nationalen Symbolsystem integriert wurde, zwischen den Polen rein ästhetischer, von nationaler Sinnstiftung relativ unberührter Verwertung (im Sinne einer Erweiterung des Motivrepertoires zum Beispiel bei Architekten der Wiener Moderne) und politischer, von nationalistischer Haltung geprägter Aneignung und Deutung (vor allem ein Phänomen osteuropäischer Nationalbewegungen, ansatzweise nach dem Ersten Weltkrieg im kulturpolitischen Umfeld der deutschen Nationalbewegung auch im geschrumpften Österreich15). Aneignungen und Übertragungen finden aber nicht nur zwischen sozialen Schichten einer Gesellschaft, also zwischen »oben« und »unten« statt – wenn etwa die bürgerliche Gesellschaftsklasse auf vergangene Formen der Aristokratie oder der Bauernschaft zurückgreift –, sondern sind auch innerhalb einer sozialen Gruppe nachzuweisen, wenn im Sinne einer temporalen Intertextualität ein Rückbezug auf Elemente der Vergangenheit stattfindet. Zum Beispiel im Raum der Volkskultur, wo alte beziehungsweise veraltete, das heißt dem sozialen Wandel nicht mehr entsprechende Formen unter neuen, veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wieder aufgegriffen und angepasst werden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Aktivitäten der Heimatschutzbewegung, zumal mit der Einrichtung von Bauberatungsstellen, mit Ausstellungen, Publikationen, Vereinsgründungen etc. (in Deutschland seit der Jahrhundertwende, in Österreich seit den 1910er 15

Reinhard Johler merkt an, dass die deutsche und in später Folge auch die österreichische Nationalbewegung je nach ideologischer Nachfrage zwischen den Polen von Modernität und Tradition bzw. Stadt und Land schwankten, bäuerliches Kulturgut zwar anti-modern ausgerichteter Teil, aber nie gänzlich Nationalkultur wurde. Johler, Reinhard/Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard: Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie. Wien: Selbstverlag des Museums für Österreichische Volkskunde, 1995, S. 34f.

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Jahren) konkrete Maßnahmen zur Bewahrung und Erhaltung der »heimischen Bauweise« gesetzt wurden.16 Im Zuge dieser Wiederaneignung von Vergangenheit, die wesentlich auch Neukonstruktion einer nationalen Tradition gewesen war, erhielt Tradition, die auf früheren Stufen der Volkskultur kein bewusstes Aufsuchen und Ausgraben des Vergangenen war, sondern ein kontinuierliches, auf engen Zeithorizont beschränktes Weitergeben, einen neuen verpflichtenden Charakter. Ländliche Bauproduktion war nun plötzlich an »ästhetische Forderung«, oft auch an ein Ausstellen und eine Kommerzialisierung von Tradition geknüpft, hatte also nichts mehr mit der Unschuld regionalen Bauens in traditionalen Gesellschaften zu tun. Diese »erneuerte«, sich selbst als »echt« begreifende Volks- beziehungsweise Regionalkultur ist von Vertretern der kulturwissenschaftlichen Volkskunde als »Imitationssystem« beschrieben,17 aber auch unter dem Fachterminus Folklorismus – verstanden als »Vermittlung und Fortführung von Volkskultur aus zweiter Hand« (Hans Moser) – über viele Jahre hinweg intensiv, wenn auch kaum im Bereich des Bauens, erörtert und beforscht worden.18 Das Folklorismus-Konzept entspricht in mancherlei Hinsicht dem heute in der Kulturwissenschaft weit verbreiteten, von Eric Hobsbawm zusammen mit Terence Ranger eingeführten Konzept der »erfundenen Tradition«, das davon ausgeht, dass Traditionen als historische Fiktion in einebestimmte Vergangenheit zurückprojiziert werden, um kollektive Identität zu schaffen und zu symbolisieren.19

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Brückler, Theodor: »Zur Geschichte der österreichischen Heimatschutzbewegung«, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 43, 1989, S. 145–156; Maier, Stefan: »Volkskunde und Heimatpflege. Geschichte und Problematik eines distanzierten Verhältnisses«, in: Kluetnig (Hg.): Antimodernismus und Reform, S. 344–374; Tschofen, Bernhard: »›Heimatschutz und Bauberatung‹ – Museales Zeugnis einer Österreich-Konstruktion im Technischen Museum Wien (1914–1916)«, in: Johler et al.: Schönes Österreich, S. 43–57. Zur »Volkskultur als Imitationssystem« vgl. Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt. (1961) Erw. Neuausgabe, Frankfurt / New York: Campus 2005, S. 151; vgl. auch Broch, Hermann: Dichten und Erkennen. Essays. Band 1. Hg. u. eingel. von Hannah Arendt. Zürich: Rhein-Verlag, 1955, S. 339f. Hans Moser hat bereits in den 1960er Jahren an Entwicklungen des volkstümlichen Festwesens aufgezeigt, wie Handlungen aus ihrem funktionalen und sozialen Zusammenhang herausgelöst und in einem neuen, jedoch als echt vorgestellten Zusammenhang zum Einsatz kommen. Moser, Hans: »Vom Folklorismus in unserer Zeit«, in: Zeitschrift für Volkskunde 68, 1962, S. 177–208; ders.: »Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde«, in: Hessische Blätter für Volkskunde 55, 1964, S. 9–58. Für Hobsbawm bedeutet »erfundene Tradition« »a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. [...] However, insofar as there is such reference to a historic past, the peculiarity of ›invented‹ traditions is that the continuity with it is largely factitious. In short, they are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition.« Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press, 1983, S. 1f.

Einleitung

Der dekorative »Missbrauch« der bäuerlichen Kultur durch das Bildungsbürgertum unterscheidet sich zwar von der »Volks[bau]kultur aus zweiter Hand« nicht prinzipiell, insofern in beiden Fällen kulturelles Material grenzüberschreitend angeeignet wird, doch gibt es qualitative Unterschiede. War der Rückgriff auf das Vernakulare in der bürgerlichen Kultur vor allem durch ein spielerisches Zitieren geprägt und erfüllte hier vornehmlich kontrastierende Funktion (die mit »urwüchsigen« Elementen versehene Villa auf dem Land als Gegenwelt und Komplement zur urbanen Arbeits- und Alltagswelt), war er in der ländlichen Baukultur auf Kontinuität und Erinnern, auf Fortführung eines Eigenen angelegt und muss hier viel stärker als kompensatorische Reaktion auf destruktiv empfundene Momente von Neuerungen im Lebensbereich gesehen werden. Blieb er im Raum der urbanen Hochkultur eine Nebenhandlung, eine Episode, ein kurzlebiges Phänomen, das im Zuge des Aufkommens moderner Flachdacharchitektur feldintern ziemlich schnell eine Abwertung erfuhr, wirkte er sich unvergleichlich nachhaltig in der ländlichen Alltagskultur aus, wo die ideelle und praktische Arbeit der Wiederaneignung auf den Erhalt »heimatlicher« Kultur und auf die Ausbildung regionaler Identität gerichtet war (und nach wie vor ist). Die Ergebnisse von Übertragungen können den Charakter einer kreativen kulturellen Synthese annehmen – dann nämlich, wenn Elemente in einem kraftvollen Akt der inneren Aneignung zu einem Neuen weiterentwickelt werden –, aber eben auch Attrappencharakter aufweisen, wenn Formen einfach nur passiv übernommen und nachgeahmt werden. Man denke nur an die in Verbindung mit dem auftauchenden (Massen)Tourismus zu sehenden, im »Alpinstil« errichteten Fremdenverkehrsbauten, die vielfach als kulturindustrielle Verwertung traditioneller Formen kritisiert und als »Lederhosen-Architektur« herabgewürdigt worden sind. Mögen Gebildetete das sentimentale und bisweilen kommerzielle Imitationsgut auch gerne als »Kitsch« und als das »das Böse im Wertsystem der Kunst« identifizieren, so ist aus ethnologisch-soziologischer Perspektive einzuwenden, dass Menschen, wenn sie überlieferte Formen (rein äußerlich) fortführen, immer auch identitätsstiftende Horizonte zu bewahren suchen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass gerade in Bauangelegenheiten die Tradition oft verordnet wird. Sind doch überall da, wo alte Formen im ländlichen Raum unter sozial, wirtschaftlich und rechtlich veränderten Bedingungen ein Fortleben entwickelt haben, auch verbindliche Gestaltungsrichtlinien zum Schutze des Orts- beziehungsweise Landschaftsbildes vorgegeben.20

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Vgl. Achleitner, Friedrich: »Neues Bauen in alter Umgebung – oder Du sollst Dir kein Ortsbild machen«, in: ders.: Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Basel/Boston / Berlin: Birkhäuser, 1997, S. 65–71.

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Formale Ähnlichkeit sollte jedenfalls nicht dazu verleiten, die Objekte (das »Imitat« und das »Original«) in einen Topf zu werfen. Wie bereits Roman Jakobson in einem 1929 gemeinsam mit Petr Bogatyrev verfassten Aufsatz zur volkskundlichen Forschung betont hat, sind »vom funktionellen Standpunkt aus […] das Kunstwerk außerhalb der Folklore und dasselbe von der Folklore adoptierte Kunstwerk« gleichwie das Objekt der Volkskultur und das daran inspirierte Kunstwerk »zwei wesentlich verschiedene Tatsachen. […] Das von Puškin benutzte Märchen ist volkstümlich, in der Umgestaltung des Dichters dagegen ist die Volkstümlichkeit ein Kunstgriff, – sie wird sozusagen signalisiert.«21 Das gilt im Prinzip auch für den Bereich des Bauens. Doch nicht nur da, wo Architekten auf »volksmäßige«, also der eigenen (Architekten- beziehungsweise Hoch-)Kultur fremde Formen zurückgreifen, ist die Volkstümlichkeit eine gewollte, ausgestellte und in diesem Sinn künstlich, sondern auch da, wo sie dem Volk aus ästhetischen Gründen verordnet wird. Wenn Friedrich Achleitner einmal angemerkt hat, dass es zu kurz greift, zwischen »regionalem Bauen« und »regionalistischer Architektur« zu unterscheiden, weil es ja schließlich auch ein »regionalistisches Bauen« und eine »regionale Architektur« gäbe, dann ist damit auf den Punkt gebracht, dass sich das Phänomen eines vernakulare Formen »imitierenden« Bauens sowohl im Bereich der Architekten-Architektur als auch in der Alltags- beziehungsweise Nicht-Architekten-Architektur abspielen kann. Für eine kulturwissenschaftliche Analyse wesentlich ist und bleibt in allen Fällen von Übertragung »die Funktion des Entlehnens, die Auswahl und die Transformation des entlehnten Stoffes«,22 natürlich immer vom Standpunkt des Systems aus, dem die Formen einverleibt werden. Was nun die Verarbeitung des Vernakularen im System der Architektur betrifft, sind bereits von Seiten der Kunst- und Architekturgeschichte – wenn auch nicht aus poststrukturalistisch informierter Grenzperspektive – zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden, die allerdings unter verschiedenen Begrifflichkeiten firmieren. Vertraut sind die Kategorien Heimatstil oder Regionalismus, weniger vertraut vielleicht die Kategorie des Vernakularismus. Obschon es oft keinen großen Unterschied macht, ob von Regionalismus, Vernakularismus oder Heimatstil gesprochen wird, scheint ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Fachtraditionen und ihre Einteilungskategorien lohnenswert.23 21

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Jakobson, Roman/Bogatyrev, Petr: »Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens«, in: Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 140–157, S. 149. Ebda. Obwohl die Regionalismus-Debatte in der Architektur eine ganze Reihe von hier im Fokus stehenden Aspekten berührt, wird auf die Kategorie des Regionalismus nicht näher eingegangen. Nicht nur, weil dies den Rahmen sprengen würde, sondern vor allem, weil mit den Einteilungen Moderner Regionalismus oder Kritischer Regionalismus eher ein historisch

Einleitung

Zur Heimatstil-Forschung

Während die aus dem akademischen Umfeld der Architektur kommenden Forschungsbeiträge zum mitteleuropäischen architektonischen Modernismus etwas verhaltener mit dem Begriff Heimatstil operieren und dabei stärker auf die Riege der akademisch gebildeten, das heißt im Wiener Ausbildungsumfeld beruflich sozialisierten, dann aber in der Provinz oder in Städten mittlerer Reichweite bauenden Architekten fokussieren,24 pflegen in der Denkmalpflege verankerte ForscherInnen sehr offensiv den Gebrauch von Heimatstil als architekturhistorischen Ordnungsbegriff. Besonders in der Schweiz, wo sich anders als in Deutschland und Österreich der Heimatschutz nicht in eine völkisch-nationalistische Bewegung transformiert hat und folglich auch nicht so negativ besetzt ist, wird die »weniger moderne« Alltagsarchitektur vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die lokale Elemente bei gleichzeitiger Verarbeitung überregionaler Einflussfaktoren fortschreibt beziehungsweise auch neu erfindet,25 ziemlich unbefangen als eigenständiges Bauphänomen mit dem Kennwort Heimatstil gefasst. Mit dem Grundlagenwerk von Elisabeth Crettaz-Stürzel scheint sich jedenfalls das Verständnis des Heimatstils als »Ausdruck der frühen Moderne«, als einer auf regionale Bautraditionen sich besinnenden, auf Erneuerung des Handwerks angelegten

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jüngeres Phänomen gemeint ist, eine Entwurfshaltung von Architekten, die sich in Reaktion auf die »Ort- und Bedeutungslosigkeit«, die »Uniformität« der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Vgl. dazu etwa Frampton, Kenneth: »Towards a Critical Regionalism: Six Points for an Architecture of Resistance«, in: Foster, Hal (Hg.): The AntiAesthetic. Essays on Postmodern Culture. Washington: Bay Press, 1983, S. 16–30; Magnago Lampugnani, Vittorio (Hg.): Die Architektur, die Tradition und der Ort. Regionalismen in der europäischen Stadt. Stuttgart u. a.: DVA, 2000; Reichert Powell, Douglas: Critical Regionalism: Connecting Politics and Culture in the American Landscape. Chapel Hill/NC: University of North Carolina Press, 2007; Canizaro, Vincent B.: Architectural Regionalism. Collected Writings on Place, Identity, Modernity, and Tradition. New York: Princetin Architectural Press, 2007. Ákos Moravánszky untersucht in seinem Übersichtswerk zur zentral- bzw. mitteleuropäischen Architektur das Phänomen der »Suche nach einem Nationalstil« – Moravánszky, Ákos: Competing Visions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture, 1867–1918. Cambridge: MIT Press, 1998; Friedrich Achleitner scheint das Problem zunächst elegant in eine Frage aufzulösen – »Gibt es einen mitteleuropäischen Heimatstil?« –, entscheidet sich dann aber für ein Auseinanderhalten und eine definitionsähnliche Erklärung von Heimatstil, Heimatarchitektur, Heimatschutzarchitektur, Nationalromantik und Reginalromantik. Achleitner: Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?, S. 7–22; Antje Senarclens de Grancy hingegen (siehe Anmerkung 3) vermeidet bewusst die Rede von einem Heimatstil und spricht von Reformarchitektur, die sich zwischen den Polen »moderner Stil« und »heimisches Bauen« aufspannt. Von einer neu erfundenen lokalen Formensprache ließe sich etwa im Zusammenhang mit den vom Kunstgewerbeschullehrer und Jugendstilkünstler Charles L’Eplattenier geprägten Bauten in und um La Chaux-de-Fonds sprechen. Die erst jüngst als »Style Sapin« (Tannenstil) getaufte lokale Ausformung des Jugendstils zeichnet sich dadurch aus, dass hier nicht Formelemente aus der umgebenden vernakularen Baukultur verarbeitet und fortgeschrieben wurden, sondern durch Stilisierung von Formen aus der umgebenden Natur (v. a. Tannenbäume und -zapfen) Regionalbezug hergestellt werden sollte. Bieri Thomson, Helen: Le style sapin. Une expérience art nouveau à La Chaux-de-Fonds. Paris: Somogy, 2006.

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und den akademischen Historismus hinter sich lassenden Reformarchitektur durchgesetzt zu haben.26 Die Befassung mit Heimatstil hat aber auch in Wien eine gewisse Tradition, wo sich in den 1980er Jahren Friedrich Achleitner und Vertreter der Denkmalpflege um eine Ausdifferenzierung dieses Einordnungsinstrumentes beziehungsweise für eine Klärung des für unterschiedliche Bauphänomene verwendeten Begriffs bemüht haben.27 Ein wesentlicher Beitrag bestand in der Unterscheidung zweier Gruppen von Heimatstil-Bauten: zum einen die im Zuge der Landnahme einer städtischen Oberschicht im 19. Jahrhundert beziehungsweise im Späthistorismus errichteten Landhausvillen, Hotels, Kurhäuser, Badeanstalten und anderer öffentlicher Bauten,28 die als »erster« beziehungsweise »internationaler Heimatstil« (auch »Schweizerhausstil« oder »Laubsägestil«) bezeichnet werden; zum anderen die nach der Jahrhundertwende »im Geiste des Heimatschutzes« errichteten Bauten, die dem »zweiten« Heimatstil, auch »Heimatschutzarchitektur« oder »Heimatschutzstil« genannt, zugerechnet werden. Während mit ersterem ein internationales, großbürgerliches Phänomen gemeint ist, bei dem historistische Bautypen mit für ländlich erachtetem Dekor versehen wurden, wird mit zweiterem eine von einer bürgerlich-kleinbürgerlichen Mittelschicht getragene kulturkritische, gegen die Verstädterung der Landschaft (das heißt gegen die historistischen Bauten des ersten Heimatstils) gewandte, die kleinstädtische Biedermeier-Architektur »um 1800« und das traditionelle Bauen auf dem Land zum Vorbild erhebende Richtung identifiziert. Wiewohl die Unterscheidung dieser form- und ideengeschichtlich gefassten Kategorien von Relevanz ist, muss als problematisch angesehen werden, dass in vielen architekturgeschichtlichen Auseinandersetzungen um Heimatstil immer wieder vom Wort selbst ausgehend gedacht wird, ja versucht wird zu »definieren«, was nun Heimatstil »eigentlich ist« – eine fragwürdige Vorgangsweise, die immer ein wenig darauf hinausläuft, wie Wittgenstein in seinem Blauen Buch sagt, »nach einem Ding [zu] suchen, das [dem Substantiv] entspricht.« Da sich die Begriffe, mit deren Hilfe über Bau26 27

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Crettaz-Stürzel: Heimatstil, S. 30ff. Vgl. das Schwerpunktheft Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege XLII, Wien: Anton Schroll, 1989; siehe v. a. die Beiträge von Hajós, Géza: »Heimatstil – Heimatschutzstil«, S. 156–159; Lehne, Andreas: »Heimatstil – zum Problem der Terminologie«, S. 159–164; Achleitner, Friedrich: »Gibt es einen mitteleuropäischen Heimatstil?«, auch abgedruckt in: ders.: Region, ein Konstrukt? Regionalismu, eine Pleite?, S. 7–22. Eggert, Klaus / Hájos, Géza /Schwarz, Mario/ Werkner, Patrick: Landhaus und Villa in Niederösterreich 1840–1914. Wien /Köln /Graz: Böhlau, 1982; Kos, Wolfgang (Hg.): Die Eroberung der Landschaft. Semering – Rax – Scheeberg. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung Schloss Gloggnitz. Wien: Falter Verlag, 1992; Pusch, Eva / Schwarz, Mario (Hg.): Architektur der Sommerfrische. St. Pölten, Wien: Niederösterreichisches Pressehaus, 1995; Schwarz, Mario (Hg.): Semmering Architektur. 2 Bde., Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 2006.

Einleitung

ten nachgedacht wird, insbesondere jene, mit deren Hilfe sie (im Nachhinein) klassifiziert und beurteilt werden, durch äußerste Unbestimmtheit auszeichnen, wäre es zunächst jedoch ratsam, sich vom ganzen Komplex dieser überkommenen Begriffe zu lösen und einmal zu fragen, wie die Klassifikation der Objekte überhaupt vor sich geht.29 Natürlich kommen Zuordnungen nicht von ungefähr und es gibt eine Logik, nach der in der architekturgeschichtlichen Forschung Einteilungen vorgenommen werden, Begriffe aufgegriffen und weiterentwickelt werden, ihre Kontur gewinnen und sich durchsetzen. Doch gälte es – dies als Anregung für zukünftige Forschungen – zunächst und zugleich als Voraussetzung für alles weitere (wissenschaftliche) Sprechen über jene Sorte von architektonischer Produktion, die regionalspezifisch-traditionelle Bauformen zitiert oder mit dem Anspruch in Verbindung gebracht wird, jene weiterzuentwickeln beziehungsweise als (formales oder ideelles) Vorbild aufzugreifen, genau diese Definitions- und Repräsentationsarbeit zu rekonstruieren. Mithilfe der von der Begriffsgeschichte und Diskursanalyse zur Verfügung gestellten Werkzeuge wäre aber nicht nur die rückwirkende Einteilungsarbeit der professionellen feldinternen Interpreten, es wären auch die zeitgenössischen Stellungnahmen der Produzenten und Kritiker ins Auge zu fassen, also zu beschreiben, wie die nur aus der feldinternen Absetzungsarbeit heraus zu verstehenden Begriffe von Architektur- und Kunsthistorikern übernommen und zu einem praktischen Instrument der Klassifizierung ausgebaut worden sind. Wobei die Geschichte eines Begriffs, wenn die verschiedenen Diskursfelder einbezogen werden, in denen er auftaucht und zirkuliert, äußerst komplex ist und nicht einfach, wie Foucault betont, als ein Stein für Stein aufgebautes »virtuelles deduktives Gebäudes« vorzustellen ist.30 Solange diese Historisierungs-Arbeit nicht geleistet ist, muss man sich damit behelfen, überkommene Begriffe unter Anführungszeichen zu setzten. Eine Vorsichtsmaß-

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Jedenfalls ist es verwunderlich, dass der Terminus Heimatstil im Zusammenhang mit (groß-) bürgerlicher Freizeitarchitektur auftaucht, wo es sich doch zumeist um historistische,von der Herrschaftsarchitektur des 18. Jahrhunderts und vom englischen Landhausbau inspirierte Bauten, also um Bauten handelt, denen keinerlei Ambition nachzuweisen ist, aussehen zu wollen wie die einheimischen Bauten in ihrer Umgebung. Wie konnten Bauten, die zwar in ländlicher Umgebung standen, ohne jedoch die lokale Baukultur zu zitieren und nur in Ausnahmefällen vernakulare Motive reflektieren (die zumeist nicht einmal von einheimischen Vorbildern herrührten, sondern, wie etwa im Fall des Holzfachwerk-Dekors der Landvillen im Semmeringgebiet, importiert waren), überhaupt zu ihrer Bezeichnung als Heimatstil kommen? Was den Aspekt der Transformation von Begriffen betrifft, hebt Foucault die Analysen von Georges Canguilhem hervor, die »zeigen, daß die Geschichte eines Begriffs nicht die seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner ständig wachsenden Rationalität, seines Abstraktionsanstiegs ist, sondern die seiner verschiedenen Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, die seiner aufeinander folgenden Gebrauchsregeln, der vielfältigen theoretischen Milieus, in denen sich seine Herausarbeitung vollzogen und vollendet hat.« Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981 (1973), S. 11, 83.

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nahme, mit der eine Autorin / ein Autor Distanz zum Ausdruck bringt und signalisiert, dass Begriffe im Bewusstsein ihrer Historizität und um ihr »Gemacht-Sein« verwendet werden. Forschungsbeiträge zum Vernakularismus

Was Untersuchungen mitunter erschwert, ist der Umstand, dass verschiedene Fachtraditionen oft mit unterschiedlichen Begriffen bei der Bearbeitung ein und desselben Gegenstandes operieren (oder auch umgekehrt, mit einem bestimmten Begriff unterschiedliche Dinge gemeint werden). Unterschiedliche Sprachtraditionen verschärfen bisweilen noch das Problem. So gibt es zu der im deutschen Sprachraum verbreiteten Rede von »Heimatstil« oder vom »heimischen Bauen«, nicht zuletzt aufgrund des sehr spezifischen und (aufgrund seiner Konnotationen mit der »Blut und Boden«-Ideologie des Nationalsozialismus) schwierigen Begriffes »Heimat«, im englischen keine Entsprechung. Umgekehrt hat der im Englischen gebräuchliche Terminus vernacular in den meisten europäischen Sprachen keine Tradition. Weshalb wohl auch die Forschungsbeiträge zum vernacularism und vernacular revival – Wortableitungen beziehungsweise -verbindungen, mit denen in der englischsprachigen Forschung das Phänomen der Rückwendung auf lokale Handwerkstraditionen im europäischen Architektur- und Kunstschaffen um 1900 zum Ausdruck gebracht wird – bislang im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt geblieben sind. Jedenfalls sind wichtige, unter anderem von David Crowley und Nicola Gordon Bowe stammende Forschungsbeiträge zum vernacular revival innerhalb der deutschsprachigen Architekturgeschichtsschreibung bis heute ignoriert beziehungsweise kaum rezipiert worden.31 Hervorzuheben ist, dass sich dieser Forschungszweig aus der Jugendstil- beziehungsweise Arts-and-CraftsMovement-Forschung, konkret einem von 1986 bis 1993 laufenden unescoProjekt zur Dokumentation von schützenswerten Art-Nouveau-Objekten (vornehmlich architektonische, aber auch architekturbezogene) heraus entwickelt hat.32 Den Verantwortlichen war jedoch schnell klar geworden, dass die Verwendung des vorherrschenden Sammelbegriffs Art Nouveau ungeeignet war, um den verschiedenen baulichen Entwicklungen bis zum Ersten Weltkrieg in 22 Ländern gerecht zu werden. Da sich die Architektur in ver31

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Crowley, David: Nation Style and Nation-State. Design in Poland from the vernacular revival to the international style. Manchester u. a.: Manchester University Press, 1992; Gordon Bowe, Nicola (Hg.): Art and the National Dream: The Search for Vernacular Expression in Turn-Of-The-Century Design. Blackrock: Irish Academic Press, 1993. Zur Geschichte dieser Forschungsrichtung vgl. Gordon Bowe, Nicola: »Vernacularism in Central Europe and Beyond: a Discussion form English-speaking Perspective«, in: Krakowski, Piotr/ Purchla, Jacek (Hg.): Art around 1900 in Central Europe. Art centres and provinces. (International conference 20.–24. Oktober 1994) Kraków: International Cultural Centre Kraków, 1999, S. 287–306.

Einleitung

schiedenen Umgebungen durch eine Synthese von Jugendstil- und Folkloreelementen auszeichnete und vor allem in osteuropäischen Ländern der Rückgriff auf vernakulare Formelemente besonders auffallend war, wurde fortan die Rede vom Vernakularismus beziehungsweise vernacular revival geprägt. Um dem Einfluss der von England ausgehenden Arts-and-Crafts-Bewegung in verschiedenen europäischen Ländern nachzugehen und den Verflechtungen nachzuspüren, die das zeitgleich aufkeimende Interesse für die Bauernkultur in der Architektur und den dekorativen Künste mit sich brachte, veranstaltete die aus Irland stammende und am besagten unesco-Projekt beteiligte Kunsthistorikerin Nicola Gordon Bowe im Jahr 1990 eine erste Tagung. Hatte der mit Regionalism: Challenging the Canon überschriebene Aufruf vor allem noch das Bemühen gekennzeichnet, mit dem Verweis auf »regionalistische Architektur« den kunsthistorischen Kanon in Frage zu stellen, zeugt die daraus resultierende, drei Jahre später erschienene Publikation mit dem Titel Art and National Dream von einer Hinwendung zur Nationalismusforschung. Es war bewusst geworden, dass vernakulare Formen politisch benutzt und als Komponente nationaler Identität gedeutet wurden, dass der praktische und politische Rahmen des Rückgriffs auf das Vernakulare der Nationalstaat gewesen war. Vernakularismus wurde, wie die in den Vordergrund tretenden Kategorisierungen Nationaler Romantizismus, Romantischer Nationalismus oder Nationalromantik belegen,33 von nun an vor allem als ein Phänomen des Nationalismus gesehen. Im Zuge der in Irland und Krakau veranstalteten einschlägigen Tagungen – Art around 1900 in Central Europe. Art Centres and Provinces 1994, Vernacularism in the Art of Central Europe 1997, Nation, Style, Modernism 200334– ist eine beachtliche Sammlung von Einzelstudien (zu Polen, Irland, Ungarn, Russland, Finnland, Tschechoslowakei etc.) hervorgebracht worden, die vor allem jene von nationalistischer Stimmung getragenen künstlerischen Bewegungen zwischen 1890 und 1918 erhellt haben, die an den

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Vgl. die Einführung von Gordon-Bowe: »National Romanticism: Vernacular Expression in Turn-of-the-century Design«, in: dies. (Hg.): Art and the National Dream, S. 7–14; auch Miller Lane, Barbara: National Romanticism and Modern Architecture in Germany and the Scandinavian Countries. Cambridge/UK: Cambridge University Press, 2000; Kaplan, Wendy: »Traditions Transformed: Romantic Nationalism in Design 1890–1918«, in: dies. (Hg.): Designing Modernity: The Arts of Reform and Persuasion. New York: Thames and Hudson, 1985, S. 19–48; Cretttaz-Stürzel, Elisabeth: »Nichts internationaleres als Nationalromantik? Heimatstil in der Schweiz als Reformkultur um 1900«, in: Purchla, Jacek / Tegethoff, Wolf (Hg.): Nation, Style, Modernism. (CIHA Conference, September 2003) Kraków/München: International Cultural Centre Kraków/Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, 2006, S. 55–74. Krakowski/Purchla (Hg.): Art around 1900 in Central Europe (siehe Anmerkung 28); Purchla, Jacek (Hg.): Vernacular Art in Central Europe. (International conference 1.–5. Oktober 1997, International Cultural Centre) Kraków: Wydawn. Antykwa, 2001; Purchla / Tegethoff (Hg.): Nation, Style, Modernism (siehe Anmerkung 29).

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Rändern Europas, am Rand von einflussreichen Zentren kollektive Identität erfinden oder bewahren wollten und speziell auch im übernationalen Staatsgebilde des Habsburgerreichs zur Formation von Sonderkulturen beigetragen haben. Dass sich die Studien (vor allem der ersten Tagungsbände) auf mitteleuropäische und an den Rändern Europas gelegene Länder konzentrieren, ist freilich kein Zufall. Spielte doch in diesen Gebieten die Volkskultur – anders als etwa in Frankreich oder Großbritannien, wo der ethnografische Zugriff vornehmlich auf die entfernten Kolonien erfolgte und aufgrund der dominanten Stellung der Hochkultur die (Binnen-) Kulturen der bäuerlichen Bevölkerung kein Potenzial für eine Anverwandlung in Nationalkultur entfalten konnten – um die Jahrhundertwende eine nicht unbedeutende (wenn auch oft nur episodische) Rolle als Träger und Transportmittel für nationalistische Bewegungen. Bei allen Bemühungen um eine Rekonstruktion der »Suche nach nationalen Stilen« ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen in verschiedenen Ländern bislang zu wenig herausgearbeitet worden ist. Der Begriff »Nationalismus« bleibt zumeist unscharf und es scheint ein Grundproblem der kunst- und architekturgeschichtlichen Forschung zu sein, dass wichtige typologische Unterschiede im Nationsbildungsprozess (die unter anderem daran abzulesen sind, ob sich das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Nationalkultur entweder stärker auf Hochkultur oder Volkskultur konzentriert) außer Acht gelassen wurden.35 Der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten im Jahr 1989 hat sicher dazu beigetragen, dass die von der internationalen Forschung lange nicht wahrgenommenen und nicht zuletzt aufgrund von Sprachbarrieren bis heute schwer zugänglichen Phänomene des vernacular revival einem internationalen Dialog erschlossen wurden. Dass dabei Polen eine zentrale impulsgebende Stellung zukommt, ist sicherlich kein Zufall, hatte es mit seinem internationalen Kulturzentrum in Krakau nicht nur schon früh ein offenes Klima für ausländische WissenschafterInnen geschaffen, sondern mit dem »Zakopane-Stil« auch die wohl bekannteste und am frühesten erforschte Variante des Vernakularismus anzubieten,36 die mit vergleichbaren Phäno-

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Der Nationalismusforscher Miroslav Hroch hat wesentlich zur Differenzierung unterschiedlicher Typen und Phasen der europäischen Nationsbildung beigetragen. Wichtig vor allem ist die Unterscheidung von »Staatsnationen« und »Nationalbewegungen«. Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005; zur Kultur als Instrument der nationalen Mobilisierung siehe S. 174ff. Crowley: Nation Style and Nation-State; ders.: »Finding Poland in the Tatras: Local and National Features of the Zakopane-Style«, in: Krakowski / Purchla (Hg.): Art around 1900 in Central Europe, S. 317–334; ders.: »Finding Poland in the Margins. The Case of the Zakopane Style«, in: Journal of Design History 14 /2, 2001, S. 105–116; ders.: »Pragmatism and Fantasy in the Making of the Zakopane Style«, in: Centropa 2 /3, 2002, S. 183–195.

Einleitung

menen in Mittelbeziehungsweise Zentraleuropa zu erforschen sich anbot. Nicht zuletzt getragen von dem Wunsch, mit den Forschungen die (für eine denkmalpflegerische Behandlung notwendige) Aufwertung von Objekten als »kulturelles Erbe« voranzutreiben, wurde die oft als zweitrangig erachtete, weil außerhalb des Kanons beziehungsweise im Schatten der großen Städte stehende Kunst- und Architekturproduktion vor allem unter den Aspekten nationaler Identität untersucht, wenngleich von Anfang an und in einzelnen Publikationen dezidiert auch die Forschungsfrage nach dem Verhältnis von künstlerischem Zentrum und Peripherie leitend war. Relativ unberührt von der Absicht, die europäische Kunst und Architektur in ihrer Durchdrungenheit von nationalen Ideen beziehungsweise in ihren Dimensionen der Nationalisierung darzustellen, hat auch der Architekturhistoriker Ákos Moravánszky mit seinem Sammelband Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt im Jahr 2002 einen Beitrag zur Vernakularismus-Forschung geliefert. Ihm kommt das Verdienst zu, auf die ethnografische Sammeltätigkeit von Künstlern und Architekten aufmerksam gemacht und die Frage nach der Rolle des »ethnischen Artefakts« in der modernen mitteleuropäischen Architektur im Gespräch mit Ethnologen und Anthropologen vertieft zu haben.37 Aber auch monografische Einzelstudien, wie etwa zum ungarischen Architekten Károly Kós,38 haben den Prozess der Wiederaufnahme und synthetisierenden Weiterentwicklung vernakularer Bauformen um 1900 eingehend thematisiert. Mit dem vorliegenden Sammelband wird zwar in vielerlei Hinsicht an die neuere Vernakularismus-Forschung angeknüpft, doch steht hier, angeregt von den Programmen moderner Kulturforschung, die Vorstellung von kulturellen Grenzüberschreitungen im Vordergrund. Ganz bewusst wird nicht, mögen diese von den Autoren / -innen auch zum Einsatz gebracht werden, von geläufigen Kategorisierungen (wie Heimatstil oder Vernakularismus) ausgegangen. Auch wird nicht versucht, ein bestimmtes (nach formal-ästhetischen Kriterien identifizierbares) Bauphänomen unter einem neuen Begriff zu versammeln. Das Vorhaben war anders ausgerichtet: Es sollte nach verunreinigenden Einschlüssen, Übergängen und Durchdringungen in der architektonischen Kultur der Moderne gefragt, nach den Spuren des Traditionalen im Modernen gesucht werden. Zum Forschungsprogramm vernakularer Moderne

Um zum Ausdruck zu bringen, dass das Vernakulare, seine Entdeckung, Verwertung und auch Neuerfindung konstitutiver Bestandteil der Moderne ist, wurde für diesen Sammelband der Titel Vernakulare Moderne gewählt. 37 38

Moravánszky (Hg.): Das entfernte Dorf (siehe Anmerkung 11). Gall, Anthony: Károly Kós. Budapest: Mundus Kiadó, 2002.

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Damit ist weder eine stilgeschichtliche Entität noch einfach nur eine »andere« Moderne gemeint, die der »klassischen Moderne« entgegengestellt wird, sondern vielmehr ein kultureller Prozess. Das Forschungsproblem vernakularer Moderne entsteht da, wo vernakulare (Bau)Kultur gedeutet, wo sie ästhetisch, moralisch und politisch bewertet, wo sie symbolisch und real zum Gegenstand einer Umbildung geworden ist. Für die Übertragung des englischen vernacular ins Deutsche, wo die Schreibweise »vernakular« wie auch »vernakulär« gebräuchlich ist, gibt es gute Gründe. Einerseits ist damit ein Anschluss an den internationalen Fachdiskurs (vernacular studies, vernacularism, vernacular revival) angezeigt, andererseits steht damit aber auch ein wertneutraler Begriff zur Verfügung. Jedenfalls ist von einem neutralisierenden Effekt auszugehen, wenn mit vernakular ideologisch kontaminierte Begriffe wie »Volk« oder »Heimat« substituiert werden. Vernakular, aus der Linguistik kommend, meint Umgangs-, Alltagssprache oder Dialekt im Gegensatz zur Hochsprache (zum Beispiel Latein oder einer Lingua Franca, verstanden als Verkehrsprache, die zwischen den Sprechern verschiedener Sprachgemeinschaften für gegenseitiges Verstehen sorgt). Auch im Hinblick auf das Bauen ist oft metaphorisch von Dialekt und Hochsprache die Rede. Dabei wird die Welt der erlesenen Bauwerke, in der professionelle Architekten agieren, von der Welt des gewöhnlichen Bauens geschieden, wo die Errichtung von Gebäuden vorwiegend durch die Bewohner selbst erfolgt und das Bauen viel stärker an lokale Bedingungen geknüpft und viel stärker den Gesetzen der Notwendigkeit unterworfen ist. Der Vergleich mit Sprache macht aber auch deutlich, dass hier nicht nur kulturelle Unterschiede, Unterschiede in Ästhetik, Ausbildung, Reichweite, Lebensweise und Produktion angesprochen sind, sondern auch Wertungen und Hierarchien. Vernakular wird oft auch pejorativ mit minderer beziehungsweise minderwertiger Kulturproduktion gleichgesetzt. Etymologisch kann das Wort vernakular vom lateinischen verna hergeleitet werden, was im Haus geborener Sklave meint. Geboren im Haus eines Herren, diesem auf Lebenszeit unterworfen, nach römischem Recht kein Bürger, der ungehindert reisen kann, ist der Haussklave gebunden an einen Ort. Eine Bedeutung, die zwar eher mit Macht- und politischen Verhältnissen zusammenhängt, sich aber auch auf die Gebundenheit an einen Ort beim Bauen übersetzen lässt. Gemeint ist das Bauen, das »einheimisch« ist (vgl. auch lat. vernaculus – einheimisch), das sich in Abhängigkeit von Klima, lokal verfügbaren Baustoffen und handwerklichen Fertigkeiten, unter bestimmten Besitzverhältnissen und Sitten entwickelt hat. Nicht zufällig hat die Heimatschutzbewegung die Rede vom »bodenständigen«, »landschaftsund ortsgebundenen Bauen« in Umlauf gebracht. Doch geht es auch um Klassenunterschiede, denn vernakular verweist auf Unterworfene und Unfreie,

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auf bäuerlich-ländliche Schichten. Gemeint sind Unterschichten und nicht Elite, mit einfachen Mitteln hergestellte nützliche Gegenstände und nicht Kunstwerke, Gespräche von gewöhnlichen Menschen über gewöhnliche Dinge und nicht Literatur.39 Was die Verwendung des Wortes vernakular bisweilen kompliziert macht, ist der Umstand, dass damit oft unterschiedliche Dinge gemeint werden. Wie jeder Begriff verfügt auch der Begriff vernakular inzwischen über seine eigene Geschichte und hat, seitdem er im Architekturdiskurs in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgetaucht ist, einige Verschiebungen in der Ausdeutung erfahren.40 Synonym verwendet mit »traditioneller Architektur«bezieht er sich auf vormoderne Bauformen. Man spricht auch von endemischen, das heißt nur in einer bestimmten, räumlich klar abgegrenzten Umgebung vorkommenden, indigenen (von lat. indiges »eingeboren«) oder autochthonen (von altgriech. autós »selbst« und chtho¯n »Erde«) Bauweisen, die in traditionalen Gesellschaften vor Eroberung, Kolonisierung oder auch Gründung eines Staates entwickelt worden sind. Neben diesen zumeist historischen, oft gar nicht oder nur mehr museal verfügbaren Bauformen, wird mit vernakular ein viel weiteres Spektrum bezeichnet. Der Terminus schließt Bauten ein, die spontan und improvisiert, ohne große Vorbereitung und Planung und unter Einsatz billigst verfügbarer Materialien, einfacher Werkzeuge und Konstruktionsweisen hergestellt worden sind, also auch ephemere, kurzlebig-flüchtige Bauformen, die nicht notwendig die Fähigkeit zur Tradition mitbringen. Aber auch jene traditionellen Bauten, die im Zuge von Modernisierungsprozessen an neue Lebensverhältnisse angepasst worden sind; Gebäude, bei denen traditionelle Formen in ein anderes Material, eine andere Bauweise oder einen anderen Maßstab übersetzt worden sind oder sich mit fremden Formen aus anderen Kulturen vermischen. Zwar sind grundsätzlich Bauten gemeint, die von einfachen Menschen für einfache Menschen hergestellt worden sind, Bauten, deren Produzenten nicht den Anspruch erheben, »Architektur« zu produzieren. Doch wird der Terminus bisweilen auch ausgedehnt, um Architektur jenseits vom akademischen Kanon am unteren Ende der feldinternen Werteskala zu bezeichnen, wird also mit »Alltagsarchitektur«, »Architektur von der Stange«, informellen Siedlungen, suburbaner Fertighausarchitektur (commercial vernacular) oder Gewerbe- und Industriearchitektur (industrial vernacular) verknüpft. 39

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Vgl. auch Wright, Gwendolyn: »Dilemmas of Diversity: Vernacular Style and High Style«, in: Precis. The Journal of the Graduate School of Architecture and Planning 5, Beyond Style. Hg. von Jeffery Buchholtz und Daniel B. Monk. New York: Columbia University, 1984, S. 117–123; dies.: »On modern vernaculars and J. B. Jackson«, in: Geographical Review 88/4, 1998, S. 474–482. Zum Begriff vernacular, zu Geschichte und Gegenstand der vernacular studies vgl. Preston Blier, Suzanne: »Vernacular architecture«, in: Tilley, Christopher u. a. (Hg.): Handbook of Material Culture. London u. a.: Sage, 2006, S. 230–253.

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Wenn nun in diesem Band von vernakularer Architektur gesprochen wird, so sind damit jene lokal geprägten, an vorindustriell-bäuerliche Lebensweise geknüpften baulichen Erscheinungsformen gemeint, wie sie im Europa des 19. Jahrhunderts vorgefunden worden sind. Doch sind diese nicht für sich genommen interessant, sondern ausschließlich in dem Zusammenhang, da sie in verschiedene Sphären der modernen Kultur übersetzt worden sind. Es mag zutreffen, dass auch heute vielfach aus einem enttäuschten Glauben, einer der gegenwärtigen Avantgarde-Produktion gegenüber ablehnenden oder kritischen Haltung heraus die Hinwendung zu sogenannter traditioneller Architektur oder zu einer Architektur des Alltags erfolgt. Doch in diesem Band geht es weder um die Dokumentation traditioneller Baukulturen noch um die Rehabilitierung und Kanonisierung einer am Vernakularen anknüpfenden Heimatstil-Architektur. Vielmehr geht es um ein grundsätzlicheres Anliegen: Darum, die Prozesse der Sichtbarmachung, die verschiedenen Formen der Aneignung, Wertung und Verwertung, die mit dem bürgerlichen Gebrauch vernakularer (Bau)Kultur einhergegangen sind, verstehbar zu machen. Gefragt wird dabei nicht nur, wer an den Prozessen der Sichtbarmachung jener bis Mitte des 19. Jahrhunderts (fast) unbeachtet gebliebenen Kulturgüter beteiligt war und mit welchen Mitteln und Medien die »von oben« aufgespürte »Architektur von unten« popularisiert wurde, sondern auch, auf welche Weise, vom wem, zu welchem Zweck sie aufgegriffen, das heißt auf materieller Ebene adaptiert und in Diskursen benutzt wurde. Der Betrachtungszeitraum, der dabei in den Vordergrund tritt, lässt sich grob von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre datieren, wenngleich die meisten Beiträge die Jahrhundertwende umkreisen und speziell jener Zeitraum bis 1910 von Interesse ist, wo noch kaum zwischen progressiven und konservativen Deutungsmustern der bäuerlichen Kultur zu unterscheiden war und auch die Forderung nach einer »bodenständigen Architektur« noch nicht mit jener reaktionären Akzentuierung versehen war, die sie im Zuge nationalsozialistischer Kulturpolitik entfalten sollte. Bevor vormodern-volkskulturelle Formen im kulturellen System der Architektur zu arbeiten beginnen, müssen sie erst einmal gesehen, gezeigt, aufbereitet, präsentiert, besprochen und vermittelt werden. Sie müssen aus dem Kontext gelöst, vom Leben und dem Wirtschaftssystem ihrer ProduzentInnen und BewohnerInnen abgekoppelt werden, um einer ästhetischen Wahrnehmung zugänglich gemacht und in der Folge einer Umdeutung und künstlerischen Verwertung zugeführt zu werden. Einige Beiträge in dem Sammelband konzentrieren sich deshalb auf die Ausstellungs- und Publikationsaktivitäten, auf die Sammelpraktiken, Dokumentationsmethoden und Vermittlungsinstanzen, die dafür ausschlaggebend waren, dass die materielle Kultur der Bauern für die bürgerliche Kultur verfügbar geworden ist. So fokussiert Elke

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Krasny auf das »ethnografische Dorf« der Wiener Weltausstellung 1873 und thematisiert damit den Transfer von Bauten aus der von Subsistenzwirtschaft geprägten Peripherie in den Ausstellungskontext der dominanten »ersten Kultur«. Die Logik des Ausstellens und die Machtstrukturen des Mediums Weltausstellung analysierend zeigt sie auf, wie beginnend im Jahr 1867 (Pariser Weltausstellung) die europäische Volkskultur nicht nur den gleichen Regeln der Exotisierung, Folklorisierung und Unterhaltsamkeit unterworfen wurde wie die außereuropäische, sondern im Schauwettkampf des Ausstellungsgeländes, wo weit voneinander Entferntes plötzlich vergleichbar und in seiner Eigenheit wahrnehmbar geworden war, auch zu einem Mittel nationaler Selbstdarstellung avancierte.41 Weltausstellungen fungier(t)en also als Maschine zur Produktion von Authentizität und Identität, was einerseits dem österreichischen Vielvölkerstaat und seiner Strategie der Binnenkolonialisierung entgegenkam, zumal sich marginalisierte Gruppen als Teil eines größeren Ganzen darstellen ließen. Andererseits hatte die Selbstdarstellung mittels regionaltypischer Ausstellungsarchitektur bei dominierten Volksgruppen aber auch einen Prozess der Identitätsproduktion in Gang gebracht, der das Streben nach nationaler Unabhängigkeit und die Ablehnung imperialer Macht nach sich zog. Auch David Crowley, der in seinem Beitrag den Kontroversen um die offizielle Bedeutung und die künstlerische Nutzbarmachung bäuerlicher Kultur im österreichischen Vielvölkerstaat der Jahrhundertwende nachgeht, weist darauf hin, dass sich Unterdrücker und Unterdrückte aus ganz unterschiedlichen Gründen dem Diskurs um die Bauern anschlossen. Hatte der Blick vom Zentrum (Wien) auf die Peripherie die künstlerischen (und auf ästhetischer Ebene durchaus als Unterscheidungszeichen akzeptierten) Eigenschaften der materiellen Kultur der Bauern, also »Volkskunst« im Visier, deren Fortbestand es durch Umwandlung in eine marktfähige, international absetzbare Ware (»Hausindustrie«) durch Ausbildung (Gründung von Fachschulen) und wirtschaftliche Unterstützung zu sichern und zu fördern galt, sahen nationalbewusste Intellektuelle und Künstler dieser Volksgruppen in den Bauern das eigentliche, authentische Staatsvolk und in der bäuerlichen Kultur und ihrer Fortführung ein Mittel, nationale Unabhängigkeit zu erwerben. Während nun Crowely eher auf die Randgebiete und den Kontext der osteuropäischen Nationalbewegungen in der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie fokussiert, geht Diana Reynolds vom Machtzentrum aus. Sie untersucht in ihrem Beitrag die Nutzbarmachung von Volkskunst und 41

Vgl. dazu auch Stoklund, Bjarne: »The role of the international Exhibitions in the Constructionof National Cultures in the 19th Century«, in: Ethnologia Europaea 24, 1994, S. 35–44; Wörner, Martin: »Bauernhaus und Nationenpavillon. Die architektonische Selbstdarstellung Österreich-Ungarns auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLVIII, 1994, S. 395–424.

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Bauernhaus vor dem Hintergrund des Nationalismus eines Vielvölkerstaates, der, um Abspaltungstendenzen und Nationalitätenkonflikte zu entschärfen, die Strategie verfolgte, der Bevölkerung Österreichs einen »neutralen Boden« der Kunst zu bereiten. Das Zentralorgan dieses – letztlich erfolglos bleibenden – (kultur)politischen Programms identifiziert sie im 1863 gegründeten Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, das mit seiner staatlichen Ausstellungs- und Bildungspolitik wie seinen Maßnahmen zur Förderung der Hausindustrie einen alle Völker der österreichischen Reichshälfte assimilierenden Kulturauftrag zu verwirklichen suchte. Obschon die Übertragung von bäuerlichen Kulturgütern in den »exhibitionary complex« und deren Absorption im länderübergreifenden Fachschulsystem eine Form des (Binnen-)Kolonialismus darstellen, macht Reynolds darauf aufmerksam, dass die auf der Basis wechselseitiger Austauschprozesse hervorgebrachten Transformationen als »kreativer Dialog« zwischen Zentrum und Peripherie gelesen werden können. Die Entsendung von am Wiener Zentralinstitut ausgebildeten Lehrern und das Zirkulieren von Mustervorlagen führte an den über die gesamte österreichische Reichshälfte verteilten Fachschulen, wo lokale Handwerkskünste wiederbelebt und lokaltypische Waren für den internationalen Absatzmarkt hergestellt werden sollten, zur Synthese und Hybridisierung von Formen, letztlich zu »invented traditions«. Denn auch da, wo »echte« landestypische Architektur präsentiert wurde, handelte es sich, wie am Beispiel des bosnischen Pavillons auf der Budapester Milleniums-Ausstellung 1896 gezeigt, zumeist um ein typisches Hybrid-Produkt des Wiener Ausbildungssystems. Wie David Crowley im vergleichenden Überblick am Beispiel von polnischer, ungarischer und slowakischer Architektur demonstriert und auch Vera Kapeller mit Fokus auf die Bautätigkeit in Mähren und Böhmen aufzeigt, war die künstlerische Verwertung und Weiterentwicklung von bäuerlichen Formen im Kontext der Nationalbewegungen ein Akt der kreativen Umformung unterschichtlicher Baukultur durch patriotisch gesinnte Intellektuelle. Dass diese Heimatstil-Architekturen nicht einfach nur Kopien traditioneller Bauten waren, sondern Form-Hybride – zumeist eine eigenwillige Mischung aus internationalen Produktionsmustern (Jugendstil) und lokalvernakularen Elementen – ist nicht zuletzt auf die Doppelausrichtung der Architekten, ihrer Orientierung an internationalen, über die Fachpresse verbreiteten Vorbildern und ihrem teils von intensiven Studien begleiteten Interesse an der alten Bauernkultur ihrer jeweiligen Herkunftsländer zurückzuführen. Crowley betont in diesem Zusammenhang, wie sehr sich die Ideologie der aus England auf den Kontinent überschwappenden Arts-and-CraftsBewegung, die ebenso von einer Erneuerung der vorindustriellen Vergangenheit ausgegangen war, mit der Weltanschauung patriotisch gesinnter Gestalter verband.

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Doch die aneignende gestalterische Verwertung vernakularer Bauweisen ging nicht immer und überall mit nationalistischer Gesinnung einher. Vor allem die Berufselite im Zentrum des (sich seinem Ende neigenden) Habsburgerreiches war dagegen immun. Wie Rainald Franz am Beispiel der 1913/14 von Josef Hoffmann in Mähren errichteten Landvilla für Otto und Mäda Primavesi zeigt, zeichnet sich die symbolische Nutzungsform des Vernakularen im bürgerlich-großstädtischen Milieu durch einen rein ästhetischen, spielerischen Umgang mit traditionellen Formelementen aus. Bereits 1894 hatte Alois Riegl diagnostiziert, dass inmitten der »Suche nach zeitlich und räumlich fernabliegenden Künsten, von deren Wiederaufnahme man das Heil für eine fruchtbare Wiedergeburt der modernen Künste erwartete, (…) der Blick auf Volkskunst (fiel)«.42 In Wien herrschte also ein künstlerisches, formal-ästhetisches Interesse vor und Volkskultur diente der großstädtischen Architektur-Elite – soweit sie überhaupt dafür empfänglich war – vorwiegend der Erweiterung ihres Motivrepertoires. Mögen auch eine ganze Reihe von Architekten wie Leopold Bauer oder Rudolf Frass – ganz im Gegensatz zu ihrem Lehrer Otto Wagner – den im Zuge der Heimatschutzbewegung immer lauter werdenden Aufrufen nachgekommen sein, sich auf »bewährte, urheimische Traditionen« zu stützen und »in der Volkskunst wurzelnde« Fremdenverkehrsbauten zu planen, so hatte dies jedoch nicht notwendig etwas dem mit Anspruch zu tun, einen Nationalstil aus bäuerlichen Formen zu entwickeln. Bezeichnend für das Umfeld der »Wiener Moderne« war – neben der Absage an die Kreation eines aus der Volkskunst abgeleiteten Nationalstils – aber auch, dass überall da, wo augenscheinlich auf vernakulare Formen zurückgegriffen wurde, mit dem Vorwurf der »Nachäffung« und des »Stilcopierens« zu rechnen war. Nicht nur Loos hatte sich – wie weithin bekannt – wortgewaltig gegen die »bauerntheaterspielerei« als eine kunstgewerbliche und architektonische Mode gewandt.43 Auch der mit Deutschland bestens vernetzte Wiener Kulturpublizist Joseph August Lux (1871–1947) war, wie Astrid Mahler in ihrem Beitrag der Architekturfotografie zur Heimat(kunst)pflege aufzeigt, um 1910 plötzlich von einem glühenden Verfechter zu einem misstrauischen Beobachter der neuen »Heimatkunst« geworden. Hatte er sich zunächst für eine breit angelegte, auch Dilettanten miteinbeziehende Bilddokumentation des heimatlichen Erbes (Bauernhäuser, Dörfer, kleinstädtische Biedermeier-Architektur um 1800) stark gemacht, sah er in der publizistischen Verbreitung dieser (Vor)Bilder schon bald eine Ursache für oberflächliches und äußerlich bleibendes »Stilcopieren«. 42 43

Riegl, Alois: Volkskunst, Hausfleiss und Hausindustrie. Faksimile der Ausgabe Berlin 1894. Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1978, S. 56. Loos, Adolf: »Heimatkunst« (1914), in: Loos, Adolf: Sämtliche Schriften. In zwei Bänden. Bd. 1, Hg. von Franz Glück. Wien / München: Herold, 1962, S. 331–341, S. 340.

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Dass das Bauernhaus und die kleinstädtische Biedermeier-Architektur »um 1800« in der frühen Moderne zum Vorbild werden konnte, hatte nicht nur mit der Suche nach Alternativen zum Historismus, der Bauernhausforschung und der aufkeimenden Heimatschutzbewegung zu tun, sondern auch damit, dass bereits (unter anderem mit Otto Wagner) die Forderungen nach Materialgerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Einfachheit für »wahrhaftige« Architektur im Raum standen. Also jene Qualitäten benannt waren, die mit der vernakularen Baukultur bestens erfüllt waren und sie deshalb zum positiven Bezugspunkt werden ließen. Wobei die Vorbildfunktion für progressive Kreise eben nicht in der unmittelbaren Wiederaufnahme alter Formensprache (in der Stilkopie) bestand, sondern vielmehr eine moralisch-ethische Dimension betraf: Die sich erneuernde Baukultur sollte bei jener Einfachheit und Übereinstimmung von Form und soziokultureller wie -ökonomischer Lebenswirklichkeit ansetzen, bei jener »kulturellen Einheit« und »Harmonie«, deren Verlust man in der bürgerlichen Kultur beklagte. Wie Georg Wilbertz in seiner Analyse des frühmodernen Wiener Architekturdiskurses zu bedenken gibt, hatte Rückbesinnung auf vernakulare Traditionen bis vor dem Ersten Weltkrieg nicht notwendig etwas mit Rückwärtsgewandtheit zu tun, ja galt im Gegenteil ausdrücklich als Zeichen reformerischer Orientierung. Anhand der Schriften von Joseph A. Lux wird deutlich, dass die Vision einer reformierten bürgerlichen Architektur an eine künstlerische Synthese von »Tradition« und »Moderne« geknüpft war. Die Verbindung von konservativen und progressiven Elementen zeigt sich für den Architekturhistoriker aber auch in einem anderen Strang des »Bodenständigkeit« für die Architektur reklamierenden Diskurses. Am Beispiel des schon in den 1870er Jahren in früheste Aktivitäten der Bauernhausforschung eingebundenen Architekten und Gewerbeschullehrers Carl. A. Romstorfer wird nachvollziehbar, wie sehr auch der Diskurs um landwirtschaftliche Bauausführungen mit der Argumentation des frühen Heimatschutzes verknüpft war, der bis in die zweite Hälfte der 1910er Jahre hinein noch keineswegs von einer technik- und fortschrittsfeindlichen Haltung geprägt war. Mit den Entwicklungen in Deutschland, die in vielerlei Hinsicht ähnlich, in mancherlei Hinsicht aber auch different zu Österreich verliefen, beschäftigen sich drei Beiträge. Auch in Deutschland sollte das »moderne Landhaus« die überladene Gründerzeitvilla ablösen, sollten Moderne und Tradition in Einklang gebracht, die Vorstellungen der Heimatschutzbewegung mit Neuerungen in der Wohnkultur verbunden werden. Wie Beate Störtkuhl am Beispiel des bis 1916 in Breslau (Schlesien) ansässigen Architekten Hans Poelzig (1869–1936) zeigt, hatte der Rückgriff auf Motive regionaler Baukultur innerhalb der Historismus-müden Architektenschaft auch wesentlich mit der Bauaufgabe selbst zu tun. Der nicht zuletzt für seine modernen, zukunftsweisenden Bauten (unter anderem sein kubisches Flachdachhaus

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für die Stuttgarter Werkbundsiedlung 1927) bekannte Poelzig hatte modernen Stilpluralismus praktiziert und für jede Bauaufgabe nach einer passenden Formensprache gesucht. Während er es ablehnte, Fabrikbauten oder großstädtische Bauprojekte »im Gewand der guten alten Zeit auftreten zu lassen«, hielt er es im Wohnbau und für Bauaufgaben im ländlichen Bereich (Kirchen, Rathäuser im Kleinstadtverband) durchaus für angebracht, an vertrauten alten Formen anzuknüpfen – ohne sich dabei einer »völkerpsychologischen« Deutung anzuschließen. Als Paradoxon muss gelten, dass sich gerade im Landhausbau ein überregionaler »heimatlicher« Haustypus (Steildach kombiniert mit Gauben, Fensterläden, Pflanzenspalieren etc.) herausgebildet hat, dem de facto jede lokaltypische Prägung fehlte. Dieser Typus einer neuen »authentischen« bürgerlichen Architektur war, wie auch Maiken Umbach44 in ihren Überlegungen zum Deutschen Werkbund näher ausführt, ein aus internationalen Austauschbeziehungen und Übertragungen resultierendes Hybrid-Produkt, bei dem sich Internationales und Lokales, Vernakulares und Modernes miteinander verbanden. Dass die Resultate der Übersetzung von (nicht zuletzt internationalen) heimatlichen Motiven in den modernen Kontext letztlich auch »deutsche« Gemeinschaftskultur zum Ausdruck bringen sollten, berechtigt nach Umbach jedoch nicht dazu, die Förderer und Proponenten einer aus dem Vernakularen sich erneuernden architektonischen Kultur in direkter Linie zu militant-völkischen und radikal-nationalistischen Kräften zu sehen. Ohne die reaktionären Momente der Heimatidee herunterzuspielen oder beschönigen zu wollen, plädiert sie für einen vom Sonderweg-Konzept unverstellten (das heißt nicht alles in den Nazistaat münden lassenden) Blick, der es erlaubt, im Vernakularen auch ein Werkzeug zur Zivilisierung der Moderne zu sehen. Die Suche nach einer eigenständigen (das heißt vor allem zur vorherrschenden Kulturnation Frankreich distinkten) Nationalkultur legte es jedenfalls nahe, die »Wurzeln« und »Werte des Volkstums« zu bemühen. Die von Reformern geforderte Erneuerung von Architektur und Kunsthandwerk aus dem Geist der Tradition war dabei immer an »Bildungsarbeit« geknüpft. An top-down zu verrichtende Arbeit, die nicht zuletzt ab dem Zeitpunkt, wo es das demokratische deutsche Gemeinwesen kulturell zu versinnbildlichen galt, an entspre-chende Etats, kulturpolitische Ämter und Institutionen geknüpft war. Christian Welzbacher fokussiert mit Edwin Redslob (1884– 1973), von 1919 bis 1933 Reichskunstwart der Weimarer Republik, auf eine

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Umbach hat bereits 2005 gemeinsam mit Bernd Hüppauf das Phänomen vernakularer Moderne unter dem Aspekt der Globalisierung untersucht. Umbach, Maiken / Hüppauf, Bernd (Hg.): Vernacular modernism. Heimat, Globalization, and the Built Environment. Stanford /Cal.: Stanford University Press, 2005.

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solche kulturpolitische Institution und Instanz, die auseinanderklaffende Elemente der Kultur (die bürgerlich-elitäre Hochkultur und die Volkskultur der deutschen »Stämme«, die Industrie und das Handwerk, das Moderne und die Tradition) zu verbinden suchte und Künstler wie Wissenschafter dazu anregte, mit ihrem Werk zur Selbstbehauptung und Selbsterneuerung deutschen »Volkstums« beizutragen. Die Antizipation der Leitlinien nationalsozialistischer Kulturpolitik im Blick, aber auch die Differenzen zu dieser im Auge behaltend, zeichnet Welzbacher Redlobs Aktivitäten – er trat als Vielschreiber und Redner, als Organisator und Initiator einschlägiger Ausstellungen und Buchreihen hervor –, sowie seine von Beginn an vom frühen Werkbund geprägten Vorstellungen einer erneuerten, zeitgemäßen Volkskunst nach. Dabei ist ihm wichtig anzumerken, dass der Reichskunstwart einer aus den »Quellen deutschen Volkstums« sich erneuernden Kultur den Aufstieg des Nazistaates nicht direkt unterstützt hat. Wie auch die Analyse zum Werkbund zeigt, war der vernakularen Bewegung vor der ns-Zeit an bürgerlichem Individualismus und regionalem Pluralismus gelegen, also an Werten, die der nationalsozialistischen Kulturpolitik fremd waren. Gleichzeitig gab es natürlich Kontinuitäten und Verbindungslinien und so zeichnete sich, als sich die Fronten im Hinblick auf die Frage der Relevanz einer Aufmerksamkeit für Volkskunst verschärften (nicht zuletzt sichtbar geworden in der Spaltung des Werkbundes 1927), bereits in den 1920er Jahren bei zusehends doktrinären Vertretern des traditionsbewussten Lagers die Zusammenarbeit mit konservativen und bisweilen rassistischen Kräften ab. Dass selbst den Ikonen der »internationalen Moderne« nicht nur eine Vergangenheit mit Neigung zu Heimatstil-Architektur, sondern auch eine ganz eigene Nutzungsform des Vernakularen nachzuweisen ist, wird im letzten Beitrag deutlich. Die Herausgeberin analysiert am Beispiel des schweizerischfranzösischen Architekten Charles-Édouard Jeanneret-Gris (1887–1965), bekannt unter dem Pseudonym Le Corbusier, die spezifisch modernistische Aneignung des Vernakularen. Anders als bei Vertretern des lokale (oft auch importierte) Elemente fortschreibenden Heimatstils war die Berufung auf vernakulare Architektur im modernistischen Lager nicht an formale Vorbildwirkung geknüpft, sondern Teil einer diskursiven Strategie, der es vor allem um die Legitimierung ikonoklastischer Neuerungen ging. Wie in der bildenden Kunst war auch in der Architektur der avantgardistische Blick auf das zeit- und ortlos Primitive mit Legitimierungsabsichten und einem Angriff auf den Akademismus verknüpft. Zu den Widersprüchlichkeiten architektonischer Moderne gehört jedenfalls, dass die im bürgerlichen VolkskunstDiskurs artikulierten Werte sowohl für Heimat(schutz)architektur als auch für die formal neu- und fremdartigen Produkte einer fordistischen Baukultur in Anschlag gebracht worden sind.

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Wenn hier die kollektive Anstrengung unternommen worden ist, nach Spuren des Traditionalen im Modernen beziehungsweise nach Einschlüssen der vernakularen (Unterschicht-)Kultur in der modernen (Oberschicht-)Kultur zu suchen, so bleibt es künftiger Forschung vorbehalten, den Spuren des Modernen im Vernakularen beziehungsweise der modernen globalen Kultur in der regionalen Alltagskultur nachzugehen. Dabei wird nach Aneignungs-, Übersetzungs- und Transformationsprozessen in der Gegenwart zu fragen sein, ja überhaupt zu klären sein, was unter dem Vernakularen in einer globalisierten Gegenwart zu verstehen ist. Da nun gegenwärtig gleichzeitig Prozesse einer stärkeren Homogenisierung und Heterogenisierung zu beobachten sind, also zugleich eine Vereinheitlichung von Kultur und ein Wiederaufleben regionaler Kulturen feststellbar ist, wird auch das Vernakulare (verstanden als etwas, das Erinnerungsmomente einer lokalen Kultur in sich trägt, ob nun simuliert, neu interpretiert oder konserviert) in seiner Ambivalenz zu erfassen sein: als etwas, das einen Ort hat, das zugleich aber immer weniger an Nation und Ort gebundenen, also global geworden ist; als etwas, das zwar eine soziale Gruppe bezeichnet, das zugleich aber für viele andere, an ganz anderen Orten verfügbar geworden ist. Wenn der Kulturanthropologe Johannes Fabian über ethnische Artefakte sagt, dass diese niemals Dinge sein werden, »die ganz einfach jemandem oder irgendwohin gehören«, so gilt das auch für Bauformen. »Ihre Zugehörigkeit und ihr Ort sind Probleme, nicht Tatsachen.«45 Zu hoffen bleibt, dass die Einsicht, dass Bauen immer im Fluss ist, dass sich Formen und Objekte durch verschiedene kulturelle Sphären bewegen, dabei neue Bedeutungen und Funktionen erhalten, also real wie symbolisch überformt werden und mit komplexen, nicht mehr notwendig im Lokalen fundierten Identitätsbildungsprozessen einhergehen, die künftige Architekturforschung dazu anregt, sich von der Konstruktion homogener, in sich abgeschlossener Gebilde und einer essentialistischen Vorstellung von Kultur zu verabschieden.

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Fabian, Johannes: »Ethnische Artefakte und ethnographische Objekte: Über das Erkennen von Dingen«, in: Moravánszky (Hg.): Das entferne Dorf, S. 21–39, S. 35.

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Binnenexotismus und Binnenkolonialismus ›Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe‹ auf der Wiener Weltausstellung von 1873

Im österreichischen Dorf: Zur Genese der Darstellung von Volkskultur als Ausstellungsformat

Bereits auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1867 zeigte sich räumlich und inhaltlich das merkwürdig janusköpfige Gesicht des noch jungen Mediums der Universalausstellungen: Fortschrittsgläubigkeit und Vergangenheitssüchtigkeit, Modernität und Traditionalismus, universelle Wissensproduktion und unterhaltendes Spektakel. Die Spezifik des Mediums liegt auf der Konjunktion »und«, die auch für die retrospektive Lektüre durch die Ausstellungskataloge und zeitgenössische Berichterstattung die analytische Herausforderung darstellt. Es geht um die Verknüpfung des Gegensätzlichen als Verbindung, das zu einer Momentaufnahme von Weltdarstellung zu einem gegebenen Zeitpunkt wird. Die Verbindung ist das entscheidende dieser Momentaufnahme. Weder nur zukunftsgewandt noch nur vergangenheitsselig, weder nur bildungsorientiert noch nur vergnügungsgarantiert, ist es die Hybridität des Mediums, die die inhärenten Sprünge, Brüche und Falten der langen Epoche der Moderne im Ausgestellten produziert. Der von dem Ökonomen und Sozialreformer Frédéric Le Play konzipierte zentrale Ausstellungspalast war die Übersetzung der inhaltlichen Konfiguration des Klassifikationssystems in eine genau dieser folgenden räumlichen Konfiguration. Ausstellung als raumdefinierendes Medium stellte sich hiermit zugleich als enzyklopädisch klassifikatorisches unter Beweis. Die Besucher sollte im Abschreiten der Galerien die Möglichkeit haben, die beiden Logiken der Klassifikation abgehen und gleichzeitig erfahren zu können: Produkte und Nationen. »Von diesem großen Feld bekam jedes Land einen Ausschnitt, wie das Stück einer Torte, das außen breit, innen spitz zulief, jedes Land nahm somit an allen Ringen Theil. Ging man von außen nach innen, so übersah man die gesammte Industrie des betreffenden Landes; bewegte man sich in dem

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Ringe, so hatte man die gleichen Industrien aller ausstellenden Ländern in klarer Uebersicht.«1 Die lückenlose Vergleichbarkeit machte den unterschiedlichen Industrialisierungsstand der verschiedenen Länder offensichtlich. Nicht in allen Ringen konnten alle Länder mit Vergleichbarem aufwarten. Die Logik des Systems manifestierte sich in den Lücken derer, die diese Logik so nicht erfüllen konnten. Genau dies war mit ein Grund für eine parallel entstehende, in der Geschichte des Mediums Weltausstellung ebenso wichtige Raumkonfiguration: der Ausstellungspark.2 In diesem Ausstellungspark konnten sich jene Länder, die in der allgemeinen Klassifikation der Weltausstellung mit ihren 10 Klassen, weiter unterteilt in achtzig Gruppen, aufgrund ihrer industriellen Lage unterrepräsentiert waren, ihr eigenes Gestaltungsmodell schaffen: »Rußland hatte ein ganzes Dorf errichtet mit Stallungen und Bauernhäusern, in denen Nachmittags und Abends Aufführungen von Kosacken und Tscherkessen stattfanden, in denen russische Bauernkapellen spielten, Stutenmilch und bäuerliche Spitzen verkauft wurden. Den allergrößten Aufwand trieb der Vicekönig von Aegypten, der damals in den Geldern des Suezkanals schwamm: Moscheen, Cafés, Nachbildungen berühmter Bauwerke mit nubischen und äthiopischen Tänzern und Tänzerinnen. Für Österreich begann der Triumphzug des leichten Dreher’schen Bieres: große Holzhäuser in Tyroler und steyrischer Art, die Wirtshäuser der Pußten mit Zigeunerkapellen. An allen Ecken und Enden waren Verkaufsstätten, Buden, Theater.«3 Die Darstellung der europäischen Volkskultur wurde in diesen Schauarrangements den gleichen Regeln der Exotisierung, Folklorisierung und Unterhaltsamkeit unterworfen wie die außereuropäische. Der Reiz des Fremden oder Unbekannten war in der geografischen Ferne wie Nähe der gleichen Äquidistanz der Entdeckerlust ausgesetzt. Für einen internationalen Radius konzipiert, den Zeitgeist gleichzeitig einfangend wie reflektierend, kristalli1

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Lessing, Julius: Das halbe Jahrhundert der Weltausstellungen. Vortrag gehalten in der Volkswirthschaftlichen Gesellschaft zu Berlin, März 1900, in: Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 174 (Jahrgang 22, Heft 6), S. 18. Ein zeitlicher Längsschnitt durch die Konfiguration Ausstellungspark, die von zeitgenössi schen Berichterstattern, wie Victor Fournel, als »kolossaler Vergnügungspark« beschrieben wurde, führt bis zu heutigen Vergnügungsparks und Themenparks. Die Inszenierung der Anderen haben in Themenparks eine Tradition, deren Beginn sich hier auf dem Marsfeld der Pariser Weltausstellung 1867 markieren lässt. Die von Zoos und Menagieren veranstalteten Menschenschauen mit ihren afrikanischen Dörfern, Walt Disneys Studium europäischer Märchenausgaben oder Indianerspiele in Legoland lassen sich in diese Traditionslinie ebenso einordnen wie der Slum-Themenpark in Americus Georgia, initiiert von Habitat für Humanity International, der Lebensbedingungen in verschiedenen Slums von Asien, Afrika und Lateinamerika möglichst originalgetreu, wenngleich nicht zu realistisch, nachstellt. Ebda., S. 19.

Binnenexotismus und Binnenkolonialismus

sieren sich Strategien der Authentifizierung für ein Weltpublikum heraus. Das österreichische Dorf auf dem Marsfeld der Pariser Weltausstellung kann historisch als Indiz für zeithistorische mentalitätsgeschichtliche Gemengelage gelesen werden. Von der zeitgenössischen Berichterstattung wurde die raumgewordene Bildproduktion genauso rezipiert: als »Resümee der gesamten Monarchie«.4 Das Regionaltypische und die Realinszenierung standen im Vordergrund der einzelnen Gebäude des österreichischen Dorfs. »Ein lebhaftes Interesse erregte die österreichische Abtheilung im Parke. Der Kaiserstaat, der in seinem Banne so verschieden geartete Nationalitäten und mannigfaltige Sprechweisen einschließt, hat in dieser Eigenart seinen Völkerschaften Rechnung getragen. (…) Sie (die Österreicher) ergriffen den Vorschlag nicht vom volkswirthschaftlichen, sondern vom ethnographischen Standpunkte; so haben sie nicht Häuser, wie sie sein sollen, sondern wie sie wirklich in den österreichischen Kronländern fur den kleinen Besitz (…) in voller Größe zur Anschauung gebracht. Es befinden sich hier ein tiroler, ein ungarisches, ein niederösterreichisches und ein böhmisches Haus.«5 Kulturelles Wissen wird auf den Weltausstellungen gleichermaßen selbstverständlich vorausgesetzt wie bewusst aktivierend und zitierend eingesetzt. Die Strategie des Ausstellens verwandelt kulturelle Artefakte in Repräsentationsobjekte, die ein Wissen um sich selbst zugleich eingeschrieben haben wie deutlich lesbar machen. Dieses Wissen wird funktionstüchtig gemacht auf der Ebene der gestalterischen wie symbolischen Repräsentation. Es ist ein kulturelles Wissen, das im Akt der gestalterischen Konstruktion der Ausstellungsarchitekturen gleichermaßen entsteht und aktiviert wird. Diese Doppelfigur verdeutlicht, dass man sich im Bereich des kulturellen Wissens in einem umkämpften Terrain des Produzierten befindet, umso mehr, wenn es sich um offizielle Repräsentationen für ein Publikum, zum Teil mit ökonomischem Erfolgsdruck, wie für die Teilnehmer im Ausstellungspark, in dem konsumiert werden konnte – und sollte. »Cultures are not scientific ›objects‹ (assuming such things exist, even in the natural sciences). Culture, and our views of ›it‹, are produced historically, and are actively contested.«6 Auf diesem Jahrmarkt des Wissens, wie er sich im Ausstellungspark von 1867 manifestiert und in Folge für den Ausstellungspark der Wiener Weltausstellung von 1873 konstitutiv werden wird, zeigt sich, wie das Nationale, das Typische, das Regionale, das kulturell Identifizierbare und lokal Zuschreibbare zum massenkulturell tauglichen Ingredienz zwischen Vergnügen und Belehrung wird.

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L’exposition universelle de 1867 illustrée. Ducuing, M. F. (redacteur en chef); Paris, 1867. Leipziger Illustrirte Zeitung, 4. Mai 1867, S. 312. Clifford, James: »Introduction: Partial Truths«, in: ders.: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley u. a.: Univ. of California Press, 1986, S. 18.

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Ein zeitgenössischer Kommentator sah in dieser Entwicklung eine Gefährdung des ursprünglichen, eigentlichen Ziels der Weltausstellung, der Förderung des Gewerbefleißes durch akkumuliertes, international vergleichbares Wissen als Produktionsstimulus: aus dem »ernsthaften Unterricht«war »ein triviales Spiel« geworden.7 War der Universalismus des philosophischen Projekts der Aufklärung ein genealogischer Vorfahre des Mediums Weltausstellung, so ist der Jahrmarkt mit seiner seit dem Mittelalter bestehenden popularen Seite des Vergnügens durch Schausteller, Gaukler, Wahrsager oder Musikanten, ein anderer. Immer sind es diese Doppelfiguren, die das Medium Weltausstellung vorantreiben, zwischen »gehobener« Kultur und »Volkskultur«, zwischen Forschung und Folklore.8 Vom maurischen Bad über eine Karawanserei mit echten Kamalen bis hin zu einem japanischen Kiosk reichte die Weltreise im Ausstellungspark von 1867. Doch nicht nur dem Darstellungsbedürfnis der Kolonialmächte wurde hier Rechnung getragen,9 es wurden auch »kleine Völker« in offiziellen Ausstellungsgruppen präsentiert, etwa im »österreichischen Dorf«, das zur 10. Ausstellungsgruppe zählte: »Objets spécialement exposés en vue d’améliorer la condition physique et morale de la population.«10 Das österreichische Dorf auf dem Pariser Marsfeld wurde gestaltet nach Plänen des Architekten Weber. Zentrales Gebäude war die Bierhalle der Firma Dreher. In einem Oval waren die kleineren regionaltypischen Gebäude angeordnet, ein Oberösterreicherhaus, eine böhmische GlasschleifHütte, eine Wiener Bäckerei, eine ungarische Csarda und ein Tiroler Haus. Die Firma Heinrich Drasche war mit Terrakotten vertreten, ein Holzturm repräsentierte die kaiserlichen Forste und der Textilfabrikant Liebig hatte ein Arbeiterhaus errichtet.11 Der geografische Radius der österreichisch-ungarischen Monarchie präsentierte sich im Ausstellungspark als Ensemble von Einzelpavillons. Die Nähe zu den als exotisch wahrgenommenen Vierteln, in denen die anderen europäischen Großmächte ihre kolonialen Territorien präsentierten, verweist auf die Figur eines innereuropäischen Exotismus, der

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Chandler, Arthur: »Paris 1867. Exposition universelle«, in: Findling, John E. (Hg.): Historical Dictionary of World’s Fairs and Expositions 1851–1988. New York u. a.: Greenwood Press, 1990, S. 34. Reinhard Johlers Vortrag »Primitivismus als Programm (und als Problem). Die volkskundliche Entdeckung der ›Volkskunst‹« bei der Internationalen Tagung »Oberflächenkontrolle. Zum Thema Ornament«, Institut für Kunst und Gestaltung der TU Wien, 13.–14. 1. 2006, setzte sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen erster und zweiter Kultur als Hierarchisierungsproblem und als Inspirationsressource auseinander. Die vier Quartiere des Ausstellungsparks umfassten ein französisches, englisches, belgisches und ein deutsches Viertel. Exposition universelle de 1867. L’Enquete du dixième groupe. Catalogue analytique. Paris 1867, zit. nach Wörner, Martin: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900. Münster u. a.: Waxmann 1998, S. 30. Exposition universelle de 1867, S. 365.

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die darwinistische Evolutionsbiologie als kulturelle Figur liest.12 Das, was als zivilisatorisch rückschrittlich, als weniger industrialisiert, im eigenen europäischen Territorium wahrgenommen wird, wird zum einen exotisiert, zum anderen zur Quelle des authentischen kulturellen Ausdrucks. Dieser Binnenexotismus, der die Alterität in der geografischen Nähe sucht und das Andere als Konstituens des Werdens des Eigenen verwendet, korreliert mit einem Binnenkolonialismus,13 der vor allem für die Ausstellung der Bauernhäuser auf dem Gelände der Wiener Weltausstellung 1873 eine entscheidende Analysefigur darstellt.14 Ausstellung als Strategie der Veröffentlichung und des Sichtbarmachens, der räumlichen Festschreibung und des Identifizierens, schafft kulturelle Tatbestände für den Moment der Repräsentation, der als Prozess der Identitätsproduktion zu lesen ist. Dieser Erzeugungsprozess von Identität wird zur Folie der Verfügbarkeit über Kulturelles, das entdeckt wird. Treffen sich die Entdeckerlust und die Machbarkeitsphantasien, dann ist der koloniale Anspruch der Bereicherung nicht weit. Kultur wird zur Ressource, die im Schauwettkampf auf dem Weltausstellungsgelände zum visuellen und räumlichen Faszinationsvorteil wird. Das Entlegene kann zur kapitalen Ressource aufsteigen. In dieser ambivalenten Figur wird es für die Konstellation der österreichisch-ungarischen Monarchie auf dem Gelände der Weltausstellungen möglich zwischen Zentren und Peripherien ausgleichend zu agieren. »Dieser Staat bemühte sich«, so Stefan Muthesius, »innerhalb der Kronländer, das heißt also innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, die selbst einen Vielvölkerstaat darstellte, die einzelnen politischen Nationalismen nicht zu stark zu betonen. (…) Eine nationale Eigenart sollte nur den entlegenen Volksgruppen zugesprochen werden, und nur im Bereich dessen, was man später Volkskunst nannte.«15 Die Strategie der Binnenkolonialisierung verfolgt die Identifizierbarkeit von kultureller Eigenständigkeit als symbolisches Kapital für die Logik des Aus-

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Im Jahr 1859 war On the Origin of Species von Charles Darwin erschienen, 1860 erfolgte die erste deutsche Übersetzung. Vgl. Plener, Peter: Sehnsüchte einer Weltausstellung – Wien 1873, http://www.kakanien.ac.at/ (17. 2. 2009) Vgl. www.kakanien.ac.at; kann man angesichts des vielfach mythisierten Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn um 1900 von »Binnenkolonialismus« sprechen? Oder, anders gefragt, inwieweit können Theorien und Analysen der sog. Post /Colonial Studies dazu beitragen, das komplexe Verhältnis von Herrschaft, »Ethnien« und Kultur/en in Zentraleuropa neu zu fassen? Die postkoloniale Theorieproduktion von Homi K. Bhabha, Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak wird hier als Referenz für die Untersuchung binnenkolonialer Phänomene in Zentraleuropa herangezogen. Muthesius, Stefan: »›An der Spitze des Geschmacks dürfen wir keine nationalen Elemente erwarten ...‹ Erwägungen zu Universalismus und Nationalismus im Kunstgewerbe des späten 19. Jahrhunderts«, in: Purchla, Jacek / Tegethoff, Wolf (Hg.): Nation, Style, Modernism. (CIHA Conference, September 2003) Kraków/ München: International Cultural Centre Kraków/Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, 2006, S. 25–32, S. 28.

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stellens, nicht jedoch als politischen Anspruch. Die verspätete16 Nationwerdung im Politischen sollte dann die Fragen des Kulturellen als spezifisch Verfügbares für Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Ende der Monarchie, wiederum brisant werden lassen. Kultur und Bildung: das Thema der Wiener Weltausstellung 1873

»Auf 233 Hektar, einer fünfmal so großen Fläche wie bei der vorangegangenen Weltausstellung des Jahres 1867 auf dem Pariser Marsfeld, entfaltete die Wiener Weltausstellung im grünen Areal des Praters ihre gigantische Bildungslandschaft.«17 Die räumliche Konfiguration der Wiener Weltausstellung von 1873 wählte die geografische Lage in der Welt als Ausgangspunkt für die Zuordnung der Ausstellerländer im Industriepalast. Die Industriehalle als zentrales Ausstellungsgebäude sollte den Großteil der Ausstellungsexponate aufnehmen. Der Vorteil der fischgrätenartigen Anlage lag in einer gleichmäßigen Beleuchtung der Ausstellungsflächen und der Möglichkeit einer geografischen Anordnung der Nationen nach Himmelsrichtungen.18 Die fernöstlichen Länder waren demzufolge im Ostteil, die usa im Westteil und die österreichisch-ungarische Monarchie platzierte ihre beiden Reichshälften in getrennten Unterabteilungen. Neben die riesige Anlage des Industriepalasts mit der zentralen Rotunde wurde die bereits auf der Pariser Weltausstellung so erfolgreich erprobte Figur des Ausstellungsparks intensiviert und gesteigert. Das offizielle Thema der Ausstellung lautete »Kultur und Bildung«19, die wirtschaftliche, industrielle, technologische, wissenschaftliche, künstlerische und kulturelle Produktion der 35 teilnehmenden Länder20 wurde in 26 Gruppen mit 174 Sektionen eingeteilt. Durch dieses Thema von Kultur und Bildung sah sich die vielgestaltige und heterogene österreichisch-ungarische Monarchie im Wettbewerbsvorteil zu den industrialisierten Nationen

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Zum Begriff der verspäteten Nation am Beispiel Deutschlands vgl. Plesser, Helmuth: »Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes« (1935), in: Dux, Günter/Marquard, Odo/Ströker, Elisabeth (Hg.): Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften. Bd. VI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 11–233; siehe auch Binder, Dieter A. / Bruckmüller, Ernst: Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2005. Krasny, Elke: »Auf Spurensuche in der Landschaft des Wissens. Die Wiener Weltausstellung von 1873 im Kulturleben der Gegenwart«, in: Welt Ausstellen. Schauplatz Wien 1873. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Technischen Museum Wien, 28. Oktober 2004 bis 27. Februar 2005; Wien: Technisches Museum Wien, 2004, S. 55–71, S. 56. Pemsel, Jutta: Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt. Wien / Köln: Böhlau, 1989, S. 35. Vgl. Schröder-Gudehus, Brigitte / Rasmussen, Anne: Les Fastes du Progrès. Le guide des Expositions universelles 1851–1992. Paris: Flammarion, 1992, S. 84. Unter anderem waren das Chinesische Kaiserreich, Siam, Persien, die Türkei, das Vizekönigreich Ägypten, Tunesien, Marokko, das Japanische Kaiserreich, aber auch französische Kolonien wie Guadeloupe oder Madagaskar und englische Besitzungen wie Mauritius, Trinidad, Jamaika, Ceylon oder die Bahama-Inseln vertreten.

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Europas und zugleich konnte der diplomatischen Strategie, Wien als Drehscheibe zwischen Okzident und Orient mit dem Kultur- und Bildungsthema Rechnung getragen werden. »Die Überzeugung brach sich Bahn, daß wie der Orient vom Occident, so auch dieser von jenem unendlich viel zu lernen vermöge.«21 Das Verfügen über Kultur, wird zur Weltbildung. Der Bildungsanspruch wird zugleich zur Strategie des Lernens und Formierens durch Kultur selbst. Das Vorzeigen von Kultur ist das Bildungserlebnis fur die Augen der anderen. Wettbewerb in Sachen Kultur bildet die Erzeugung von Repräsentativem. Jedoch, mindestens ebenso wichtig, konnte der Bildungsanspruch als Binnenstrategie etabliert werden, als Nachholbedarf fur die weniger fortschrittlichen, weniger industrialisierten Regionen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die koloniale Dichotomie als kulturelles Erleben analysiert Homi K. Bhabha in der Derridaschen Denkfigur des »entre«: »It is the horizon of holism towards which cultural authority aspires, that is made ambivalent in the colonial signifier. To put it succintly, it turns the dialectical ›between‹ of cultures’ disciplinary structure – between unconscious and conscious motives, between little indigenous categories and conscious rationalization, between little acts and grand traditions. In James Boon’s words – into something closer to Derrida’s ›entre‹ that shows confusion between opposites and stands between the oppositions at once.«22 Die Spielregeln der kulturellen Autorität erweisen sich im Medium Weltausstellung als disziplinierende Inklusionsstrategie mit dem Recht auf eigenen Auftritt nach den Regeln des Mediums, welche wiederum regional kulturell interpretiert und angeeignet wurden. Wiewohl Wiedererkennbarkeit als Strategie der kulturellen Identifikation zentral war, folgen die gestalterischen Maßnahmen der Repräsentation nicht immer dem im Wissen der Anderen Vorausgesetzten. Der Umgang mit Klischee und Vorwissen, Zuschreibungen an sich selbst durch andere und an die eigene kulturelle Identitätsproduktion durch sich selbst sind ambivalenter und komplexer.23 Räumlich wie inhaltlich sucht die kulturelle universalistische Deutungsanstrengung im Medium Weltausstellung, das ambivalente Dazwischen in erkennbare Differenzen und Vergleichbarkeiten zu verwandeln. Die Unterschiede sollten sich markieren, aus ihnen resultierte die Schaulust. Zugleich wurden die Unterschiede zum kulturellen Kapital der eigenen Identifizierbarkeit im Repräsentationshaushalt der kulturell möglichen Zeichen. 21 22 23

Oncken (Anmerkung 1), S. 16. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London, New York: 1994, S. 182. Vgl. Çelik, Zeynep: Displaying the Orient. Architecture of Islam at Nineteenth-Century World’s Fairs. Berkeley, Los Angeles, Oxford: Univ. of California Press, 1992, insbesondere »Search for Identity: Architecture of National Pavilions«, S. 95–138.

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An die 200 Pavillons und Gebäude luden im Ausstellungspark zum Besuch. »Eine schier unermeßliche Fulle von Firmenpavillons, landestypischen Wohnbauten, nationalen Restaurants, Kaffeehäusern, Imbissständen, Arkaden, Passagen und allen möglichen anderen Bauten breitete sich in dem Park mit seinen Ruhezonen, Wasserspielen und Baumgruppen aus.«24 Auf dem Gelände der Weltausstellungen wurde die Nationalitätenfrage des Vielvölkerstaates der Monarchie als Frage des Stils gleichermaßen gelöst und in die kulturelle Repräsentation verschoben. »Wir sehen da die golddurchwebten kronenartigen Hauben, welche die Frauen Steiermarks zum Sonntagsputze tragen, die schwere, braune Lodenjacke Tirols reich mit bunter Stickerei bedeckt, da sind die silberglitzernden Mützen, die Gürtel, die gewebten Teppiche Dalmatiens; da sind die gestickten Bauernhemden, Schürzen, Kopftücher, die faltigen Halskrausen, die golddurchwirkten Mieder und seidenen Unterleibchen, die viele Ellen lange Strümpfe, die uns theils Mähren, theils Schlesien zugesandt.«25 Ausgestellt waren diese Produkte im Pavillon der Frauen-Arbeiten. Die hier etablierte Vielfalt wird 20 Jahre später zur Argumentationsstrategie der systematischen Erfassung und Erforschung für Alois Riegl. Was auf der Wiener Weltausstellung von 1873 eine sinnlich und direkt greifbare Akkumulation des Weltwissens in all seinen Regionen durch Anschauung deren Produkte ist, wird für Riegl zum Impetus der Forschungsstrategie. Die Volkskunst wird mit ihrer begrifflichen Festschreibung, nicht zuletzt im Medium Weltausstellung, rasch zur Frage des Festzuschreibenden und Fixierenden. Ausstellen und Festschreiben, Entdecken, Systematisieren und Ordnen sind die Figuren der disziplinären Verlängerung des »exhibitionary complex«, von dem Tony Bennett spricht. Wird aus dem flüchtigen Moment des Ausstellens die permanente Fixierung als Festschreibung, so ist der Prozess des auswählenden Werdens, der im Vorfeld die Identitätskonstruktion vorantreibt, unterbrochen durch die musealisierte Festschreibung. Das, was die regionalen kulturellen Hervorbringungen jeweils auszeichnet, wird somit dem als authentisch festgehaltenen und wissenschaftlich fixierten in einer kulturellen Hierarchisierung wertend gegenübergestellt. »Insbesondere in Oesterreich-Ungarn, wo die Verhältnisse zur Erkundung der Volkskunst nach ihren interessantesten Richtungen selbst heute noch in verhältnismäßig günstigem Maße zu Lage liegen, wird man nicht länger

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Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt am Main u. a.: Campus, 1999, S. 91. Vgl. Riegl, Alois: Volkskunst, Hausfleiss und Hausindustrie, Berlin: Siemens, 1894. Riegls Untersuchung eröffnete eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion um die Faktoren, die für eine kategoriale Trennung von Volkskunst und Hochkunst genannt werden können.

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zögern dürfen, die Ueberbleibsel der in ihrem Wesen, Umfang und ihrer Bedeutung klar erkannten Volkskunst zum Gegenstande eines systematischen Studiums und genauester literarisch-artistischer Fixirung zu machen und damit eine Ehrenschuld nicht bloß gegenüber sich selbst das heißt den Völkern der Monarchie, sondern auch gegenüber der Wissenschaft und gegenüber der ganzen Menschheit einzulösen.«26 Die Argumentation von Aglaja Enderes, der Katalogautorin für den Pavillon der Frauenarbeiten, zielt auf die universelle Inklusivität des Mediums Weltausstellung. Für ein komplettes »Bild der Culturbestrebungen der Jetztzeit« durften »im Gewebe von Mühe, Erfindungsgabe und Thatkraft, das wir derzeit als menschliche Leistungsfähigkeit kennen«27, die Erzeugnisse von Frauen nicht fehlen. Die Argumentationsstrategie lässt sich auch auf die Präsentation der Bauernhäuser anwenden. Auch hier ging es um die Komplettheit des Bildes, um die gesamten kulturellen Bestrebungen, die dem programmatischen Anspruch nach möglichst lückenlos erfolgen sollten. Der enzyklopädische Anspruch des Gesamten, das auf Inklusion und Integration von marginalisierten Gruppen in der Repräsentation abzielt, konvergiert mit dem Anspruch des Enzyklopädischen, diese Gruppierungen mittels derer für ihre Lebenswelt typischen und somit repräsentativen Artefakte zu zeigen. Fordert die Schaulust das Besondere, das Exzeptionelle, das Spektakuläre, so verlangt der Modus Ausstellung nach dem Paradigmatischen, dem Typischen, in dem das Einzelne für eine Serie des Gleichen stellvertretend steht. Die umfassende Darstellung der bäuerlichen Lebenswelt sollte mittels des Typischen als Repräsentationsgestus gelöst werden. Die tatsächliche Umsetzung dieses ideengeschichtlichen Anspruchs des Mediums Ausstellung erzählt die Geschichte von lokalen Differenzen und lokalspezifischen Interpretationen, von Übersetzungen des Eigenen in dieses Medium und von einer Bildwerdung des SichEntwerfens für die Augen von anderen, die sich im Raum ausdrückt. Im Internationalen Dorf

Regionaltypische Architekturen waren bereits im Pariser Ausstellungspark 1867 auszumachen gewesen. Für das Programm »Kultur und Bildung« wurden sowohl das bürgerliche Wohnhaus wie auch das Bauernhaus als Gruppe 19 und Gruppe 20 Teil des offiziellen Ausstellungsprogramms. Das bürgerliche Wohnen wurde im Ausstellungsgelände nur rudimentär präsentiert. Wiewohl in der Ausstellungsgruppe des Bauernhauses insgesamt nur wenige Häuser, die gleichermaßen Ausstellungsobjekt wie Display für weitere Objekte waren, vertreten waren, erfreuten sich diese größter Beliebtheit: »Eine der 26 27

Riegl: Volkskunst, Hausfleiss und Hausindustrie, S. 5f. Enderes, Aglaja von: Catalog für die Ausstellung österreichischer Frauen-Arbeiten. Wien 1873, S. I.

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Hauptattraktionen nicht nur des Parks, sondern der gesamten Ausstellung war das Ethnographische Dorf‹, das die traditionellen Lebensformen, Bauweisen und Kulturen verschiedener Regionen Südosteuropas – Siebenbürgen, Ungarn, Rumänien, Kroatien, Galizien und den Alpenregionen – veranschaulichte.«28 Gezeigt werden sollte laut Programm »Das Bauernhaus mit seinen Einrichtungen und seinem Geräthe: a) ausgeführte Gebäude, Modelle und Zeichnungen von Bauernhäusern der verschiedenen Völker der Erde; b) vollständig eingerichtete und mit Geräthen ausgestattete Bauernstuben.«29 Wie der Berichterstatter, der Literaturhistoriker Karl Julius Schröer,30 »protestantischer Germanist aus Preßburg, der für die Erforschung der Deutschen in Ungarn, vor allem für die Erfassung von deren Mundarten, viel geleistet hatte«,31 argumentiert, konnte die Intention dieser Ausstellungsgruppe auf drei verschiedene Arten aufgefasst werden: »die Baukunst für landwirthschaftliche Zwecke zu haben; (…) Es konnte aber auch der Zweck sein, der naiven volksmäßigen Baukunst künstlerische Motive abzugewissen und dieselben stilistisch idealisirt zur Anschauung zu bringen. Es konnte endlich die Absicht sein, bestimmte Anwesen, wie sie in Wirklichkeit sind, zur Anschauung zu bringen.«32 Diese Darstellung der Wirklichkeit, die als zentrales Ausstellungsanliegen ausgemacht wird, verbindet sich zum einen mit einem »belehrenden, enthographischen Zweck«, aber auch damit, »den wichtigen Stand der kleineren Landwirthe in den Wettkampf der Völker mit heranzuziehen und dessen Teilnahme lebendig anzuregen.«33 Lokale Ausstellungskommissionen, Handels- oder Gewerbekammern übernahmen die Finanzierung dieser Ausstellungsbeiträge. Vor allem die industrieschwachen Regionen der österreichisch-ungarischen Monarchie fanden hier ihre Darstellungsmöglichkeiten. Insgesamt war jedoch nur eine höchst geringe Anzahl von Bauernhäusern tatsächlich auf dem Terrain der Weltausstellung zu sehen: »Das sächsische Bauernhaus aus Michelsberg in Siebenbürgen; das deutsche Bauernhaus aus Geidel in Ungarn; das Szekeler Bauernhaus aus Siebenbürgen; das rumänische Bauernhaus aus Oravicza im Banat; das Vorarlberger Bauernhaus; das Elsässer Bauernhaus; das russische Bauernhaus; das galizische Bauernhaus; das kroatische Bauernhaus.«34 28 29 30

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Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 91. Schröer, K. J.: Das Bauerhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe, Gruppe XX. Wien 1874, S. 1. Wiewohl dieser Text von Karl Julius Schröer sowie die Ausstellung der Bauernhäuser selbst einen wichtiges Moment in der österreichischen Volkskunde darstellt in der Hinwendung zur Haus- und Geräteforschung, analysiert der Literaturhistoriker Schröer die Bauernhäuser nicht vorrangig in Hinblick auf ihre bauliche, konstruktive oder stilistische Eigenart, sondern hinsichtlich der Begriffe und regionalen Bezeichnungsunterschiede. Pemsel: Die Wiener Weltausstellung von 1873, S. 70. Schröer: Das Bauernhaus, S. 2. Ebda. Ebda., S. 3.

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Wiewohl die Internationalität dieses von Wilhelm Schwarz-Senborgn, dem Generaldirektor der Weltausstellungskommission, initiierten »Inter-nationalen Dorfes«35 zu wünschen übrig ließ, erfreute sich die kleine Anzahl von Bauernhäusern höchster Beliebtheit, konnten sich in der Attraktionsskala durchaus mit dem japanischen Garten oder dem orientalischen Viertel messen. Exotismus der Nähe und Exotismus der Ferne galten dem Ausstellungspublikum gleich viel. Die Attraktivität liegt im Sicherheitsabstand, der der Vergewisserung des Eigenen ebenso Vorschub leistet wie der reiselosen Entdeckungslust, die auch dadurch, dass manche der Ausstellungsbauernhäuser, wie das Geideler Haus, das Vorarlberger Haus oder das sächsische Haus aus Siebenbürgen, die ganze Zeit über bewohnt waren, noch gesteigert wurde. »Die Thatsache läßt sich nicht in Abrede stellen, daß die wenigen Bauernhäuser, die auf dem Ausstellungsplatze zu sehen waren, auf die Besucher eine außerordentliche Anziehungskraft übten. Es war in der That auffallend, daß kaum ein anderer Gegenstand der Kunst und des Gewerbefleißes, daß alle Pracht aller Glanz kaum so ungetheilte Theilnahme erregten, als die schlichten Häuser überm ›Heustadelwasser‹.«36 Wo welche Ausstellungsensembles auf dem Gelände der Weltausstellung zu finden waren, ist nicht deckungsgleich mit der Frequentiertheit oder Beliebtheit bei den Besuchern und Besucherinnen. Allerdings sagt die Positioniertheit im Ausstellungsareal sehr viel aus über die symbolische Ordnung und die öffentliche Repräsentationskraft. So ist die exponierte Randlage der ausgestellten Bauernhäuser beim sogenannten Heustadelwasser, einem Arm der Donau, der seit der Donauregulierung 1875 als Altarm weiter besteht, aussagekräftig für die politische wie kulturelle Logik der Repräsentation, die sich räumlich artikuliert. Der Beliebtheit beim Publikum konnte die entfernte Lage im Ausstellungsareal jedoch keinen Abbruch tun. In den Augen des zeitgenössischen Berichterstatters erfüllten nur zwei der Häuser den gestellten Anspruch der Wirklichkeitsnähe: das sächsischsiebenbürgische und das Geideler Haus. Das Spannungsverhältnis der Ethnien der österreichisch-ungarischen Monarchie lässt sich auch daran ablesen, dass viele der Bauernhäuser von deutschsprachigen Minoritäten in der jeweiligen Umgebung zur Weltausstellung entsandt wurden, so auch die beiden genannten aus Siebenbürgen und aus Ungarn. Beide dieser Häuser waren in entsprechender, ortsüblicher Weise eingerichtet, während der ganzen Ausstellungszeit bewohnt, »und die Aussteller haben in beiden Häusern je eine Brochure für den Zweck schreiben und in Druck legen lassen, die jede nöthige Aufklärung enthalten.«37 Bewohnt

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Allgemeines Verwaltungsarchiv, HM, WWA 1873, Fasz. 1, Zahl 242. Schröer: Das Bauerhaus, S. 3. Ebda., S. 4.

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wurde das siebenbürgisch-sächsische Haus von den »Bauersleuten Johann Krafft und seiner Gemahlin Anna, geborene Hann, mit ihrem dreijährigen Töchterlein Anna.«38 An das Original kam dieses Haus fast heran, es ist »nur insofern Imitation, als es ein Haus aus Backsteinen, wie sie an Ort und Stelle sind, darstellte, aber aus Holz mit Mörtel verkleidet ist. Das Geidler hingegen war Urerzeugnis aus Baumstämmen des Geidler Waldes gezimmert, von dem Inwohner desselben selbst auf dem Ausstellungsplatze aufgezimmert.«39 Die ethnischen Spannungsverhältnisse der Binnenkolonialisierung der österreichisch-ungarischen Monarchie manifestieren sich auch in diesem Mikroausschnitt der gesamten Weltausstellungsszenerie: wird das siebenbürgisch-sächsische Haus als »freundlich« charakterisiert, so jenes aus Geidel als »traurig«. Die emotionale Wertung ist eine kulturelle und in letzter Instanz eine politische. »Es wurde oben das Haus des siebenbürgischen Deutschen als das eines freien deutschen Mannes bezeichnet und im Gegensatze zu demselben das aus Geidel als das Haus eines deutschen Heloten. (…).«40 Bewohnt wurde das »von Eingebornen in üblicher Weise gezimmerte« Geideler Haus, dessen Echtheit und Ursprünglichkeit der Berichterstatter nicht müde wird zu betonen, von Andreas Steinhäusler.41 »Authenticity was a primary goal«,42 schreibt Zeynep Celik in ihrer Analyse der orientalischen Weltausstellungsauftritte über die Beteiligung des Orients an der Wiener Weltausstellung. Dieses Ziel lässt sich ebenso für die Präsentation der Bauernhäuser feststellen. Authentizität wurde zur zeitgenössischen Leitfigur. Die universalistische Ausrichtung der Weltausstellungen erweiterte die Dichotomie zwischen exotisch und zivilisiert, archaisch und fortschrittlich nun um die Figur: einfach/ursprünglich und komplex/entwikkelt. In dialektischer Wendung taucht genau diese Dichotomie in dem Verhältnis zwischen Volkskultur und Avantgarde wieder auf. Das Ursprüngliche wird zur Inspirationsquelle, zur Ideenressource für die Avantgarde und unterstreicht nochmals das binnenkoloniale Verhältnis zu europäischen Regionen in dieser Wissensaneignung, in der entfernte Regionen der österreichischungarischen Monarchie, die Bretagne oder die Präsentationen außereuropäischer Kunst, aus Afrika oder Ozeanien, die auf späteren Weltausstellungen, wie der in Paris 1900 erfolgte, zu imaginationsbeflügelnden Inspirationsformenlieferanten werden.43 Die Inspirationskraft, die diesem Ursprünglichen, 38 39 40 41 42 43

Ebda., S. 11. Ebda., S. 4. Ebda., S. 17. Ebda., S. 20. Çelik: Displaying the Orient, S. 106f. Vgl. Martin Wörner zu »Volkskunst und Avantgarde« in: ders.: Vergnügung und Belehrung, S. 221–222 und die hier angeführte Literatur; im Speziellen auch Connelly, Frances S.: The Sleep of Reason. Primitivism in Modern European Art and Aesthetics 1725–1907. Pennsylvania: Pennsylvania State Univ. Press, 1905.

Binnenexotismus und Binnenkolonialismus

Entlegenen, Anderen zugeschrieben wird, beflügelt zum einen die Kunst- und Kunstgewerbeproduktion, aber auch die Sammelleidenschaft und Systematisierungslust der Ethnologie oder Anthropologie.44 Enzyklopädie trifft Wa(h)re Welt

Mit Museen und Galerien institutionalisierten sich im ausgehenden 18. Jahrhundert innovative bürgerliche Kommunikationsformen, die die Präsentation und Veröffentlichung über Kunst, Waren, Wissenschaft oder Erfindungen als räumliche Wissensproduktion hervorbrachten: im Medium Ausstellung. Dieses war gleichermaßen für den Kunstbetrieb wie für Handel, Gewerbe, Technik, Erfindungen und Industrie bedeutsam und führte in die Relationen zwischen Menschen und Dingen, zwischen Vorstellungen und Wissen die Dimension der Öffentlichkeit ein. Die Präsentation der Ausstellungen bringt Betrachter und Betrachtete, Ausstellungsbesucher und Ausstellungsobjekte in einem gemeinsamen Raum zusammen und setzt das Schauen mit dem Erfahren in ein neues Verhältnis direkter physischer Anschaulichkeit. Das Wissen um die Zusammenhänge entsteht für die WeltausstellungsbesucherInnen durch die Lektüre45 des auf dem Ausstellungsareal Gebotenen im Abgehen und Verweilen. Das, was das große Aufklärungsprojekt der Enzyklopädie von Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot im Format des Buchs als Versammlung des Weltwissens in 60.000 Artikeln von fünfzig verschiedenen Autoren zugänglich machte, transformierte das Medium Ausstellung im 19. Jahrhundert in die Sinnlichkeit und Haptik der Dreidimensionalität. Die Systematik, die die Enzyklopädie als Ordnung erfand, mit einem System der Verweise und Bezüge, in dem die einzelnen Artikel mit Sigeln, die jeweils die übergeordnete Wissenschaft bezeichnen, zueinander referenziert werden, wird für das Klassifikationsschema der Gruppen und Untergruppen der Weltausstellung relevant. In der enzyklopädischen Veranschaulichung im Raum, im Sprung von den blätternden Seiten zu den orientierenden Schritten, von den Kupferstichen zu den realen Artefakten und Bauten, wird der Zugriff auf das Wissen, das Format der Wissensproduktion, anders. Ist die Schrift dem Logos und dem Wissenschaftsfeld zuzuteilen,

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Auch der Atlas Das Bauernhaus in Österreich-Ungarn und in seinen Grenzgebieten, der vom österreichischen Ingenieur- und Architektenverein 1906 herausgegeben wurde, ist dieser Kategorie der systematisierenden, nach dem Ursprünglichen suchenden Sammlung zuzurechnen. Zu dem Begriff der Lektüre in rezeptionsästhetischer Hinsicht vgl. auch Assmann, Aleida (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Fischer, 1996; insbesondere ihre Einleitung »Metamorphosen der Hermeneutik«, S. 7–26. Die Vorstellung des schreibenden Lesens, die Assmann einführt, lässt sich in Hinblick auf die Lektüren auf Weltausstellungsschauplätzen in ein gehendes Lesen transferieren. Wiedererkennbarkeit und Neuigkeit erzeugen die Wissensproduktion der Lektüre des Ausgestellten im Abgehen.

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so sind die Objekte, Artefakte und Bauten dem Kosmos der Artefakte und der Waren zuzurechnen. Alles, was gewusst werden kann, ist auf den Weltausstellungen in den merkantilen Nützlichkeitsstatus der Ware, die mit anderen Waren sich zu Markte trägt, übergegangen. Nun geht es darum, bessere Ware unter vergleichbaren zu sein. »Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware. (…) Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt.«46 Wiewohl die Dichotomie zwischen Wissen und Spektakel, Belehrung und Vergnügen, Authentizität und Inszenierung, als Spannungsverhältnis evident wird, kann alles inkludiert werden in dem Gleichheitsgrundsatz der Waren, die vergleichbar werden. Das, was Kulturen ausmacht, in allen kulturellen Registern, zwischen elitekulturell und vernakular, kann sich, darf sich, soll sich, messend dem Vergleich stellen. Die Authentizität erhöht sich durch die Differenz. Sich zu behaupten als Teil des universalistischen Ganzen, das stellt sich als Aufgabe der Weltgewandtheit für alle Teilbereiche der Kultur. Tony Bennett setzt die eindringliche und allumfassende Wirksamkeit dieses »exhibitionary complex« mit Michel Foucaults Machtanalysen in Beziehung. Bennett analysiert die Institutionen des Ausstellens als »complex of disciplinary and power relations«.47 Mittels Gestaltung und Zeigen soll nicht nur alles, sondern auch alle gleichermaßen ereicht werden. Werden alle erreicht, dann setzt sich der universelle Bildungsanspruchs des Mediums Weltausstellung durch. In diesem Modus der Durchsetzung als Modus der Universalität vergleicht Bennett die Betrachtung und Selbstbetrachtung, die Reflexion und Selbstreflexion mit Foucaults Disziplinierungsparadigmen. Soziale Konflikte und ökonomische Probleme werden auf einem anderen Feld ausgetragen: auf dem Feld der Kultur. Die kollektive Anstrengung einer internationalen Wissensproduktion beruhte auf den Parametern Konkurrenz und Vergleich. Ab der ersten Weltausstellung in London im Jahr 1851 ging es darum, Zeugnis abzulegen. Der eingeschriebene Motor der Veranstaltung war die Losung des Fortschritts. Doch der Fortschritt wurde eingebettet in ein Feld kontextueller Bezüge, das sich sehr bald, ab der zweiten Weltausstellung 1867, um die zeitliche Dimension der Geschichte und dem Ausstellungsformat der Retrospektive erweiterte.48 Losgelöst, für sich alleine, kann weder die Technik noch die Ware zum Fetisch werden, beide brauchen ein Handlungsumfeld, ein Betätigungsfeld. Dieses schaffen ihnen die Welt46 47 48

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V 1; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 50. Bennett, Tony: The Birth of the Museum. London, New York: Routledge, 1995, S. 59. Vgl. Wörner, Martin: »Paris 1867«, in: ders.: Vergnügung und Belehrung, S. 49–57; Felber, Ulrike / Krasny, Elke: »Die Museumsfrage«, in: Welt Ausstellen. Schauplatz Wien 1873, S. 73–82.

Binnenexotismus und Binnenkolonialismus

ausstellungen durch die Etablierung eines anderen Rezeptionskontextes rund um den technischen Fortschritt. Die Techno-Logik wird verbunden mit Popularisierung durch Kulturisation, Ästhetisierung und kollektive Sinnstiftung durch gemeinsame repräsentative Referenzpunkte. Hier kann sich die dialektische Bewegung des Mediums Weltausstellung artikulieren: jede Fortschrittsteleologik braucht einen Ort der Herkunft und einen Ort, von dem sie sich unterscheidet. Die industriellen Erfindungen müssen ein Gegenüber haben, von dem sie sich deutlich abgrenzen. Die Gesamtheit des Weltwissens muss verdeutlichen, dass es unterschiedliche Grade an Zivilisiertheit gibt, um der Logik des Mediums zu folgen. Diese Spannung eines hybriden Mischungsverhältnisses, das zwischen universellem Aufklärungsanspruch und ebensolchem Unterhaltungsanspruch, zwischen Beförderung des Gewerbefleißes und Jahrmarkttreiben, zu tarieren suchte, durchzieht auch die zeitgenössische Berichterstattung. Das Echte wird zur Stilfrage des richtigen Erlebens. Ob in der Schweizer Konditorei oder im Vorarlberger Haus, im Wigwam, im tunesischen Bazar oder in der österreichischen Meierei, man ist wirklich in der Welt zu Hause, als Gast. Selbstdarstellung im Pavillonformat, das ist die Schaulektion, die die Weltausstellung lehrte. Firmen wie Länder gleichermaßen übten sich ein im Entwerfen von Bildern als Exportartikel an die Welt. Die Glaubwürdigkeit des Originals wird zur Inszenierungsformel von Authentizität. Wiewohl die spürbare Echtheit als Garant des wirklichen Sehens gilt, liegt der Akzent auf der Spürbarkeit, nicht auf der Echtheit. Das Echte muss sich zu seinem täuschend echten Inszenierungssurrogat aufschwingen, um den Anschein größerer und eingängig konsumierbarer Echtheit zu erzeugen. Der analytische Schlüssel zur Lektüre des Phänomens ist das Verhältnis zwischen Wissensproduktion und Inszenierungsstrategie. Es ist genau diese Doppelfigur, die innerhalb eines universalistischen Kulturverständnisses, die Register der Alterität inkludierend und exponierend aufspannt: zivilisatorische Fortschrittstandards und folkloristische Traditionalismen, gehobene Kultur und Volkskultur nebeneinander, aber auch miteinander. Der »Versuch einer lebenden Statistik«49 trifft sich mit der »populären Menschheitsenzyklopädie«,50 in der der universalistische Anspruch sich mit dem österreichisch-ungarischen Binnenkolonialismus trifft und zur Entdeckung der Volkskultur als echter Quelle der Inspiration für wissenschaftliche Systematik und künstlerische Avantgardeproduktion führt.51

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Giedion, Siegfried: Bauen in Frankreich: Eisen, Eisenbeton. Leipzig, Berlin 1928, S. 41. Wörner: Vergnügung und Belehrung, S. 7. Der Berichterstatter über die Bauernhäuser betont, dass mit seiner Arbeit »ein kleiner Beitrag geliefert wird zur Erhöhung des Antheils der Gebildeten für den Gegenstand.«

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Das »österreichische Dorf« auf der Weltausstellung 1867 in Paris (aus: François Ducuing [Hg.] L’Exposition Universelle de 1867 illustrée. Paris, 1868, S. 21) 2 Bauernhäuser im Osten der Ausstellungsrayon (© TMW-Archiv, BPA-5970.104) 3 Situationsplan der Weltausstellung 1873 in Wien (Wien: Carl Gerold’s Sohn, 1873); das Areal der ausgestellten Bauernhäuser ist mit Kreis markiert. 4 Siebenbürgisch-sächsisches Bauernhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© MAK Wien) 5 Szeclerhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© MAK Wien) 1

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Vorarlberger Bauernhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© TMW-Archiv, BPA-5970.108) Das Geydeler Bauernhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© MAK Wien) Volkstrachten aus Mähren: Kroaten, Wiener Weltausstellung 1873 (© TMW-Archiv, BPA-811/99) Kroatisches Bauernhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© TMW-Archiv, BPA-5970.106) Schweizerhaus, Wiener Weltausstellung 1873 (© TMW-Archiv, BPA-5970/06)

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Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

Bäuerliche Kultur in der Geschichte des modernen Designs

Um die Jahrhundertwende stellen bäuerliche Kunst und Gestaltung signifikante Einflussgrößen im Geistesleben Europas dar. Die damalige Begeisterung für vernakulare Kultur ist bisher jedoch bei Architektur- und DesignhistorikerInnen nur auf beiläufiges Interesse gestoßen. Diese Vernachlässigung ist zum Teil der Marginalisierung des Vernakularen durch die Protagonisten der Moderne geschuldet, die in ihren Schriften der 1920er Jahre das Wiederaufleben bäuerlicher Kulturen als anachronistisch und einer modernen Welt unangemessen zurückwiesen. So behauptete etwa Le Corbusier nach seinem Besuch der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes in Paris 1925, dass ungeachtet des Engagements seitens der Unterstützer bäuerlicher Kultur die vernakularen Künste als echte, lebendige »Volkskunst« in der Welt der Industrie Gestalt annahmen. In seinen Augen waren die anonymen Industrieerzeugnisse dabei, die traditionellen Handwerkskünste aus dem Leben der gesamten Bevölkerung, ob Stadt- oder Dorfbewohner, zu verdrängen: »Wir werden zu der Gewissheit gelangen, dass unsere Volkskunst von heute im Entstehen begriffen ist, ja sogar schon existiert, entsprungen einmütigem gemeinsamem Schaffen. Doch die volkstümlichen Künste werden von faulen und einfallslosen Köpfen vereinnahmt, um die Luft mit dem ohrenbetäubenden Lärm von Zikaden zu erfüllen und mit falschen Tönen in den Gesang und die Poesie der anderen einzufallen. Was haben diese Wiederbelebungsversuche, mit denen man hier aufwartet, in unserem Leben zu suchen? Die Wiedererweckung der regionalen Künste, die Wiedereinführung der okzitanischen Sprache, der Rückgriff auf bretonische oder tirolerische Trachten, den Kimono oder den Peplos der Duncan, das Geschirr aus Lunéville?« 1 1

»Nous prendrons la certitude que notre folklore d’aujourd’hui, s’établit, existe déjà, né de la collaboration unanime. Mais les folklores sont usurpés par les paresseux et les stériles,

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Zu Beginn des Jahrhunderts erachteten jedoch viele europäische Architekten, Kritiker und Künstler die Kunst, die Wohnstätten und Gebrauchsgegenstände der bäuerlichen Bevölkerung als wertvolle Inspirationsquelle für fortschrittliche Gestaltung. Die Herausgeber der Zeitschrift Materiały polskiej sztuki stosowanej (Beispiele polnischer angewandter Kunst) empfahlen das Vernakulare an jene, die »einen modernen Stil … im Einklang mit dem aktuellen Zeitgeist« suchten.2 In den meisten europäischen Ländern erschienen nationalbewusste Interessensgruppen auf der Bildfläche, die davon überzeugt waren, dass vernakulare Kultur Vorbilder für eine Gestaltung bieten konnte, mithilfe deren den Fallstricken eines sterilen Historismus zu entkommen war. Bäuerliches Design wurde als »zeitlos« empfunden, erschien ahistorisch und galt als Ausdruck für erhabenes Formgefühl. So schrieb der russische Korrespondent der Kunstzeitschrift The Studio über bäuerliche Handwerkskunst: »In entlegenen ländlichen Gegenden empfindet und äußert sich der Bauer so, wie seine Vorfahren empfunden und sich geäußert haben.«3 Ein slowakischer Kritiker meinte 1905, dass er in seinen »Studien zur volkstümlichen Architektur und Hausindustrie« zu dem Ergebnis gelangt sei, dass es hier Parallelen zur »modernen Architektur« gab.4 In den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts förderten Gestalter und Kritiker, die als Verfechter des Vernakularen auftraten, aktiv die Entwicklung neuer Gestaltungsansätze, die volkstümliche Motive und Formen aufnahmen, und brachten damit ihre Vorstellung von Modernität zum Ausdruck. Die Begeisterung für vernakulare Kultur war in gewissen Intellektuellenkreisen Österreich-Ungarns besonders ausgeprägt.5 Auf die Gründe für das starke Interesse von Designern und Architekten an dieser Kultur wird

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pour remplir l’air d’un bruit assourdissant de cigales, pour chanter faux avec le chant et la poésie des autres. Oue viennent faire, dans notre vie ces résurrections que l’on propose? Résurrection des arts régionaux, réinstauration de la langue d’oc, du costume breton ou tyrolien, du kimono ou du peplum de Duncan, de la vaisselle de Lunéville?« Le Corbusier: L’Art Décoratif d’Aujourd’hui. Paris: Crès, 1925, S. 25. Leitartikel in Materiały Polskiej Sztuki Stosowanej (Beispiele polnischer angewandter Kunst) 6, 1905, S. 1. Peacock, Netta: »The New Movement in Russian Decorative Art«, in: The Studio 22, 1901, S. 269. Jurkovicˇ beschrieb sein Buch Práce Lidu Našeho (erschienen als zweisprachige Ausgabe unter dem französischen Titel »Les Ouvrages Populaires des Slovaques«) als »la résultat d’etudes speciales d’architecture populaire et de l’art domestique si proches l’un à l’autre ainsi que de ›l’architecture moderne‹«. Jurkovicˇ, Dušan: Práce Lidu Našeho: lidové stavby, zar ˇízení a vy ´zdoba obydlí, drobné práce (Slowakische Volksarbeiten: Volksbauten, Interieurs und Handarbeiten). Wien: Schroll, 1905, Vorwort, o. S. 1867 erzielte die österreichische Monarchie nach gescheiterten Versuchen, Großösterreich als ungeteilten Staat zu regieren, den »Ausgleich« mit den nationalistischen Magyaren. Im Zuge dessen entstand die neue Doppelmonarchie, wobei zwei formal getrennte Staaten von Franz Joseph als Kaiser von Österreich und König von Ungarn regiert wurden. Für offizielle Belange wurde die Bezeichnung »kaiserlich und königlich« eingeführt, zum Beispiel »kaiserliches und königliches Finanzministerium«.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

im weiteren Verlauf dieses Textes noch eingegangen. An dieser Stelle ist der Hinweis entscheidend, dass es sich aufgrund der äußerst unterschiedlichen wirtschaftlichen und städtischen Entwicklung in der Doppelmonarchie bei einer Reihe von Volksgruppen – etwa den Ruthenen und den galizischen Polen – fast ausschließlich um bäuerliche Bevölkerungsgruppen handelte (abgesehen vom manchmal vorhandenen ländlichen Kleinadel).6 Die Gegensätze zwischen urbanem und ländlichem Raum – Bürgern und Bauern – waren in Österreich-Ungarn nicht stärker ausgeprägt als anderswo in Europa. Doch bezeichnenderweise verliefen die Trennlinien aufgrund historischer Umstände auch entlang der Lebensräume ethnischer Gruppierungen. Der industrielle Fortschritt, wirtschaftliche Migration und Konflikte bezüglich Amtssprache und Schulbildung führten in der gesamten Monarchie zu Spannungen unter den Bevölkerungsgruppen. Scheinbar triviale Fragen wie die Benennung von Straßen lieferten fallweise erheblichen Zündstoff.7 Als Folge der ungleichen Verteilung der Errungenschaften der Modernisierung entstand ein Gefühl nationaler Diskriminierung, das sich über die gesamte Doppelmonarchie ausbreiten sollte. Politisch und wirtschaftlich dominante Volksgruppen wie Deutschösterreicher und – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – Magyaren nahmen im Umgang mit den Völkern unter ihrer Herrschaft eine Haltung nationaler Überlegenheit ein. Obwohl die habsburgische Regierung nach 1867 an übernationalen, liberalen Prinzipien festhielt und dabei die Rechte ethnischer Minderheiten garantierte (von denen einige Völker im autonomen Ungarn jedoch ausgenommen waren), gab es eine klar ersichtliche kulturelle Rangordnung unter den Völkern des Reiches.8 Zweifellos genoss Österreich auf Kosten der Kronländer wirtschaftliche Vorteile (ebenso wie die Magyaren auf Kosten der innerhalb ihrer Landesgrenzen lebenden Minderheiten).9 Doch von ebensolcher Bedeutung war, wie Österreich die in den Kronländern lebenden Völker, die sich scheinbar regieren und beherrschen ließen, nach innen und außen repräsentierte. Eine derartige Rangordnung zeigte sich auch beim Auftritt der Doppelmonarchie anlässlich der Weltausstellung in Wien im Jahr 1873. Diese 6

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Vgl. Good, David: »Economic Union and Uneven Development in the Habsburg Monarchy«, in: Komlos, John (Hg.): Economic Development in the Habsburg Monarchy in the Nineteenth Century. (East European Monographs 128) New York: Boulder, 1983, S. 65–80. Vgl. Stone, Norman: Europe Transformed 1878–1919. London: Fontana, 1983, S. 303–325. Die militärische und rechtliche Unterdrückung nationalistischer Bestrebungen nach den Revolutionen um die Jahrhundertmitte ist in der österreichischen Geschichte als »System Bach« bekannt (benannt nach dem Innenminister). Der Druck der imperialen Herrschaft ließ jedoch zunehmend nach und gipfelte 1867 im Ausgleich (siehe Anm. 5). Die Völker in den Kronländern – jenen Regionen, die direkt unter der Herrschaft des Kaisers standen – erhielten mehr Möglichkeiten, ihrer jeweiligen Nationalität Ausdruck zu verleihen. Seton-Watson behauptete 1906, dass das Wachstum der slowakischen Industrie klein gehalten wurde, um die internationale Entwicklung der Region hinauszuzögern. Seton-Watson, Robert (Ps. Scotus Viator): Racial Problems in Hungary. London: Constable, 1908,S. 357.

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internationale Ausstellung, der einzige ernsthafte Versuch ÖsterreichUngarns, ein derartiges Ereignis auf die Beine zu stellen, war typisch für die damalige Zeit – ein ungeheures, zeitlich befristetes Spektakel, das Unterhaltung und Bildungsanspruch mit Schaustellungen aus Industrie und Handel verband. Abgehalten wurde die Schau, um den wirtschaftlichen Fortschritt, der seit 1848 um sich gegriffen hatte, zu demonstrieren und vor allem das Ansehen Österreichs wiederherzustellen, das seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 und dem gleichzeitigen Gebietsverlust Schaden genommen hatte.10 In diesem Sinn kann die Ausstellung als Spiegelbild des wachsenden Ansehens Österreichs bürgerlicher Kaufmannschaft interpretiert werden. Der Industrie und dem technischen Fortschritt waren im großen Industriepalast und in der Maschinenhalle sowie in verschiedenen kleineren Pavillons der Wirtschaft Schwerpunkte gewidmet. Ausstellungen in der Kunsthalle dokumentierten das hohe kulturelle Niveau des Landes. Österreichs historische Stellung im europäischen Kulturraum wurde durch die selbstbewusste Verwendung historisierender Elemente bei der Gestaltung der Pavillons verdeutlicht. Doch die Weltausstellung umfasste auch eine pittoreske Nachbildung des ländlichen Lebensraums Österreich-Ungarns in Form von Bauernhäusern, Ställen, Schaustellungen der Holzwirtschaft und einer Pferde- und Rinderschau. Diese Aufbauten, errichtet im Herzen der Hauptstadt und bevölkert von Bewohnern in bunten »Nationaltrachten«, die ihre häuslichen Besitztümer vorführten, repräsentierten die verschiedenen Völker der Doppelmonarchie. Es handelte sich um die »anderen« Völker Österreich-Ungarns, die in einer zeitlosen Tradition zu leben schienen und den Gipfel technischer und kultureller Entwicklung noch lange nicht erreicht hatten. In diesem Licht betrachtet, entsprach die Tatsache, dass sie durch vernakulare Ausdrucksformen repräsentiert wurden, einer Ausgrenzung. »Kleine Völker» wie die Ruthenen ebenso wie von Wien aus regierte sogenannte »historische« Völker wie die Polen wurden dadurch an den Rand gedrängt, dass ihre Kultur in unmittelbarer Nähe und damit im Vergleich zu den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Kultur des »Kernlandes« gezeigt wurden. Ein britischer Beobachter nahm in diesen volkstümlichen Schaustellungen ein kulturelles Rangordnungssystem wahr und befand, dass die Bauernhäuser der Siebenbürger Sachsen weniger gut ausgestattet und nicht so schön waren wie die der »historischen« Magyaren und Polen.11 Aber auch 10 11

Zur Weltausstellung im Detail siehe Findling, John E. (Hg.): Historical Dictionary of World’s Fairs and Expositions, 1851–1988. New York: Greenwood Press, 1990, S. 48–54. Sweeny, H. W.: »The Buildings and the Parks«, in: Reports of the Vienna Universal Exhibition of 1973. Bd. 3. London: G.E. Eyre & W. Spottiswoode, 1874, S. 293. Diese Rangordnung erschloss sich auch einem polnischen Besucher der Weltausstellung. Agaton Giller verfasste

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

auf übergeordneter Ebene kam eine Hierarchie zum Tragen: An der Spitze dieses uneingestandenen Kastensystems standen die Deutschösterreicher. Abseits dieser idyllischen Nachbildung des Reiches stehend, nahm sich die Kernnation selbst von der Kategorie des Vernakularen aus. Die in der Weltausstellung zum Ausdruck gebrachte Form der Repräsentation, welche die unter der Herrschaft Österreich-Ungarns stehenden Völker als Bauern (und damit als Randgruppen) auswies, war damals nicht unproblematisch. Im Laufe des Jahrhunderts hatte sich unter nationalbewussten Intellektuellen dieser Volksgruppen mehr und mehr die Auffassung breitgemacht, das Bauerntum wäre das eigentliche, authentische Staatsvolk. Auch wenn sich diese Sichtweise unter deutlich unterschiedlichen Umständen entwickelte, so war sie doch in allen Fällen von einer gemeinsamen Ablehnung der imperialen Macht getragen. Paradoxerweise bedienten sich patriotisch gesinnte Intellektuelle allem Anschein nach bei der Darstellung ihrer eigenen Volksgruppen einer ähnlichen Form wie ihre vermeintlichen Unterdrücker. Dem um sich greifenden Diskurs über »die Bauern« schlossen sich – aus ganz unterschiedlichen Beweggründen – sowohl Unterdrücker als auch Unterdrückte an. Dennoch wurde die Sichtweise vom Bauernvolk als Nation zum Streitthema und führte fallweise zu Kontroversen. Das Interesse von Künstlern und Architekten an der volkstümlichen Kultur verschiedener Kronländer Österreich-Ungarns liefert ein gutes Beispiel für die Streitigkeiten um die »offizielle« Bedeutung und Nutzbarmachung bäuerlicher Kultur. In den 1890er und 1900er Jahren machten sich patriotisch gesinnte Gestalter und Architekten an die Erforschung der materiellen Kultur ihrer jeweiligen nationalen oder ethnischen Gesellschaften. Im Jahr 1889 etwa begann Stanisław Witkiewicz mit seinen Kollegen, die polnischen Goralen, einen in der Tatra lebendem Volksstamm, zu studieren; in Ungarn widmete sich Dušan Jurkovicˇ der materiellen Kultur der slowakischen Bauern; und im Jahr 1907 nahm Károly Kós gemeinsam mit einer unter dem Namen Fiatalok (Die Jungen) bekannten Architektengruppe seine Forschungen über das bäuerliche Leben in Siebenbürgen auf. Die Beschäftigung mit volkstümlicher Kultur war an und für sich nicht neu. Erste Ethnografen und Linguisten hatten seit dem späten 18. Jahrhundert das Leben, die Volkskunst seine Berichte über die Ausstellung, die er im Eigenverlag herausgab, mit der Absicht, jene Ausstellungsobjekte von polnischer Hand, die »unter der Flagge Moskaus« sowie unter Wiener und Berliner Patronanz entstanden waren, für sein Land zu reklamieren. Er war bestürzt über die Ärmlichkeit des polnischen Teils der Präsentation bäuerlicher Wohnbautypen im Kaiserreich: »Die polnische Hütte […] sieht sehr armselig aus, umso mehr, als sie ganz in der Nähe von solider, komfortabler und besser gebauten Häusern steht« (»Chata polska … wygla˛da bardzo ugobo, zwłaszcza z˙e zaraz niedaleko wnosza˛ sie˛ domki i domy strojniejsze wygodniejsze i lepiej podudowanie«). Giller, Agaton: Polska na wystawa powszechnaw Wiedniu 1873 g. (Polen bei der Weltausstellung in Wien im Jahr 1873). Lemberg: Dobrzanski & Groman, 1873, S. 130.

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und die Sprache der bäuerlichen Bevölkerung untersucht.12 Doch kunsthandwerkliche Theorien, die ihren Ursprung in der Arts-and-Crafts-Bewegung hatten, sowie neue Erkenntnisse über das Bauerntum verbanden sich bei diesen Architekten und Künstlern zu einer noch nie da gewesenen Infragestellung der imperialen Herrschaft. Es handelte sich nicht nur um einen Versuch, die Machtverhältnisse zu verändern, die dem imperialen Diskurs über die sozioökonomische Kategorie »der Bauern« eingeschrieben waren, sondern auch um eine Infragestellung offizieller Behauptungen, man würde das Los der Bauernschaft durch handwerkliche Ausbildung und wirtschaftliche Unterstützung verbessern. Ein Buch über bäuerliches Design

Im Herbst 1911 veröffentlichten die Verleger der britischen Zeitschrift The Studio eine Sonderausgabe – ein Buch mit dem Titel Peasant Art in Austria and Hungary (Bäuerliche Kunst in Österreich und Ungarn).13 Es wurde unter dem Namen des Gründers von The Studio, Charles Holme, herausgegeben, einem langjährigen begeisterten Anhänger der Arts-and-Crafts-Bewegung und japanischer Kunst. Für den vorliegenden Aufsatz von Bedeutung sind jedoch die Kritiker, Künstler und Gestalter, die für die Beiträge des Buches recherchiert und sie geschrieben haben. Holmes stützte sich auf über die gesamte Doppelmonarchie verstreute Helfer aus dem Bereich der angewandten Kunst, etwa auf den zum Designer mutierten Maler Aldár Körösfo˝ iKriesch, der 1902 die Werkstätten in Gödöllo˝ bei Budapest gegründet hatte,14 sowie auf die Wiener Korrespondentin der Zeitschrift, Amelia S. Levtus.15 Obwohl sich Peasant Art in Austria and Hungary an Leser außerhalb der Doppelmonarchie wandte, wurden keine besonderen Zugeständnisse an sie gemacht. Die österreichischen und ungarischen Autoren (oder enge Weggefährten) brachten in ihren Beiträgen ihre Überzeugungen so zum Ausdruck,

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Vgl. Brock, Peter: Folk Cultures and Little Peoples: Aspects of National Awakening in Eastern Central Europe. New York: Columbia University Press, 1992. Dieses Buch war Teil einer Publikationsserie über volkstümliche Kunst und Formgebung, in der auch Schweden, Lappland und Island (1910), Russland (1912), Italien (1913), die Schweiz (1924) und Rumänien (1929) behandelt wurden. Vgl. Keserü, Katalin: »The Workshops of Gödöllo˝: Transformations of a Morrisian theme«, in: Journal of Design History 1 /1, 1988, S. 1–23; sowie Szabadi, Judit: »The Gödöllo˝ Artists Colony and KÉVE«, in: Szabadi, Judit: Art Nouveau in Hungary. Painting, sculpture and the graphic arts. Budapest: Corvina, 1989, S. 81–94. Umgekehrt veröffentlichte Levetus von Zeit zu Zeit Beiträge über die englische Reformbewegung im Bereich der angewandten Kunst in österreichischen und ungarischen Fachzeitschriften. Siehe zum Beispiel ihren Artikel »Az angol czaládi ház és berendezése Baillie Scott és Ashbee C. R.« (Das englische Einfamilienhaus und Einrichtungsgegenstände von Baillie Scott und C. R. Ashbee), in: Magyar Iparmüvészet (Ungarische angewandte Kunst) 13 /1, 1910, S. 37–41.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

als schrieben sie für ihre heimische Leserschaft.16 Heraus kam eigentlich eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und Publikationen, die im vorangegangenen Jahrzehnt in Österreich-Ungarn veröffentlicht worden waren. Körösfo˝i-Krieschs Text beruhte beispielsweise auf den Erkenntnissen, die er während der Arbeit an einer gemeinsam mit Dezso˝ Malonyay herausgebrachten Studie, dem bahnbrechenden fünfbändigen Werk A magyar nép mu˝ vészete (Die Kunst des ungarischen Volkes; 1907–1922), gewonnen hatte.17 [abb. 2] Levetus nützte ihre Kontakte zu Museumskuratoren und zu Lehrkräften an den Fachschulen in den Kronländern, die in Österreich Handwerker ausbildeten. Als Journalistin und Kritikerin scheint sie besonders von den Recherchen ihrer Informanten abhängig gewesen zu sein: Ihre Ausführungen über bäuerliche Kunst aus der Region um Zakopane im Tatragebirge beruhten auf aktuellen, aber höchst tendenziösen polnischen Studien, mit denen man den Versuch unternommen hatte, im Geist des Nationalstolzes und unter Missachtung wissenschaftlicher Objektivität die Existenz eines eigenen »Zakopane-Stils« nachzuweisen.18 Tatsächlich spiegelten die meisten Studien zur volkstümlichen Kultur von nationalem Interesse geprägte Vorstellungen wider. Dennoch handelte es sich bei Peasant Art in Austria and Hungary um eine eindrucksvolle und umfassende Publikation. Sie beinhaltete zahlreiche Abbildungen von bäuerlichen Wohnstätten, Devotionalien, Haushaltsgegenständen und bäuerlicher Bekleidung. Die Abbildungen waren entweder Fotografien (oft aus den Sammlungen von Provinzmuseen) oder romantisierende Zeichnungen und Aquarelle mit Darstellungen des Landlebens von Künstlern wie Körösfo˝i-Kriesch und Aladár Illés. [abb. 3] Die Beiträge boten einen Überblick über bäuerliche Kunst von 17 »Nationalitäten«, die zu 3 in Österreich lebenden Volksgruppen zusammengefasst wurden (Slawen, deutschsprachige Völker und die nicht klar abgegrenzte Gruppe der Rumänen, Italiener und Ladiner). Im Einklang mit der dualistischen politischen Struktur des Reiches war den Magyaren ein separater, bebildeter Aufsatz gewidmet.

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Vgl. etwa Jurkovicˇ: Práce Lidu Našeho; zwei Leitartikel in: Materiały Polskiej Sztuki Stosowanej 6, 1905, und 8/9, 1906; Körösfo ˝i-Kriesch, Aladár: »A nepmüvészetro ˝l« (Zur Volkskunst), in: Magyar Iparmüvészet, Oktober 1913, S. 351–355 (in englischer Übersetzung erschienen in: Crowley, David (Hg.): Design and Culture in Poland and Hungary 1890–1990. University of Brighton, 1993, S. 20–21). Malonyays Forschungsergebnisse wurden 1984 in Budapest mit einer neuen Einführung von L. Kósa wieder aufgelegt. Vgl. Levetus, Amelia S.: »Austria: Introduction«, in: Holme, Charles G. (Hg.): Peasant Art in Austria and Hungary. Sondernummer der Zeitschrift The Studio, London 1911, S. 4. Nähere Ausführungen zur Findung des »Zakopane-Stils« vgl. Crowley, David: National Style and Nation-State: Design in Poland from the Vernacular Revival to the International Style. Manchester: Manchester University Press, 1992, Kapitel 2.

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Obwohl den Autoren des Buches daran gelegen war, die Besonderheiten der Kunst und der Formensprache der zu untersuchenden bäuerlichen Volksgruppen hervorzuheben, ist bei allen Texten eine von der Arts-and-CraftsBewegung herrührende Weltanschauung zu beobachten. Das mag angesichts der Schwärmerei für das Ländliche in den Schriften führender Denker der Arts-and-Crafts-Bewegung wie William Morris, deren Texte ab den 1890er Jahren in übersetzter Form auch in Österreich-Ungarn auflagen, nicht weiter verwundern.19 Doch es gab einen deutlichen Unterschied (dazu mehr weiter unten) zwischen Morris’ romantischem Bild bäuerlicher Kreativität, das einer Ablehnung des Industrialismus gleichkam, und den tatsächlichen wirtschaftlichen Bedingungen des bäuerlichen Lebens, die in den südlichen und östlichen Regionen der Doppelmonarchie – einer vorindustriellen Welt – herrschten, wo Bauern die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Dieser Unterschied tritt in den Schriften Stanisław Witkiewicz’, eines polnischen Malers und Kritikers, zu Tage. In einem 1903 verfassten Text, der die Vorherrschaft vernakularer Bauten im polnischen Teil Österreichs thematisiert, behauptet er: »Auch wenn man nichts über Ruskin und Morris weiß, zeigt sich, dass es möglich ist, ihre Theorien und einen ihrer Träume im realen Leben verwirklicht zu finden. [Hier] wird den Häuptern der Mächtigsten ebenso wie denen der Ärmsten unter Dächern ein und desselben Stils Schutz geboten: Kirchen, Salons und Kammern sowie die armseligsten Hütten erstrahlen in gleicher Schönheit. Das kulturelle Fundament aller Gesellschaftsschichten ruht in diesem Fall in der ›untersten Klasse‹, einem Ursprung, den Morris und Ruskin, die mit dem Bauerntum nicht in Berührung gekommen sind, in der Kunst des Mittelalters suchten.«20 19

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Morris’ und Ruskins Schriften erschienen ab den späten 1890er Jahren in Zeitschriften wie Dekorative Kunst in deutscher Übersetzung; bald darauf wurden sie auch in die »Nebensprachen« der Doppelmonarchie übersetzt: William Morris’ Art and the Beauty of the Earth erschien auf Polnisch unter dem Titel Sztuka a pie˛ knos´´c ziemi (Lemberg-Warschau 1906), und seine Sammlung von Aufsätzen Hopes and Fears for Art von 1882 wurde als Sztuka, jej troski i nadzieje (Krakau 1902) veröffentlicht. John Ruskin wurde ebenfalls um die Jahrhundertwende in Österreich-Ungarn publiziert. Sein Buch The Stones of Venice wurde von Sarolta Geöcze ins Ungarische übersetzt und erschien unter dem Titel Velence kövei (Budapest 1896). Die Rezeptionsgeschichte der Arts-and-Crafts-Bewegung in Österreich-Ungarn ist komplex. Einen guten Einblick in dieses Thema in englischer Sprache gibt Sármány-Parsons, Ilona: »The Influence of the British Arts and Crafts Movement in Budapest and Vienna«, in: Acta Historia Artium 33, 1987/88, S. 181–198. »Nie wiedza˛c nic ani o Ruskinie, ani o Morrisie, moglis´my w ˙zycia rzeczywistym stwierdzic´ ich teoretyczne wnioski i ureczywistnilis´my jedno i ich marzen´. Nad głowami moz˙nych i nad głowami biedaków uznosi sie˛ dach jednego stylu: kos´cioł, salon i izba ubogiej chałupy jas ´nieja ˛ blaskiem tego samego pie˛kna. ›Klasy niz˙sze‹ stały sie ˛ w tym wypadku ´zrodłem pierwiastka cywilizacyjnego obejuja ˛cego wszystkie warstwy spółeczen ´stwa pierwiastka, którego Morris i Ruskin, nie znalazłszy u ludu, szukali w sztuce wieków ´srednich.« Witkiewicz, Stanisław: Dziwny Człowiek (Wundersamer Mensch). Lemberg 1903; zit. nach Jagiełło, Michał (Hg.): Listy o stylu zakopian´skim 1892–1912 wokoł Stanisław’a Witkiewicz’a (Briefe zum Zakopane-Stil 1892–1912 an und von Stanisław Witkiewicz). Krakau 1979, S. 17.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

In Österreich-Ungarn stieß man auf die »teuflische Finsternis« des modernen Industriezeitalters in der Regel nur in westlichen Teilen des Reiches wie Böhmen. Andere Gegenden, die von nationalbewussten Architekten und Künstlern aufgespürt wurden – etwa Witkiewicz’ geliebtes Podhale, ein polnisches Gebiet in der Tatra –, erregten Aufmerksamkeit, weil sie von der modernen Zeit kaum noch berührt worden waren. Trotz der Unterschiedlichkeiten zwischen dem Kontext, in dem sich das Denken der Arts-and-Crafts-Bewegung entwickelt hatte, und der Situation in den Randgebieten Österreich-Ungarns, trachtete man danach, in den verschiedenen Aufsätzen in Peasant Art in Austria and Hungary eine ganze Reihe von Grundsätzen aufzuzeigen, die Jahre zuvor bei Ruskin und Morris ihren Ursprung genommen hatten (oder von ihnen weitergeführt worden waren). Und wie Morris und Ruskin, die sich für das Altehrwürdige und Schützenswerte stark machten, waren die Autoren des Buches von der unmittelbaren Bedrohung der bäuerlichen Kultur durch das moderne Zeitalter überzeugt. Einer von ihnen schrieb: »Die Berge Siebenbürgens wachen über so manches Handwerk, in dem der genuine künstlerische Drang eines gesunden, einfachen Volkes spürbar wird, der nichts gemeinsam hat mit der Massenproduktion des modernen Fabriksystems.«21 Die Autoren betonten, dass manche Bauern in regionalen Wirtschaftssystemen lebten, die noch nicht vom »Moloch der Industrialisierung« oder durch die »Lohnsklaverei des Kapitalismus« verfälscht worden waren: »In Galizien erzeugt der Bauer fast alles für seinen eigenen Bedarf und den seiner Familie, oder er erwirbt, was er benötigt, durch Tauschhandel, vor allem in Ostgalizien unter den Ruthenen, wo die Volkskunst am ältesten und ursprünglichsten ist.«22 Außerdem ließ sich durch den Tauschhandel unter den bäuerlichen Produzenten die ethische Zwickmühle vermeiden, in der sich sozialistisch gesinnte Kunsthandwerker befanden, die schöne Dinge für die Reichen herstellten. Levetus erzählt beispielsweise die Geschichte einer slowakischen Bäuerin, die sich, als man ihr eine »beträchtliche Geldsumme« für eine bestickte Brauthaube bot, weigerte, ihr Handwerk zu verkaufen – Indiz für ein Wertesystem außerhalb des Kapitalismus. Wie der mittelalterliche Zunftgenosse oder ein Mitglied der Handwerksgilde von Chipping Campden oder der Werkstätten von Gödöllo˝ bei Budapest war der Bauer scheinbar froh über die Kameradschaft Gleichgesinnter. Levetus, die über das bäuerliche Leben in Kroatien und Slawonien schrieb, zeigte vor allem Begeisterung für das Kommunensystem der zadruga, wo zwischen 5 und 10 Bauernfamilien einvernehmlich unter der Führung eines supan beziehungsweise Anführers zusammenlebten und sich Arbeit, Heim und Essen teilten.

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Körösfo ˝i-Kriesch, Aladár: »Hungarian Peasant Art«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 31. Levetus: »Austria«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 11.

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Die Freude an der Arbeit entsprang einem Gefühl der Identifikation mit dem, was hergestellt wurde. Das Ornament war Ausdruck sowohl von Besitzerstolz als auch von Verbundenheit mit dem Werkstück – geschnitztem Holz oder besticktem Tuch: »So mancher Bursche schnitzt dem Mädchen, das ihm versprochen ist, einen Spinnrocken mit solchem Geschick, so voller Schönheit und so reich mit Ornamenten geschmückt, wie nur einer es kann, der von der Liebe dazu getrieben wird.«23 Diese Arbeitsfreude zeigte sich in der Schönheit der von den Bauern geschaffenen Heimstätten und Gerätschaften die – wie die Autoren im Sinn Ruskins behaupteten – einzigartig waren und immer die Spuren und kleinen Mängel wahrer Handwerkskunst aufwiesen. Michael Haberlandt, der Direktor des Museums für Volkskunde in Wien, schrieb über mährische Stickerei: »Der Variantenreichtum des Ornaments, dem man bei diesen Erzeugnissen begegnet, ist gewaltig, was sich durch die Betrachtung hunderter Beispiele überprüfen lässt, wobei festzustellen ist, dass alle mit erlesenem Geschmack ausgeführt wurden, ohne sich dabei zu wiederholen.«24 Vor allem scheint der Bauer den Drang verspürt zu haben, sowohl seine »unprätentiösen« Habseligkeiten als auch sein einfaches, ländliches Heim zu verschönern. Es besteht hier die Gefahr einer Überbetonung der Beeinflussung durch britische Designreformer. Die Begeisterung für das Vernakulare, die in Peasant Art in Austria and Hungary zum Ausdruck kommt, lässt sich auch auf andere Ursprünge zurückführen, etwa auf Graf Leo Tolstois Auffassungen von ursprünglichem Christentum.25 Nichtsdestotrotz war Holmes’ Buch Zeugnis des anhaltenden und allgegenwärtigen Einflusses der Arts-andCrafts-Bewegung in Österreich-Ungarn, deren Ideologie offenbar ein übernationales Phänomen war, zumindest insofern, als sie in der gesamten Habsburger Monarchie und in weiten Teilen Europas Verbreitung fand. Der Einfluss bäuerlicher Formgebung: Ein Beispiel aus Zakopane

Das Interesse an der Kunst und Formgebung des Bauerntums war nicht nur eine taxonomische Übung in konventioneller Ethnografie. Es war deswegen bemerkenswert, weil Künstler und Gestalter sich aktiv mit der Erforschung volkstümlicher Kultur beschäftigten, um ihre eigene Kreativität zu stimulieren. An bäuerliche Formen angelehnte Gestaltungslösungen wurden quer durch die Doppelmonarchie in kunsthandwerklichen Objekten und Bauwerken zum Einsatz gebracht. Dies lässt sich gut anhand der »Entdeckung« und

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Körösfo˝i-Kriesch: »Hungarian Peasant Art«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 42. Haberlandt, Michael: »Austrian Peasant Art«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 18. Telakowska, Wanda: Stanisław Witkiewicz – teoretyk sztuki (Stanisław Witkiewicz – Kunsttheoretiker). Wrocław 1970, S. 134.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

Entwicklung des sogenannten »Styl Zakopian´ski« (Zakopane-Stils) in Galizien in den 1890er Jahren zeigen. Stanisław Witkiewicz entwickelte eine Vorliebe für die Kunst und die Gestaltungslösungen der Goralen, eines Bergvolks in der Tatra, als er das Gebiet erstmals 1886 besuchte, um sich von seiner Tuberkuloseerkrankung zu erholen. Die niedrigen Blockhäuser der Goralen mit dekorativen Schnitzereien im Bereich der Veranda und an den Giebeln sowie der ornamentale Schmuck einfacher Möbelstücke und Geräte – florale Motive und geometrische Muster – waren für Witkiewicz eine Formensprache, die »national« und dabei frei von Historismus war. [abb. 5] Mithilfe einheimischer Handwerker und gleichgesinnter Architekten und Designer machte Witkiewicz den Zakopane-Stil bekannt, indem er für reiche, kunstsinnige Polen Häuser und Innenräume in volkstümlicher Manier entwarf und umsetzte. [abb. 4, 6] Witkiewicz war überzeugt, in dem Zakopane »eigenen Stil« zu bauen.26 Darüber hinaus durchdrang dieser Stil auf seltsame Weise die polnische Gesellschaft, deren Bürger damals drei Reichen zugeordnet waren. Es gab modisches Porzellan aus Sèvres im Zakopane-Stil zu kaufen, das geschnitzten Schafsmilchschöpfern goralischer Hirten nachempfunden war, oder man trug gewebte Jacken, die den Stil von Bauernwämsern imitierten. Witkiewicz beharrte auf den einzigartigen, nationalen Wurzeln dieses Stils und glaubte, dass sich in der Kunst und im Design der Goralen die Überreste einer bäuerlichen Formensprache erhalten hatten, die in einer unwieder -bringlichen Vergangenheit in ganz Polen zu finden gewesen war. Nichtsdestotrotz entstanden um die Jahrhundertwende überall in Österreich-Ungarn auffällig ähnliche Wohnhäuser aus Holz, bei denen man sich vernakularer Baumethoden und naiver Dekorationsstile bediente. Ein und dieselbe geistige Strömung und stilistische Gemeinsamkeiten erfassten ganz Ungarn, beispielsweise in Form von Ede Wigand-Thoroczkais Siebenbürger Wohnbauten nachempfundenen Innenraumgestaltungen [abb. 7] 27 und der Arbeiten Dušan Jurkovicˇ ’, der sich der slowakischen Volkskultur annahm.28 Diese patriotischen Architekten orientierten sich bei ihren Bemühungen, eine nationale und zeitgenössische Formensprache zu etablieren, an jenen Regionen, die bereits in

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»Budujemy dalej. Jeden dem kon´czymy, drugi zaczynamy. Zakopane sie˛ przebudowuje na dobre, na swój styl.« Stanisław Witkiewicz, Brief an seine Schwester vom 2. April 1898, abgedruckt in: Nowakowska: Stanisław Witkiewicz, S. 152. Vgl. Keserü, Katalin: »Decorative Arts and Sources of Architectural Symbolism«, in: The Journal of the Decorative Arts Society 11, 1987, S. 21–26; dies.: »Vernacularism and Its Special Characteristics in Hungarian Art«, sowie Gerle, Janos: »What Is Vernacular? or, The Search for the ›Mother Tongue of Forms‹« in: Gordon Bowe, Nicola (Hg.): Art and the National Dream. Dublin: Irish Academic Press, 1993, S. 127–142, 143–154. Vgl. Wirth, Z.: Umélecká dila Dušana Jurkovicˇe (Dušan Jurkovicˇ’ künstlerische Arbeit), Prag 1927; sowie Walker, Frank. A.: »›Czecho-slovak‹ Revival: The Architecture of Dušan Jurkovicˇ«, in: Architectural Association Quarterly 13 /1, Oktober 1981, S. 45–50.

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romantisierenden Nationalmythen als heilige Orte gehandelt wurden, wo sich die Bauernschaft – scheinbar unberührt von der Moderne und abseits vom Fortgang der Geschichte und politischer Kompromisse – eines vermeintlich unbeeinträchtigten Lebens erfreute: die Magyaren an Siebenbürgen und die Slowaken an der Walachei. Diese Haltung ist nicht singulär: Ähnliche Ausprägungen von Nationalbewusstsein gab es zur Jahrhundertwende auch im keltischen und skandinavischen Europa. Doch ungeachtet dessen, wie verbreitet und übernational dieses Phänomen war, gab es in Österreich-Ungarn Unterschiede bezüglich der politischen Wertigkeit des Vernakularen. Das Bauernvolk als »Nation«

Obwohl es um die Jahrhundertwende über die Volksgruppen hinweg Gemeinsamkeiten sowohl hinsichtlich des Interesses an bäuerlicher Kultur als auch hinsichtlich der verwirklichten Arbeiten polnischer, slowakischer und ungarischer Architekten gab, bestanden doch deutliche Unterschiede, die in der jeweiligen Situation eines Landes oder einer Volksgruppe begründet lagen. Die Überzeugung der Arts-and-Crafts-Bewegung, dass die traditionelle Hierarchie innerhalb der Künste durchbrochen werden müsse, stand im Einklang mit dem Auffassungswandel verschiedener, unter der Herrschaft der Habsburger stehender Volksgruppen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was denn »das Volk« beziehungsweise »die Nation« nun ausmache. Ebenso wie schon Morris nach einer Demokratisierung der Künste gerufen hatte, indem er »schöne Dinge von und für jedermann« gefordert hatte, entwickelte sich innerhalb nationalistischer politischer Kreise in der Doppelmonarchie eine neue Auffassung von politischer Herrschaft, die man als politischen Diskurs wenn schon nicht des einfachen Volkes, so doch zumindest für es beschreiben könnte. Nachdem die Bauernschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch relativ unsichtbar geblieben war, wurde in ihr jetzt von einer gewissen patriotischen Intelligenzija »die Nation« gesehen. In ihren Schriften unterschieden Marx und Engels zwischen zwei Arten von Volksgruppen, welche im 19. Jahrhundert unter der Herrschaft der Habsburger standen: den »historischen« Völkern, das heißt großen, kompakten, zusammenhängenden Volksgruppen, die in der Lage waren, als Volk ein unabhängiges Leben zu führen, und die in ihrer Geschichte bereits unter der Regierung eines eigenen Herrschers gestanden hatten wie die Magyaren und Polen; und den »nicht-historischen« Völkern wie den Slowaken und Ruthenen.29 In der politischen Tradition der Polen und Magyaren – der soge-

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Edward Crankshaw weist auf Marx’ abschätzige Beurteilung der Bestrebungen der kleineren slawischen Völker in seinen Beiträgen über die »Genese und den Niedergang der Wiener Revolution« für die New Yorker Daily Tribune 1851 /52 hin. Crankshaw, Edward: The Fall of the House of Habsburg. Harmondsworth: Penguin, 1983, S. 58–59.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

nannten »historischen Völker« – erhob der Adel Anspruch darauf, »die Nation« zu verkörpern. Trotz späterer politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen wie des Aufkommens des Bürgertums konnte der Adel seinen Anspruch auf nationale Führerschaft generell behaupten. Unter Berufung auf die Gefahr eines vom Volk ausgehenden Nationalismus erneuerte der ungarische Adel (der in den 1840er Jahren nur fünf Prozent von Ungarns Gesamtbevölkerung ausmachte)30 seine traditionelle Rolle, indem er 1867 von den Habsburgern den Ausgleich erwirkte – eine Wiederherstellung des historischen Königreichs Ungarn unter der Herrschaft des österreichischen Königs Franz Joseph. Doch gegen Ende des Jahrhunderts äußerten immer mehr Stimmen in Ungarn Unzufriedenheit mit der aristokratischen Herrschaft. In den Anfangsjahren des neuen Jahrhunderts zeigten sich patriotische Intellektuelle enttäuscht angesichts der Bereitschaft der herrschenden politischen Elite zur Kooperation mit Wien und in der Folge über deren Weigerung, politische und soziale Reformen durchzusetzen. Diese sozialen Spannungen, bekannt unter dem Begriff »Adelsproblem«, untergruben die traditionelle politische und moralische Autorität der Aristokratie. Die Intellektuellen wandten sich auf der Suche nach neuen Modellen eines »Ungarntums« der Bauernschaft zu, die – frei vom Makel politischer Kompromisse – als nationales Ideal verfügbar war. In der Tat sah man die Bauern als Verkörperung des nationalen Geistes, in deren Funktion sie den Adel abgelöst hatten. Im Fall der sogenannten »nicht-historischen« Völker entwickelte sich im Lauf des Jahrhunderts ein anderes Muster, häufig jedoch mit ähnlichen Auswirkungen. Die Slowaken, im 19. Jahrhundert ein Volk mit wenig ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein, lebten unter österreichischer und ab 1867 unter ungarischer Herrschaft.31 Sie waren nach dem Ausgleich besonders harten Repressionen durch die Magyaren ausgesetzt,32 wobei die Volksgruppe für ihre Nationalkultur so wichtiger Stätten wie slowakischsprachiger Schulen und kultureller und politischer Institutionen beraubt wurde (und den Slowaken weniger als ein Prozent der Sitze im ungarischen Parlament verblieben). In der Folge blieben der slowakischen Kultur förderliche Aktivitäten Geistlichen und Lehrern auf dem Land überlassen, die die Sprache, die Bräuche und die Kunst der Bauern festhielten. Andrej Kmet, ein katholischer Priester und in den 1890er Jahren ein eifriger Sammler und Aussteller 30 31

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Pearson, Raymond: National Minorities in Eastern Europe 1848–1945. London u. a.: Macmillan, 1983, S. 45. Um im Wettstreit um die ältesten historischen Wurzeln mithalten zu können, behaupteten slowakische Patrioten manchmal, ihre Herkunft würde auf das mährische Reich des 9. Jahrhunderts zurückgehen. So wurde 1875 das nationale Kulturinstitut Matica slovenská (Slowakische Mutter) geschlossen und seine Publikationen eingestellt; seine Sammlung von Kunstwerken und -gegenständen wurde nach Budapest gebracht.

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von Volkskunst, war 1907 eine treibende Kraft bei der Gründung des slowakischen Nationalmuseums in Turcˇianský Sväty Martin.33 Derartige politisch motivierte ethnografische Aktivitäten, die in Zusammenhang mit der Magyarisierung von Minderheiten in Ungarn zu sehen sind,34 festigten jedoch eher den Status der Slowaken als Volk von Bauern und Handwerkern. Da Klassenunterschiede und andere soziale Unterscheidungen innerhalb der slowakischen Bevölkerung nicht schwer wogen, galt die Kultur der Bauern als slowakische Kultur.35 Um die Jahrhundertmitte äußerten sich mehrere slowakische Aktivisten in tschechischer Sprache: So gab Jan Kollár die Zeitung Slovenské noviny (Slowakische Nachrichten) heraus und schrieb Gedichte, die der Förderung der slawischen Einheit dienen sollten. Diese Pragmatiker wollten das Schicksal der Slowaken an jenes der Tschechen knüpfen, um der Behauptung der Magyaren entgegenzuwirken, diesen Ostslawen würden die kulturellen und sprachlichen Voraussetzungen fehlen, um Souveränität einzufordern. Dies kam zum Teil einem Eingeständnis der Rückständigkeit der Slowakei gleich. Das Vernakulare in der Architektur

Mit Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Bauerntum gerade in jenen Teilen der Doppelmonarchie begonnen für die Nation zu stehen, wo politische Zwänge und/oder wirtschaftliche Rückständigkeit herrschten. Doch indem sich Architekten und Gestalter auf das Vernakulare bezogen, hoben sie die andere Lebenssituation in diesen Ländern eher noch hervor. In Budapest war beispielsweise eine Architektengruppe namens Die Jungen in Wohnbaureformprojekte wie die Wekerle-Siedlung involviert, die zwischen 1908 und 1913 für kleine Beamte errichtet wurde.36 Diese Anlage bestand aus altbekannten Wohneinheiten – kleinen rustikalen, freistehenden Häusern, einbis zweistöckig, mit Schindeldächern und Wetterschenkeln. [abb. 8] Die öffentlichen Gebäude und die Kirche um den Platz in der Mitte der Wohnsiedlung wiesen auffälligere architektonische Formen wie zugespitzte Türmchen, tief überhängende Dächer, Balkone aus Gitterwerk sowie Rustika im Bereich der Torbögen und Sockelzonen auf. Viele Motive dieser Bauten 33 34

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In Turcˇiansky´ Sväty Martin befand sich einstmals der Sitz der Matica slovenská. Aufgrund dieser Kampagne zur Auslöschung der Sprachen und Kulturen von Minderheiten sah sich der britische Historiker Robert W. Seton-Watson veranlasst, sein Buch Racial Problems in Hungary (London 1908) zu schreiben, in dem er »Beweismaterial« für die nationale Existenzberechtigung dieser Völker erbrachte. Vgl. Brock, Peter: The Slovak National Awakening. An Essay in the Intellectual History of East Central Europe. Toronto: University of Toronto Press, 1976. Im Jahr 1908 verkündeten die Budapester Behörden ihre Absicht, aufgrund der Wohnungsknappheit in der Innenstadt 8.000–10.000 Familien in der Wekerle-Siedlung unterbringen zu wollen. Siehe Nagy, Gergerly: »A Wekerle-telep rekonstrukciója« (Der Wiederaufbau der Wekerle-Siedlung), in: Magyar Építo˝mu˝vészet (Ungarische Architektur) 81, Mai 1990, S. 34–36.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

stammten aus Siebenbürgen. Die Architekten der Wekerle-Siedlung, darunter Károly Kós und sein Planer Antal Palóczy, erhielten Unterstützung vom fortschrittlichen Bürgermeister der Stadt, István Bárczy, der ihr Ziel, den sozialen Wohnbau zu verbessern, teilte. Die durch die kleinen Häuser und Grünflächen geschaffene dorfähnliche Atmosphäre stand im Gegensatz zu den prunkvollen, aber oft unhygienischen und schlecht beleuchteten Mietshäusern, in denen die Budapester üblicherweise lebten. In diesem Fall war das Vernakulare, wie es sich von glühenden Verehrern bäuerlicher Kultur zunutze gemacht wurde, an ein soziales Reformprogramm geknüpft.37 Im Gegensatz dazu arbeitete der im Bereich des Vernakularismus führende slowakische Architekt, Dušan Jurkovicˇ , unter ganz anderen Bedingungen. Als er sich in den 1890er und 1900er Jahren außerhalb der Slowakei – zuerst in Vsetín (Wesetin oder Settein), Tschechien, und später in Brno (Brünn), Mähren – aufhielt, plante er eine Reihe von Villen und Hotels, bei denen er sich von traditionellen slowakischen Motiven und alten slawischen Lebensmustern inspirieren ließ.38 Ab 1897 war er beispielsweise am Bauprojekt der Einsiedelei von Pustevny, einem Gebäudekomplex für Touristen auf dem Radhošt’, einem Berg in der Region Valašsko (Walachei) in Mähren beteiligt. [abb. 9] Die volkstümlichen Wurzeln von Jurkovicˇ ’ Bauwerken zeigten sich in den Balkonen, der Blockbauweise, reich geschnitzten Säulen und auffälligen Schindeldächern. Diese Gebäude sowie eine riesigeHolzkapelle auf dem Gipfel des Berges, die Kirche der Heiligen Kyrill und Method (1898), entstanden im Auftrag der Bergverwaltung. Ein paar Jahre später engagierten sich andere bei dem Vorhaben, den Marktplatz des beliebten Kurortes Rožnov am Fuße des Berges in ein Freiluftmuseum zu verwandeln. Die an bäuerlicher Kunst und bäuerlichem Handwerk interessierten Künstler Bohumir und Alois Jaroneˇ k gründeten mit der Unterstützung von Jurkovicˇ eine Vereinigung zum Schutz von 40 alten, zweistöckigen und durch Arkaden verbundenen Holzhäusern in Rožnov, die als Stadtmuseum nach skandinavischem Vorbild genutzt werden sollten.39 (Dass ihr Vorhaben erst 1925 in Erfüllung ging, mag an der nationalistischen Motivation dieses Freilichtmuseums gelegen haben.) Die Walachei hatte für tschechoslowakische Patrioten besonderes Gewicht, weil sich dort seit dem 16. Jahrhundert die einheimische tschechische Bevölkerung mit umherziehenden Bauern aus dem benachbarten 37 38

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Die Wekerle-Siedlung geht auch auf die Gartenstadt-Bewegung in Deutschland und die Arbeit Camillo Sittes zurück. Zu den bedeutendsten Bauwerken Jurkovicˇ’ dieser Zeit zählen: Novom Meste nad Metuji in Rezek (1900; vgl. »Recent Designs in Domestic Architecture«, in: The Studio 42, 1908, S. 194–195), eine Villa für den slowakischen Maler Joža Úrpka in Hroznove Lhote (1904), eine Villa in Zabovreskoch bei Brünn (1906), das Wohnhaus für einen Prager Arzt in Bubenec (1907) und ein Gemeindehaus in Skalici (1904 /05). Alois Jarone ˇk besuchte 1909 das Freilichtmuseum in Århus in Dänemark sowie das Skansen in Stockholm.

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Gebiet der Karpaten mischte. Die hiesige Volkskunst galt daher als Vision für die Erneuerung einer tschechisch-slowakischen Union. Für die Bauwerke auf dem Radhošt’ berief sich Jurkovicˇ auf traditionelle architektonische Formen wie Sattelholz-Verstrebungen und geschnitzte Ornamente. Damit befand er sich im Einklang mit zeitgenössischen und höchst tendenziösen Forschungen, die derartige architektonische Elemente aus Holz als allen slawischen Völkern gemein identifizierten.40 Im Grunde aber untermauerte er mit seinem Bauprojekt das damals unter der tschechoslowakischen Bevölkerung Österreich-Ungarns herrschende Empfinden, die Böhmen, Mähren und Slowaken seien politisch eigenständige, unter fremder Herrschaft stehende Völker. Jurkovicˇ hatte sich bei der Organisation der Národopisná ˇ eskoslovanská – der tschechoslowakischen Volkskundeausstellung Výstava C – stark gemacht, die 1895 in Prag stattfand. Herzstück dieses patriotischen Festivals war ein kreisförmig angelegtes Dorf, das die ländlichen Bauformen der verschiedenen Regionen (die 1918 die unabhängige Tschechoslowakei bilden sollten) zur Schau stellte.41 Jurkovicˇ war die Bauaufsicht über die walachischen Wohnhäuser mit ihren niedrigen Dachtraufen, charakteristischen Balkonen im ersten Stock und bunt bemalten Wänden übertragen worden. Symbolisch betrachtet war die Ausstellung von 1895, in der Tschechen und Slowaken durch das Band der Volkskunst verbunden zur Schau gestellt wurden, eine selbstbewusste Vereinigung zweier slawischer Ethnien im Umfeld der Metropole Prag. Das Vernakulare, dargeboten in Form von Nostalgie und Tradition, war ein gemeinsames Erbe, auf dessen Grundlage die tschechisch-slowakische Vermählung aufbauen konnte, wohingegen eine stolze Zurschaustellung der Industrie, technischer Neuerungen und anderer Ausprägungen des modernen Lebens nur dazu gedient hätte, das Gefälle zwischen West und Ost innerhalb der Doppelmonarchie herauszustreichen. Die stark von slowakischen und böhmischen vernakularen Motiven und Strukturen geprägten Gebäude, die Jurkovicˇ in Mähren – der geistigen Geburtsstätte der Tschechoslowakei – errichtet hat, sind unter diesem Gesichtspunkt als architecture parlante zu sehen, die Nationalgefühl zum Ausdruck bringt. Die politische Unabhängigkeit war bislang nur ein aufkeimender Traum tschechoslowakischer Patrioten. Doch die öffentliche Architektur bot, unter der gegebenen politischen Ordnung, eine teilweise und sichtbare Umsetzung derartiger utopistischer nationaler Aspirationen. In Ungarn hingegen, wie das Beispiel der Wekerle-Siedlung zeigt, erlaubten die politischen Umstände eine breitere Anwendung des Vernakularismus in Form von Wohnbauten für den »einfachen Bürger«.

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Vgl. Miłobe˛dzki, Adam: »Architecture in Wood: Technology, Symbolic Content, Art«, in: Artibus et Historiae 19, 1989, S. 202–203. Vgl. Wittlich, Petr: Prague. Fin de Siècle. Paris: Flammarion, 1992, S. 182–183.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

Förderung bäuerlicher Produktivität

Sowohl der Pole Witkiewicz als auch der Slowake Jurkovicˇ vertraten die Ansicht, dass das Vernakulare – ungeachtet der Einschränkungen, welche die politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen in der Doppelmonarchie den unter ihrer Herrschaft stehenden Völkern auferlegten – eine nutzbringende Rolle beim Aufstieg der Nation spielen könnte.42 Jurkovicˇ, der eigentlich ausgebildeter Architekt war, hatte sich 1895 bei der Gründung eines Zentrums für bäuerliche Webkunst in Detva engagiert.43 Auch wenn sich die Vorstellungen der Arts-and-Crafts-Bewegung von wirtschaftlicher Organisation als undurchführbar erwiesen, boten sie im Kontext der Ausgrenzung kleiner Völker in Österreich-Ungarn eine Alternative zur offiziellen Sichtweise des Vernakularen (wie sie etwa auf der Weltausstellung in Wien 1873 vertreten wurde) und – so glaubte man – das Potenzial wirtschaftlicher Produktivität. Darüber hinaus konnte sich das Bauerntum dank seiner Kreativität nationale Eigenart bewahren und musste sich nicht dem unpersönlichen Kräftespiel des modernen Zeitalters ausliefern. Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass die zentrale Wirtschaftspolitik die Fertigkeiten und die Produktivität der Bauern außer Acht ließ. Schon in den 1820er Jahren hatte der österreichische Staat die sogenannte »Hausindustrie« unterstützt. Zur Jahrhundertwende war dieses Fördersystem bereits beträchtlich ausgebaut. Die häufig in der bäuerlichen Produktionswelt angesiedelten lokalen Handwerksindustrien, die sich der Herstellung von Möbeln, Keramik und Spitzen sowie der Weberei und der Lederverarbeitung widmeten, erhielten Unterstützung in Form von Ausbildungsmöglichkeiten für Handwerker, wurden bei der Entwicklung und Ausarbeitung neuer Entwürfe und Muster und fallweise auch bei der Vermarktung und beim Verkauf der Produkte unterstützt. Der Organisation dieser häuslichen Industrien lag auch ein antimerkantilistischer Zug zugrunde. Der Staat trachte danach, die Preise zu regulieren und gefährdete Erzeuger vor den Launen des Wettbewerbs zu schützen. Die Beweggründe hinter der Förderung der Hausindustrie in Regionen mit unergiebiger Landwirtschaft oder einer erschöpften Bergbauindustrie liegen auf der Hand: Die Hausindustrie war geeignet, die Gefahr sozialer Unruhen sowie die Wirtschaftslast des Staats zu verringern. Levetus betonte 1904 in ihrem Beitrag für The Studio: »Eine der Grundregeln Österreichs ist es, seinem Volk beizubringen, sich selbst zu helfen, und obwohl die 42

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Im Jahr 1906 meinte Jurkovicˇ zur Situation in der Slowakei: »Spitzen aller Art haben sich bis heute bei den Bauern erhalten, und die modernen Hausindustrien könnten problemlos darauf aufbauen.« Jurkovic ˇ, Dus ˇan: »Slovak Popular Art«, in: Seton-Watson: Racial Problems in Hungary, S. 357. Detva wurde nach dem Ersten Weltkrieg auf Jurkovicˇ’ Vorschlag hin als staatliche Institution mit der Förderung bäuerlichen Textildesigns und bäuerlicher Textilherstellung in der neu gegründeten Tschechoslowakei betraut. Siehe Vydra, J.: »L’art populaire actuel en Tchécoslovaquie«, in: L’Art Vivant 15, März 1928, S. 252.

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Menschen nicht sehr viel dabei verdienen können, kommen sie über die Runden; ihre Bedürfnisse sind nicht groß, die Hausindustrie wird am Laufen gehalten, und das geringe Einkommen reicht jedenfalls aus, dass die Arbeiter ihren Pfarren nicht zur Last fallen.«44 In diesem Sinn war die Politik des Staates als indirekte Unterstützung der Bauern gedacht. Obwohl Levetus’ Beschreibung der Situation auf die meisten Kronländer zutraf, bezog sie sich in diesem speziellen Fall auf die Korbmöbelindustrie, einen traditionellen Wirtschaftszweig Österreichs, der auf staatliche Förderung angewiesen war. Der Staat bemühte sich, die Lage dieser heimischen Regionalindustrie zu »verbessern«, indem er Gestalter in einer speziellen Schule im Wiener Prater ausbilden ließ, die dann regionale Handwerker mit neuen Entwürfen versorgten (was für die Hersteller mit keinen Kosten verbunden war und sie dazu zu befähigen sollte, »mit der Zeit Schritt zu halten«) oder an regionalen Schulen unterrichten konnten. Aus denselben Beweggründen etablierte Graf Hompesch, ein Abgeordneter des österreichischen Parlaments, in den späten 1880er Jahren ein Zentrum für Korbmöbelproduktion im galizischen Dorf Rudnik im Santal. Die Handwerker des Dorfes waren angewiesen, nach Entwürfen zu arbeiten, die um die Jahrhundertwende in Wien und Prag entstanden. Einige davon stammten von dem hoch im Kurs stehenden Secessionisten Hans Vollmer. [abb. 10] Private Vereine mit halböffentlichem Status engagierten sich ebenfalls für die Sicherstellung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der bäuerlichen Bevölkerung. Der Verein zur Hebung der Spitzen-Industrie wurde 1870 unter der Patronanz von Erzherzogin Maria Theresia gegründet. Obschon von ehrenamtlich tätigen Damen gehobener Stellung getragen, die ihren philanthropischen Neigungen nachkamen, beschäftige der Verein aber auch Vertreter, die Spitzen verkauften und in Auftrag gaben. Die Fachschulen der Jahrhundertwende

Einen Schwerpunkt der österreichischen Politik zur Förderung der bäuerlichen Produktion um die Jahrhundertwende bildete das System der gewerblichen Unterrichtsanstalten, die sogenannten kunstgewerblichen Fachschulen.45 [abb. 11] Um 1900 gab es bereits mehr als 200 dieser regionalen Schulen, die junge Handwerker und Frauen ausbildeten. Sie waren Teil eines dreistufigen Bildungssystems und seit Mitte der 1880er Jahre der Zentraldirektion des Ministeriums für Cultur und Unterricht unterstellt. Die Fachschulen 44 45

Levetus, Amelia S.: »Modern Austrian Wicker Furniture«, in: The Studio 30, 1903 /04, S. 325. Verneuil, M. P.: »L’enseignement des arts décoratifs à Vienne«, in: Art et Décoration 11, 1902, S. 143–165; Levetus, Amelia S.: »The Craft Schools of Austria«, in: The Studio 35, 1905, S. 201–219; Ritter, William: »L’École des Arts Décoratifs de Prague«, in: Art et Décoration 14, 1905, S. 165–176; sowie Levetus, Amelia S.: »The Imperial Arts and Crafts Schools, Vienna«, in: The Studio 39, 1907, S. 323–334.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

waren zwischen den Grundschulen und den Kunstgewerbeschulen in Wien, Prag und Lemburg (Lwów) angesiedelt und von besonderer Bedeutung. Über die Kronländer verteilt und in manchen Fällen kostenlos zugänglich, zogen sie Studierende selbst aus den ärmsten Bevölkerungsschichten der österreichischen Gesellschaft an. Jede Schule war auf einen bestimmten Bereich spezialisiert, der die vor Ort vorhandenen Materialien und traditionelle Handfertigkeiten berücksichtigte. Es wurden Schulen etabliert, die eine Ausbildung in der Gestaltung und Erzeugung von Keramik, in der Webkunst, im Maurerhandwerk, der Möbelerzeugung, Glasherstellung und Korbflechterei anboten. Die Betonung der Ausbildung lag auf dem praktischen Unterricht, wobei sich das Lehrpersonal vom Schulleiter abwärts aus erfahrenen praktizierenden Gestaltern und /oder Herstellern rekrutierte. Darüber hinaus umfasste das Lehrangebot ergänzende Fächer wie Buchhaltung. Wie die meisten von Wien ausgehenden Initiativen zur Förderung der Hausindustrie ging es diesen Schulen in erster Linie um die Stärkung der regionalen Wirtschaft und nicht so sehr um individuelle Kreativität: »Oberstes Ziel dieser Ausbildung ist die Hervorbringung von Arbeitern und nicht von Gestaltern, und dieses gilt es immer im Auge zu behalten.«46 Die Spitzenerzeugung ist ein Beispiel für die staatliche Politik hinsichtlich der Ausbildung der bäuerlichen Bevölkerung und der Förderung ihrer Produktivität, welches in der zeitgenössischen Berichterstattung große Aufmerksamkeit auf sich zog.47 Lehrkräfte, die in Wien im Central-Spitzencurs ausgebildet wurden, unterrichteten Mädchen ab dem 7. Lebensjahr und Frauen aus allen Ecken des Reiches, von Galizien bis Wien. Dieser Zentralkursus vermittelte den Frauen nicht nur technische und künstlerische Fähigkeiten, sondern umfasste auch Fächer wie Deutsch, Hauswirtschaft und Volkswirtschaft. Von den Frauen wurde erwartet, dass sie auch als Vermittlerinnen gesellschaftlichen und moralischen Anstands tätig wurden: »Eine taktvolle Lehrerin ist ein großer Segen, denn sie tritt zugleich auch als eine Art Bezirksinspektorin auf, die wertvolle Hinweise zur Hygiene und anderen Bereichen geben kann, in denen sie ausgebildet wurde.«48 Das Zentralinstitut lieferte auch modische Muster an schätzungsweise 40.000 mit der Spitzenherstellung beschäftigte Frauen. Dies galt als großer Vorteil für die regionale Wirtschaft, da die meisten Spitzenherstellerinnen vor der Gründung der Schulen – so wurde behauptet – nur drei bis vier für die jeweilige Region typische Muster kannten, »die innerhalb der Tradition weitergegeben wurden«. [abb. 12] Um ein differenzierteres Marktangebot zu gewährleisten, brachte man diesen

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Levetus: »The Craft Schools of Austria«, S. 206. Levetus, Amelia S.: »The State Schools for Lace in Austria«, in: The Studio 40, 1905 /06, S. 19–30. Ebda., S. 25.

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Frauen bei, eine große Vielfalt modischer Muster herzustellen. [abb. 13] Offenbar wurde diese Vielfalt durch ein gewisses Maß an Spezialisierung erreicht: Maschinell gefertigte Spitze wurde von qualifizierten Facharbeiterinnen in den verschiedenen Regionen fertig gestellt. Die Schulen agierten in Verbindung mit den Vertretern des Vereins zur Hebung der Spitzen-Industrie als kleine Unternehmen, die an jedem Ort über eine ausgelagerte Betriebsstätte verfügten. Die fertige Ware wurde in einem Fachgeschäft in Wien verkauft. Die Fachschulen und die Hausindustrie erfreuten sich der hingebungsvollen Unterstützung und Aufmerksamkeit zahlreicher begeisterter Designreformer, nicht zuletzt des Direktors des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie von 1907, Hofrath von Skala, dessen Position ihm die Oberaufsicht über beide Bereiche sicherte.49 Dennoch zogen derartige Eingriffe in die bäuerliche Ökonomie und Kreativität nicht die Zufriedenheit aller Beteiligten auf sich. Wieder waren es die Verfechter der Arts-and-CraftsBewegung, welche die Verdienste staatlicher Politik in Frage stellten. Levetus stand nicht allein, als sie in Peasant Art in Austria and Hungary bei den im Rahmen der Hausindustrie gefertigten Produkten im Vergleich zu den Arbeiten der »ungelernten Töchter der Scholle«, in denen spontane Kreativität zum Ausdruck kam, einen Anflug mechanischer Routine konstatierte.50 Ähnlich klagte ein französischer Beobachter bei seinen Betrachtungen über die auf Geheiß der Regierung in Österreich gefertigten Spitzen und Stickereien: »Diese Betriebe gab es eigentlich schon zuvor, doch das ständige Kopieren derselben Vorlagen hat die Käuferschaft müde gemacht, und sie hat sich von diesen Produkten abgewendet.«51 Die Sorge dieser Kritiker galt größtenteils der vermuteten Gefahr für Kreativität und Individualität, die von einer Staatspolitik ausging, die sie in anderer Hinsicht als durchaus verdienstvoll erachteten. Doch was für ferne Beobachter bloß Zweifel auslöste, barg für die patriotischen Intellektuellen der kunstgewerblichen Reformbewegung, die an der kulturellen Peripherie des Reiches zu Hause waren, Stoff für Konflikte. 49

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Vgl. Schwarzer, Mitchell: »The Design Prototype as Artistic Boundary: The Debate on History and Industry in Central European Applied Art Museums«, in: Design Issues 9/1, Herbst 1992, S. 30–44. Levetus: »Austria«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 3. »Ces industries, en effect, existaient autrefois, mais, la copie incessant des mêmes modèles lassa le public qui peu à peu délaissa ces produits, intéressants cependant.« Verneuil: »L’enseignement des arts décoratifs à Vienne«, S. 149. Ich danke Halina Kenarowa, die mich auf die Bedeutung dieser Schule hingewiesen hat. Zu näheren Ausführungen siehe ihre ausgezeichnete und profund recherchierte Publikation. Kenarowa, Halina: Od Zakopian´skiej szkoły przemysłu drzewnego do szkoły kenara (Von der Schule für Holzindustrie in Zakopane zur Kenar-Schule). Kraków: Wydawn, 1978; vgl. auch Méyet, Leopold: Kilka słów o szkolach zawodowych w Zakopanem (Ein paar Worte zur Fachschule in Zakopane). Warschau: Druk Józefa Jez˙yn´skiego, 1891.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

Die Schule für Holzindustrie

Die 1878 von einer lokalen Vereinigung zur Förderung der Regionalentwicklung gegründete Szkoła Przemysłu Drzewnego (Schule für Holzindustrie) in Zakopane im Tatragebirge wurde 1881 mit Unterstützung des Handelsministeriums in den Rang einer Fachschule erhoben.52 Es handelte sich damit um eine von fünf derartigen Schulen in Galizien. Ihre Spezialisierung auf Schnitz- und Tischlerarbeiten war auf das hohe handwerkliche Niveau im Bereich der Holzverarbeitung zurückzuführen, die in dieser Region Tradition hatte. Aufgrund des übernationalen Systems der österreichischen Behörden, demzufolge Posten aufgrund in der Verwaltung erworbener Verdienste besetzt wurden, war der Direktor der Schule, František Neužil, ein staatstreuer, deutschsprachiger Tscheche (der somit in einer mehrheitlich von Polen bevölkerten Region seiner Arbeit nachging). Seine fachliche Kompetenz als Gestalter äußerte sich sehr zum Leidwesen seiner polnischen Kritiker in einer Vorliebe für pittoreske Villen im Tiroler Stil. Die Schule zog in erster Linie goralische Knaben aus der Umgebung an, die vier Jahre in Werkstätten in den Fächern Tischlerei und Schnitzkunst unterwiesen wurden. Außerdem standen auf dem Lehrplan Unterrichtsfächer wie Grundlagen architektonischer Gestaltung, Zeichnen, technisches Zeichnen, Formgebung, Schattieren und Perspektive, Deutsch,53 Religion und Arithmetik. Die Entwürfe und Werkstücke der ersten Schülergenerationen zeugten vielfach noch von Neužils Festhalten an den vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie verfolgten Ausbildungsgrundsätzen. Der zweite Direktor des Wiener Museums, Jacob Falke, förderte das Kopieren historischer und vor allem antiker Vorbilder, um den Schülern rational nachvollziehbare Geschmacksprinzipien anzuerziehen.54 Die ornamentale Komplexität solch elaborierter historischer Stile diente offenbar der Demonstration, wie sehr die Fertigkeiten der Bauernjungen im Laufe der Ausbildung vervollkommnet worden waren. Leopold Méyet, der 1890 Neužils Programm in Wišle lobend hervorhob, schrieb: »Der Unterricht beginnt mit geschnitzten Werkstücken aus unbearbeitetem Holz, die dem Schüler vorgelegt werden, der dann seine eigenen Muster darauf überträgt. Dann übt er das Modellieren folgender Beispiele […] Diese Methode spricht eindrucksvoll fur den bemühten Einfallsreichtum des Direktors und ist auch der Grund für die nachweislich hervorragenden Resultate seines Unterrichts, die selbst die ungebildetsten Schüler produzieren. Unter den Schülern der Anstalt, die bisher nur mechanisch ausgebildet wurden, bringt Herr Neužil Künstler oder talentierte Handwerker hervor.«55 53 54 55

Der Unterricht fand in allen Klassen auf Polnisch statt, gemäß dem Habsburger Prinzip der »Landesüblichkeit«. Schwarzer: »The Design Prototype as Artistic Boundary«, S. 36–39. »Nauczanie rozpoczał za pomoca ˛ okazywania elementów snycerstwa na drzewie in natura,

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Es schien, als hätte Neužil die Kreativität der grobschlächtigen Bauern geweckt, indem er »die Kunst« nach Zakopane gebracht hatte. Andere Einwohner Zakopanes waren in ihrer Meinung über das Ausbildungsangebot der Schule weniger wohlwollend. Witkiewicz war einer von mehreren polnischen Intellektuellen, die in der Stadt lebten und die Schule als Gefahr sowohl für die ursprüngliche bäuerliche Kunstfertigkeit als auch für das der bäuerlichen Kultur innewohnende polnische Element erachteten.56 Sie starteten eine Kampagne, durch die sie eine Einflussnahme auf den Lehrplan der Schule erreichen wollten. 1886, nach einem Treffen zwischen den polnischen Aktivisten und dem Direktor der Schule, wurden ein Bett und ein Paravant angefertigt, die mit typischen goralischen Motiven verziert waren (einfachen geometrischen und floralen Mustern, die in die flachen Rillen der schlichten Möbelstücke geschnitzt waren). Die Entwürfe waren von einer einflussreichen polnischen Adeligen, Róza Krasin´ska, in Auftrag gegeben worden und stellten eine eindeutige Abweichung vom üblichen Programm der Schule dar. Witkiewicz intensivierte daraufhin seinen Feldzug gegen denLehrplan der Schule mit mehreren heftigen Angriffen. 1891 schrieb er: »Die k.k. Fachschule für Holzindustrie ist Zakopanes Brutstätte des Tiroler und Wiener Geschmacks, ein deutsches Gift, das die Fähigkeiten der goralischen Bauern erstickt. Eine gute Berufsausbildung zeichnet sich hier durch einen außergewöhnlichen Mangel an Erfolg und Initiative aus. Mit dem Ziel, die Handwerkskunst der Bauernschaft, die in ihrer Eigenständigkeit und Originalität alle ihre von Hand gefertigten Güter ziert […], zur Kunst zu machen, trägt diese Schule nichts zur Entwicklung regionaler künstlerischer Motive bei. Der Einfluss deutscher Vorbilder und solcher der Renaissance sowie oft überaus glücklose Vorstellungen von Ornamentik bedeuten einen Bruch mit den naiven, authentischen Traditionen der Schüler [und] ihrer nationalen Gesinnung.«57

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do czego wzory sam wykonac´ musiał, naste˛pnie zas´ od modelowania według modeli ... Sposób ten chlubnie ´s wiadczy o metodycznym zmys´le kierownika i dlatego tez˙ rezultat zastosowania tego sposubu nauczania okazał sie˛ znakomitym, nawet u uczniów najmniej wykształconych. Z wychowan´ców szkoły, kształconych dotychczas mechanicznie, p. Neužil zacza ˛ł wyrabiac ´ artystów lub uzdolnionych re ˛kodzielników...« Méyet, zitiert nach Kenarowa: Od Zakopian´skiej szkoły przemysłu drzewnego do szkoły kenara, S. 133. Es ist beachtenswert, dass Witkiewicz seinem Sohn Stanisław Ignacy Witkiewicz (einem berühmt-berüchtigten Maler, Philosophen und Schriftsteller im Polen der Zwischenkriegszeit) eine reguläre Schulbildung verwehrte. Vom schöpferischen Potenzial des Individuums überzeugt, sah er den Schulunterricht als etwas an, das den Schülern Mittelmäßigkeit und Konformismus aufzwang: »In unserer Zeit steht die Schule vollkommen im Gegensatz zur natürlichen menschlichen Veranlagung. Die Lehrmethoden und die Lernziele haben nichts zu tun mit dem lebendigen Menschen und dem wirklichen Leben.« Witkiewicz, zitiert nach Gerould, Daniel (Hg.): The Witkiewicz Reader. Evanstown/Illinois: Northwestern University Press, 1992, S. 27–28. »›C.k. Szkoła Fachowa dla Przemysłu Drzewnego‹, jest tez˙ w Zakopanem rozsadnikiem tyrolsko-wieden´skiego gustu, niemieckiej trucizny, zabijaja˛cej artyzm góralskiego ludu.

Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn

In den Anfangsjahren des neuen Jahrhunderts erreichte Witkiewicz mit seiner Polemik, die von Kritikern im In- und Ausland positiv aufgenommen wurde, dass volkstümliche Gestaltung im Lehrplan der Schule einen zentralen Platz einnahm.58 Außerdem wurden 1895 und 1901 jeweils neue Direktoren bestellt, die empfänglicher gegenüber der goralischen Tradition waren. Der erste, Edgar Kovats, brachte ein Buch seiner Möbelentwürfe im ZakopaneStil heraus;59 der zweite, Stanisław Barabasz, war ein enger Weggefährte Witkiewicz’. Immer mehr verdrängten in der Region verankerte Vorbilder vernakularer Handwerkskunst die »fremden«, historischen Beispiele als Unterrichtsmodelle. Die Schritte, die zu diesem Ziel führten, sind an anderer Stelle im Detail dargelegt worden.60 Die Angriffe aus Polen auf diese staatliche Schule veranschaulichen die politische Bedeutung der Schulbildung der bäuerlichen Bevölkerung in einer Region, wo man die volkseigene Kultur in Gefahr sah. Weit davon entfernt, die Unterstützung für regionale Wirtschaftszweige aus Wien mit offenen Armen zu empfangen, betrachteten polnische Intellektuelle die Hausindustrien und Fachschulen als Bedrohung für das Reservoir des Polentums – die Bauernschaft. Im Grunde handelte es sich um einen Konflikt zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Auffassungen von Kultur: In Wien war man der Ansicht, dass Kultur etwas war, das von außen kam und mit dem man die ungehobelten Bauern »kultivieren« konnte, wohingegen die polnischen Aktivisten sie als etwas sahen, das tief im bäuerlichen Leben verankert war und – was entscheidend war – das Potenzial in sich barg, die Nation zu wandeln. Schlussbemerkung

Will man die bäuerliche Kultur Österreich-Ungarns der damaligen Zeit verstehen, muss man die Randgebiete der Doppelmonarchie durchforsten und das Kernland hintanstellen. In gewisser Hinsicht jedoch entwickelte sich ein Bewusstsein für die Bedeutung des volkstümlichen Kunsthandwerks (oder umgekehrt, für die »Rückständigkeit« der Hausindustrie) durch Maßnahmen,

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Nie ´zle prowadzona pod wzgle˛dem fachowym, odznacza sie˛ nadzwyczajnym brakiem pomysłowos´ci i inicjatywy. Maja˛c za zadanie rozwijanie sztuki stosowanej do rzemiosła, osiadłszy ws´ród ludu, który w sposób samodzielny i oryginalny ozdobił wszystkie swoje rzemies´lnicze wyroby ... szkoła ta nie zrobiła nic dla ułatwienia rozwoju miejscowych artystycznych motywów. Wprowadzaja˛c formy niemieckie, renesansowe, a cze˛sto bardzo niefortunne pomysły ozdób, zrywa w swoich uczniach tradycje naiwnych, szczerych, narodowych upodoba´n«; Witkiewicz, Stanisław: Na przełeczy: Wraz˙enia i obrazy z Tatr (Über die Gebirgspässe). Warschau: Gebethner i Wolff, 1891, S. 23. Zu diesen Lobesbekundungen zählte auch eine von einer internationalen Jury verliehene Goldmedaille bei der Pariser Weltausstellung von 1900 in Anerkennung für das Ausbildungsprogramm der kaiserlichen Schulen in Kołomya und Zakopane. Kovats, Edgar: Die Art Zakopane (Sposób Zakopian´ski. Manière de Zakopane). Wien: Schroll, 1899. Vgl. Anm. 52.

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die vom Zentrum aus mit Blick auf die bäuerliche Kultur gesetzt wurden. Möglicherweise hätten sich die Künstler und Gestalter in der Provinz gegenüber den Vorzügen bäuerlicher Handwerkskunst gleichgültig gezeigt, hätte Wien nicht seine Aufmerksamkeit auf die ländlichen Gewerbe gerichtet. In seinem Buch Fin-de-Siècle Vienna hat Carl Schorske die politischen Überlegungen aufgezeigt, die um die Jahrhundertwende hinter der offiziellen Begeisterung für die »Modernisierung« von Kunst und Wirtschaft standen.61 Schorske weist darauf hin, dass die staatliche Förderung der Secession mit ihrem Anspruch, eine moderne Kunst für eine neue Zeit zu schaffen, eine sicherere Option war als die Unterstützung des Historismus oder des Volkstümlichen, die beide die Gefahr in sich bargen, nationalistische Gefühle zu entfachen. Zu einer Zeit, als die Doppelmonarchie dem Druck diverser nationaler Rivalitätskämpfe ausgesetzt war, suchte man derartige Kräfte durch staatliche Patronanz und eine gleichmäßige Verteilung von Investitionen in den Provinzen zu beschwichtigen. Paradoxerweise betrachteten patriotische Liebhaber bäuerlicher Kultur diese Investitionen als Provokation, wie es sich am umstrittenen Beispiel der Schule für Holzindustrie in Zakopane zeigt. Die Überzeugung dieser Aktivisten, dass Kreativität und Erfindungsgabe über den Erwerb mechanischer Handfertigkeiten zu stellen waren – ein Zeichen ihrer Arts-and-Crafts-Gesinnung –, ließ die staatliche Unterstützung nur als Bedrohung erscheinen. Übersetzung: Brigitte Willinger Der vorliegende Aufsatz ist erstmals in englischer Sprache in der Zeitschrift Studies in the Decorative Arts II /2 1995 erschienen. Ich danke Stefan Muthesius, Nicola Gordon Bowe und Frank Gray, die mich bei meinen Forschungen und beim Schreiben unterstützt haben, und bei Eric Bates für die Landkarte, die er zur Veranschaulichung des Textes gezeichnet hat.

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Schorske, Carl E.: Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture. New York: Vintage, 1981, S. 236.

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Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn 1867–1914 mit dem 1908 annektierten BosnienHerzegowina (Zeichnung von Eric Bates) Aladár Körösfo˝i–Kriesch, Umschlag des zweiten Bandes von A magyar nép mu˝vészete (Die Kunst des ungarischen Volkes) von Deszo˝ Malonya, Budapest 1909 Aladár Illés, Zeichnung eines geschnitzten Torbogens in der Region Kalotaszeg in Siebenbürgen, 1903 (aus: Holme, Charles: Peasant Art in Austria and Hungary, London 1911)

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Stanisław Witkiewicz, »Dom pod jedlami« (Haus unter den Tannen), eine Villa im Zakopane-Stil, 1896 (aus: Holme, Charles: The Art Revival in Austria, London 1906) 5 Stanisław Witkiewicz, Zeichnung eines goralischen Wohnhauses (aus: Witkiewicz, Stanisław: Na przełeczy, Warschau 1891). Witkiewicz legte besonderen Wert auf den für die Region typischen geschnitzten Dachabschluss (pazdur). 6 Detail des Titelbildes von Stanisław Eljasz-Radzikowskis Zakopia´ nski (2. Auflage, Krakau 1901): geschnitzte Zierleiste einer Anrichte von Jan Nalborchyk 7 Ede Wigand-Thoroczkai, Speisezimmer im »ungarischen Stil« (aus: The Studio 40, 1907) 8 Wekerle-Siedlung in Budapest, erbaut 1908–1913 4

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Gasthaus nach Plänen von Dušan Jurkovicˇ als Teil der Anlage von Pustevny am Radhošt’ in Mähren, Postkarte, Mitte der 1920er Jahre (Ausschnitt) Innenraum der 23. Secessions-Ausstellung, entworfen von Jože Plecˇnik, mit Möbeln, entworfen von Hans Vollmer und ausgeführt in Rudnik (aus: The Studio 40, 1907) Frauen beim Sticken in der Fachschule von Sarajewo (aus: Holme, Charles: Peasant Art in Austria and Hungary, London 1911) Bestickte mährische Bäuerinnenschürze mit Spitzenbordüre (aus: Holme, Charles: Peasant Art in Austria and Hungary, London 1911) Polsterspitze, in Auftrag gegeben vom Verein zur Hebung der Spitzen-Industrie, um 1900, nach einem Entwurf von Frau Hrdlicka und hergestellt in einer Fachschule in Böhmen (aus: The Studio 40, 1907)

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Zentrum und Peripherie: Hegemonialer Diskurs oder kreativer Dialog? Wien und die ›Volkskünste‹ 1878 bis 1900

Im deutschsprachigen Mitteleuropa zog um 1900 die Begeisterung für die materielle Kultur der Bauern und damit auch für vernakulare (»volkstümliche«) Architektur weite Kreise. Bauernhäuser waren »primitiv«, aber sie repräsentierten eine Wahrheit in Funktion und Material, nach der sich die Städter sehnten. Die Scheunen, Ställe und bäuerlichen Wohngebäude unzähliger namenloser Maurer und Baumeister begrüßte man nun als Muster einer »organischen« Bautradition, bislang unbeachtet von den Architekten. Die Botschaft für die kommende Architektengeneration lautete, den städtischen Historismus des 19. Jahrhunderts über Bord zu werfen und vom Bauhandwerk der Provinz zu lernen. Die Flut von Veröffentlichungen über alte Landund Bauernhäuser nach der Jahrhundertwende bezeugt, wie sehr die Aufmerksamkeit für vormoderne vernakulare Architektur unter »Gebildeten« zu einer Mode geworden war.1 Das steigende Interesse für vernakulare Stile hatte viele Wurzeln. Mark Jarzombek folgend2 stand die Suche nach einem »Heimatstil« in direktem Zusammenhang mit den wachsenden Ängsten der städtischen Mittelklasse, 1

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Als Leitmedien einer (früh)wissenschaftlichen Bauernhaus-Rezeption in Wien gelten die Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien und die Zeitschrift für Österreichische Volkskunde; aber auch kunstgewerbliche Zeitschriften werden vom Bauernhaus-Diskurs erfasst – Beiträge finden sich in Die Hohe Warte, Dekorative Kunst, Kunst und Kunsthandwerk; vgl. etwa Minkus, Fritz: »Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg: Der Oberinnthaler und der Rheinthaler Typus«, in: Kunst und Kunsthandwerk, 3, 1900 S. 57–72. Bilderreiche, an ein breites Publikum gerichtete, kunsterzieherische Publikationen, die mit kulturkritischem Unterton gegen das Verschwinden und die Geringschätzung alter Bautraditionen ankämpften, vgl. etwa Schwindrazheim, Oskar: Das deutsche Bauernhaus. Wien: Gerlach & Wiedling, 1903; Gerlach, Martin: Volkstümliche Kunst. Ansichten von alten heimatlichen Bauformen, Land- und Bauernhäusern. Die Quelle, Bd. 6. Wien: Gerlach & Wiedling, o. J. [1904]; ders.: Volkstümliche Kunst II. Österreich-Ungarn. Die Quelle, Bd. 12. Wien: Gerlach & Wiedling, o. J. [1911]. Jarzbomek, Mark: »The Kunstgewerbe, the Werkbund, and the Aesthetics of Culture in the Wilhelmine Period«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 53, 1994, S. 7–19; nachfolgend als »Kunstgewerbe« zitiert.

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die nach einem Halt in ihrer von Veränderung durch Modernisierung und Industrialisierung geprägten Lebenswelt suchte. »Organische«, in der Tradition wurzelnde Architektur, sollte ein Bollwerk gegen seelenlose mechanistische Modernisierungsprozesse bilden. In Gebieten, wo sich ethnische Minderheiten vom Staat gehemmt oder unterdrückt fühlten, trug die Erforschung und Dokumentation von »Volkskunst« zur Formierung von Nationalbewegungen bei. Patriotische Intellektuelle schätzten volkstümliche Motive als manifeste Nachweise nationaler Eigenständigkeit. Neu entdeckte Volkstraditionen wurden zu Symbolen nationaler Hoffnung. Dieser Essay untersucht die österreichische Praxis der Wertschätzung von Volkskunst und vernakularer Architektur um 1900 vor dem Hintergrund eines Nationalismus, bei dem sich ein multikultureller, übernationaler Großstaat über die einheitsstiftende Wirkung von Kunst und Kunstgewerbe definiert.3 Er wird diesen Nationalismus in der Kunsterziehung und im Ausstellungswesen der Österreichischen Reichshälfte verorten, in einem institutionalisierten Netz, dessen Fäden das Österreichische Museum für Kunst und Industrie zog. Mit Hilfe eines ausgedehnten exhibitionary complex aus regionalen Kunstgewerbe-Museen, kunstgewerblichen Fachschulen und Ausstellungen in Wien und den Kronländern setzte das Museum in der Österreichischen Reichshälfte einen Austausch regionaler Stilformen, Kunstund Handwerkstraditionen in Gang, der ein politisches Ideal von einem pluralistischen und kosmopolitischen Österreich untermauern sollte. Die Untersuchung folgt der Entwicklung des Museums und seiner Beschäftigung mit Historismus, Volkskunst, Kunstgewerbe und Architektur im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Die Kunstgewerbereform im Habsburger Reich fing mit der Krise im Kunstgewerbe nach der ersten Weltausstellung (London 1851) und der Gründung des South Kensington Museums (1853) an. Im Jahre 1863 wurde das erste Kunstgewerbemuseum auf dem Kontinent, das Österreichische Muse3

Der Nationsbildungsprozess verlief in Europa natürlich ganz unterschiedlich. Der Nationalismusforscher Miroslav Hroch unterscheidet unterschiedliche Typen und Phasen der Nationsbildung. Er differenziert v. a. zwischen Staatsnationen und den Nationalbewegungen nichtherrschender ethnischer Gruppen. Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005; v. a. Kap. 4.1. Nationalkultur als Instrument der nationalen Mobilisierung, S. 174ff. Untersuchungen zur Kunstproduktion im Kontext des Nationalismus: Miller Lane, Barbara: National Romanticism and Modern Architecture in Germany and the Scandinavian Countries. Cambridge / UK: Cambridge University Press, 2000; Kaplan, Wendy: »Traditions Transformed: Romantic Nationalism in Design 1890–1918«, in: dies. (Hg.): Designing Modernity: The Arts of Reform and Persuasion. New York: Thames and Hudson, 1985, S. 19–48; Gordon-Bowe, Nicola: »National Romanticism: Vernacular Expression in Turn-of-the-Century Design«, in: dies. (Hg.): Art and the National Dream. Dublin: Irish Academic Press, 1993,S. 7–14; Cumming, Elizabeth/Kaplan, Wendy: The Arts and Crafts Movement. New York: Thames and Hudson, 1991; Salmond, Wendy: Arts and Crafts in Late Imperial Russia. Cambridge: Cambridge University Press, 1996.

Zentrum und Peripherie

um für Kunst und Industrie in Wien gegründet. Wie in London, fungierten die Beamten des Österreichischen Museums als oberste Geschmacksrichter des Reiches – ihre Mission war eine Art der »ästhetischen Erziehung des österreichischen Menschen«.4 In diesem Sinn trachtete das Museum mit Ausstellungsbeschickungen, der Verbreitung von Musterstücken und der Herausgabe von Vorlagenwerken danach, die nationale Kunstgewerbeproduktion und den nationalen Geschmack zu heben. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens förderte das Museum den Historismus im Kunstgewerbe. Das änderte sich langsam nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Zwischen 1873 und 1900 setzte das Museum von Wien aus eine »kreative Rezeption« von bäuerlichem Handwerk und vernakularer Architektur innerhalb der österreichischen Länder der Doppelmonarchie in Gang. Die Museumskuratoren sammelten materielle Zeugnisse der »Volkskunst« einer Region, um sie dem Publikum – nicht nur in Wien, sondern auch in den Provinzen – zu präsentieren. So dirigierte das Zentrum Wien die Zirkulation einer Vielfalt von »Volkskünsten« in der österreichischen Reichshälfte. Mittlerweile entwickelte sich zwischen Theoretikern in Wien und dem deutschen Reich ein paralleler Diskurs über Nationalstil und zwei verschiedene »deutsche« Identitäten. Die Unterschiede zwischen Wien und Deutschland wurden nach 1900 besonders klar: während deutsche (Werkbund-) Theoretiker wie Hermann Muthesius »Reinheit«, »Ordnung« und »Sachlichkeit« als Merkmal des deutschen Kunstgewerbes betonten, erdachten sich Wiener Theoretiker wie Josef A. Lux ein buntes Mosaik, dessen einzelne Bestandteile ein harmonisches und österreichisches Ganzes bilden sollten – ein Ideal, das 1918 unterging.5 Dennoch: die Kunstgewerbereform und der exhibitionary complex wurden in Mitteleuropa in einem langjährigen Kampf um eine ästhetische und kulturelle »Vorherrschaft in Deutschland« entwikkelt.6 Der exhibitionary complex in Wien

Der englische Historiker Anthony Bennett versteht unter exhibitionary complex eine neue, »sanfte« Spielart staatlicher Gewalt, die sich im 19. Jahrhundert formierte.7 Dem Modell Foucaults folgend, zeichnet Bennett Aufstieg 4 5

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Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. (1801) Jarzombek: »Kunstgewerbe«, S. 13. Jarzombek diskutiert das reaktionäre Potenzial der Kunstgewerbe-Ideale zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt, wie sich Muthesius zusehends einer militaristischen Sprache bediente; am Vorabend des ersten Weltkrieges imaginierte Muthesius den Siegeszug von »Reinheit, Ordnung und Form« gegenüber der Unordnung der internationalen Moderne. Vgl. Friedjung, Heinrich: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859–1866. 2 Bände. Stuttgart: Cotta, 1897, 1898. Bennett, Anthony: »The Exhibitionary Complex«, in: Preziosi, Donald / Farago, Clare (Hg.): Grasping the World. Aldershot: Ashgate, 2004, S. 413–441.

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und Ausbreitung der Institution »öffentliches Museum« und der ihr zuarbeitenden Wissenschaften wie Kunstgeschichte, Ethnographie, oder Anthropologie nach. Der Aufstieg dieses neuen Komplexes von Institutionen ging mit dem Verschwinden öffentlicher Gewaltausübung (wie öffentliche Hinrichtungen oder Bestrafungen) und deren Ersatz durch öffentlich zugängliche Ausstellungen mit erzieherischem Impetus einher, die Herz und Verstand der Bürger erobern sollten. Der exhibitionary complex stattete die Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit neuen Formen der Repräsentation aus und ermöglichte die »Erfindung von Traditionen«.8 Die rasch aufeinander folgenden Museumseröffnungen in Europa nach 1863 und der unermüdliche Fortgang der Welt- und Regionalausstellungen demonstrierten, dass der exhibitionary complex nicht nur dazu diente, ein Publikum zu erziehen und zu fesseln, sondern auch die Stärkung nationaler und kolonialer Gefühle zu fördern.9 Das Österreichische Museum für Kunst und Industrie gilt als erste Instanz eines öffentlichen exhibitionary complex in Mitteleuropa.10 Im Gegensatz zu den Wiener Hofmuseen, die auch in den kommenden drei Jahrzehnten dem Publikum zugänglich wurden, war das Österreichische Museum von Anfang an als öffentliche Anstalt angelegt. Nach dem Modell des South Kensington Museums sollte das Österreichische Museum für Kunst und Industrie in den habsburgischen Ländern den Geschmack des Publikums heben und die kunstgewerbliche Produktion verbessern.11 Dem Vorbild des South Kensington auch hierin folgend, erdachte der erste Direktor des Österreichischen Museums, Rudolf von Eitelberger (1814–1885), ein vielfältiges Programm für Sammlung, Ausstellung und Veröffentlichungen. Eitelbergers erstes Ziel war es, zunächst die Hersteller selbst von ihrem Bedarf für ver-

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Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1983. Zu den Weltausstellungen und ihrer Beziehung zu nationaler Identität und Imperialismus siehe Greenhalgh, Paul: Ephemeral Vistas: The Expositions Universelles, Great Exhibitions and World’s Fairs 1851–1939. Manchester u. a.: Manchester University Press, 1988; Rydell, Robert: All the World’s A Fair. Chicago u. a.: Chicago University Press, 1984; Mackenzie, John: Propaganda and Empire: The Manipulation of British Public Opinion 1880–1960. Manchester u. a.: Manchester University Press, 1895. Zur Geschichte des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute Museum für Angewandte Kunst, Wien / MAK) siehe Pokorny-Nagel, Katrin: »Zur Gründungsgeschichte des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie«, in: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für angewandte Kunst in Wien. OstfildernRuit: Hatje-Cantz, 2000, S. 52–89; Griessmaier, Viktor (Hg.): 100 Jahre Österreichisches Museum für Angewandte Kunst. Kunstgewerbe des Historismus. Ausstellungskatalog. Wien, 1964. Siehe auch Eitelberger, Rudolf von: »Die Gründung des Österreichischen Museums« (1871), in: ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften. 4 Bände. Wien 1878–84, Bd. 2, S. 81–117. Für eine Übersicht zu den Kunstgewerbemuseen in Deutschland siehe Mundt, Barbara: Die deutschen Kunstgewerbenmuseen im 19. Jahrhundert. München: Prestel, 1974; und Wilhelm, Sibylle: Kunstgewerbebewegung. Ästhetische Welt oder Macht durch Kunst? Frankfurt am Main: Peter Lang, 1989.

Zentrum und Peripherie

besserte, dem »guten Geschmack« folgende Produkte zu überzeugen.12 Zu diesem Zweck stellte das Museum seine Mustersammlung kunstgewerblicher Erzeugnisse der Vergangenheit den Herstellern zur Verfügung. Als zweite Ebene seiner Bildungsmission verstand das Museum die Erziehung der Konsumenten, die in der Folge den erforderlichen Absatzmarkt für hochqualitative Produkte bilden sollten. Drittens sollte das Museum eine neue Generation von Industriedesignern und Kunsthandwerkern durch eine zentrale Kunstgewerbeschule heranbilden, die im Jahre 1867 eröffnet wurde.13 Schließendlich sollten diese erstklassig gestalteten Gegenstände, forciert durch internationale Ausstellungen, auch positive Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit Marktanteil, Prestige und Profit nicht nur der österreichischen Hersteller, sondern auch der Regierung erhöhen. In den frühen 1870er Jahren begann das Museum seine Reichweite in die österreichischen Länder durch ein Netz kunstgewerblicher Fachschulen auszubauen.14 [abb. 1] Diese neuen Fachschulen waren in regionalen Industriezentren angesiedelt und orientierten sich an der bodenständigen Produktion, sei es Glas, Keramik oder Holzindustrie. Waren die Fachschulen auch geografisch weit verstreut und vielgestaltig, für den Unterricht bestimmte das Museum mit seinem pädagogischen Personal von Wien aus die Lehrpläne.15 Die Autoritäten des Zentrums gaben die Unterrichtsbehelfe vor, ließen Musterobjekte zirkulieren und vermittelten Ausstellungsbeteiligungen der Fachschulen, in der Region wie auch international.16 Gleichzeitig gründeten Hersteller und Künstler in den einzelnen Städten Kunstgewerbevereine und Kunstgewerbemuseen, um die Fachschulen zu unterstützen. In den folgenden drei Jahrzehnten entwickelte dieser Lehr- und exhibitionary complex in der österreichischen Reichshälfte eine rastlose Aktivität, die Beamte, Bürger und Fachschulen in Ausstellungen auf allen Ebenen involvierte und Handwerker wie Konsumenten an den »guten Geschmack« heranführte.17 12 13 14 15

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Pirsig-Marshall, Tanja: »London-Wien. Einfluß und Wirkung der englischen Idee. Das Vorbild von South Kensignton«, in: Noever (Hg.): Kunst und Industrie, S. 30–40. Fliedl, Gottfried: Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918. Salzburg / Wien: Residenz, 1986. Reynolds, Diana: »Die österreichische Synthese«, in: Noever (Hg.): Kunst und Industrie, S. 203–218. Das Standardwerk zu diesem Schulsystem: Klimburg, Rudolf Freiherr von: Die Entwicklung des gewerblichen Unterrichtswesens in Österreich. Tübingen u. a.: Mohr, 1900, 109ff; siehe auch Cech, Franz: »Das technische und gewerbliche Bildungswesen«, in: 100 Jahre Unterrichtsministerium 1848–1948. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1948, S. 223–233. Eine frühe Diskussion über die Schulen ist zu finden bei Ilg, Albert: Die kunstgewerblichen Fachschulen des k.k. Handelsministeriums. Wien: Lehmann and Wentzel, 1876. Nach 1883 sind die Aktivitäten der Zentralkommission für die Schulen dargestellt im Centralblatt für das gewerbliche Unterrichtswesens in Österreich 1883–1918. Levetus, Amalie Sara: »The Craft Schools of Austria«, in: The Studio 35, 1905, S. 201–219. Bucher, Bruno: »Die Ausstellungsfluth«, in: Mittheilungen des Österreichischen Museums (MöM), Neue Folge 5, 1894 /95, S. 145–59, S. 146.

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Die Organisation der Fachschulen folgte einer künstlerischen und sozialen Hierarchie. Auf der untersten Ausbildungsstufe standen die lokalen Fachschulen, die Handwerker und Facharbeiter heranbildeten. Auf der nächsten die in Städten wie Prag, Reichenberg, Graz oder Innsbruck angesiedelten Staatsgewerbeschulen, aus denen Techniker, Kunsthandwerker und Lehrer hervorgingen. Die Spitze der Ausbildungsbaum bildete die Kunstgewerbeschule in Wien, an der die talentiertesten Studenten der Staatgewerbeschulen aus dem gesamten Reich Aufnahme fanden. Der Kreislauf schloss sich in geradezu vollkommener Weise, zumal die Absolventen der Wiener Kunstgewerbeschule an die ihr untergeordneten Schulen als deren Direktoren und Lehrer zurückkehrten. Auf diese Art und Weise durchdrang der vom Historismus geprägte Wiener Kunstgeschmack alle österreichischen Länder.18 Am 25. Jahrestag des Museums 1889 jubelte ein Mitglied des Curatoriums: »[Das Museum …] gleicht eben einem Baume, der seine Wurzeln in allen Provinzen hat und [... in dem …] die in den Fachschulen erzielten Resultate [...] zur Anschauung gebracht werden.«19 Das kunsthandwerkliche Ausbildungssystem stellte die einheitliche Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Hersteller auf dem internationalen Marktplatz sicher, die internationalen Ausstellungen erlaubten es den Nationen, auf »friedlichen Schlachtfeldern« zu konkurrieren.20 Nationale Rivalitäten köchelten also unter der friedlichen Oberfläche dieser Ausstellungswelt weiter; ein ästhetischer Triumph auf einer Ausstellung war Grund zur Freude, eine Niederlage setzte nationale Selbstrevision in Gang. Letzteres besonders in Deutschland, als auf den Ausstellungen in Philadelphia und München im Jahr 1876 österreichische Erzeugnisse als den deutschen überlegen angesehen wurden.21 Dies war ein harter Schlag für das Prestige des jungen Deutschen Reiches. Die Institutionen des exhibitionary complex waren untrennbar mit der Verteidigung des nationalen Ansehens im Ausland und der Stärkung der nationalen Identitäten im Inland verbunden.22 18

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Der Direktor der Kunstgewerberschule, Josef von Storck, war ein Vertreter des italienischen Renaissance-Stils. Vgl. Scholda, Ulrike: Theorie und Praxis im Wiener Historismus am Beispiel von Josef Ritter von Storck (Diss. Salzburg, 1991); dies.: »Die ausführende Hand der Theoretiker«, in: Noever (Hg.): Kunst und Industrie, S. 219–34. Zichy, Edmund: »Zum fünfundzwangzigsten Jahrestage der Gründung des Österr. Museums«, in: MöM, Neue Folge 2, April 1889, S. 340. Bucher: »Ausstellungsfluth«, S. 145; vgl. auch Eitleberger, Rudolf von: »Der deutsch-französische Krieg« (1871), in: ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften. Bd. 2, S. 316– 342, S. 330. Reynolds, Diana: »The Austrian Museum for Art and Industry: Historicism and National Identity in Vienna 1863-1900«, in: Austrian Studies 16, 2008, S. 123–141; Ottilinger, Eva: »Jacob von Falke (1825–1897) und die Theorie des Kunstgewerbes«, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 42, 1989, S. 205–233. Zu einer Diskussion aus deutscher Perspektive siehe Wieber, Sabine: »Eduard Gruetzner’s Munich Villa and the German Renaissance«, in: Intellectual History Review 17, 2007, S. 153–174. Ottilinger: »Jacob von Falke«, S. 221.

Zentrum und Peripherie

Die Entdeckung der Provinzen 1871–1895

Im ersten Jahrzehnt der Kunstgewerbereform waren sich die führenden Köpfe der Ausbildungsorganisation darin einig, dass der Historismus auch für die industrielle Formgebung und Produktgestaltung als Grundlage dienen sollte. Die besten Produkte der Vergangenheit sollten für Gestalter wie Konsumenten inspirierend und geschmacksbildend wirken. Als jedoch der Historismus seine Anziehungskraft verlor, trat mit der zunehmenden Wertschätzung des bäuerlichen Handwerks ein neues Hoffnungsgebiet in den Gesichtskreis der Kunstgewerbereformer – »die Volkskunst«. Die Kuratoren des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie zählten in Europa zu den ersten, die regionale Bauernkunst nicht nur »entdeckten«, sondern diese auch als Inspirationsquelle für das moderne Kunstgewerbe nutzbar machten. Beeindruckt von der erfolgreichen ethnographischen Ausstellung auf der Pariser Weltausstellung von 1867, schlug der Vizedirektor des Österreichischen Museums, Jacob von Falke, vor, die nationale Hausindustrie auf der Wiener Weltausstellung von 1873 zum ersten Mal als eigenständige Gruppe zu präsentieren.23 Die Leitung der Ausstellung versandte das von Falke entworfene Spezialprogramm in alle Welt und lud Länder dazu ein, mithilfe von Exponaten nationaler Hausindustrie24 eine Vorstellung von ihrer nationalen Eigenart zu geben. Manche Teilnehmer kamen dieser Forderung mit der Übersendung zahlreicher Kollektionen verschiedenartigster Gegenstände (textile Arbeiten, Töpferwaren, Möbel etc.) nach und zeigten auch Bauernhäuser, die regionalspezifische autochthone Bautypen repräsentieren sollten. Die hübschen kleinen Bauernhäuser, die Landesleute in ihren Trachten und die einfachen Erzeugnisse bezauberten das urbane Publikum.25 [abb. 2] Falke monierte allerdings, dass sein Hausindustrie-Programm vielfach missverstanden worden sei. Manche Länder hätten den »ethnographischen Gesichtspunkt mit dem künstlerisch-industriellen verwechselt« und im offiziellen Katalog wären die modernen Kunstgewerbeprodukte mit jenen der

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Falke, Jakob: Die Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873. Wien: Gerold’s Sohn, 1874; bes. Kapitel »Die nationale Hausindustrie«, S. 410–419, S. 412 f; siehe auch Lessing, Julius: Das Kunstgewerbe auf der Wiener Weltausstellung 1973. Berlin: Wasmuth, 1874, S. 31. Falke versteht darunter »Gegenstände, welche im Gegensatze gegen die Mode und die moderne Industrie vom Volke selbst für den eigenen Gebrauch mit nationalen, auf alter Tradition, altem Herkommen beruhenden Eigenthümlichkeiten geschaffen werden.« Falke: Die Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873, S. 412. Richter, Carl: Officieller Ausstellungs-Bericht Gruppe XXI: Die Nationale Hausindustrie. Wien: General-Direction der Weltausstellung, 1874, S. 12. Wie Falke hebt auch Richter Schweden, Norwegen, Russland und Österreich-Ungarn als jene Länder hervor, die – nicht zuletzt, weil hier die Industrialisierung die Ursprünglichkeit der ländlichen Handwerksproduktion noch nicht zerstört hätte – dem Ausstellungsprogramm besonders entsprochen hätten. Vgl. auch Pemsel, Jutta: Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt. Wien u. a.: Böhlau, 1989; sowie der Beitrag von Elke Krasny in diesem Band.

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Hausindustrie in der Gruppe xxiii »völlig durcheinander geworfen worden«. Vor allem aber sei der für ihn im Vordergrund stehende »künstlerische Gesichtspunkt« der Dienstbarmachung dieser Formen nicht ausreichend berücksichtigt worden.26 Falke sah also auch das künstlerische und kommerzielle Verwertungspotenzial der volkstümlichen Motive, den Beitrag, den die Volkskunst zur Weiterentwicklung der industriellen (historistisch geprägten) kunstgewerblichen Produktion der Gegenwart leisten konnte: »Man hat die Kunststile der Vergangenheit allgemach durchgeplündert und ist einigermaßen gesättigt von der ewigen Imitation und Wiederholung bekannter Formen und Ornamente, […]. Hier sprudelt nun eine neue unbekannte Quelle, […]. Eine reiche Fülle origineller Formen, alle bereits durch den praktischen Gebrauch seit Jahrhunderten bewährt, steht zu Gebote, desgleichen eine Fundgrube von Ornamenten […]. Was der Zeitgeschmack braucht, das Neue in Verbindung mit dem Schönen, Richtigen und Vernünftigen, das eben ist hier vorhanden […].«27 Mit dem Sammeln und Ausstellen der ganzen Bandbreite von »Hausindustrie« integrierte Falke die bisher kaum be- und geachteten Erzeugnisse der Landbevölkerung in die Maschinerie des »exhibtionary complex« und das städtische Kulturleben.28 Das Österreichische Museum entwickelte sich rasch zu einem Forschungs- und Kompetenzzentrum in Sachen Hausindustrie.29 Falkes »Entdeckung« der ländlichen Hausindustrie hatte nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 für die Österreicher bedeutende politische Folgen. Während das nationalstaatliche neue Deutschland nun reichlich Gelegenheit hatte, seine vielen regionalen »Volkskunst«-Ausprägungen in einer größeren, sprachlich homogenen Einheit aufgehen zu lassen, bargen die Hausindustrien der vielen Völker des Habsburgerstaates die Gefahr, als Symbole der nationalen Uneinheitlichkeit zu gelten. Wie Wendy Salmond gezeigt hatte, war die Politisierung der Hausindustrie besonders stark in Staaten, wo eine Zentralregierung den Ambitionen nationaler Minderheiten im Wege stand: die Habsburger-Monarchie war einer von diesen Staaten.30 26 27 28

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Falke: Die Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873, S. 413ff. Falke, Jacob von: »Die nationale Hausindustrie«, in: ders.: Zur Cultur und Kunst. Wien: Carl Gerold’s Sohn, 1878, S. 287–327, 296–97. Alois Riegl, der Museumskurator für Textilien, legt mit seinem Essay »Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie« einen beachtenswerten, weil wirtschaftsgeschichtliche Aspekte aufgreifenden Versuch zur Klärung der Terminologie um die ländlich-bäuerlichen Produkte vor. Riegel, Alois: Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie. Berlin: Siemens, 1894. Siehe auch Vasold, Georg: Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten. Freiburg: Rombach, 2004. Julius Lessing, der Direktor des Kunstgewerbemuseums in Berlin, verfolgte eine ähnliche politische Interpretation; siehe Lessing: Das Kunstgewerbe auf die Wiener Weltausstellung 1873, S. 33. Vgl. dazu auch Salmond: Arts and Crafts in Late Imperial Russia, 1996.

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Museumsdirektor Rudolf von Eitelberger erkannte die politischen Gefahren, die der allgemeine Enthusiasmus für die regionalen Hausindustrien in sich barg. Dennoch war er davon überzeugt, dass es dem Museum möglich sein müsste, eine Strategie zur Überwindung der Nationalitätenprobleme zu entwickeln.31 1871, unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reiches, schlug er eine ästhetische Lösung für das Problem des sprachlichen Nationalismus im Habsburger-Reich vor. Einem größeren Österreich sollte eben die Sprache der Kunst als Nationalsprache dienen: »Dass die Sprache ein völkerscheidendes Element geworden ist, das ist leider wohl kein Zweifel mehr. Jede Stärkung des sprachlichen Conflictes erhöht die Scheidewand zwischen den Völkern. Aber bisher war man der Ansicht, daß eben die Kunst dasjenige Element sei, welches die Völker vereinige. Denn eine Zeichnung, eine Gemälde, spricht zu jedem gleich, ist jedem gleichmäßig verständlich und zugänglich.«32 Eitelbergers Vision von Kunst, Mode und Politik durchdrang alle Aktivitäten des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie. Dabei erkannte er auch in der Volkskunst eine Gelegenheit zur Darstellung einer übernationalen österreichischen Identität im Ausland. In einem Referat, Zur Frage der Hausindustrie, deutete Eitelberger die österreichische Pflege des bäuerlichen Kunsthandwerks als Hinweis dafür, dass Österreich dem neuen Deutschen Reich künstlerisch und kulturell überlegen sei.33 Während die Hausindustrie aus den industriell weiter entwickelten Teilen Westeuropas und Deutschlands fast verschwunden war, besaß Österreich viele Rückzugs- und Randgebiete, deren bäuerliche Bevölkerung nach wie vor in traditioneller Handwerkstechnik produzierte. Auf diese Weise machte Eitelberger aus der Not eine Tugend und schuf auch ein Argument, das für eine österreichische Identität sprach. Während das Deutsche Reich, ein Parvenu im Vergleich zum alten Habsburgerreich, militärisch gesiegt hatte, konnte Österreich der Welt in der gütigen und weisen Verwaltung und Verwertung seines kulturellen Erbes eine andere, eine unmilitärische Stärke zeigen. Er entwarf Österreich als einen Kulturstaat, in dem habsburgertreue Deutsche weiterhin die Führung beanspruchen und gleichzeitig einen neuen Patriotismus für das Ganze entwickeln konnten.34 31

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Eitelberger, Rudolf von: »Die Kunstbestrebungen Österreichs« (1871), in: ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften. Bd. 2, Österreichische Kunst-Institute und kunstgewerbliche Zeitfragen. Wien: Braumüller, 1879, S. 171–203. Eitelberger: »Die Kunstbestrebungen Österreichs«, S. 196–197. Eitelberger, Rudolf von: »Zur Frage der Hausindustrie«, in: MöM 19, 1885, S. 25–34, S. 55–57. Eitelberger forcierte den Begriff »Volkskunst« seit Mitte der 1870er Jahre. In den Folgejahren wurde die Frage der hausindustriellen Textilproduktion in Österreich heiß diskutiert, wobei auch um die Definition der Begriffe »Volkskunst« und »Hausindustrie« heftig gestritten wurde. Vgl. auch Deneke, Bernward: »Volkskunst. Leistung und Defizite eines Begriffes«, in: Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 15, 1992, S. 7–22.

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Eitelbergers ästhetischer Patriotismus hatte auch eine soziale Aufgabe. Er und Falke waren zutiefst davon überzeugt, dass der Niedergang des bäuerlichen Handwerks im Zuge der Industrialisierung die ländliche Bevölkerung in Armut und moralische Abgründe führen müsse. Falke malte aus, wie eine bäuerliche Familie besonders in den Wintermonaten ihres traditionellen abendlichen Zeitvertreibs beraubt, zwangsläufig Opfer der Langeweile und des moralischen Verfalls würde: »Aber was geschieht mittlerweile mit jenen Händen, welche die langen Monate des Winters ebenso angenehm wie ersprießlich mit dieser Arbeit verbracht haben? [...] Nehmen wir hier der Frau ihre Weberei [...], nehmen wir dem Manne das Schnitzmesser [...], was wird ihnen übrig bleiben die lange, lange Winterzeit als der Müßiggang und was er an Demoralisation im Gefolge führt?«35 Die verarmte Landbevölkerung würde in die Städte abwandern und dort den Kern einer entwurzelten Schicht bilden, die Eitelberger als »eine heimatlose, familienlose Gesellschaft von Arbeitern« charakterisierte.36 Diese Entwurzelten waren nun empfänglich für radikale politische Vorstellungen.37 Der beste Weg, die Verwandlung der Landbevölkerung in eine revolutionäre Klasse zu vermeiden, wäre es, sie »in Beschäftigung zu halten«, indem man ihre handwerklichen Erzeugnisse den Städtern schmackhaft machte.38 Eitelbergers Sorge um die ländliche Bevölkerung war also auch politisch motiviert; die ästhetischen Aufgaben des Museum sollten ein Bollwerk gegen soziale Unruhen bilden. Die Frage war, wie das bäuerliche Handwerk zur Lösung sozialer und ökonomischer Probleme herangezogen werden konnte, ohne die mit der Volkskunst-Debatte unauflöslich verbundenen nationalistischen Strömungen zu stärken. Eitelberger sah in der Einrichtung eines neuen speziellen Schultyps, der (ethnisch) nationalen Fachschule, ein Mittel zum patriotischen Zweck. Dieser neue Schultyp sollte die verschiedenen ethnischen Hausindustrien der österreichischen Länder bewahren und neu beleben. Anders als die Fachschu35 36 37 38

Falke: »Die nationale Hausindustrie«, S. 324–325. Eitelberger: »Zur Frage der Hausindustrie«, in: MöM 19, 1884, S. 33. Ebda. Eitelberger, der 1885 starb, konnte zwar nicht mehr erleben, wie die patriotische Initiative von Kronprinz Rudolf, die 24-bändige landeskundliche Enzyklopädie Österreich-Ungarn in Wort und Bild (1895–1902), Gestalt annahm. Doch der Impuls war ähnlich: eine unparteiische Wertschätzung und Präsentation aller in der Monarchie vorhandenen ethnischen Gruppen und deren materieller Kultur, von Wien aus orchestriert, sollte eine Quelle für Einheit in der Vielheit sein. Vgl. Stagl, Justin: »›Das Kronprinzenwerk‹ – eine Darstellung des Vielvölkerreiches«, in: Moravánszky, Ákos (Hg.): Das Entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 2002, S. 169–182; und Rampley, Matthew: »For the Love of the Fatherland. Patriotic Art History and the Kronprinzenwerk in Austria Hungary«, in: Centropa 9, 2009 /3, S. 160–175.

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len wurden die »nationalen Hausindustrieschulen« in entlegenen Dörfern ethnischer Minderheiten angesiedelt. Hier sollten sie den subversiven nationalistischen Elementen begegnen, indem sie modellhaft den Führungsstil eines aufgeklärten und toleranten Staates abbildeten. Während die nationalistische Rhetorik etwas Trennendes und Spaltendes an sich hatte, sollte Eitelbergers Schulprogramm integrieren und ländliche Bevölkerungsgruppen in österreichische Staatsbürger verwandeln: kreativ, tugendhaft, aufrecht, gut ausgebildet und patriotisch. Für ihn waren das Museum und seine Unterrichtsanstalten Instrumente im patriotischen Kampf gegen die anflutenden regionalen Nationalismen. Museum, Fachschulen und Ausstellungen sollten der Bevölkerung Österreichs einen »neutralen Boden« der Kunst bereiten, um den Nationalitätenstreit zu entschärfen.39 Das Museum verbreitete eine patriotische Ideologie, die gleichzeitig mit der Hausindustrie-Forschung verlief.40 Nach 1875 setzte das Museum mit seinen nationalen Fachschulen einen intensiven Austausch vernakularer Objekte und Muster zwischen Zentrum und Peripherie in Gang. Studenten aus weit voneinander entfernten Orten wie Zakopane (Galizien) und Innsbruck, oder Brünn und Laibach/Ljubljana (Slovenien), erfuhren die gleiche kunstgewerbliche Ausbildung, die zentral von Wien aus administriert wurde. Ihre Lehrer waren in Wien ausgebildet worden; ihre Zeichenateliers waren mit Gipsabgüssen, Lehrbüchern und Modellen aus Wien ausgestattet; ihre »bodenständigen« Entwürfe wurden von den Lehrern verfeinert und von Wien aus über ganz Österreich verbreitetet. Im Sinne von Eitelbergers patriotischer Vision vereinigte das System der Kunstgewerbeschulen Wiens ästhetische und ökonomische Strategien mit einem an alle Völker der österreichischen Reichshälfte gerichteten assimilierenden Kulturauftrag. Musealisierung vernakularer Architektur

Die Bemühungen um Dokumentation der Bauernkultur schloss auch Architektur mit ein. Als Eitelberger 1878 die Tiroler Landesausstellung in Innsbruck besuchte, gab er zu bedenken, dass das Tiroler Bauernhaus eine ursprüngliche Bautradition repräsentierte, die vom Modernisierungsprozess ernsthaft gefährdet sei. Er schlug daher Bauaufnahmen zur Dokumentation dieser Bauten vor: »Der Tiroler hat auch Sinn für die künstlerische Ausstattung in Haus und Kirche, so dass sich in diesem Alpenlande der Hausbau, insbesondere das Wohnhaus des Landbewohners, eigenthümlich gestaltet hat. Die Aufnahme

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Eitelberger, Rudolf von: »Zwei kunstgewerblichen Zeitfragen«, in: MöM 13, 1878, S. 21–31, S. 28. Vgl. Rampley: »For the Love of the Fatherland«.

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von charakteristischen Bauernhäusern älteren Datums, wäre eine schöne Aufgabe für jüngere Architekten.«41 Eitelberger war mit seinem Aufruf, die heimischen Bauernhäuser zu dokumentieren, nicht allein. Schon vorher hatte es Maßnahmen zur Erhebung von Bauernhäusern in verschiedenen österreichischen Ländern der Doppelmonarchie gegeben, die von agrar- und sozialökonomischen Überlegungen getragen waren.42 Auch wurden 1873 Planaufnahmen und Muster-Bauernhäuser aus Böhmen, Kroatien, Ostgalizien, Vorarlberg und so weiter auf der Weltausstellung präsentiert. Aus Eitelbergers Perspektive sollte nun die »Volkskunst« (und damit auch das Bauernhaus) in ihren unterschiedlichen Ausformungen als einheimisch, das heißt österreichisch wahrgenommen werden und als solche der Fragmentierung der Monarchie vorbeugen. »Wenn daher bei uns nicht das Gefühl gepflegt wird, jeden im Gesammtgebiete der Monarchie hervorgebrachten Gegenstand als einen einheimischen zu betrachten und demgemäß zu behandeln, so würde das industrielle, künstlerische und gewerbliche Leben in Österreich einer auch vom staatlichen Geschichtspunkt höchst bedenklichen industriellen und artistischen Zerbröckelung entgegen gehen.«43 Eitelbergers Angst vor Zersplitterung des Ganzen saß tief. Die Nationalitäten-Krise bedurfte nicht nur einer politischen, sondern auch einer ästhetischen Lösung. Eitelbergers ästhetisch-politische Aufgabe wurde mithilfe der Kunstgewerbeschulen in Angriff genommen. In den nächsten Jahren lieferten die Fachschulen einen wesentlichen Beitrag zur Dokumentation bäuerlicher Architektur. Johann Deininger, Architekt und Direktor der k.k. Staats-Gewerbeschule in Innsbruck, befolgte Eitelbergers Rat. Sein Mitte der 1890er Jahre zunächst in fünf Mappen und dann großformatig als Prachtband erschienenes Buch Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg44 muss, ebenso wie Carl A. Romstorfers Untersuchungen zum Bauernhaus in der Bukowina [abb. 3],45 41 42 43 44

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Eitelberger, Rudolf von: »Das Kunstgewerbe auf der Tirolischen Landesausstellung 1878«, in: ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften Bd. 2, S. 1–20, S. 3–4. So initiierte etwa die von Erzherzog Johann begründete Landwirtschaftsgesellschaft bereits 1829 die Planerhebung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden in der Steiermark. Eitelberger: »Tirolische Landesausstellung 1878«, S. 19. Deininger, Johann W. (Architekt, Regierungsrath und Director der k.k. Staats-Gewerbeschule in Innsbruck): Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg. Im Auftrag des k.k. Ministeriums für Cultus und Unterricht nach Originalaufnahmen. Wien: Czeiger, o. J. (1894–97?). Romstorfer, Carl A.: Das Bauernhaus in der Bukowina. Erläuterungen für die Besucher des Bukowinaer Gebirgs-Bauernhauses auf der allgemeinen land- und forstwirthschaftlichen Ausstellung Wien 1890. Czernowitz: Czernowitzer Buchdruckerei-Gesellschaft, 1890; ders.: »Das Bauernhaus in Galizien und der Bukowina – Das Huzulenhaus und rumänische Bauernhäuser«, in: Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 89, 1886; ders.: »Das Bauernhaus in Galizien und der Bukowina«, Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 39; ders.: »Typen der landwirtschaftlichen Bauten im Herzogthume Bukowina«, in: Mittheilungen der Anthropo

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als Beitrag zur österreichischen (Bauern-)Hausforschung gesehen werden, die damals im internationalen Vergleich eine beachtliche Stellung einnahm.46 Das Museum für Kunst und Industrie konnte sich auf einen Kader spezialisierter Fachschullehrer wie Deininger und Romstorfer stützen, die zunehmend mit Interessenten aller Art zusammenarbeiteten. Bereits in den 1870er Jahren hatte Arthur Freiherr von Hohenbruck, Sektionschef im k.k. Ackerbauministerium, den Architekten und späteren Gewerbeschule-Direktor Romstorfer mit der Zusammenstellung einer Serie von 300 Planaufnahmen betraut, die er in einer Auswahl auch auf den Weltausstellungen 1873 in Wien und 1878 in Paris präsentieren ließ. Mit der Gründung des BauernhausComités der Wiener Anthropologischen Gesellschaft im Jahr 1891 war das Bauernhaus endgültig zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung geworden, um den sich auch Fachlehrer des Österreichischen Museums rege bemühten.47 Eitelberger war jedenfalls mit seinem Aufruf zur Dokumentation des Tiroler Bauernhauses von 1878 der Beschäftigung mit Bauernarchitektur als Mode- und Ideologieerscheinung vorausgegangen, und es waren zumeist Fachschullehrer wie Romstorfer oder Deininger, die als erste begannen, das vormodern-ländliche Bauwesen in der Umgebung ihrer Schulen festzuhalten. Wo immer sie sich auch befanden, katalogisierten sie die lokal vorfindlichen Objekte, Ornamente und Motive und ließen sie in ihren Unterricht einfließen. [abb. 4, 5] Sie schufen damit auch die Basis für die standardisierte Aufbereitung von Formen und Motiven der Volkskunst, die eine »invention of tradition« ermöglichte. Schließlich publizierten diese Fachschullehrer, ob sie nun in der Bukowina, in Galizien, Bosnien oder Tirol wirkten, jene Bücher, die den Künstlern und Architekten in Wien vernakulare Vorbilder verfügbar machten. In regionalen und internationalen Ausstellungen konnten die Fachschulen ihre Leistungen präsentieren und gleichzeitig das Publikum mit dem Reichtum an ethnischen Formensprachen konfrontieren, der unter der Ägide des Österreichischen Museums zusammengetragen worden war.48

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logischen Gesellschaft Wien 22, 1892, S. 1–40 und S. 103; ders.: Die Kirchenbauten in der Bukowina. Mittheilungen der K.K. Centralkommsion für Kunst- und Historische Denkmale in Wien. Wien: k.k. Staats- und Hofdruckerei, 1894 /96; zur Staatsgewerbeschule selbst vgl. ders.: Entwicklungsgeschichte der k.k. Staats-Gewerbeschule in Czernowitz, 1873–1898. Denkschrift hg. anlässlich der Feier des 25-jährigen Bestandes der Lehranstalt, 14. August 1898. Czernowitz: Selbstverlag der k.k. Staats-Gewerbeschule, 1898. Vgl. Moser, Oskar: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV, Wien 1991, S. 329–350, S. 330. Vgl. dazu Moser: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«; Haberlandt, Arthur: »60 Jahre vergleichende Bauernhausforschung im Rahmen der Wiener Anthropologischen Gesellschaft in Wien«, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft 82, 1953, S. 22–32. Diese Idee lief parallel zum Kronprinzenwerk. Vgl. Rampley: »For the Love of the Fatherland«.

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Fallstudie 1: Zakopane

Eines der bekanntesten Beispiele dieser synthetisierenden Tätigkeit des Museums ist die Fachschule für Holzindustrie in Zakopane, einem Ort im TatraGebirge, damals zum Kronland Galizien und Lodomerien, heute zu Polen gehörig. Diese Schule wuchs unter der Patronanz einer lokalen, nationalistischen Bewegung, die sich die Erhaltung des (Kunst-)Handwerks der dort ansässigen Goralen zum Ziel gesetzt hatte.49 1878 ging sie im Fachschulsystem auf und der Prozess der Erfassung und Verbreitung des Zarkopane-Stils begann. [abb. 6] Wie David Crowley gezeigt hat, verkörperte das Zakopane-Projekt die kosmopolitische Seite des österreichischen Staates, illustrierte aber gleichzeitig einige Paradoxien des Fachschulsystems. Die Unterrichtssprache war in allen Klassen Polnisch; Direktor der Fachschule war der tschechische Architekt und Designer František Neužil, ein Tscheche, der in Wien studiert hatte. Der von den Fachschullehrern vermittelte Dialog zwischen Zentrum und Peripherie transportierte eine Botschaft, die gemischte Gefühle wecken musste. Die Lehrer griffen auf historistische Vorlagen (mit Schwerpunkt auf Renaissance) ebenso zurück wie auf Muster der Volkskunstproduktion aus anderen Gebieten, und beide Quellen beeinflussten die lokale Handwerksproduktion. Dabei ging es nicht nur um die Erhaltung der lokalen Motive in Zakopane. Da auch eine Einkommensquelle für Mädchen eingeführt werden musste, wurde eine Klöppelschule in Zakopane eingerichtet, deren Direktorin, Josephine von Stelcer, ebenfalls aus Wien kam. Weil das Klöppeln in der Handwerkstradition der Goralen nicht vorkam, entwarf Stelcer von der regionalen Flora and Fauna inspirierte Spitzen.50 Ergänzend aber zog sie Vorlagen etwa aus Böhmen heran. Damit war der Zakopane-Stil in der Stickerei eine »erfundene Tradition«, hervorgegangen aus dem Schul- und exhibitionary complex, in dem die Fachschullehrer »fremde« ästhetische Produktionsmuster importierten, zum anderen aber auch mit ihren Publikationen lokale Motive exportierten. Sie schufen damit nicht nur »invented traditions«, sondern auch Form-Hybride. Die Grenze zwischen Bewahren und Täuschung war fließend. Lokalpatrioten waren allerdings aufgebracht über die Einführung von Entwürfen und stilistischen Formen, die von außen kamen:

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Vgl. u. a. Crowley, David: National style and nation-state. Design in Poland from the Vernacular Revival to the International Style. Manchester: Manchester University Press, 1992; ders.: »Pragmatism and Fantasy in the Making of the Zakopane Style«, in: Centropa 3, 2002, S. 183–195; siehe auch sein Beitrag in diesem Band. »Die Klöppelschule zu Zakopane«, in: MöM, Neue Folge 1, März 1886, S. 72. Die Klöppelschule hatte im Jahr 1886 55 Studierende, war jedoch nicht besonders erfolgreich und wurde später geschlossen.

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»Die k.k. Fachschule für Holzindustrie ist Zakopanes Brutstätte für tirolerisch-wienerischen Geschmack, ein deutsches Gift, das die Fertigkeiten der Goralischen Bauern erschlaffen lässt […] Obschon mit dem Ziel angetreten, angewandte Kunst basierend auf der Handwerkskunst der Bauern zu entwickeln, die in ihrer Unabhängigkeit und Originalität alle ihre Gegenstände schmücken, […] trägt diese Schule rein gar nichts zur Entwicklung der lokalen künstlerischen Motive bei. Der Einfluss von deutschen und RenaissanceVorbildern, sowie oft überaus unglückliche Vorstellungen von Ornamenik bedeuten einen Bruch mit den naiven, authentischen Traditionen der Schüler und ihrer nationalen Gesinnung.«51 Anders war die Perspektive im Zentrum: Die Erhaltung von bäuerlichem Kunsthandwerk der Goralen wurde in Wien oft enthusiastisch rezipiert. Für den aufmerksamen Beobachter und Kommentator des zeitgenössischen Kulturlebens, Ludwig Hevesi, bot die schiere Existenz einer derartigen Vielfalt an Volkskunstmotiven, wie sie in der österreichischen Reichshälfte vorzufinden war, einen einzigartigen Zugang zur Moderne. Er berichtet von Malern, die sich, angezogen von der »leuchtenden, tonsatten Farbenharmonie« der Bauernkunst, in den noch nicht »von Kultur durchsetzten« Regionen niedergelassen hatten, aber auch von der Adaptierbarkeit goralischer Bauernarchitektur: »Und in Galizien sind es auf der südlichen Seite die Huzulen, die eine prächtige, noch intakt fortblühende Volkskunst besitzen, auf der westlichen Seite aber die Goralen der Tatra, an deren Nordfuß Zakopane, das Zentrum eines jetzt planmäßig gehegten ›Zakopaner Stils‹ geworden ist, dessen bäuerliche Motive sich trefflich den bürgerlichen Erfordernissen anpassen und modern fortentwickeln lassen.«52 Auch die Wiener Journalistin und Kunstkritikerin Berta Zuckerkandl war davon überzeugt, dass »das sorgsame Zusammentragen alter Hauskulturen« das künstlerische Selbstbewusstsein der »urwüchsigen Stämme« heben und zugleich einen unausschöpfbaren Jungbrunnen für die moderne Kunst und Hausindustrie darstellen würde. Doch wie Hevesi stand sie der Hausindustrie-Politik des Wiener Museums zutiefst kritisch gegenüber, ja sah im Fachschulsystem und den Organisationen, die zum Schutz und zur wirtschaftlichen Hebung von Hausindustrien gegründet wurden, eine Gefahr: »Durch die Errichtung von kunstgewerblichen Fachschulen in allen Kronländern, in welchen nach einem einheitlichen Lehrprinzipe Kunsthandwer-

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Crowley: »Pragmatism and Fantasy in the Making of the Zakopane Style«, S. 193. Hevesi, Ludwig: »Volkskunst« (18. Februar 1906), in: ders.: Altkunst – Neukunst. Wien 1894– 1908. Wien: Verlagsbuchhandlung Carl Konegen, 1909, S. 400–405, S. 404.

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ker herangedrillt werden, glaubt man eine Niveauerhöhung zu erzielen. Eine Niveauerhöhung der Routine vielleicht, aber gewiss auf Kosten des edelsten Besitzestandes, das ist die Eigenart des Charakters. Die Vielartigkeit in Österreich sollte als kräftigstes Kunstprinzip erhalten und nicht zur Einartigkeit niedergezwungen werden.«53 Trotz ihrer Kritik zeigte Zuckerkandl eine erneute Fassung des Eitelbergerschen »neutralen Bodens« der Kunst in Österreich, teilte also das unter Museumsbeamten verbreitete Modell eines Staatsnationalismus, in dem die unterschiedlichen ethnischen »Volkskünste« nebeneinandergestellt die Einheit der Nation demonstrieren sollten. Im Sinne einer Vielheit Raum gebenden Einheit wurden regionale vernakulare Stile ein unverzichtbarer Teil der habsburgischen Selbstdarstellung auf der internationalen Buhne des exhibitionary complex. Für die Pariser Weltausstellung von 1900 bauten die Schüler der Fachschule ein komplettes Zakopane-Interieur für den österreichischen Pavillon. Die Präsentation wurde von einem Buch im Großformat, Die Art Zakopane (1899), begleitet, das der Fachschullehrer Edgar Kovats zusammengestellt hatte.54 Fachschullehrer in anderen Regionen trugen ebenso zu dieser patriotischen Mission bei. Erich Kolbenheyer, Fachschullehrer in Czernowitz, veröffentlichte 1912 ein Buch über die Hausindustrielle Stickerei in der Bukowina und wurde poetisch bei der Beschreibung des ethnisch gemischten Ruthenien als ein Österreich »en miniature«: »Auf kleinem Erdfleck zusammengedrängt wohnen hier nebeneinander Rumänen und Ruthenen, ... Huzulen, ... Deutsche, ... Polen, ... Slovaken, ... Armenier, Juden und Zigeuner; sowohl nach Nationalität und Glauben als auch nach Sprache, Sitten und Gebräuchen, ... ein buntes Volksgemisch, ein Bild Österreichs im kleinen.«55 Nach 1900 konterten Mitarbeiter des exhibitionary complex wie Kolbenheyer die in Mitteleuropa aufkommende Rhetorik des Nationalismus mit der Metapher des multi-nationalen Mosaiks.56 Österreich sollte sich als far-

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Zuckerkandl, Berta: »Echte und gefälschte Kunst«, in: Zuckerkandl, Berta: Zeitkunst. Wien 1901–1907. Mit einem Vorwort von Ludwig Hevesi. Wien: Heller, 1908, S. 40–46, S. 41. Kovats, Edgar: Die Art Zakopane (Sposob zakopanski. Manière de Zakopane). Wien: A. Schroll, 1899. Text in deutsch, polnisch und französisch, 40 Bildtafeln. Kolbenheyer, Erich: Motive der Hausindustriellen Stickerei in der Bukowina. Hg. vom k.k. Ministerium für öffentliche Arbeiten und vom Bukowinaer Landesausschuss. Wien, 1912. Jarzombek, Mark: »Joseph August Lux: Werkbund Promoter, Historian of a Lost Modernity«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 63, 2004, S. 202–219. Jarzombek beschreibt, wie Lux 1908, nachdem er einer seiner leidenschaftlichsten Unterstützer geworden war, aus dem deutschen Werkbund – nicht zuletzt aufgrund der hier mehr und mehr in den Vordergrund tretenden nationalistischen Perspektive innerhalb des Kreises um Hermann

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benprächtiges Kunstwerk ein ästhetisches Viribus unitis (lat. »mit vereinten Kräften«)57 entwickeln. Fallstudie 2: Bosnien

Die Besetzung von Bosnien und Herzegowina 1878 fügte dem österreichischen Mosaik zwei neue Steinchen hinzu. Das Geben und Nehmen zwischen Zentrum (Wien) und Provinz (Sarajevo) bereicherte das Habsburger Reich um neue Formen des Kunsthandwerks und der vernakularen Architektur. Der Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay startete 1887 in Bosnien eine Initiative zur »Erweckung und Wiederbelebung des bosnischen Kunstgewerbes«.58 Das bosnische Handwerk hatte seiner Ansicht nach unter der osmanischen Herrschaft gelitten. Teil der zivilisatorischen Mission Österreich-Ungarns war es, die Erzeugnisse der lokalen Hausindustrie auf dem internationalen Markt erfolgreich zu machen.59 Um dies zu bewerkstelligen, suchte Kállay den kompetenten Rat des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie. Nach der Einrichtung von Fachschulen und kunstgewerblichen Ateliers in Sarajewo, Mostar und Livno, ernannte er den Direktor der Wiener Kunstgewerbeschule, Joseph von Storck, zum Leiter des Projektes.60 Unter Storcks Leitung wurde abermals die bereits institutionalisierte Maschinerie des exhibitionary complex in Gang gesetzt: »[...] Reichsfinanzminister von Kállay [hat] die eines Kulturstaates würdige Aufgabe darein erkannt, vom Erlöschen bedrohte Kunstübungen zu erhalten [...] Werkstätten zu gründen, [...] und schließlich durch Hofrat Storck Vorlagen fertigen lassen, um den Geschmack der Einheimischen zu reinigen [...].«61 Ab 1887 wurde bosnisches Kunsthandwerk dokumentiert, ausgestellt und verfeinert. In Wien ausgebildete Lehrer wurden an die Fachschulen berufen und ortsansässige Handwerker wurden in alte Handwerkstechniken wie-

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Muthesius – hinausgedrängt worden war. Lux hatte im Sinne eines traditionalistischen Modernismus argumentiert, der im Grunde weltoffen wie (in konservativer Ausformung) aufgeklärt war und damit dem Rationalismus wie dem zunehmend nationalistischen Ton des Werkbunds entgegenstand. Viribus unitis – Wahlspruch Kaiser Franz Josephs I. Unter diesem Titel erschien 1898 »Das Buch vom Kaiser« anlässlich des 50-jährigen Regierungsjubiläums Franz Josephs. Kállay, Benjamin von: »Zur Frage des kunstgewerblichen Reforms im Occupations-Gebiet« Wien 10 Februar 1887. Archiv BiH, ABH ZS Pr. B.H. 91 /1887. Kucna Radinost, S. 43 /14 /7. Bosnien und Herzegowina waren keinem Reichsteil zugeschlagen und wurden k.k. Finanzministerium verwaltet. Vlg. Donia, Robert: Islam under the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina 1878-1914. New York: Columbia University Press, 1981. Zur Kunstgewerbereform in den Gebieten vgl. Reynolds, Diana: »Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe: Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878–1900« in: Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula /Csáky, Moriz (Hg.): Habsburg Postcolonial. Innsbruck: StudienVerlag, 2003, S. 243–258. Scholda: Theorie und Praxis im Wiener Kunstgewerbe des Historismus, S. 54; Allgemeine Kunst-Chronik 14, 1890, S. 354. Ebda.

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der eingeschult, um Waren für Konsumenten in den Städten zu produzieren.62 [abb. 7] Durch die Gründung des Landesmuseums in Sarajevo (1884) wurden auch andere Mitarbeiter und Beamte des neuen exhibitionary complex in Bosnien sesshaft.63 Kállays Initiative schien erfolgreich und die neuen, exotisch anmutenden Produkte aus Bosnien fanden enthusiastische Aufnahme in den Metropolen. Orientalische Objekte verkauften sich gut auf den europäischen Märkten und die bosnischen Erzeugnisse – so hofften viele – sollten auch erfolgreich mit dem indischen »Tand«, den die Briten vermarkteten, konkurrieren. Der von den österreichischen Kulturmissionaren aufbereitete orientalische Zauber Sarajewos garantierte für Kunsthandwerk und Architektur aus Bosnien regelmäßige Ausstellungspräsenz in Wien. Bosnische, in Sarajewo produzierte Teppiche, deren Design Joseph von Storck »veredelt« hatte, erregten 1889 Aufsehen auf der Ausstellung des Österreichischen Museums anlässlich seines 25-jährigen Bestehens.64 Eine mehr ethnographische Sensation waren die traditionellen bosnischen Trachten auf der Kostüm-Ausstellung des Museums 1891, die zwei Jahre später für das Kaiserliche Ballett adaptiert wurden.65 Die bosnische Landesregierung hatte ab den 1890er Jahren in internationalen Ausstellungen gewöhnlich einen eigenen Pavillon und betrieb in Wien eine eigene Verkaufstelle.66 [abb. 8, 9] Auch die Architektur Bosniens fand ihren Weg nach Wien. 1887 gab der Leiter des Stadtbauamtes von Sarajewo, Eduard Stix, einen umfangreichen Band, betitelt Das Bauwesen in Bosnien und Hercegowina, heraus. Stix’ Ziel war es, die Errungenschaften der habsburgischen Administration seit 1881 zu dokumentieren.67 Für Stix zeigte sich der Erfolg der österreichi-

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So wurde etwa der Silberschmied Mustafa Bekti´c aus Sarajevo 1888 unter Vertrag genommen, um in einem staatlichen Atelier zu unterrichten. Archiv BiH Allgemeine Landesregierung, 1888 god. Kutija 8/ K 58 S. 42–370, S. 137. Später wurde er zwecks Unterrichtung in klassischen Stilformen an die Kunstgewerbeschule nach Wien gesandt. Vgl. auch Allgemeine Kunst-Chronik 14, 1890, S. 354. Zur Gründung des Bosnischen Landesmuseums siehe Donia, Robert: Sarajevo: A Biography. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2006: vgl. auch Schmidt: Volkskunst in Österreich, S. 63, und Hoernes, Moritz (Hg.): Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnien und Herzegowina (1893–1916). 64 »Kunstgewerbliche Erzeugnisse orientalischen Genres«, in: Das Handels-Museum vom 18. April 1889, S. 255–56. Vgl. auch Allgemeine Kunst-Chronik 13, 1889, S. 235. Costüme-Ausstellung im k.k. Österr. Museum. Catalog der bosnisch-herzegowinischen Abtheilung im Säulenhofe des k.k. Österr. Museums. Ausgestellt vom bosnisch-herzegowinischen Landes-Museum in Sarajevo. Wien: Carl Gerold’s Sohn, 1891. Vgl. Falke, Jacob von: Führer durch die Costüme-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum, Wien 1891. Für das Ballet vgl. »Eine Hochzeit in Bosnien«, in: Bosnische Post 10, 1893, S. 1; vgl. auch Reynolds, Diana: »Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe«. Bureau für das Haus- und Kunstgewerbe in Bosnien und der Herzegowina. Ständige täglich geöffnete Verkaufsstelle der bosn.-herz. Regierungsateliers in Sarajevo, Foca und Livno. Stix, Edmund: Das Bauwesen in Bosnien und der Herzegowina vom Beginne der Occupation bis in das Jahr 1887. Hg. von d. Landesregierung für Bosnien und Hercegovina. Wien, 1887.

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schen Kulturmission unübersehbar in Straßenverbindungen, öffentlichen Gebäuden und Ingenieurbauten, die in so kurzer Zeit fertig gestellt worden waren, was in scharfem Gegensatz zur Vernachlässigung der Region unter osmanischer Herrschaft stand. Mit dem wissenschaftlichen Blick des Kolonisators nahm Stix zwei Beispiele lokaler Architektur in den Band auf. Seiner Meinung nach waren die Bauten Bosniens im Großen und Ganzen keine Beachtung wert, bis auf zwei Ausnahmen aus der osmanischen Zeit: eine Moschee und das Wohnhaus eines türkischen Edelmannes. [abb. 10] Stix’ Beschreibung beider Objekte war umfassend, mit eingehender Besprechung der Baumaterialien, mit Grundrissen und anderen Illustrationen. In archäologisch-kunsthistorischer Tradition geschult, konnte Stix die beiden Gebäude nur als Produkte der Hochkultur wahrnehmen. Stix’ Buch hatte eine monumentale Präsenz des Orientalischen eingeführt, die im Form-Vokabular eines größeren Österreichs aufgehen konnte.68 Alltagsszenen aus Bosnien, vom Verlag der Landesregierung in Sarajewo als Postkartenmotive publiziert, wurden ebenfalls populär.69 Johann Asboths Reisebericht Bosnien und Herzegowina. Reisebilder und Studien erschien in Wien 1888. Asboths Auftrag war es, Bosnien bekannt zu machen, seine Reiseschilderung hatte mehr als 200 Illustrationen.70 Neben Autoren mit sozialökonomischem Blick,71 zeigten auch Künstler Interesse am baulichen Bestand. Sie dokumentierten nicht nur wie Stix die Monumentalarchitektur, sondern zeichneten vor allem auch »malerische« Ansichten: einfache Häuser, Dörfer, Dächer oder städtische Straßenzeilen.72 [abb. 11] Nach 1900 warArchitektonisches aus Bosnien auch in der Wagner-Schule präsent. Studenten

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Kurto, Nedz´ad: »Arhitektura austrougarskog periodu u Bosni I Hercegovini«, in: Prilozi 28, Sarajevo 1999, S. 115–28; ders.: Arhitektura Bosnie I Hercegovina. Razvoj Bosankoga Stila Sarajevo: Sarajevo Publishing, 1998. Kurto zeigt, wie Architekten aus Sarajewo eine ganze Reihe eklektischer Stile unter der österreich-ungarischen Herrschaft übernahmen, von typisch historistischen Stilen, die aus Wien importiert wurden, über neo-maurische Bauformen, die auf der Weltausstellung 1873 popularisiert wurden, und nach 1900, den Secessionsstil. Tendenziell versuchten sie in ihren Bauten vernakulare und moderne Impulse zu verbinden. Die meisten in Sarajewo tätigen Architekten waren in Wien ausgebildet worden und publizierten ihre Arbeiten in Wiener Fachzeitschriften. Das gilt u. a. für Rudolf Tönnies, Franz Blaz´ek, Carl Panek und Karl Par´ik. Mit einer Besatzungstruppe von 250.000 Soldaten blieb die k.k. Armee in Bosnien nach 1878 noch dreißig Jahre; die Soldaten kehrten mit Kunstgewerbe-Souvenirs zurück und sandten Postkarten aus den neuen, für sie exotischen Gebieten. Asboth, Johann: Bosnien und die Hercegowina. Reisebilder und Studien. Wien: Verlag A. Hoelder, 1888. Asboth reiste durch die Gebiete teilweise gemeinsam mit Benjamin von Kállay. Die Illustrationen stammten von einem anderen Reisebegleiter, dem k.k. Oberleutnant C. Meinzil. Meissner, Alois (Eisenbahningenieur): »Die Wohnungen des Volkes zu Ende des 19. Jahrhunderts. Eine sozial-ökonomische Studie«, in: Allgemeine Bauzeitung (ABZ) 57, 1892, S. 45–48; zu bosnischen Wohnverhältnissen S. 46f. Arndt, Leo: Bildermappe des Sarajevoer Maler-Clubs. Skizzen aus Bosnien und Herzegowina von W. Leo Arnt, Max Liebenwein. Wien: J. Löwy, 1901.

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bereisten Bosnien und kehrten mit Zeichnungen zurück, über die sie sich mit Kollegen austauschten und die sie sogar publizierten.73 [abb. 11,12,13] Bosnien inspirierte die Wiener Architekten ebenso wie Josef Hoffmanns Zeichnungen aus Capri.74 Kunsthandwerk und Architektur aus Bosnien und der Herzegowina lieferten der Hauptstadt neue visuelle Reize, aber die Gebiete selbst waren auch eine Quelle für patriotischen Stolz. In diesem Sinne dienten sie als eine Art Kolonie – wenn auch nicht wie eine in Afrika – und zugleich als Spiegel einer österreichischen Identität.75 Als Mitglieder des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 1888 Bosnien besuchten, zeigte man ihnen malerische Gebäude und andere Sehenswürdigkeiten in Sarajewo und in der Umgebung.76 Die Besucher verknüpften ihre Reiseerfahrung mit einer politischen Vision von Österreich. Die Männer aus der Hauptstadt meinten eine politische Wirklichkeit vorzufinden, die sie an Österreich in seiner »ursprünglichen Reinheit« erinnerte. Nach allem was sie gesehen hatten, war das Werk der österreichischen Verwalter von »echt österreichischem Geist« getragen, von selbstloser, gerechter Amtsführung und Toleranz.77 Dies evozierte – wie es einer der Besucher ausdrückte – das Leben im Habsburger Reich, wie es in »den guten alten Zeiten« gewesen war und in hartem Kontrast stand zu den politischen Spaltungen, die das Leben in der österreichischen Reichshälfte gegenwärtig prägten. Es war nicht nur die Architektur des alten Sarajewo, die jene Besucher enthusiasmierte, es war auch das Versprechen eines erneuerten Österreichs.78 Wenn die Bewohner der (Haupt-)Städte nur sehen können, was man in Bosnien vollbracht hatte, würden sie ihre kleinlichen Parteilichkeiten zugunsten eines großen Österreichs aufgeben. Dass Bosnien zu dieser Zeit als »Neu-Österreich« beschrieben wurde, ist eine weitere Andeutung dieser Hoffnung.79

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Kurto: Arhitektura Bosnie I Hercegovina Razvoj, S. 142–43. Kurto nennt Ernst Lichtblau (1882–1963) als einen wichtigen Vermittler bosnischer Motive für die Wagner-Schule in Wien. Ebda. S. 72, 142; Arndt: Bildermappe des Sarajevoer Maler-Clubs; vgl. auch Josef Hoffmann: »Architektonisches von der Insel Capri. Ein Beitrag für malerische Architekturempfindungen«, in: Der Architekt III, 1897, S. 13. Zur österreichisch-ungarischen Besetzung von Bosnien-Herzogowina aus post / kolonialistischer Perspektive vgl. Ruthner, Clemens: »Kakaniens kleiner Orient. Post / koloniale Lesearten der Peripherie Bosnien-Herzegowina (1878–1918)«, in: Ruthner, Clemens (Hg.): Wechselwirkungen. New York: Peter Lang (in Kürze erscheinend). »Hausierer aus Neu-Österreich«, in: Bosnische Post 5, 1888, 23, S. 1. Ebda. Ebda. »Neu-Österreichs Kunstgewerbe«, in: Allgemeine Kunst-Chronik 14, 1890. Der Artikel beschreibt die Aktivitäten der Kunstgewerbeschulen und des Landesmuseums in Bosnien. Vgl. Bosnische Post 6, 1889, 13. Feb., S. 2.

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Architektonische Selbstdarstellung auf dem ästhetischen Schlachtfeld

Nicht jeder konnte nach Zakopane, Tirol oder Sarajewo reisen. Das glich der exhibitionary complex aus, der Volkskünste und vernakulare Architekturen in die nächstgelegenen größeren Städte brachte.80 In den 1890ern zeigten viele wichtige Ausstellungen Pavillons in verschiedenen vernakularen Stilen; Behaglichkeit und Charme dieser Gebäude sprachen alle an.81 In Wien machte die Hausindustrie neuerlich Furore auf der Allgemeinen Land- und Forstwirtschaftlichen Ausstellung von 1890, wo wie schon 1873 eifrig an ihren Werkstücken arbeitende Bauern in rekonstruierten Häusern gezeigt wurden.82 Diese Ausstellung integrierte (obschon Ungarn separat ausstellte) beide Hälften der Doppelmonarchie und Besucher konnten jede Form des Kunsthandwerks von ukrainischen Ostereiern bis zu Tiroler Stickwaren bewundern.83 Unglücklicherweise, und wie Eitelberger es befürchtet hatte, gewannen die regionalen politischen Vorstellungen und Identitäten auf den Ausstellungen vor Ort zunehmend schärfere Konturen. Die Tendenz, Bauernhäuser und Volkskunst symbolisch zur nationalen Selbstdarstellung zu nutzen, war stark. Als Beispiel gilt die Allgemeine Landesausstellung 1891 in Prag, die stark nationalistisch geprägt war und zu der keiner der deutschsprachigen Unternehmer in und um Prag eingeladen wurde. Eine der Hauptattraktionen war die Rekonstruktion eines traditionellen böhmischen Bauernhauses.84 Darüber hinaus gab es noch Dutzende kleinerer vernakularer Bauten in der Prager Ausstellung, die vom böhmischen Adel errichtet worden waren. Dass der Adel sich in den 1890er Jahren der vernakularen Architektur und der Volkskunst zuwandte, erklärt sich auch aus seiner sozial-konservativen Werteinstellung, die er mit Männern wie Rudolf von Eitelberger teilte. Bauern in handwerklicher Tätigkeit zu halten, war eine Strategie, Unruhen zu vermei80

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Reinhard Johler: »›Ethnisierte Materialien‹–›materialisierte Ethnien‹. Zur Nationalisierung von Volkskunst und Bauernhaus in Österreich(-Ungarn)«, in: Moravánszky: Das Entfernte Dorf, S. 61–94. Wie Jarzbomek andeutet, waren diese Zeugnisse des einfachen Landlebens bei der städtischen Bevölkerung, die dem Druck der Industrialisierung ausgesetzt waren, sehr beliebt. Vlg. Attems, Heinrich Graf von: Die Hausindustrie auf der land- und forstwirtschaftlichen Ausstellung Wien 1890. Wien: Selbtsverlag des Verfassers, 1891; Exner, Wilhelm Franz von (Red.): Die Hausindustrie Oesterreichs. Ein Kommentar zur hausindustriellen Abtheilung auf der Allgemeinen Land- und Forstwirtschaftl. Ausstellung. Wien: Hölder, 1890; Messing, Ludwig / Landesberg, A. (Hg.): Ausstellungs-Bilder. Skizzen von der Land- u. forstwirthschaftlichen Ausstellung Wien, 1890. Wien: Bergmann, 1890. Zu Wilhelm Exner siehe Coen, Deborah R.: Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Live. Chicago: University Press, 2007. Attems: Die Hausindustrie, S. 3. Vgl. Johler: »›Ethnisierte Materialien‹–›materialisierte Ethnien‹«, S. 81; Hundert Jahre Arbeit. Bericht über die allgemeine Landesausstellung in Prag 1891. Prag: Actioncomité der Allgem. Landes-Jubiläums-Ausstellung, 1895.

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den, und auch ein Weg, deren Einkommen aufzubessern. Einige polnische Adelige etablierten sogar Schulen auf ihren Gütern, um die Hausindustrie anzukurbeln.85 Aber welche Motive auch immer hinter den regionalen Ausstellungen standen, Millionen von Besuchern erfuhren nicht nur, welche Vielfalt an vernakularen Stilen die österreichische Reichshälfte zu bieten hatte, sondern auch ihr Zersplitterungspotenzial. Der bosnische Pavillion ragte auf der Budapester Milleniums-Ausstellung von 1896 als spektakulärste Version jemals ausgestellter vernakularer Architektur hervor. [abb. 15] Die bosnische Landesregierung hatte verschiedene Gebäude in Auftrag gegeben, um die Erfolge der österreichisch-ungarischen Verwaltung zur Schau zu stellen. Das rekonstruierte Wohnhaus eines türkischen Edelmannes, in dem bosnisches Kunsthandwerk gezeigt wurde, stellte an Beliebtheit alle anderen in den Schatten. Damit war Bosnien als neues Liebkind des exhibitionary complex in die beiden Hauptstädte der Doppelmonarchie eingezogen. Abermals zeigte sich hier das länderübergreifende Ausbildungssystem des Österreichischen Museums in Betrieb. Der Entwurf des Bosnischen Hauses stammte von Franz Blazek ´ (1862–1901).86 In Böhmen geboren, besuchte Blazek ´ die Staatsgewerbeschule in Brünn und studierte darauf an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Nachdem er drei Jahre lang in Brünn als Architekt gearbeitet hatte, ließ er sich in Bosnien nieder. Als »österreichischen« Architekten in Sarajewo beauftragte die Landesregierung Blazek ´ mit mehreren Hotelbauten in und um Sarajewo. Einige seiner öffentlichen Bauten waren historistisch, bei anderen ließ er lokale Stilelemente einfließen. Besonders seine Hotels in Illi zde, ´ einem Badeort außerhalb Sarajewos, und in Mostar gerieten üppig bosnisch-orientalisch. Seine Fähigkeit, fantasievolle Freizeitarchitektur zu entwerfen, erwies sich für ihn als sehr nützlich.87 1896 erhielt er mehrere Aufträge für kleinere Pavillons auf der Budapester Milleniums-Ausstellung, sein Meisterstück aber wurde das monumentale Bosnische Haus. Es handelte sich dabei um eine vergrößerte Variante im Stil des Wohnhauses eines türkischen Edelmannes, das Edmund Stix 1884 doku85

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Adelige arbeiteten oft nahe mit Experten des Wiener exhibitionary complex zusammen. Der Kurator für Textilien am Österreichsichen Museum, Alois Riegl, arbeitete mit dem polnischen Aristokraten Ladislav Federowicz, der eine Teppich-Schule auf seinem Gut in der Nähe von Okno in Galizien gründete. Die Schule war durch und durch patriachal und Federowicz wachte nicht nur streng über die Studierenden, sondern auch über Ausstellungen und Erträge. Hankiewicz, Clemens von: Die Kilimweberei und die Kilimweberschule des Wladyslaw R. v. Fedorowicz in Okno. Wien: Carl Gerold’s Sohn, 1894; Riegl, Alois: »Die Kilim-Teppichweberei in Galizien und die Webschule in Okno«, in: Supplement zum Centralblatt für das gewerbliche Unterrichtswesen in Österreich 11, 1892, S. 1–7. Im Oktober 1891 unternahm Riegl eine Studienreise in diese Region. MAK Archiv 1892 /178. Kurto: Arhitektura Bosne I Hercegowine, S. 337–339. Ebda., vgl. auch Kurto, Nedz´ad: Architektj I Graditelji koji zu Zivjei I Djelovali u Sarajevu za vrijeme Austrougarske Uprave 1878–1918. Dissertation, Sarajevo, o. J., Prolog I, S. 2–3.

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mentiert hatte. Es wurde als typisch bosnisches Haus rezipiert, dessen Attribute Natursteinsockel, weiß verputzte Außenwände, schmuckverbrämte Holzerker, von hölzernen Zierelementen gebildete Auskragungen, die das Obergeschoß vom Erdgeschoß absetzen, sowie ein teilweise weit über die Erker hinausgezogenes, mit Türmchen versehenes Dach waren. Sowohl die plastische Durchbildung des Baukörpers, bei der die Innenräume von Außen erkennbar werden, als auch die in der Dachform sich fortsetzenden Einzelkörper machen das »Pittoreske der gesamten Erscheinung« aus.88 Es sind diese pittoresken Merkmale, die die allgemein anerkannte Typologie »bosnischer Architektur« nach der Jahrhundertwende auszeichnen.89 Das Bosnische Haus in Budapest wurde ein überwältigender Erfolg. Der prominenteste Ausstellungsexperte Wiens, der Direktor des Wiener Technologischen Gewerbemuseums Wilhelm Exner (1840–1931), schrieb an Benjamin von Kállay einen begeisterten Brief: »Ich stehe jedoch unter dem Eindrucke der von mir genau studierten bosnisch-hercegowinischen Abtheilung der Budapester Milleniums-Ausstellung, welche zu den glänzendsten und interessantesten Ausstellungsleistungen gehört, die ich je gesehen habe, [… ].«90 Exner war soeben zum Generalkommissär für die Pariser Weltausstellung 1900 ernannt worden. Er lud nun Kállay zur Teilnahme an der Pariser Ausstellung ein: »ich [...] bin der Meinung, daß die Verwaltungskunst durch nichts glänzenderes repräsentiert werden könne als durch eine ähnliche Ausstellung in Paris.«91 Bis zum Herbst 1896 hatte Exner für Kállays bosnischen Pavillon einen prominenten Standort auf dem Pariser Weltausstellungsgelände reserviert, und bei der Eröffnung im April 1900 machte der Pavillon noch einmal Sensation. Er war allerdings ein typisches Hybrid-Produkt des Wiener Ausbildungssystems: Das Äußere, entworfen vom tschechischen, in Sarajewo lebenden Architekten Carl Panek, war im »bosnischen« Stil gehalten.92 Das Innere wurde mit Fresken von Alphons Mucha im Jugendstil ausgemalt. Unter dem ausgestellten bosnischen Kunsthandwerk befand sich eine monumentale Gobelinstickerei, die eine Ansicht von Sarajewos türkischem Stadtviertel zeigte. Die französische Gobelin-Technik war jedoch (ähnlich wie in Zakopane) vom Österreichischen Museum nach Bosnien verpflanzt worden; Studentinnen der Fachschule für Stickerei in Sarajevo hatten den Gobelinteppich

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Kurto: Arhitektura Bosne I Hercegowine, S. 394. Ebda. Bundesarchiv von Bosnien and Hercegowina (Archiv BiH, PR, 1896/658); Brief von William Exner an Benjamin von Kállay, Juli 1896. Im September 1896 kontaktierte Exner Kállay, um ein Grundstück für einen eigenen Pavillon für die Regierungsverwaltung am Seine-Ufer, zwischen den Nationen-Pavillons Österreich-Ungarns sicherzustellen. Ebda. Kurto: Arhitektura Bosne I Hercegowine, S. 355–361.

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hergestellt. Ebenso zu sehen waren Erzeugnisse der Teppichfabrik in Sarajewo, deren Entwürfe nach 1887 von Storck bereits »verbessert« worden waren. Bosnische Arbeiter und Arbeiterinnen in Trachten erzeugten bosnisches Kunsthandwerk, das man an Ort und Stelle kaufen konnte.93 Die bosnischen Pavillons in Paris und Budapest bewiesen den Erfolg der zentral gesteuerten Wiener Kunstgewerbereform in den habsburgischen Ländern, ihre Kraft zur Absorption, Transformation und Kommerzialisierung regionaler Stile. Schlussbemerkung

Das um 1900 populär gewordene Interesse an Volkskunst und Bauernhaus war das Resultat eines langen Entwicklungsprozesses, das einen wesentlichen Impuls schon 1863 mit der Gründung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie erfuhr. Das Österreichische Museum und seine Kunstgewerbeschule aktivierten als »organisches« Zentrum des exhibitionary complex zwischen 1863 und 1900 einen kreativen Austausch zwischen allen Regionen der österreichischen Reichshälfte. War die kunstgewerbliche Ausbildung in Österreich bis um 1876 am historistischen Geschmackskanon der Zeit orientiert, tauchte mit der Integration bäuerlicher, wirtschaftlich »rückständiger« Bevölkerungsgruppen in das kunsthandwerkliche Schulsystem auch die Frage der Nutzbarmachung von Volkskunst auf. Mit der Absicht, einzelne bodenständige Kunsthandwerkszweige zu beleben, ging auch das Sammeln und Ausstellen vormoderner bäuerlicher Kulturgüter einher. Diese Arbeit lag größtenteils bei den Fachschullehrern in den verschiedenen Provinzen, die ab den späten 1880er Jahren auch damit begannen, die vernakularen Bauten in ihren Einsatzgebieten zu dokumentieren. Die Maßnahmen zur Förderung lokaler Hausindustrien gingen jedoch nicht notwendigerweise mit der Bewahrung alter Formen einher. Nicht nur die am historistischen Formenkanon ausgerichtete Ausbildung der aus verschiedenen Landesteilen am Wiener Zentralinstitut zusammenströmenden und von dort aus sich wieder über alle Provinzen verteilenden Lehrer, auch das Zirkulieren von Vorlagen (aus der Großstadt wie den Provinzen) sorgten für die Überformung, Vermischung und Hybridisierung von Formen im Sinne einer kreativen kulturellen Synthese, was seitens mancher Intellektueller die Kritik der Zerstörung von »echter Volkskunst« nach sich zog. Wesentlich ist jedoch auch die Frage, welche Rolle die Volkskultur bei der Konzeptualisierung der Nationalkultur in einem multiethnischen Imperium spielte und wie Österreich seine unterschiedlichen, in den Kronländern lebenden Völker nach innen und außen repräsentierte. Im Gegensatz zu Nationalstaaten mit homogener Bevölkerung und einheitlicher National93

MAK-Archiv, 1896, Riegl.

Zentrum und Peripherie

kultur (wie etwa Frankreich) existierten in Österreich neben der Kultur der herrschenden Nation noch weitere Kulturen, ethnische Gruppen, die nach Autonomie und staatlicher Unabhängigkeit strebten. Dass sich diese Nationalbewegungen formierten, war jedoch kein Zufall. Es war die Erforschung, Dokumentation und nicht zuletzt die Präsentation bäuerlicher Kultur unter anderem auf nationalen und internationalen Ausstellungen, die in den beherrschten Gebieten das Aufkeimen nationaler Leidenschaften begünstigte. Um diesem Trend entgegenzuwirken, klammerten sich Theoretiker und Kritiker in Wien an eine Reichsideologie der einschließenden Toleranz gegenüber allen Volkskünsten: das »Mosaik Österreich«. Diese integrativen Bemühungen waren nach 1900 weit verbreitet, aber sie begannen im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, wo Rudolf von Eitelberger schon 1871 der Kunst einen »neutralen Boden« bereiten wollte, um den Nationalitätenstreit in Österreichs zu entschärfen. Die immer weiter sich ausdehnende Dokumentation der Vielfalt »volkstümlicher« Kulturzeugnisse erfolgte durch das Personal und die Institution des Österreichischen Museums und seiner Fachschulen. Um 1900 wurden auch die okkupierten Gebieten Bosnien und die Herzegowina in den »imaginierten Reichskörper« mittels des exhibitionary complex integriert.94 Wie am Beispiel Bosnien demonstriert, kleideten die österreichischen Verwaltungsbeamten ihre kunstgewerbliche Mission in eine hegemoniale Sprache, in der die kolonialistische Rhetorik der Engländer, Deutschen oder Franzosen nachklang.95 Im Geiste der postkolonialen Forschung wäre daher auch nach den Auswirkungen Bosniens auf die Hauptsstadt Wien zu fragen. Trug die architektonische Gestaltung des bosnischen Hauses, nachdem es über den exhibitionary complex populär gemacht worden war, etwas zur Entstehung einer Ästhetik der Moderne nach 1896 bei? Wenn ja, wäre dies ein anderer kreativer Dialog zwischen Zentrum und Peripherie, mit hybridisierenden Auswirkungen an beiden Enden. Nach 1900 gehörte »Volkskunst« zum zeitgenössischen Allgemeinwissen und aneignende Transformation von vernakularen Formen hatte sich in Mitteleuropa in verschiedenen Kunstgattungen (neben der Architektur etwa auch in der Musik) durchgesetzt. Aber es war das Österreichische Museum für Kunst und Industrie, das zwischen 1871 und 1895 einen kreativen Dialog zwischen Zentrum und Peripherie in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie in Gang setzte und in Gang hielt. Dabei entstand auch ein Diskurs, der langsam zu einem umfassenden Glauben an eine Österreichische Idee beitrug. Von Fachschulen über Ausstellungen bis zu Muster-

94 95

Oberhuber, Florian: »Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität«, in: Feichtinger/ Prutsch /Csáky (Hg.): Habsburg Postcolonial, S. 277–288, 277. Vgl. Rampley: »For the Love of the Fatherland«.

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und Vorlagenwerken, überall in der österreichischen Reichshälfte wurden regionale Stile gewürdigt und ausgestellt, enthusiastisch und besitzergreifend zugleich. Wie drückte es doch »die schöne Diotima« in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften aus: »Die Welt, erläuterte sie, werde nicht eher Beruhung finden, als die Nationen in ihr so in höherer Einheit leben wie die österreichischen Stämme in ihrem Vaterland. Ein Größer-Österreich, ein Weltösterreich […].«96 So dachte Rudolf von Eitelberger schon ab der Gründung des deutschen Reiches. Mittels der Kunst sollte das Österreichische Museum eine ästhestische Einheit gestalten. Übersetzung: Christa Veigl

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Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978, S. 174

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Übersichtskarte der gewerblichen Unterrichtsanstalten in Österreich. Im Auftrage des k.k. Ministeriums für Cultus und Unterricht. Hg. von Artaria & Co, Wien 1900 Präsentation bäuerlicher Kunsttätigkeit auf der Wiener Weltausstellung 1873 (© MAK-Archiv) Bukowinaer Gebirgs-Bauernhaus auf der allgemeinen land- und forstwirthschaftlichen Ausstellung in Wien 1890 (aus: Romstorfer, Carl: Das Bauernhaus in der Bukowina, 1890)

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5 Zierbretter an Bauernhäusern zu Alpbach in Tirol (aus: Deininger, Johann W.: Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg, 1897) 5 Bauernhaus zu Alpbach in Tirol (aus: Deininger, Johann W.: Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg, 1897) 6 Villa im Zakopanestil von Zygmund Dobrowolski (Architekt und k.k. Fachlehrer), erbaut für Kasimira Biernacka aus Lemberg (aus: Der Architekt III, 1897, S. 13) 7 Metall-Handwerker in der Kunstgewerbeschule von Sarajevo (aus: Holme, Charles: Peasant Art in Austria and Hungary, London 1911) 8 Briefkopf des Bureau für das Haus- und Kunstgewerbe in Bosnien und der Herzegovina mit Sitz in Wien 1., Hegelgasse 6 4

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Inserat für den Verkauf von »industriell« produziertem Kunsthandwerk aus Bosnien und Herzegowina auf der Innenumschlagseite von Peasant Art in Austria & Hungary 10 Wohnhaus eines türkischen Edelmannes (Sadullah eff. Šabanovic ˇ) in Sarajevo (aus: Stix, Edmund: Das Bauwesen in Bosnien und der Herzegowina, Wien 1887) 9

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Studie eines »muhamedanischen Hauses« in Sarajevo und eines bosnischen Schafstalles aus der Umgebung von Sarajevo von Ewald Arndt (aus: Bildermappe des Sarajevoer Maler-Clubs, Wien 1901, S. 20) 12 Studienskizze aus Bosnien von Ernst Lichtblau (aus: Der Architekt XIII, 1907, S. 7) 13 Studienskizze aus Bosnien von Ernst Lichtblau(aus: Der Architekt XIV, 1908, S. 81) 11

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14 Fotografische Aufnahmen aus Bosnien von Ernst Lichtblau

(aus: Der Architekt XIV, 1908, S. 84) 15 Der bosnische Pavillon auf der Landes-Milleniums-Ausstellung in Budapest 1896

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Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege Gerlachs fotografische Bildatlanten Volkstümliche Kunst I und II

»In den folgenden Bildern wird Begrabenes lebendig. Oder vielleicht nur Vergessenes. Werte, die sich mit dem herkömmlichen Kunstbegriff nicht decken, und die dennoch die wahre künstlerische Vergangenheit des Volkes verkörpern. Sie liegen abseits von der offiziellen Architektur, die achtlos an der volkstümlichen Überlieferung vorübergegangen ist.«1 Schon im Eingangszitat des von Joseph August Lux verfassten Vorwortes im 1904 erschienenen Mappenwerk2 Volkstümliche Kunst. Ansichten von alten heimatlichen Bauformen, Land- und Bauernhäusern, Höfen, Gärten, Wohnräumen, Hausrat etc. ist die Programmatik jener ästhetisch argumentierenden kulturkritischen Bewegung vorweggenommen, die sich 1912 als österreichischer Heimatschutzverband landesweit organisierte.3 Dezidiert sollte Bewusstsein geschaffen werden für die schon mehr oder weniger historisch gewordene Baukultur bäuerlich-ländlicher Lebenswelten, aber auch für kleinbürgerliche Bauformen vor dem Historismus. [abb. 1, 2] Dies nicht nur, um die Reste davon gezielt zu erhalten und zu bewahren, sondern auch, um sie fortan als Vorbild für ein neues »heimatliches Bauen« zu verankern. Die vom Verlag Gerlach & Co als vierter Band der Reihe Die Quelle veröffentlichte Bildersammlung, wie auch die sieben Jahre danach, 1911, als Band 12 der Quelle erschienene Volkstümliche Kunst II. ÖsterreichUngarn stellen Publikationen dar, in denen sich die Frühphase einer noch

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Lux, Joseph August: Vorwort, in: Volkstümliche Kunst. Ansichten von alten heimatlichen Bauformen, Land- und Bauernhäusern, Höfen, Gärten, Wohnräumen, Hausrat etc.. Wien, Leipzig: Gerlach & Co., o. J. [1904], S. 3–4, S. 3. Volkstümliche Kunst I und II erschienen ursprünglich als Mappen mit lose eingelegten Blättern. Vor allem für den Bibliotheksgebrauch war es üblich, die Blätter nachträglich fest zu binden. Johler, Reinhard/Nikitsch, Herbert /Tschofen, Bernhard: Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie. Wien: Österreichisches Museum für Volkskunde, 1995; Brückler, Theodor: »Zur Geschichte der österreichischen Heimatschutzbewegung«, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 43, 1989, S. 145–156.

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unorganisierten Bewegung dokumentiert, deren Protagonisten es zunächst einmal um die Wertschätzung und Rettung von »Heimatkunst« ging.4 Die mit fotografischen Reproduktionen ausgestatteten Bildatlanten, die bei eindeutigem Schwerpunkt auf Architektur auch eine gewisse Vielfalt materieller Kultur (Möbel, Haushaltsgegenstände, Trachten) präsentieren, sind Zeugnis des in gebildeten Schichten bereits seit Jahren um sich greifenden Interesses und Engagements für »Volkskultur«. Zugleich belegen sie beispielhaft, wie die reproduktionstechnischen Neuerungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Buchmarkt durchschlugen und damit Objekte für ein breiteres kunstinteressiertes Publikum (bildlich) verfügbar wurden, die sich bislang nur reisefreudigen, in entlegene Dörfer vordringenden Spezialisten dargeboten hatten. Die Bildersammlungen sind damit nicht nur Bestandteil jenes Ästhetisierungsprozesses, der um 1900 aus dem Alltäglichen der unteren Schichten plötzlich »Kunst« gemacht hat, sie arbeiten auch einer anti-modernistischen Bewegung vor, die unter dem Schlagwort des »bodenständigen« beziehungsweise »landschaftsgebundenen Bauens« die Rückbesinnung auf regionale und lokale Traditionen forderte. Der Herausgeber der Bände, Martin Gerlach sen. (1846–1918), und der jeweils für die Einleitung verantwortlich zeichnende Lux (1871–1947), waren exemplarische Gestalten ihrer Zeit: Gerlach, ein von Berlin nach Wien übersiedelter Juwelier, der 1873 sein eigenes Verlagshaus, Gerlach & Schenk, gründete, konnte in seiner Mehrfachfunktion als Verleger, Herausgeber und Fotograf (er selbst produzierte einen Großteil der Vorlagen für die beiden Bände) seine Neigungen bestens verbinden. Als Freund der Künste und Unternehmer verstand er es auch, den Kulturbetrieb auf vielfältige Weise zu bedienen und rückte im Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende zu einer allbekannten Größe auf. Lux, der als jüdischer Schriftsteller und Kunstkritiker mit verschiedenen Mitgliedern der Wiener Werkstätte (unter anderem Josef Hoffmann und Joseph Maria Olbrich) befreundet war und in den ersten Jahren des deutschen Werkbundes eine aktive Rolle spielte, hatte sich mit zahlreichen Schriften zu Kunst, Architektur und Ästhetik einen Namen gemacht.5 Auch wenn Lux immer konservative und progressive Tendenzen in sich verband, muss er jener konservativen, geistig-kulturellen Strömung zugerechnet werden, die traditionsbewusst und fortschrittlich zugleich (also noch ohne Konnotation des Konservativ-Reaktionären) als Heimatkunstbeziehungsweise Heimatschutzbewegung im Entstehen begriffen war. Die

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Erst später sollte sie eine stärker ideologisch geprägte nationalistische Richtung einschlagen. Zu Lux’ Biografie, seinen publizistischen Aktivitäten, seiner Rolle im deutschen Werkbund und seiner Position innerhalb des Wiener Kulturlebens vgl. Jarzombek, Mark: »Joseph August Lux: Werkbund Promoter, Historian of a Lost Modernity«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 63 /2, 2004, S. 202–219.

Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege

Rolle, die beide Männer und ihre Aktivitäten Anfang des 20. Jahrhunderts spielten, und der damit verbundene Entstehungs- und Verwendungszusammenhang der Bände Volkstümliche Kunst I und II soll im Folgenden mit Hauptaugenmerk auf den Gebrauch der Fotografie beleuchtet werden. Fotografische Vorlagenwerke und illustrierte Bildbände

Volkstümliche Kunst I und II erschienen in der Reihe Die Quelle, die in der Tradition der Vorlagenwerke einzuordnen ist. Der Ursprung von Vorlagenwerken und Musterbüchern liegt in den mittelalterlichen Motivsammlungen der Kunsthandwerker begründet. Im Zeitalter des Historismus war die Nachfrage nach überliefertem Stilrepertoire besonders groß. So erlebten im 19. Jahrhundert gerade architektonische Vorbildsammlungen – speziell zu Bauplastik und Raumschmuck – eine neue Blüte. Im auslaufenden 19. Jahrhundert begann die Herausgabe fotografisch illustrierter Motivsammlungen. Voraussetzung dafür lieferte gegen Anfang der 1860er Jahre die Erfindung des Lichtdruckes. Doch erst die Entwicklung der Autotypie in den 1880er Jahren ermöglichte eine schnelle und billige fotomechanische Reproduktion. Fotografisch illustrierte Bildbände beziehungsweise Mappenwerke zum Thema volkstümliche Kunst – beziehungsweise ihrer Spezialisierung auf heimatliche Bauformen – erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend am deutschsprachigen Markt. Die beiden Druckwerke der hier besprochenen Volkstümlichen Kunst nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Sie stehen in der Tradition herkömmlicher Vorlagenwerke, bringen aber durch ihr Vorwort einen weltanschaulich-missionarischen Aspekt mit ein: Die Schaffung eines Bewusstseins für die »Erhaltung und Wahrung des alten, volksmäßigen Kunst- und Kulturcharakters« innerhalb der Gesellschaft und die Kritik an der zeitgenössischen »Unkultur«.6 Vergleichbare Veröffentlichungen, vor allem auf dem Sektor der »Volksarchitektur«, verstanden sich meist als wissenschaftliche Werke,7 legten eine größere Gewichtung auf die beschreibend sachlichen Informationen. Sie wiesen oftmals eine weitaus reduziertere fotografische Bebilderung auf, meist überwog die abstrahierte, mit messenden Aufnahmeverfahren und analytischer Betrachtung einhergehende Plandarstellung (Grundrisse, Schnitte, Ansichten). Die geografische Ordnung wurde viel strenger strukturiert und bei der thematischen oder typologischen Bildabfolge mehr Wert auf selektivere Auswahl exemplarischer Beispiele gelegt. Prototypisch sei hier (beschränkt auf das damalige österreichische Staatsgebiet) die vom

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Siehe Anmerkung 1, S. 3. Zur frühen Haus- und Bauernhausforschung vgl. Moser, Oskar: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV/94, 1991, S. 329– 350.

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Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein herausgegebene Mappe mit Textband, Das Bauerhaus in Österreich-Ungarn und in seinen Grenzge-bieten, erwähnt.8 Mit 67 Textabbildungen und 75 großen Tafeln ausgestattet, dominiert vor allem im Tafelteil die grafische Illustration. [abb. 3] Die Gestaltung der Bände

Für die Beschaffung des Bildmaterials von Volkstümliche Kunst I und II bereiste Martin Gerlach gemeinsam mit seinem Sohn, Martin Gerlach jun. (der sich später als bedeutender Architekturfotograf etablieren konnte) die Länder der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Deutschland und die Schweiz mit der Kamera. Die fotografische Ausbeute fand in den verlagseigenen Veröffentlichungen Platz, kam aber auch für verlagsfremde Publikationen zur Verwendung.9 Der erste Band versammelt auf 141 Seiten insgesamt 784 fotografische Illustrationen. Die zweite Mappe steigerte die Anzahl der Abbildungen auf 1.143 Stück auf 184 Seiten. Um der Materialfülle Herr zu werden, montiert das Layout bis zu neun Fotografien pro Seite, begleitet von einem kurzen, beschreibenden Text (Bezeichnung des dargestellten Motivs und dem Ort der Aufnahme).10 Die weitaus üblichere Gestaltungspraxis vergleichbarer Publikationen kombinierte zumeist zwei Fotos über- oder nebeneinander [abb. 4, 5], oft fand auch nur eine Fotografie pro Seite Platz. Das Konzept der Bände schloss sämtliche Gebiete der Handwerkskunst mit ein, doch beherrschen die ländlichen und vorstädtischen Bauformen den Großteil des Bildmaterials. Die thematische Anordnung der Fotografien im ersten Band passierte ohne großen systematischen Anspruch, eher nach assoziativen, formalästhetischen Kriterien, wobei auch typologische Zusammenstellungen (zum Beispiel Schornsteine oder Stiegenhäuser) vorkamen. Während Band i Deutschland und die Schweiz miteinschloss, beschränkte sich der zweite Band auf österreichisch-ungarisches Staatsgebiet. Die Bildanordnung nimmt Wien als Ausgangspunkt auf einer Reise durch die Länder der Monarchie, legt jedoch den Schwerpunkt auf die deutschsprachigen Territorien. Anders als im ersten Band nimmt auch die Repräsentationsarchitektur (vor allem Burgen, Schlösser und Kirchen) breiten Raum ein. Doch neben den Prachtbauten ist auch der Verfall in Form von zerbröselnden Fassaden und desolaten Innenhöfen als Thema präsent. 8

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Österreichischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hg.): Das Bauernhaus in ÖsterreichUngarn und in seinen Grenzgebieten. Wien, Dresden: Verlag des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines und Kühtmann, 1906. Vgl. z. B. Peasant Art in Austria and Hungary. Sondernummer von The Studio, hg. von Charles Holme, 1911 (5 Abbildungen); oder auch: Das Bauernhaus in Österreich-Ungarn und in seinen Grenzgebieten (7 Abbildungen). Band II beinhaltet zusätzlich ein Orts- und Sachregister, die Abbildungen sind durchgehend nummeriert.

Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege

Zwei Gestaltungsweisen dominieren die Wiedergabe der Architektur im Layout: Entweder rückt sie durch Beschneidung sehr eng ins Bild, oder der Schwerpunkt liegt auf einem Häuserensemble (beziehungsweise einem Vorgarten etc.), dann nehmen auch Umgebung und Hintergrund größeren Raum ein. [abb. 6] Als Mittel, das Charakteristische des Gebäudes einzufangen, wählte Gerlach meist die Schrägsicht. Um auf bestimmte Details wie Türen oder Fenster zu fokussieren sind diese Motive oftmals frontal, in engem Ausschnitt wiedergegeben. Die fotografischen Vorlagen hatte Gerlach stark retuschiert. Der Himmel erscheint oft als neutrale, leere Fläche, die Konturen der Häuser bekommen dadurch einen Scherenschnittcharakter. Spuren des modernen Lebens, wie etwa Strommasten oder Neubauten, eliminierte die Retusche, so dass die Bilder nunmehr eine vorindustrielle Welt vortäuschen. Auf vielen Aufnahmen findet man Passanten wie Bewohner abgebildet. Diese lehnen aus Balkonen, nehmen Aufstellung neben Türen und vor den Häusern. Gerlach duldete die Personen auf seinen Bildern, vielleicht waren sie ihm auch willkommen: Das Auswählen des geeigneten Blickwinkels und der für Architekturaufnahmen meist notwendige Gebrauch eines Stativs bot jedenfalls genügend Zeit, die Aktivitäten des Fotografen zu beobachten und dabei Aufstellung zu nehmen. Der Verlag Gerlach und die Reihe Die Quelle11

Martin Gerlach, ein aus Deutschland stammender, gelernter Graveur- und Ziseleur zog 1873 nach Wien und gründete (mit wechselnden Teilhabern) einen Verlag. Die Herausgabe von Vorlagenbüchern war ein fixer Bestandteil des Verlagskonzepts. Ab 1902 konzipierte Gerlach die Mappenreihe Die Quelle, die sich durch ein einheitliches, modernes Design auszeichnete. Unter dieser Reihe begann Gerlach neben grafischen Mustersammlungen sezessionistischer Künstler durchgehend fotografisch illustrierte Sammlungen von Naturformen und Kunsthandwerk zusammenzustellen. Die Formenwelt aus dem Naturreiche bot Pflanzenstudien und Mikroaufnahmen, des Weiteren folgten: Das Thierleben in Schönbrunn, Völkerschmuck, Wald-, Baum- und Vordergrund-Studien, Alte Grabmalkunst sowie Das alte Buch und seine Ausstattung im xv. bis zum xix. Jahrhundert. Die beiden Bände Volkstümliche Kunst sollten nicht die einzigen Veröffentlichungen in der Reihe Die Quelle bleiben, die ihr Hauptaugenmerk auf heimatliche Architektur im deutschsprachigen Raum legten. Das 1906 erschienene Unterfranken. Eine Streife auf Volkskunst und malerische Winkel in und um Unterfranken, mit einem Vorwort von Oskar Schwindrazheim,

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Zu Martin Gerlach, seinem Verlag und der Reihe Die Quelle siehe auch: Lechner, Astrid: Martin Gerlachs »Formenwelt aus dem Naturreiche«. Fotografien als Vorlage für Künstler um 1900. Wien: Brandstätter, 2005.

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und Alt-Nürnbergs Profanarchitektur, Eine historische Darstellung ihrer Entwicklung in Wort und Bild von Dr. Fritz Traugott Schulz von 1907, komplettieren den thematischen Schwerpunkt. Neben Gerlach sei an dieser Stelle ein weiterer prominenter Wiener Verleger, Anton Schroll, erwähnt, der den heimatlichen Kunstausformungen ebenso zahlreiche Publikationen widmete und folglich »Volkskunst« und »Volksarchitektur« einem breiteren Publikum zugänglich machte. ›Heimatliche‹ Baukunst als Neuerung und Kritik am Historismus

Wie es zu einer Zusammenarbeit zwischen dem Verleger Gerlach und dem Publizisten Lux kam, ist nicht bekannt. Lux veröffentlichte bereits vor ihrer Zusammenarbeit zahlreiche Bücher,13 publizierte Artikel in Fachmagazinen14 und gab von 1904 bis 1909 die Zeitschrift Hohe Warte15 heraus. Die kulturpolitischen Bestrebungen der Hohen Warte hatten das konkrete Ziel, alle Lebensbereiche zu reformieren, um eine »Erhöhung des Geschmackes und der künstlerischen Bildung«16 zu erzielen.17 So ortete Lux einen »lebhaften Drang nach künstlerischer Kultur […], es fehlte nach unserer Ansicht nur noch, daß er fortlaufend geleitet und in die richtigen Bahnen gelenkt werde.«18 Bereits 1902 formulierte Lux in seinem Artikel »Stilarchitektur und Baukunst«, erschienen in der Zeitschrift Der Architekt, sein Leitmotiv: »Soll sie [die Baukunst] neuzeitlich werden, so bedingt sie freilich als Grundstein eine volksthümliche künstlerische Kultur.«19 Er trat dafür ein, den »Tiefstand der Geschmacksverrohung« des Historismus zu überwinden. Lux sah sich als Mann des Fortschritts, war Befürworter der Sezessionisten und trat unermüdlich für die Wiener Werkstätte ein. In seinem Buch Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst von 1903 proklamierte er: »Die offizielle Architektur hat gerade für unsere großen, führenden Künstler aufgehört, bedeutsam zu sein. Sie haben längst angefangen, die lebendige volks12

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Unter Gerlach Junior erschienen im Verlag Gerlach & Wiedling: Bittner, Josef (Hg.): Neubauten der Stadt Wien – Teil 1, Die Wohnhausbauten. Wien, Leipzig: Gerlach & Wiedling, 1926; und: Bittner, Josef (Hg.): Neubauten der Stadt Wien – Teil 2, Kunst und Kunstgewerbe in den Neubauten der Stadt Wien. Wien, Leipzig: Gerlach & Wiedling, 1930. Neben Romanen und einer Monografie über Otto Wagner veröffentlichte Lux u. a. zu den Themen: Liebhaberfotografie, Kunstgewerbe, Wohnungseinrichtung, Gartenkunst etc. Vgl. v. a. Der Architekt. Die Hohe Warte erschien in vier Jahrgängen von 1904 /05 bis 1908/09 in Wien und Leipzig. Lux, Joseph August: Vorwort, in: Hohe Warte 1, 1904 /05, S. 1. Siehe die Rubriken: Städtebau und Städtestudium, Hausbau, Wohnungspflege, Gartenbau, Technik und Kunst im Gewerbe, Plastik, Malerei, Handarbeit und Mode, Volkskunst und Heimatschutz, Kunsterziehung, Wirtschaftspolitik. Kunstpolitik, Verschiedene Kulturangelegenheiten, Theater, Ausstellungen, Kritiken usw. Siehe Anmerkung 16, S. 1. Lux, Joseph August: »Stilarchitektur und Baukunst«, in: Der Architekt 8, 1902, S. 45–47, S. 47.

Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege

tümliche Baukunst zu suchen und an die bodenständige Tradition anzuknüpfen […].«20 Anhand von Architekturentwürfen von Leopold Bauer, Joseph Hoffmann und Wunibald Deinigner erläuterte er den Einfluss der volkstümlichen Bauweise auf die moderne Landhausarchitektur, wobei der »organische Baugedanke«, die zweckmäßige Verwendung des Materials und die sachliche Ausnützung heimischer oder ortsüblicher Naturstoffe seiner Auffassung nach die Basis bildeten. [abb. 7] In der Hohen Warte setzte er – kombiniert mit erläuternden Texten – einander gegenüberstehende ArchitekturFotografien als »Beispiel und Gegenbeispiel« ein und verwies bei dieser Praxis auf Schultze-Naumburgs »Kulturarbeit«.21 [abb. 8] Als Unterstützer – sogenannte »Mitwirker« – führte die Hohe Warte neben Cornelius Gurlitt, Alfred Lichtwark, Kolo Moser, Hermann Muthesius, Paul Schultze-Naumburg auch Otto Wagner und Josef Hoffmann an. Letzterem dankte auch Gerlach 1904 im Vorsatzblatt der Volkstümlichen Kunst für die gewährte Unterstützung.22 So sehr Lux auch der Heimatkunst-Bewegung zuzurechnen ist und mit seinen Stellungnahmen das Feld für eine konservative Baugesinnung mit aufbereitet haben mag, so sehr zählte er doch zu den Neuerern, die für neue Gestaltungskriterien aufgeschlossen waren. Seine Forderung nach einem Anknüpfen an die »heimatliche Tradition«, die sich allein aus der Ablehnung der historistischen Architektur erklärt, hatte jedenfalls nichts mit der Nachahmung vernakularer Motive zu tun. Im Gegenteil befürchtete er deren »historistischen« Gebrauch und verwehrte sich dagegen, die Bände der Volkstümlichen Kunst als ausbeut- und zitierbare Motivsammlung benutzt zu wissen. Lux bekundete seine Angst, die Mappe werde als Vorlagewerk Unheil anrichten: »Schon höre ich Architekten sich berühmen, daß sie diesen oder jenen lustigen Schornstein eines alten Bauernhauses an ihrem neuen Landhaus wiederholen und da und dort ein ›volkstümliches‹ Motiv anwenden! Eine solche Nachäffung führt natürlich wieder in dieselbe Sackgasse der Stilarchitektur, aus der sich unsere Baukünstler herausretten wollen.«23 Gegen das Prinzip der Mustersammlungen im Sinne der historistischen Vorlagenpraxis zog er dann auch beharrlich ins Feld: Den Vorlagewerken komme die größte Schuld am zeitgenössischen »Bauelend« zu, denn: »Sie tragen den Verheerungskeim weiter bis in die entlegensten Dörfer«.24 Lux’ Kritik am»Missbrauch« der Vorlagenwerke mündet schließlich in der Feststellung, 20 21 22

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Lux, Joseph August: Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst. Wien: Schroll, o. J. [1903 oder 1904], S. 7. Siehe Anmerkung 16, S. 1. »Für das Entgegenkommen seitens der Museumsleitung und der beteiligten Fachkreise, insbesondere des Herrn Prof. Joseph Hoffmann, durch welche die Herstellung des Werkes gefördert wurde, sei an dieser Stelle der schuldige Dank abgestattet. Martin Gerlach« Lux: Vorwort, in: Volkstümliche Kunst I, S. 2. Lux, Joseph August: »Bücher, die man lesen soll«, in: Hohe Warte 1, 1904 /05, S. 71. Lux, Joseph August: »Vorlagenwerke«, in: Hohe Warte 1, 1904 /05, S. 174.

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dass der Einfluss der Heimatkunst eine falsche Richtung eingeschlagen habe. Im Vorwort 1911 konstatierte er Nachahmung, Wiederholung und Missbrauch: »[…] so sinken an sich berechtigte, vom Leben erfüllte altheimatliche Formen zur bloßen Dekoration herab, zu einem verkümmerten lästigen Anhängsel, zur theatralischen Stimmungsmacherei, zur geistlosen Schablone. So entsteht aus lebendiger Baukunst tote Architektur.«25 Lux’ Ablehnung der Vorlagenwerke stand jedoch im Widerspruch zur den geschäftlichen Intentionen des Gerlachschen Verlages, der die Volkstümliche Kunst in ihren Verlagskatalogen als »unerschöpfliche Fundgrube für Architekten und Baumeister« anpries. Warum, fragt man da, beteiligte sich Lux an diesen Projekten? Zielpublikum für Lux waren Künstler und Kunstfreund, die Mappen sollten eine pädagogische Funktion als exemplarisches Anschauungsmaterial bekommen und der »altösterreichischen Kunst« ein Denkmal setzen. Sie sollten Vorbilder für eine »richtige« Baugesinnung liefern, ohne jedoch unmittelbar Formvorbild zu sein. Rezeption erlebten die Bände der Volkstümlichen Kunst jedoch vor allem von Seiten der Architekten und Volkskundler.26 Architekturfotografie im Dienste der Heimat(kunst)pflege

Für professionelle Fotografen stellte die Architekturfotografie einen eigenen Erwerbszweig dar. Neben den kanonisierten Abbildungen der Repräsentationsarchitektur gewannen die bisher übersehenen ländlichen und vorstädtischen Architekturmotive an Attraktivität: Verlage wie Fotografen erkannten den Bedarf nach einschlägigem Bildmaterial. Neben Gerlach gab es im Wiener Raum um 1900 zum Beispiel Otto Schmidt,27 August Stauda28 oder Bruno Reiffenstein,29 die auf vergleichbarem Gebiet tätig waren. Neben der Anfertigung fotografischer Vorlagen für Bildbände beziehungsweise -mappen verkauften und vertrieben viele Ateliers Fotografien als auf Karton aufgezogene Einzelbilder. Auch die privat agierenden, um die Jahrhundertwende oftmals in fotografischen Klubs zusammengeschlossenen Amateurfotografen sollten mobi25 26 27

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Lux, Joseph August: »Die alte Kunst der Heimat«, in: Gerlach, Martin (Hg.): Volkstümliche Kunst II. Österreich-Ungarn. Wien, Leipzig: Gerlach & Wiedling, o. J. [1911], S. 3–6, S. 4. Dachler, Anton: »Die Quelle VI. Volkstümliche Kunst«, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde XII, 1906, S. 167–171. Fotograf und Verleger, Abbildungen finden sich u. a. in: Österreichischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hg.): Das Bauernhaus in Österreich-Ungarn und in seinen Grenzgebieten. Stauda dokumentierte die vom Abriss bedrohten Bauten Wiens. Er arbeitete für Architekten, doch sein Hauptauftraggeber, Graf Karl Lanckoronski-Brezie, war ein Vertreter der Heimatschutzbewegung. Vgl. Holzer, Anton: »Die merkwürdige Welt des August Stauda«, in: Fotogeschichte 26/101, 2006, S. 63–65. Neben seinem Atelier betrieb Reiffenstein eine lithografische Anstalt und gründete einen Architekturverlag.

Der Beitrag der Fotografie zur Heimat(kunst)pflege

lisiert werden, sich auf dem Sektor der Architekturfotografie zu betätigen. Schon vor Ende des 19. Jahrhundertes forderte die k.k. Central-Commission für Kunst- und historische Denkmale, als staatliche Einrichtung, die Amateure dazu auf, ihre fotografische Ausbeute dem institutseigenen Archiv zu überlassen.30 Die Central-Commision hielt dies für eine vergleichsweise unkomplizierte und günstige Möglichkeit der Bildbeschaffung. Auch die Vertreter der Heimatkunstbewegung versuchten nachdrücklich, die Amateurfotografen für die eigenen Interessen zu begeistern. Ihre Lichtbilder sah die Bewegung als adäquates Bildmaterial an, um den von ihnen angestrebten Missionierungsprozess voranzutreiben. Die Fotografien galten überdies als geeignete Dokumente, um eine möglichst flächendeckende Erfassung des historischen Baubestandes zu erreichen. Ziel war immer auch die Sammlung und Archivierung der Fotografien, um entsprechendes Studienmaterial bei der Hand zu haben. Einschlägige Veröffentlichungen in fotografischen Magazinen nahmen bereits vor der Gründung des österreichischen Heimatschutzverbandes zu, sie sollten die Amateure motivieren, im Dienste und vor allem im Sinne der (vor 1912 noch unorganisierten) Bewegung zu agieren. In seinem Artikel Amateurphotographie und Heimatkunst definiert Lux die Fotografie als Hilfsmittel, deren hauptsächliche Aufgabe »die Schilderung der Heimat«31 sei.32 Mithilfe von Artikeln sollten in Amateurmagazinen entsprechendes Geschmacks- und Gedankengut verbreitet, ästhetische Ideale erläutert und technische Anweisung gegeben werden. Bald schon erfasste die immer größer werdende Zahl der Amateurfotografen das Interesse an der »Volkskultur«. Sie unternahmen Exkursionen zu entlegenen Orten und endeckten neue Motive für sich, übernahmen die inhaltliche und formale Argumentation der Heimatkunstpfleger und begannen schließlich selbst in deren Sinne zu publizieren – reihten sich also unter die Protagonisten einer Bewegung ein, die vor ihrer Organisation und völkisch-nationalistischen Färbung nicht zuletzt durch Fixierung auf malerische Bildmotive von einer nostalgisch-ästhetischen Haltung getragen war.

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O. A.: »Aus unseren Club-Abenden«, in: Wiener Photographische Blätter 2/12, 1895, S. 245f.; und o. A.: »Aus unseren Club-Abenden«, in: Wiener Photographische Blätter 3 /2, 1896, S. 38–41. 1909 ruft der Österreichische Ingenieur- und Architektenverein in Wien Amateure dazu auf, das vom Verein geplante fotografische Archiv zu bestücken. Vgl. o. A.: »Kleine Mitteilungen«, in: Photographische Korrespondenz 46/588, 1909, S. 455f. Lux, Joseph August: »Amateurphotographie und Heimatkunst«, in: Hohe Warte 1, 1904 /05, S. 19. Auch rief Lux in der Hohen Warte Amateurfotografen zu einem Wettbewerb auf, mit dem eigentlichen Zweck der Bildbeschaffung für die Zeitschrift. Aufgrund des mangelnden Interesses verlief dieses Projekt jedoch im Sand; siehe auch: Preisausschreiben für Amateurphotographen, in: Hohe Warte 1, 1904 /05, S. 24.

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Gerlach, Martin (Hg.): Volkstümliche Kunst. Ansichten von alten heimatlichen Bauformen, Land- und Bauernhäusern, Höfen, Gärten, Wohnräumen, Hausrat etc., 1904, S. 22 Gerlach, Martin (Hg.): Volkstümliche Kunst. Ansichten von alten heimatlichen Bauformen, Land- und Bauernhäusern, Höfen, Gärten, Wohnräumen, Hausrat etc., 1904, S. 25

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Österreichischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hg.): Das Bauernhaus in ÖsterreichUngarn und in seinen Grenzgebieten, 1906, Nachdruck 1974 /75, Tafel: Salzburg Nr. 5, S. 17 4 Aufnahmen von Martin Gerlach in The Studio, Peasant Art in Austria and Hungary, hg. von Charles Holme, London 1911, Abb. 301 und 302 3

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Aufnahmen von Martin Gerlach in The Studio, Peasant Art in Austria and Hungary, hg. von Charles Holme, London 1911, Abb. 248 und 249 6 Gerlach, Martin (Hg.): Volkstümliche Kunst II. Österreich-Ungarn, 1911, S. 48 5

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Lux, Joseph A.: Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst, 1903, S. 32–33 Gegenüberstellung von »gutem« und »schlechtem« Beispiel nach dem Vorbild von Schultze-Naumburgs Kulturarbeiten (aus: Hohe Warte I, 1904 /05, S.81, Ausschnitt)

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Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Als auf der Wiener Weltausstellung 1873 eine »ganze Kolonie reizend ausgestatteter Bauernhaustypen mit vollständigem Hausrat«1 gezeigt wird, treffen zwei kulturelle Sphären aufeinander, die sich zu widersprechen, ja auszuschließen scheinen – die »zurückgebliebene« Welt der Bauern und die »fortschrittliche« Welt der Städter. Beiden Sphären, Stadt und Land, werden in der Wahrnehmung der Zeitgenossen antagonistische Eigenschaften und Qualitäten zugesprochen, die in der Folge zu einer Idealisierung der ländlichen Raumes führen. So werden die bäuerliche Kultur und die durch sie geprägte Landschaft insbesondere in Österreich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem Sehnsuchtsort städtischer, vor allem Wiener Eliten. Viele der Krisensymptome, die diese bürgerlichen Eliten in der Metropole wahrnehmen – die Spanne reicht vom moralischen Niedergang städtischen Lebens bis hin zur ästhetischen Hybris des späten Historismus – erfahren ihre Linderung durch die Projektion idealisierter Wunschbilder auf den Bauern, seine Kultur und nicht zuletzt seine Behausung. Das Bauernhaus avanciert aufgrund seiner mit der Natur und den Produktionsbedingungen seiner Bewohner noch im Einklang stehenden Bauweise zum Symbol und Modell für eine noch nicht zerrissene heile Welt außerhalb der Großstädte. Die mit der »Entdeckung« der Bauernwelt einhergehende ästhetische Aufwertung der ländlichen Baukultur erlaubte es, das Bauernhaus in den Diskurs über alternative Architekturkonzepte zum Historismus einzuführen. Insbesondere der Wiener Schriftsteller und Kulturpublizist Joseph August Lux befasste sich in einer Vielzahl von Beiträgen zwischen 1900 und 1910 mit der vormodernen Bauernarchitektur, die er zusammen mit der Architek-

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Österreichischer Ingenieur- u. Architektenverein (Hg.): Das Bauernhaus in ÖsterreichUngarn und in seinen Grenzgebieten. Wien / Dresden: Verlag des Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereines und Kühtmann, 1906, hier der das Mappenwerk begeleitende Textband, S. 6.

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tur »um 1800« als Quelle der Erneuerung für eine moderne, das heißt den Historismus überwindende Architektur anpries. Die meisten Beiträge dieses Vertreters einer an »Tradition« orientieren Wiener Moderne erschienen in der bedeutenden, reformorientierten Wiener Zeitschrift Der Architekt und der von ihm gegründeten Zeitschrift Hohe Warte und stehen im Zentrum der folgenden Betrachtungen. Anhand der Schriften von Lux soll aufgezeigt werden, dass sich im Architekturdiskurs der frühen Wiener Moderne »Tradition« und »Moderne« keineswegs ausschlossen, ja sich im Gegenteil sogar verbanden. Rückbesinnung auf vernakulare Bauweisen galt nicht zwangsläufig als Indiz für Rückwärtsgewandtheit, sondern stellte bis vor dem Ersten Weltkrieg ein wesentliches Element architektonischer Modernität dar. Doch geht es nicht nur darum, die »traditionelle« Seite der frühen Wiener Moderne aufzuzeigen. Mit einem Schlaglicht auf die Figur des als Bauernhausforscher und Fachschullehrer tätigen Architekten Carl Romstorfer soll auch deutlich gemacht werden, wie sich die Beschäftigung mit vormoderner Bauernhausarchitektur in der Ausbildung von Bauhandwerkern, also auf dem Land selbst niederschlug. Wenn in diesem Beitrag der Prozess der Ästhetisierung des Bauernhauses um 1900 und seine Einführung in den frühmodernen Diskurs um eine reformorientierte Architektur erörtert wird, so ist herauszuheben, dass die hier vorgebrachte Forderung nach einer »bodenständigen Architektur« in Österreich primär ästhetisch-kulturkritisch akzentuiert war und vor 1914 noch wenig mit nationaler Sinnstiftung zu tun hatte. Anders als in Deutschland stand hier die Frage der Ableitung eines Nationalstils aus den bäuerlichen Archetypen und deren Bezug zur stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht im Vordergrund. Zwar sah sich die Bauernhausforschung auch im Vielvölkerstaat Österreich vor die Aufgabe gestellt, mit alten Bauernhaustypen eine die Monarchie charakterisierende Formenvielfalt auf der Grundlage ethnischer Zuordnung darzustellen. Doch herrschte in Wien ein künstlerisches Interesse an Volkskunst und Bauernhaus vor. Die spezifische, spätestens ab 1900 stark ästhetisch geprägte österreichische Sicht auf die bäuerliche und ländliche Architektur endete mit dem Beginn des ersten Weltkriegs. Der vor allem von Lux betriebene Versuch, das Bauernhaus als Vorbild für eine reformorientierte bürgerliche Ästhetik zu mobilisieren, endete bereits um 1910. Wenn auch das Bauernhaus in Österreich kein Potenzial für einen Nationalstil entfalten konnte, überlebte das »Modell Bauernhaus« im Umfeld einer zusehends ins Nationale kippenden Heimatschutzbewegung. Im Kontext einer radikaleren Moderne hatte die vormoderne bäuerliche Architektur jedoch jene konzeptionelle Relevanz verloren, die sie für einen kurzen Moment im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs besessen hatte.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Das Bauernhaus als Forschungsgegenstand

Um den modern-traditionalistischen Wiener Architekturdiskurs mit seinem Rückbezug auf das Vernakulare angemessen zu erörtern, ist es zunächst notwendig, kurz auf den »vorbereitenden« Diskurs der verstärkt mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit »Volkskunst« und »Volksarchitektur« seitens der sich gerade institutionalisierenden Ethno- beziehungsweise »Volkstumswissenschaften« einzugehen. Die vormoderne Bauernarchitektur wurde hier mit dem für das 19. Jahrhundert typischen enzyklopädisch-archivalischem Bewusstsein erforscht, es wurden Methoden und Begrifflichkeiten zur Erfassung und Beschreibung entwickelt und die Ergebnisse in einer Vielzahl von Veröffentlichungen bis hin zu opulenten Tafelwerken publiziert. Die Motivationen und Intentionen für diese Forschungs- und Dokumentationstätig-keit waren durchaus heterogen. Sie reichten von der Dokumentation gefährdeter Bestände bis zur Analyse traditioneller Typologien und Formen, um sie als Grundlage für die Optimierung zukünftiger Agrararchitektur nutzen zu können. 1944 veröffentlicht Kurt Alexander Sommer seine umfassende Bauernhof-Bibliographie, in der er das Schrifttum der ersten rund 100 Jahre systematischer Bauernhausforschung im deutschen Sprachraum auflistet und kommentiert.2 Trotz des politisch zweifelhaften Hintergrunds3 macht Sommers Bibliografie deutlich, in welchem Maße die Bauernhausforschung gegen Ende des 19. Jahrhunderts als junge Disziplin quasi »explodierte« und welcher Grad der thematischen und methodischen Ausdifferenzierung in diesem Zeitraum erreicht wurde.4 Weder der architekturhistorische noch der architekturtheoretische Diskurs nahm bis circa 1850 ernsthafte Notiz von diesem Strang der Bauproduktion.5 Das vernakulare Bauen entsprach in keiner Weise den formalen und ästhetischen Ansprüchen, die man Mitte des 19. Jahrhunderts einer ernstzunehmenden Diskussion zu Fragen der Baukunst zugrunde

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Sommer, Kurt A.: Bauernhof-Bibliographie. Leipzig: Hiersemann, 1944. Sommers Bibliografie versteht sich zugleich als »Schrifttumsverzeichnis« zum Werk Haus und Hof deutscher Bauern, das von der Fachgruppe Bauwesen im NS-Bund deutscher Technik erarbeitet werden sollte. In seinem Vorwort S. VIII skizziert Sommer als eine der wichtigen noch ausstehenden Forschungsaufgaben die Frage nach »Rasse und Hausform«. Trotz dieser ideologischen Verankerung ist die eigentliche Bibliografie weitestgehend sachorientiert. Neben allgemeinen Abschnitten zu Fragen der Geschichte, der Methoden der Hausforschung, der Siedlung und bautechnischen Aspekten nimmt das Schrifttum nach den Landschaften den weitaus größten Teil der Bibliografie in Anspruch. Bereits während des Barocks und in den Landschaftsgärten der Aufklärung waren ländliche Phantasiearchitekturen häufig skurriler und pittoresker Bestandteil der Gartengestaltung gewesen. Erste isolierte Beschreibungen bäuerlicher Architekturen fanden im ausgehenden 18. Jahrhundert Eingang in die Reiseliteratur der Zeit und blieben vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Sujet dieser Literaturgattung. Als früheste Schilderung gelten die Beschreibugen westfälischer Bauernhäuser in Justus Mösers Patriotischen Phantasien von 1768.

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legen musste. Entstanden ohne künstlerisch-architektonischen Anspruch, war das Bauernhaus eine diskursunwürdige Marginalie der Baugeschichte. Dekorative Formen, Architekturglieder und Ornamente entstammten dem handwerklichen Produktionsfeld oder waren rurale Simplifikationen aus dem Fundus der hohen Baukunst, die eher Kritik als Bewunderung auf Seiten der ästhetisch orientierten Rezipienten hervorriefen. Darüber hinaus fehlte eine formale, theoretische und vor allem ästhetische Begrifflichkeit, die es gestattet hätte, die Phänomene, mit denen man innerhalb der Bauernhausarchitektur konfrontiert wurde, zu beschreiben, einzuordnen und zu würdigen. Bauernhausarchitektur wurde, wenn überhaupt, als untheoretisch und unakademisch wahrgenommen. Gerade in dieser Summe von »Schwächen« lag für die Protagonisten der Bauernhausforschung vor allem in der Zeit ab circa 1890 eine der wesentlichen Stärken der bäuerlichen Baukultur. Die historistische Architektur war wegen ihres willkürlich erscheinenden Eklektizismus zusehends ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Auf der Suche nach alternativen architektonischen Konzepten gewannen nicht zuletzt jene alten ländlichen Bautraditionen an Bedeutung, die nicht einem theoretischästhetischen Diskurs unterworfen waren und nicht den Regeln der städtischen Architektur folgten. Zivilisationskritische Zeitgenossen hatten die »Ehrlichkeit« und die »Authentizität« einer »Architektur ohne Architekten« entdeckt. Die Ungekünsteltheit und Einfachheit der bäuerlichen Architektur wurde vor allem auch im Kontext der Lebensreformbewegung positiv gedeutet. Die Widersprüche und Probleme dieser ungewollten Rückständigkeit der Bauernwelt blieben jedoch in der bürgerlichen Rezeption weitgehend ausgeblendet. Obschon das Bauernhaus um 1900 Eingang in den architekturtheoretischen und ästhetischen Diskurs der frühen Moderne fand, gingen wesentliche Impulse für die Beschäftigung mit diesem Gegenstand nicht von Architekten oder Architekturtheoretikern des 19. Jahrhunderts aus. Die ersten Initiativen für eine Beschäftigung mit ländlicher Architektur starteten in Österreich noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts agrarische Kreise und Landwirtschaftsgesellschaften.6 Vornehmliches Ziel war die Anpassung der bäuerlichen Architektur an die sich ändernden agrarischen Produktionsweisen und Sozialstrukturen. Landwirtschaftliche Bauten sollten insgesamt zweckmäßiger, dem »Fortschritt« gerecht werden. Als Grundlage dieser Bemühungen dienten erste systematische Bauaufnahmen bestehender Bau6

Zur Einführung in die Bauernhausforschung vgl. Bedal, Konrad: Historische Hausforschung. Eine Einführung in Arbeitsweise, Begriffe und Literatur. Münster: Coppenrath, 1978. Grundlegend zur frühen Geschichte der Bauernhausforschung in Österreich: Schmidt, Leopold: »Bauernhausforschung und Gegenwartsvolkskunde«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XXIX /78, 1975, S. 307–324 und Moser, Oskar: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV/94, 1991, S. 329–350.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

ernhäuer der verschiedenen österreichischen Regionen, um deren wesentliche Charakteristika und die daraus resultierenden Anforderungen zu erfassen. Mit dieser Zielsetzung sammelte noch vor der Wiener Weltausstellung von 1873 Arthur Freiherr von Hohenbruck vom Ackerbauministerium rund 300 Aufnahmen von Bauernhäusern. Eine Auswahl von Plänen wurde nicht nur auf der Wiener Ausstellung, sondern auch 1878 auf der Pariser Weltausstellung gezeigt und publiziert. [abb. 1, 2, 3] Die Präsentation bäuerlicher Bauten auf Weltausstellungen erfuhr eine breite, positive Resonanz und war ein wichtiger Impuls für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand Bauernhaus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Arthur Haberlandt, der 1950 in einem Vortrag auf 60 Jahre vergleichende Bauernhausforschung im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien zurückblickt,7 sieht den Ausgangspunkt für die systematischwissenschaftliche Bauernhausforschung in Österreich in der 1891 ergriffenen Initiative des damaligen Präsidenten der Anthropologischen Gesellschaft, Ferdinand von Andrian-Werburg, ein eigenes Comité zur Erforschung des Bauernhauses zu bilden, dem es obliegen sollte, Bauernhaus-Studien in »umfassenderer und methodischer Weise« zu verfolgen. Das erste Signal in diese Richtung setzte der aus Deutschland stammende und bereits aufgrund seiner umfangreichen Studien zum deutschen Bauernhaus bekannte Volks-wirt und Industrieexperte Alexander Peez mit seinem kurzen aber einflussreichen Artikel Das Bauernhaus in ÖsterreichUngarn.8 Für Peez, der wie seine Zeitgenossen das Hauswesen stammesbedingt betrachtet – das Bauernhaus gilt ihm als »Urkunde aus unvordenklicher Zeit über Abstammung, Herkunft, Sitte und Cultur des Volksstammes«9 – bietet Österreich mit seinen verschiedenen Nationalitäten einen besonders interessanten Forschungsraum, zumal er davon ausgeht, dass sich gerade in Österreich »alte Gepflo-genheiten« weit besser erhalten haben dürften als in den »westlichen Nachbarländern«.10 Aus diesem Grund bezieht Peez, der für eine verbindliche Systematik zur Erfassung und Einordnung der Häuser eintritt, die Initiative der Anthropologischen Gesellschaft vor allem auf Bauten vor 1800. Die frühen Bemühungen der Bauernhausforschung im deutschsprachigen Raum wurden ab 1894 in einem umfassenden Erfassungs- und Forschungsvorhaben, an dem sich Deutschland, die Schweiz und Österreich

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Haberlandt, Arthur: »60 Jahre vergleichende Bauernhausforschung im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien« in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 82, 1952, S. 22–32. Peez, Alexander: »Das Bauernhaus in Oesterreich-Ungarn«, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 21, 1891, S. 57–59. Ebda., S. 57. Ebda.

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beteiligten, konzentriert.11 Die Initiative für dieses Großunternehmen ging vom Verband deutscher Architekten- und Ingenieurvereine aus. 1892 hatte der Verband beschlossen, man solle »geeignete Maßnahmen zur Darstellung der Entwicklungsgeschichte des deutschen Bauernhauses durch sachgemäße Aufnahmen seiner typischen Formen ergreifen.«12 Es käme darauf an, »die Typen des deutschen Bauernhauses in einzelnen Landesteilen festzustellen, aus der Verwandtschaft ihrer Formen das Gemeinsame und das Besondere in der Lebensweise der einzelnen deutschen Volksstämme zu erforschen und darüber hinaus auf die Grundformen des germanischen und indogermanischen Hauses Schlüsse vorzubereiten.«13 Auf österreichischer Seite war neben dem Österreichischen Verband der Architekten- und Ingenieurvereine das Bauernhaus-Comité der Anthropologischen Gesellschaft Wien federführend beteiligt. Ab der 1895 erstmals erscheinenden verbandseigenen Zeitschrift gibt Michael Haberlandt in der Folge jährlich Auskunft über den Fortschritt der Forschungsarbeit. 1896 listet er die beteiligten österreichischen Vereine, Verbände und Personen auf. Es handelt sich fast ausschließlich um technische Vereine (insgesamt zwölf).14 Erstmals zitiert Haberlandt auch die vereinbarten »Gesichtspunkte für die Sammlung des Materials«. Hierbei betont er, dass sich die österreichische Seite mit der Forderung durchgesetzt habe, im Einzelfall auch Bauten nach 1800 aufzunehmen, sofern sie auf ältere Typen zurückgehen und diese in ausreichendem Maße repräsentieren. Die Aufnahmekriterien sind sehr detailliert und spiegeln den damals erreichten hohen Standard der Aufnahme und Dokumentation bäuerlicher Bauten wieder. 1896 liefert Haberlandt die Begründungen, die einen solchen Aufwand rechtfertigen. Für ihn ist das Bauernhaus »die alterthümlichste Form der Ansiedlungsweise […] gleichsam ein nachgelassenes Stück Urzeit«, zugleich »in mancher Hinsicht ein nationales Dokument, indem es in typischer Gleichartigkeit auf dem gesamten Verbreitungsgebiete des betreffenden Volksstammes wiederkehrt«. Der »nationale Fremdling oder Mischling unter den Hausindividuen«15 sei für das geübte Auge sofort erkennbar. Überhaupt hänge am Bauernhaus so viel vom »Volksgeschmack und seinen Eigenheiten«, dass der »Volkskunde überhaupt aus der Erforschung dieses Gegenstandes ein außerordentlicher Gewinn erwachsen muss.«16

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Der förmliche Beschluss zur Herausgabe eines Corpuswerks wurde 1894 vom Verband Deutscher Ingenieur- und Architektenvereine getroffen. Verband der deutschen Architekten- und Ingenieurvereine (Hg.): Das Bauernhaus im deutschen Reich und seinen Grenzgebieten. Dresden: Kühtmann, 1906, S. V. Ebda. Haberlandt, Michael: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, 1896, S. 114f. Ebda., S. 116. Ebda.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Als 1906 die aufwendig gestalteten Teilbände des Corpuswerkes zu Deutschland, Österreich und der Schweiz im Gerhard Kühtmann Verlag in Dresden erscheinen, zeigen sich vor allem in den historischen Einführungen des deutschen und des österreichischen Textbandes markante Unterschiede. Dietrich Schäfer gibt in seiner historisch-geografischen Einleitung zum Bauernhaus im Deutschen Reiche und seinen Grenzgebieten eine sachliche, historisch und stammesgeschichtlich geprägte Sicht auf das deutsche Bauernhaus. Er verknüpft die Genese des deutschen Bauernhauses in den unterschiedlichen Regionen und Landschaften mit zentralen Daten und Ereignis-sen der deutschen Geschichte. Ein weiterer Bezugspunkt ist die soziale und ökonomische Entwicklung und ihr Einfluss auf den Bauernstand. Bevor im Hauptteil detailliert auf die Spezifika der Bauernhausarchitektur in den einzelnen deutschen Regionen eingegangen wird, gibt Schäfer noch einen differenzierten Überblick über die Charakteristika innerhalb der zu größeren Einheiten zusammengefassten deutschen Volksstämme. Schäfers Einleitung und die darin verfolgte Methode und Aufarbeitung des Materials macht deutlich, dass sich der deutsche Band des Corpuswerks im Rahmen der rund zehn Jahre zuvor erklärten Zielsetzung einer sachlich-wissenschaftlichen und weitgehend stammesgeschichtlich orientierten Bearbeitung des Themas bewegt. Einen etwas anderen Tenor als Dietrich Schäfer schlägt Michael Haberlandt in seiner Einleitung zum Geschichtlichen Teil des österreichischen Bandes Das Bauernhaus in Österreich und in seinen Grenzgebieten an.17 Zwar zeugt auch Haberlandts Überblick über die Geschichte der österreichischen Bauernhausforschung davon, dass die österreichische Forschung von einer stammes- und evolutionstheoretischen Grundauffassung geprägt ist, doch gibt es einen signifikanten Unterschied. Die österreichische Sicht auf das Bauernhaus hatte in Wien, wohl beeinflusst von der Volkskunst- Rezeption im Feld der Kunst, wo man sich vom »ungehobenen Schatz« der Volkskunst wesentliche Impulse für die Zukunftsproduktion versprach, einen stark ästhetischen Einschlag. Eine stark subjektive, romantisierende ästhetischsensualistische Dimension tritt in Haberlandts Begleittext hinzu. Seine moralisch konnotierte, emphatische Sicht auf die bäuerliche Architektur ist also im spezifisch österreichischen Kontext der zunehmenden Kritik an historistischer Architektur zu sehen. Haberlandt betrachtet das Bauernhaus vor allem aus der Perspektive des gebildeten Städters und im Kontrast zur städtischen Architektur, deren Stilgemisch er kritisiert: »Aus den regelmäßigen Häuserzeilen der Städte kommend und an das Gemisch verschiedenster Baustile […] gewöhnt, ist der Gebildete doppelt empfänglich für den Eindruck des primitiven Wohnhauses, 17

Haberlandt, Michael: Einleitung (von Geschichtlicher Teil I), in: Das Bauernhaus in Österreich-Ungarn und in seinen Grenzgebieten, S. 3ff.

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wo der Rauch aus der Türe zieht und das, schwerbedacht und aus kleinen Fensteraugen blinzelnd, oft dasteht, als wäre es wie der Apfelbaum nebenan von selbst aus der Erde gewachsen.«18 Für Haberlandt nimmt das Bauernhaus den Charakter eines gewachsenen, natürlichen Wesens an, wodurch der »Mangel künstlerischer Entwicklung« ausgeglichen wird. Er betont die »organische Verbindung des Bauernhauses mit seinen Bewohnern«, die das »der nivellierenden Mode stilistisch erlegene Stadthaus« nicht erreiche.19 Indirekt formuliert er damit die moralische Überlegenheit der ländlichen Architektur gegenüber der städtischen (Stil)Architektur und Lebensweise, der die Verbundenheit des Bauern mit seinem Haus völlig abgehe. Der im Zinshaus zur Miete wohnende, vom Besitz eines eigenen Hauses entfremdete Städter könne die Bedeutung des Bauerhauses für die Familie und ihre zukünftigen Generationen kaum ermessen. Für Haberlandt ist die materielle Kultur der Bauern um 1900 fast nur mehr Relikt und selbst in entlegenen Gegenden vom Aussterben bedroht. Einerseits haben auf dem Land geänderte Produktionsweisen und Sozialstrukturen architektonische Anpassungen notwendig gemacht, andererseits haben neue Materialien und die Assimilation von städtischen Formen zu Veränderungen geführt. Es ist ihm ein wichtiges Anliegen, diesen Prozess – gerichtet auf Erhalt der jeweiligen Eigentümlichkeiten – aus einer genauen Erfassung und Analyse des Bestehenden heraus zu steuern. Damit wird eine Absicht angedeutet, die bereits hinter den ersten, von Hohenbruck initiierten Erhebungen stand. Die Aufnahme alter Bauten sollte nicht nur der Dokumentation eines gefährdeten kulturellen Bestandes dienen, sondern auch – wie noch am Beispiel des Architekten Carl A. Romstorfer näher auszuführen sein wird – Grundlagen für ein neues, zeitgemäßes Bauen auf dem Land liefern. »Bodenständigkeit« wurde aber nicht nur für ein modernes, ländliches Bauen, sondern auch für eine moderne, den Historismus hinter sich lassende bürgerliche Architektur reklamiert. Die bäuerliche Architektur bot eine Basis für die Abstraktion der wesentlichen Prinzipien und Charakteristika, dieauch im Zuge der Forderung nach einer durch Anknüpfen an »urheimische Traditionen« sich erneuernden Architekturproduktion zum Tragen kamen. Das Bauernhaus war »organisch« in die Landschaft und ihre klimatischen Bedingungen eingepasst, erfüllte den Primat nach Zweck- und Funktions-erfüllung bei absoluter Material- und Konstruktionsgerechtigkeit, verzichtete auf die »Nachahmung« historischer Stile und war formal und typologisch auf das Wesentliche reduziert. Damit sind jene Qualitäten benannt, die das Bauernhaus im frühmodernen Diskurs um »architektonische Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit« zum Vorbild werden ließen. 18 19

Ebda., S. 3. Ebda.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Die Ästhetisierung der bäuerlichen Architektur und ihre Integration in den frühmodernen Architekturdiskurs – Joseph August Lux

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Beiträge des Wiener Kulturpublizisten Joseph August Lux (1871–1947), der sich in den Jahren 1902–1908 auf sehr vielfältige Weise in mehreren Artikeln mit dem Bauernhaus, der ländlichen Architektur und deren Verhältnis zur städtischen Architektur des späten Historismus auseinandersetzte.20 Als Herausgeber der Kunstzeitschrift Hohe Warte (1904–1908), als deren Mitarbeiter führende Personen wie Joseph Hoffmann, Kolo Moser und Otto Wagner, Hermann Muthesius oder Paul Schultze-Naumburg auftauchen, hatte sich Lux ein Medium geschaffen, das, wie die zahlreichen Artikel in der Rubrik »Volkskunst und Heimatschutz« belegen, vor allem auch der Verbreitung der Ideen des (in Österreich noch nicht institutionalisierten) Heimatschutzes diente. Ein Blick in die umfangreichen, thematisch heterogenen Inhaltsverzeichnisse der Hohen Warte zeigt aber, welch gesamtkulturellen Anspruch die Zeitschrift vertritt. Das Spektrum reicht vom Städtebau, über die Architektur, die Wohnungseinrichtung, die künstlerischen Gattungen bis hin zur Handarbeit. Fragen der Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik werden ebenso behandelt wie die Kunsterziehung und die Literatur. Das inhaltliche Spektrum der Hohen Warte spiegelt nicht nur die überaus vielfältigen Interessen des Herausgebers wieder – immerhin stammt die größte Zahl der Artikel von Lux selbst, sondern findet seinen Widerhall auch in einer ebenso heterogenen Autorenriege. Vielfalt und thematische Breite der Hohen Warte verfolgten selbstredend eine »pädagogische« Absicht. Jede kulturelle Sphäre und Leistung ist betrachtenswert und in ihrem Zusammenspiel und ihren Wechselwirkungen bilden diese kulturellen Sphären die Basis für den weiteren Fortgang einer höchst subtilen Ästhetik des frühmodernen, reformwilligen Bürgertums. Die Heterogenität der Beiträge und Autoren verrät aber auch, dass die in der Zwischenkriegszeit sich zunehmend zum Gegensatz entwikkelnden Pole von Avantgarde und Tradition in den 1910er Jahren noch durchwegs verwoben und schwer voneinander abzugrenzen waren. Mit dem Ziel der »Pflege und Erhaltung der wertvollen heimatlichen Tradition«, der 20

Wie bei einigen wichtigen Vertretern des frühmodernen Diskurses in Wien ist auch die Biografie von Joseph August Lux bisher nur in Ansätzen nachvollziehbar. Den bisher wohl umfangreichsten Versuch einer »biografischen Skizze« unternimmt Mark Jarzombek. Sie ist allerdings stark geprägt vom Versuch, Lux dem reformiert-frühmodernem katholischen Intellektuellenmilieu zuzuordnen. Weiterhin stehen die Beziehungen und späteren Auseinandersetzungen mit Muthesius und dem Deutschen Werkbund im Vordergrund. Eine zusammenfassende Darstellung seines Wiener Wirkens und der damit zusammenhängenden kulturellen und biografischen Details existiert bisher nicht. Jarzombek, Mark: »Joseph August Lux – Werkbund Promoter, Historian of a Lost Modernity«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 63 /2, 2004, S. 202–219.

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Absicht, »anhand eines instruktiven Anschauungsmaterials die Grundlagen für eine auf lokalen und heimatlichen Voraussetzungen beruhende Gestaltungsweise zu schaffen«, war jedoch sehr eindeutig die Stoßrichtung einer frühen kulturkritischen und vorwiegend ästhetisch argumentierenden Heimatschutzbewegung markiert, als deren Protagonist Lux im Wien der Zeit zwischen 1900 und 1910 hervortrat. Sein 1903 in der Zeitschrift Der Architekt erschienener Artikel Das Bauernhaus macht deutlich, wie sehr Lux speziell auch in Architektenkreisen um eine verstärkte Wahrnehmung und Wertschätzung der alten Bauernarchitektur bemüht war. Der Gegenstand – gezeigt werden Höfe aus Klausen in Südtirol und aus Spitz an der Donau [abb. 11] – wird dabei nicht unter bauhistorischen oder baukonstruktiven, sondern unter rein ästhetischen Gesichtspunkten besprochen. Das Auge des Ästhetikers nimmt das Bauernhaus als »malerisch« wahr: »Das Auge, welches das ›Malerische‹ empfindet, hat im Grunde genommen das Zusammengehörige, Organische, Rhythmische erfasst, also etwas, das vor allem architektonisch ist. Das Wort: malerisch ist eine unbewusste Huldigung für das Architektonische.«22 Nicht mehr die Erfüllung abstrakter, scheinbar objektiver Gesetzmäßigkeiten und Regeln der Architektur garantiert deren Wirkung, sondern die Rezeption auf einer unmittelbaren, emotionalen Wahrnehmungsebene. Lux bezieht sich allerdings nicht explizit auf die sensualistische Ästhetik des 18. Jahrhunderts, sondern bezeichnet als einen wichtigen Ausgangspunkt für die Wahrnehmung der malerischen Qualitäten bäuerlicher Architektur die realistische Genremalerei: »Hat man also das Bauernhaus bisher nicht auf das Architektonische hin betrachtet, so hat man es doch auf das Malerische hin getan. Und das zu einem solchen Grade, daß der größere Teil des landschaftlichen Genrebildes durch Bauernhausmotive bestritten wurde. Auch hier hat, ähnlich wie im Kunstgewerbe, der Maler dem Architekten die Wege gewiesen.«23 Vermittels des Begriffs des Malerischen gelingt es Lux, eine ästhetische Kategorie mit dem Bauernhaus zu verbinden, die es gestattet, die scheinbare Architekturmarginalie im architekturästhetischen Diskurses des späten 19. Jahrhunderts zu verankern. Lux steht mit seiner Betonung einer am Malerischen ausgerichteten architektonischen Wahrnehmungsästhetik nicht alleine in der frühen Wiener Moderne. Auch Josef Hoffmann hatte auf seinen Reisen im mediterranen Raum traditionell-volkstümliche Bauweisen studiert. Bereits 1895, im ersten Heft von Der Architekt, betont er in seinem kurzen Artikel Architektonisches

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Lux, Joseph. August: Vorwort, in: Hohe Warte. Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur I, 1904–05, S. I. Lux, Joseph August: »Das Bauernhaus«, in: Der Architekt IX, 1903, S. 15f. Ebda.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

aus der österreichischen Riviera, dass die »architektonischen Scenerien«an der Adriaküste der österreichischen Kronländer Istrien und Görz frei sind »von übercivilisiertem Kunstverständnisse und doch in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit von so großem Reiz, dass es wohl der Mühe wert ist, sich mit diesen Kindern naiver, volksthümlicher Kunst ein wenig zu befassen.«24 Ausdrücklich empfiehlt er den Villenbauern des an der Adria boomenden Residenztourismus, sich an den »malerischen« an- und übereinander gebauten alten Häusern zu inspirieren, um der »unglaublichen Geschmacklosigkeit« der modernen Villen ein Ende zu setzen. Zwei Jahre später, in seinem ebenfalls in Der Architekt erschienenen Beitrag Architektonisches von der Insel Capri – Ein Beitrag für malerische Architekturempfindungen lobt Hoffmann den »malerisch bewegten Baugedanken«, die »glatte Einfachheit« und »von künstlicher Überhäufung mit schlechten Decorationen freie« Formensprache der vernakularen Bauten.25 Er merkt aber auch an, dass das Beispiel Capris »nicht zur Nachahmung dieser Bauweise führen, sondern nur den Zweck haben (soll), in uns einen anheimelnden Wohngedanken zu wecken, der nicht der Verdecorierung des schlechten Baugerippes mit lächerlichen, fabriksmäßig hergestellten Cementgussornamenten, oder in aufoctroierten Schweizerund Giebelhausarchitekturen besteht […].«26 Der Rekurs auf vernakulare Baukultur bot sich also an, wenn es darum ging, die Architektur von historistischem Formenschmuck zu befreien, von unmittelbarer Nachahmung wird jedoch abgeraten. Offensichtlich war es möglich, zugleich Fürsprecher und Gegner der Tradition zu sein. Denn so sehr die »Wiener Moderne« die ländliche Volkskultur als Quelle der künstlerischen Erneuerung propagiert, so sehr distanziert sie sich auch von ihr – jedenfalls von einer bestimmten Form ihrer Aneignung. Auch der Vielschreiber Lux, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit seinen Beiträgen über die verschiedensten »Kunstäußerungen des Volks« Anregungen für eine neue, alle Lebensbereiche integrierende Kultur der Gestaltung zu schaffen, wendet sich entschieden gegen jene, die den Vorbildgedanken allzu wörtlich nehmen: »[…] man muß die originelle Schaffungskraft bewachen, das blinde und unehrliche Nachahmen immer und überall missbilligen, vor der Annahme der Volksmotive […] warnen.«27 Was die ästhetische Wahrnehmung des Bauernhauses betrifft, stellt Lux eine wichtige Vorraussetzung klar: »Aber die ganze Generation vor uns, welche eine Dorfstraße oder ein einzelnes Haus im Gebirge oder in der Ebene so entzückend ›malerisch‹ fand, hatte keine Ahnung, daß dieses Malerische 24 25 26 27

Hoffmann, Josef: »Architektonisches aus der österreichischen Riviera«, in: Der Architekt I, 1895, S. 37. Hoffmann, Josef: »Architektonisches von der Insel Capri«, in: Der Architekt III, 1897, S. 13. Ebda. Lux, Joseph August: »Polnische Volkskunst« in: Hohe Warte I, 1904–05, S. 276.

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zum größten Teil in jenem primitiven architektonischen Werten liegt, die nichts weiter wollen, als einen Zweck erfüllen, des Lebens Notdurft schlechthin genügen. […] Auf schöne Wirkung war keiner bedacht. Sie ergab sich von selbst. Sie ist in der Natürlichkeit zu suchen, die strenggenommen höchste Zweckmäßigkeit ist.«28 Auch wenn Lux die ästhetischen Qualitäten der bäuerlich-ländlichen Architektur bewundernd hervorhebt, so weiß er doch, dass die Bauern nicht auf den künstlerischen Effekt des Malerischen hin gebaut haben. Dass bäuerliche Architektur nicht das Produkt eines ästhetischen Wollens ist, vor allem keinem Stilwollen folgt, fügt sich nicht nur nahtlos ein in die Grundthesen der älteren Historismuskritik (etwa eines Otto Wagner), die eine aus Zweckmäßigkeit gewonnenen Formensprache fordert, sondern trifft sich auch mit der neueren (avantgardistischen wie konservativen) Historismuskritik, welche die Suche nach neuen Stilen ablehnt und eine neue Kultur des Bauens entweder (konservativ-traditionalistisch) durch Rückbezug auf Überliefertes, auf alte »Bauweisen« (nicht »Stile«) oder (avantgardistisch) durch Besinnung auf moderne Lebensform und neue Baumethoden anstrebt. Punktuell trifft sich der Heimatschützer Lux auch mit dem größten Feind der »Heimatkünstler«, Adolf Loos, der 1914 in Heimatkunst ebenfalls zu dem Schluss kommt: »Die bauern selbst kommen sich gar nicht malerisch vor, auch ihre häuser sind es für sie nicht, sie haben auch nie malerisch gebaut […].«29 Loos fordert in seinen »Regeln für den, der in den Bergen baut« von 1913 aber auch: »Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und der sonne. Der mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein hanswurst. Der bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es.«30 Auch wenn Lux mit seiner »Liebe zur Heimat«, seinem Schwärmen für das »künstlerische Erbe des Volkes« nur allzu leicht in die Ecke des romantisch-konservativen, rückwärtsgewandten Heimatschützers gestellt werden kann, vertritt er die mit Loos vergleichbare Ansicht, dass neue Baukunst aus Bedingungen der Gegenwart mit Rücksicht auf Tradition zu schaffen ist. Bei allen Berührungspunkten, die zwischen den wortmächtigen Protagonisten auch ausgemacht werden können, gibt es doch unüberbrückbare Differenzen. Hatte sich Loos zeitlebens aus allen Volkskunst-Diskursen und Erhaltungsvereinen herausgehalten,31 war Lux zwischen 1903 und 1908 ganz im Dienst 28 29 30 31

Lux: »Das Bauernhaus«, S. 15f. Loos, Adolf: »Heimatkunst« (1914), in: Loos, Adolf: Sämtliche Schriften. Bd. 1, hg. von Franz Glück. Wien / München: Herold, 1962, S. 331–341, S. 336. Loos, Adolf: »Regeln für den, der in den Bergen baut« (1913), in: Loos, Adolf: Sämtliche Schriften. Bd. 1, hg. von Franz Glück. Wien / München: Herold, 1962, S. 329–330, S. 329. Kaessmayer, Erich: »Adolf Loos und die Volkskunde« in: Rukschcio, Burkhardt /Schachel, Roland: Adolf Loos. Katalogbuch zur Ausstellung »Adolf Loos«, veranstaltet von der Graphischen Sammlung Albertina in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum der Stadt Wien, 2. 12. 1989 – 25. 2. 1990. Salzburg: Residenz, 1989, S. 279–298.

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einer romantischen »Heimatpflege« aufgegangen. Zum romantischen Ästhetizismus, von dem das kulturpublizistische Interesse an der Bauernkultur um die Jahrhundertwende ganz wesentlich getragen war, stand Loos ganz und gar in Opposition. Er hatte gerade Leute wie Lux im Visier, die den malerisch-ästhetischen Blick auf die Bauernkultur warfen und in ihrer »sentimentalen Flucht in die hinterwäldlerische Schlichtheit« (Hans Tietze) die Produktionsbedingungen und die Unterprivilegiertheit der Bauern nicht sehen konnten, wenn sie für den Erhalt der »von Fortschritt bedrohten« bäuerlichen Kultur eintraten. Auch wenn Lux nicht eindeutig einem Lager zuzuordnen ist, war er immer darum bemüht, progressive und konservative Tendenzen miteinander zu verbinden. Er muss als einer der Wegbereiter der österreichischen Heimatschutzbewegung gesehen werden, welche sich 1912 (nach dem Vorbild des 1904 in Dresden auf Anregung Ernst Rudorffs ins Leben gerufenen »Bundes Deutscher Heimatschutz«) landesweit organisierte. Der Schwerpunkt seiner zwischen 1903 und 1908 forcierten »Kulturarbeit« liegt zunächst auf der Rettung der »Bauernkunst«, die zusehends von der »Stadtkunst« bedroht wird: »In den letzten Jahrzehnten ist ein bisschen stark gesündigt worden gegen dieses uralte, kostbare Erbe des Volkes; in zahlreichen Provinzen, namentlich in den Umgebungen der Großstädte ist vielfach schlechtes Neues an Stelle des guten Alten getreten und die treuherzigen, auf bodenständiger Überlieferung beruhenden Formen im Hausbau […] sind verschwunden und mit ihnen ein gut Teil Schönheit des Landes.«32 Größte Gefahr sieht er in den Anpassungsbestrebungen der Bauern gegenüber der Stadtkultur und in deren »Geringschätzung des eigenen Gutes.« Weshalb er den Bauern auch die Lektüre von kunsterzieherischen Publikationen empfiehlt, die »unter der Anleitung von A. Lichtwark, Schultze-Naumburg, Avenarius unter anderem namentlich auf den Heimatschutz gerichtet sind.«33 Seiner Meinung nach sollte speziell das 1903 in Wien bei Martin Gerlach & Co. erschienene Buch Deutsche Bauernkunst von Oskar Schwindrazheim »auch im Bauernhause nicht fehlen.«34 Schwindrazheim kultiviert hier den auf konservative Großstadtkritik hinauslaufenden Dualismus von Stadt und Land, wobei er die dörfliche Sphäre, die gute alte »wurzelhafte Volks- und Bauernkunst« durch die Veränderungen im Zuge der Industrialisierung als bedroht und gefährdet ansieht. Weder Lux noch Schwindrazheim waren in ihren Forderungen jedoch so

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Lux, Joseph August: »Deutsche Bauernkunst – volkstümliche Kunst«, in: Der Architekt X, 1904, S. 33–36, S. 33. Ebda. Ebda.

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weit gegangen, wie der völkisch-nationale Publizist und Pionier der Freikörperkultur in Deutschland, Heinrich Pudor, der 1910 in einem Beitrag in Der Architekt eine radikale, an ländlichen Bauweisen orientierte, neue Großstadtarchitektur fordert.35 Mit einem fast esoterischen Unterton betreibt Pudor die für kulturpessimistisch-reaktionäre Heimatschutz-Kreise typische Großstadtkritik. Er spricht von der »unorganisch, krebsartig wuchernde(n), regellos und unharmonisch zusammengestoppelte(n) und ausgehackte(n) Großstadt« und beklagt vor allem das Fehlen der »organischen Auffassung von Architektur, daß ein Haus Teil des Bodens ist […], daß es in der Erde wurzelt und in die Landschaft hineingreift […].«36 Kritisiert wird das städtische Bauen, das sich »unorganisch zur Mutter Erde verhält« – speziell in der Vorstadt: »erhält man etwas, was von seinem landschaftlichen Milieu, von der Mutter Erde vollständig losgelöst ist und seine ekelhafte, steinerne Welt für sich bildet, unorganisch, unästhetisch, unhygienisch – seelenlos.«37 Als Lösung schlägt er horizontal gelagerte Bauten mit zugehörigen Gärten vor. Wobei er das Vorbild für »organisch« gebaute Stadthäuser im niedrigen Dorfgehöft sieht, wo »das Dach nur dazu da zu sein scheint, die Berührung mit dem Erdboden von oben her wieder herzustellen und zwischen First und Scholle die Verbindungslinie zu finden.«38 Die wesentliche Bedingung für eine neue »organische«, mit der Umgebung harmonisch in Beziehung tretende städtische Baukultur sieht er dementsprechend darin, »daß man weniger vertikal schichtet, als horizontal ausladet, daß man einigermaßen niederdeutsch in die Breite baut.«39 Neben der Rettung der Bauernkunst ist Lux die Erneuerung der Stadtkunst ein besonderes Anliegen – wobei er sich wesentlich auf das moderne Landhaus am Stadtrand konzentriert.40 Sein Drang nach Versöhnung der Gegensätze ist so groß, dass er die Vorstadt als idealen Ort für eine Synthese, als Ort für eine das Alte mit dem Neuen verbindende, zeitgemäße Großstadtkultur sieht. Um eine solche zu realisieren, müssen aber zunächst die Augen für das hier bereits vorhandene gute Alte geöffnet werden. »Wir können täglich dieselben glücklichen Gefühle wieder finden, wenn wir aus der verzwei-

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Pudor, Heinrich: »Architektur als Landschaft«, in: Der Architekt XXI, 1910, S. 81–86. Ebda., S. 83. Ebda. Ebda., S. 81. Ebda, S. 82. Vorbildhaft sind für Pudor die Wohnhäuser von Wilson Eyre, die ihn ausdrücklich an Bauernhäuser erinnern. Ein Bezug zu Howards Gartenstadtidee von 1898 und dem darin beabsichtigten Ausgleich zwischen Stadt und Land liegt bei Pudor nicht vor. Vgl. Lux, Joseph August: Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst. Wien: Schroll, o. J. [1903 oder 1904]; ders.: »Altwiener Häuser und Höfe«, in: Der Architekt XIII, 1902, S. 29–32; ders.: »Wenn du vom Kahlenberg…« Das künstlerische Stadtbild Wiens, wie es war und wird. Ein Buch für einheimische und auswärtige Fremde. Wien: Akademischer Verlag, 1907.

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felten Langeweile unserer nichtssagenden schablonenhaften Straßenfronten an die Peripherie der Stadt hinauskommen, wo städtische und ländliche Cultur einander begegnen und aus ihrer ein Drittes entsteht.«41 Dieses spannungsreiche »Dritte« ist für Lux aber erst in zarten Ansätzen – etwa Hoffmanns Villenbauten auf der Hohen Warte – realisiert. Tatsächlich sieht er die Vorstadt vom unkontrollierten Wachstum der Stadt mit ihrer unauthentischen historistischen Stilarchitektur bedroht, in der sich nur der Wunsch nach hohler, repräsentativer Außenwirkung zeige. Hier würde von »außen nach innen« gedacht, während die »gute« biedermeierliche Vorstadtarchitektur »von innen her bestimmt« ist. Wie in der alten Bauernarchitektur konstatiert er auch in der »volkstümlichen Baukunst« der Wiener Vorstädte »Ehrlichkeit« und »ungeschminkte Aufrichtigkeit«, das »Menschliche« jener Bauten. Um die Unterschiede schaubar zu machen, kontrastiert er – und dabei auf den Bilddiskurs der deutschen Heimatschützer zurückgreifend – nach dem Muster von »Beispiel und Gegenbeispiel« die historistische mit der Altwiener Vorstadtarchitektur. [abb. 8, 9] Zeugen seine in Der Architekt erschienen Artikel eher vom Bemühen, die Architektenschaft für das Bewahren der alten »volkstümlichen Kunst« zu gewinnen, weshalb er auch vornehmlich Bilder von alten Bauernhäusern zeigt, [abb. 11] dienen seine in der Hohen Warte publizierten Beiträge und seine Monografie Das moderne Landhaus vor allem dem Publik-Machen moderner bürgerlicher Landhaus- beziehungsweise Villenarchitektur. Ähnlich wie bei Muthesius42 – doch in eindeutiger Abgrenzung zum »englischen Haus«43 – zeigt sich auch bei Lux der Wille, zeitgenössisches Schaffen innerhalb einer gefestigten Tradition zu verankern. Lux geht sogar so weit, die zeitgenössische Wiener Villenarchitektur – gezeigt werden neben HoffmannBauten vor allem Häuser von Leopold Bauer [abb. 10] – als Resultate einer »die wahre architektonische Vergangenheit« als Vorbild verarbeitenden Entwurfsleistung zu deuten: »Die offizielle Architektur hat gerade für unsere großen, führenden Künstler aufgehört, bedeutsam zu sein. Sie haben längst angefangen, die lebendige volkstümliche Baukunst zu suchen und an die bodenständige Tradition anzuknüpfen. (…) das künstlerische Erbe wird wieder aufgenommen (…) So entsteht Neues, das den Stempel unserer Zeit trägt und gleichzeitig die ererbten Züge einer alten, durchaus bodenständigen Rasse.«44 So sehr man auch heute den Ton als völkisch-nationalistisch grundiert empfinden mag, so sehr ist doch zu betonen, dass es Lux – im Gegensatz zu Muthesius – nicht um Nationalisierung von Architektur und Kunstge41 42 43 44

Lux: »Altwiener Häuser und Höfe«, S. 29. Vgl. Stalder, Laurent: Hermann Muthesius 1861–1927. Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf. Zürich: gta Verlag, 2008. Lux: »Das Bauernhaus«, S. 16. Lux: »Das moderne Landhaus«, S. 7.

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werbe ging. Was Muthesius und Lux jedoch verbindet, ist die Vagheit der geforderten kulturellen Anbindung. Denn so deutlich auch die Forderungen sind, an der »heimischen Kunstüberlieferung« festzuhalten und »heimischen Bedingungen« gerecht zu werden, so unkonkret bleiben doch die Vorstellungen, wie dieses Anknüpfen praktisch vor sich zu gehen hat. Mit der ästhetisch dominierten Sicht auf die bäuerliche und ländliche Architektur unterscheidet sich der Wiener Diskurs erkennbar vom deutschen Moderne-Diskurs. Nicht nur für Lux, auch für andere Kritiker und Kommentatoren in Wien hat die Nutzung der »volkstümlichen Bauten« für die Entwicklung eines künstlerisch anspruchsvollen Nationalstils keine Relevanz. Natürlich sieht auch Lux gemäß der vorherrschenden Meinung in Fachkreisen die bäuerliche Architektur »stammlich« bedingt, doch steht er im Grunde einer übermäßigen Betonung der nationalen Aspekte ablehnend gegenüber. So lobt er in seinem 1908 verfassten, kurzen Beitrag Der nationale Stil in der Baukunst neueste Publikationen (über die »Althamburgische Bauweise« und über das »Ungarische Bauernhaus«) vor allem wegen des künstlerischen Werts der Illustrationen, zieht aber auch in Zweifel, ob das in der Architektur immer stärker zur Geltung kommende »nationale Empfinden im Anschluß an die heimatliche Überlieferung […] die starke Hinneigung zu den überlieferten historischen Formen der Heimat, […] einen Fortschritt bedeutend wird.«45 Das Jahr 1908 stellt jedenfalls für Lux in mehrerlei Hinsicht ein Wendejahr dar. Denn er hatte sich mit Muthesius, der immer offensiver für eine im deutschen Volk aufgehobene neue Kunst und Architektur eintrat, überworfen und in der Folge seine publizistischen Aktivitäten für den deutschen Werkbund eingestellt, aber auch damit begonnen, sein Credo, die alten überlieferten Formen als »Fundgrube eines neuen Formenschatzes« anzusehen, in Zweifel zu ziehen. Zwar hatte er sich schon 1904 sehr entschieden gegen die »Nachahmung« im Kunstgewerbe ausgesprochen und dazu aufgefordert, das Kopieren von »volkstümlichen« Motiven zu missbilligen, doch erst 1907 beginnt er zu erkennen, dass die Anregung, die das bürgerliche Bauwesen aus den vielen Publikationen zur »altheimischen volkstümlichen Baukunst« bezogen hat, vielfach zu einer Aneignung von vernakularen Formen im Sinne des Historismus geführt hat. Die Bauernhausforschung mit ihren Bauaufnahmen, Zeichnungen und Fotos stelle zwar für Architekten wichtiges Anregungsmaterial dar, dürfe jedoch nicht im Sinne eines Lehrmittels als unmittelbare Vorlage genutzt werden. Relativierend stellt Lux die Bedeutung der »Zeichenwerke« für das kunstsinnige Publikum heraus. Sie wären vor allem eine »Seelenstärkung für Natur- und Kunstfreunde« wichtige »Quellen, um

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Lux, Joseph August: »Der nationale Stil in der Baukunst«, in: Hohe Warte IV, 1908, S. 254.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Belehrung, Erholung und künstlerisches Wachstum zu suchen, die in den modernen Städten mit ihrer verkommenen Stil- und Spekulationsbauerei nicht zu finden sind.«46 Als Vorlagenwerke möchte er sie jedoch nicht verstanden wissen: »es hieße die Bedeutung der Sache vollständig verkennen, wollte man daraus eine Vorlagensammlung und eine Fundgrube fertiger Stilformen zur Nachahmung machen.«47 Die Gefahr bestehe für ihn gerade darin, »daß das sogenannte malerische Baumotiv oder die Anpassung an die vorhandenen ländlichen Motive leicht als die Hauptsache angesehen wird. Es wäre sehr schlimm, wenn hinsichtlich des Landhausbaues dasselbe Missverständnis Platz greifen würde, das wir in der Wiederholung der alten Stile gesehen haben.«48 In dem 1907 in der Hohen Warte erschienenen Beitrag Das Volkslied der Architekur hält er weiter fest, dass es eine ganze Reihe neuer Bauaufgaben auf dem Lande gäbe, »Bahnhofbauten, Verkehrsbauten aller Art«, die »nicht gut nach dem Grundsatz der äußerlichen Anpassung durchgeführt werden (können), nicht einmal das moderne Familienhaus, das wesentlich andere Voraussetzungen enthält. […] Wir müssen uns darüber klar sein, dass ein gutes Wohnhaus für eine Familie von ganz sachlichen Grundlagen bestimmt ist […].«49 Die aus dem deutschen Diskurs wohlbekannte Forderung nach »Sachlichkeit« gewinnt plötzlich auch bei Lux an Gewicht: »Was uns vielmehr not tut, ist die immerwährende Begründung und Vertiefung der erwähnten sachlichen Momente, die Forderung der Qualität hinsichtlich des Materials und der Arbeit, die Reinheit und Unverziertheit in der Bauherstellung und in der Baunützung.«50 Lux kommt also zu dem Schluss, dass die Betrachtung der »heimischen Überlieferung« für Architekten nur indirekt nützlich ist, dass es der »sachliche, natürliche und ungekünstelte Baugeist« der alten Bauten ist, den die Architekten zum Vorbild zu nehmen hätten, und nicht deren Form. Fraglich bleibt für Lux auch, ob sich der »handschriftliche Zug« die malerische Erscheinung, die sich aus der händischen Verarbeitung der Materialien und der »improvisierten Art des Bauens« ergibt, in der Gegenwartsarchitektur überhaupt herstellen lässt. Den Unterschied zwischen Architektur (als an Planung und Zeichnung geknüpfte künstlerische Disziplin) und »mehr oder weniger instinktiv schaffendem« Bauhandwerk vor Augen sieht er die individuellen Eigentümlichkeiten dem zeitgenössischen Bauwesen abhanden kommen: »Unsere fabriksmäßigen Baumaterialien, unsere ebenso fabriks46 47 48 49 50

Lux, Joseph August: »Das Volkslied der Architektur«, in: Hohe Warte III, 1906/07, S. 206–212, S. 206. Ebda., S. 212. Ebda., S. 207. Ebda., S. 207f. Ebda., S. 209.

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mäßigen Bauarbeiter lassen keine individuelle Freiheit, keine anmutigen Unwillkürlichkeiten, keine Improvisation mehr zu.«51 Ist bei Lux 1907 noch die Hoffnung zu spüren, dass »jede Art von Stilmeierei im Hinblick auf die heimische Bauweise« vermieden werden kann, zeigt er sich vier Jahre später über die Entwicklungen der »Heimatkunst« bereits resigniert. Was besonders in einem Vorwort deutlich wird, das er für ein von Martin Gerlach herausgegebenes Mappenwerk zur »volkstümlichen« Kunst und Architektur im Jahr 1911 verfasst hat.52 In diesem Text, der eigentlich die von Martin Gerlach vorgelegte Bildersammlung »volkstümlicher Kunst« würdigen soll, entlädt er seinen Groll über eine »falsch verstandene Heimatkunst«. Abermals kommt er auf die Frage der Nachahmung zu sprechen und distanziert sich von einer die Vergangenheit zum ästhetischen Maßstab erklärenden Gegenwartsarchitektur: »Viele Gründe sind, warum wir nicht nachahmend verfahren können. Unsere Ansprüche an Komfort und Hygiene sind gesteigert, […] die Bauverfahren (haben sich) geändert. Schließlich hat die Erfindung neuer, vordem unbekannter, sehr wertvoller Baustoffe, wie Beton, eine neue Materialsprache mit sich gebracht.«53 Der ehemals euphorische Ton ist einem gereizt-missmutigen Ton gewichen, wenn er im Detail die »falsche Anwendung der Heimatkunst« diagnostiziert: »Ich sehe neue Werke, die angeblich im Geiste der Heimatkunst entstanden sind. Das berühmte hohe Dach, das Bauernhausdach auf sechsstöckigen Warenhäusern, Fabriken mit Maschinen, Dampf- und Elektrizitätsbetrieb in Form von vergrößerten Rittergütern, andere im Landhausoder Villencharakter, grüne Holzläden an städtischen Mietskasernen, […] – so sinken an sich berechtigte, vom Leben erfüllte altheimatliche Formen zur Dekoration herab, zu einem verkümmerten lästigen Anhängsel, zur theatralischen Stimmungsmacherei, zur geistlosen Schablone.«54 Worte, die eigentlich auch aus dem Munde von Adolf Loos stammen könnten, der zwei Jahre später zum polemischen Angriff auf die »Heimatkunst« bläst: »Diese naitvtuerei, dieses absichtliche zurückschrauben auf einen anderen kulturzustand ist würdelos und lächerlich und daher den alten meistern fremd, die nie würdelos und lächerlich waren.«55 Lux war um 1910 klar geworden, dass seine Mobilisierung für die alte »Bauernkunst« das Gegenteil von dem nach sich gezogen hatte, wofür er eigentlich eingetreten war. Doch auch wenn er schon früher viel deutlicher ausgesprochen hätte, dass die vernakulare Architektur als ideelles und nicht 51 52 53 54 55

Ebda., S. 212. Vgl. dazu auch der Beitrag von Astrid Mahler in diesem Sammelband. Lux, Joseph August: »Die alte Kunst der Heimat« in: Martin Gerlach (Hg.): Volkstümliche Kunst II. Österreich-Ungarn. Wien / Leipzig: Gerlach & Wiedling, o. J. [1911], S. 3–6, S. 3f. Ebda., S. 4. Loos: »Heimatkunst«, S. 336.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

als formales Vorbild für eine zeitgemäße Architektur zu verstehen war, hätte das den Lauf der Dinge nicht beeinflusst. Zum einen, weil Beispielsammlungen in Bildform (unabhängig von der Absicht der Autoren) immer auch einen Fundus darstellen, der formale Entlehnungen in der Baupraxis begünstigt. Zum anderen hatte die Heimatschutzbewegung bereits zu sehr das ländliche Milieu erfasst, als dass die an Einhaltung bestimmter Form- und Materialtraditionen geknüpfte heimatschützerische Ideologie, wie sie in den folgenden Jahrzehnten eine wesentliche Rolle spielen sollte, hätte verhindert werden können. Grundlagen einer zeitgemäßen Agrararchitektur – Carl. A. Romstorfer

Einer der führenden Architekten, die sich mit dem vormodernen ländlichen Bauwesen forschungsmäßig auseinandersetzen und zugleich den Wiener Diskurs um ein zeitgemäßes Bauen auf dem Lande prägten, ist der Gewerbeschulprofessor und Architekt Carl A. Romstorfer. Der 1854 in Niederösterreich geborene Romstorfer hatte die k.k. Technische Hochschule in Wien besucht, nach fünfjähriger Baupraxis kurz die Fachschule in Kašperské Hory (dt. Bergreichenstein, Tschechien), darauf die Staatsgewerbeschulen in Czernowitz (Bukowina) und in Salzburg geleitet. Als hoher Beamter (Regierungsrat und k.k. Conservator) war er Mitglied der k.k. Landwirtschaftlichen Gesellschaft Wien, der Bukowinischen Handels- und Gewerbekammer und verschiedener Kunstvereine, 1895 auch Ausschussmitglied des ein Jahr zuvor gegründeten Vereines für Volkskunde in Wien, arbeitete in dem 1891 von der Wiener Anthropologischen Gesellschaft gegründeten Comité für Bauernhausforschung und war schon früh mit Beiträgen zur Erforschung des Bauernhauses hervorgetreten. Nachdem er durch die Zusammenarbeit mit Arthur Freiherr von Hohenbruck für das landwirtschaftliche Bauwesen in seiner ökonomischen und ästhetischen Dimension sensibilisiert worden war, nutzte er vor allem seine Tätigkeit an der k.k. Staatsgewerbeschule in Czernowitz für zahlreiche Baustudien in der äußersten östlichen Randzone des Vielvölkerstaates.56 Nicht zuletzt aufgrund seiner Studien über das Bauernhaus in der Bukowina (ein Gebiet, das heute Teile der Ukraine und Rumäniens 56

Romstorfer, Carl A.: »Das Bauernhaus in Galizien und der Bukowina – Das Huzulenhaus und rumänische Bauernhäuser«, in: Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 89, 1886; ders.: Das Bauernhaus in der Bukowina. Erläuterungen für Besucher des Bukowinaer GebirgsBauernhauses auf der allgemeinen land- und forstwirtschaftlichen Ausstellung Wien 1890. Czernowitz: Czernowitzer Buchdruckerei-Gesellschaft, 1890; ders.: »Typen der landwirtschaftlichen Bauten im Herzogthume Bukowina«, in: Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 22, 1892, S. 1–40 und S. 103; ders.: Die Wallburg und neue Funde in Hlinitza (Bukovina). Wien: k.k. Staats- und Hofdruckerei, 1895; ders.: Die Kirchenbauten in der Bukowina. Mittheilungen der k.k. Centralkommsion für Kunst- und Historische Denkmale in Wien. Wien: k.k. Staats- und Hofdruckerei, 1894 /96; ders.: Reconstructionen an griechisch-orthodoxen Kirchenbauten in der Bukowina. IX. Jahrbuch des Bukowinaer LandesMuseums 1901. Czernowitz, 1901.

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umfasst;) [abb. 13] gilt er neben dem Oberst Gustav Bancalari, dem Indogermanisten Rudolf Meringer und dem aus Kärnten stammenden Ödenburger Lehrer Johann Reinhard Bünker als einer der Pioniere der frühen Bauernhausforschung.57 Im Gegensatz zum freien Kulturpublizisten Lux ist der Staatsgewerbeschulleiter Romstorfer nicht nur zur dazu verpflichtet, die Baukultur im Umfeld der Gewerbeschulen, für die er verantwortlich ist, zu erforschen und zu dokumentieren, er ist auch (besonders in wirtschaftlich rückständigen Randgebieten) dazu angehalten, für Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft und Fortschritt im landwirtschaftlichen Bauwesen zu sorgen. Damit ist er wesentlich stärker mit der Problematik der konkreten Realisierung einer neuen, zeitgemäßen und funktionalen Agrararchitektur befasst, was sich unter anderem in der Herausgabe von Musterplänen für landwirtschaftliche Bauten dokumentiert.58 Bereits 1878 hatte Hohenbruck die Ausarbeitung und Verbreitung von Musterplänen für verschiedene Gegenden und Besitzverhältnisse angeregt. »Um aber zu Vorschlägen für möglichst zweckmäßige und billige Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu gelangen, muss man vorerst die Anlage und Bauart der bestehenden Anwesen der betreffenden Gegend kennen.«59 Die Erforschung lokaler landwirtschaftlicher Bautypen war also Teil einer seitens des österreichischen Ackerbauministeriums intendierten Erhebung der »physique sociale« (wie es der französische Sozialtechnologe Alfred de Foville in den 1890er Jahren ausdrückte) und war weniger von interesselosem Forschergeist als sozial- und agrarökonomischen Interessen getragen. Um den Anforderungen des landwirtschaftlichen Fortschritts (Einführung von Maschinen, Getreidewelthandel durch Eisenbahnnetz, Übergang von der Weide- zur Stallwirtschaft, Rationalisierung der Fütterung etc.) im Bauwesen nachzukommen, waren Architekten wie Romstorfer angehalten, Musterpläne für eine modernisierte industrialisierte Landwirtschaft zu entwickeln. Dies schloss die Planung von Gebäuden für die Unterbringung von Vieh ebenso ein wie Speicherbauten und Wohnbauten für Landwirte, Verwalter, Gutsbesitzer und deren Arbeiter. Mit seinem umfangreichen, seine jahrzehntelange Tätigkeit zusammenfassenden Werk Der land- und forstwirtschaftliche Bau in Anlage und Ausführung unter Berücksichtigung der örtlichen Bauweise 57 58

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Moser: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«, S. 338f. Romstorfer, Carl A.: Landwirthschaftliches Arbeiterwohnhaus, insbesondere niederösterreichischen Verhältnissen entsprechend. Hg. vom Comité für landwirthschaftliches Bauwesen der k.k. Landwirthschafts-Gesellschaft Wien. Wien: Frick, 1888; ders.: Musterpläne für Rinderstallungen und deren innere Einrichtung. 7 Stallprojekte auf 4 bis 24 Großvieh. Hg. von der Deutschen Sektion d. Landeskulturrates für das Königreich Böhmen. Prag, 1908. Hohenbruck, Arthur Freiherr von / Romstorfer, Carl A.: Pläne landwirthschaftlicher Bauten des Kleingrundbesitzes in Österreich. Hg. vom k.k. Ackerbauministerium. Wien: Faesy & Frick, 1878, S. V.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

hat Romstorfer im Jahr 1915 wohl den für Österreich umfangreichsten Bauratgeber vorgelegt.60 Neben den praktischen Aspekten für eine den Anforderungen modernisierter Landwirtschaft gerecht werdende Agrararchitektur zeichnet Romstorfers zwischen 1900 und 1915 vorgebrachte Stellungnahmen zum ländlichen Bauwesen auch eine Erörterung der damit verbundenen ästhetischen und baukünstlerischen Fragestellungen aus. Die Grundsätze, die er dazu 1915 unter der Überschrift Bauausführung mit Rücksicht auf den Heimatschutz vorbringt, sind jedoch schon vor dem Aufkommen des schlagkräftigen Wortes »Heimatschutz« artikuliert. Romstorfer fordert bereits 1901 in einem kurzen Beitrag die Realisierung spezifischer Anforderungen bei der Errichtung landwirtschaftlicher Gebäude.61 Für ihn muss die ländliche Architektur sparsam und zurückhaltend sein, sie soll aus der Funktion und dem Bedürfnis und nicht dem Wunsch nach architektonischer Repräsentation entwickelt werden. Idealerweise orientieren sich die Bauweise und der Bauschmuck an den ortsüblichen Traditionen und Vorbildern. Alle diese Elemente garantieren für Romstorfer, dass sich die Bauten ins Ortbild und in die Landschaft harmonisch einfügen und als »Produkt des Bodens auf dem sie stehen« dem Prinzip »architektonischer Wahrheit« gerecht werden. Sieben Jahre später beschreibt und analysiert Romstorfer in einem umfangreichen, in Der Architekt erschienenen Beitrag Die bodenständige Architektur die Situation der ländlichen und landwirtschaftlichen Architektur.62 Toposartig und dem Stand des Diskurses entsprechend werden die inzwischen hinlänglich bekannten Charakteristika und Qualitäten der ländlichen Architektur benannt und mit den Fehlentwicklungen des Historismus kontrastiert. Romstorfer sieht die Hauptgefährdung für die ländliche Baukunst und die ländliche Kulturlandschaft in der immer deutlicheren Zunahme städtisch geprägter Architekturen auf dem Land. »Je mehr wir uns größeren Orten und namentlich solchen nähern, welche sich innerhalb der letzten Dezennien rasch entwickelten, […] desto häufiger tritt dagegen die Tatsache in die Erscheinung, daß hauptsächlich durch neuere, vielfach industrielle und öffentliche Bauherstellungen das einheitliche Bild eine mißliebige Störung erfährt.« Die »nicht bodenständigen« Bauwerke, an denen sich »das Schablonenhafte, Gesuchte, ja das Überladene und häufig Protzige« der Stadthäuser zeige, »(beeinträchtigen) das Dorf- und Landschaftsbild.«63 Von diesem

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Romstorfer, Carl A.: Der land- und forstwirtschaftliche Bau in Anlage und Ausführung unter Berücksichtigung der örtlichen Bauweise. Hg. mit Unterstützung des k.k. Ackerbauministeriums. Wien und Leipzig: Deuticke, 1915. Romstorfer, Carl A.: »Das ästhetische Moment beim landwirtschaftlichen Bau«, in: Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 21, 1901. Romstorfer, Carl A.: »Die bodenständige Architektur«, in: Der Architekt XIV, 1908, S. 65–73. Ebda., S. 65.

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negativen Befund ausgehend begibt sich Romstorfer auf die Suche nach den Ursachen der konstatierten Misere und den Möglichkeiten einer grundlegenden Verbesserung der Verhältnisse. Wesentlichen Anteil an der Misere haben für ihn die Architekten, »die sich bisher nur wenig oder zumeist gar nicht um die Bauten auf dem Lande (gekümmert haben).«64 Verschärft würde die Lage durch die Ausbildungssituation, zumal in den Bauschulen bislang »die ländliche Bauweise […] vielfach vernachlässigt [wurde] und namentlich auch für ländliche und landwirtschaftliche Bauausführungen« statt der »altheimischen Vorbilder« im Allgemeinen »die in der Stadt beliebten historischen Stilarten […] empfohlen« wurden.65 Was er wiederum auf die Ausbildung der Lehrer zurückführt, die ebenfalls in der Hauptsache auf das Studium der klassischen und mittelalterlichen Monumentalbauten ausgerichtet war. Inwieweit Romstorfer mit dieser Kritik die Wirklichkeit der Ausbildung trifft, ist nur schwer nachvollziehbar. Zwar sind Anfang des 20. Jahrhunderts Themen wie das landwirtschaftliche Bauen oder die Utilitätsbaukunde schon lange fest in den Lehrplänen der technischen Hochschulen und Baugewerkschulen Österreichs verankert. Die Lehrpläne geben allerdings keine Auskunft über die baukünstlerische Auffassung, die im Unterricht vertreten wurde. Nachdem er als langjähriger Gewerbeschuldirektor mit der Ausbildungssituation vertraut war, dürfte Romstorfers Kritik allerdings fundiert sein. Die Fixierung der Ausbildung auf die kanonischen, historischen Stilmodi und der Anpassungsdruck an städtische Bauformen und Standards, der auf die ländlichen Baupraktiker und Handwerker wirkte, hatte für Romstorfer zur Folge, dass sich die bauliche Praxis auf dem Land immer stärker an den städtischen Vorbildern orientierte. Um dem allerorts laut werdenden Ruf nach einer Verbesserung der Bauweise auf dem Lande nachzukommen, schlägt er mit dem »bautechnischen Wanderunterricht« ein Unterrichtsmodell vor, das es ermöglichen sollte, im spezifischen Kontext die Fragen und Probleme sowie ideale Lösungsansätze zu vermitteln.66 Als besonderen Vorteil betont er, dass mit dieser Form des Unterrichts nicht nur Architekten oder Ingenieure erreicht würden, sondern alle vor Ort am Bau Beteiligten und Interessierten. Es sollten die ländliche Bevölkerung, die Bauern und die ländlichen Bauhandwerker selbst unmittelbar angesprochen und mit den Problemen und Lösungen vertraut gemacht werden. Der bautechnische Wanderunterricht sollte aber auch umfassend in die ländliche Schul- und Lehrpraxis eingebunden werden, da er nach Romstorfers Meinung nach nur so eine nachhaltige Wirkung entfalten konnte.

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Ebda. Ebda., S. 66. Ebda., S. 70f.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

Bereits 1890 hatte Romstorfer in einem Referat auf dem Internationalen land- und forstwirtschaftlichen Kongreß in Wien die Etablierung eines solchen Wanderunterrichts gefordert. Er sollte ergänzt werden durch entsprechende Lehrangebote an den landwirtschaftlichen Lehranstalten in der Provinz. Als Grundlage für die Vermittlung sollten vor allem didaktisch aufbereitete Musterpläne dienen. Wie umfassend die im Wanderunterricht angesprochenen Inhalte waren, macht Romstorfer anhand seines eigenen Unterrichts im Salzburger Land deutlich: »Unter Vorweis eines reichen Illustrationsmaterials, einschlägiger Werke, Musterpläne und für diesen Zweck hergestellter eigener photografischer Aufnahmen von mehr oder weniger mustergültigen älteren, dann guten sowie fehlerhaften neueren landwirtschaftlichen Gebäuden und ländlichen Wohn- und Geschäftshäusern aus dem Salzburgischen, schließlich von älteren und jüngeren Dorfbildern u. dgl. wurde über das Bauwesen, über neuere Materialien und Baukonstruktionen, über die hygienischen Erfordernisse, über Feuchtigkeit […] Feuersicherheit, die Bestimmungen der Bauordnung […] im allgemeinen gesprochen. Im speziellen sodann über die Anlage, dieAusführung und äußere Gestaltung ländlicher Bauten und Wohnhäuser […] sowie die öffentlichen Gebäude des betreffenden Ortes und seiner Umgebung unter stetem Hinweis auf gute, minder gute und schlechte Beispiele.«67 Romstorfers Beitrag wird selbst von einer Vielzahl beispielhafter Abbildungen begleitet, womit er auch deutlich macht, welch hohen didaktischen Stellenwert die Fotografie im Kontext seines Unterrichts inne hat. Positiv wird übrigens registriert, dass der bautechnische Wanderunterricht auf dem Land eine entsprechende Würdigung und Unterstützung durch das Landwirtschaftsministerium und die landwirtschaftlichen Verbände erfährt. Die wichtigste didaktische Grundlage für seinen Wanderunterricht waren Musterpläne und Plankonvolute, auf deren Geschichte und Entwicklung Romstorfer detailliert eingeht. Er selbst war bereits in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Umzeichnen von Planaufnahmen bestehender autochthoner Bauten für die Plansammlung von Arthur Freiherr von Hohenbrucks betraut und an deren Veröffentlichung beteiligt.68 Die Erkenntnis, dass das landwirtschaftliche Bauwesen in technischer wie ökonomischer Hinsicht zurückgeblieben war, hatte Hohenbruck dazu bewogen, über die Erhebung typischer landwirtschaftlicher Objekte hinaus auch für die Herausgabe von Musterplänen für landwirtschaftliche Neu- und Umbauten ein67 68

Ebda. Die in 100 Exemplaren aufgelegte Sammlung wurde sogar in einem handkolorierten Exemplar 1878 zur Weltausstellung nach Paris geschickt. Hohenbruck / Romstorfer: »Pläne landwirthschaftlicher Bauten«, S. VI; vgl. auch Moser: »Hundert Jahre Hausforschung in Österreich«, S. 332f.

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zutreten. Für die Erarbeitung der Musterpläne galt, dass sie sich »enge an die vorhandenen, althergebrachten Bautypen der einzelnen Gegenden anlehnen« und tunlichst (nicht zuletzt durch Wandervorträge) Verbreitung finden sollten. Romstorfer betont, dass man bei Projektierung der Musterpläne, die in den 1880er und 1890er Jahren mit Unterstützung des Ackerbauministeriums publiziert wurden (nach Romstorfers Auskunft circa 30 Stück), »der ökonomischen und zweckmäßigen Herstellung der Bauten, nicht minder aber auch ihrer entsprechenden äußeren Erscheinung tunlichst Rechnung trug.«69 Was die Ästhetik betrifft, »wurde jede Willkür der Projektanten, insbesondere auch alles Schablonenmäßige zu vermeiden getrachtet« und die »Anlehnung an das Äußere bestehender typischer Bauwerke der betreffenden Gegend gesucht.«70 Die Praxis historisch-enzyklopädisch orientierter Hausforschung war für im staatlichen Ausbildungs- und Ausstellungssystem verankerte Architekten also sehr eng mit der Entwicklung einer zeitgemäßen Agrararchitektur verzahnt. Während Lux mehr oder weniger abstrakt für den Rückbezug auf alte ländliche Bautraditionen in der bürgerlichen Architektur plädiert, ist Romstorfer sehr unmittelbar mit neuen Bauaufgaben in der Landwirtschaft konfrontiert. Er entwirft Rinderstallungen kleineren und größeren Typs [abb. 6, 15], Gutshöfe mit villenartigen Wohngebäuden [abb. 7], aber auch landwirtschaftliche Arbeiterwohnhäuser [abb. 14] und Wirtschaftsgebäude zur Unterbringung von neuem Maschinen-Gerät. Dabei ist der Blick auf das historische Erbe für ihn nicht nur hinsichtlich der Etablierung einer ästhetischen Haltung von Bedeutung, die zweckmäßige und ökonomische Herstellung betont, er bezieht auch sehr konkret funktionale, typologische und konstruktive Aspekte in seine Überlegungen mit ein. Zwar geht er davon aus, dass bei der Projektierung landwirtschaftlicher Bauten, die nun (nicht zuletzt durch die Regelung von Bauvorlage und Bauvorlageberechtigung innerhalb der Bauordnung) zu einer »Sache von Baufachleuten (Architekten)«71 geworden ist, die Kenntnis lokaler Bautraditionen unabdingbar ist. Doch macht er auch deutlich, dass sehr wohl auf die bautechnischen und hygienischen Errungenschaften der Gegenwart, auf neue Konstruktionen und Materialien zurückzugreifen ist. Er bezieht sich dabei sogar auf einen am 25. August 1907 an die baugewerblichen Unterrichtsanstalten ergangenen Erlass des k.k. Ministeriums für öffentliche Arbeiten, aus dem hervorgeht, »dass nicht die einfache Nachahmung von traditionellen Bauformen und Anlagedispositionen, sondern die Weiterentwicklung der überkommenen Bauweise unter steter Bedachtnahme auf neuere Konstruktionen und Mate69 70 71

Romstorfer: »Die bodenständige Architektur«, S. 67. Ebda. Romstorfer: »Der land- und forstwirtschaftliche Bau«, S. 66.

Das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs

rialien, hygienische Anforderungen und Lebensverhältnisse als das erstrebenswerte Ziel erscheint und daß weiter jeder Entwurf auf die bauliche, beziehungsweise landschaftliche Umgebung, in die er sich harmonisch einfügen soll, Bedacht zu nehmen ist.«72 Was das Kopieren von alten Bauformen betrifft, nimmt Romstorfer eine mit Lux vergleichbare Position ein. Entschieden lehnt er ab, dass neue Konstruktionen und Materialien »zu dem Zwecke wieder verhüllt werden, um ortsübliche Bauarten, Konstruktionen oder Materialien vorzutäuschen.«73 Statt der direkten Nachahmung historischer und ortstypischer Vorbilder verlangt er, dass »das Schaffen des Projektanten ein selbsttätig künstlerisches, schlicht und natürlich empfindendes, im großen und ganzen freies, die leitenden Grundsätze für die allmähliche naive Entwicklung dieser Bauten« Erkennendes bleiben müsse. Dies »unter steter Anlehnung an die jeweiligen örtlichen und bauökonomischen Bedürfnisse und Verhältnisse, an Brauch und Sitte.«74 Romstorfers Text von 1908 stellt bezüglich der Frage der konkreten Realisierung einer angemessenen und zeitgemäßen, dem Fortschritt verpflichteten bäuerlichen und ländlichen Architektur in Österreich den komplexesten und differenziertesten Beitrag dar. Zwar finden sich in den Architekturzeitschriften seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder musterhafte Beispiele und Erörterungen zur Frage landwirtschaftlicher Bauaufgaben. Aber es bleibt Romstorfer vorbehalten, die enge Verflechtung der mit dem Thema zusammenhängenden Faktoren wie zum Beispiel baugewerkliche und architektonische Ausbildung, historisch orientierte Forschung und Etablierung einer zeitgemäßen, modernen Ästhetik für die ländliche Architektur im Zusammenhang und in ihrer Wechselwirkung hinzuweisen. Inwieweit allerdings Romstorfers Ansätze und Bemühungen tatsächlich in der Baupraxis beachtet wurden und ob sie zu einer Verbesserung der kritisierten Situation führen konnten, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Schlussbemerkung

Im komplexen Geflecht der späthistoristischen und frühmodernen Debatten um eine zeitgemäße bürgerliche Architektur spielte das Bauernhaus eine nicht unwichtige Rolle. Die Grundlage seiner ästhetischen Deutung und Nutzbarmachung bildete die positivistische frühwissenschaftliche Hausforschung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie hatte aus einer architektonischen Marginalie einen ernstzunehmenden Gegenstand gemacht – nicht nur für an einer (Kultur)Geschichte des ländlichen Bauens interessierte Gelehrte, son72 73 74

Ebda. Ebda., S. 65. Romstorfer: »Die bodenständige Architektur«, S. 72.

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dern auch für Architekten und deren Kommentatoren. Als Protagonist und Propagandist einer an Bauernhaus und Architektur »um 1800« anknüpfenden modernen Architekturkonzeption trat in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende der Wiener Kulturpublizist Joseph August Lux hervor. Sein emphatisches Bemühen, vernakulare Bauweisen als Vorbild für zeitgenössische Architekturproduktion und damit eine an Tradition orientierte Alternative zum Historismus zu etablieren, wurde allerdings schon in den Jahren 1907 / 08 erheblich gedämpft, als für ihn deutlich wurde, dass das »Stilcopieren« heimischer Bauweisen und der nationalistische Grundton überhandnahm. Was blieb, war der Versuch, die Erkenntnisse der Bauernhausforschung und die Position der ästhetisch-kulturkritischen Debatten in eine zeitgemäße Agrararchitektur und ländliche Baukultur zu überführen. Diesen an den praktischen Anforderungen des ländlichen Raumes orientierten Ansatz vertrat in Wien vor allem der Architekt und Fachlehrer Carl A. Romstorfer. Doch letztendlich war die Frage, ob man über die Hinwendung zu Authentizität und organischer Funktionalität der bäuerlichen Architektur eine evolutionäre Reform der verfahrenen architektonischen Situation des Historismus erreichen könnte, nach 1918 obsolet geworden. Radikale Konzepte und Positionen standen sich gegenüber und die Heimatschutzbewegung selbst wurde zunehmend als Hort nationaler und völkisch motivierter Interessen gegen die Moderne in Stellung gebracht. Die Frage nach einer gesellschaftlich und künstlerisch wirksamen Synthese von »Tradition« und »Moderne«, wie sie vor 1914 in einem spezifischen bürgerlich-kulturellen Milieu bei einigen wenigen Autoren Bedeutung erlangen konnte, hatte ihre Relevanz verloren.

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Hohenbruck / Romstorfer: Pläne landwirthschaftlicher Bauten des Kleingrundbesitzes in Österreich. Wien 1878, Innentitel Bauerhaus aus dem Lessachthale (Kärnten), gezeichnet von Romstorfer (aus: Hohenbruck / Romstorfer: Pläne landwirthschaftlicher Bauten des Kleingrundbesitzes in Österreich, Wien 1878, Tafel Nr. 10) Bauerhaus zu Horodenka (Ost-Galizien), gezeichnet von Romstorfer (aus: Hohenbruck / Romstorfer: Pläne landwirthschaftlicher Bauten des Kleingrundbesitzes in Österreich, Wien 1878, Tafel Nr. 38, Ausschnitt)

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Entwurf einer Villa auf Capri von Wunibald Deininger (aus: Lux: Das moderne Landhaus, Wien 1903, S. 74) 5 Vernakulare Architektur auf Capri (aus: Lux: Das moderne Landhaus, Wien 1903, S. 78) 6 Romstorfer: Gehöft für August Klein Ritter von Ehrenwalten in Seeburg bei Waidhofen an der Ybbs (aus: Romstorfer: Der land- und forstwirtschaftliche Bau, Wien / Leipzig 1915, S. 345) 4

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Romstorfer: Rinderstall für 244 Stück Mastvieh in Burakówka / Bukowina (aus: Romstorfer: Der land- und forstwirtschaftliche Bau, Wien / Leipzig 1915, S. 244) 8 Lux, Joseph A.: Beispiel und Gegenbeispiel – Altes und Neues in der Wiener Vorstadt am Fuße des Kahlenbergs (aus: Hohe Warte, 1905–6, S.222) 9 Ebd. 7

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10 Wohnhaus vom Architekten Leopold Bauer (aus: Lux: Das moderne Landhaus, Wien 1903, S. 10) 11 »Beim Brugger in Klausen« (aus: Der Architekt IX, 1903) 12 Gasthaus in Himmelreich bei Salzburg, Reiseskizzen von G. Steinlein

(aus: Hohe Warte, 1906/07, S. 207)

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15 13 Strohgedecktes Bauernhaus aus Kissileu an der bukowinisch-galizischen Grenze

(aus: Romstorfer: Der land- und forstwirtschaftliche Bau, Wien / Leipzig 1915, S. 32) 14 Entwurf eines zweigeschossigen Einfamilienhauses für die »rauhen Alpenländer«;

aufgrund der Blockbau-Ausführung »im Einklang mit der örtlichen Bauweise« (aus: Romstorfer: Der land- und forstwirtschaftliche Bau, Wien / Leipzig 1915, S. 386) 15 Entwurf Rinderstall für 12 Stück Vieh (aus: Der land- und forstwirtschaftliche Bau, S. 217)

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Die ›disziplinierte Folklore‹ Josef Hoffmann und die Villa für Otto Primavesi in Winkelsdorf

»Das Wort Heimat hat einen schönen Klang« schrieb Adolf Loos in seinem Essay Heimatkunst 1914.1 Bereits 1899 hatte Hermann Bahr, der literarische Apologet der Wiener Secession, in Befürwortung einer Äußerung Peter Roseggers, das geistige Durchschnittsleben großer Städte stehe auf einer niedrigeren Stufe, als das kleinerer Kulturzentren der Provinz, denn »vom armen Großstädter könne man gar nicht verlangen, dass er sich sammle, vertiefe und große Werke schaffe«, einen Beitrag unter dem Titel Die Entdeckung der Provinz veröffentlicht, den er mit den folgenden Worten abschloss: »Es ist unser fester Glaube, dass wir den Zirkel der paar Literaten verlassen und ins weite Land zum Volke gehen müssen, wenn sich der große Traum einer neuen österreichischen Kunst erfüllen soll.«2 Zwei Hinweise, zwei Zitate, die sich einer bisher wenig beachteten Inspirationsquelle der Österreichischen respektive der Wiener Moderne auf sehr unterschiedliche Weise nähern: der Volkskunst. Der Rekurs auf die Folklore stellt in der Österreichischen Moderne einen Topos dar, der als Reaktion auf die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer andauernden Wiederaufnahme historischer Stile an ihrem Beginn einerseits und auf das Gefühl des Ungenügens einer nur internationalen Kunst, die ihre autochthonen Wurzeln nicht beachtet, andererseits gelesen werden kann. Für die kritische Auseinandersetzung mit beidem können die anfangs zitierten Essays stehen. Im Jahr als Adolf Loos seine Gedanken zur »Heimatkunst« formulierte, stellte sein Hauptkontrahent Josef Hoffmann in der Diskussion um die Frage, wie und ob die Form geschmückt werden dürfe, kurz der für Archi1 2

Loos, Adolf: »Heimatkunst« (1914), in: ders.: Trotzdem 1900–1930. Faksimile der Erstausgabe von 1931. Wien: Prachner, 1982, S. 122–130, S. 122. Bahr, Herrmann: »Die Entdeckung der Provinz«, in: Wunberg, Gotthart (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam, 1981, S. 206.

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tektur und angewandte Kunst grundlegenden Frage nach dem Ornament, einen außergewöhnlichen Bau zu Füßen des mährischen Altvatergebirges fertig. Das Landhaus in Winkelsdorf bei Mährisch-Schönberg, wie es in einem zeitgenössischen Artikel in Deutsche Kunst und Dekoration vorgestellt wird, schuf Hoffmann als Gesamtkunstwerk.3 [abb. 1] Es stellt den folkloristischen Gegenentwurf zum kurz zuvor fertiggestellten, am mondänen Flächenstil orientierten Palais für Adolphe Stoclet in Brüssel und dem im selben Jahr in einem expressiven Neoklassizismus errichteten »Österreichischen Haus« der Werkbundausstellung in Köln 1914 dar. [abb. 2, 3] Wäre das Gebäude nicht bereits 1922 ein Raub der Flammen geworden, besäßen wir in ihm ein Musterbeispiel für die ornamentale Rezeption der Volkskunst in der Österreichischen Moderne. So aber sind wir auf zeitgenössische Entwürfe Josef Hoffmanns, Fotografien und Äußerungen der Kritiker aus der Entstehungszeit angewiesen. Die dichte Gemengelage der Einflüsse auf Josef Hoffmanns Werk, die in der Errichtung der Villa Primavesi kulminieren, lässt sich jedoch auch anhand dieser sekundären Quellen deutlich machen. Im Folgenden soll die Rolle dieses »Musterbaues« für eine Ornamentschöpfung aus der Volkskunst in der Österreichischen Moderne analysiert werden. Voraussetzungen der Errichtung

1906 fand im k.k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien eine Ausstellung zur Österreichischen Hausindustrie und Volkskunst statt, die erstmals »den überreichen Born künstlerischer Anregungen, den Hausindustrie und Volkskunst der Länder Österreichs uns bieten, weiteren Kreisen erschließen, noch Vorhandenes Traditionelles auf diesem Gebiete festzustellen und erhalten zu helfen, vielleicht auch zu neuer Blüte zu bringen« sich vorgenommen hatte, wie es Arthur von Scala, der damalige Direktor in der Einleitung des Kataloges formulierte.4 [abb. 4] Die Ausstellung war eine »Parallelaktion« mit dem Museum für Volkskunde, ihrem Direktor Michael Haberlandt und der Kunstgewerbeschule mit den ihr affiliierten Fachschulen in den Provinzen und bezog, gefördert durch finanzielle Zuwendung des Oberstkämmereramtes, volkskundliche Regionalsammlungen in den Versuch ein, eine umfassende Darstellung alles in den Provinzen der Monarchie noch Vorhandenen auf den Gebieten der Hausindustrie und Volkskunst zu geben. Die theoretischen Grundlagen für eine derartige Ausstellung hatten die Arbeiten Alois Riegls am Museum für Kunst und Industrie, sein Aufsatz Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie von 1894 und 3 4

Zuckerkandl, Berta: »Ein Landhaus in Winkelsdorf bei Mährisch-Schönberg. Erbaut von Josef Hoffmann – Wien«, in: Deutsche Kunst und Dekoration XIX /6, 1916, S. 198–211. Scala, Arthur von: Einleitung, in: Ausstellung Österreichischer Hausindustrie und Volkskunst. Nov. 1905–Feb. 1906. K.k. österreichisches Museum für Kunst und Industrie. Wien: Reisser’s Söhne, 1906.

Die ›disziplinierte Folklore‹

die Etablierung der Volkskunde durch die Gründung des Museums für Volkskunde 1896 und die Berufung Michael Haberlandts auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Volkskunde gelegt.5 Das Museum für Kunst und Industrie hatte bereits 1873 eine große Sammlung slawonischer Stickereien (1.000 Stück) erworben (Felix Lay) und setzte ab diesem Zeitpunkt seine intensive Beschäftigung mit der Volkskunst fort. So bereiste Alois Riegl während seiner Tätigkeit am Museum mehrmals Galizien und die Bukowina. Mit der Ausstellung öffnete das Museum ein großes Feld an Inspiration für die zeitgenössische (städtische) Avantgardekunst in Wien, indem im Museum alles von Stickerei bis zu Keramik, Schnitzarbeiten und Möbeln von Bosnien-Herzegowina, der dalmatinischen und istrischen Küste bis zur Bukowina und von Vorarlberg bis Galizien zusammengeführt wurden. Das Museum reagierte damit jedoch nur auf eine Tendenz, die zu diesem Zeitpunkt im Kreis der Künstler, die in der Vereinigung bildender Künstler Österreichs – Secession zusammengefunden hatten, bereits verankert war: Die Auseinandersetzung mit der Volkskunst, die als Quelle der Motivfindung und ornamentalen Inspiration diente. Wie allgemein in der Europäischen Moderne rekurierte man auch in Wien auf das sogenannte »Primitive«: Gustav Klimt und Emilie Flöge sammelten volkstümliche Textilien genau so wie indische Stoffe und japanische Farbholzschnitte, Egon Schiele geschnitztes Holzspielzeug aus der böhmischen Heimat seiner Mutter und auch Josef Hoffmann unterstützte tatkräftig die Herausgabe von Bildbänden zur Volkstümlichen Kunst durch Martin Gerlach und inspirierte sich offensichtlich an der mährischen und slowakischen Volkskunst, wie eine in seinem Geburtshaus in Brtnice bewahrte Sammlung von Textilien belegen kann. [abb. 6] Neben der Kunst Afrikas, Ozeaniens und Asiens sowie der Wiederaufnahme der handwerklichen Traditionen des frühen 19. Jahrhunderts im Sinne der englischen Reformkunst wurde die Volkskunst zum »ästhetisch geladenen Konstrukt«, wie es Reinhard Johler genannt hat.6 Dass das Bewusstsein für diese Inspirationsquelle der zeitgenössischen Ornamentik gegeben war, beweisen die Besprechung der Volkskunstausstellung durch Ludwig Hevesi 5

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Riegl, Alois: Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie. Nachdruck der Ausgabe 1894. Berlin: Mäander Verlag, 1978; Haberlandt, Michael: Cultur im Alltag. Gesammelte Aufsätze. Wien: Wiener Verlag, 1900; Vasold, Georg: Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Gelehrten. Freiburg im Breisgau: Rombach, 2004. Fischer, Wolfgang Georg: Gustav Klimt und Emilie Flöge. Genie und Talent, Freundschaft und Besessenheit. Wien: Brandstätter, 1987; Egger, Hanna: »Josef Hoffmann und das Ornament. Eine Detailstudie über die folkloristischen Grundlagen«, in: Denk, Wolfgang (Hg.): Josef Hoffmann und neues internationales Möbeldesign aus Österreich. Ausstellungskatalog, ˇ eské Muzeum Výtvarných Umení, Prag 1998, S. 27–35; Johler, Reinhard: »Die Kunst, C das Volk und seine Kultur. Miszellen zur rezenten Volkskunst-Debatte in Österreich«, in: Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard (Hg.): Volkskunst. Österreichische Volkskundetagung 1995 in Wien. Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 1997, S. 331–364.

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im Wiener Fremdenblatt 1906 und das Sonderheft von The Studio »Peasant Art in Austria and Hungary« von 1911.7 Hevesi nennt in seiner Besprechung die »nationalen Volkskünste Dialekte der Gebildetenkunst«, die er als Ausdruck nationalen Kunstsinns schwinden sieht, verdrängt durch vorjährige Moden und von den Herrschaften abgelegte Allerweltsformen »Das Land werde städtisch, von den Fachschulen vorgegebene neue Schablonen ersetzten nur die alten, anstatt das Selbstschaffen zu wecken und Ventile zu öffnen für das Ausströmen des natürlichen Schaffenstriebes«, so Hevesi.8 Gleichzeitig preist er den »unausschöpfbaren Jungbrunnen von Farbigkeit in den Seelengründen der slawischen Stämme« und weist auf die Exporterfolge der Fachschulen für Spitzenklöppeln in Wien, Idria (im Isonzogebiet) und dem Erzgebirge hin, die angetreten waren, um lokales Kunsthandwerk zu fördern. Interessanterweise sieht Hevesi in diesem Zusammenhang auch die seit 1903 bestehende Wiener Werkstätte, die von »Pariser Sendlingen« besucht werde, um nach Stoffen von Moser und Hoffmann zu fahnden.9 Michael Haberlandt, Pionier der österreichischen Volkskunde, steuerte einen ausführlichen Artikel zum Sonderheft des Studio von 1911 über Peasant Art in Austria and Hungary bei, der im Hinblick auf die Betonung der Ornamentik aufschlussreich ist: Haberlandt hebt besonders im Zusammenhang mit der Stickerei und Webkunst Böhmens, Mährens, der Slowakei und Schlesiens deren Reichtum an ornamentalen Bildungen hervor: »Apart from material and technique, which everywhere reveal a long-established, indigenious character, the distinguishing feature of this branch of peasant art of Austria centers in its ornament.«10 Dabei scheidet er klar die Rezeption ornamentaler Motive in der Volkskunst: bei den slawischen Völkern eine direkte Anbindung an die Ornamentik der Antike, bei den Deutschen, Westslaven und Italienern eine modifizierende, oft verfälschende Übernahme höfischer und städtischer Ornamentmotive des 15.–18. Jahrhunderts, vermittelt durch Klosterschulen und lokale Adelsgeschlechter, die auch technisch nicht entsprechend umgesetzt werden konnten, was aber wiederum als Qualität der Volkskunst angesehen würde.11 Haberlandt begründet so das besondere Interesse an der slawischen Volkskunst in der Vermutung einer direkten Übernahme antiker Motive und dadurch mögliche Rückschlüsse auf den Ursprung. Und liefert so eine Erklä7

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Hevesi, Ludwig: »Volkskunst«, in: Wiener Fremdenblatt vom 18. Februar 1906; Wiederabdruck in: Hevesi, Ludwig: Altkunst – Neukunst. Wien 1894–1908. Wien: Verlagsbuchhandlung Karl Konegen, 1909, S. 400ff.; Peasant Art in Austria and Hungary. Sonderheft von The Studio, hg. von Charles Holme, London, 1911. Hevesi: Altkunst – Neukunst, S. 400f. Ebda., S. 401. Haberlandt, Michael: »Austrian Peasant Art«, in: Peasant Art in Austria and Hungary, S. 15–18. Ebda.

Die ›disziplinierte Folklore‹

rung für die besonderen Anstrengungen in wissenschaftlicher und sammlungstechnischer Hinsicht zur Dokumentation dieser Ausprägung der Volkskunst seitens der Museen und der Volkskunde und Kunstwissenschaft in der k.k. Monarchie. Markstein der neuerkannten Heimbaukunst – von farbenprangendem Ornamentschmuck überschüttetes Heim

Josef Hoffmann muss, seit 1899 Professor für Architektur an der dem Museum bis 1909 direkt verbundenen Kunstgewerbeschule, mit all diesen der Volkskunst gewidmeten Aktivitäten bestens vertraut gewesen sein und sie haben ihren Niederschlag sowohl in seinem Werk wie seiner Lehre gefunden. Eine Linie der Inspiration an der Tradition und der Volkskunst zieht sich durch Josef Hoffmanns Schaffen: Sie wird spürbar an frühen Entwürfen wie dem »für ein Mährisches Landhaus (1900)« [abb. 7] und realisierten Bauten wie den für die Familie Wittgenstein errichteten Landhäusern Bergerhöhe bei Hohenberg (1899) und Hochreith (1906/07) in Niederösterreich, dem Eingangspavillon der Kunstschau 1908 – mit Walmdach – sowie dem Landhaus ebendort, das Josef Hoffmann als Demonstrationsbau für die Bugholzmöbelfirma j. & j. Kohn entwarf, dem Landhaus Böhler in Baden (1909 /10), der Villa für Dr. Hugo Koller in Oberwaltersdorf (1912–1914) und prägnant am Landhaus Primavesi in Winkelsdorf (1913–14) und dem Haus für Sigmund Berl in Freudenthal (1919–21): Es sind dies Architekturen, die Merkmale englischen Landhausbaus mit österreichischen Elementen biedermeierlichen Villenbaus verbinden, oder Gebäude mit an volkstümliche Formen erinnernden Fassadendekorationen.12 Den Auftrag für die Errichtung der Villa Primavesi erhielt Josef Hoffmann von Otto Primavesi (1868–1926), Olmützer Großindustrieller und Bankier und seiner Frau »Mäda« Eugenie. [abb. 8] Beide wurden zu entscheidenden Persönlichkeiten für die geschäftliche Entwicklung der Wiener Werkstätte ab 1914 bis 1930. Der Kontakt Hoffmanns zu den Primavesi war durch gezielte Vermittlungsarbeit zustande gekommen, bedingt durch finanzielle Schwierigkeiten der ww: zu Otto über den Bildhauer Anton Hanak (befreundet mit Hoffmann seit der Internationalen Kunstausstellung in Rom, 1911) und zu Mäda über Gustav Klimt, der ihr Portrait 1903 gemalt hatte. Ab 1914 waren die Primavesi Gesellschafter der ww und übernahmen nach dem erzwungenen Abgang Fritz Wärndorfers den finanziellen Hauptanteil. 1914 richtete Josef Hoffmann zwei Zimmer in der Olmützer Villa der Familie Primavesi ein und baute das Bankhaus Primavesi in Olmütz im selben Jahr

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Sekler nennt es »Inspiration am Bodenständigen und der Höhepunkt der klassizistischen Phase«. Sekler, Eduard: Josef Hoffmann. Das architektonische Werk. Salzburg: Residenz, 1982, S. 121ff.

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um. 1913 begann man auch nach Josef Hoffmanns Entwurf mit der Errichtung der Villa Skywa-Primavesi in Wien für Robert Primavesi (1854–1926), Cousin und Schwager von Otto, Mitglied des Abgeordnetenhauses, Großgrundbesitzer und Großindustrieller und seine Lebensgefährtin Josefine Skywa. [abb. 9] Etwa gleichzeitig mit dem Auftrag der Villa für Robert Primavesi in Wien-Hietzing übernimmt Josef Hoffmann auch die Kommission zur Errichtung eines repräsentativen Landhauses für dessen Schwager Otto.13 Zeitgenössische Beschreibungen, Entwürfe Josef Hoffmanns und seiner Mitarbeiter in der Wiener Werkstätte sowie von Studenten an der Kunstgewerbeschule, Fotografien und Äußerungen der Kritiker aus der Entstehungszeit belegen, dass dem Bau eine »Leitfunktion« im Hinblick auf die ästhetische Ausrichtung der Wiener Werkstätte eingeräumt wurde. In Winkelsdorf, 75 km nördlich von Olmütz gelegen, hatte Otto Primavesi ein großes Grundstück auf einem Südosthang am Ende des vom Tess (Desná)-Flusses gebildeten Tales im Altvater-Gebirge erworben. Auf dessen höchstgelegener Stelle wurde eine Villa für die neuen Besitzer geplant. Josef Hoffmann lieferte zwei Entwürfe für das auf die Bedürfnisse der vielköpfigen Familie Primavesi und ihrer großen Zahl an Bedienten zugeschnittene Landhaus, die Zitate bereits realisierter Bauten enthalten: Im ersten Entwurf – publiziert in Der Architekt xx, 1914 – mit drei Giebeln zum Südosthang und dominierendem zentralem Aussichtstürmchen finden sich im rektogonalen Grundriß und dem gläsernen Verbindungsgang zum »Lusthaus« Ideen, die Hoffmann im Bau des Sanatorium Westend schon 1903 und dem Haus Böhler in Kapfenberg (1909) realisiert hatte.14 Die Dachformen finden sich ähnlich schon an den um 1900 errichteten Villen auf der Hohen Warte, wo Hoffmann an der Villa Ast die Verwendung des Hausteinsockels für eine repräsentative Villa erprobt hatte. Neu sind im ersten Entwurf allerdings das vollkommene »Aufbrechen« der Hauptfassade durch eine kolossale Säulenordnung von 14 Stützen und der Plan, bei der Konstruktion des Gebäudes der slawischen Tradition des Ständerbaus mit Ausfachung durch vertikale Planken zu folgen. [abb. 10] Bei dem dann ausgeführten zweiten Entwurf für das Gebäude handelt es sich um eine im neopalladianischen Stil errichtete »Villa Rustica« im Stil der lokalen Blockbauten mit vertikal gelegten Holzbalken, [abb. 13] Holzsäulenportikus mit acht Eichenholzsäulen und einem auskragenden Strohwalmdach auf einem mächtigen Sockel aus Bruchsteinmauerwerk. [abb. 1,11,12] Materialbrüche und folkoristische Zitate prägen das Haus innen und außen: bunte Schnitzereien an Wänden und Türen, bemalte Möbel, handbedruckte Leinen- und Seidenstoffe für Bettwäsche, Vorhänge sowie

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Sekler: Josef Hoffmann, S. 127ff; Klein-Primavesi, Claudia: Die Familie Primavesi und die Künstler Hanak, Hoffmann, Klimt. Wien: Eigenverlag, 2004. Der Architekt XX, 1914 /15, Tafelnr. 80; Sekler: Josef Hoffmann, WV 179, S. 360–362.

Die ›disziplinierte Folklore‹

Teppiche nach Mustern der Wiener Werkstätte. Keramik von Anton Hanak und die Gesamtgestaltung, die Künstler der Wiener Werkstätte im ländlichen Stil nach Vorgaben Josef Hoffmanns entwarfen, vom Besteck bis zum Bettzeug. Für Gäste entwarf Hoffmann sogar eigens Talare aus handbedruckter Seide. Das Ganze jedoch in einem streng proportionierten Baukörper, der in seinen Symmetrien der Räume und seinem in die Fassade integrierten Portikus an Andrea Palladios Villen und Paläste in und um Vicenza denken lässt. Wertet man den Bau nach ornamentalen Gesichtspunkten im Gesamten, muss man konstatieren, dass ein System der Dekoration das Gebäude von der Kegelbahn und der Kellerstube bis zu den Gästezimmern im Dach überzieht: Im Sinne des Vitruv’schen Decorum-Gedankens werden, entsprechend der Aufgabe der Räume, angemessene Gestaltungen entwickelt. Bei dieser Art der Betrachtung wird klar, dass es sich beim Landhaus Primavesi nicht um eine gedankenlose Rezeption willkürlich gesammelter folkloristischer Motive, sondern um den Versuch einer Gesamtgestaltung handelt, der die Synthese zwischen Folkloremotiv und urbanem Dekor gewissermaßen im Korsett des Neoklassizismus sucht. Eine Art ›disziplinierte Folklore‹

Zu den ersten Gästen des Hauses zählte, wie von Eugenia Primavesi erstellte Listen zeigen, Berta Zuckerkandl, Tochter des Wiener »Zeitungszaren« Moritz Szeps und Kunstjournalistin, die in ihrem Salon die literarische und künstlerische Moderne Österreichs zusammenführte. Zuckerkandl hatte seit 1903 Josef Hoffmanns Karriere mit Artikeln in Alexander Kochs Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration begleitet. Ihr und dem Kunsthistoriker Max Eisler, aus Mähren gebürtig wie Hoffmann und 1914 Gründungsmitglied des von Josef Hoffmann initiierten Österreichischen Werkbundes, verdanken wir die ersten, kurz nach der Fertigstellung erschienenen Würdigungen des Gebäudes und quasi programmatische Beschreibungen des mährischen Landhauses mit Fotodokumentationen.15 »Es ist keineswegs zu viel gesagt, wenn man das am Fuße des Altvaters gelegene Landhaus in Winkelsdorf als Markstein in der künstlerischen Entwicklung der Heimbaukunst bezeichnet«, beginnt Zuckerkandl mit Ihrer Eloge. »Denn hier ist künstlerisch gelungen, was in dem langjährigen Kampf des Heimatschutzes, der um Bewahrung eines aus jeder Rassen- und Landschaftsart kristallisierten Typus geht, bisher vielfach nur theoretisches Wissen blieb.« Zuckerkandl war über die Initiativen der Österreichischen Volkskunde und der Heimatschutzbewegung nicht nur aus eigener Anschauung gut informiert, war doch ihr Ehemann Emil Gründungsmitglied des Vereins 15

Zuckerkandl: »Ein Landhaus in Winkelsdorf«; Eisler, Max: »Josef Hoffmann«, in: Dekorative Kunst XVIII, 1915, S. 233–241.

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für Österreichische Volkskunde und wie ihr Vater Moritz Szeps maßgeblich am Zustandekommen der von Kronprinz Rudolf initiierten Prachtpublikation Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild beteiligt, dem aufwendigen Versuch, »die österreichische Landschaft zur patriotischen Bühne und zum Medium der Vaterlandsliebe zu transformieren«.16 »Aus dem Geist und aus dem Material der Scholle mit innigster Liebe alte unzerstörbare volkstümliche Schönheitswerte aufnehmend, hat Hoffmann ein noch niemals Gesagtes gefügt, hat seines Schöpfertums Marke alt-heimischer Bauweise als neues Reisig aufgepfropft. Hier ist wirklich Altes und Neues in jene vollkommene Harmonie aufgefangen, die dartut, dass echte Kunst – und echte Kunst, läge auch ein Abgrund von Jahrhunderten dazwischen immer zur Einheit zusammenwächst.«17 Hoffmanns Bau wird sodann als sensible Suche des Künstlerarchitekten nach der Landschaft entsprechenden Formen und Farben geschildert, bis zum Dach »aus imprägniertem Strohmaterial«, das einzig und allein den »Akzent von Traulichkeit und Naturharmonie gegeben habe, den der Künstler suchte.«18 »Den Dreiklang von Holzbau, Schnitzwerk und bemalter Holzzier kündet so in monumentaler Art die Fassade des Landsitzes um nun nach innen weiterströmend einen fabelhaften Reichtum neuartiger Schmuckanwendung zu entwickeln. Die stramme Einheitlichkeit eines von dem Unterbau bis zum obersten Stockwerk durchgehenden Rhythmus der Bauanlage lenkt die phantasievolle Schmuckung des Hauses in Bahnen der Ruhe und Sachlichkeit.«19 Im gesamten Oberstock ab dem Hochparterre fänden sich »[…] aufgesetzte kreis-, rhomben-, stab- oder knopfförmige Holzschnitzereien […]. Sie sind das belebende, pittoreske und dem Charakter eines Holzbaues innigst verwandte Zierelement. […] Wie differenziert jeder Raumzuschnitt, jede Farbenstimmung jede Möbelform als exaktester Ausdruck der Bestimmung wirkt und zu welcher absoluten Einheit dennoch die einzelnen so individuell ausgestalteten Räume verschmelzen, ja sich zum vollkommensten Zeichen eines Typus erheben – das ist nur hoher Kunst gegeben. Nur durch das intuitive Durchfühlen idealster Proportionsmaße – diesen vielleicht absolutesten Wert des Hoffmann-Stiles – ist auch hier in dem phan16

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Zintzen, Christiane: »Das Kronprinzenwerk Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Ein deliberater Rund- und Umgang mit einem enzyklopädischen Textkosmos«, in: Amann, Klaus (Hg.): Literarisches Leben in Österreich 1848–1890. Wien u. a.: Böhlau, 2000, S. 843ff. Zuckerkandl: »Ein Landhaus in Winkelsdorf«, S. 199. Ebda., S. 200. Ebda., S. 200f.

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tastischen, farbenprangenden, von Ornamentschmück überschütteten Heim, die alles bindende Harmonie erreicht.«20 Ihren Höhepunkt erreicht Zuckerkandls Lob im Schlusssatz des Artikels, wo sie das »jüngste, seltene Werk Josef Hoffmanns« sein »panteistisches Bekenntnis« nennt.21 Viel schlichter, wenn auch nicht weniger pathetisch Max Eisler in einem Hoffmann gewidmeten Artikel anlässlich der Gründung des Österreichischen Werkbundes in Dekorative Kunst 1915: »Das Landhaus Primavesi steht in Winkelsdorf auf einem Vorberge der schlesischen Sudeten [...] An Material und Erscheinung stellt es sich in die Art und Größe der Gegend und trägt doch wieder eine Anmut und Würde in diese Gegend, die hier bisher ortsfremd gewesen. Kein Werk scheint die Elemente dieses Schaffens auf der Stufe seiner gegenwärtigen Reife derart offenzulegen: Die Grundform hält sich an die Maße der Natur, die sie entdeckt und in dem in sich ganzen und ruhenden Gegenbilde der Kunst darstellt; der Wohnraum gibt dem Bedürfnis des Bauherren eine gereinigte Gestaltung steigert seine Gesinnung zur einfachen Klarheit bringt ihr Ruhe, Gleichgewicht und völliges Innewerden; aber all dies Gegebene durchdringt und überwindet zuletzt ein Fremdes und Höheres, die dem Geist der Antike nahe geratene und doch durchaus eigene und zeitstarke Art des Künstlers, auf der Adel und Einheit des Ganzen beruht.«22 Beide Artikel wie auch Hoffmanns eigene Bemühungen, teilweise auch farbige Entwürfe für die Räume der Villa Primavesi in Zeitschriften wie Das Interieur abzudrucken, weisen auf die hohen Erwartungen hin, die an die Rezeption des Gebäudes gestellt wurden. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Landhauses Primavesi war Josef Hoffmann, wie Max Eisler vermerkt »als Künstler und Lehrer, dem die frühe Zuversicht galt, stark in der Fülle des Vollbrachten, stärker noch in der Treue und Klarheit seiner Gefolgschaft«. Hoffmann war ein international bekannter Architekt und Designer, »der Mann des Stoclet-Hauses, der Ausstellungshallen von Rom und Köln«.23 Die Genese der Villa Primavesi kann angesichts dieser Situation Hoffmanns mehrfach gelesen werden: als Bravourstück für die neuen Geldgeber der Wiener Werkstätte. Als Musterbau einer neuen, an der Folklore orientierten Ästhetik, die Hoffmann in der Wiener Werkstätte und der Kunstgewerbeschule zu entwickeln gedachte, gewissermaßen als Ausweg aus dem erstarrten Geometrismus der frühen Jahre der Wiener Werkstätte. Die auf der Werkbundausstellung in Köln präsentierten Produkte der Wiener Werkstätte, 20 21 22 23

Ebda., S. 201ff. Ebda., S. 211. Eisler: »Josef Hoffmann«, S. 241. Eisler, Max: »Josef Hoffmann und seine Schule«, in: Moderne Bauformen X /1, 1927, S. 373.

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namentlich die Textilien nach Entwurf Emmy Zweybrücks atmen samt und sonders den Geist einer an der Folklore inspirierten, vom Neoklassizismus gestützten Ästhetik. Alexander Koch sollte sie 1916 in seiner Publikation Deutsche Werkkunst zusammenstellen.24 Vielleicht auch als Antwort auf den spezifischen Zugang zur slawischen Folklore wie ihn die jüngere Generation tschechischer Künstler pflegte: Hoffmanns direkte Auseinandersetzung mit der dem Kubismus verpflichteten Generation der tschechischen Moderne fällt in dasselbe Jahr, in dem auch die Villa Primavesi entsteht. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Werkbundausstellung in Köln übernimmt Josef Hoffmann als Mitbegründer des Österreichischen Werkbundes die Aufgabe, den österreichischen Pavillon zu entwerfen und einzurichten. Kurz zuvor, im Winter 1913–14, hatte sich in Prag eine Gruppe junger Künstler zum Tschechischen Werkbund zusammengeschlossen. Unter dem Dach des Österreichischen Hauses sollte das tschechische Kunstgewerbe ursprünglich aufgeteilt auf die einzelnen Bereiche in der übernationalen Exposition gezeigt werden. Dies widersprach jedoch den nationalen tschechischen Bestrebungen und der Einfluss des Akademieprofessors Jan Koteˇra in Wien machte es möglich, dass dem tschechischen Werkbund (Svaz ceského dila) vier Räume eigens zur Verfügung gestellt wurden. Im Tschechischen Werkbund waren vor allem die Künstler des Prager Kubismus vertreten.25 Mitglieder wie Pavel Janák, als führender Theoretiker, Josef Gocˇár, Josef Chochol und Vlastislav Hofman dominierten mit ihren Produkten die vom Koteˇra-Schüler Otakar Novotny gestalteten Räume. Die ungestüme Wirkung der Ausstellung der tschechischen Variante des europäischen Expressionismus in der von Josef Hoffmann gestalteten, klassizistischen Hülle des Österreichischen Hauses empfand die Kritik als eine »gewisse Erfrischung von Säften und Beschleunigung des Blutkreislaufes, die vielleicht möglich wird, wenn die slawischen Völker ihre Kräfte in den Dienst des österreichischen Kunstgewerbes stellen«.26 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete auch den Abbruch dieses künstlerischen Dialoges innerhalb der Monarchie: Dass Josef Hoffmann sehr genau erkannte, welche Kraft in den Entwürfen der tschechischen Kubisten steckte, beweisen seine Zeichnungen 24 25

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Koch, Alexander (Hg.): Deutsche Werkkunst. Arbeiten deutscher und österreichischer Künstler auf der »Werkbund-Ausstellung« Cöln am Rhein. Darmstadt u. a.: Koch, 1916. Franz, Rainald: »Schienen und Schranken. Josef Hoffmann und die Moderne in Österreich und Tschechien«, in: Denk, Wolfgang (Hg.): Josef Hoffmann und neues internationales Möbeldesign aus Österreich. Josef Hoffmann a souc ˇasný sve ˇtový design nábytku z Rakouska. ˇ eské Muzeum Výtvarných Umení, 1998, S. 11–26. Prag: C Behrendt, Walter Kurt: »Die deutsche Werkbundausstellung in Köln«, in: Kunst und Künstler XII, 1913 /14, S. 620, zitiert nach Gmeiner, Astrid / Pirhofer, Georg: Der Österreichische Werkbund. Alternative zur klassischen Moderne in Architektur, Raum- und Produktgestaltung. Salzburg, Wien: Residenz, 1985, S. 14.

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aus der Zeit nach 1914. Sie erscheinen geprägt von diesen expressiv-kubistischen Einflüssen, wie man sie weitaus radikaler in Prag realisierte. Doch zweifellos war auch Josef Hoffmann mit seiner Gründung der Wiener Werkstätte Vorbild für die Prager Künstlergenossenschaft Artel (1908) und liest man in den Gründungsstatuten des tschechischen Werkbundes, so klingt in dessen Credo »zur Veredelung sämtlicher Bereiche der handwerklichen und maschinellen Produktion unter Mitwirkung der Kunst, Industrie und des Handwerks beizutragen« der Ton der Gründungsstatuten der Wiener Werkstätte durch. Und der Allgestaltungsanspruch lässt vermuten, dass zumindest diese Produkte in ihrem Herstellungsland bekannt waren.27 Andererseits verkaufte die Wiener Werkstätte bereits 1911 Vasen nach Entwurf Pavel Janáks von Artel in Komission und öffnete sich so gesehen auch dieser radikalen Sicht auf Tradition und Volkskunst schon zu einem frühen Zeitpunkt. Auch als Professor an der Wiener Kunstgewerbeschule hatte Josef Hoffmann Einfluss auf die Glasgewerbe-Fachschulen in der Tschechoslowakei. Noch dazu wurden die gesamten Glaserzeugnisse der Wiener Werkstätte nach Entwurf Josef Hoffmanns von böhmischen Glasbläsereien ausgeführt.28 Hoffmanns Fähigkeit zum Ausgleich, sein »kontrapunktisches Entwerfen, das letztlich zu einer Ästhetik der Konsonanz führte« schuf aus den radikalen Ansätzen der tschechischen Kubisten Formen, die auf der Höhe ihrer Zeit dem »Entwurfsmarkt« in Wien entsprachen, aber auch einen mährischen Bankier zufrieden stellen konnten. In der Publikation Österreichische Werkkultur, vom Österreichischen Werkbund 1916 durch Max Eisler ediert [abb. 17], findet sich der Vergleich des Landhauses Primavesi mit der Villa Skywa-Primavesi mit ausführlicher Bebilderung unter der Überschrift Der Künstler: »Die beste Art der Fülle der Lösungen wird man gerade dort finden, wo dem Werkkünstler die größte Freiheit gelassen ist, und hier wieder wo er zugleich den Außenraum selber gestaltet, den Hausraum selber gebaut hat und so die Einhelligkeit des Ganzen verantwortet.« Und zum Hausrat heißt es: »Das Wort ›schön‹ gilt hier nicht mehr in seinem alten, noch allzu geläufigen Sinn, alles Äußerliche tritt zurück, das Schmückende ordnet sich unter, und die Form wird hier für den Wert des Fertiggebrachten ebenso ausschlaggebend wie fürs Haus der gestaltete Raum.«29 Josef Hoffmann und das Landhaus in Winkelsdorf waren für den 27

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Selden, Brigitte: Das dualistische Prinzip. Zur Typologie abstrakter Formensprache in der angewandten Kunst, dargestellt am Beispiel der Wiener Werkstätte, des Artel und der Prager Kunstwerkstätten. München: Scaneg, 1991. Noever, Peter (Hg.): Der Preis der Schönheit. 100 Jahre Wiener Werkstätte. Ausstellungskatalog, MAK Wien. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2003, S. 230ff. Eisler, Max: Österreichische Werkkultur. Hg. vom Österreichischen Werkbund, Wien: Schroll, 1916, S. 11, 14. Julius Leisching, der Direktor des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, propagierte als Ziel des Österreichischen Werkbundes die »Schaffung eines Entwurfsmarktes«.

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Österreichischen Werkbund (in deren Vorstand Otto Primavesi als Vertauensmann für Mähren saß) zur Leitfigur und zum Leitbau geworden. Verständlich, wenn man in Alexander Kochs gleichzeitig erschienener Deutscher Werkkunst einen Aufsatz findet, wo Professor Otto Schulze unter dem Titel Die Zukunft des Ornaments schreibt: »Es muß wieder mehr Sorgfalt auf das Ornament verwandt werden, es müsste mehr Erfindungsgabe hinein und liebevolle Behandlung. Ich erachte es daher für sehr aufgezeigt, dem wirklich künstlerischen Ornament wieder eine höhere Aufmerksamkeit und eingehende Pflege zu widmen [...].«30 Und auch Adolf Loos muss den Bau widerwillig rezipiert haben, denn liest man seinen anfangs zitierten Essay Heimatkunst, stößt man auf Passagen und Erwähnung spezifischer Merkmale, die wie auf das Landhaus Primavesi gemünzt klingen: »Und ich sehe schon die zeit kommen, wo unsere geschäfts- und miethäuser, unsere theater- und konzerthäuser mit schindeln und stroh gedeckt werden. Nur immer ländlich – schändlich.«31 Der moralische Traditionalist Loos, Feind der Stilkunst, widerstand mit seiner Forderung nach zeitloser Eleganz dem dekorativ-geschmackvollen Stil, den Josef Hoffmann mit der Wiener Werkstätte entwickelt hatte. War für Adolf Loos ein Gebäude wie das Landhaus Primavesi ein Gräuel – denn die alten Herrenhäuser auf dem Lande, »die von stadtbaumeistern herrühren«, waren eben in »dem stile gebaut, in dem der meister in der stadt baute«32 – bot es für Josef Hoffmann und seine Auffassung einer modernen Ornamentik ein breites Experimentierfeld, um im Rahmen des Neoklassizismus folkloristische Motive in neue Formen der zeitgenössischen Ornamentik zu überführen. Dass Bewohner des Hauses, namentlich Mäda Primavesi, die Tochter Otto Primavesis, ihr mit unruhigen Ornamenten in zweierlei Blau dekoriertes Zimmer [abb. 19] manchmal nur aus dem Grund verlassen musste, um eine optisch ruhigere Umgebung zu suchen, die sie dann im Holzschuppen fand, steht auf einem anderen Blatt.33

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Schulze, Otto: »Die Zukunft des Ornaments«, in: Koch: Deutsche Werkkunst, S. 188ff. Loos: »Heimatkunst«, S. 127. Ebda., S. 126. Klein-Primavesi: Die Familie Primavesi, 2004.

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4 3 Josef Hoffmann: Fassade des Landhauses Primavesi, Winkelsdorf, Tschechien 1913 /14 (aus: Dekorative Kunst XXXVIII, 1916, S. 198) 2 Josef Hoffmann: Gartenfassade Palais Stoclet, Brüssel 1911 (© MAK Wien) 3 Josef Hoffmann: Das österreichische Haus auf der Werkbundausstellung Köln, 1914 (© MAK Wien) 4 Ausstellungskatalog Österreichische Hausindustrie und Volkskunst, k.k. Österreichisches Museum für Kunst und Industrie, Wien 1906 1

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Josef Hoffmann (1911) Fragment einer Stickerei aus der mährischen Slowakei, Sammlung Josef Hoffmann (Museum im Geburtshaus Josef Hoffmanns, Brtnice, Tschechien); Textilentwurf Josef Hoffmanns (© MAK Wien, K.I. 11.911 /1) Josef Hoffmann: Entwurf für ein Mährisches Landhaus, 1900 (© MAK Wien) Otto und Mäda Primavesi 1894 und 1915 (© WW Fotoarchiv)

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11 9 Josef Hoffmann: Villa Skywa-Primavesi, Wien, 1913 /15 (©WW Fotoarchiv) 10 Erster Entwurf für die Villa Primavesi in Winkelsdorf (aus: Der Architekt XX, 1914 /15, Tafel 80) 11 Villa Primavesi in Winkelsdorf, 1914 (aus: Sekler, Eduard F.: Josef Hoffmann, Salzburg / Wien

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12 Villa Primavesi in Winkelsdorf, 1914

(aus: Dekorative Kunst XVIII, S. 233) 13 Bauernhaus bei Thurnau in Böhmen

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(aus: Das Bauernhaus in Österreich-Ungarn und seinen Grenzgebieten, 1906, Tafel 50) 14 Laube im ersten Stock der Villa Primavesi in Winkelsdorf, 1914 (aus: Dekorative Kunst XXXVIII, 1916, S. 216)

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Interieur-Entwurf für das Landhaus Primavesi (aus: Das Interieur Nr. XV, 1914, Tafel 65) Halle im Landhaus Primavesi, 1914 (aus: Dekorative Kunst XXXVIII, 1916, S. 205) Eisler, Max: Österreichische Werkkultur, Wien 1916, Innentitel Kellerstube im Landhaus Primavesi, 1914 (aus: Dekorative Kunst XVIII, S. 240) Zimmer der Tochter Mäda im Landhaus Primavesi, 1914 (aus: Dekorative Kunst XXXVIII, 1916, S. 219)

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Hans Poelzig in Schlesien – Heimatstil als rhetorische Figur

Hans Poelzig (1869–1936) gehört zu den bedeutenden Architekten und Architekturlehrern der frühen Moderne – gleichermaßen geschätzt von seinen Altersgenossen und von Vertretern der jüngeren Generation wie Walter Gropius und Bruno Taut. Seine Karriere begann 1900 in der schlesischen Hauptstadt Breslau (dem heutigen Wrocław), zu einer Zeit, da der Heimatstil 1 einen Ansatz zur Erneuerung der Baukunst und der Überwindung des Historismus versprach. Poelzig setzte sich intensiv mit diesen Möglichkeiten auseinander und entwarf eine Reihe ausgesprochen individueller Bauten im Heimatstil, er gehörte dann aber auch zu den frühen Kritikern, die vor »sentimentalistischen Phrasen« warnten.2 Poelzigs Werk und seine theoretischen Äußerungen, die im Zentrum dieses Beitrags stehen, können daher sowohl das Reformpotenzial des Heimatstils als auch seine Begrenztheit veranschaulichen. Dem Heimatstil und der Heimatschutzbewegung, in deren Umfeld er entstand, haftet trotz jüngster Revisionen3 der einseitige Ruf von Rückwärtsgewandtheit und nationalistischer Grundhaltung an.4 Dies liegt vor allem 1

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Zum Problem der Terminologie zusammenfassend Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. Frauenfeld / Stuttgart / Wien: Huber, 2005, S. 30–40. Vgl. auch das Themenheft des Bundesdenkmalamtes in Wien über Heimatstil und Heimatschutzstil in Österreich: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 43 /3 und 4, 1989. »Die Phrase von heut ist nur bald sentimentalistisch und rührt durch Erinnerung an die biedere vormärzliche Zeit [...].« Poelzig, Hans: »Architekturfragen«, in: Das Kunstblatt 1, 1917, S. 129–136; Wiederabdruck bei Pehnt, Wolfgang / Schirren, Matthias (Hg.): Hans Poelzig 1869–1936. Architekt, Lehrer, Künstler. München: DVA, S. 192–194, hier S. 193; vgl. Anm. 64. Zuletzt Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil; vgl. v. a. auch Frank, Hartmut: »Heimatschutz und typologisches Entwerfen«, in: Lampugniani, Vittorio M./ Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Bd. 1: Reform und Tradition. Stuttgart: Hatje, 1992, S. 105–131. Vgl. etwa Fehl, Gerhard: Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft. Zum »reaktionären Modernismus« in Bau- und Stadtbaukunst. Braunschweig /Wiesbaden: Vieweg, 1995; Jarzombek, Mark: »The Discourses of a Bourgeois Utopia 1904–1908 and the Founding of the Werkbund«, in: Forster-Hahn, Françoise: Imagining Modern German Culture, 1889–1910. Hanover/ N.H. u. a.: University Press of New England, 1996, S. 127–145.

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an der Fokussierung auf Deutschland, wo die Heimatschutzbewegung in den 1920er Jahren eine zusehends reaktionäre und rassistische Richtung einschlug: Prominente Heimatschützer der ersten Stunde wie Paul SchultzeNaumburg gehörten zu den Wegbereitern und Protagonisten der nationalsozialistischen Kulturpolitik.5 Tatsächlich oszillierte die Heimatschutzbewegung in ihren Anfängen als europäische Reformbewegung des späten 19. Jahrhunderts zwischen »romantischem Nationalismus«, Antimodernismus und – besonders künstlerischen – Erneuerungsbestrebungen.6 Ihr Ziel war die Bekämpfung der negativen Folgen der Industrialisierung: Zerstörung von Natur und Kulturlandschaft, Traditionsverlust, Ausufern der Städte bei problematischen Wohnverhältnissen und unangemessener Bebauung sowie mangelnde ästhetische und funktionale Qualität maschinell erzeugter Produkte. Ihr Gegenkonzept einer Orientierung an der vorindustriellen und bäuerlichen Kultur stand im größeren Zusammenhang der wissenschaftlichen Erfassung des ländlichen Kulturerbes: Die Volkskunde etablierte sich als eigenständige Wissenschaft,7 und auch die Kunstgeschichte entdeckte die Volkskunst und das Kunstgewerbe als Grundlage aller Kunstproduktion.8 In der Epoche von Nationalbewegungen und Nationalismus wurde der bäuerlichen Kultur zudem eine tiefreichende gesellschaftliche und emotionale Bedeutung zugeschrieben: Ihre postulierte »Unverfälschtheit« ließ sie als eigentlichen Träger des Nationalcharakters erscheinen.9 Das Aufgreifen von Motiven ländlicher 5

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Mit Publikationen wie Schultze-Naumburg, Paul: Kunst und Rasse. München: Lehmann, 1928 (4. Aufl. 1942), wurde der Autor zum Wegbereiter der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Vgl. Bormann, Norbert: Paul Schultze-Naumburg 1869–1949. Maler, Publizist, Architekt. Vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kulturpolitiker im Dritten Reich. Ein Lebens- und Zeitdokument. Essen: Bacht, 1989. Ähnlich gilt dies für Schmitthenner; z. B. Schmitthenner, Paul: Die Baukunst im neuen Reich. München: Callwey 1934; Voigt, Wolfgang / Frank, Hartmut: Paul Schmitthenner 1884–1972. Tübingen: Wasmuth, 2003. Einen guten Überblick mit weiterführender Literatur über die europäische Entwicklung gibt Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil. Zur deutschen Heimatschutzbewegung Klueting, Edeltraud (Hg.): Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991. Vgl. Nipperdey, Thomas: »Auf der Suche nach Identität: Romantischer Nationalismus«, in: ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. München: Beck, 1991, S. 132–150. Sievers, Karl Detlev: »Fragestellungen der Volkskunde im 19. Jahrhundert«, in: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 2. überarb. u. erw. Auflage. Berlin: Reimer, 1994, S. 31–50. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. 2 Bde. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860–1863. In der Semper-Nachfolge u. a. Riegl, Alois: Volkskunst, Hausfleiß und Kunstindustrie. Berlin: Siemens, 1894. Vgl. Moravánszky, Ákos: »Die Entdeckung des Nahen«, in: ders. (Hg.): Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien: Böhlau, 2002, S. 95–123. So schwärmte etwa der Schriftsteller und Kritiker Alfred Koeppen: »Lebensformen, die keine Kultur hat verwischen können, erbten sich hier durch Geschlechter fort – im Boden wurzelnde Urkraft«; Koeppen, Alfred: »Zur Wiederbelebung schlesischer Bauernhäuser «, in: Schlesien. Illustrierte Zeitschrift für die Pflege heimatlicher Kultur. Zeitschrift des Kunstgewerbevereins für Breslau und die Provinz Schlesien 3, 1909 /10, S. 559–562, S. 559.

Hans Poelzig in Schlesien

Baukunst im Heimatstil ist demnach eine Facette der Suche nach nationalen Ausdrucksformen, die in der Architektur und Kunst des späteren 19. und des frühen 20. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle spielte.10 Die Manifestation nationaler Identität gewann besonders dort an Bedeutung, wo diese nicht in einem eigenen Staatsverband Ausdruck finden konnte – etwa im Vielvölkerstaat der späten Habsburgermonarchie und im russischen Zarenreich.11 Doch auch im föderal strukturierten Deutschland sollte die Reichseinigung von 1871 sich in einer Nationalkultur manifestieren. Aus der Vielfalt der regionalen Spezifika wurden daher gemeinsame Merkmale der Volkskunst wie das »deutsche Dach« herausgefiltert, gleichzeitig wurde die Vielfalt der »deutschen Stämme und Landschaften« als Charakteristikum der Nation herausgestellt. Es war die Arts-and-Crafts-Bewegung in England – hier war die Industrialisierung am weitesten vorangeschritten –, die sich als erste auf die heimische vorindustrielle Kultur und auf handwerkliche Traditionen berief, um eine Reformierung der Kunst einzuleiten. Ihr Vorbild inspirierte Architektur, Kunsthandwerk und künstlerische Ausbildung in ganz Europa.13 Die Suche nach Alternativen zur akademischen Ausbildung und zum Historismus weckte bei Künstlern und Literaten die Faszination für die »Ursprünglichkeit« der ländlichen Kultur: In Künstlerdörfern von Pont Aven bis Godöllo˝ bei Budapest wollten sie der Welt begegnen »[…] mit einem Krähenauge, oder einem Auge aus freiem Adlerflug« – nicht mit dem »Caféhausauge des Städters« (Carl Hauptmann 1903).14 Der aus diesem Kontext heraus um 1900 entwickelte Heimatstil hatte eine deutlich andere Qualität als die pittoresken »ethnografischen Dörfer« mit Nachbauten von Bauernhaustypen, wie sie seit der Wiener Weltausstellung von 1867 zum Veranstaltungsrepertoire auch auf nationaler und regio-

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Purchla, Jacek / Tegethoff, Wolf (Hg.): Nation, Style, Modernism. Kraków/ München: Drukarnia Narodowa 2006; Krakowski, Piotr/ Purchla, Jacek (Hg.): Vernacular Art in Central Europe. International Conference, 1.–5. Oktober 1997. Kraków: Antykwa, 2001; Bowe, Nicola Gordon (Hg.): Art and the National Dream. Dublin: Irish Academic Press, 1993. Dazu Moravánszky, Ákos: Competing Visions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central Europe Architecture 1867–1918. Cambridge / Mass.: MIT Press, 1997. Programmatisch ist der Titel der in mehreren Auflagen erschienene Literaturgeschichte von Nadler, Josef: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Regensburg: Habbel, 1912–1918 (4. Auflage Berlin: 1938–1941). Zum Verhältnis Nation – Region vgl. Applegate, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley u. a.: University of California Press, 1990. Dazu grundlegend Muthesius, Stefan: Das englische Vorbild. Eine Studie zu den deutschen Reformbewegungen in Architektur, Wohnbau und Kunstgewerbe im späten 19. Jahrhundert. München: Prestel 1974. Zitat von Carl Hauptmann aus einem Brief an Otto Modersohn, Schreiberhau im Riesengebirge (Szklarska Pore ˛ba), 21. 02. 1903, in: Hauptmann, Carl: Leben mit Freunden. Gesammelte Briefe. Berlin 1928, S. 107; zit. nach Pese, Claus: Künstlerkolonien. In Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, 2001, S. 17.

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naler Ebene gehörten.15 An die Stelle der Kopie trat eine schöpferische Umdeutung und Neugestaltung, die in den einzelnen Ländern naturgemäß unterschiedlich ausfallen musste. Nachhaltiger als der ästhetische Neuansatz des Heimatstils und supranational wirkten allerdings die Neuerungen in der Wohnkultur: Die Öffnung des Hauses zum Garten, die freiere Grundrissgestaltung, die Tendenz zu schlicht gestalteten Räumen und Möbeln, Prinzipen, die vom Einfamilienhaus in den Siedlungsbau übernommen wurden. In dieser Hinsicht markieren die Landhäuser und die durchgrünten Siedlungen im Heimatstil, die vor dem Ersten Weltkrieg in Europa entstanden, eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Moderne.16 Diese komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen und Befindlichkeiten bestimmten auch die Situation in Deutschland. Den Begriff »Heimatschutz« prägte der Berliner Komponist und Musikpädagoge Ernst Rudorff,17 der mit dem Schriftsteller Ferdinand Avenarius und dem jüngeren Architekten Paul Schultze-Naumburg einer der führenden Köpfe der Bewegung in Deutschland selbst sowie im deutschsprachigen Raum war. Das Interesse der Heimatschutzbewegung galt allen Sparten des geistigen und kulturellen Lebens, von Kunst und Architektur bis hin zu Religion und Politik. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben lautete der programmatische Untertitel ihres wichtigsten Publikationsorgans, der von Avenarius begründeten Zeitschrift Der Kunstwart.18 Die Protagonisten der Bewegung fanden sich 1902 im Dürerbund, dann im 1904 gegründeten Deutschen Bund für Heimatschutz zusammen. Beide Vereinigungen repräsentierten ein breites weltanschauli-ches Spektrum, das für nostalgische Schwärmer ebenso Platz bot wie für Fortschrittskritiker und Nationalisten, besonders aber auch für Künstler und Intellektuelle, die nach neuen Impulsen suchten. So warnte der Heimat-schutzbund zwar vor einer Zersiedelung des Landes durch die Verwendung großstädtischer oder industrieller Bautypen an falscher Stelle, dennoch vertrat er vor dem Ersten Weltkrieg keine generell fortschritts- oder technikfeindliche Haltung.19 Ein Hauptanliegen des Bundes war die ästhetische Erziehung des Publikums mittels Ausstellungsaktivitäten und Publikationen – eine Aufgabe, der 15

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Dazu Wörner, Martin: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900. Münster u. a.: Waxmann, 1999. Vgl. auch Moravánszky, Akos: »Die Entdeckung des Nahen. Das Bauernhaus und die Architekten der frühen Moderne«, sowie Johler, Reinhard: »›Ethnisierte Materialien‹ – ›materialisierte Ethnien‹«, in: Moravánszky (Hg.): Das entfernte Dorf, S. 61–94, 95–123. Vgl. Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil, S. 43–46; Hofer, Sigrid: Reformarchitektur 1910–1918. Stuttgart: Menges, 2005, S. 21–24. Rudorff, Ernst: Heimatschutz. Leipzig: Grunow, 1897. Der Kunstwart. Eine Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben, 1887–1932; Kratzsch, Gerhard: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1969. Vgl. Hofer: Reformarchitektur 1910–1918, S. 23.

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sich dann auch die Avantgarde der Zwischenkriegszeit intensiv verpflichtet fühlte. Besonders erfolgreich leistete diese »Geschmacksbildung« Paul Schultze-Naumburgs neunbändige Reihe Kulturarbeiten, die in suggestiven Bildern einem negativen Beispiel städtebaulicher und architektonischer Gestaltung des Historismus ein positives Exempel gegenüberstellte.20 Diese positiven Beispiele zeigen zumeist ländliche und kleinstädtische Bauweisen der Zeit »um 1800«.21 In Deutschland lieferte neben dem Bauernhaus in erster Linie die bürgerlich geprägte, unprätentiöse Kunst der Goethezeit und des Biedermeier den Gegenentwurf zum Pomp der Gründerzeit. Zwischen Heimatschutzbewegung, Denkmalpflege und Architekturlehre bestanden enge personelle Verflechtungen: An der Erstellung des 1892 initiierten Atlaswerkes Das Bauernhaus im Deutschen Reiche und in seinen Grenzgebieten22 waren unter anderen August Thiersch (th München), Carl Schäfer (th Charlottenburg, dann Karlsruhe) sowie der schlesische Provinzialkonservator und spätere Konservator der Kunstdenkmäler in Preußen Hans Lutsch federführend beteiligt. Sie schärften den Blick der nachfolgenden Architektengeneration für regionalspezifische Bauweisen. Der am 30. April 1869 in Berlin geborene Hans Poelzig war ein Vertreter dieser jungen Generation. Von 1888 bis 1894 studierte er an der Technischen Hochschule Charlottenburg, in erster Linie bei Carl Schäfer. Unter seinen Kommilitonen waren Max Berg und Fritz Schumacher, die ebenfalls zu den maßgeblichen Vertretern der frühen Moderne gehören. Poelzigs wenige bekannte Entwürfe aus den Studienjahren sind noch ganz dem Historismus verpflichtet. Das Projekt eines Stadthauses, mit dem er 1898 den zweiten Preis im renommierten Schinkel-Wettbewerb des Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Berlin gewann, erinnert in manchen Details an Schäfers neugotischen Bau der Alten Universität in Marburg (1872–1891). Ungeachtet dessen erkannten seine Schüler in Schäfer einen Überwinder des Historismus: »Die Jugend war es satt, Formen zu applizieren, Schäfer lehrte mit der Form die Konstruktion des mittelalterlichen Stein- und Holzbaues [...]. Die Lehr20 21

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Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten. 9 Bde. München: Callwey, 1907–1917; nach diesem Vorbild u. a. Dvorˇak, Max: Katechismus der Denkmalpflege. Wien: Bard, 1916. Eine der einflussreichsten Publikationen zur Wiederentdeckung des Stils der Goethezeit war Mebes, Paul: Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung. 2 Bde. München: Bruckmann, 1908. Verband deutscher Architekten und Ingenieurvereine (Hg.): Das Bauernhaus im Deutschen Reiche und in seinen Grenzgebieten. 2 Bde. Dresden: Kühtmann, 1905–1906. Analog und in Kooperation mit dem deutschen Projekt entstanden die entsprechenden Atlanten für die Schweiz und die Habsburgermonarchie: Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein (Hg.): Das Bauernhaus in der Schweiz. Zürich: Graphische Anstalt, 1903; Österreichischer Ingenieur- und Architektenverein (Hg.): Das Bauernhaus in ÖsterreichUngarn und in seinen Grenzgebieten. Wien / Dresden: Verlag Österreichischer Ingenieurund Architektenverein und Kühtmann, 1905–1906.

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weise war die schwerste Bekämpfung [...] jeder Art von Klassizismus, hiermit der nachschinkelschen Schule; und weiter auch jener rein romantischen Wiederholung gotischer oder romanischer Formen.«23 Mag dieser Rückblick im Jahre 1935 auch etwas verklärend gewesen sein, so war es eben dieser Zusammenhang von Form und Konstruktion, für den Schäfer seine Schüler sensibilisierte und der Poelzig in seinem Werk sowie in seinen theoretischen Äußerungen lebenslang beschäftigte. Der »Gärungsprozess« in der Architektur, den Poelzig einige Jahre später, anlässlich der 3. Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1906, analysieren sollte,24 war bereits in seiner Studienzeit deutlich spürbar. Mit dem Preisgeld aus dem Schinkel-Wettbewerb unternahm Poelzig 1898 eine Studienreise durch Deutschland und Österreich. In Wien hielt er sich im Kreis der Wagner-Schüler auf. Zu jener Zeit standen die ersten Jugendstilbauten Otto Wagners, etwa die beiden Wohnhäuser an der Linken Wienzeile, Joseph Maria Olbrichs Secessionsgebäude befand sich gerade im Bau. Poelzigs Werkbundgefährte und erster Biograf Theodor Heuss überlieferte, dass dieser »an der Begeisterung für die Linie nicht ohne weiteres« teilgenommen habe; auch Olbrichs Bauten für die Ausstellung Ein Dokument deutscher Kunst auf der Darmstädter Mathildenhöhe (1901) begeisterten ihn nicht,25 da »eine wahrhafte Architektur mit dem Rüstzeug der Dekoration nicht zu meistern« sei.26 Diese Skepsis gegenüber dem Jugendstil teilte er mit Fritz Schumacher und Hermann Muthesius;27 wie diese forderte er eine Erneuerung der Baukunst durch »unerbittliche Sachlichkeit«, die »nur auf Grund einer gesunden Konstruktion und einer daraus ungesucht entwi-

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Poelzig, Hans: Versuch eine Autobiographie, 1935 (der originale Text ist nicht überliefert), zit. nach Heuss, Theodor: Hans Poelzig. Bauten und Entwürfe. Das Lebensbild eines deutschen Baumeisters. Unv. Nachdruck der Ausgabe Berlin: Wasmuth, 1939. Stuttgart: DVA, 1985, S. 11 (Heuss war 1949–1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland). Zu Poelzigs Ausbildung Nägelke, Hans-Dieter: »Poelzig vor Poelzig«, in: Pehnt / Schirren (Hg.): Hans Poelzig, S. 84–93. Alle Zitate aus Poelzig, Hans: »Architektur«, in: Das deutsche Kunstgewerbe 1906. Zur 3. deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1906. München: Bruckmann, 1906, S. 17– 20. Wiederabdruck bei Ilkosz, Jerzy/ Störtkuhl, Beate (Hg.): Hans Poelzig in Schlesien. Architektur und Kunst 1900–1916. Delmenhorst: Aschenbeck & Holstein, 2000, S. 489–491 (Seitenzahlen im Folgenden nach dem Wiederabdruck). Heuss: Hans Poelzig, S. 13; vgl. auch Nägelke: Poelzig vor Poelzig, S. 92 und Anm. 40 mit Verweis auf den Reisebericht Poelzigs für den Minister der öffentlichen Arbeiten, Architektursammlung der TU Berlin, Inv. Nr. SW-RB 1898. Poelzig: »Architektur«, S. 489. Lauterbach, Heinrich: »Hans Poelzig«, in: Schlesien 8, 1963, S. 206–208, S. 208. Muthesius, Hermann: Stilarchitektur und Baukunst. Mühlheim/Ruhr: Schimmelpfeng, 1902; dazu Wick, Rainer K.: »Der frühe Werkbund als ›Volkserzieher‹«, in: Nerdinger, Winfried (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907–2007. München: Prestel, 2007, S. 51–55, S. 52. Von Poelzig gibt es nur wenige kunsthandwerkliche Entwürfe in Jugendstilformen, im Wesentlichen die unausgeführten Projekte für den Orgelprospekt und die Möbel im Musiksaal der Breslauer Universität (Muzeum Architektury we Wrocławiu /Architekturmuseum Breslau).

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ckelten Formensprache« zu erreichen sei.28 Diese Sachlichkeit entdeckte er in jenen Jahren – im Einklang mit den Reformideen der Heimatschutzbewegung – in der regionalen Bautradition seiner Wahlheimat Schlesien und ließ sich davon inspirieren. Die Möglichkeit zum Bauen bot sich dem Architekten erst mit seiner Berufung als Lehrer für architektonisches Zeichnen und Kunsttischlerei an die Königliche Kunst- und Kunstgewerbeschule im schlesischen Breslau (dem heutigen Wrocław) im Frühjahr 1900.29 Dabei gehörte die Großstadt an der östlichen Peripherie des damaligen deutschen Reiches nicht zu den »Traumzielen« für Künstler – dass Schlesier, so wie Carl Gottfried Langhans oder Adolf Menzel, erst in Berlin Karriere machten, galt als sprichwörtlich. Dennoch waren die Rahmenbedingungen um 1900 gerade für Architekten günstig: Mit einer Einwohnerzahl von über 500.000 im Jahr 1910 war Breslau zur drittgrößten Stadt in Preußen herangewachsen, deren Infrastruktur dringend ausgebaut werden musste. Poelzig fand schnell Anschluss an die reformorientierten Kreise der Stadt. Besonders inspirierend wirkte der Salon des Arztehepaars Toni und Albert Neisser.30 Hier verkehrten Gerhart und Carl Hauptmann, die in Schlesien und Berlin zuhause waren; mit Carl Hauptmann verband Poelzig dann eine intensive Freundschaft. Der aus München an die Breslauer Universität berufene Kunsthistoriker Richard Muther, ein Fachmann für zeitgenössische Kunst, vermittelte bei der »Anwerbung« der jungen Münchner Künstler Max Wislicenus, Theodor von Gosen und Ignatius Taschner an die Breslauer Kunstschule. Zum Kreis gehörten auch Richard Strauss sowie Gustav Mahler – die Provinz war also, modern gesprochen, gut vernetzt. An der 1791 von Friedrich Wilhelm ii. gegründeten Königlichen Kunstund Kunstgewerbeschule leitete der in Wien ausgebildete Hermann Kühn, Direktor von 1881 bis 1902, den Wandel von der akademischen Tradition hin zur angewandten Kunst ein. Im Sinne der Kunstschulreform nach dem Vorbild der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung sollten Lehrwerkstätten den Schülern praxisbezogenes Arbeiten ermöglichen.31 In diesem Kontext erfolgte Poelzigs Anstellung. 28 29

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Alle Zitate aus Poelzig: »Architektur«. Die näheren Umstände der Berufung und die Förderung Poelzigs durch Ludwig Pallat, den zuständigen Referenten im Preußischen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten bei Schirren, Matthias: »Sachliche Monumentalität. Hans Poelzigs Werk in den Jahren 1900–1914«, in: Lampugniani, Vittorio M. / Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition. Frankfurt /Main 1992, S. 79–105 (Wiederabdruck bei Ilkosz /Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 161–189). Łukaszewicz, Piotr: »Dom Toni i Alberta Neisserów« [Das Haus Toni und Albert Neisser], in: Roczniki Sztuki S´la˛skiej 15 (1991), S. 39–57; Hölscher, Petra: »Breslau um die Jahrhundertwende: Künstler, Galerien, Kunstsammler und Künstlerkreise«, in: Ilkosz / Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 19–31. Die Bedeutung Kühns für die Breslauer Kunstakademie hat Hölscher, Petra: Die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege einer Kunstschule 1791–1932/33. Kiel: Ludwig, 2003, S. 48–63, herausgearbeitet.

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Die Dozenten der Kunstschule berieten die schlesische Denkmalpflege und führten Restaurierungsaufträge aus.32 Der zuständige Provinzialkonservator Hans Lutsch (1891–1903) war mitverantwortlich für die bereits erwähnte Dokumentation »Das Bauernhaus im Deutschen Reich« und damit eng in die Belange der Heimatschutzbewegung involviert. Poelzig wurde gleich in die denkmalpflegerische Arbeit einbezogen; seine ersten Projekte in Schlesien waren Um- und Ausbauten an Baudenkmälern. Die früheste überlieferte Arbeit datiert vom Dezember 1900: Zwei kleine »Vorhallen« an der Friedenskirche in Schweidnitz (S´widnica), einem außergewöhnlich großen und eindrucksvollen Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert.33 Die hierbei gewonnenen Kenntnisse der schlesischen Fachwerktradition setzte der Architekt gleich um, als er 1901 – ebenfalls über den Provinzialkonservator – den Auftrag zum Neubau der kleinen Pfarrkirche von Wültschkau (Wilczków, 1901–1905) erhielt. [abb. 1, 2] Um die wertvolle Ausstattung der alten, baufälligen Kirche in den Neubau zu integrieren, bestand die Auflage, diesen in Barockformen zu errichten.34 Poelzig entwarf eine schlichte Saalkirche mit einem markanten quadratischen Turm, dessen Haube an die typischen doppelstöckigen Zwiebeltürme schlesischer Barockkirchen erinnert. Er verfremdete das Motiv jedoch durch die Verwendung großflächiger Formen und gedrungener Proportionen. Zur Gestaltung der Fassaden erfand er eine Wandgestaltung aus dunklen Putzfeldern und schmalen weißen Streifen – gleichsam eine Abstraktion des Fachwerks unter Umkehrung der Farbstruktur. Die Turm- und Wandgestaltung übernahm Poelzig beim wenig später entstandenen Neubau der Dorfkirche von Maltsch (Malczyce, 1903– 1907; beide Kirchen wurden in den letzten Jahren einheitlich weiß verputzt). Beachtenswert ist die an beiden Kirchenbauten erkennbare Vorliebe des Architekten für breitgelagerte, erdverhaftete Proportionen, die sein gesamtes Werk charakterisiert. Bereits in Wiltschkau erweist sich auch Poelzigs kreativer Umgang mit den Motiven regionaler Baukunst. Mit den ästhetisierten Kopien ländlicher Architektur in den »ethnografischen Dörfern« des Ausstellungswesens hat dieser Kirchenbau nichts mehr gemein – ebenso wenig wie mit dem Neobarock, den die Auftragsvorgabe nahegelegt hätte. »Fest auf den Schultern der Vorfahren stehend«,35 also in Anknüpfung an die Tradition, passte Poelzig die Kirche in das Dorfbild ein, seine Verfremdungen und Neuerfindungen machten sie jedoch als Bau der Moderne kenntlich.

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Wie umfangreich Poelzigs denkmalpflegerische Tätigkeit war, zeigte Grajewski, Grzegorz: »Die Kontinuität der Tradition. Denkmalpflege und Heimatschutz im Werk Hans Poelzigs«, in: Ilkosz /Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 191–222. Schaaf, Ulrich: »Hans Poelzigs Vorhallen für die Friedenskirche zu Schweidnitz und ihre Bedeutung aus denkmalpflegerischer Sicht«, in: Ilkosz/Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 223–229. Grajewski: Die Kontinuität der Tradition, S. 199. Poelzig: »Architektur«, S. 490.

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Auch im zeitgenössischen »Gärungsprozess« in der Denkmalpflege bezog Poelzig die Position der Reformer. Zwar standen einige seiner frühen Arbeiten noch in der Tradition der Restaurierungspraxis des 19. Jahrhunderts, wie sie Carl Schäfer vertrat. Gerade in der Kritik an Schäfers Rekonstruktionsplänen des Ottheinrichbaus am Heidelberger Schloss »im Geiste des Renaissance« kulminierte jedoch 1901 die Debatte um einen neuen denkmalpflegerischen Ansatz, dessen oberstes Ziel die Bewahrung der originalen, historisch gewachsenen Denkmalsubstanz war. »Konservieren statt restaurieren« forderten unter anderem Georg Dehio und Alois Riegl; Ergänzungen, Erweiterungen eines Denkmals müssten als nachträgliche Eingriffe erkennbar bleiben.36 Der Planungsverlauf der Restaurierung und Erweiterung des Rathauses in der Kleinstadt Löwenberg (Lwówek S´la˛ski) in den Jahren 1903 bis 1905 dokumentiert Poelzigs Auseinandersetzung mit diesen Thesen. Seinen ersten, den Frührenaissanceformen des ursprünglichen Baus angeglichenen Entwurf entwickelte er weiter zu einer neuen Konzeption. Die Dimension des Erweiterungsbaus ist in beiden Entwürfen gleich. Für die Baugestaltung wählte Poelzig nun jedoch Motive aus der regionalen Bautradition: Die Dachform des Treppenhauserkers ist inspiriert von den Schrotholzkirchen Oberschlesiens, die Lauben übertragen einen in der Region verbreiteten Typus in schlichte, »versachlichte« Formen. Die gedrungenen Säulen mit Reliefs von Poelzigs Bildhauerkollegen an der Schule, Ignatius Taschner, kopieren keine der historischen Ordnungen. Sie deuten das Säulenmotiv neu unter Beibehaltung der ursprünglichen, konstruktiven Funktion dieses Architekturglieds. Dies entsprach der Vorstellung der frühen Moderne von der Kontinuität der Tradition nicht in der Form, aber »in der Bewältigung tektonischer Probleme«.37 Durch die tief herabgezogenen Verdachungen stellt sich eine behäbig- anheimelnde Wirkung ein, die zum Charakter der Kleinstadt in ländlichem Umfeld passt. Im Ergebnis entstand ein Erweiterungsbau, der seine Modernität nicht verhehlte, sich aber in Form und Proportion hervorragend in das Marktensemble einfügte. [abb. 3] Zeitgenössische Kritiker sahen in diesem Bau die Ideen der Heimatschutzbewegung in idealer Weise umgesetzt: »Unser Volkston ist in diesem Bau vorzüglich getroffen, gerade der schlesische Volkston. Poelzig [...] besitzt [...] so viel Gefühlswärme, daß ihm, als er die gute alte volkstümliche Bauweise in Schlesien kennenlernte, gerade diese Seite schlesischen Wesens auf-

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Dehio, Georg: Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden? Straßburg: Trübner, 1901; Riegl, Alois: Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung. Wien/Leipzig: Braumüller, 1903. Vgl. Hanselmann, Jan Friedrich: Die Denkmalpflege in Deutschland um 1900. Zum Wandel der Erhaltungspraxis und ihrer methodischen Konzeption. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1996. Alle Zitate aus Poelzig: »Architektur«.

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gegangen und in seine Schöpfungen übergegangen ist« schieb Conrad Buchwald, Kustos am Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer.38 Das 1899 gegründete Kunstgewebemuseum und der Kunstgewerbeverein für Breslau und die Provinz Schlesien unterstützten die Reformbestrebungen der Kunst- und Kunsthandwerkschule.39 Die unter Kühn begonnene Zusammenarbeit intensivierte sich weiter, als Poelzig nach dessen Tod 1903 das Direktorat übernahm. Der Museumsdirektor Karl Masner, der zuvor als Kustos am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien tätig war, und sein Mitarbeiter Buchwald begleiteten die Arbeit der Schule durch ihre publizistische Tätigkeit und durch Ausstellungen. Beide Museumsleute waren auch führende Mitglieder des Kunstgewerbevereins. Als die Breslauer Handwerkskammer den Kunstgewerbeverein einlud, sich an der für 1904 geplanten »Ausstellung für Handwerk und Kunstgewerbe« zu beteiligen, übertrug der Verein die Gestaltung seiner Präsentation Hans Poelzig und seiner Schule.40 Die »Sonderschau« sollte einen Pavillon zur Ausstellung kunsthandwerklicher Erzeugnisse sowie ein komplett eingerichtetes Muster-Wohnhaus umfassen.41 Gefordert war ein zeitgemäßes »bürgerliches Einfamilienhaus« für »die Geistesarbeiter, die an die Stadt gebunden sind und dennoch, um gesund und frei zu leben, ihr entfliehen«42 – also ein »modernes Landhaus«, wie es vor allem die Veröffentlichungen von Hermann Muthesius populär machten.43 Nach englischen Vorbildern konzipiert, sollte das »schlichte« Landhaus die überladene Gründerzeitvilla ablösen und ein neues Lebensgefühl in Verbindung mit der Natur vermitteln. Wie Charles f. a. Voysey oder Baillie Scott sich an der ländlichen Baukunst Großbritanniens orientierten, forderte Muthesius seine deutschen Kollegen auf, sich der »Schönheiten des heimischen Bürger- und Bauernhauses be38 39

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Buchwald, Conrad: »Hans Poelzig als Baukünstler«, in: Dekorative Kunst 15, 1907, S. 225–236, S. 231; außerdem ders.: »Das Löwenberger Rathaus«, in: Dekorative Kunst 15, 1907, S. 11–15. Vgl. Hölscher, Petra: Die Akademie für Kunst- und Kunstgewerbe; Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Muzea Sztuki w dawnym Wrocławiu. Kunstmuseen im alten Breslau. Wrocław: Muzeum Narodowe, 1998, S. 97–121; ders.: »Die Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe unter dem Direktorat Hans Poelzigs«, in: Ilkosz /Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 33–50. Zur Ausstellung insgesamt Störtkuhl, Beate: »Die Breslauer Ausstellung für Handwerk und Kunstgewerbe in Breslau 1904«, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte 2, 1994, S. 59–85; zum Musterhaus Schirren, Matthias (Hg.): Hans Poelzig. Die Pläne und Zeichnungen aus dem ehemaligen Verkehrs- und Baumuseum in Berlin. Berlin: Ernst, 1989, S. 43. Den Katalog zur Sonderausstellung verfasste Buchwald, Conrad: Sonderausstellung des Kunstgewerbevereins für Breslau und die Provinz Schlesien. Breslau: o. V., 1904; außerdem Masner, Karl: Das Einfamilienhaus des Kunstgewerbevereins für Breslau und die Provinz Schlesien auf der Ausstellung für Handwerk und Kunstgewerbe in Breslau 1904. Berlin: Wasmuth, 1905. Buchwald, Conrad: Das Einfamilienhaus. Sonderdruck der Schlesischen Zeitung vom 31. 07. 1904, S. 4, 6. Muthesius, Hermann: Das moderne Landhaus und seine innere Ausstattung. München: Bruckmann, 1904 (2. verb. und verm. Aufl. München 1905; weitere Aufl. 1910). Der Einfluss

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wußt« zu werden – ohne diese zu kopieren.44 Die Vorstellungen der Heimatschutzbewegung verbanden sich mit den Bestrebungen zur Reform des Wohnens in der Großstadt. Das ephemere Musterhaus von 1904 war Poelzigs erstes Projekt, das er ohne Rücksicht auf bereits bestehende Bausubstanz realisieren konnte. [abb. 4, 5] Das Innere des Hauses war durch eine zweigeschossige Halle erschlossen, von welcher die Haupttreppe ins Obergeschoss führte. Im Erdgeschoss lagen Arbeitszimmer, Küche und Mädchenzimmer sowie die Wohnräume, die durch Falttüren vereinigt werden konnten – ein flexibles Raumkonzept löste die Repräsentationsräume der Villa ab. Im ersten Stock befanden sich Schlafräume, Badezimmer, Fremdenzimmer sowie ein Spielzimmer mit einer wettergeschützten Loggia, die den Kindern – den lebensreformerischen Idealen entsprechend – auch bei Regenwetter den Aufenthalt an der frischen Luft ermöglichte. Im Dachgeschoss, das auf der Ausstellung nicht ausgebaut war, waren Waschküche und Bügelzimmer geplant. Die Hausfronten waren durch Erkervorbauten sowie durch unterschiedlich große Fenster- und Türöffnungen gegliedert, deren Anordnung sich, so Poelzig, aus der Grundrissgestaltung ergeben habe.45 Dieses »Bauen von Innen nach Außen« erhob die Moderne zum Grundprinzip, doch selbstverständlich verwandten die Architekten ihre Sorgfalt weiterhin auf die Gestaltung des Außenbaus und die Wohlausgewogenheit der Proportionen. Poelzig enttäuschte seine Auftraggeber nicht. Mit seinem Musterhaus kreierte er eine äußerst originelle, »schlesische« Landhaus-Variante, deren motivische Anleihen unübersehbar waren: Die steile Dachform mit den geschwungenen und einseitig herabgezogenen Flächen ist typisch für Bauernhäuser im Riesengebirge. Die hohen Giebelwände, die bei den Bauernhäusern holzverschalt oder mit Schiefer verschindelt sind, verkleidete Poelzig mit einem Ziegelbehang. Mit der ausladenden Gaube des Fremdenzimmers variierte er die sogenannte Frankspitze (breite und hohe Giebelaufbauten, in denen sich das unbeheizte »Sommerstibla« befand) – und setzte ihr ein Dach auf, das wiederum an die Apsidenbildung der Schrotholzkirchen erinnert. Neben den architektonischen Gliederungselementen spielte die Farbgebung eine wichtige Rolle: Die zeitgenössischen Kommentatoren beschrieben das harmonische Zusammenspiel von weißem Putz, roten Ziegeln und

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der englischen Landhausarchitektur wurde in Deutschland spätestens seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wirksam; Breitenwirkung erzielten jedoch erst Muthesius’ Publikationen zum Thema seit 1900. Vgl. dazu Hubrich, Hans-Joachim: Hermann Muthesius. Berlin: Gebr. Mann, 1981, S. 43–68. Muthesius, Hermann: Das moderne Landhaus und seine innere Ausstattung. 320 Abbildungen moderner Landhäuser aus Deutschland, Österreich, England und Finnland mit Grundrissen und Innenräumen. 2. verb. und verm. Auflage. München: Bruckmann, 1905, S. XII. Poelzig, Hans: »Das Musterhaus auf der Ausstellung für Handwerk und Kunstgewerbe in Breslau«, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 24, 1904, S. 547–548, S. 547.

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den blau und grün gestrichenen Fensterläden. Passend zur Architektur ließ Poelzig um das Haus einen typischen Bauerngarten mit Blumen- und Gemüsebeeten anlegen. In den Beschreibungen des Musterhauses von Masner und Buchwald wird denn auch die »demonstrative Ähnlichkeit [...] im Äußeren mit dem deutschen, genauer gesagt mit dem schlesischen Bauernhaus«46 mehrfach unterstrichen. Sein den Bedürfnissen der Bewohner angepasster und daher unregelmäßiger, »zur Pflege der Häuslichkeit« geeigneter »germanischer« Grundriss wird einem starr-geometrischen »romanischen« entgegengestellt und zur Erklärung vermeintlicher Charaktereigenschaften der jeweiligen Völker herangezogen. Das »hohe, über dem Haus sich schützend herabsenkende Dach« galt den Autoren als »Kennzeichen deutscher Bauart«. Buchwald nannte es »eine Lust, in seiner [Poelzigs] Formensprache zu studieren, was uns Deutschen eigenartig ist, was uns von anderen Völkern unterscheidet und was wir mit Selbstbewußtsein pflegen sollen, um unserem angestammten Volkstum treu zu bleiben.«47 Derartige Deutungsversuche kultureller Erscheinungen einer Region in Abhängigkeit von einem per se postulierten Kollektivcharakter ihrer Bewohner gewannen im zeitgenössischen Diskurs zunehmend an Bedeutung. Eine theoretische Grundlage lieferte Wilhelm Wundts einflussreiche Publikation zur Völkerpsychologie (1900–1920);48 die Geisteswissenschaften entwickelten hieraus problematische Interpretationssysteme nach »Stammeseigenschaften« die dann auch politisch instrumentalisiert wurden.49 Im Kontext der Suche nach nationalen Ausdrucksformen in der europäischen Kunst um 1900 sind die Äußerungen von Masner und Buchwald nicht außergewöhnlich; charakteristisch für die deutsche Situation ist das bereits angesprochene Verständnis vom Aufgehen der regionalen in der nationalen Kultur. Poelzig selbst enthielt sich einer »völkerpsychologischen« Deutung seiner Bauten. In seinem kurzen Bericht über das Musterhaus stellte er die sach-

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Masner: Das Einfamilienhaus, S. 8. Buchwald: Sonderdruck, S. 9. Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. 10 Bde. Leipzig: Engelmann, 1900–1920. Vgl. Oelze, Berthold: Wilhelm Wundt: Die Konzeption der Völkerpychologie. Münster u. a.: Waxmann, 1990. Vorbildcharakter für die anderen Geisteswissenschaften hatte Nadler, Josef: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In der Kunstgeschichte fragte die »Kunstgeografie« nach völkerpsychologischen, klimatischen, topografischen Bedingungen künstlerischer Produktion (u. a. Kurt Gerstenberg, Wilhelm Pinder, Dagobert Frey). In der NS-Zeit wurden nach diesen vagen Kriterien konfrontative Abgrenzungen vorgenommen und kulturpolitische Einflusssphären abgesteckt, um die Expansionspolitik des Deutschen Reiches zu unterstützen. Vgl. Störtkuhl, Beate: »Paradigmen und Methoden der kunstgeschichtlichen ›Ostforschung‹ – der ›Fall‹ Dagobert Frey«, in: Born, Robert /Janatková, Alena / Labuda, Adam S. (Hg.): Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs (Humboldt-Schriften zur Kunst und Bildgeschichte 1). Berlin: Gebr. Mann, 2004, S. 155–172.

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lichen Aspekte heraus, die ihn beim Bau geleitet hatten.50 Doch auch wenn Poelzig eine national-pathetische Auslegung der Bauformen fern lag, muss die auch von den Kritikern stets gerühmte Zweckmäßigkeit hinterfragt und die Außengestaltung vor dem Hintergrund einer bewussten Traditionspflege bewertet werden: Die Kosten für das ausladende Dach sowie für die Verkleidung der Giebel und des Obergeschosses standen nicht im Verhältnis zu ihrem praktischen Nutzen – schließlich musste das Haus sich nicht im Gebirgsklima bewähren.51 Sie erfüllten die rein ästhetische Funktion, den anheimelnden Charakter des Baus zu verstärken. Gleiches gilt für die Fenster, die zur Belichtung der Räume größer hätten sein können, aber zu Gunsten der Gesamtwirkung als kleine Öffnungen in der schützenden Wand gestaltet waren. Diese Motive dienten also, auch wenn sie Bestandteile der Architektur und keine aufgesetzten Ornamente waren, ebenso als Schmuckelemente wie die viel geschmähten Dekorationsformen des Historismus und des Jugendstils. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Poelzigs Musterhaus, sondern für den Landhausbau allgemein. War damit die Befreiung von »einer äußerlichen, malerischen Auffassung« hin zu »einer gesunden Konstruktion«, die gerade Poelzig so vehement einforderte,52 gescheitert? Aus zeitgenössischer Perspektive keineswegs – der Innovationsschub des »modernen Landhauses« gegenüber der historistischen Gründerzeitvilla war überzeugend. Tatsächlich waren die Landhäuser ja keine Stilkopien, die motivischen Anleihen wurden kreativ weiterentwickelt, um den gewünschten Eindruck von Gemütlichkeit und Naturnähe zu vermitteln. Dass die Orientierung an ländlichen Bautraditionen letztlich auch eine Art von Historismus sein kann, wurde in dieser Phase der Architekturreform noch nicht problematisiert – als sich bald darauf eine Schematisierung des Heimatstils abzeichnete, war Poelzig einer der ersten, der dies erkannte. Doch zunächst brachte das Musterhaus von 1904 Poelzig und seiner Schule überregionale Aufmerksamkeit, vor allem auch als gelungenes Beispiel für die Umsetzung der Kunstschulreform. Poelzig forcierte das von Kühn angeregte Ineinandergreifen von künstlerischer und handwerklicher Ausbildung und trat mit den Produkten an die Öffentlichkeit. Im Unterschied zu vergleichbaren Einrichtungen, beispielsweise zur Weimarer Kunstgewerbeschule unter Henry van de Velde (seit 1902) oder zur Düsseldorfer Kunstge50

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Poelzig: »Das Musterhaus«. Erst Anfang der 1920er Jahre meldete sich Poelzig in den von der Gotikforschung (Wilhelm Worringer, Karl Scheffler) angestoßenen Debatten über »nationale« Besonderheiten der europäischen Architekturstile zu Wort; z. B. Poelzig, Hans: »Festspielhaus in Salzburg. Rede auf der Generalversammlung der Salzburger Festspielhaus-Gemeinde«, in: Das Kunstblatt 5, 1921, S. 77–88. Vgl. auch Dillmann, Claudia: »Wirklichkeit im Spiel. Film und Filmarchitektur«, in: Pehnt /Schirren: Hans Poelzig, S. 145–146. Masner, Karl: Das Einfamilienhaus, S. 9, deutet dies an, verteidigt die Lösung aber aufgrund der Gesamtwirkung. Poelzig: »Architektur«, S. 491.

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werbeschule unter Peter Behrens (seit 1903), ließ Poelzig die Schüler nicht nur in den Lehrwerkstätten arbeiten, sondern band sie in die Werkpraxis ein. In den folgenden Jahren realisierte die Schule weitere Projekte von der Bauplanung bis zur Innenraumgestaltung, wie etwa die Kirche von Maltsch und das Löwenberger Rathaus – ein Prinzip, das der Schule die Charakterisierung als »Bauhaus vor dem Bauhaus« einbrachte.53 Auch an der Innenausstattung des Musterhauses – bis hin zum Flügel und den Vorhangsstoffen – waren alle Werkbereiche der Kunst- und Kunstgewerbeschule, Lehrer und Schüler, beteiligt.54 Bäuerliche Vorbilder spielten hier keine Rolle. Die Einrichtung entsprach dem neuen Verlangen nach »sachlichen« Formen − im Kontrast zur Plüschigkeit der Gründerzeitsalons. Ein wichtiges Gestaltungsmittel war auch im Inneren die Farbe, selbst auf den Schwarzweißaufnahmen sind kräftige Nuancierungen zu erkennen. Die Brüstung von Treppe und Emporen in der Halle erinnert in Form und Farbgebung (weiß-schwarz beziehungsweise dunkel abgesetzt) an den »geometrischen Jugendstil«, den Josef Hoffmann nach 1901 in Wien populär machte. Dies gilt ebenso für die Innenraumgestaltung (besonders die Emporen) der Dorfkirche in Maltsch – ein Beleg dafür, dass der Austausch zwischen Wien und Breslau ungeachtet der anfänglichen Skepsis Poelzigs gegenüber der Wagner-Schule funktionierte. Poelzig lehnte die applizierten Dekorationen des Jugendstils ab, das strukturierende Ornament Hoffmanns hingegen war seinem Putzornament der Kirchenbauten durchaus verwandt. Die Anregungen, aus denen Poelzig sein »schlesisches« Landhaus entwickelte, waren vielfältig. Neben seiner denkmalpflegerischen Tätigkeit ist die Freundschaft mit den Gebrüdern Hauptmann zu nennen, die mit einigen ihrer Berliner Freunde aus dem Friedrichshagener Kreis in Schreiberhau im Riesengebirge (Szklarska Pore˛ba) alte Bauernhäuser aufkauften und als Domizile herrichteten.55 [abb. 6] Der polnische Dichter Stanisław Przybyszewski war vermutlich das Bindeglied der Friedrichshagener zur Krakauer Bohème. Dort ließen sich die Literaten und Künstler des »Jungen Polen« (Młoda Polska) um Stanisław Wyspian´ski besonders von der bäuerlichen Kultur der Karpatenregion inspirieren. Im Gebirgsdorf Zakopane entstand zeitgleich wie in Schreiberhau eine Künstlerkolonie. 1892–1893 errichtete 53

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Frank, Hartmut: »Ein Bauhaus vor dem Bauhaus«, in: Bauwelt 74, 1983, S. 1640–1657. Entwürfe, die nicht in den Werkstätten der Schule umgesetzt werden konnten, wurden von örtlichen Fachbetrieben realisiert. Dennoch gab es aus Furcht vor Konkurrenz Proteste des Handwerks, so dass die Schule nach 1909 kaum noch öffentliche Aufträge übernehmen konnte. Masner: Das Einfamilienhaus, S. 17; Bericht der Königlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule für das Jahr 1903/04. Breslau: [o. V.], 1905, S. 1. Koeppen: »Zur Wiederbelebung schlesischer Bauernhäuser« Vgl. Störtkuhl, Beate / Ilkosz, Jerzy: »Bauernhaus und Turmvilla – zur Architektur der Künstlerkolonie im Riesengebirge«, in: Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch, Museum in Schreiberhau / Muzeum w

Hans Poelzig in Schlesien

Stanisław Witkiewicz ein erstes Wohnhaus (Villa Koliba) in Anlehnung an die Bauernhäuser der Region; dieser »Zakopane-Stil« (Styl Zakopian´ski) wurde zum »polnischen« Nationalstil verklärt.56 Auch in Böhmen gestaltete beispielsweise der Wagner-Schüler Jan Kote˛ra Landhausbauten in den Prager Villenvierteln mit Motiven der »tschechischen« Volkskunst, die als Symbole nationaler Identität zu lesen waren. Poelzig errichtete noch drei weitere Wohnbauten im »schlesischen« Heimatstil. Für sein eigenes Haus (1905 / 1906; abgebrochen 1964) in der neuen Breslauer Villenkolonie Leerbeutel (Zalesie) [abb. 7] übernahm er einige Elemente der Raumgestaltung aus dem nach der Ausstellung abgebrochenen Musterhaus von 1904, unter anderem das Treppenhaus und die Empore der zentralen Halle. Tief herabgezogene Dachflächen, Ziegelbehang der Giebel, Gauben und »Fachwerkputz« sorgen auch hier wieder für eine regionalspezifische Anmutung. 1909 erhielt Poelzig vom Löwenberger Apothekerehepaar Zwirner den Auftrag zum Bau ihres Wohnhauses, das zugleich als Knabenpensionat dienen sollte. [abb. 8] Die Bekanntschaft zwischen den Familien Poelzig und Zwirner hatte sich durch den Umbau des Löwenberger Rathauses ergeben. Zwirner, der ehrenamtlich ein Heimatmuseum eingerichtet hatte und daraufhin zum (ebenfalls ehrenamtlichen) Landschaftspfleger bestellt worden war, fand naturgemäß Gefallen an Poelzigs »schlesischer« Formensprache. Ebenso wie in der Heimatschutzbewegung engagierten seine Frau und er sich auch in der Wandervogelbewegung. Aus dieser Jugendarbeit entstand die Idee, erzieherisch zu wirken. Das geplante Haus sollte ein gemeinschaftliches Wohnen der Familie Zwirner mit ihren Kindern und den Alumnen, auswärtigen Schülern des Löwenberger Gymnasiums, ermöglichen. Außerdem war die kleine Likörfabrik des Hausherrn im Untergeschoss unterzubringen. Dieses Raumprogramm ermöglichte es Poelzig, das Formenrepertoire seiner Einfamilienhäuser in ein größeres Format zu übertragen. Mit seinem apsidenartigen Erker und den großen, leicht geschwungenen Dachformen bildete der Bau einen markanten Blickfang in der Landschaft, passte sich jedoch der Hanglage harmonisch an (es wurde 1945 zerstört). 1910–1912 projektierte der Architekt schließlich noch das Pfarrhaus in Maltsch passend zu seinem schon bestehenden Kirchenbau. Weitere Aufträge für Wohnhäuser im »schlesischen« Heimatstil folgten nicht – ungeachtet des Kritikerlobs waren Poelzigs Wohnbauten wohl zu individualistisch und ausgefallen für ein breiteres Publikum. So lässt sich im Gefolge von Poelzigs

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Szklarskiej Pore˛bie (Hg.): Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert. Wrocław u. a., 1999, S. 104–126. Szczerski, Andrzej: »The Arts and Crafts Movement in Poland: in Search of a National Utopia«, in: Centropa 4, 2004, S. 203–217. Crowley, David: »Finding Poland in the Margins. The Case of the Zakopane Style« in: Journal of Design History 14 /2, 2001, S. 105–116.

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Musterhaus zwar ein »Boom« der Landhausarchitektur in Breslaus Villenvierteln konstatieren, doch könnten die meisten Häuser in jeder anderen deutschen Stadt stehen – die »schlesischen« Komponenten fehlten. Denn unterstützt von »Musterbüchern«, wie etwa den Publikationen von Hermann Muthesius, bildete sich rasch ein Typenkanon der Landhausarchitektur heraus: ein am niederdeutschen Hallenhaus orientierter Typ mit Krüppelwalmdach und ein am »vormärzlichen Bürgerhaus« ausgerichteter Typ mit Mansarddach, jeweils kombiniert mit Stimmungsmotiven wie Gauben, Fensterläden, Pflanzenspalieren etc.. Diese heimelig wirkende Bauweise funktionierte überregional und signalisierte dennoch Bodenständigkeit und Naturverbundenheit. In bescheideneren Formen und Dimensionen wurden diese Haustypen im Siedlungsbau übernommen, der angesichts der Wohnungsprobleme in den Großstädten zu einem Hauptaufgabenfeld der Reformarchitekten wurde. Nur in einem Fall scheint Poelzigs kreative Umdeutung der schlesischen Bautradition Nachfolge gefunden zu haben: Der Generaldirektor der Bergwerksgesellschaft Georg von Gieschess Erben, Anton Uthemann, kannte Poelzigs Konzept vermutlich aus eigener Anschauung der Ausstellung von 1904 und ließ sich davon inspirieren, als die Gesellschaft 1906 das Bergarbeiterdorf Gieschewald (Giszowiec) bei Kattowitz plante. Uthemann beauftragte die Berliner Architekten Emil und Georg Zillmann, zunächst »in Oberschlesien und seinen Grenzgebieten die alten Blockbauhäuser zu studieren«57 und diese zur Entwurfsgrundlage zu machen. Die Architekten entwickelten die typische Hausform der ländlichen Regionen Oberschlesiens und Kleinpolens zu Doppelhaustypen weiter. Anstelle der traditionellen Holzbauweise wurden die Häuser gemauert, doch übernahm man die charakteristische Holzschindeldeckung. Die Arbeitersiedlung wurde als Gartenstadt angelegt – noch vor Hellerau setzte man hier das ebenfalls aus England übernommene, zukunftsweisende Siedlungsmodell um. Einen ähnlich individuellen Regionalbezug wie Poelzig und die Zillmanns stellte innerhalb der deutschen Architekturgeschichte lediglich Paul Schmitthenner in der Gartenstadt Staaken bei Berlin (1913–1918) her; als Inspirationsquelle diente ihm das kleinstädtisch geprägte Holländische Viertel im benachbarten Potsdam aus dem 18. Jahrhundert.58 Als erstes eigenständiges Projekt hatte Schmitthenner unmittelbar davor den Bau der (unvollendet gebliebenen) Gartenstadt Carlowitz in Breslau geleitet und ein Musterhaus auf der Jahrhundertausstellung 1913 entworfen, deren architektonische 57

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Reuffurth, Hermann: Gieschewald, ein neues oberschlesisches Bergarbeiterdorf der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben nach Entwürfen der Architekten E. und G. Zillmann. Kattowitz: Böhm, 1910, S. 17f. Kiem, Karl: Die Gartenstadt Staaken (1914–1917). Typen, Gruppen, Varianten. Berlin: Gebr. Mann, 1996.

Hans Poelzig in Schlesien

Gestaltung in den Händen von Max Berg und Hans Poelzig lag – mit Sicherheit lernte er seinen späteren Duzfreund Poelzig damals kennen und dessen Werk schätzen.59 Der großen Faszination für die ländlichen Architekturvorbilder folgte in ganz Europa schon bald die Ernüchterung hinsichtlich des tatsächlichen Reformpotenzials des Heimatstils – weder ein repräsentativer »Nationalstil«60 noch eine beispielsweise von Poelzig ersehnte »neue Architekturweltsprache«61 konnten auf diesem Wege gefunden werden. Der Heimatstil eignete sich nur für bestimmte Bauaufgaben, bei denen Gefühlswerte wie Geborgenheit, Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit angesprochen werden sollten. Die aktuellen Bedürfnisse der Großstadtarchitektur und die Anforderungen der Industriekultur konnten damit nicht bewältigt werden. In Deutschland lieferte diese Erkenntnis einen Anstoß zur Gründung einer neuen Vereinigung, die sich der Qualitätsverbesserung und -sicherung der deutschen Industriekultur, des Kunstgewerbes und der Architektur verschrieb – nicht zuletzt, um der Nation eine führende Stellung auf dem Weltmarkt zu sichern.62 An der Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 war eine Reihe von Kulturschaffenden und Politikern beteiligt, die sich auch im Bund für Heimatschutz engagierten: Zu den Initiatoren gehörten unter anderen Paul Schultze-Naumburg, Theodor Fischer und Richard Riemerschmid, Hermann Muthesius, der im preußischen Handelsministerium eine Schlüsselposition hinsichtlich der Förderung des Kunstgewerbes innehatte, und der Politiker Friedrich Naumann. Poelzig schloss sich dem Werkbund bald nach der Gründung an. In der Folge gab es immer wieder Diskussionen über das Verhältnis des Werkbundes zu den Heimatschutzbestrebungen. Zum Bruch zwischen Heimatschützern und Avantgarde kam es jedoch erst im Vorfeld der Stuttgarter Werkbundausstellung 1927 und der Mustersiedlung des Neuen Bauens am Weißenhof. Bei Poelzig dürfte die Einsicht der Beschränktheit des Heimatstils in engem Zusammenhang mit dem (wegen fehlender Sponsoren nicht realisierten) Entwurf für einen Schlesischen Pavillon auf der Dresdener Kunstgewer59

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Wie Poelzig war auch Schmitthenner (1884–1972) Schüler von Carl Schäfer, allerdings während dessen Zeit an der TH Karlsruhe (1894–1907). 1934, als Schmitthenner einigen Einfluss in der NS-Kulturpolitik besaß, bat Poelzig ihn um Intervention gegen persönliche Diskreditierungen; vgl. Pehnt, Wolfgang: »Wille zum Ausdruck«, in: Pehnt /Schirren: Hans Poelzig, S. 47–51, 207–208. Die disparaten Vorstellungen und Versuche der Entwicklung gut zusammengefasst bei Hofer: Reformarchitektur, S. 27–29. Poelzig: »Architektur«, S. 489: »[...] energische Versuche, eine neue Architekturweltsprache zu erfinden, deren Gefüge und Wurzeln keinem der bisherigen Stile entsprechen oder gleichen sollten.« Zur Geschichte des Werkbunds aktuell und mit ausführlicher Bibliografie siehe Nerdinger (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund; außerdem Campbell, Joan: Der Deutsche Werkbund 1907–1934. Stuttgart: Klett-Cotta, 1981.

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beausstellung 1906 gestanden haben, der ihm, obgleich nicht signiert, mit Sicherheit zuzuschreiben ist. [abb. 9] Entwurfszeichnung und Grundriss der Ausstellungshalle wurden mit einer Erläuterung von Karl Masner im April 1905 in der Schlesischen Zeitung veröffentlicht. Die Halle sollte als Werbebau des Oberschlesischen Stahlwerksverbands vollständig aus Stahl errichtet werden, um darin »Werke der schlesische[n] Volkskunst und Kunstindustrie [...]« zu präsentieren.63 Nach Ausstellungsende war eine museale Nutzung in einem künftigen Freilichtmuseum in Schlesien geplant. Eine Gestaltung der Halle im »schlesischen« Heimatstil erschien daher durchaus angebracht. Der Architekt ließ sich offensichtlich von den Umrissen der beiden schlesischen Friedenkirchen in Schweidnitz und Jauer inspirieren. Die Fachwerkkonstruktion der Kirchen kehrt hier in der Strukturierung der Fronten durch die einzelnen Stahlplatten wieder – eine Abstraktion, vergleichbar der Putzstruktur von Poelzigs Kirchenbauten und seinen Wohnhäusern in Breslau und Löwenberg. An Poelzigs gleichzeitige Projekte erinnern auch die tief herabgezogenen Dachflächen, die überdimensionierten Gauben sowie die wuchtigen Proportionen. Die Entwurfszeichnung macht die Problematik einer Übertragung der Heimatstil-Ästhetik in einen großen Maßstab deutlich: Es entsteht der Eindruck einer überdimensionierten Scheune. Die Ausführung in industrieller Stahlbauweise hätte das Missverhältnis zwischen Dimension, Form und Material noch gesteigert. Es gab keinen weiteren Versuch Poelzigs, den Heimatstil für andere Aufgaben als den Wohnbau oder kleinstädtische beziehungsweise ländliche Bauten zu nutzen. In seinem zweiten, 1911 erschienenen Grundsatztext Der neuzeitliche Fabrikbau wandte er sich dann explizit dagegen, »den Fabrikbau von heut im Gewand der alten guten Zeit auftreten zu lassen«.64 Mit dieser Bemerkung übte er offensichtlich Kritik am Neubau der Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau von Richard Riemerschmid (1909–1911), der die Fabrik ebenso wie die Wohnhäuser der zugehörigen Gartenstadt im Heimatstil des »vormärzlichen Bürgerhauses« errichtet hatte. [abb. 11] Gleichsam den Gegenentwurf lieferte Poelzig mit dem Komplex der zeitgleich errichteten Düngemittelfabrik Moritz Milch in Luban (Lubon´) südlich von Posen (1909–1911). [abb. 10] Dies wurde auch von der zeitgenössischen Kritik so aufgefasst: Adolf Behne nannte Poelzig den »Logiker«, Riemerschmid den

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Masner, Karl: Schlesische Zeitung vom 7. 4. 1905, Nr. 247, 2. Bogen; vgl. Lukaszewicz, Piotr: »Entwurfsskizze für einen Schlesischen Pavillon auf der Dresdener Kunstgewerbeausstellung 1906«, in: Ilkosz /Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 517f. Poelzig, Hans: »Der neuzeitliche Fabrikbau«, in: Der Industriebau 2, 1911, S. 100–105, S. 101: »So unmöglich es schon ist, einem konsequent sich unserem heutigen Bedürfnis anschmiegenden Wohnhaus das gleichmäßige Antlitz des vormärzlichen Bürgerhauses zu geben, umso mehr ist es ausgeschlossen, den Fabrikbau von heut im Gewand der alten guten Zeit auftreten zu lassen [...]«; ders.: »Architekturfragen« S. 193 (vgl. Anm. 2).

Hans Poelzig in Schlesien

»Romantiker« des Industriebaus.65 Für die kleine Arbeitersiedlung am Rande der Fabrik entwickelte Poelzig Häuser in einem typisierten Heimatstil, ohne die expressiven und kostspieligen Details seiner »schlesischen« Wohnbauten. Bei der Disposition der Fabrikgebäude und der Gliederung der Baukörper folgte der Architekt den Vorgaben der Produktionsabläufe. Gleichzeitig verlieh er der Anlage ein ausgesprochen monumental-repräsentatives Erscheinungsbild: Die Expressivität der mehrfach gestuften Dachlandschaft der Superphosphat-Fabrik wurde durch die Ausformung der (wegen der Korrosionsgefahr) hölzernen Dachrinnen und Abflussrohre gesteigert, die mächtigen Staffelgiebel der Schwefelsäure-Fabrik und das basilikale Innere des Lagerschuppens bereiten die expressionistischen Visionen der »Kathedralen der Arbeit« der frühen zwanziger Jahre vor. Beim Bau des Geschäftshauses an der Junkernstraße (Ecke ul. Ofiar Os´wie˛cimskich/ul. Łaciarska, 1911–1913) in der Großstadt Breslau ließ sich Poelzig dann von amerikanischen Vorbildern mit vergleichbarer Funktion inspirieren. Anstelle der zunächst geplanten, konventionellen Gliederung durch vertikale Wandvorlagen führte er eine horizontale Unterteilung des Baus in Mauer- und Fensterbänder ein. [abb. 12] Die neue Stahlskelettbauweise ermöglichte es, die Fensterbänder nur mehr durch schmale Stützen zu unterbrechen und damit das konstruktive Skelett des Baus sichtbar zu lassen. Poelzigs Geschäftshaus mit der dynamischen Rundung wurde zum formalen und funktionalen Prototyp für das Neue Bauen der zwanziger Jahre, etwa für die Kaufhaus-Architektur Erich Mendelsohns. Im bereits mehrfach zitierten Katalogbeitrag für die Dresdener Kunstgewerbeausstellung 1906 benannte Poelzig die Funktion des Baus, seine Struktur (»Tektonik«) und die Eigenschaften der Baumaterialien als Ausgangspunkte der schöpferischen Arbeit des Architekten. Er selbst setzte dieses Postulat konsequent in die Praxis um und fand so für jede Bauaufgabe eine individu-elle Lösung; formal abgrenzbare Werkabschnitte wie etwa Peter Behrens’ »klassizistische« Phase lassen sich bei ihm kaum ausmachen. Wie ein geschulter und kreativer Redner suchte er je nach Auftrag nach dem angemessenen Modus. Für einen Repräsentationsbau wie das Berliner Opernhaus (1910; Wettbewerbsentwurf) nahm Poelzig Anleihen beim Hochbarock in seiner monumentalen, römischen Prägung. Für moderne Bauaufgaben wie den Fabrikbau oder das großstädtische Geschäftshaus entwickelte er neue, zukunftsweisende Bautypen. Der Heimatstil war die rhetorisch angemessene Figur für das kleinstädtische Rathaus von Löwenberg oder die Dorfkirchen in Wültschkau und Maltsch, auch seine »schlesischen« Wohnhäuser waren orts- und zweckgebundene Schöpfungen. 65

Behne, Adolf: »Romantiker, Pathetiker und Logiker im modernen Industriebau«, in: Preußische Jahrbücher Bd. 154, 1913, S. 171–174.

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Poelzigs Bauen im Heimatstil hatte nichts mit Rückwärtsgewandtheit zu tun. Sein Engagement für die Pflege und den Erhalt der Kulturlandschaft entsprang dem Wunsch, künstlerische Innovation und Tradition in Einklang zu bringen und weiterzuvermitteln. Unter diesen Prämissen gehörte er 1910 mit dem Breslauer Stadtbaurat Max Berg, Carl und Gerhart Hauptmann – Persönlichkeiten, die gleichermaßen für künstlerische und gesellschaftliche Reformen einstanden66 – zu den Begründern des Schlesischen Bundes für Heimatschutz als regionale Abteilung des Deutschen Bundes für Heimatschutz. Der Bund gewann starken Rückhalt in meinungsbildenden Schichten – mit annähernd tausend Mitgliedern war er Anfang der 1920er Jahre »wohl der größte der schlesischen kulturellen Verbände«.67 Eine seiner publikumswirksamsten Unternehmungen war eine denkmalpflegerische Maßnahme: Im Rahmen der Breslauer Jahrhundert-Ausstellung 1913, für die Max Berg die innovative Stahlbetonkuppel der Jahrhunderthalle errichtete, translozierte der Bund eine vom Abriss bedrohte Schrotholzkirche aus dem 17. Jahrhundert vom oberschlesischen Cosel (Ke˛drzierzyn´ Koz´le) in den Scheitniger Park. Die Kirche bildete den Mittelpunkt der »Friedhofsausstellung«, die dem Publikum Gartenkunst und Kunsthandwerk für eine ästhetisch anspruchsvolle und landschaftsgebundene Gestaltung von Friedhöfen nahebringen sollte. Schüler der Akademie für Kunst und Kunsthandwerk (die Schule war 1911 umbenannt worden) malten den Innenraum unter Anleitung ihres Lehrers Fryderyk Pautsch aus. Poelzig hatte Pautsch auf einer Ausstellung in Wien kennengelernt und war fasziniert von dessen Motiven aus dem Volksleben der Karpaten in den intensiven Farben bäuerlichen Kunsthandwerks.68 1912 holte er ihn an die Akademie, weil er bei Pautsch eine verwandte Kunstauffassung erkannte. Diese Berufung eines »slawischen« Künstlers ungeachtet der nationalen Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg belegt ein weiteres Mal, dass Poelzig den Heimatstil in erster Linie als einen Weg der künstlerischen Reform begriff, dessen Möglichkeiten er bei gegebenem Anlass ausschöpfte. Anders als etwa der langjährige Vorsitzende des Deutschen Bundes für Heimatschutz, Paul Schultze-Naumburg, maß er dem Heimatstil keine ideologische Bedeutung zu – dementsprechend distanziert verhielt er sich nach dem Ersten Weltkrieg, als die Heimatschutzbewegung in Konfrontation zu den neuen Reformern – zur Avantgarde des Neuen Bauens – ging. Aus dem Kampf ums »deutsche 66

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Ilkosz, Jerzy: Die Jahrhunderthalle und das Ausstellungsgelände in Breslau – Das Werk Max Bergs. München: Oldenbourg, 2006; Scharfen, Klaus: Gerhart Hauptmann im Spannungsfeld von Kultur und Politik 1880 bis 1919. Bristol: Tenea, 2005. Archiwum Pan ´stwowe we Wrocławiu [Staatsarchiv Breslau, weiter abgekürzt APW]: Wydział ´la˛skiej 1181: »Schlesischer Bund für Heimatschutz«, S. 12. Der Samorza˛dowy Prowincji S Bund wies auch in Schlesien die charakteristische Mitgliederstruktur aus Künstlern, Intellektuellen und Vertretern aus Politik und Wirtschaft auf. Vgl. Ilkosz, Barbara: »Hans Poelzig und der Künstlerbund Schlesien«, in: Ilkosz /Störtkuhl: Hans Poelzig, S. 51–75, S. 69f.

Hans Poelzig in Schlesien

Dach«, den Schultze-Naumburg, Schmitthenner und andere führten,69 hielt Poelzig sich heraus. 1927 beteiligte er sich mit einem kubisch-flachen Einfamilienhaus an der Stuttgarter Werkbundsiedlung Am Weißenhof, dem Manifest des Neuen Bauens. 1928 baute er auf Einladung von Heinrich Tessenow und Paul Schmitthenner in der Siedlung Berlin-Fischtalgrund, die als Gegenentwurf zur Weißenhofsiedlung sowie zur benachbarten Siedlung »Onkel Toms Hütte« von Bruno Taut verstanden wurde. Seine beiden Häuser dort folgten allerdings nicht dem typisierten Heimatstil der übrigen Bauten mit Satteldach, Sprossenfenster und Fensterläden. Poelzig blieb Individualist: Das steile Dach ist eingespannt zwischen breite Giebelwände und auf der Gartenseite verkürzt zugunsten eines durchgehenden Balkons im Obergeschoss – eine Reminiszenz an die Sonnenterassen des Neuen Bauens. Poelzig hatte Breslau 1916 verlassen; nach vierjähriger Tätigkeit als Stadtbaurat in Dresden lebte er seit 1920 in Berlin. Da Schlesien von den neuen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg – vor allem durch die Teilung Oberschlesiens – besonders betroffen war, verstärkten sich die nationalistischen Tendenzen in Politik und Kulturleben der Region. Dies galt auch für den Schlesischen Bund für Heimatschutz, der sich als »Aushängeschild deutscher Kultur im Osten« verstand.70 Dennoch blieb der Bund sich zunächst noch der Position Schlesiens als »Umschlagshafen für deutsche und slawische Kultur« bewusst.71 Auch wahrte er bis zum Bruch zwischen Traditionalisten und Avantgarde Mitte der 1920er Jahre seine künstlerisch liberale Haltung. Dafür sorgten die Verflechtungen mit der Kunstakademie, die unter Poelzigs Nachfolgern August Endell und Oskar Moll ihre progressive Linie fortsetzte, sowie dem Breslauer Stadtbauamt unter Max Berg. Als Berg 1920 wegen seiner Entwürfe für ein Hochhaus neben dem gotischen Rathaus am Breslauer Ring unter Beschuss geriet, erhielt er Unterstützung durch eine Allianz (mit personellen Überschneidungen) aus Heimatschutzbund, Vertretern des Deutschen Werkbunds, dem Künstlerbund Schlesien, den Leitern der Breslauer Museen und dem Provinzialkonservator Ludwig Burgemeister. Die Unterzeichner verteidigten Bergs Hochhausplanungen als Teil der erforderlichen modernen Citybildung und bilanzierten: »Soweit Bauen künstlerisches Schaffen bedeutet, soll und muß es unabhängig sein von sentimentaler Rücksichtnahme«72 – ein Plädoyer für die schöpferische Arbeit, das Poelzig ohne weiteres unterschrieben hätte.

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Z. B. Schultze-Naumburg, Paul: Flaches oder geneigtes Dach? Berlin: Seger & Cramer, 1927; ders.: Das Gesicht des deutschen Hauses. München: Callwey, 1929; vgl. auch Anm. 5. ´la APW, Wydział Samorza ˛dowy Prowincji S ˛skiej 1181: »Schlesischer Bund für Heimatschutz«, S. 109. Ebda. APW, Wydział Samorza˛dowy Prowincji S´la˛skiej 1189: »Bund für Heimatschutz 1911–1923«, S. 83.

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Hans Poelzig: Realisierter Entwurf der Dorfkirche in Wültschkau/ Wilczków, Entwurfszeichnung vom September 1902 (Fotografie, Herder-Institut Marburg, Bildarchiv) Ansicht der von Hans Poelzig entworfenen Kirche von Maltsch / Malczyce im Dorfbild, 1903–1907 (aus: Bauwelt 1 /12, 1910, S. 16) Poelzigs Rathausanbau in Löwenberg /Lwówek Slaski, 1903–1906 (aus: Bauwelt 1/12, 1910, S. 17)

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Hans Poelzig: Musterhaus auf der »Ausstellung für Handwerk und Kunstgewerbe« in Breslau, 1904, Gartenseite (aus: Masner, Karl: Das Einfamilienhaus, S. 23) 5 Hans Poelzig: Halle im Musterhaus 1904, (aus: Masner, Karl: Das Einfamilienhaus, S. 25) 6 Bauernhaus des Malers Hanns Fechner in Schreiberhau/Szklarska Pore ˛ba (Archiv B. Störtkuhl) 4

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»Landhäuser« in Breslau-Leerbeutel, 1905–1910 (Archiv B. Störtkuhl) ´la˛ski, 1909–1911 Hans Poelzig: Haus Zwirner in Löwenberg / Lwówek S (aus: Heuss, Theodor: Hans Poelzig, S. 145) 9 Hans Poelzig: Entwurf für einen »Schlesischen Pavillon« auf der Dresdener Kunstgewerbeausstellung 1906 (aus: Schlesische Zeitung 07. 04. 1905, Nr. 247, S. 2) 7 8

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12 10 Hans Poelzig: Superphosphatfabrik in Luban / Lubon ´ bei Posen, 1909–1911

(aus: Heuss, Theodor: Hans Poelzig, S. 85) Richard Riemerschmid: »Deutsche Werkstätten« in Dresden-Hellerau, 1909–1911 (Archiv B. Störtkuhl) 12 Hans Poelzig: Geschäftshaus an der Junkernstraße, 1911–1913 (heute ul. Ofiar Oswiecimskich) in Breslau / Wroclaw (aus: Heuss, Theodor: Hans Poelzig, S. 97) 11

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Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne Der Reichskunstwart, der Deutsche Werkbund und die Strategien kulturpolitischer Identitätsbildung in der Weimarer Republik

»Die kulturelle Entwicklung der Völker geht nicht mehr auf einen verwaschenen Allerweltsinternationalismus aus, man will das Gesicht jedes Volkes klar sehen, schätzt seine Kräfte um so mehr, je mehr Eigenart darin zum Ausdruck kommt, und strebt nach einem neuen Europa, nach einer neuen Welt, darin jedes Volk um seiner selbst Willen geachtet wird. Es gibt also heute ein Bemühen um die Werte des Volkstums, das durchaus auch im Brennpunkt der eigenen Zeit liegt; es gibt zugleich ein Arbeiten für Probleme der Gegenwart, das eine neue Erkenntnis der Volkskunst verlangt.«1 Unverkennbar gehören diese beiden Sätze in die Sphäre der Moderne. Ihr programmatischer Anspruch, ihr kämpferischer Duktus, ihr politisch-reformatorischer Impetus zielen auf die Erneuerung des kulturellen Bewusstseins – allein ihr Inhalt wirkt konservativ, appelliert er doch nicht an Maschinenkunst, Funktionalismus und Zukunftsvision, sondern an Individualität und Tradition. Die Passage stammt aus dem Vorwort des 1923 erschienenen ersten Bandes einer Buchreihe mit dem Titel Deutsche Volkskunst. Initiiert wurde sie von der höchsten kulturpolitischen Stelle der Weimarer Republik, durch den Reichskunstwart Edwin Redslob (1884–1973),2 der seit 1920 für sämtliche künstlerisch- repräsentativen Fragen des Deutschen Reiches zuständig war. Durch eine ganze Reihe von Initiativen setzte sich der Kunsthistoriker Redslob innerhalb seiner fast 13-jährigen Amtszeit für die Pflege handwerklicher Überlieferung ein, ein Aspekt seiner Tätigkeit, der von der Forschung bisher nur nachrangig behandelt wurde, obwohl er tatsächlich zentral stand, wie das Zitat belegt.3 1 2 3

Redslob, Edwin: Zur Einführung, in: Pessler, Wilhelm: Niedersachsen. Deutsche Volkskunst Band 1. München: Delphin, 1923, S. 5. Zur Person: Welzbacher, Christian: Edwin Redslob. Biografie eines unverbesserlichen Idealisten. Berlin: Matthes und Seitz, 2009. Zum Reichskunstwart: Heffen, Annegret: Der Reichskunstwart. Kunstpolitik in den Jahren 1920–1933. Zu den Bemühungen um eine offizielle Reichs-kunstpolitik in der Weimarer

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Volkskunst war als Grundlage für ein kulturbasiertes Nationalbewusstsein gedacht, um den bürgerlich-elitären Kanon mit dem organisch gewach-senen Brauchtum der deutschen »Stämme« zu verbinden.4 Auf diese Weise sollte die Moderne, der künstlerisch gültige Ausdruck für die zeitgenössische Gesellschaft, eine Grundlage in der Tradition finden, gleichsam »geerdet« werden. Mit dieser Argumentation wollte der Reichskunstwart Stilquerelen um den Expressionismus beenden und Haltungs- und Gesinnungsfragen in den Vordergrund einer neuen Qualitätsdebatte stellen. Als zeitgemäße Volkskunst konnten demgemäß etwa auch die Gemälde Ernst Ludwig Kirchners und die Skulpturen Ludwig Gies’ gelten oder die Grafiken Karl Schmidt-Rottluffs, der mit Unterstützung des Reichskunstwarts einen neuen republikanischen Reichsadler entwarf. Für Redslob, ein entschiedener Verfechter der klassischen Moderne, boten die Werke dieser Künstler adäquate Beispiele für die Übertragung der wichtigsten volkskünstlerischen Merkmale auf die Gegenwart: ihr individueller Ausdruck und ihre handwerkliche Integrität waren dafür sichtbares Zeichen. Handwerk sei die »Muttersprache der deutschen Hand«, erklärte der Reichskunstwart 1924.5 Die Transponierung der künstlerischen Tradition zu einer lebendigen Volkskunst der Gegenwart war demgemäß eine patriotische Aufgabe, die vom Deutschen Reich unterstützt werden musste.6 Denn, so Redslob, die »Erhaltung der in unserem Volk lebenden gestaltenden Kräfte […] ist das Symptom einer Auffassung, die wieder an die Wurzeln der Kultur denkt, an das in der Arbeit des Volkes und seiner Führer erhaltene Können und Wissen.«7 Volkskunst, Handwerk, Nation und Moderne waren dementsprechend lediglich verschiedene Facetten eines ganzheitlichen Kulturverständnisses. Seine Bestandteile wieder in ein organisches Gleichgewicht zu bringen war für den Reichskunstwart eine Berufung.

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Republik. Essen: Blaue Eule, 1986; Laube, Gisbert: Der Reichskunstwart. Geschichte einer Kulturbehörde 1919–1933. Frankfurt am Main / New York: Lang, 1997; weiterhin: Brückner, Wolfgang: »Der Reichskunstwart und die Volkskunde 1923 bis 1933. Ausstellungshoffnungen, Volkskunstkommission, Lehrstuhlpläne«, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde. München: Prograph, 1993, S. 93–118. Der Begriff »Stämme« für die einzelnen deutschen Volksgruppen ist seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich. Er findet sich nicht nur in der Kulturkonzeption des Reichskunstwarts wieder, sondern wird explizit in der Einleitung der Weimarer Verfassung gebraucht: »Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen […] hat sich diese Verfassung gegeben.« Das Zitat stammt aus Redslobs Rede auf dem »Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz in Potsdam vom 3. bis 7. September 1924«, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 40, 1. Oktober 1924, S. 345. Unter den Autoren, die diese Ideen schon früher propagierten, nimmt Karl Otto Hartmann eine wichtige Stellung ein. Vgl. die Schriften von Tegernsee, Otto [d. i.: Karl Otto Hartmann]: Volkstum und Volkskunst. Regensburg: Manz, 1913 und Hartmann, Karl Otto: Wiedergeburt der deutschen Volkskunst als wichtigstes Ziel der künstlerischen Bestrebungen unserer Zeit, und die Wege zu seiner Verwirklichung. München / Berlin: Oldenbourg, 1917. Redslob, Edwin: »Handwerkskultur«, in: Die Woche 44, 4. November 1922, o. S.

Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne

Jene Volkskultur, die den Reichskunstwart umtrieb, war nicht durch das »Volk« entdeckt worden, sondern durch die bürgerliche Elite im Zeitalter der Aufklärung.8 Ähnlich wie das Konstrukt des »edlen Wilden« das seit Jean-Jaques Rousseaus Topos vom »Urzustand« des Menschen die Geistesgeschichte durchzieht, war auch die Volkskultur ein Ideal, das Wert- und Wunschvorstellungen absorbierte. Volkskultur schien – aus Sicht der bürgerlichen Intellektuellen – ehrlich, unverstellt und integer, denn sie war von den Korruptionen akademischer Diskurse unangetastet geblieben. Die Einfachheit der Gedichte und Erzählungen, die im »Volk« kursierten, faszinierte schon frühzeitig die Literaten. Johann Wolfgang Goethe versuchte sie, etwa im Heidenröslein, zu imitieren, Clemens Brentano und Achim von Arnim sammelten sogenannte »Volkslieder« (Des Knaben Wunderhorn, 1806–08), Jakob und Wilhelm Grimm veröffentlichten »Volksmärchen« (Kinder- und Hausmärchen 1812–14), die sie dem Volksmund abgelauscht hatten, auf der Basis dieser Überlieferungen entwickelten sie eine »Deutsche Mythologie«, die Redslob neu edierte.9 Das einmal entstandene Bild der Volkskultur stieg mit der Romantik zum festen Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses auf und prägte das deutsche Nationalbewusstsein entscheidend mit.10 Ein Wandel der künstlerischen Praxis resultierte daraus jedoch zunächst nicht.11 Veränderungspotenzial entwickelte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Architekten und Künstler zunehmendes Interesse an der Volkskunst zeigten.12 Mittlerweile hatte umfangreiche Fundamentalkritik an der Vereinnahmung historischer Vorbilder – unter anderem vorgetragen durch Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) – die akademische Kunstproduktion mit ihrer epigo-

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Vgl. ausführlich die Vorbemerkungen und Einleitung in dem von Redslobs Mitarbeiter Konrad Hahm im Auftrag des Reichskunstwarts verfassten Band: Deutsche Volkskunst. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1928, S. 5–13. Überblicksartig Bluhm, Lothar/ Hölter, Achim: Romantik und Volksliteratur. Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke. Heidelberg: Winter, 1999. Weiterhin: »Goethe trifft den gemeinen Mann.« Alltagswahrnehmungen eines Genies. Katalog Thüringer Museum für Volkskunde, Erfurt. Köln / Weimar/ Wien: Böhlau, 1999. Edwin Redslob gab Grimms »Deutsche Mythologie« 1934 im Verlag Max Schröder neu heraus, es folgte 1942 eine kommentierte Auswahl für die Universal-Bibliothek des Reclam-Verlages. Bagus, Anita: Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt. Zum Institutionalisierungsprozess wissenschaftlicher Volkskunde im wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel der Hessischen Vereinigung für Volkskunde. Gießen: Univ.-Bibliothek, 2005. Ein Beispiel für die Abkopplung der positiven Wissenschaft von der praktischen gewerblichen Produktion dokumentiert etwa das konzise Überblickswerk von Otto, Eduard: Das deutsche Handwerk in seiner kulturgeschichtlichen Entwickelung. Leipzig: Teubner, 1899. Siehe einführend Kaschuba, Wolfgang: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt am Main u. a.: Campus, 1988; sowie die Aufsätze in Moravánszky, Ákos (Hg.): Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 2005. Weiterhin: Wörner, Martin: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900. Münster: Waxmann, 1999.

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nalen Praxis konfrontiert. In Reaktion auf diese Vorwürfe formulierte die Akademie jedoch kein eigenständig neues Konzept jenseits der imitatorischen Produktionspraxis. Sie suchte sich stattdessen einfach neue Vorbilder und erweiterte den Historismus durch den Folklorismus. Auch die Produkte der Volkskunst wurden nun vereinnahmt, erforscht, vermessen, publiziert und interpretiert, ganz so, wie ehedem die historischen Formen, Stile und Typen. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert lagen die ersten umfassenden Buchwerke zur Volkskunst und Volkskultur in Geschichte und Gegenwart vor. Es ist dabei jedoch kein Zufall, dass diese Bände parallel mit Büchern – beispielsweise – über japanische Architektur veröffentlicht wurden13, und dass wenig später auch etwa das Interesse an sogenannter »Negerplastik«, afrikanischer Volkskunst, entstand.14 Denn auch diese Artefakte waren nicht um ihrer selbst willen in den Blick des Interesses gerückt, sondern vor allem, weil der Historismus in die Krise geraten war. Wenngleich daher niederdeutsche Bauernhäuser, Zen-Tempel und Lehmhütten, Trachten, Hängerollen und Fetische als Kunstwerke und Kulturgüter faktisch inkommensurabel erscheinen, bekamen sie ihre ungeahnte Gemeinsamkeit durch die Perspektive der Rezipienten. Wenn das Interesse an der Volkskunst also nicht in erster Linie dem Gegenstand selbst geschuldet war, sondern in der unsicheren bürgerlichen Disposition am Ausgang des Jahrhunderts wurzelt, so ist es wichtig, das instrumentelle Verhältnis zwischen Volkskunst und Hochkunst zu benennen. Denn alles, was »Hochkunst«15 nicht (oder nicht mehr) leisten konnte – etwa als ganzheitlicher kultureller Ausdruck einer Epoche oder Sozialordnung zu fungieren –, war der »Volkskunst« offenbar möglich, und dies, weil sie einen akademischen menschlich-künstlerischen Urzustand reflektierte, bei dem Form und Inhalt kongruent schienen. Das begriffliche Gegensatzpaar, das mit diesem Konstrukt aufgerufen wurde, lautet schlicht: »Authentizität« versus »Entfremdung« und »Dekadenz«. Diese Erkenntnis bedeutete im Umkehrschluss auch, dass die praktische Hinwendung zur Volkskunst eine 13

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Genannt seien beispielhaft die Publikationen Stephani, Karl Gustav: Der älteste deutsche Wohnbau und seine Einrichtung. Leipzig: Baumgärtner’s Buchhandlung, 1902; Baltzer, Franz: Das japanische Haus. Berlin: Wasmuth, 1903. Beide Bände bieten eine gründliche historische, bauforscherische, kunst- und kulturgeschichtliche Analyse ihres Gegenstandes. Zur Rezeption japanischer Vorbilder siehe: Speidel, Manfred: »Stolze Leere. Die langsame Entdeckung der Architektur Japans durch die Moderne«, in: Japan und der Westen. Die erfüllte Leere. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung vom 22. September 2007 bis 13. Januar 2008 im Kunstmuseum Wolfsburg. Köln: DuMont, 2007, S. 253–264. Einstein, Carl: Negerplastik. Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915. Einen hervorragenden Überblick über die Forschung zu Volkskunst und Handwerk zwischen 1850 und 1925 bietet die Bibliografie in Wissell, Rudolf: Des deutschen Handwerks Recht und Gewohnheit. Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Handwerkskultur durch Dr. Konrad Hahm. Bd. 1, Berlin: Wasmuth, 1929, S. XIII–XXXI. Itzelsberger, Renate: Volkskunst und Hochkunst. Ein Versuch zur Klärung der Begriffe. München: Mäander, 1983.

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Lösung zur Krise des Historismus bieten konnte. Die Übertragung volkskünstlerischer Entstehungsbedingungen auf aktuelle hochkünstlerische Produktionszusammenhänge – am deutlichsten spürbar in der Aufwertung von Handwerk und Kunstgewerbe – wies, vermeintlich, den Weg aus der Krise. Für die Protagonisten der Reformkultur, die intensiv nach Gegenmodellen zum Historismus suchten, waren die künstlerischen und handwerklichen Zeugnisse der bäurisch-ländlichen Lebenskreise daher ideale Vorbilder für die eigenen Bestrebungen. In diesen Kreisen, vor allem unter den Vorläufern des Deutschen Werkbundes, verband sich das Interesse an der Volkskunst und die Kritik an der Hochkunst um 1900 zu einem Amalgam, das für die Moderne prägend sein sollte. Es gehört zu den entscheidenden Leistungen der Künstler im Umfeld des Deutschen Werkbundes, Aspekte der Volkskunst-Rezeption für die eigene Arbeit nutzbar gemacht zu haben. Der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde, der seit der Jahrhundertwende im Netzwerk der europäischen Reformkultur eine wichtige Stellung einnahm, kann als Schlüsselfigur für die Transposition derartiger Prinzipen in Kunst und Kunstgewerbe angesehen werden. Im Gegensatz zu seinem späteren Werkbund-Antipoden, dem Architekten und Diplomaten Hermann Muthesius, lehnte van de Velde bewusst die serielle Fertigung von typisierten und normierten Entwürfen ab und arbeitete als Gestalter eng mit Handwerkern zusammen, die sich traditioneller Techniken bedienten.16 Statt der industriellen Herstellung von Möbel, Lampen, Hausrat oder gar Architektur forderte van de Velde die Rückkehr zum individuell gefertigten Einzelstück. Die Stärkung des Handwerks, die Wiederentdeckung althergebrachter Fertigungsmethoden, deren Fortbestand durch den Einsatz von Maschinen längst gefährdet war, stand im Mittelpunkt seiner künstlerischen Konzeption. Van de Velde stellte fest: »Die Anstrengung des Werkbundes sollten dahin abzielen […] die Gaben der individuellen Handfertigkeit, die Freude und den Glauben an die Schönheit einer möglichst differenzierten Ausführung zu pflegen und sie nicht durch Typisierung zu hemmen.«17 Die hier zitierte Äußerung steht im Zusammenhang mit dem berühmt geworden Konflikt, der im Sommer 1914 auf der Werkbund-Ausstellung in Köln zwischen van de Velde und Muthesius ausbrach. Dieser »Werkbund-Streit« markiert die Dissoziation der Reformkultur in verschiedene Lager, die sich im Verlauf der 20er Jahre zu Extrempositionen auswachsen sollten: Maschine versus Handwerk, Norm versus Individualität, Avantgarde versus Tradition. Schon auf der Werkbund-Aus16 17

Vgl. Wahl, Volker (Hg.): Henry van de Velde in Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie (1902–1915). Köln u. a.: Böhlau, 2007. Abgedruckt in: Muthesius, Hermann: Die Werkbundarbeit der Zukunft. Jena: Diederichs, 1914, S. 51.

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stellung 1914 war es nicht mehr zur Versöhnung zwischen den Lagern gekommen, der entscheidende Dissenz zwischen restaurativer und progressiver Reform, der den Werkbund an den Rand der Spaltung bringen sollte, blieb bestehen. Der Werkbund-Streit um die Bedeutung von Handwerk und künstlerischem Individualismus ist an dieser Stelle von hoher Bedeutung, weil er sich direkt auf die Politik des Reichskunstwarts auswirkte.18 Bereits das kulturpolitische Amt selbst ging auf die Initiative der Vereinigung zurück. Mitglieder des Werkbundes, darunter der Theologe und liberale Politiker Friedrich Naumann, intervenierten auf der Weimarer Nationalversammlung 1919 erfolgreich, so dass der Reichskunstwart eingerichtet wurde. Von der neugeschaffenen Position erhoffte sich der Werkbund eine Art ständige Lobbystelle bei der Regierung, um bei der Auftragsvergabe für die Neugestaltung der republikanischen Staatssymbole (Briefmarken, Geldscheine, Münzen, Flaggen, künstlerische Ausgestaltung von Staatsfeiern, Staatsbauten, Formgebung von Urkunden, Medaillen, Grenzpfählen und so weiter) besondere Berücksichtigung zu finden. Der Amtsinhaber Redslob, selbst WerkbundMitglied seit 1913, emanzipierte sich jedoch schnell von den ursprünglichen Vorstellungen der Vereinigung und entwickelte eigenständige Konzepte. Er strebte kulturpolitische Autonomie und künstlerische Vielfalt an – beförderte daher auch Positionen jenseits des Werkbundes –, freilich immer auf Basis der reformkulturellen Muster, die die Vorläufer des Werkbundes seit der Jahrhundertwende beschäftigt und auch Redslob geprägt hatten. Redslob war noch Gymnasiast in seiner Geburtsstadt Weimar, als er den frisch ernannten Professor van de Velde 1901 im Vorlesungssaal der Kunst- und Kunstgewerbeschule kennenlernte.19 Van de Velde übernahm gegenüber dem gut 20 Jahre Jüngeren eine Art Mentorenrolle, ein Verhältnis, das Redslobs Denken über Sinn, Gehalt, Tradition und Funktion von Kunst grundlegend beeinflussen sollte. Die Verbindung von kunstgewerblichem Individualismus und handwerklicher Virtuosität, die für van den Velde zentral stand, wurde auch für Redslob zum wichtigen Qualitätskriterium. Und die Zeugnisse der Volkskunst galten ihm als Vorbilder für dieses Ethos, dem Sinnbild einer umfassenden kulturellen Erneuerung. Noch bevor Redslob 1920 zum Reichskunstwart aufstieg war er über sieben Jahre Leiter des Stadtmuseums Erfurt, des heutigen Angermuseums, gewesen. Sein persönliches

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Noch vor der Amtseinführung des Reichskunstwarts nahm der Werkbund zum Problem des Kunsthandwerks der Gegenwart Stellung: Handwerkliche Kunst in alter und neuer Zeit. Hg. vom Deutschen Werkbund. Berlin: Reckendorf, 1920. Van de Velde erinnert sich an den Sechzehnjährigen: »Redslob s’ètait enthousiasmé pour mes créations et avait subi, dès l’âge de seize ans, l’influence des théories que j’avais exposées au fur et à mesure de mes conférences à Weimar.« Van de Velde, Henry: Récit de ma vie. Tome 2, 1900–1917. Brüssel: Versa, 1995, S. 183.

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Interesse traf sich mit der universellen Ausrichtung der Sammlung des Hauses, Redslob wollte die heterogenen Bestände zu einem thüringischen Kulturmuseum zusammenfügen, in einem großangelegten Neubau, mit dessen Planung er 1914 van de Velde beauftragte.20 Das Verhältnis zu van de Velde blieb auch für die Arbeit des Reichskunstwarts entscheidend, wie zahlreiche Aussagen belegen. »Die Volkskunst steht in einem fruchtbaren Gegensatz zu seelenloser Mechanisierung und leerem Realismus« formulierte Redslob beispielsweise 1929.21 Noch immer gab der Werkbund-Streit von 1914 die antipodischen Parameter der Moderne-Debatte vor, Redslob positionierte sich eindeutig auf der Seite seines Vorbildes. Bei allen kulturpolitischen Aktivitäten des Reichskunstwarts ist Redslobs persönliche werkbündlerische Vorprägung mitzudenken, denn sie durchwirkte seine Arbeit von Beginn an. Für die Bereiche Handwerk und Volkskunst gilt diese Feststellung besonders. Bereits 1920 stellte Redslob die »heimatliche Grundlage des deutschen Kunstgewerbes« als Grundlage für seine Tätigkeit heraus und verknüpfte demonstrativ historische Vorbilder mit aktueller Kunstproduktion.22 Allerdings sollte es einige Zeit dauern, bis sich Gelegenheit bot, die postulierte Verbindung von Kunstgeschichte und Moderne auch in der Praxis zu überprüfen. Sie ergab sich auf der Münchner Gewerbeschau von 1922, die vom Bayerischen Staat und dem Deutschen Reich mitfinanziert worden war. Erstmals nach Kriegsende wurde in den Zelten und Pavillons auf der Theresienhöhe, dem »bewährten Kampfplatz deutscher Kulturarbeit« (Redslob), auf dem seit 1908 mehrere wegweisende Kunstmessen abgehalten worden waren, die neuesten Erzeugnisse von Kunst und Kunstgewerbe in einem gesamtkünstlerischen Zusammenspiel präsentiert. Die beteiligten Künstler, im Beiblatt zur Werkbund-Zeitschrift Form eigens aufgelistet, umfassten das gesamte Spektrum der Gegenwart. 23 Auch die Besucherzahlen – in knapp fünf Monaten kamen beinahe dreieinhalb Millionen Menschen – unterstrichen die Bedeutung der Messe. Der Reichskunstwart hatte in München reichlich Gelegenheit, mit Künstlern, Handwerkern und Kollegen zu sprechen. In einer Denkschrift,

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Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I B 198. Undat. Entwurf Redslobs »Das Museum der Stadt Erfurt«, der die Abteilungen des Hauses in eine schlüssige Raumaufteilung für das zukünftige Museum einbindet. Weiterhin: Redslob, Edwin: Die Neuordnung des Erfurter Museums, in: Museumskunde. Hg. vom Deutschen Museumsbund, Bd. IX. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1913, S. 191–196. Deutsche Volkskunst-Ausstellung Dresden 1929, Denkschrift von Reichskunstwart Edwin Redslob, S. 6. Der gleichnamige Text erschien in: München-Augsburger Abendzeitung. Beilage »Münchner Kunstgewerbe in Alter und Neuer Zeit« vom 10. Dezember 1920, o. S. Mitteilungen der Deutschen Gewerbeschau München. Beiblatt der Zeitschrift Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 5, 1922, S. 1–14.

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die zum Abschluss der Veranstaltung erschien, bezog er Stellung. Es sei, so lautet Redslobs bittere Bilanz, nicht allzu gut bestellt um das deutsche Kunstgewerbe. Zu unterschiedlich, zu heterogen zeigten sich die Entwicklungen der einzelnen Gewerke, divergierend, kontrastierend, nicht selten mit einer Neigung zum überbordenden Ornament, dem aufkeimenden Art déco, dessen deutsche Spielart der Kritiker Max Osborn als »expressionistisches Rokoko« bezeichnete.24 In subjektivem Ton rekapitulierte der Reichskunstwart seine Messeerfahrungen. Er forderte Konsequenzen, die sich als Appell zur Sachlichkeit lesen lassen: »Zwanglos, ja mitunter messebunt, sahen wir das Material aufgebaut […] aber es traten doch die neuen Anschauungen greifbar hervor. Es war kein Zufall, dass man sich immer meist dahin gezogen fühlte, wo klar und eindeutig die Lokomotive von Borsig ragte. Und dem entsprach, dass Dinge wie die Klingen von Solingen, wie die Inneneinrichtung der Dampfer, wie Lederkoffer, Modeartikel oder sportliche Geräte dem oft etwas lauten Konzert entfesselnder Ornamente gegenüber als das beste Gegengewicht erschien.« Obwohl Redslob angesichts der dargebotenen Werke gelegentlich von »innerem Grauen« erfüllt war, beendete er seine Ausführungen mit einem Blick nach vorn. »Daß ein lebendiger Wille zu guter Arbeit das ganze Deutsche Leben entscheidend erfüllt«, dass also – dem Anspruch des Werkbundes gemäß – künstlerische Formgebung gesellschaftsreformatorische Wirkung zeige: dies war das zentrale Anliegen des Reichskunstwarts, an dem die Künstler und Kunstgewerbler zum Wohle der Nation mitarbeiten sollten. In weiser Voraussicht hatte Redslob diesen Gedanken frühzeitig in eine eigene, von der Münchner Messe unabhängige Initiative überführt, die gleich mit Beginn der Gewerbeschau ihre Arbeit aufnahm, die sogenannte Arbeitsgemeinschaft für deutsche Handwerkskultur.25 Der theoretische Überbau der angewandten Künste, der, wie die Diversität der in München präsentierten Zeugnisse demonstrierte, offensichtlich fehlte, sollte in dieser Organisation erarbeitet werden. Hier wollte der Reichskunstwart Leitlinien für die Produktion und die soziale Bedeutung des deutschen Kunstgewerbes festlegen. Am 17. Juni 1922 nahm der Gründungskongress der Arbeitsgemeinschaft im großen Saal des Hannoveraner Ständehauses die Arbeit auf. Vormittags um halb elf eröffnete Redslob die Versammlung mit einem nüchternen »Bericht«. Ein erster Erfolg war zunächst im diplomatischen Geschick des Reichskunstwarts zu sehen, die Vertreter unterschiedlichster Gewerbeorga-

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Hierzu ausführlich: Berents, Catharina: Art déco in Deutschland. Das moderne Ornament. Frankfurt am Main: Anabas, 1997. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I C-32. Im Schreiben des Reichskunstwarts vom 25. Juni 1922 erkundigt sich Redslob bei dem Maler Hans Thoma, ob dieser, »der Altmeister der Deutschen Kunst«, in den Beirat der Arbeitsgemeinschaft aufgenommen werden wolle. Zur Arbeitsgemeinschaft ausführlich: Heffen: Der Reichskunstwart, S. 195–208.

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nisationen überhaupt an einen Tisch zu bringen. Sie alle gaben in Hannover die Einwilligung, fortan unter Schirmherrschaft und Vorsitz des Reichskunstwarts zu arbeiten: die regionalen Handwerksorganisationen genauso wie der Reichsverband des Deutschen Handwerks und der Deutsche Handwerksund Gewerbekammertag, der Deutsche Bund für Heimatschutz, der Bund Deutscher Architekten und der Deutsche Werkbund, der Verband deutscher Kunstgewerbevereine und der Verband der Deutschen Modeindustrie, schließlich der Verband für deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur. In direkter Nachfolge der Konzepte Henry van de Veldes forderte Redslob von diesen Organisationen die Erneuerung des Handwerks aus dem Geiste der Tradition – und umgekehrt die Erdung der Moderne durch den Dialog mit überlieferten Formen, Aufgaben und Techniken. Volksnähe war erklärtes Ziel der Arbeitsgemeinschaft, Bildungsarbeit wichtig.26 Der allgemeine gesellschaftliche Lernprozess um die kulturkonstitutive Bedeutung des Handwerks sollte so früh wie möglich ansetzen, die Ausbildung an Schulen, Lehrstätten und Akademien begleiten und schließlich jedem Bürger den gesellschaftlichen Rang des Handwerks, seine Geschichte und Techniken vermitteln.27 Nach Auffassung des Reichskunstwarts gehörte ein Grundverständnis für das Handwerk – und damit eine Fähigkeit, über Produktqualität zu urteilen – zu den essentiellen Merkmalen der Allgemeinbildung. Die Intensität, mit der Redslob hierüber nachdachte, zeigen auch seine Planungen für eine Kinderfibel mit Gedichten, die unter dem Titel Des Knaben Handwerksbuch erscheinen sollte. Bereits die ersten Verse des Eingangsgedichts umreißen die bildungspolitische Stoßrichtung: »Im Mundwerk brachte unsre Zeit Es ganz gewiß besonders weit. Das Handwerk aber ging zurück Und damit Wohlstand, Ordnung, Glück, Denn die gedeihen nur alsdann, Wenn jeder Mensch was Richtiges kann.«28

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Auch der Volksbildungsaspekt dokumentiert die Nähe zum Werkbund. Vgl. etwa Naumann, Friedrich: »Kunst und Volk«, in: ders.: Werke, Bd. 6. Ästhetische Schriften. Köln u. a.: Westdt. Verlag, 1964, S. 78–93. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I A-2: Einladung zur Gründungsversammlung der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Handwerkskultur. Auf dieser Einladung ist das gesamte Programm der Arbeitsgemeinschaft abgedruckt, das später in den Mitteilungen des Reichskunstwarts publiziert wurde. Weiterhin: »Handwerk und Reichskunstwart«, in: Das deutsche Handwerksblatt 5, 1924, o. S. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I B 139. Undat. Gedichtentwurf, Typoskript, mit handschriftlich eingefügtem Titel »Das Handwerk«. Gedichtsammlungen zur Handwerkskultur sind in den 20er Jahren keine Seltenheit. Vgl. etwa: Barth, Emil/Freund, Cajetan Maria: Das Erbauungsbuch des guten Handwerkers. München: Grassinger, 1927.

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Der Schlüsselbegriff »Handwerk« den der Modernist Redslob im Mund führte wie eine Kampfvokabel, hatte durchaus archaische Konnotationen.29 Einer der Pavillons der Münchner Gewerbeschau war nach Entwürfen des Werkbund-Mitbegründers Peter Behrens entstanden und hieß programmatisch »Dombauhütte«.30 In Anlehnung an die idealisierte Handwerksgemeinschaft des Mittelalters – der zeitgleich auch Dominikus Böhm und Rudolf Koch durch die Wiederbelebung der Zunftzeichen huldigten und die auch Walter Gropius auf das frühe »Bauhaus« projizierte31 – zeigte man in München ein kirchliches Gesamtkunstwerk en miniature. Eines der aufsehenerregendsten Ausstattungsstücke der gesamten Messe hing hier vom Dachstuhl: Ludwig Gies’ gekreuzigter Christus, eine expressionistische Skulptur, die der Reichskunstwart als eines der wichtigsten Kunstwerke der Nachkriegszeit rühmte.32 Gies hatte sich mit den »Pestkreuzen« des 14. Jahrhunderts und den Kreuzigungsdarstellungen Matthias Grünewalds beschäftigt und war dabei zu einer fast brutalen Drastik der Darstellung vorgestoßen. Kurz nach seiner ersten Aufstellung im Lübecker Dom war das Werk von Unbekannten attakkiert und zerstört worden, Redslob setzte sich daraufhin dafür ein, dass eine rekonstruierte Fassung in München gezeigt und zur Diskussion gestellt werden konnte. Dabei ging es ihm um den zeitgemäßen künstlerischen Ausdruck – die Verbindung von Religiosität und Kriegstrauma – genauso, wie um die handwerkliche Qualität, die seiner Meinung nach bei Gies aus dem Geiste des Mittelalters gleichsam neu entstanden war. »Handwerk«, als mystisch aufgeladene Vokabel,33 berührte damit den Urgrund menschlicher Schöpfung. Redslob zitierte in diesem Zusammenhang gern seinen Leitstern Johann Wolfgang Goethe, der, angefangen mit dem Aufsatz Von deutscher Baukunst, immer wieder das Verhältnis von Handwerk, Arbeit und Kunst thematisierte. Mit dem Satz aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, »Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß Handwerk voran gehen«, 29

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Dem Themenfeld »Handwerk« näherte sich im Zusammenhang mit dem Reichskunstwart als erster Korff, Gottfried: »Holz und Hand. Überlegungen zu einer ›deutschen‹ Warenstoffkunde der Zwischenkriegszeit«, in: Wagner, Monika (Hg.): Material in Kunst und Alltag. Berlin: Akademie-Verlag, 2002, S. 163–183. In seinem Textbeitrag in: Deutschen Gewerbeschau München, Amtlicher Bericht. München: Knorr und Hirth, 1922, S. 12–13, geht der Reichskunstwart eigens auf die Dombauhütte und das Werk von Gies ein. Siehe hierzu: Welzbacher, Christian: »Kirchenbau und Moderne (1920-1940). Anmerkungen zu einer traditionsverbundenen Baugattung«, in: kritische berichte 1, 2007, S. 33–46. Einen zeitgenössischen Überblick über die Rezeption bietet: Garbai, Alexander: Die Bauhütten. Ihre Vergangenheit und Zukunft. Der Weg zum gemeinwirtschaftlichen Aufbau der Arbeitsorganisationen im Baugewerbe. Hamburg: Verlag Deutscher Baugewerksbund, 1928. Redslob, Edwin: »Der Kruzifixus von Ludwig Gies und sein Schicksal«, in: Die Trese. Eine lübische Monatsschrift für Kunst und Geist 7, April 1922, S. 13–15. »Im Dunkel der Zeiten verbirgt sich der Ursprung des Handwerks« beginnt Rudolf Wissells Studie Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit auf S. 1.

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unterfütterte Redslob seine These, dass das Handwerk als »die Grundlage des Menschentums und seiner Kultur« angesehen werden müsse.34 Es war Ausgangspunkt jeder höheren Kulturleistung, hatte immer seinen Ursprung im Einfachen, Unmittelbaren: der Volkskunst. Anders herum gesehen – und auf Werke, wie das Gies’sche Kruzifix projiziert – war also die Moderne dabei, sich zu einer neuen Volkskunst zu entwickeln. Die lebendige Verquickung von »alter« und »neuer« Volkskunst etablierte sich zügig als Generalthema des Reichskunstwarts. Sie prägte die Aktivität der Arbeitsgemeinschaft genauso wie Redslobs Einwürfe in die öffentlichen Kulturdebatten der Zeit. Ausgehend vom Begriff des »Handwerks« äußerte sich der Reichskunstwart im Laufe der Jahre zu einer schier unglaublichen Gattungs- und Themenvielfalt: zu Gebrauchsgrafik, Buchkunst und Gartengestaltung, zu Porzellan-, Kleidungs- und Möbelproduktion, zum Drechseln, Glasblasen, Teppichknüpfen, dem Herstellen von Tapeten, Bestecken und Spielsachen. In aberdutzenden Aufsätzen, Reden, Zeitungsartikeln, Stegreifreferaten, Briefen, Grußworten, Einführungen formulierte er die Aufforderung, die vermeintlichen Widersprüche von Tradition und Moderne, Volks- und Hochkunst, Handwerk und Industrie zu überwinden, immer im Bestreben um eine organisch gefügte Gesamtkultur, den unmittelbaren künstlerischen Ausdruck des demokratischen deutschen Gemeinwesens. Gleichzeitig ließ Redslob seine Erkenntnisse in die Arbeitsgemeinschaft zurückfließen und sorgte durch Publikationen dafür, dass das Motiv des idealisierten Mittelalters, das sein aktuelles Pendant im Expressionismus finden sollte, das Erscheinungsbild des Zusammenschlusses prägte. In einem aufwendig gedruckten, zweibändigen Werk ließ er die Einzelaspekte einer organisch gepflegten, aktiven Handwerkskultur, die ihre Basis im Gildewesen findet, zusammentragen. Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, 1929 vorgelegt, lautete der Titel dieses umfangreichen Sammelbandes, das zahlreiche Quellen zur künstlerischen und gesellschaftlichen Verfasstheit der Handwerksberufe vom späten Mittelalter bis zum Vorabend der Industrialisierung vereint.35 Autor war der Sozialpolitiker und Gewerkschaftsfunktionär Rudolf Wissell (1869–1962). Die Kollaboration mit Wissell, der

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Vgl. den Bericht über Redslobs Rede auf dem 26. deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag, am 14. August 1926 im ostpreußischen Königsberg, in: RH-Nachrichten, Zeitungsdienst des Reichsverbandes des deutschen Handwerks, Sonderausgabe vom 14. August 1926, o. S. Das Zitat aus »Wilhelm Meisters Wanderjahre« findet sich im ersten Buch des Romans, Kapitel 12. Wissell: Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit. Eine bearbeitete Neuauflage in Einzelbänden, herausgegeben von Ernst Schraepler, erschien zwischen 1971 und 1988 im Berliner Colloquium-Verlag. Direkte Vorgängerpublikation von Wissells Werk ist die von Georg Steinhausen herausgegebene Reihe Die deutschen Stände in Einzeldarstellungen, die als Neuausgabe der Monographien zur deutschen Kulturgeschichte 1924 im Verlag Eugen Diederichs, Jena, erschien.

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als spd-Mitglied zu den führenden Vordenkern der Sozialreform in Deutschland gehörte36, demonstrierte mustergültig den überparteilichen Ansatz der Arbeitsgemeinschaft. Redslob entstammte zwar, ebenso wie seine Vorbilder aus dem Deutschen Werkbund, dem bürgerlich-liberalen Milieu. Aber gerade die Arbeitsgemeinschaft sollte den elitistischen Ansatz der idealisierten Volkskunst mit der Realität der Arbeitswelt zusammenbringen und auf diese Weise – klassenübergreifend – erneuern.37 Die Engführung von bürgerlicher Idealvorstellung und gegenwärtig-realer Produktion erweiterte der Reichskunstwart durch einen dritten Themenkomplex, der historisch-kritischen Aufarbeitung der Kunst des »einfachen« Volkes. Die Erforschung der Volkskunst nahm im Tätigkeitsbereich des Reichskunstwarts schon frühzeitig eine derart wichtige Stellung ein, dass sich Redslob beim Finanzausschuss des Reichstags für eine angemessene Etatierung und die Einrichtung einer eigenständigen, zweiten Referentenstelle einsetzte. Am 1. April 1922 begann der Kunsthistoriker Konrad Hahm (1892–1943)38 seine Arbeit für den Reichskunstwart. Sie bestand zunächst in der Konzeption einer Buchreihe mit dem allgemeinen Titel Deutsche Volkskunst.39 Auch hier ging es – wie beim Schulprogramm der Arbeitsgemeinschaft – um Volksbildung, die Bände sollten langfristig wirken, indem

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Zu Wissell, der zu Beginn der Weimarer Republik zunächst Wirtschaftsminister und Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und später unter Reichskanzler Hermann Müller Reichsarbeitsminister war: Barclay, David E.: Rudolf Wissell als Sozialpolitiker 1890–1933. Berlin: Colloquium, 1984; Bach, Otto: Rudolf Wissell. Ein Leben für die soziale Gerechtigkeit. Berlin: Arani, 1959; vgl. auch Wissells Autobiografie – Wissell, Rudolf: Aus meinen Lebensjahren. Berlin: Colloquium, 1983. Wie die Zusammenarbeit zwischen der Arbeitsgemeinschaft und Wissell im Detail zustande kam ist ungeklärt. Im Auftrag von Arbeitsgemeinschaft und Deutschem Bund Heimatschutz erarbeitete Theda Behme zeitgleich den Band Schlichte Deutsche Wohnmöbel, der 1928 bei Callwey in München erschien. Auch dieser Band, der einen Überblick der historischen Entwicklung und ihrer Folgen für eine »sachliche« Möbelgestaltung der Gegenwart gibt, ist im Zusammenhang mit den Bemühungen des Reichskunstwart um eine Erneuerung des Kunsthandwerks zu sehen. Hahms Personalakte befindet sich im Bundesarchiv Berlin, R 32 /126, pag. 142–145. Zur Person auch: Schier, Barbara: »Konrad Hahm, Josef Maria Ritz und die Volkskunstkommission. Eine kommentierte Korrespondenz«, in: Jahrbuch für Volkskunde. Neue Folge, Bd. 12, 1989, S. 43–50 und Karasek, Erika: »Konrad Hahm (1892–1943): Museum zwischen Aufbruch und Verhängnis«, in: Jahrbuch für Volkskunde. Neue Folge, Bd. 26, 2003. Bundesarchiv, R 32/126, pag. 142–169: Schriftverkehr wegen der Anstellung zwischen Redslob und Hahm, sowie Hahms Arbeitsvertrag vom 29. März 1922. Hahm war vorher Geschäftsführer des Schlesischen Bundes Heimatschutz. Zeitgleich mit der staatlichen Buchreihe veröffentlichten auch Heimatverbände und Volkskundemuseen ähnliche Bände, die ebenso wissenschaftlichen Anspruch, Popularität und kulturelle Erneuerung miteinander verknüpften. Der Landesverein Badische Heimat etwa gründete 1920 die Reihe »Vom Bodensee zum Main«, deren Interessensgebiet den gesamten südwestdeutschen Raum umfasste. Walter, Max: Die Volkskunst im badischen Frankenlande. Karlsruhe: C.F. Müller, 1927. Der in dieser Serie erschienene Band entstand, wie Walters Kommentar zu Redslobs Reihe, S. 7, zeigt, in direkter Auseinandersetzung mit den Initiativen des Reichskunstwarts, auf vergleichbarem wissenschaftlichem Niveau und mit ähnlicher Ausstattung.

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sie selbst durch das »Volk« gelesen wurden: »Diese groß angelegte Sammlung verfolgt den Zweck, auf dem Gebiet der Lebensgestaltung unserer engsten Umgebung zu den ursprünglichen Quellen deutschen Volkstums hinzuführen. Sie will das Gut sammeln und herausstellen, an dem wir für die Zukunft lernen können, nicht etwa das nachzuahmen, was einmal vergangen ist, sondern ebenso zuversichtlich neu zu bauen« lautet das Programm der Reihe.40 Dem Volk zurückgeben, was »des Volkes ist« – so lässt sich die Botschaft verstehen. Die Analyse der Volkskunst sollte die verborgenen Urkräfte jedes einzelnen Teiles der Nation bloßlegen und die Potenziale eines krisengeschüttelten Gemeinwesens offenbaren. Auf diese Weise konnte kulturelles Bewusstsein zu politischem Selbstbewusstsein führen. Weiter heißt es im Werbetext für die Deutsche Volkskunst entsprechend: »Die fertig vorliegende Reihe wird der Selbstbestimmung und Selbstbehauptung unseres Volkstums, ebenso wie seiner Selbsterneuerung, wertvolle Dienste leisten.« Aus diesem Grund war es wichtig, das Thema Volkskunst auf dem wissenschaftlich neuesten Stand zu präsentieren und dabei gleichzeitig so interessant wie möglich aufzuarbeiten. Volkskunst musste popularisiert werden, um ihre kulturpolitische Wirkung im Volk zu entfalten. Jeder Band war zweiteilig aufgebaut: Dem umfassenden Tafelteil, der sämtliche Gattungen der Volkskunst bilderbuchartig präsentierte, ging eine maximal 50 Seiten starke Einführung voran. Dieser knapp gehaltene, fachlich fundierte Prolog war klar gegliedert und beschrieb die Eigenarten regionaler Volkskunst nach einem vorgegebenen Schema. Siedlung und Haus klärte zunächst die Lebensbedingungen des ländlichen Raumes, Kirchen und Kirchhof zeigte den Umgang mit Metaphysik und Frömmigkeit, während Tracht und Gewerbe die handwerklichen Formen und das Brauchtum analysierte. Der letzte Abschnitt, Gerät, Hausfleiß und Handwerk überschrieben, widmete sich schließlich dem Umgang mit den Materialien Holz, Metall, Keramik und Glas.41 Übersichtlichkeit und Prägnanz sollten auf Dauer die Vergleichbarkeit zwischen den Bänden und den Volkskünsten gewährleisten. Die Herausgeber Redslob und Hahm sorgten zudem dafür, dass die Bücher selbst als Zeugnis lebendiger Handwerkstradition begriffen werden konnten, indem das Äußere eine strenge typografische Form – bei sämtlichen Publikationen zur Volkskunst war Fraktur die Schriftart der Wahl – bekam, die für alle Bände verbindlich blieb. Als Sammler und Bücherfreund hoffte Redslob, dass der optisch effektvoll herausgearbeitete Reihencharakter, der Farbe und Ornament des Umschlags variierte, einen Grund zum allmählichen 40 41

Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I B-5. Auszug aus dem Werbeblatt des Delphin-Verlages, wahrscheinlich vom Reichskunstwart verfasst. Das Schema, das von größeren sozialen und architektonischen Zusammenhängen allmählich zum einzelnen Gegenstand führte, blieb über sämtliche Bände bestehen, wenngleich Überschriften und Binnengliederung divergierten.

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Erwerb der gesamten Serie bieten konnte. Je mehr Kaufanreiz, desto mehr Käufer – umso breiter die angestrebte Wirkung. Schon 1923 erschien das erste Buch. Der Ethnologe Wilhelm Pessler war mit dem Erstling über die Volkskunst der Niedersachsen beauftragt worden. Der Reichskunstwart, der als Herausgeber über dem Reihentitel firmierte, steuerte zum Auftakt des Unternehmens ein Vorwort bei. Wahrscheinlich war auf Redslob auch die Zusammenarbeit mit dem Münchner Delphin-Verlag zurückgegangen, denn er hatte mit diesem Haus, das auf reich bebilderte Werke zu Kunst und Kunstgewerbe spezialisiert war, bereits früher zusammengearbeitet.42 Unter Redslobs Ägide wurden innerhalb von zehn Jahren dreizehn Bände der Deutschen Volkskunst veröffentlicht.43 Gleichartige Bücher über Danzig und Schleswig-Holstein erschienen nach 1933 als Teilbände einer »Neuen Folge«, sie mussten ohne Herausgeberschaft des bereits abgewickelten Reichskunstwarts auskommen.44 Ob das angestrebte Verkaufs- und Verbreitungskonzept aufging, bleibt schwer zu beurteilen. Zahlen für die Reihe ließen sich nicht ermitteln. Einen Anhaltspunkt über die hohe Auflage gibt zumindest die Tatsache, dass fast sämtliche Bände bis heute zu vergleichsweise geringen Preisen in Antiquariaten gehandelt werden. Neben einer breiten Vermarktung durch Delphin mag dieser Umstand auch der finanziellen Rückendeckung durch den Reichskunstwartgeschuldet sein. Mit Zuschüssen stellte er die Kontinuität der kulturpolitischen Grundlagenarbeit sicher. 42

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Redslob schrieb für den Delphin-Verlag den mehrfach aufgelegten Band Alt-Dänemark (1924) und die Einführung in die Deutsche Goldschmiedeplastik (1922). Zu Delphin siehe Schier, Barbara: »Der Delphin-Verlag Dr. Richard Landauer. Eine Studie zur Ausschaltung eines jüdischen Verlegers im Dritten Reich«, in: Buchhandelsgeschichte 2, 1995, S. B 51-B 60. Neben Delphin brachte Böhlau die Reihe parallel heraus. Wie diese Konkurrenz zustande kam muss an dieser Stelle unklar bleiben. Die Bände waren (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Niedersachsen (1923, Wilhelm Pessler), Mark Brandenburg (1924, Werner Lindner), Die Rheinlande (1924, Max Creutz), Bayern (1925, Hans Karlinger), Schwaben (1925, Karl Gröber), Franken (1926, Josef Ritz), Schlesien (1926, Günther Grundmann), Thüringen (1926, Edwin Redslob), Westfalen (1927, Rudolf Uebe), Ostpreußen (1928, Karl Heinz Clasen), Elsaß (1929, Ernst Polaczek), Pommern (1930, Fritz Adler), Pfalz (1931, Theodor Zink), Baden (1933, Hermann Eris Busse), die Bände Schweiz, Böhmen und Österreich wurden bereits 1929 angekündigt. Im Böhlau-Verlag erschien die Reihe nach 1933 weiter als »Neue Folge« ohne den Herausgeber Redslob, ein Teil der bisher bei Delphin verlegten Bände wurde nachgedruckt, weitere Neuerscheinungen folgten in Ergänzung: Schleswig-Holstein (1939, Ernst Schlee), Danzig (1939, Hans Bernhard Meyer), Steiermark (1940, Viktor Theiss), eine zweite Auflage des Bandes Baden (1942) und Sachsen (1943, zweite neubearbeitete Auflage 1954, Adolf Spamer). Der 1927 angekündigte Band Westpreußen ist anscheinend nie erschienen. Der Band Hessen (Karl Rumpf) erschien erst 1951 im Marburger Verlag Simons (2. Auflage bei Böhlau 1971). Der Band Niedersachsen wurde zudem 1984 nachgedruckt. Für die Brüche und Kontinuitäten in der Editionsgeschichte der Reihe Deutsche Volkskunst wichtig ist auch Redslobs Brief vom 19. Juni 1942, in: Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I C-36. Redslob versuchte, auch nach der Abwicklung des Reichskunstwarts die Reihe fortzuführen. Gegen bestehende Absprachen tilgte der Böhlau-Verlag Redslobs Namen aus der von Delphin übernommen Buchreihe.

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Die Mitautoren der Deutschen Volkskunst sollten gemäß den Vorgaben des Reichskunstwarts den argumentativen Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne von Seiten der Volkskunst dergestalt eröffnen, dass die Relevanz für die Gegenwart unmittelbar ersichtlich sein würde. Zudem war die Fähigkeit gefragt, komplizierte ethnologische und soziologische Sachverhalte populär und gut lesbar darzustellen. Die Herausgeber luden daher ausgewiesene Praktiker zur Mitarbeit ein: publikumsorientiert arbeitende Volkskundler, die an Universitäten und Museen durch Ausstellungs- und Vortragsarbeit wirkten und über Erfahrung in der Kunstvermittlung verfügten. Max Creutz etwa, der Die Rheinlande (1924) verfasste, war seit 1922 Direktor des Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museums für Kunst und Kunstgewerbe gewesen und über die Begeisterung zum Expressionismus mit Redslob verbunden. Karl-Heinz Clasen, der an der Königsberger Universität Kunstgeschichte lehrte, steuerte den Band über Ostpreußen (1928) bei. Theodor Zink wiederum, Leiter der Landesgewerbeanstalt Karlsruhe, schrieb über die Pfalz (1931). Das 1926 erschienene Buch über Thüringen verfasste der Reichskunstwart und ehemalige Direktor des Erfurter Angermuseums selbst und nutzte die Gelegenheit, die Ausstellungsstücke, die er jahrelang betreut hatte, in ein virtuelles Thüringer Kulturmuseum zu überführen, dessen Verwirklichung ihm zuvor realiter verwehrt geblieben war. Bereits 1928 legte Konrad Hahm zudem eine einbändige Überblicksausgabe zur Deutschen Volkskunst vor, die als Einführungs- und Ergänzungsband der Reihe benutzt oder unabhängig davon als eine Art »Hausbuch« gelesen werden konnte.45 Wieder war das Buch selbst ein Kunstwerk, das sogar in der Buchgemeinschaftsausgabe in sattem Tiefdruck und mit reichem Bilderteil von über 200 Tafelseiten ausgeliefert wurde. Wie bei zahlreichen anderen Bänden, die unter der Regie des Reichskunstwarts erschienen, zeichnete auch hier der Grafiker Ernst Böhm für die Gestaltung von Ein-band und Titel verantwortlich. Böhm war in Redslobs Auftrag mehrfach für die »künstlerische Formgebung des Reiches« tätig gewesen, hatte Reichsadler und Wap-

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Hahm, Konrad: Deutsche Volkskunst. Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft, 1928. Der Band wurde 1932 bei Hirt in Breslau neu aufgelegt. Als Pendant erschien weiterhin: Breitl, Richard: Deutsche Volkskunde. Von Siedlung, Haus und Ackerkultur. Von Glaube und Brauch. Von Sage, Wort und Lied des deutschen Volkes. Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft, 1933. Vorläufer von Hahms Hausbuch zur Volkskunst lassen sich bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen, als im Zuge der Volksbildungsbewegung (für die Kunst sind Reihenwerke wie Der Eiserne Hammer oder Die blauen Bücher zu nennen) Überblickswerke zu zahlreichen Themen beliebt wurden. Etwa: Mielke, Robert: Volkskunst. Magdeburg: Riemann, 1896; Henne am Rhyn, Otto: Kulturgeschichte des Deutschen Volkes. 2 Bde., 3. Auflage, Berlin: Baumgärtel, 1903; oder: Schwindrazheim, Oskar: Deutsche Bauernkunst. 2. Auflage, Wien /Leipzig: Deutscher Verlag für Jugend und Volk, 1931 (1. Auflage, Hamburg 1903). Fast zeitgleich und möglicherweise in Auseinandersetzung mit den Initiativen des Reichskunstwarts legte der Präsident der Eidgenössischen Kunstkommission ein Pendant für die Schweiz vor: Baud-Bovy, Daniel: Schweizer Bauern-Kunst. Zürich/Leipzig /Berlin: Orell Füßli, 1926.

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pen für Ministerien entworfen. Auch seine Beteiligung sollte – ähnlich wie die Zusammenarbeit mit dem Schriftkünstler Rudolf Koch – die Erneuerung von Kunsthandwerk und Volkskunst anschaulich demonstrieren.46 Die Volkskunst-Buchreihe des Reichskunstwarts präsentierte das breite Spektrum der germanischen Ethnologie auf dem neuesten Stand ihrer Zeit. Das zusammengetragene Fachwissen und die allgemeinverständliche Darstellung haben bewirkt, dass Einzelbände mehrfach aufgelegt, nachgedruckt und noch bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als mustergültige Einführungen konsultiert wurden. Gleichwohl hatte Redslobs publizistisches Unternehmen Folgen für die wissenschaftliche Neutralität. Durch die enge Kopplung an die Wirkungsabsichten des Reichskunstwarts war der Deutschen Volkskunst ein staatlich-kulturpolitischer Subtext eingewoben, der an das Verständnis des Gegenstandes und die Selbstauffassung der ethnologischen Wissenschaft rührte. Mit dieser Instrumentalisierung verstärkte der Reichskunstwart eine Tendenz, die die Volkskunde seit ihrer Entstehung begleitet hatte. Wie kaum ein anderes Fach der Geistes- und Gesellschaftsgeschichte krankte sie an der chronischen Anfälligkeit für Ideologien.47 Dabei war die Suche nach einem schützenden Überbau zunächst nicht mehr als ein Reflex auf den Minderwertigkeitskomplex, den vermeintlich seriöse Fächer den Vertretern der Volkskunde einzureden suchten. Aus zahlreichen Richtungen – Kunstgeschichte, Soziologie, Heimatkunde, Archäologie – kamen Zweifel an einer eigenständigen Verfasstheit der Ethnologie, »Übergriffe« gefährdeten die Etablierung fest umrissener Zuständigkeiten. Zudem hatte der Gegenstand den Ruch des Obsoleten. Volkskunst, die es ohnehin »fast überhaupt nicht mehr« gebe, sei etwas für »zeitmüde Menschen«, urteilte beispielsweise der Publizist Wilhelm Lotz in der Werkbund-Zeitschrift Form 1927.48 Das plötzliche Interesse der Politik an einer vergleichsweise exotischen Disziplin dürfte daher nicht wenige Volkskundler angenehm überrascht haben. Dass der Reichskunstwart nun gar verlauten ließ, Volkskunst sei »Ausdruck eines Gemeinschaftsgeistes«, den es wiederzuerlangen gebe – nicht weniger als 46

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Die Zusammenarbeit mit Böhm, etwa bei der Gestaltung der Reichsadler, dokumentiert: Redslob, Edwin: Die künstlerische Formgebung des Reichs. Berlin: Werkkunst, 1926, S. 5 und S. 19. Vgl. weiterhin: Welzbacher: Der Reichskunstwart, den Beitrag von Walter J. Schütz. Zum Problem des politischen Zugriffs siehe: Korff, Gottfried: »Volkskunst als ideologisches Konstrukt? Fragen und Beobachtungen zum politischen Einsatz der ›Volkskunst‹ im 20. Jahrhundert« in: Jahrbuch für Volkskunde. Neue Folge, Bd. 15, Paderborn u. a.: Schöningh, 1992. Zitiert nach Schramm, Manuela: Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880–2000. Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung. Stuttgart 2003, S. 41. Lotz war ab 1933 als Schriftleiter der Form für die Annäherung des Werkbundes an den Nationalsozialismus verantwortlich.

Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne

gesellschaftlich konstitutiv also – musste wie eine verspätete Offenbarung erscheinen.49 Vom Rand der Wissenschaft war die Volkskunde plötzlich ins Zentrum der deutschen Kulturpolitik gerückt. Die Auswirkungen dieser Verschiebung konnte Redslob nicht ahnen. Dennoch: War die Reihe Deutsche Volkskunst bereits ein Vorspiel der späteren Verfehlungen? Mit dem Wissen um die Entwicklung ab 1933 löst schon die genauere Betrachtung der Buchreihe Deutsche Volkskunde Beklommenheit aus. Da ist von »abgetrennten Gebieten« die Rede, »wie Deutsch-Österreich, Elsaß-Lothringen, die Deutsch-Schweiz und andere«, die, erst im Verbund mit der gesamtdeutschen Darstellung, »ein Bild des Reichtums« zeigen, »das sich in seiner Fülle erst wieder zur abgerundeten Einheit zusammenschließt.«50 Der kulturelle Volkswille, so lässt sich aus dieser Aussage schließen, scheint sich um geopolitische Realitäten, die allenfalls ein Produkt jüngster historischer Entwicklungen sind, nicht zu scheren, ja, er bietet Argumente, sich über sie hinweg zu setzen.51 Im gleichen Atemzug wird von »Selbstbehauptung« und »Selbsterneuerung« unseres »Volkstums« gesprochen – scheinbar unverstellt zeigen sich in der Volkskunst ewige Gesetze, die nur über ihre biologischen Wurzeln erklärt werden können, ein Konstrukt, dessen Karriere sich über Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Artur Moeller van den Bruck bis hin zu Richard Walther Darré verfolgen lässt und das im »Dritten Reich« die Volkskunde untergrub. 1923, im Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Redlobs Reihe, formulierte Adolf Hitler in Mein Kampf: »Denn man lernt eben nicht Geschichte nur um zu wissen, was gewesen ist, sondern man lernt Geschichte, um in ihr eine Lehrmeisterin für die Zukunft und den Fortbestand des eigenen Volkstums zu erhalten.« 52 Hitlers Strategie, die unter dem Schlagwort »Geschichtspolitik« gefasst werden kann, lässt sich durchaus auf den Reichskunstwart übertragen. Doch die strukturelle Nähe der Argumentationen, in denen Redslob faktisch kulturpolitische Modelle des Nationalsozialismus

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Redslob, Edwin: Geleitwort, in: Hahm, Konrad: Deutsche Volkskunst, S. 8 (vgl. Anm. 8). Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I B-5. Auszug aus dem Werbeblatt des Delphin-Verlages, wie Anm. 40. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Volkskunde seit ihrer Entstehung dazu »benutzt« wurde, »völkische« Kulturkreise zu definieren und gegenüber anderen Völkern abzusetzen. Dieses Verfahren war vor allem in multiethnischen Grenzregionen probat. So ist es kein Zufall, dass eine Publikation wie Blau, Josef: Böhmerwälder Hausindustrie und Volkskunst. Prag: Calve, 1917, von der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen unterstützt wurde. Ähnliche Tendenzen zur Instrumentalisierung der Volkskunde lassen sich auch in deutschen Randregionen wie Schlesien und Pommern erkennen. Zit. nach Seipp, Paul (Bearb.): Spaten und Ähre. Das Handbuch der deutsche Jugend im Reichsarbeitsdienst, Heidelberg: Vowinckel, 1938, S. 14. Zur Volkskunde im NS siehe etwa die Beiträge von Manfred Seifert und Angela Treiber in: Jahrbuch für Volkskunde. Neue Folge, Bd. 17, Paderborn u. a.: Schöningh, 1994.

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antizipiert, schärft auch die Aufmerksamkeit für Unterschiede. Allen voran ist dabei der demokratische Impetus zu nennen. Redslob formuliert ein offenes Identifikationsmodell, in dem der Gedankengang von »alter« und »neuer« Volkskunst ein Angebot an den Leser darstellt. Er schlägt eine spezifische – konservative – Lesart der Moderne vor, freilich ohne dabei normative Vorgaben zu machen. Auch entscheidende Begriffe der »völkischen« Wissenschaft fehlen in der Buchreihe des Reichskunstwarts. »Rasse« spielt in Redslobs Kulturkonzept keine Rolle, »Blut« findet keine Erwähnung – und dennoch lauert der Leser über jeder einzelnen Zeile und wartet auf den Gebrauch dieser Termini.53 Es bleibt also festzuhalten: die Reihe Deutsche Volkskunst ist ein Werk des historiografischen Überganges. Die Volkskunde erscheint hier dem engen Umfeld der positiven Wissenschaft, in dem sie während der Jahrhundertwende entstanden war, entrissen und in den Bereich tagespolitischer Identitätsdebatten eingegliedert. Sie wirkt aktuell, weil die Fragen, die sie aufwirft, eine Entsprechung in der Gegenwart finden. Aber sie ist noch nicht so weit etabliert und instrumentalisiert, dass sich auf ihr Ideologien gründen lassen. Nicht alle Autoren, die der Reichskunstwart für die Deutsche Volkskunst gewonnen hatte, beließen es bei politischer Neutralität. Die meisten publizierten nach 1933 weiter zur Volkskunst, einige von ihnen unter dem Vorzeichen völkisch-rassischer Ideologeme.54 Auch Konrad Hahm veröffentlichte bis zu seinem frühen Tod 1943 weitere Bücher und arbeitete als Direktor für das neugegründete Staatliche Museum für Deutsche Volkskunde, das seit 1935 im Berliner Schloss Bellevue residierte.55 Als fester Mitarbeiter beim Reichskunstwart war er bereits 1924 ausgeschieden, zum persönlichen Bruch 53

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Zu den praktischen Extremen der völkisch-rassischen Politik siehe Leniger, Markus: Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und Umsiedlungspolitik 1933–1945. Von der Minderheitenbetreuung bis zur Siedlerauslese. Berlin: Frank und Thimme, 2006. Beispielhaft verwiesen sei zudem auf Publikationen wie Engelbrecht, Kurt: Deutsche Kunst im totalen Staat. Die Wiedergeburt des Kunsthandwerks. Lahr: Verlag für Volkskunst und Volksbildung, 1933; und Lehmann, Siegfried: Deutsche Volkskunst. Wesen, Ausmaß und Weite der stillen Schaffenskräfte im deutschen Volk. Berlin: Ahnenerbe-Stiftung, 1943. Als spätere, vergleichsweise wissenschaftlich-neutrale Reflexe auf die staatlichen Initiativen der 1920er Jahre sind auch die beiden Ergänzungsbände der Propyläen Kunstgeschichte zu werten: Karlinger, Hans: Deutsche Volkskunst. Berlin: Propyläen, 1938; und Dexel, Walter: Deutsches Handwerksgut. Eine Kultur- und Formgeschichte des Hausgeräts. Berlin: Propyläen, 1939. Einen ersten Überblick über die Publikationstätigkeit der Autoren nach 1933 bietet die umfangreiche Aufsatzsammlung: Spamer, Adolf (Hg.): Die Deutsche Volkskunde. 2 Bde., 2. Auflage, Leipzig: Stubenrauch, 1934. Auch Redslob beschäftigte sich weiter intensiv mit Volkskunst und Brauchtum und legte u. a. im Rahmen der Insel-Bücherei 1944 den Band Des Jahres Lauf. Ein Kalender der Feste, Bräuche und Jahreszeiten vor. Troche, Ernst Günther: »Neuordnung im Deutschen Museum. Zur Eröffnung des Museums für deutsche Volkskunde im Schloß Bellevue«, in: Pantheon 15, 1935, S. 38. Die Gründung des Museums als Staatsinstitution verdeutlicht, wie die Impulse des Reichskunstwarts nach der Aufhebung des Amtes 1933 weiterwirkten.

Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne

mit Redslob kam es aber erst später. Redslob hatte den ehemaligen Referenten auch nach der etatbedingten Entlassung über mehrere Jahre weiter projektgebunden beschäftigt, denn Hahm betreute über die Buchreihe hinaus ein zweites thematisches Großprojekt, die Organisation der Ausstellung Deutsche Volkskunst, die für 1929 in Dresden geplant war. Als späte Antwort auf die Münchner Gewerbeschau sollte das Dresdner Unternehmen die Verbindung von Handwerk, Volk und Moderne verdeutlichen. Mit großem Aufwand und unter Beteiligung aller zur Verfügung stehender Organisationen schmiedeten Redslob und Hahm an einer integralen Überblicksschau, die sämtliche »Grundtypen des deutschen volkstümlichen Schaffens« umfassen sollte, durch Volksspiele und Volksfeste auf dem Ausstellungsgelände ergänzt, um ein »Bild der Festarten aller Stämme« zu geben.56 Allerdings gestaltete sich die gemeinsame Arbeit an den Planungen zunehmend schwierig, nicht nur, weil das Budget nicht gesichert werden konnte. Hahm hatte sich im Verlauf des Frühjahrs 1928 vor Dritten zu missverständlichen Äußerungen über seinen Arbeitgeber hinreißen lassen. Dem mainfränkischen Dichter und Heimatforscher Leo Weismantel, der als Leiter der Schule der Volkschaft mit dem Reichskunstwart in Kontakt stand, musste Redslob mühevoll erklären, dass Hahm »instinktiv immer kleine Keile zwischen mich und diejenigen zu treiben suchte, mit denen er mich verbunden fühlte.«57 Nachdem Hahms Sticheleien auch weiterhin nicht unterblieben, sah Redslob die Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr gegeben und nutzte das Scheitern der Volkskunstausstellung zur Aufkündigung des Verhältnisses. Das Aus der Dresdner Schau, dem letzten großen Projekt im Themenkomplex Volkskunst, das der Reichskunstwart vor seiner Amtsentlassung 1933 verfolgte, hat der Ethnologe Wolfgang Brückner detailliert rekonstruiert.58 Veränderte kulturpolitische Rahmenbedingungen und

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Deutsche Volkskunst-Ausstellung Dresden 1929, Denkschrift von Reichskunstwart Edwin Redslob, S. 5 und 15. Zur Ausstellung ausführlich Heffen: Der Reichskunstwart, S. 215–229. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, I C-36, Schreiben Reichskunstwart an den Leiter der »Schule der Volkschaft, für Volkskunde und Erziehungswesen« Leo Weismantel, 16. Mai 1928. Vgl. weiterhin die Briefe vom 12. Mai 1928 an Redslob und vom 7. Mai an Weismantel im gleichen Konvolut. Hahm, der nach 1933 als Direktor des neu gegründeten Museums für Deutsche Volkskunde in Berlin Karriere machte, galt den neuen Machthabern durch seine Arbeit für den Reichskunstwart politisch suspekt. Im September 1939 bescherte Redslob durch die beiläufige Bemerkung im Gespräch mit einem Buchhändler, Hahm sei Mitglied der SPD gewesen, dem ehemaligen Mitarbeiter erheblichen Ärger. Ob Redslob die Behauptung aus Gehässigkeit fallen ließ, muss unklar bleiben. Vgl. Bundesarchiv Berlin Akten NS 15 /35 pag. 34. Schreiben Amt für Kunstpflege an das Sicherheitshauptamt, Kulturamt, 18. September 1936; weiterhin pag. 42, Schreiben vom 5. November 1936 und Bundesarchiv Berlin Akten RFR, Karteikarte, Hahm, Konrad, Museum für deutsche Volkskunst; sowie Bundesarchiv Berlin NS 15 /255, pag. 54, Schreiben NS-Kulturgemeinde, Amtsleitung an NS-Kulturgemeinde Düsseldorf, 2. November 1935. Hahm, den Wolfgang Brückner als »opportunistischen Überläufer« bezeichnet, war 1934 in die NSDAP eingetreten.

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fiskalische Engpässe, mit denen Redslob im Amt immer zu kämpfen gehabt hatte, waren dabei allerdings nicht das größte Ärgernis. Viel entscheidender war, dass Redslob über die Vorbereitungen zur Schau in Konflikt mit jener Institution geraten war, auf deren gedanklicher Basis sein gesamtes Konzept einer lebendigen Volks- und Handwerkskultur basierte: mit dem Deutschen Werkbund. Schon Mitte 1927 hatte die Dresdner Ausstellung erstmals grundsätzlich in Frage gestanden. In diesem Zusammenhang nahm der Vorstand des Werkbundes in einer Denkschrift an den Reichsinnenminister – den direkten Vorgesetzten des Reichskunstwarts – Stellung und zweifelte an der Aktualität und Relevanz einer Auseinandersetzung mit der Volkskunst generell. Redslob reagierte empört, denn er empfand dieses Schreiben als kulturpolitischen Dolchstoß. Seine Antwort, ein vierseitiges Typoskript, dem man Wut und Enttäuschung anmerkt, trägt die Überschrift: 9 Thesen. Vom Reichskunstwart dem Vorstand des Deutschen Werkbundes zur Abwehr seiner der Volkskunst entgegengesetzten Auffassung übersandt.59 In diesem Pamphlet schlägt Redslob noch einmal kurz und bündig die Brücke vom prägenden Einfluss des frühen Werkbundes hin zur Arbeit des Reichskunstwarts und zeigt auf, warum Volkskunst und Handwerk zentral stehen müssen. Das bisher unbekannte Dokument sei abschließend ausführlich zitiert. »Der Werkbund war […] das Forum selbständig ringender und daher oft miteinander im ideellen Kampfe stehender geistiger Führer. Das letzte große Anzeichen dafür war die Debatte der Kölner Tagung über individuelle und unpersönliche Kunst, bei der es sich nicht um Parteinahme handelte, sondern um die Verarbeitung eines das gesamte künstlerische Schaffen bestimmenden polaren Gegensatzes, wie ein solcher heute zwischen Grossstadtkunst und Volkskunst besteht. […] Vor 1914 also hätte der Werkbund das heute so vielfach die Geister bewegende Problem, wie es in dem Worte ›Volkskunst‹ liegt, aufgenommen. […] Aber man [der Vorstand des Werkbundes] verschob das Bild: man sah lediglich jene Branchenartikel als Dokumente deutscher Volkskunst an, wie sie in Badeorten verkauft werden und dem oberflächlich Urteilenden jede Beschäftigung mit heimatlichem und handwerklichem Erbe zu einer Frage der Maskerade machen. Derselbe Werkbund, der sonst die sachlichen Grundlagen gestaltender Arbeit und so beispielsweise die Frage der Normung mit Recht zu einem Hauptinhalt seiner Behandlung gemacht hat, wollte nicht fühlen, dass Normung nicht nur rechnerische Grundlagen hat sondern auch geistige, die in Sitte, Brauch, Lebensgewohnheit und heimatlicher Eigenart der Völker ihre ewigen Gesetze haben.«

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Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Redslob, III B 3, 9 Thesen, Durchschlag, datiert auf den 19. Juli 1927.

Volkskunst, Handwerk, Nation, Moderne

So war Redslob am Ende seiner Auseinandersetzung mit der Volkskunst wieder zu den Ursprüngen des eigenen Interesses zurückgekehrt: zu Henry van de Velde, dem Werkbund-Streit und dem zentralen Dilemma der Moderne, die es nicht verstand, die Pole der Reformbewegungen – Restauration und Erneuerung – in einem integrativen Gesamtkonzept zu vereinigen. Die Spaltung in Avantgarde und Reaktion, die auf der Kölner Tagung 1914 ihren Ausgang genommen hatte, zeitigte drastische Spätfolgen. 1927 war das Jahr, in dem der Werkbund die institutionelle Spaltung vollzog und sich in die Organisationen »Ring« und »Block« auflöste.60 Gleichzeitig untergrub er nun selbst die Arbeit einer kulturpolitischen Stelle, deren Einrichtung auf seine Initiative zurückgegangen war.

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Zur Gründung der Künstlervereinigung Der Block siehe: Deutsche Bauzeitung 38, 1928, S. 336 und Baukunst 5, 1928, S. 128–129.

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Innentitel von Hahm, Konrad: Deutsche Volkskunst. Mit einem Geleitwort von Dr. Edwin Redslob, Reichskunstwart. Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft 1928 (Gestaltung: Ernst Böhm) Beginn des Geleitworts von Edwin Redslob Detail aus dem Kapitel »Heimatliche Bauweise« (aus: Hahm: Deutsche Volkskunst 1928, S. 21)

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Gehöft in der Grafschaft Glatz /Schlesien und Fränkischer Hof in Meeder/Oberfranken (aus: Hahm: Deutsche Volkskunst 1928, Tafel 3) 5 Memelländisches Haus in Tilsit /Ostpreußen und Vorlaubenhaus in Klettendorf / Westpreußen (aus: Hahm: Deutsche Volkskunst 1928, Tafel 8) 6 Schrotholzkirche in Nibotschau (Nieboczowy) /Oberschlesien und Kapelle im bayrischen Wald mit Totenbrettern (aus: Hahm: Deutsche Volkskunst 1928, Tafel 13) 7 Stühle aus dem Hessischen Landesmuseum, Kassel und dem Museum für Volkskunde, Berlin (aus: Hahm: Deutsche Volkskunst 1928, Tafel 29) 4

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Moderne zwischen Heimat und Globalisierung Anmerkungen zum Deutschen Werkbund

So geläufig Globalisierung heute als Schlagwort ist, so wenig handelt es sich um ein neues Phänomen. Der größte Globalisierungsschub fand wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt.1 So fiel in Europa die Entstehung eines umfassenden, einheitlichen Markts mit der Durchsetzung der meisten klassischen Merkmale der Modernisierung wie Industrialisierung, Verstädterung und Ausbildung von Nationalstaaten zusammen: Globalisierung war ein integraler Bestandteil der Erfahrung der Moderne.2 Diese Entwicklungen wurden von den Zeitgenossen nicht nur als Möglichkeit empfunden, sondern lösten auch Ängste vor der Auflösung von Identitäten aus. Dieser Beitrag wird zu zeigen versuchen, wie Globalisierung in diesem Sinn zu einem grundsätzlichen Überdenken der Rolle des Orts in der modernen Welt führte. Das Vernakulare als das kulturell mit dem Örtlichen verbundene Moment wurde als eine Besonderheit angesehen, die es sorgsam zu bewahren galt. Gleichzeitig war der Rückgriff auf Formen und Motive ländlicher Baukultur engstens mit Bemühungen um eine neue Produktsprache verknüpft, die sich als »national typisch« global vermarkten ließ. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit diesem Zusammenhang im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das Deutsche Kaiserreich spielte nicht nur eine Hauptrolle im Wettkampf um die Eroberung des Weltmarkts. Es wurde auch im Bereich der Kultur zu einem »Laboratorium der Moderne« – und das Jahrzehnte vor den spektakulären Experimenten der Weimarer Republik, 1 2

O’Rourke, Kevin H. / Williamson, Jeff G.: »When Did Globalization Begin?«, in: NBER Working Papers, Nr. W7632, April 2000. Rostow, Walt Whitman: The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto. Cambridge: Cambridge University Press, 1960; Abrams, Philip: Historical Sociology. Ithaca/New York 1982, vor allem S. 108–146; Attir, Mustafa O./Holzner, Burkart /Suda, Zdenek (Hg.): Directions of Change. Modernization Theory, Research, and Realities. Boulder/Colorado 1981; Wehler, Hans Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975. Zur Modernisierung und Entstehung von Nationalstaaten vgl. Eley, Geoff / Suny, Ronald Grigor (Hg.): Becoming National: A Reader. New York 1996.

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die unter anderem mit Gropius und dem Bauhaus das Bild der Moderne auf der ganzen Welt entscheidend prägen sollten.3 Wollen wir die Rolle des Vernakularen als konstitutives Merkmal der Kultur der Moderne verstehen, müssen wir uns mit dem Zusammenhang zwischen Heimatbegriff und Globalisierung in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen. Doch eine kritische Betrachtung der die frühe Moderne bestimmenden Jahre hat nicht nur historische Gründe. Ein zeitlich weiter gefasster Blick auf die Genese der Moderne in ihrer Vielschichtigkeit hat für unser heutiges Verständnis von Globalisierung entscheidende Folgen. Wenn die Globalisierung ein integrales Moment der Entwicklung der Moderne war, muss die gegenwärtige Suche nach einer Vision der Moderne, die ihre Grundlagen auch in lokalen Traditionen findet, das Rad nicht neu erfinden. Die Entwicklung der deutschen Moderne bietet zahlreiche Einsichten, wie das Vernakulare im Sinn des Ortsspezifischen und die Universalsprache der Moderne in Einklang gebracht werden können. Wie viele andere politisch stark aufgeladene Begriffe wird auch jener der Globalisierung häufiger allgemein beschworen als genau definiert. Grob gesprochen lassen sich drei wichtige semantische Merkmale unterscheiden.4 Erstens bezeichnet Globalisierung eine ökonomische Strategie, derer sich die meisten hochindustrialisierten Nationen der Welt bedienen, um die Exporte ihrer Produkte in weniger entwickelte Staaten zu maximieren. Das hat, wie Kritiker oft betonen, problematische Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in den Importländern.5 Zweitens schließt der Begriff der Globalisierung auch Prozesse ein, die nicht rein wirtschaftlicher Natur sind. Denn oft dienen politischer Druck und militärische Drohungen dazu, die Beziehung wirtschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung abzustützen. Drittens: Wenn von Globalisierung gesprochen wird, sind meist auch die kul-

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Zur angeblich »blockierten Modernisierung« Deutschlands vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das deutsche Kaiserreich, 1871–1918. Göttingen 1973; ders.: »The German Double Revolution and the Sonderweg, 1848–79«, in: Rürup, Reinhard (Hg.): The Problem of Revolution in Germany, 1789–1989. Oxford 2000. Nachdrücklich in Frage gestellt haben das Blackbourn, David / Eley, Geoff: The Peculiarities of German History: Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany. Oxford/New York 1984; ebenso wie jüngste kulturgeschichtliche Veröffentlichungen, z. B. Repp, Kevin: Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity. Anti-Politics and the Search for Alternatives, 1890–1914. Cambridge / Mass. 2000; Jenkins, Jennifer: Provincial Modernity: Local Culture and Liberal Politics in Fin-deSiècle Hamburg. Ithaca u. a.: Cornell University Press, 2003; Palmowski, Jan: Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt am Main, 1866–1914. Oxford 1999. Mittelman, James H. (Hg.): The Globalization Syndrome: Transformation and Resistance. Princeton/New Jersey: Princeton University Press, 2000; Scholte, Jan Aart: Globalization: A Critical Introduction. Basingstoke 2000. Zum Beispiel Hout, Wil: Capitalism and the Third World: Development, Dependence and the World System. Aldershot 1993; Alavi, Hamza (Hg.): Capitalism and Colonial Production. London 1982; Seers, Dudley (Hg.): Dependency Theory: A Critical Reassessment. London 1981; Ghosh, Baidyanath N.: Dependency Theory Revisited. Aldershot 2001.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

turellen Folgen dieses ökonomischen Imperialismus gemeint. Durch seine Güter zwingt »der Westen« – ob absichtlich oder nicht – anderen Kulturen seine Identität auf und untergräbt so weltweit den Pluralismus lokaler, regionaler, ethnischer und nationaler Identitäten, prägt das Fremde nach seinem Bild.6 In all diesen Dimensionen bestehen zwischen den imperialen Expansionsbestrebungen im 19. Jahrhundert und der heutigen Globalisierung viele Ähnlichkeiten. Die Eliten vor allem des britischen Weltreichs des 19. Jahrhunderts waren auch nach heutigen Standards schon extrem mobil: Absolventen von Oxford und Cambridge traten in den Staatsdienst und gingen nach Indien, während Kinder indischer Elitefamilien in Oxford oder Cambridge studierten. Ebenso wanderten unqualifizierte europäische Arbeiter im 19. Jahrhundert in großer Zahl nach Nordamerika aus.7 Umgekehrt haben sich im 20. Jahrhundert Versuche, die Mobilität von Arbeitskräften etwa innerhalb der Europäischen Union zu fördern, als vergleichsweise wenig erfolgreich erwiesen. Alan James kommentierte daher, dass das 20. Jahrhundert eher als »Ende der Globalisierung« denn als deren Beginn zu verstehen sei.8 Wie die internationale Mobilität der Arbeitskräfte ist auch der internationale Strom der Güter keine Besonderheit des 20. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert kam es innerhalb wie außerhalb der Bahnen des formellen Kolonialismus zu einer dramatischen Intensivierung des Handels, die erst durch den Protektionismus und mit dem Weltkrieg ihr Ende fand. Außerdem war die wirtschaftliche Globalisierung nicht nur selbstverständlicher Teil des Lebens im Europa des 19. Jahrhunderts: Die Zeitgenossen waren sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Im Lauf des Jahrhunderts veränderte der weltweite Wettbewerb die Art, wie die Menschen die Welt, in der sie lebten, wahrnahmen, ebenso von Grund auf wie ihr eigenes Bewusstsein. Die Geschichte der großen Weltausstellungen ist dafür ein treffendes Beispiel.9 Historiker haben verschiedene Metaphern erprobt, um das tiefgreifende Gefühl des 6

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Mitchell, Timothy (Hg.): Questions of Modernity. Minneapolis 2000; Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis / London 1996; Alsayyad, Nezar (Hg.): Consuming Tradition, Manufacturing Heritage: Global Norms and Urban Forms in the Age of Tourism. London 2001. Ferguson, Niall: »Globalization and Gunboats: The Costs and Benefits of the British Empire Revisited«, unveröff., Oxford University 2002. James, Harold: The End of Globalization: Lessons from the Great Depression. Cambridge Mass./London 2001; Foreman-Peck, James (Hg.): Historical Foundations of Globalization. Cheltenham 1998; Pohl, Hans: Aufbruch der Weltwirtschaft: Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1989; Umbach, Maiken: »Made in Germany«, in: Schulze, Hagen / François, Etienne (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. II, München 2001, S. 405–438. Stoklund, Bjarne: »The Role of International Exhibitions in the Construction of National Cultures in the Nineteenth Century«, in: Etnologia: European Journal of Ethnology 24 /1, 1994, S. 35–44; Rieger, Bernhard: »Envisioning the Future: British and German reactions to the Paris world fair in 1900« in: ders. /Daunton, Martin (Hg.): Meanings of Modernity:

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Neuen und Unsicheren zu fassen, das die Globalisierungserfahrung dieser Generationen kennzeichnete. Versteht man diese Periode als Geburtsepoche der globalen Moderne, verlieren ältere Paradigmen, die das ausgehende 19. Jahrhundert als »Ende«, als historischen Augenblick des Auslaufens einer älteren Epoche, beschreiben, ihre Vormachtstellung. Während Kennzeichnungen wie »Fin de Siècle« oder »Zeitalter der Dekadenz« sich mit einem Rückzug vom wirklichen Leben in eine Welt der Fantasie und der subjektiven Gefühle verbinden, treffen Bezeichnungen wie »nervöses Zeitalter« eher jene von aufgeregter Hilflosigkeit geprägte Haltung, mit welcher die Menschen diese seismischen Umwälzungen ihrer Zeit beobachteten, kommentierten, zu befördern oder zu verhindern trachteten.10 Wir können die Reaktionen der Zeitgenossen auf die erste Welle der Globalisierung allerdings nur dann wirklich verstehen, wenn wir auch ein anderes Dogma der Modernisierungstheorie neu überdenken: nämlich die Annahme, lokale Identitäten seien durch die Nation ebenso verdrängt worden wie später nationale Identitäten durch die Globalisierung. Wie die Beziehung zwischen Nationalismus und Globalisierung nicht als eine Aufeinanderfolge, sondern als Gleichzeitigkeit verstanden werden muss, bedarf auch die Idee eines linearen Fortschritts vom Lokalen zum Nationalen einer Überprüfung. Das Zusammendenken beider Identitätsräume, des nationalen wie des lokalen, bildete die Basis für das zeitgenössische Verständnis einer neuen, globalen Welt. 1990 veröffentlichte Celia Applegate ihr einflussreiches Buch A Nation of Provincials,11 das mit der Beachtung von lokalen oder heimatlichen Emotionen als konstitutiv für den Prozess der Nationswerdung neue Entwicklungen in der Nationalismusforschung initiierte. Weit davon entfernt, der nationalen Integration im Weg zu stehen, half die konkrete, vertraute Bildsprache von Heimat vielen Menschen, sich von der abstrakten Kategorie »Nation« eine Vorstellung zu machen. Die lokale Sphäre der Erfahrung wurde so zur »Metapher« oder zum Vehikel für die Erfindung der Nation.12 Daher ist es weder überraschend noch paradox, dass man genau dann ein Wiederaufleben »heimatgebundener« Stilformen und

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Britain from the Late-Victorian Era to World War II. Oxford/New York 2001, S. 145–165; Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt am Main / New York 1999; Plum, Werner: World Exhibitions in the Nineteenth Century: Pageants of Social and Political Change. (Übers. von Lux Furtmüller) Bonn-Bad Godesberg 1977. Radkau, Joachim: »Die Wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo und Körpergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 20/2, 1994, S. 211–241. Applegate, Celia: A Nation of Provincials: The German Idea of Heimat. Berkeley 1990. Confino, Alon: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany and National Memory 1871–1918. Chapel Hill / London 1997; Jenkins: Provincial Modernity, op. cit.; Kunz, Georg: Verortete Geschichte: Regionales Geschichtsbewusstsein in den deutschen Historischen Vereinen des neunzehnten Jahrhunderts. Göttingen 2000; Appadurai: Modernity at Large, op. cit., siehe vor allem den Abschnitt über »The Production of Locality«, S. 178–199.

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die Propagierung von Heimatbildern beobachten kann, als der Nationalismus einen Höhepunkt erlebte, nämlich vor dem Ersten Weltkrieg und in den Kriegsjahren. Idealisierte Darstellungen der (ländlichen) Heimat spielten nicht nur eine Schlüsselrolle in der Kriegspropaganda. Vor allem in Deutschland zog die Sache der Heimat – die Bewahrung und Wiederbelebung lokaler und regionaler Traditionen – von 1900 an eine Massenanhängerschaft an.13 Die große Mehrzahl der sich mit der Ikonografie und Choreografie der Idee der Heimat auseinandersetzenden Studien stuft diese jedoch noch immer als rückwärtsgewandt, nostalgisch und im Wesentlichen antimodern ein. Wenn sich die Begeisterung für das Lokale im Sinn von Heimat mit Nationalismus vertrug, so wird behauptet, habe das mit einer konservativen Orientierung beider zu tun. Wie die Nationalisten mögen auch die Befürworter des Heimatgedankens Gefühle für das Lokale mobilisiert haben, um mehr Unterstützung seitens der Öffentlichkeit zu gewinnen – doch sie riefen auch Imperialismus und Xenophobie auf den Plan, die ihrerseits kaum als fortschrittliche Ideen einzustufen sind. Die meisten vorliegenden Untersuchungen vertreten den Standpunkt, dass jene Elemente des Nationalismus, die tatsächlich fortschrittlich, sprich: demokratisch und partizipatorisch (oder anders gesagt: modern), waren, kaum etwas mit dem Wiederauftauchen der Begeisterung für Lokales in dieser Epoche gemeinsam hatten.14 Das ist eine These, die die deutschsprachige Literatur zu diesem Thema besonders nachdrücklich hervorhebt. Viel von dem, was in wilhelminischer Zeit mit der Idee der Heimat verbunden wurde, schien in der völkischen Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis wieder zutage zu treten.15 Auch wenn nicht alle Befürworter des Heimatgedankens vor dem Ersten Weltkrieg ausgesprochene Rassisten waren, standen zumindest Einrichtungen wie der Bund Heimatschutz ideologisch einer romantisch verklärten, ländlichen Vergangenheit nahe, in der es keinen Platz für Fortschritt, urbanes Leben und demokratischen Pluralismus – geschweige

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Rollins, William R.: A Greener Vision of Home: Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement, 1904–1918. Ann Arbor 1997; Midgley, David: »Los von Berlin! Anti-Urbanism as Counter-Culture in Early Twentieth-Century Germany«, in: Giles, Steve/Oergel, Maike (Hg.): Counter-Cultures in Germany and Central Europe. From Sturm und Drang to Baader-Meinhof. Oxford 2003, S. 121–136. Klueting, Edeltraut (Hg.): Antimodernismus und Reform: Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991; Hartung, Werner: Konservative Zivilisationskritik und regionale Identität am Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung 1895 bis 1919. Hannover 1991. Kramer, Dieter: »Die politische und ökonomische Funktionalisierung von ›Heimat‹ im deutschen Imperialismus und Faschismus« in: Diskurs 6–7, 1973, S. 3–22; Reeken, David von: Heimatbewegung, Kulturpolitik und Nationalsozialismus. Die Geschichte der »Ostfriesischen Landschaft« 1918–1949. Aurich 1995; Williams, J. A.: »The Chords of the German Soul are tuned to Nature: The Movement to Preserve the Natural Heimat from Kaiserreich to the Third Reich«, in: Central European History 29 /3, 1996, S. 339–384.

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denn Multikulturalität – gab. Darauf konnten sich die Nazis in ihrer Propaganda stützen – und taten es auch. Oft wird zur Veranschaulichung des Zusammenhangs die Karriere des wilhelminischen Heimatschutz-Verfechters Paul Schultze-Naumburg herangezogen, der nach 1933 zu einer wichtigen Figur der nationalsozialistischen Kulturpolitik avancierte.16 Wenn es noch Differenzen gab, lag das in einer fundamental reaktionären Einstellung des Bund Heimatschutz, die es selbst den Nazis schwer machte, diese Ideologie rückhaltlos in ihr immerhin zu Teilen modernes System einzugliedern. Vom Standpunkt der Nazis aus bestand das Problem der Heimatideologie darin, dass diese sich selbst jenen Aspekten der Moderne widersetzte, die der Nationalsozialismus integrieren wollte: dem technischen Fortschritt, der Urbanisierung und dem Leben in einer modernen »Massengesellschaft«. Dieser Beitrag zielt nicht darauf ab, die reaktionären Momente der Heimatidee herunterzuspielen oder zu beschönigen. Er plädiert allerdings für eine Neueinschätzung der Rolle, welche das Vernakulare bei der Entstehung der Moderne spielte – nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und sogar in Amerika. Zu diesem Zweck gilt es, zwischen verschiedenen Arten von Heimatgefühl zu unterscheiden. Die Erfindung der Heimat war nicht weniger vieldeutig als die der Nation. Wie es nicht nur »einen« Nationalismus gab, so gab es auch nicht nur eine Form der Begeisterung für das Lokale oder Regionale. Mancher Heimatentwurf hatte nostalgische Obertöne, tendierte dazu, Bezüge zu einer ländlichen, vorindustriellen Vergangenheit herzustellen und nivellierte, indem er auf eine Standard-Ikonografie der lokalen Idylle setzte, die Besonderheit bestimmter Regionen, welche er zu feiern vorgab. Politisch erwies sich ein solches Heimatbild in der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs als besonders nützlich.17 [abb. 3] Häufig begegnet man ihm auf britischen und französischen sowie deutschen Plakaten, Ansichtskarten und Flugblättern und sogar in den Briefen der Soldaten selbst. Doch neben diesen Heimatbildern finden sich auch welche, die weniger eindeutig antimodern waren und regionalen Besonderheiten größeren Stellenwert einräumten, auch wenn es sich dabei ebenfalls um kulturelle Konstrukte handelte. Diese Bilder nahmen explizit urbane und technische Merkmale auf. Schon vor dem Ersten Weltkrieg formuliert, wurden sie keineswegs vollständig durch idyllisierte Heimatbilder der Kriegspropaganda verdrängt.

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Bormann, N.: Paul Schultze-Naumburg, 1869–1949. Maler, Publizist, Architekt. Vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kulturpolitiker im Dritten Reich. Essen 1989. Verhey, Jeffrey: The Spirit of 1914: Militarism, Myth and Mobilization in Germany. Cambridge 2000; Ziemann, Bernd: Front und Heimat: Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923. Essen 1997; Reimann, Aribert: Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Essen 2000.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

Dass die Grenzen zwischen diesen zwei Typen von Heimat verschwimmen und sich viele Tropen des sprachlichen und bildlichen Diskurses im frühen 20. Jahrhundert auf beide Typen stützten, tut der Bedeutung der analytischen Unterscheidung keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sie erscheint vor diesem Hintergrund umso notwendiger, wenn wir die zutiefst zwiespältige Rolle der Heimatidee in der (Bau)Geschichte der Moderne verstehen wollen. Dazu müssen wir uns zunächst fragen, was man damals unter Modernität verstand. Ökonomisch gesehen war die Antwort klar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt England als die moderne Nation schlechthin. England war nicht nur das Herzstück eines globalen Imperiums, sondern hatte auch der industriellen Revolution den Weg bereitet und exportierte Waren in alle Teile der Welt. Vom Standpunkt vieler deutscher Reformer aus hieß Fortschritt, diese Erfolgsgeschichte zu kopieren. Manche Stimmen warnten allerdings davor, dass bloßes »Kopieren« nicht genug sei. Sie meinten, dass englische Produkte erfolgreich seien, weil sie einen bestimmten Nationalcharakter zum Ausdruck brächten, der sich per definitionem einer unmittelbaren Nachahmung widersetzen würde: »Bestimmend für eine erste Rolle ist nur der der Leistung innewohnende ideale Eigenwert, der Kulturwert. […] daß England am Ende des 18. Jahrhunderts, als es seine bahnbrechende, für die bürgerliche Kultur ausschlaggebende Möbelkunst entwickelte, bis zu einem gewissen Grade auf dem Weltmarkte mitsprechen konnte, verdankt es ebenfalls lediglich seiner selbständigen nationalen Leistung. Auch der neuere kunstgewerbliche Einfluß Englands auf dem Weltmarkte ist belehrend genug. Nur dadurch, daß England eigenes gab, wurden seine Stoffe, seine Teppiche, seine Möbel in den letzten zwanzig Jahren zu etwas, was auf dem Weltmarkte eine eigene Note darstellte. Der kommerzielle Erfolg marschiert im Gefolge solcher beherrschenden inneren Werte.«18 Diese Zeilen stammen vom Architekten Hermann Muthesius, der nicht nur ein scharfsichtiger und einflussreicher politischer Kommentator jener Zeit war,19 sondern auch bei der Förderung wirtschaftlicher Modernisierung in 18

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Muthesius, Hermann: »Die Bedeutung des Kunstgewerbes«, Vortrag an der Handelshochschule Berlin 1907, wieder abgedruckt in: Fischer, Wend (Hg.): Zwischen Kunst und Industrie: Der Deutsche Werkbund. Ausstellungskatalog, überarb. Ausgabe, Stuttgart 1987, S. 39–55, Zitat S. 49. Einige der zahllosen Aufsätze und Reden von Muthesius finden sich in: Hubrich, Hans-Joachim: Hermann Muthesius: Die Schriften zu Architektur, Kunstgewerbe, Industrie in der »Neuen Bewegung«. Berlin 1980. Zur Deutung von Muthesius’ Aussagen siehe Roth, Fedor: Hermann Muthesius und die Idee der harmonischen Kultur. Kultur als Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Berlin 2001; Maciuika, John V.: Before the Bauhaus. Architecture, Politics, and the German State, 1890–1920. Cambridge 2005; Schwartz, Frederic J.: The Werkbund: Design Theory and Mass Culture before the First World War. New Haven und London 1996.

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Deutschland eine wichtige Rolle spielte. Seine Ansichten bieten daher einen brauchbaren Ausgangspunkt für die Frage, auf welche Weise die Kontinentaleuropäer sich in ihrer Antwort auf die Herausforderung durch den britischen globalen Erfolg der Heimat sich als Wurzel nationaler Identität zuwandten. Muthesius, der eine Ausbildung in Kunstgeschichte und Architektur genossen hatte, trat 1893 in den preußischen Staatsdienst.20 1896 wurde er nach England entsandt, wo er sieben Jahre lang als technischer Attaché und Kulturattaché an der deutschen Botschaft in London tätig war. Sein Auftrag lautete, Berichte über den industriellen Erfolg Großbritanniens zusammenzustellen und Möglichkeiten vorzuschlagen, wie das Deutsche Reich dem nacheifern könnte. Nachdem er nach Deutschland in das Königlich Preußische Ministerium für Handel und Gewerbe zurückgekehrt war, half er jenes von England inspirierte Reformprogramm zu fördern und umzusetzen, das er selbst während seiner Jahre im Ausland entworfen hatte. Er blieb bis 1926 in diesem Amt tätig. Hatte Muthesius 1907 die nationale Besonderheit Englands als Geheimnis seines Erfolgs auf dem Weltmarkt beschrieben, so verkündete er 1915 überzeugt, dass Deutschland nun bereit sei, in seine Fußstapfen zu treten. Die »deutsche Form« werde nun zur »Weltform«, denn: »Es gilt mehr als die Welt zu beherrschen, mehr als sie zu finanzieren, sie zu unterrichten, sie mit Waren und Gütern zu überschwemmen. Es gilt ihr das Gesicht zu geben. Erst das Volk, das diese Tat vollbringt, steht wahrhaft an der Spitze der Welt; und Deutschland muß dieses Volk werden.«21 Diese eklatant chauvinistische Aussage war freilich nicht ganz ohne Grundlage. Zwischen 1870 und 1913 war der Anteil Deutschlands an der weltweiten industriellen Produktion von 13 auf 16 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum war der Anteil Englands von 32 auf 14 Prozent zurückgegangen.22 Es gab für diesen Trend eine Reihe von Symptomen, die für die Zeitgenossen sichtbarer waren als abstrakte Statistiken. Die Geschichte der Kennzeichnung Made in Germany ist eines davon.23 Der 1887 verabschiedete British Merchandise Act zwang deutsche Hersteller, alle für den Export nach Großbritannien oder dessen Kolonien bestimmten Produkte mit dem Hinweis Made 20

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Vgl. Julius Posener zu Muthesius, etwa »Hermann Muthesius«, in: Architect’s Yearbook 10, 1962, S. 45–61; ders.: Anfänge des Funktionalismus: Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund. Berlin / Frankfurt am Main / Wien 1964; ders.: »From Schinckel to Bauhaus: Five Lectures on the Growth of Modern German Architecture«, in: Architectural Association Papers 5, London 1972. Muthesius, Hermann: »Die Zukunft der deutschen Form«, in: Der Deutsche Krieg: Politische Flugschriften 50, hg. von Ernst Jäckh, Stuttgart und Berlin 1915, S. 36. Bartmuß, Hans-Joachim et al. (Hg.): Deutsche Geschichte. Bd. II, Berlin 1975, S. 785. Vgl. Head, David: »Made in Germany«. The Corporate Identity of a Nation. London 1992; Umbach: »Made in Germany«.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

in Germany zu kennzeichnen. Dem lag die Annahme zugrunde, dass britische Konsumenten, wenn sie einmal davor gewarnt worden waren, dass bestimmte Güter aus Deutschland stammten, davor zurückschrecken würden, diese zu kaufen: Sie wurden als billige, minderwertige Kopien englischer Produkte angesehen. Diese Einschätzung wurde von vielen Deutschen geteilt, und das besonders nach dem Debakel der Weltausstellung in Philadelphia 1876.24 Gegen Ende der 1890er Jahre hatte sich das Bild jedoch dramatisch gewandelt. Made in Germany war keine abschätzige Bezeichnung mehr, sondern stand nun für Güter eines hohen technischen und ästhetischen Standards. Englische Hersteller begannen sogar, die Aufschrift zu fälschen und in England produzierte Waren damit zu bedrucken.25 Die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und kultureller Moderne wird an diesem Punkt sehr augenfällig. 1896 veröffentlichte der englische Journalist E. E. Williams ein Buch mit dem Titel Made in Germany, das den Verfall britischer Erzeugung und Technologie untersuchte und beschrieb, wie Deutschland die Welt ökonomisch eroberte, indem es sie mit seinen Produkten überschwemmte und damit bis in die Privatsphäre englischer Durchschnittshaushalte vorstieß. Der Held seines Berichts ist entsetzt, als er die schleichende »Germanisierung« seiner Welt entdeckt. Über das Ausmaß verzweifelnd, in dem deutsche Konsumgüter inzwischen selbst seinen vertrauten persönlichen Bereich beherrschen, schläft er ein und muss in einem Albtraum erleben, dass selbst das Tor zum Himmel nun von einem deutschen Petrus bewacht wird und nur mit einem Schlüssel Made in Germany aufgesperrt werden kann. 26 Williams’ Beobachtungen spiegelten damals weithin verbreitete Vorstellungen wider.27 Im Lauf der 1890er Jahre stellten wesentliche Teile der deutschen Produktion erfolgreich auf »Qualitätsarbeit« um und überwanden so das Philadelphia-Syndrom. Das war nicht nur eine Frage der Exportstatistik. In Deutschland gefertigte Produkte wurden zu Instrumenten für eine geistige Eroberung der Welt. Die meisten Zeitgenossen teilten Muthesius’ Einschätzung, dass »an der Spitzen der Welt« zu stehen hieß, »ihr das Gesicht zu geben« Dies war die machtpolitische Wirklichkeit hinter der Wiederentdekkung des Vernakularen als eines global vermarktbaren Werts. Zumindest an der Oberfläche war die Motivation ökonomisch. Organisatorisch spielte

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Bonnell, Andrew: »Cheap and Nasty: German Goods, Socialism, and the 1876 Philadelphia World Fair«, in: International Review of Social History 46, 2001, S. 207–226. Hirschmann, R. G.: »Made in Germany – Rolle und Bedeutung aus deutscher Sicht«, in: Dokumentation »Made in Germany«: Deutsche Qualität auf dem Prüfstand. Achter deutscher Quality Circle Kongress, Mannheim 1989, S. 7–16. Williams, Ernest Edwin: Made in Germany. Neuaufl., Brighton 1973 (1896). Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit: Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000.

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die vermeintlich konservative preußische Regierung eine entscheidende Rolle, indem sie das Projekt propagandistisch mit einem auch politisch aufgeladenen Imperialismus verknüpfte.28 Doch diese praktischen Anliegen fielen mit einer viel weiterreichenden und breiter angelegten Neueinschätzung der Rolle des »Orts« in der Moderne zusammen und zogen daraus Nutzen. Das wird in der Geschichte des Deutschen Werkbundes sehr deutlich. Indem deutsche Industrielle wie Politiker auf diese Organisation bauten, um ihre unmittelbaren Ziele durchzusetzen, stützten sie sich auf ein Reformprogramm, das auf eine viel grundsätzlichere Neugestaltung von »Kultur« abzielte, und förderten dieses, wenn auch vielleicht unwissentlich.29 Das wird klar, wenn man bedenkt, wer denn die wesentlichen Mitglieder des Werkbunds waren. Der 1907 gegründete Werkbund vereinte industrielle Hersteller und individuelle Designer, die zusammenarbeiten wollten, um Qualitätsprodukte mit einem international erkennbaren entschieden »deutschen« Charakter herzustellen. Verschiedene Werkstattbetriebe traten sofort bei, so die Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst (mit etwa 600 Beschäftigten) und die Thonet-Stuhlfabriken (mit 6.000 Beschäftigten an sieben Produktionsstätten). In den Jahren bis 1914 wurden auch große Industrieunternehmen Mitglieder des Werkbunds, zum Beispiel aeg, Siemens, Bosch, basf und Mercedes Benz. Doch die große Mehrheit der kreativen Köpfe im Werkbund waren Personen, die nicht oder zumindest nicht vorrangig als Industriedesigner arbeiteten. Sie hatten, mit Ausnahme von Muthesius, oft eine künstlerische Ausbildung genossen, waren zuerst als Architekten, dann als Theoretiker der vernakularen Moderne und schließlich als Sozialreformer tätig – und außerdem auch noch Objektgestalter. Es stimmt zwar, dass der Werkbund eine ansehnliche Sammlung von Mustergegenständen anhäufte, die industrielle Gestalter anregen und ihnen eine Richtschnur an die Hand geben sollten.30 Doch die Bemühungen des Werkbunds, der Industriekultur eine lokale Identität einzuimpfen, gingen bald über Gestaltungs-, Image- und Marketingfragen hinaus. Tatsächlich beruhten viele Aktivitäten des Werkbunds auf der Prämisse, dass »reine 28 29

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Maciuika, John V.: Before the Bauhaus. Architecture, Politics and the German State, 1890– 1920. Cambridge 2008. Campbell, Joan: The German Werkbund: The Politics of Reform in the Applied Arts. Princeton 1978, v. a. S. 3–81; dies.: Joy of Work, German Work. Princeton/Oxford 1989; Muthesius, Stefan: Das englische Vorbild: Eine Studie zu den deutschen Reformbewegungen in Architektur, Wohnbau und Kunstgewerbe im späten 19. Jahrhundert. München 1974; Jarzombek, Mark: »The Kunstgewerbe, the Werkbund and the Aesthetics of Culture in the Wilhelmine Period«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 53 /1, März 1994, S. 7–19; Junghanns, Kurt: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin 1982. »Moderne Formgebung: 1900–1914: Die Mustersammlung des Deutschen Werkbundes«, in: Fehr, Michael / Röder, Sabine / Storck, Gerhard (Hg.): Das Schöne und der Alltag: Die Anfänge des modernen Designs, 1900–1914. Köln 1997, S. 10–305.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

Gestaltung« im Sinn eines Gegenstände oder Gebäude schmückenden »Stils« abzulehnen sei. Die Kultivierung eines Gefühls für das Lokale in der Herstellung sollte auf einem umfassenden Projekt kultureller Reform gründen, in dem das Vernakulare als Sprungbrett für die Umgestaltung aller Aspekte des menschlichen Lebens diente. Insofern unterschieden sich die Aktivitäten des Werkbunds dramatisch von der für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristischen Gestaltung nationaler »Ikonen« wie dem Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig, dem Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, den triumphalistischen Großbauten wie dem Wallotschen Reichstagsgebäude, der Pariser Oper, dem Brüsseler Justizpalast oder der Wiener Ringstraßenarchitektur.31 Projekte dieser Art bedienten sich eines allegorischen Vokabulars, das bei allem ostentativen Nationalismus wenig Raum für »Lokales« ließ. Die offizielle Architektur des Nationalismus wurde vom stilistischen Eklektizismus des Historismus beherrscht. Sie stützte sich auf ein Ensemble vorgegebener stilistischer Idiome, die sich entweder in allen europäischen Kulturen fanden oder freizügig unterschiedliche nationale Traditionen verbanden. In der Architektur des späten 19. Jahrhunderts erfreuten sich beispielsweise die flämische, die italienische und die französische Renaissance gleichermaßen großer Beliebtheit. Das Programm des Werkbunds lehnte dieses Erbe ab, das es mit stilistischer und ideologischer Unwahrheit verband, und wandte sich stattdessen der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung als Modell der vernakularen Moderne zu. In und außerhalb Englands wurde John Ruskin als Vorbote einer neuen lokal begründeten Kultur vorgestellt, deren es im Zeitalter der Globalisierung bedurfte. »Ihm [Ruskin] gelang es, die Herzen des englischen Volkes für die Kunst zu öffnen. Und zwar für die Kunst in dem besonderen germanischen Sinne, für das Werkmäßige, Charakteristische, Bodenwüchsige, Ursprüngliche in ihr, für die Kunst des täglichen Lebens und der ganzen menschlichen Umgebung. Seine Grundsätze [waren die] des Strebens nach Aufrichtigkeit und Vertiefung in der Kunst, der Abwendung von falschem Prunk und bloßer Eleganz, seine Überzeugung, daß die Kunst einen notwendigen Bestandteil des Seelenlebens ausmachen müsse [...].«32

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Die meisten jüngsten Studien übernehmen das von Charlotte Tacke in Denkmal im sozialen Raum: Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995, entwickelte Format. Muthesius, Hermann: »Die moderne Bewegung«, in: Speemanns goldenes Buch der Kunst. Berlin /Stuttgart 1901, unpag., Abschn. 1029-1060, Zitat Abschn. 1031; ders.: »John Ruskin«, in: Centralblatt der Bauverwaltung 7, 27. Januar 1900, S. 43. Siehe auch T. Saler, Michael: The Avant-Garde in Inter-War England: Medieval Modernism and the London Underground. Oxford 1999, v. a. S. 10–24.

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Obwohl Ruskin und William Morris in ihren Gestaltungslösungen auf neugotische Motive zurückgriffen, war ihre zugrunde liegende Ideologie antihistoristisch.33 Sie sahen, unabhängig von den Zeitstilen, authentische Handwerkskunst als einzige rechtmäßige Quelle der Kultur an. Es waren die Traditionen des heimischen Handwerks und eine als Antwort auf die praktischen Bedürfnisse des englischen Volks entstandene Bildsprache, aus denen funktionale und gleichzeitig »behagliche« Formen abgeleitet wurden.33 Letztlich ging es um eine moralische Erneuerung der britischen Gesellschaft.35 Ruskin, Morris und ihre Anhänger hielten das Problem der »Entfremdung« zu allererst für ein kulturelles Problem. Nicht das Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern der Produktionsprozess müsse geändert werden. Die Aufgabe bestand darin, die »Arbeit« als in industrialisierten Ländern vorherrschenden Entfremdungszustand abzuschaffen und zu qualitativer Arbeit zurückzukehren, die dem menschlichen Produzenten ein Gefühl der Identität und des Stolzes vermittelte.36 Bald wurde jedoch offensichtlich, dass die Rückkehr zu vorindustriellen Formen der Herstellung in der Praxis mit unauflösbaren Schwierigkeiten einherging. Die in den Werkstätten von Morris verwendeten Techniken waren für das industrielle Zeitalter schlecht geeignet, und zudem waren die Produkte so teuer, dass sie für Morris’ Hauptzielgruppe, die entfremdeten Massen, nicht in Frage kamen.37 Bereits in den 1860er Jahren versuchten deutsche Praktiker, die ideologischen Ziele der Arts-and-Crafts-Bewegung mit jenen modernen Produktionstechniken in Einklang zu bringen, die Ruskin abgelehnt hatte. Statt die Fabriksproduktion aufzugeben, sollten Maschinen in arbeiterfreundlicherer Weise verwendet werden: Sie sollten die rein mechanischen Aufgaben übernehmen und so helfen, in der Arbeit der menschlichen Produzenten wieder Kreativität und handwerkliches Geschick zu ihrem Recht zu verhelfen. Hermann Schwabe sprach davon, »Maschinen zum vierten Stand zu machen und so viele Arbeiter wie möglich wieder in den dritten Stand zu heben.«38 33 34

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Wheeler, Michael / Whiteley, Nigel (Hg.): The Lamp of Memory: Ruskin, Tradition, and Architecture. Manchester 1992. Davey, Peter: Arts and Crafts Architecture. London 1995; Naylor, Gillian: The Arts and Crafts Movement: A Study of its Sources, Ideals and Influence on Design Theory. London 1971; Cumming, Elizabeth / Kaplan, Wendy: The Arts and Crafts Movement. London 1991; Chaves, André: Intentionality and Arts and Crafts Decoration. Pasadena 1996. Hewison, Robert (Hg.): New Approaches to Ruskin: Thirteen Essays. London 1981; Stansky, Peter: William Morris, C. R. Ashbee and the Arts and Crafts. London 1984. Boris, Eileen: Art and Labor. Ruskin, Morris, and the Craftsman Ideal in America. Philadelphia 1986. Stansky, Peter: Redesigning the World. William Morris, the 1880s, and the Arts and Crafts. Princeton 1985; Austin, Linda Marilyn: The Practical Ruskin: Economics and Audience in the late Work. Baltimore und London 1991. Schwabe, Hermann: »Die Förderung der Kunst-Industrie in England und der Stand dieser Frage in Deutschland«, 1866, zit. nach Franke, Monika: »Entstehungsgeschichte des König-

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

Der Werkbund griff dieses Programm auf. Wie Adolf Vetter 1910 in seiner programmatischen Rede bei der Jahrestagung des Werkbunds betonte, stellte das Ziel der Vereinigung, deutsche Wertarbeit zu fördern, eine direkte Übersetzung Ruskin’scher Kategorien dar. Auch in England brachte der »mittelalterliche Modernismus« eine fortschrittliche Fraktion hervor, die sich für eine pro-industriellen Haltung aussprach. Ihr Einfluss blieb jedoch beschränkter als in Deutschland. Noel Rooke meinte: »Wir haben nicht nur das Gesicht, sondern die Richtung der deutschen Industrie verändert. In all den Jahren vor dem Krieg konnten [jedoch] jene von uns, die das wollten, viel weniger Einfluss auf die britische Industrie nehmen.«39 Die Gründe für diesen Unterschied waren mannigfaltig, hatten aber wenig mit einer angeblich spezifisch deutschen Idee der »Freude an der Arbeit« zu tun, auf die in diesem Zusammenhang häufig verwiesen wird.40 Die Tendenz, der Arbeit eine Bedeutung beizumessen, welche die Qualität jedes gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhangs bestimmte, war vielmehr Moment einer internationalen Bewegung. Dabei wandten sich reformerische Kräfte überall in Europa und in den Vereinigten Staaten dem Vernakularen in ihrem Bemühen zu, das Lokale für die Moderne wiederzugewinnen. Die Gründe für den vergleichsweise größeren Erfolg des Werkbunds waren ganz konkreter Art. Zunächst einmal waren die wichtigen Londoner Ausbildungsstätten für Gestaltung von der Provinz abgeschnitten, wo sich die britische industrielle Produktion konzentrierte. Es gab keine britische Organisation wie den Werkbund, in der sich die Gestalter und jene, die Entwürfe in industriellen Maßstab übersetzten, zusammengeschlossen hätten. Ein weiterer Grund war politischer Art. In Deutschland spielte die staatliche Verwaltung, selbst jene des angeblich konservativen und von Junkern beherrschten Preußen, eine wesentliche und unmittelbare Rolle bei der Förderung der modernen industriellen Gestaltung. In Großbritannien hingegen kamen von den Erziehungsbehörden kaum mehr als symbolische Ermunterungen zur Reformierung dieses Bereichs.41 Dieser Unterschied in den Auffassungen bestand zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg. In Deutschland betrachtete man das Ziel einer industriellen Weltwirtschaft als Projekt, dessen Verwirklichung der systematischen Zusammenarbeit des Staats und einer Reihe freiwilliger Einrichtungen wie des Werkbunds bedurfte. Im Gegensatz

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lichen Kunstgewerbemuseums in Berlin«, in: Werkbund-Archiv (Hg.): Packeis und Preßglas: Von der Kunstgewerbebewegung zum Deutschen Werkbund. Berlin 1987, S. 174–185. Rooke, Noel: The Craftsman and Education for Industry. Four Lectures, Arts and Crafts Exhibition Society. London 1935, Zitat S. 57. Schatz, Holger/ Woeldike, Andrea: »Deutsche Arbeit und eleminatorischer Anti-Semitismus. Über die sozio-ökonomische Bedingtheit einer kulturellen Tradition«, in: Elsässer, Jürgen / Markovits, Andrei S. (Hg.): Die Fratze der eigenen Geschichte. Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawien-Krieg. Berlin 1999, S. 103–123. Saler: The Avant-Garde, S. 61–91.

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dazu sahen in Großbritannien nur wenige die Notwendigkeit zu einer solchen konzertierten Aktion: Schließlich beherrschte man ja bereits die Weltmeere. Wo Reforminitiativen entstanden, blieben diese meist isoliert und widmeten sich einzelnen Symptomen der Modernisierung. Manche dieser Initiativen zielten auf eine Überwindung der Entfremdung der Arbeiter ab, andere setzten sich für eine Verbesserung des allgemeinen Geschmacks, für die Förderung des Nationalstolzes oder, wie die Väter des British Merchandise Act, dafür ein, es mit der deutschen Wirtschaftskonkurrenz aufzunehmen. Diese Initiativen wurden nicht als Teile einer umfassenden Strategie entwickelt oder zu einer solchen verklammert. Es wäre jedoch falsch, davon auszugehen, die Vorstellungen Ruskins und Morris’ wären an sich ungeeignet für die Industrie und den Weltmarkt gewesen. Die Entwicklung in Deutschland beweist das Gegenteil. Dort boten die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einfach bessere Möglichkeiten für eine Synthese. Begrifflich gesehen verband die Vorstellung des Vernakularen die beiden entscheidenden Komponenten des Reformprojekts: die handwerkliche Tradition und ein Gefühl der geografischen »Verwurzelung«, das der drohenden Entfremdung zwischen den Menschen und der materiellen Kultur der Moderne entgegenstand. Wenn die meisten Mitglieder des Deutschen Werkbunds auch begeisterte Nationalisten waren, meinten sie doch nicht, die Nation allein könne den Sinn für den Ort zurückbringen. Obgleich Muthesius eine »Typisierung« des deutschen Werkbundschaffens einforderte,42 hatten nationale Idiome auf die Entwicklung der neuen Formensprache in Wahrheit nur wenig Einfluss. Der Raum der Nation war ja schließlich selbst eine Abstraktion. Es war stattdessen die konkrete Bildsprache von Heimat, die das Tor zur Wiedererlangung eines Gefühls für das Lokale in der Moderne aufstoßen sollte. Heimat bezeichnete den für einen Ort oder eine Region spezifischen Komplex materieller Konventionen, die in der Privatheit des Heims ihren reinsten Ausdruck fanden. Auch dieser Ansatz hatte nichts spezifisch Deutsches. Es war sogar nicht einmal das deutsche Heim, von dem die Debatte ihren Ausgang nahm. 1904 / 05 veröffentlichte Muthesius ein mehrbändiges Werk mit dem Titel Das englische Haus, in dem er darlegte, dass die vernakulare Architektur des Wohnbaus den Geist der englischen Nationalidentität verkörpere.43 Ein »einfaches Haus [...], das sich an die ländlichen Baumotive anschließt und nach logisch fachlichen Grundsätzen aufgebaut ist«, sollte die »aufgeputzte, mit allerhand historischem Formenkram überladene Villa« ersetzen.44 42 43 44

Eine klassische Darlegung des Themas bietet seine Rede bei der Werkbund-Tagung in Köln 1914, zit. in Fischer (Hg.): Zwischen Kunst und Industrie, S. 112. Muthesius, Hermann: Das Englische Haus: Entwicklungen, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum. 3 Bde., Berlin 1904–1905, Bd. 2, überarb. Aufl. 1908–1911. Muthesius: »Die Bedeutung des Kunstgewerbes«, S. 45.

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Die bevorzugten Adjektive waren »einfach«, »rational«, »bequem«, »praktisch«, »gemütlich« und natürlich »heimatlich«. Das waren die Werte, denen sich der Werkbund verschreiben sollte. Und diese Werte sollten zu allererst durch Bauten ihre Umsetzung finden und erst anschließend in der kunstgewerblichen Gestaltung von Gegenständen. Die Bauten selbst, wenn auch durch die bedeutendsten Mitglieder des Werkbunds errichtet, kommen jedoch in der Historiografie der architektonischen Moderne nur selten vor. Heute wird die These, dass die Moderne in der Architektur sich gerade durch die Ablehnung des Häuslichen definierte, so gut wie kaum in Frage gestellt.45 Diese Einschätzung trifft jedoch ebenso wenig zu wie die Behauptung, dass die Moderne das Konzept des Lokalen zurückgewiesen hätte. Zunächst einmal ging es dem Werkbund um eine Moderne, die im ursprünglichen Sinn des Worts vernakular war: ihr Geist vermittelte sich über die Dinge des Heims.46 Daher kann es nicht überraschen, dass Muthesius’ eigene Bauten zwar auch einige Industriegebäude umfassen, aber zum überwiegenden Teil Privathäuser sind. Nur durch eine eingehende Untersuchung dieser materiellen Zeugnisse lässt sich eine Verwendung von Schlagworten wie »Funktion« richtig verstehen, die schnell falsch gedeutet werden.47 Zu Muthesius’ Villen, die er betont »Landhäuser« nannte, gehören emphatische Motive rustikalen Bauens: Fachwerk, Steildächer und ungeschmückte Ziegelwände lassen an deutsche Bauernhäuser denken. Andere Merkmale sind deutlich Gebäuden der englischen Reformarchitektur entlehnt. Dazu gehören die zahlreichen Erkerfenster sowie die neokeltischen ornamentalen Bemalungen mancher Fachwerkelemente. Besonders die ungewöhnliche, eingewinkelte Stirnseite von Muthesius’ Haus Freudenberg [abb. 1] erinnert an Edward Priors »The Barn« in Exmouth, Devonshire, von 1896. [abb. 2] Es ist offensichtlich, dass hier nicht einfach Motive regionaler Baukultur (im Sinne des Historismus) appliziert werden sollten. Beide Häuser übertra-

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Crow, Thomas: »I’ll take the high road, you take the low road«, in: Artforum 29 /5, 1991, S. 104–107. Siehe auch die Debatten um die »wissenschaftliche Küche«: Kramer, Lore: »Rationalisierung des Haushalts und Frauenfrage: Die Frankfurter Küche und zeitgenössische Kritik«, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Ernst May und das neue Frankfurt 1925–1930. Berlin 1986, S. 77–84; Jerram, Leif: Germany’s Other Modernity: Munich and the Making of Metropolis, 1895–1930. Manchester 2007, S. 126–142. Reed. Christopher (Hg.): Not At Home: The Suppression of Domesticity in Modern Art And Architecture. London 1996. Zur Etymologie des Begriffs »vernakular« und dessen Verbindung mit dem Wort Heim siehe Umbach, Maiken / Hüppauf, Bernd: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Vernacular Modernism: Heimat, Globalization and the Built Environment. Stanford 2005, S. 1–24, vor allem S. 9. Whyte, Iain Boyd: Bruno Taut and the Architecture of Activism. Cambridge 1982, S. 223–224. Zur Geschichte des »Funktionalismus« siehe Anderson, Stanford: »The Fiction of Function«, in: Assemblage 2, 1986, S. 19–31.

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gen den traditionellen heimatlichen Typus in einen modernen Kontext. Sie sind Resultat einer kreativen Übersetzungsleistung, einer Adaption von vernakularen Motiven. Priors Gebäude, das Muthesius als Vorbild diente, scheint zwar im Vergleich »archaischer« zu sein. Doch selbst in diesem Fall zeigt sich, dass das auf den ersten Blick authentisch Erscheinende den Charakter eines bewussten Zitats hat. Hinter Priors 1896 errichtetem Gebäude verbirgt sich eine moderne Betonstruktur: Als das Reetdach 1905 Feuer fing, brannte das Haus nicht nieder; das ursprüngliche Dach wurde durch ein Schindeldach ersetzt.48 Diese beiden Bauten wurden von Muthesius in Das englische Haus als Beispiele einer auch in Deutschland anzustrebenden Reformarchitektur beschrieben. Es verwundert daher nicht, dass er Elemente des britischen Landhausbaus in seiner eigenen Arbeit übersetzt und seine Verwendung des Vernakularen eine ähnliche zitatartige Qualität aufweist. Was besonders beim Einsatz von Hölzern am Giebel des Hauses Freudenberg deutlich wird: ein dekoratives Motiv und Erinnerungsbild, kein konstruktives Merkmal, handelt es sich doch nicht um ein echte Fachwerkskonstruktion, sondern um in verputzte Wände eingesetzte Hölzer. Bemerkenswert ist allerdings nicht die Verwendung solcher »Scheinmotive« an sich, sondern die rationale Idee dahinter. Dieser rationale Zugang zeigt sich unter anderem in der unregelmäßigen Anordnung der Fenster und den Fenstergrößen. Beim Haus Freudenberg scheinen die Fenster nur als ein weiteres »malerisches« Merkmal zu dienen, das die Symmetrie der Fassade bricht und ihr eine vermeintlich organischere Qualität verleiht. In Wirklichkeit gaben jedoch, wie Muthesius erläutert hat, die Innenräume Größe und Position der Fenster vor.49 Dieses »Bauen von innen nach außen«, das als ein Grundprinzip moderner Architektur gesehen werden kann, war Teil einer durch »Sachlichkeit« erneuerten Baukunst. Die neue »versachlichte« Formensprache umfasste nicht nur technische Neuerungen, neue Grundrisslösungen und Baukörperformen sowie eine von historistischem Pomp gereinigte Innenraumgestaltung, sondern berücksichtigte – und das war entscheidend – auch die praktischen und emotionalen Bedürfnisse der Bewohner. Dieses mit der Forderung von Sachlichkeit einherge48

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Dieses Kunstgriffs bedienten sich Arts-and-Crafts-Architekten häufig; ein anderes Beispiel wäre die 1901 /02 in Brockhampton, Herfordshire, errichtete All Saints Church von William Richard Lethaby. Die Kirche hat ebenfalls ein Reetdach, doch der Traditionalismus enthüllt sich als Schein: Das Reet ist direkt am Beton befestigt. Ein Wohnzimmer verlangte nach einem großen und vergleichsweise niedrigen Fenster, das viel natürliches Licht einlässt und einen angenehmen Blick in den Garten gestattet. Bei der angrenzenden Küche war der Blick kein Kriterium: Der Raum brauchte allerdings zum Arbeiten genügend natürliches Licht. Ein Badezimmerfenster wiederum musste den Benutzer vor Blicken von draußen schützen, während Schlafzimmerfenster so angeordnet sein mussten, dass sie nur zu bestimmten Tageszeiten direktes Sonnenlicht einließen.

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hende Gefühl für »Funktion« verband also Vernakulares und Modernes – und setzte beide Momente der traditionellen repräsentativen und aristokratischen Architektur, der historistischen wie der Jungendstilarchitektur entgegen. Dieser »Funktionalismus« beruhte auch auf einem Gefühl für Unterschiede: Unterschiede des Klimas, des Lebensstils, des kulturellen Kontexts. Englische Modelle ließen sich nicht direkt auf Deutschland übertragen. Muthesius meinte diesbezüglich: »Es kam mir nicht sowohl darauf an, eine Nachahmung des englischen Hauses oder seiner Einzelheiten zu empfehlen, als die Gesinnung, die diesem zugrunde liegt, dem deutschen Leser zu erschließen.«50 Muthesius’ eigene Häuser, die den neuen Weg für die moderne deutsche Heimatarchitektur vorgeben sollten, sollten entschieden »deutsch« sein. Die Suche nach einem »nationalen Typ« konnte nicht nur bei »internationalen« heimatlichen Motiven ansetzen, sondern vor allem auch bei regionalen Formen – sofern sich in diesen die gewünschte Sachlichkeit entdecken ließ. In den Häusern, die Muthesius in seiner Heimatstadt Berlin realisierte, kommt aber auch der Anspruch auf Repräsentation einer für den demonstrativen Luxus der Reichen unempfänglichen bürgerlichen Schicht zum Tragen. Am Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Berlin einen Höhepunkt der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums. Durch den Bau einer Bahnlinie begünstigt, entstanden weitläufige neue Vororte. Manche dieser Vororte wie Dahlem, Zehlendorf, Wannsee und Nikolassee waren angesehene Gegenden, in denen sich die neuen Eliten der Industrie und des Bankwesens niederließen. Sie waren in erster Linie Muthesius’ Kunden. Er sah es als seine Aufgabe an, Häuser zu bauen, die der kulturellen und politischen Bestätigung der neuen Eliten gegenüber dem preußischen Landadel, den Junkern, dienen konnten, welche das gesellschaftliche Leben in dieser Region bis dahin bestimmt hatten. Um diesen preußischen Traditionalismus zu überwinden, wollte Muthesius eine authentisch »bürgerliche Architektur« fördern. Politisch arbeitete er eng mit Friedrich Naumann, einem der damals führenden linksliberalen Denker und späterem Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei, zusammen. In seinem einflussreichen Aufsatz Der Industriestaat vertrat Naumann den Standpunkt, dass zwar das deutsche Wirtschaftsleben nun auf einer industriellen Basis fuße, das Land aber immer noch größtenteils von aristokratischen agrarischen Eliten beherrscht und durch deren reaktionäres Wertesystem geprägt werde.51 Die Aufgabe für die Zukunft lag für ihn in der Schaffung eines Industriestaats, das heißt eines politischen Systems, das die Interessen und Werte derer spiegelte, die Deutschland wirt-

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Zit. nach Hubrich: Hermann Muthesius, S. 43. Naumann, Friedrich: »Der Industriestaat« (1912), in: ders.: Werke. 6 Bde., Köln/Opladen 1964, Bd. 3, Politische Schriften, S. 42–70.

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schaftlich und gesellschaftlich bestimmten. Was Naumann »Industriestaat« nannte, bezeichnete Muthesius 1904 als »bürgerliche« Gesellschaft: »Es herrscht eine geradezu ängstliche Sucht, die natürlichen Verhältnisse zu übertünchen, sich zu verkünsteln, ins ›Feine‹ zu steigern, sich gewaltsam ins Talmi-Aristokratentum zu erheben. Wir scheinen uns gerade dessen zu schämen, was unser Stolz sein sollte, unseres Bürgertums. Wir wollen Aristokraten sein in dem Augenblicke, wo das Bürgertum zur Basis für unsere wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse geworden ist, wo es sich zu einer Höhe entwickelt hat, daß es die Kultur unserer Zeit bestimmt.«52 Im Jahr 1911 sah er die Situation bereits nicht mehr so pessimistisch: »Weite Kreise, wie die Aristokratie und die reichen Leute verhalten sich ablehnend, weil ihnen die reinigende Tendenz der Bewegung unsympathisch, das bürgerliche Bekenntnis der neueren Kunstauffassung unheimlich ist.«53 Die Verwendung des Ausdrucks »Bekenntnis« zur Beschreibung einer sich der Verbesserung der Architektur und der Gestaltung widmenden Bewegung ist aufschlussreich: Es ging um eine gleichsam religiöse Suche nach geistiger Erneuerung. Diese Architektur musste, um gereinigt hervortreten zu können, von Resten aristokratischer Kultur befreit werden. Diese Rhetorik erinnerte an den »Neuen Liberalismus« im zeitgenössischen England, von dem so viele Anregungen ausgingen. Der sozialen Dynamik der Bewegung entsprechend mussten traditionelle Signifikanten der Hierarchie im Haus beseitigt werden. In den Häusern Muthesius’ wurde allen – wenn auch getrennten – funktionellen Bereichen gleiche Bedeutung beigemessen. Für Wohnzimmer, Küche und Dienstbotenzimmer galten dieselben Regeln, was Raum, Luftzirkulation und Licht anbelangte. In radikaler Weise siedelte Muthesius die Zimmer der Dienstboten auf demselben Stockwerk wie die der Eigentümer an und schrieb dafür dieselbe Raumhöhe vor. Die zweite Aufgabe lag darin, neue Muster der Geselligkeit zu ermöglichen. Das Ziel war eine Reform des städtischen Lebens, nicht der Rückzug in eine vormoderne, ländliche Idylle. Dies war umso wichtiger, als die Modernisierungsgegner, bei denen es sich vor allem um die Angehörigen des preußischen Landadels handelte, ihre Angriffe von einer ländlichen Tribüne aus vortrugen. Es stand also ziemlich außer Frage, dass der Schauplatz der »vernakularen Moderne« die Stadt, genauer: die große, industrielle Stadt, sein sollte. Das Leben in dieser Stadt allerdings forderte Reformen. Dafür ergaben sich mehrere Strategien.

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Muthesius, Hermann, in: Der Kunstwart 17, 1904, S. 469. Muthesius, Herrmann: »Wo stehen wir? Vortrag auf der Werkbundtagung 1911«, zit. nach Fischer (Hg.): Zwischen Kunst und Industrie, S. 61.

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Für Muthesius und seine Mitstreiter war die moderne Stadt, die sie schaffen wollten, ein Ort, der von falscher Pracht und Repräsentation, wie sie von herkömmlichen kulturellen Einrichtungen wie der Oper verkörpert wurden, zu befreien war. Aus den bürgerlichen Werten der Häuslichkeit als des zentralen Bereichs gesellschaftlichen Verkehrs sollte ein reformiertes Gefühl urbaner Identität entstehen. Musik spielte in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Während die Oper für eine unechte, entfremdete Art des Musikgenusses stand, wurde das private Musikzimmer zum geistigen Kernstück vieler Häuser von Muthesius. Hier sollten die Angehörigen der neuen Mittelschichten in stiller Versunkenheit und ernstem Gespräch im Rahmen musikalischer Soireen und Lyriklesungen den wahren Geist der Kultur genießen können. Man denkt an Vorbilder aus der Empfindsamkeit, etwa an Chodowieckis berühmte Karikaturen, die falsche, ostentative, nach außen gerichtete soziale Manierismen authentischen, nach innen schauenden und kontemplativen Haltungen aufgeklärten Empfindens gegenüberstellt. Diese Vorstellung wurde für Muthesius’ Denken so wichtig, dass in vielen seiner Entwürfe das Musikzimmer an die Stelle der imposanteren Halle englischer Häuser trat, die ihn ursprünglich angeregt hatte.54 Das bedeutet nicht, dass deutsche Landhäuser im Allgemeinen kleiner oder bescheidener gewesen wären als ihre englischen Pendants. Vergleicht man die Arbeiten von Muthesius mit jenen von Edwin Lutyens oder Baillie Scott, fällt auf, dass deutsche Reformhäuser einen öffentlicheren Charakter hatten. Diese jede Zurschaustellung ablehnenden Häuser konnten (und sollten) »gelesen« werden. Wie der im Wesentlichen affirmative Blick auf den (reformierten) Urbanismus, der große Teile der deutschen vernakularen Bewegung bestimmte, unterschied sich der Wunsch, einen Katalog bürgerlicher Werte darzustellen, von der rein ländlichen, konservativen Heimatarchitektur. Obgleich sie ein Gefühl des Lokalen und der Natur durchströmte (viele Häuser Muthesius’ waren jenseits des formalen Gartens mit der offenen Landschaft verbunden), waren sie auch – manche sogar von mehreren Seiten – von der Straße her sichtbar. Die Hecken wurden ausgesprochen niedrig gehalten und waren nur 30 bis 60 cm hoch, und Muthesius’ charakteristische weiße Zäune, die als geometrische Ornamente à la Charles Rennie Mackintosh dienten, boten kaum mehr als einen symbolischen Hinweis auf die Privatsphäre. Die Häuser »sprachen«, sie projizierten private Werte in den öffentlichen Raum. Trotz aller Ablehnung des Repräsentativen waren sie stolze Flaggschiffe der Ideologie eines neuen Zeitalters. Im Unterschied dazu kauerten sich die Häuser von Baillie Scott in der Regel hinter großen Bäumen und Hecken ins Gelände, entzogen sich völlig dem Blick der Öffentlichkeit, 54

Muthesius, Hermann: »Das Musikzimmer«, in: Velhagen und Klasings Almanach 1, Berlin / Bielefeld / Leipzig / Wien 1908, S. 222–227.

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und den Grund schützte eine für England typische Hinweistafel mit der Aufschrift »Durchgang verboten«. Muthesius hat diese Unzugänglichkeit als Erfahrung beschrieben, dass er das englische Haus bei seinen Reisen durch das Land nicht zu Gesicht zu bekommen hätte. Dies ist nicht bloß ein Geschmacksunterschied. In der englischen Artsand-Crafts-Bewegung signalisiert Privatheit (privacy) einen Rückzug von der Gesellschaft und öffentlichen Kultur, nicht ein Instrument zur Umgestaltung einer »entfremdeten« öffentlichen Kultur. In gewissem Sinn ist der Unterschied in der realen Zugänglichkeit nur das Spiegelbild des intellektuellen Prozesses, auf den sich Muthesius beim Schreiben seines Buchs Das englische Haus einließ. Dass Muthesius dessen ideologisches Programm erörterte und dessen Bildsprache in analytische Kategorien zu fassen versuchte, führte zu einem merkwürdigen Paradox. Seine Arbeit wurde in der englischen Presse als erster Versuch einer echten Würdigung des englischen Geistes seitens eines Ausländers gefeiert – und gleichzeitig mit Befremden aufgenommen, weil sie eine selbstverständliche Praxis zum Gegenstand einer »philosophischen« Untersuchung machte.55 Jedenfalls änderten sich mit dem Transfers vernakularer Elemente von einer Kultur in eine andere (von England nach Deutschland) nicht nur deren visuellen Merkmale, sondern auch deren ideologische Bedeutung. Heimat wurde »peripatetisch« und infolgedessen begrifflicher. Ein weiteres wichtiges Mittel zur Herstellung einer städtischen Umgebung, die das Heimatliche und das Moderne versöhnte, war die Idee der Gartenstadt. Auch diese Idee stammte aus England und verbreitete sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf dem Kontinent, wo sie vor allem in Deutschland besondere Bedeutung erlangte.56 Muthesius spielte bei der Vermittlung der Idee aus Großbritannien eine entscheidende Rolle. Das englische Haus enthielt detaillierte Beschreibungen mehrerer Beispiele. Später betrachtete er das gesamte Konzept jedoch mit größtem Argwohn – und das aus gutem Grund. Die frühen Gartenstädte des 20. Jahrhunderts leiteten sich vom englischen Prototyp des 19. Jahrhunderts ab. Paternalistische Unternehmer hatten – oft im Grünen – Modelldörfer gebaut, um vor allem die in ihren Fabriken beschäftigten Arbeiter unterzubringen. Die bekanntesten Beispiele waren Saltaire (West Yorkshire) von Titus Salt (1853), Bournville (West Midlands) von George und Richard Cadbury (1878) und Port Sunlight (Merseyside) von William Lever (1887). Bournville und Port Sunlight waren in einer von der Arts-and-Crafts-Bewegung beeinflussten, heimatgebundenen 55

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Der Architect and Contract Reporter LXV/1673 veröffentlichte am 11. Januar 1901, S. 27–28, und 18. Januar 1901, S. 42–43, eine zweiteilige Besprechung von Muthesius’ Buch: Die englische Baukunst der Gegenwart: Beispiele neuer englischer Profanbauten. Leipzig / Berlin 1900; Zitat Teil 1, S. 27. Ward, Stephen V.: The Garden City: Past, Present and Future. London 1992.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

Bauweise errichtet worden und wurden von Muthesius in seinen Arbeiten besprochen und unterschiedlich positiv bewertet. Ebenezer Howard und die Garden City Pioneer Company entwickelten dieses Modell einen Schritt weiter und schufen 1903 die erste »moderne« Gartenstadt in Letchworth (Hertfordshire).57 Letchworth, das als Übergang vom philanthropischen Einzelprojekt zur modernen Stadtplanung anzusehen ist, wurde zum Teil von dem amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmstead beeinflusst, der unter anderem für die Planung des Central Park in New York verantwortlich gewesen war und dessen Arbeiten Howard in den Vereinigten Staaten gesehen hatte. In Letchworth gab es nicht nur eine, sondern mehrere Fabriken. Die Gartenstadt sollte als autonome Siedlung funktionieren und verfügte über Wohnungen, einen eigenen Produktionssektor und Land in gemeinschaftlichem Besitz. Die Nähe zu London war bewusst gewählt; bald errichtete Howard unweit davon eine zweite Gartenstadt, Welwyn (Hertfordshire), und dachte an einen ganzen Ring von Gartenstädten, die um die überfüllte und »ungesunde« Hauptstadt herum wachsen sollten. Damit war gewissermaßen der moderne Vorort geboren; Norman Shaws Gartenstadt Bedford Park (Chiswick, London), deren Planung bereits 1875 begann, und das später errichtete Bedford Park im Nordwesten Londons erhoben keinen Anspruch darauf, sich selbst erhalten zu können, sondern dienten als Vororte im modernen Sinn. Alle diese Gartenstädte hatten eines gemeinsam: Sie sollten Industriearbeitern eine abwechslungsreichere, »grünere« Lebensumwelt bieten, die aufgrund der besseren Luftqualität und geringeren Übervölkerung nicht nur körperlich gesünder war, sondern auch die Entwicklung eines »Ortsgefühls« erlaubte, das der Anonymität der modernen Metropole entgegenwirkte. Anhänger der Reform-Moderne in Deutschland kopierten das Konzept. Ab 1907 schlossen sich eine Reihe führender Reformarchitekten, unter ihnen Muthesius und Richard Riemerschmid zusammen, um Hellerau, die erste deutsche Gartenstadt, zu bauen.58 Obgleich vergleichsweise unweit des sich zur Industriestadt entwickelnden Dresden gelegen, sollte Hellerau sich größtenteils selbst erhalten können. Den Kern der Anlage bildete ein großes Produktionsunternehmen, die Deutschen Werkstätten, die den Grundsätzen der Arts-and-Crafts-Bewegung entsprechende Reformmöbel herstellten. Die Geschichte Helleraus ist ein Musterbeispiel für die der Reform-Moderne

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Beevers, Robert: The Garden City Utopia: A Critical Biography of Ebenezer Howard. London 1988; Miller, Mervyn: Letchworth: The First Garden City. Chichester 1989. Arnold, Klaus-Peter: Vom Sofakissen zum Städtebau: Die Geschichte der Deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau. Dresden 1993; Fasshauer, Michael: Das Phänomen Hellerau. Die Geschichte der Gartenstadt. Dresden 1997; Durth, Werner (Hg.): Entwurf zur Moderne. Hellerau, Stand Ort Bestimmung. Stuttgart 1996; Sarfert, Hans-Jürgen: Hellerau: Die Gartenstadt und Künstlerkolonie. Dresden 1993.

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inhärenten Probleme. Die Deutschen Werkstätten in Hellerau gehörten zum Deutschen Werkbund und waren daher ein exemplarisches Modernisierungsprojekt. Es scheiterte auf ähnliche Weise, wie es Morris’ Werkstätten nicht gelang, den konservativen Grundimpuls der Arts-and-Crafts-Bewegung zu überwinden. Riemerschmids 1909 errichtetes Fabrikgebäude in Hellerau führt das Problem vor Augen. [abb. 4] In seiner Analyse des Bauwerks vertritt Matthew Jefferies den Standpunkt, dass es auf vollendete Weise jene »architektonischen Merkmale [veranschaulicht], für welche die Heimatschützer am lautstärksten eintraten: Ehrlichkeit, Schlichtheit, Gediegenheit – Merkmale, die vor allen Dingen ethische Qualitäten waren«.59 Riemerschmid hätte an dieser Einschätzung seine Freude gehabt. In den Bauten manifestiert sich jedoch in gewisser Weise das genaue Gegenteil: eine Aneignung des Vernakularen, die nicht funktional war und in deren Rahmen infolgedessen die deutliche Zurschaustellung von »Ehrlichkeit, Schlichtheit, Gediegenheit« zu einem hohlen Propagandamittel verkam. Riemerschmids Dilettantismus war selbstreferenziell. Seine frühneuzeitliche, sich unter ein gigantisches Dach im »Dürer-Stil« duckende Pförtnerloge, der niedrige Torbogen, die Fensterläden im »Märchenstil« die uneinheitliche Verbindung mit den angrenzenden Gebäuden, durch die sich der Eindruck einer pseudomittelalterlichen unregelmäßigen Fassade ergab – all diese Merkmale suggerierten ein ländliches Idyll, ein archetypisches, von der modernen Zivilisation unberührtes deutsches Dorf und keine moderne Fabrik. Außerdem gliederte sich das Fabrikgebäude dem Schema des Barock entsprechend in drei Flügel – eine Art von Historismus, die Muthesius um jeden Preis vermieden hätte. Walter Gropius lag nicht sehr daneben, als er die Fabrik von Hellerau als »unehrliches Stück ländlicher Romantik« bezeichnete.60 In diesem Licht erscheint das wirtschaftliche Scheitern Helleraus als nicht ganz zufällig. Als die Anhänger der Moderne unter den Befürwortern von Hellerau, zu denen auch Muthesius gehörte, nach und nach den Glauben an das ganze Projekt verloren, wurde es von esoterischeren Gruppierungen der Lebensreform-Bewegung übernommen, die sich mehr für expressionistischen Tanz als für Industriearbeiterwohnungen interessierten. Es wäre jedoch verfehlt, alle Aspekte der ursprünglichen Konzeption von Hellerau uneingeschränkt zu verwerfen. Neben Riemerschmid hatten sich auch fortschrittlichere Architekten wie Muthesius daran beteiligt, und der sowohl historisch als auch funktional innovative Stadtplan, zu dem sie gelangten, hatte attraktive Seiten, die anderswo in Deutschland nachgeahmt wurden. Mit dieser Bewegung fand eine neue historische Sensibilität in die Moderne Eingang.

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Jefferies: Politics and Culture in Wilhelmine Germany, S. 81. Walter Gropius, Brief an Karl Ernst Osthaus, 23. 3. 1912, zit. nach Wichmann, Hans: Aufbruch zum neuen Wohnen. Basel /Stuttgart 1978, S. 102.

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1908 veröffentlichte Paul Mebes sein Buch Um 1800: Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung, das sofort zu einem Erfolg wurde. Reformarchitekten sahen in seinem Ansatz eine für sie akzeptable Form der historischen Bezugnahme.61 Das änderte allerdings nichts an der Ablehnung des Historismus seitens der Reformer. Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Formen der Erinnerung zu tun. Der Historismus zitierte konkrete und eindeutige Traditionen: Ihm ging es um Repräsentation, und seine Vorbilder leiteten sich aus einer Architektur der Macht ab. Wenn hingegen Vertreter der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts die Zeit »um 1800« beschworen, bezogen sie sich nicht auf einen bestimmten Augenblick der politischen Geschichte, sondern vielmehr auf die longue durée einer kulturellen Leitvorstellung, welche sie feiern und fördern wollten und die sie »bürgerlich« nannten. »Bürgerlich« wurde hier nicht im marxistischen, sondern in dem Sinn verstanden, in dem die deutsche Literatur den Begriff seit der Aufklärung verwendete, also als Bezeichnung eines Tugendkataloges, der durch wirtschaftliche Selbständigkeit, einen vergleichsweise enthaltsamen Lebensstil und einen gefühlsbetonten Individualismus definiert wurde, und sich historisch aus der Bewegung der Empfindsamkeit des späteren 18. Jahrhunderts entwickelt hatte.62 Im daran anschließenden Biedermeier hatte man darauf aufbauend, so die Überzeugung der Anhänger einer reformerischen Moderne, eine Synthese zwischen der Hochkultur des 18. Jahrhunderts, dem Klassizismus, und der für das Bürgertum kennzeichnenden vernakularen Schlichtheit erreicht. Kultur hatte sich damit erfolgreich vom Diktat höfischer Repräsentation emanzipiert und bescheidene, einfache Formen angenommen, die dem durchschnittlichen Mittelklasseheim angemessen waren. Goethes Weimarer Gartenhaus im Ilmpark wurde zum Musterbeispiel dieses Ideals. Einerseits war es bescheiden und unprätentiös; bereits seine Lage im Park, die auf Goethes Rückzug vom Weimarer Hof in eine kontemplativere Existenz verwies, war idiomatisch.63 Andererseits war es kein primitives Bauernhaus, sondern zeugte vom zunehmenden Selbstvertrauen und den kulturellen Errungenschaften des Bürgertums. Den Reformern galt das Biedermeierhaus als »Haus an sich«, als »Ur-Haus«.64 Heinrich Tessenow, einer der an der Planung von Hellerau beteiligten Architekten, erklärte das Biedermeierhaus zu seinem Vorbild. Hermann Bahr schrieb im Jahr 1900: 61 62

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Posener, Julius: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II. München / New York 1995, v. a. S. 127–159. Pikulik, Lothar: Leistungsethik contra Gefühlsethik: Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen 1984; Krüger, Renate: Das Zeitalter der Empfindsamkeit. Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland. Wien/München 1972. Huschke, Wolfgang: Die Geschichte des Parks von Weimar. Weimar 1951. Voigt, Wolfgang: »Vom Ur-Haus zum Typ. Paul Schmitthenners ›deutsches Wohnhaus‹ und seine Vorbilder«, in: Lampugnani, Vittorio Magnago/Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition. Stuttgart 1992, S. 245.

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»Man lässt sich nicht mehr betrügen, man weiss, dass die Fassade nichts mehr zu bedeuten hat. Dies muss unsere erste Forderung sein, wenn wir an eine moderne Architektur denken: dass man das Haus wieder von innen nach außen bauen und daß die Fassade wieder ein reiner Ausdruck der Wohnung werden soll. [...] Das ›Ringstraßenhaus‹ ist ein Schwindel, es ist unnatürlich, es verleugnet den Sinn des Bauens. Das Haus der Biederzeit ist wahr, es hat die Form, die seinem Inhalt zukommt, es ist das ›Haus an sich‹ der bürgerlichen Bedürfnisse.«65 Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation. Es formierte sich jene avantgardistische, als »klassische Moderne« bekannte Strömung, welche die pragmatischen, historischen und individualistischen Merkmale der auf ein Heimatgefühl fußenden Moderne ablehnte. In Deutschland wurde diese neue, orthodoxere Moderne vom Bauhaus verkörpert, auch wenn sie keineswegs auf diese exklusive Ausbildungsstätte beschränkt war. Die Literatur hat sich in zweifacher Form mit dieser Verschiebung beschäftigt. Eine Schule hat die zunehmende Abstraktion des Bauhauses als logische Fortsetzung und Höhepunkt des unvollendeten Modernisierungsimpulses der Vorkriegszeit beschrieben.66 Andere, wie Mark Jarzombek, beurteilten die vernakulare Moderne der Vorkriegszeit als halbherzig und letztendlich entwicklungsunfähig: nur die Moderne des Bauhausstils repräsentiere eine Erneuerung der Formsprache mit demokratischem Anspruch.67 In dieser Sicht lässt das Bauhaus alle anderen Entwürfe der Moderne als Gegenstand ernsthafter Untersuchung weitgehend uninteressant erscheinen – die bloße Menge von Veröffentlichungen über das Bauhaus, der nur einige wenige, größtenteils biografische Studien über Vertreter einer »anderen« Moderne gegenüberstehen, belegt, wie einflußreich diese Sicht nach wie vor ist. Doch vielleicht sollte man die vernakulare und die klassische Moderne – oder, um den problematischen Begriff von Charles Jencks zu gebrauchen, »heroische Moderne«68 – besser als zwei Spielarten desselben Phänomens ansehen, die nebeneinander bestanden und einander anregten. Das ursprüngliche Bauhaus-Manifest von 1919 griff zentrale Ideen des Werkbunds auf, und es gab zahlreiche Doppelmitgliedschaften. Beide Vereinigungen legten großen Wert auf die Idee des handwerklichen Könnens als Bindeglied zwischen vernakularem Empfinden und industrieller Produktion. Selbst die Sprache des Manifests, das an die 65 66 67

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Bahr, Hermann: Secession. Wien 1900, S. 40. Pevsner, Nikolaus: Pioneers of Modern Design: From William Morris to Walter Gropius. Überarb. Ausgabe, Harmondsworth 1975. Jarzombek, Mark: »The Discourses of a Bourgeois Utopia, 1904-1908, and the Founding of the Werkbund«, in: Forster-Hahn, Françoise (Hg.): Imagining Modern German Culture: 1889–1910. Washington 1996. Zur »heroischen Moderne« siehe Jencks, Charles: Modern Movements in Architecture. Harmondsworth 1985.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

Zeit der mittelalterlichen Kathedralenerbauer und Handwerksmeister anknüpfte, war in Ruskins Sinn »mittelalterlich«.69 Und Jahre später lehnte Gropius, einer der Gründungsväter und einflussreichsten Vertreter des Bauhauses, das moma-Etikett »Internationaler Stil« ab, mit dem viele Bauhausarchitekten in den Vereinigten Staaten nach 1933 bekannt wurden. Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass es zwischen den beiden Zweigen der Moderne in den späten 1920er Jahren zu einer ideologischen Auseinandersetzung kam, die bei beiden tiefe – fast ausschließlich nachteilige – Spuren hinterließ. Die Projekte der späten 1920er wie die berühmte Weißenhofsiedlung in Stuttgart veranschaulichen den Wandel zu einer radikaleren Sprache der Moderne, die von allen expliziten Heimatanspielungen gereinigt war. Die Ästhetik von Gropius, Le Corbusier und vor allem des reifen Mies van der Rohe, der ab 1930 Direktor des Bauhauses war,70 war mit ihrer auf Elementarformen zurückgreifenden Formensprache eher an der Umsetzung neuer Baumethoden und der Entwicklung einer typologischen Kultur für den Massenwohnbau interessiert als an der Bewahrung eines Pluralismus lokaler und regionaler Idiome und Traditionen.71 Aufgrund dieser Verweigerung gegenüber lokalen Traditionen verurteilten Muthesius und andere Werkbund-Vertreter auch die Weißenhofsiedlung. Sie begriffen diese Art moderner Architektur als Produkt gesuchter Formensprache und unterstellten ihr, nur ein weiterer »Stil« zu sein, der Form über Funktion stellte und so strukturell an den alten Historismus anschloss.72 Ebenso wandten sie sich gegen den, weil das Regionale hinter sich lassenden, »internationalen« Charakter dieses Formenvokabulars. Obgleich Werkbündler der Vorkriegszeit den Wettbewerb auf dem Weltmarkt als Chance gesehen hatten, hatten sie deshalb regionale und nationale Besonderheiten keineswegs überwinden wollen. In der Zwischenkriegszeit spaltete sich der Werkbund nun in zwei Lager. Mitglieder des 1926 in Berlin als Architektenvereinigung gegründeten Rings wie Mies van der Rohe, Walter Gropius, Bruno Taut und Hugo Häring tendierten zu einer universelleren internationalen Ästhetik; 1928 traten viele von ihnen auch der ciamGruppe (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) bei. Als Reaktion 69

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Zum Bauhaus-Manifest von 1919 siehe Siebenbrodt, Michael (Hg.): Bauhaus Weimar: Designs for the Future. Ostfildern-Ruit 2000; Naylor, Gillian: The Bauhaus Reassessed. Sources and Design Theory. London 1985. Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbunds. Hg. vom Deutschen Werkbund und dem Werkbund-Archiv, Gießen / Lahn 1982. Kirsch, Karin: The Weissenhofsiedlung: Experimental Housing built for the Deutscher Werkbund, Stuttgart, 1927. New York 1989; Pommer, Richard/Otto, Christian F.: Weissenhof 1927 and the Modern Movement in Architecture. Chicago 1991; Classen, Helge: Die Weißenhofsiedlung: Beginn eines neuen Bauens. Dortmund 1990. Muthesius, Hermann: Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im 19. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt. Mühlheim-Ruhr 1902; ders.: Besprechung der Weißenhofsiedlung im Berliner Tageblatt, 1927, zit. nach: Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbunds, S. 117.

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auf diese Entwicklungen gründeten ebenfalls 1928 konservativere Werkbündler in Opposition zum »Ring« den »Block«.73 Zwei seiner wichtigsten Persönlichkeiten, Paul Bonatz und Paul Schmitthenner, Vertreter der »schwäbischen Schule«, initiierten als Gegenprojekt zur Weißenhofsiedlung die daran direkt angrenzende Siedlung Am Kochenhof. [abb. 5, 6] Die Anlage sollte dem Modell der deutschen Heimatstadt entsprechen. Die Bauzeitung beschrieb die Kochenhofsiedlung als »im Sinne der Dorf- und Landstadtpoesie das echte Kinderland«, das »zwangsläufig« eine neue »Romantik« produziere.74 Der Chefarchitekt der Kochenhofsiedlung war Paul Schmitthenner. Seine Architektur erscheint im direkten Vergleich mit der Weißenhofsiedlung »konservativ«. Sie war aber weit vom traditionellen Heimatstil entfernt. Für das zum Teil von der Vereinigung Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung geförderte Siedlungsprojekt wurden keinerlei Fachwerkkonstruktionen verwendet, und alle Holzbalken wurden hinter glatten Oberflächen verborgen. Schmitthenner bezeichnete Goethes Gartenhaus als sein Ideal und kaufte sogar für einige Häuser der Siedlung echte Biedermeiermöbel, um den Bezug augenfällig zu machen. Sowohl die Weißenhof- als auch die Kochenhofsiedlung sollten von derselben Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen finanziert werden. Doch die Kochenhofsiedlung fiel vor ihrer Fertigstellung den Zwängen der Weltwirtschaftskrise zum Opfer. Sie wurde erst fünf Jahre später fertiggestellt, dies allerdings unter der Leitung von Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur. Rosenberg war ein führender Naziideologe und Chefredakteur des Völkischen Beobachters, und der Kampfbund sollte vor allem das antirepublikanische Bildungsbürgertum für die nationalsozialistische Bewegung gewinnen.75 Natürlich kann von der politischen Ausrichtung der neuen Förderer der Kochenhofsiedlung nicht darauf geschlossen werden, dass das Konzept »faschistisch« gewesen sei, oder die gesamte Bewegung der vernakularen Moderne den Aufstieg des Nazistaats unterstützt hätte. Wie die Analyse der Arbeiten von Muthesius gezeigt hat, ging es der vernakularen Moderne vor der ns-Zeit um regionalen Pluralismus und bürgerlichen Individualismus, der dem Naziregime grundsätzlich fremd war. Gleichzeitig waren allerdings die Verbindungen zwischen der vernakularen Bewegung und der Rassenpo-

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Lampugniani, Vittorio Magnago: »Vom ›Block‹ zur Kochenhofsiedlung«, in: Lampugniani / Schneider (Hg.): Moderne Architektur, S. 267–281. »Ein richtungsweisendes Beispiel der neuen Baugesinnung: Die Ausstellung Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung«, in: Die Bauzeitung, zit. nach Lampugnani: »Vom ›Block‹ zur Kochenhofsiedlung«, S. 267–281, Zitat S. 270. Merker, Reinhard: Die bildenden Künste im Nationalsozialismus. Kulturideologie – Kulturpolitik – Kulturproduktion. Köln 1983.

Moderne zwischen Heimat und Globalisierung

litik der Nazis mehr als bloßer Zufall. Die humanitären Intentionen der vernakularen Moderne hinderten mehrere ihrer zentralen Exponenten nicht daran, mit den Nazis gemeinsame Sache zu machen: Ihre Ressentiments gegenüber der internationalen Moderne waren deutlich größer als ihre Ablehnung der völkischen Ideologie. Einige doktrinäre Vertreter der vernakularen Moderne hatten sich in ihrer Zurückweisung von allem, was in den 1920er Jahren auch nur den Beigeschmack des Internationalismus hatte, derart versteift, dass ihre Argumente eine problematische, ganz eigene rassistische Dynamik entwickelten. Der Streit um flache oder schräge Dächer wurde so zu einem ideologischen Schlachtfeld. 1927 brandmarkte Paul SchultzeNaumburg Flachdächer als »orientalisch«.76 Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Argument, dass Flachdächer nur für wärmere und trockenere klimatische Verhältnisse als die Nordeuropas geeignet seien, anfangs eher pragmatisch geführt wurde, verweist die rassistische Bezeichnung »orientalisch« auf eine fragewürdige propagandistische Wende. Für die Kochenhofsiedlung schrieb Schultze-Naumburg tatsächlich für Dächer einen Mindestneigungswinkel von 35 Grad vor.77 Wichtig ist, sich zu erinnern, dass in diesem Zusammenhang auch die klassische Moderne in den späten 1920er Jahren eine dogmatische Haltung entwickelte, für die sie dann später zu Recht angegriffen wurde. Josef Frank bemerkte 1930, dass sich eine allgemeine Tendenz entwickelt habe, derzufolge Architektur nicht mehr nach ihren Verdiensten, sondern nur mehr nach bestimmten Signalzeichen – wie vor allem einem Flachdach –, beurteilt werde, die eine Grenzlinie zwischen »konservativ« und »modern« markieren. 78 Beide Seiten opferten ihre humanitäre Sachlichkeit dem architektonischen Dogmatismus. Angesichts dieser neuen, autoritären Tendenz ist es nicht erstaunlich, dass nicht nur Vertreter der vernakularen Architektur, sondern auch Anhänger der klassischen Moderne nach 1933 in etlichen Fällen mit den Nazis zusammenarbeiteten.79 Politisch gesehen barg also die Moderne ebenso viele utopische Träume wie ideologische Fallstricke. In ihrer Verbundenheit mit dem »Lokalen« und der damit verbundenen Ablehnung von Mobilität und einer von Pluralismus gekennzeichneten Kultur neigten die Vertreter der vernakularen Moderne zur Zusammenarbeit mit politisch konservativen, manchmal auch rassisti76 77 78

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Schultze-Naumburg, Paul: Das flache und das geneigte Dach. Berlin 1927. Zit. in Lampugnani: »Vom ›Block‹ zur Kochenhofsiedlung«, S. 280. Frank, Josef: Architektur als Symbol. Wien 1930. Als »nicht stilrein« bezeichnet das Haus Michaelsen Gerd Kähler, ders.: Wohnung und Stadt. Braunschweig 1985, S. 132, und als »Zwitterwesen« Janis Marie Mink, dies.: Karl Schneider, Leben und Werk. Unveröffentlichte phil. Dissertation, Hamburg 1990, S. 41. Nerdinger, Winfried (Hg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus: Zwischen Anbiederung und Verfolgung. München 1993; Stommer, Rainer (Hg.): Reichsautobahn, Pyramiden des Dritten Reichs: Analysen zur Ästhetik eines unbewältigten Mythos. Marburg 1982.

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schen Kräften. Das kann aber ihren Beitrag zur Entwicklung der Moderne nicht entwerten. Auch wenn zuweilen die Grenzlinie zwischen nostalgischer Heimatbewegung und vernakularer Moderne schwer zu ziehen war, gab es sie. Und niemand bemühte sich mehr, diese Grenze zu ziehen, als die Vertreter der vernakularen Moderne selbst. Der Begriff »Bauernromantik« wurde zu einer rein abwertenden Bezeichnung, mit der sich niemand identifizieren wollte. Selbst das Wort Heimat kam aus der Mode. Muthesius schrieb: »Die Vereine zur Rettung der Volkstrachten werden hieran ebensowenig ändern können, wie die Heimatschutzbestrebungen der einzelnen Länder an der Internationalisierung der Formen.«80 Die Moderne war angebrochen, und sie sollte Bestand haben. Das Vernakulare war kein Gegenmittel, sondern eher ein Werkzeug zur Zivilisierung der Moderne; es konnte die Moderne mit praktischen Erfordernissen in Einklang bringen, aber auch mit der Suche von Individuen und Gesellschaften nach Identität. Wie die geografische Heimat Menschen dabei zu helfen vermochte, sich eine Vorstellung von der Abstraktion »Nation« zu bilden, konnte die metaphorische Heimat des Werkbunds ihnen dabei helfen, sich ein Bild von der Abstraktion »Moderne« zu machen. Das gilt keineswegs nur für Deutschland. Das Vernakulare wurde in ganz Europa und sogar in den Vereinigten Staaten zu einem wesentlichen Mittel, sich den praktischen und psychologischen Herausforderungen der Industrialisierung und Globalisierung zu stellen. Das Sonderweg-Konzept, das die gesamte deutsche Geschichte als Vorgeschichte des Nazistaats sieht, verstellt den Blick auf die Bedeutung von Heimat im Prozess der Modernisierung. Hilfreicher ist es, die Entwicklung in Deutschland als integralen Bestandteil der Genesis einer »vernakularen Internationale« zu verstehen. Vernakulare Idiome wanderten frei zwischen verschiedenen Regionen und Nationen hin und her. Wenn dieses »peripatetische« Moment des Vernakularen auch zahlreiche Übersetzungen von einer Kultur in andere erforderte, verband diese Idiome, wo immer sie auch zum Einsatz kamen, ein gemeinsames Ziel: Sie untergruben die Abstraktionen Moderne und Nation nicht, sie machten sie kommensurabel. Übersetzung: Wolfgang Astelbauer

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Muthesius, Hermann: »Die Bedeutung des Kunstgewerbes«, S. 94.

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Haus Freudenberg, 1907, von Hermann Muthesius, Berlin-Zehlendorff (aus: Muthesius, Hermann: Landhäuser, Müchen 1912, Abb. 237, S. 155) The Barn, 1896, von Edward Prior, Exmouth / Devonshire (aus: Muthesius, Hermann: Das englische Haus, 2. Aufl., Berlin 1908, Bd. 3, S. 131)

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Wilhelm Schulz: Den Feinden zum Trutz, der Heimat zum Schutz. Werbeplakat für Kriegsanleihen (aus: Das Plakat 10, Januar 1919, Abb. 23) 4 Fabrikgebäude mit Torhäuschen, Deutsche Werkstätten, 1909, von Richard Riemerschmid, Hellerau (Foto: Maiken Umbach) 3

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Weißenhofsiedlung bei Stuttgart, zeitgenössische Werbepostkarte, publiziert anlässlich der Ausstellungseröffnung 1927 6 Siedlung »Am Kochenhof«, Stuttgart (aus: Moderne Bauformen 32, November 1933, S. 657) 5

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Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle für die Architektur in Böhmen und Mähren um 1900

Die Frage des Rückgriffs auf ethnische beziehungsweise vernakulare Formen und Motive in der Architektur wurde in der Hausforschung im Zusammenhang mit der Diskussion um Folklorismus bereits Ende der 1980er Jahre behandelt.1 In den letzten zwei Jahrzehnten sind die verschiedenen Erscheinungsformen des Folklorismus, der in der Architektur heute auch als Vernakularismus bezeichnet wird, vor allem im Zusammenhang mit der um 1900 aufbrechenden Suche nach einem Nationalstil im nord-, mittel- und osteuropäischen Raum untersucht worden.2 Durch das um 1990 durchgeführte internationale Projekt zum Thema Art Nouveau in insgesamt 22 Ländern erhielt die Forschung zu Vernacularism, Neo-Vernacular beziehungsweise 1

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Für die Architekturgeschichte in Böhmen und Mähren wurde diese Problematik behandelt von Mayer [Kapeller], Vera: »Architektur und Folklorismus im 19. Jahrhundert am Beispiel von Böhmen und Mähren«, in: Bedal, Konrad (Hg.): Hausbau im 19. Jahrhundert. Bericht über die Tagung des Arbeitskreises für Hausforschung in Schwäbisch Hall vom 16.–20. September 1987 (Jahrbuch für Hausforschung, Band 38). Sobernheim / Marburg 1989, S. 263– 286. Dieser Beitrag bildet die Grundlage für die hier veröffentlichte und aktualisierte Version. Siehe auch den Beitrag von Kamp, Michael: »Baufolklorismus in Rothenburg ob der Tauber in der wilhelminischen Zeit«, in: Bedal (Hg.): Hausbau im 19. Jahrhundert, S.169–192. Crowley, David: National Style and Nation-State. Design in Poland from the Vernacular Revival to the International Style. Manchester u. a.: Manchester University Press, 1992; Gordon Bowe, Nicola (Hg.): Art and the National Dream: The Search for Vernacular Expression in Turn-Of-The-Century Design. Blackrock: Irish Academic Press, 1993; Krakowski, Piotr/ Purchla, Jacek (Hg.): Art around 1900 in Central Europe. Art Centres and Provinces. Krakau: International Cultural Centre Kraków, 1999; Prelovšek, Damjan: »Die Suche nach nationalen Ausdruckformen in der Architektur am Beispiel von Ljubljana / Laibach«, in: Krakowski/Purchla (Hg.): Art around 1900 in Central Europe, S. 181–196; Purchla, Jacek (Hg.): Vernacular art in Central Europe. Cracow: Wydawn. Antykwa, 2001; Moravánszky, Ákos (Hg.): Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien u. a.: Böhlau, 2002; Purchla, Jacek / Tegethoff, Wolf (Hg.): Nation, Style, Modernism. Kraków/ München: International Cultural Centre Kraków/Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, 2006. Frühere Studien stammen etwa von Burszta, Josef: »Folklorismus in Polen«, in: Zeitschrift für Volkskunde 65, 1969, S. 11–12; Dömötör, Tekla: »Folklorismus in Ungarn«, in: Zeitschrift für Volkskunde 65, 1969, S. 24–25; Antonijevicˇ, Dragoslav: »Folklorismus in Jugoslawien«, in: Zeitschrift für Volkskunde 65, 1969, S. 29–39.

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Vernacular Revival Movements in Zentraleuropa einen wesentlichen Impuls.3 Auch für Böhmen, Mähren und die Slowakei sind Veröffentlichungen entstanden, mehrere Beiträge fokussieren dabei auf den Hauptprotagonisten des Vernacular Revivals in Böhmen, Mähren und der Slowakei um 1900, den Architekten Dušan Jurkovicˇ.4 In diesem Beitrag wird – ausgehend von dem Grundgedanken, dass Elemente ländlicher Bau- und Wohnkultur in einen anderen kulturellen Kontext übertragen werden – untersucht, wie sich die Rezeption von »Volkskunst« und »Volksarchitektur«5 in der offiziellen Architektur Böhmens und Mährens niedergeschlagen hat. Es handelt sich dabei nicht nur um eine formale Übernahme von Elementen vernakularer Formensprache, sondern auch um einen kulturpolitisch motivierten Prozess der Suche nach einem neuen tschechischen Nationalstil, der als Teil des Kampfes um eine tschechische Nationalkultur zu sehen ist.6 Ausgangslage für die Volkskultur-Rezeption war – in der politisch und kulturell zwischen Deutschen und Tschechen sehr angespannten Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die sogenannte Cˇeské národopisné hnutí (Tschechische volkskundliche Bewegung), welche maßgeblich dafür verantwortlich war, dass Artefakte aus dem tschechischen ländlich-bäuerlichen Milieu gesammelt und im Rahmen diverser Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden. An diesen Aktivitäten, 3 4

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Gordon Bowe, Nicola: »Vernacularism in Central Europe and Beyond: a Discussion from an English-speaking Perspective«, in: Purchla: Art around 1900 in Central Europe, S. 287–306. Vgl. etwa Mayer [Kapeller]: »Architektur und Folklorismus im 19. Jahrhundert am Beispiel von Böhmen und Mähren«; die Kapitel zum Thema Heimat- und Nationalarchitektur im Buch von Vybíral, Jinrˇich: Junge Meister: Architekten aus der Schule Otto Wagners in Mähren und Schlesien. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2007; ders.: »Troublesome Czech Vernacularism«, in: Purchla (Hg.): Vermacular Art in Central Europe, S. 241–250. Zu Dušan Jurkovic ˇ vgl. Walker, Frank A.: »Czecho-Slovak revival: the architecture of Dušan Jurkovic ˇ«, in: Architectural Association quarterly 13 /1, 1981, S. 45–50; Borˇutová, Dana: »Listening the pulse of time. Architect Dušan Jurkovicˇ«, in: Purchla (Hg.): Vermacular Art in Central Europe, S. 251–298; dies.: »Der Einfluss der ethnographischen Studien Dušan Jurkovicˇs auf sein architektonisches Werk«, in: Moravánszky (Hg.): Das entfernte Dorf, S. 207–222; Long, Christopher: »›The Works of Our People‹: Dušan Jurkovicˇ and the Slovak Folk Art Revival«, in: Decorative Arts XII /1, 2004–2005, S. 2–29. Für das Verständnis des Gesamtwerks von Dušan Jurkovicˇ bleibt bis heute die Publikation von Žákavec, František: Dílo Dušana Jurkovicˇe. Kus deˇjin cˇeskoslovenské architektury. Praha: Vesmir, 1929, unentbehrlich. Der Begriff »Volksarchitektur« kommt in Fachkreisen im deutschsprachigen Raum kaum zur Anwendung. In der tschechischen Hausforschung hingegen ist »lidová architektura« (Volksarchitektur) als Sammelbegriff für historische Bauformen der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung auch gegenwärtig durchaus gebräuchlich. Zum Nationsbildungsprozess allgemein vgl. etwa Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005; zur Rolle von Architektur und Kunst in der nationalen Emanzipation der Tschechen vgl. Storck, Christopher P.: Kulturnation und Nationalkunst. Strategien und Mechanismen tschechischer Nationsbildung von 1860 bis 1914. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 2001; Marek, Michaela: Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung. Köln / Weimar/ Wien: Böhlau, 2004; De Mayer, Dirk: »Writing architetural history and building a Czechoslovak nation, 1887–1918«, in: Purchla / Tegethoff (Hg.): Nation, Style, Modernism, S. 75–94.

Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle

im Zuge derer die bäuerliche materielle Kultur als tschechische Nationalkunst in den Blick geriet, waren nicht nur die Sammler und Forscher, sondern auch tschechische Intellektuelle, Künstler, Architekten und Schriftsteller beteiligt. Der Höhepunkt dieser Bewegung war die Národopisná vy´stava cˇeskoslovanská (Volkskundliche tschecho-slawische Ausstellung) im Jahr 1985 in Prag.7 Die im Zuge der Vorbereitungen sich bereits um 1893 konstituierende Národopisná spolecˇnost cˇeskoslovanská (Volkskundliche tschecho-slawische Gesellschaft) bildete eine der Grundlagen für die Institutionalisierung des Faches národopis (Volkskunde). Spätestens seit der Volkskundlichen tschecho-slawischen Ausstellung richtete sich die Aufmerksamkeit einiger, nach modernen Ausdrucksmitteln und einem tschechischen Nationalstil strebender Architekten auf Volkskunst und regionale Bautraditionen. Um das Aufgreifen und Verarbeiten regionaler Baukultur in der Architekten-Sprache zu erörtern, liefert die von den 1960er bis in die 1980er Jahre im Fach Volkskunde (europäische Ethnologie) geführte Folklorismus-Debatte wertvolle Anregungen. Hans Moser hat in seinem 1962 publizierten Artikel Vom Folklorismus in unserer Zeit8 drei Formen von Folklorismus unterschieden: das Auftreten von Volkskultur fern ihres originalen lokalen Kontexts, die spielerische Imitation populärer Motive durch andere soziale Klassen und die Erfindung von Folklore für Zwecke, die der Tradition fremd sind. Für eine Interpretation von Architektur, speziell jener, die sich durch Adaptierung von autochthonen, regionalen Baukulturen auszeichnet, sind diese Überlegungen zum Folklorismus besonders relevant. Auch gilt die Betrachtung von Nils-Arvid Bringéus: »Der Folklorismus will die Vergangenheit wiederbeleben, das heißt eigentlich etwas von einer Zeit in eine andere versetzen, oft auch von einem Raum (dem Dorf) in einen anderen (die Stadt)«.9 Die Fragen der Übertragung kultureller Artefakte beziehungsweise ästhetischer Produktionsmuster in einen anderen kulturellen Kontext werden auch von der Kulturtransferforschung behandelt. Wie allerdings festgestellt wurde, finden hier bildende Kunst und Architektur eher selten Beachtung.10

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Oft wird in der fremdsprachigen Literatur diese Ausstellung als »tschechoslowakische« übersetzt. Es handelt sich aber um einen Übersetzungsfehler, da die Ausstellung tatsächlich die slawischen Völker im Rahmen der Monarchie im Visier hatte. Stanislav Brouc ˇek beschreibt sehr ausführlich die Vorbereitung und Durchführung der »Volkskundlichen tschecho-slawiˇ eské národopisné hnutí na konci 19. století. schen Ausstellung« 1895. Broucˇek, Stanislav: C ˇ eskoslovenská akademie veˇd. Praha, 1979. Hg. vom Ustav pro etnografii a folkloristiku. C Moser, Hans: »Vom Folklorismus in unserer Zeit«, in: Zeitschrift für Volkskunde (ZfVK) 58, 1962, S. 177–209. Bringéus, Nils-Arvid: »Folklorismus. Einige prinzipielle Gesichtspunkte vor schwedischem Hintergrund«, in: Hörandner, Edith/Lunzer, Hans (Hg.): Folklorismus. Neusiedl/See: Verein Volkskultur um den Neusiedlersee, 1982, S. 55–72, S. 68. Vgl. Holzer-Kernbichler, Monika: »Das Konzept des kulturellen Transfers aus kunsthistorischer Sicht«, in: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik des kulturellen Transfers. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 2003, S. 137–150, S. 137.

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Die romantische Bewunderung des Lebens auf dem Lande, die Sehnsucht der Städter nach einer unberührten Natur und nach dem gesunden Leben im Grünen (Sommerfrische) werden im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die negativen Merkmale einer Großstadt (Lärm, schlechte Luft etc.) gedeutet und zählen zu den wichtigsten Beweggründen für die Wiederbelebung kultureller Verhaltensmuster und Äußerungen aus dem ländlichen Milieu.11 Waren bäuerliche Bauten anfangs mehr oder weniger spielerische Staffagen aristokratischer Landschaftsgärten – man denke nur an das Hameau de la reine, das 1774 für Königin Marie Antoinette errichtete (aus acht originalgetreu nachgebauten Bauernhöfen, Viehställchen, einer Mühle und einer Meierei bestehende) Schein-Dörfchen im Versailler Schlosspark, das 1808 von Erzherzog Johann erbaute Tirolerhaus im Garten des Schönbrunner Schlosses oder den holländischen Gutshof im englischen Garten des Czerninschen Schlosses in Krásný Dvu˚r (Schönhof, in Westböhmen)12 –, so gelangten im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden, bereits im Biedermeier stark propagierten Bewunderung des naturverbundenen Lebens immer mehr Elemente der ländlichen Bauweise in die romantische Landhausarchitektur. Die sich wirtschaftlich und sozial emanzipierende neue bürgerliche Gesellschaft versuchte eifrig, sich dem Lebensstil der Aristokratie anzupassen und die Architektur wurde unter anderem zum Ausdruck ihres neuen Lebensgefühls. Der Besuch von Heilbädern und Kurorten, die Sommerfrische, wurde zunehmend zu einem gesellschaftlichen Muss für den neuen Geldadel, Großindustrielle, aber auch die Künstler. Der dynamische Ausbau des Eisenbahnnetzes seit der Mitte des 19. Jahrhunderts förderte die Vereinnahmung der bis dahin vom städtischen Element noch weitgehend unberührten Landschaftsstriche. Es entstanden neue Sommerfrischeorte. Nicht mehr das herrschaftliche Schloss, höchstens noch ein romantisches Jagdschloss, hauptsächlich aber die Villa wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Lande zu den wichtigsten baulichen Aufgaben der Architekten.13

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Die Autorin beruft sich dabei auf Martin Schiefer, der auf die Tatsache, dass die Beiträge zur bildenden Kunst in der Kulturtransferforschung »eine untergeordnete Rolle« spielen. Vgl. auch Holzer-Kernbichler, Monika: »Die Kärtner Bar von Adolf Loos«, in: Celestini / Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen, S. 213–228. Vgl. Mayer [Kapeller], Vera: »Leben im Landhaus. Villenviertel in Währing, Döbling und Hietzing«, in: Brunner, Karl /Schneider, Petra (Hg.): Umwelt Stadt. Geschichte des Naturund Lebensraumes Wien. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2005, S. 466–473; Kos, Wolfgang (Hg.): Die Eroberung der Landschaft. Semering-Rax-Scheeberg. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung Schloss Gloggnitz 1992. Wien: Falter, 1992; Eggert, Klaus / Hájos, Géza /Schwarz, Mario/ Werkner, Patrick: Landhaus und Villa in Niederösterreich 1840–1914. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Denkmal- und Ortsbildpflege, Wien / Köln /Graz: Böhlau, 1982. Umeˇlecké památky Cˇech WO, Band 11, Red. Emanuel Poche, Praha 1978, S. 141. Vgl. Hajos, Géza: »Die ›Verhüttelung‹ der Landschaft. Beiträge zum Problem Villa und Einfamilienhaus seit dem 18. Jahrhundert«, in: Eggert et al.: Landhaus und Villa in Niederösterreich 1840–1914, S. 39, 42.

Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle

Neben dem stilistisch vielfältigen, historisierenden Villenbau erfreute sich auch der internationale Heimatstil mit seinem Schweizerhaus in Europa großer Beliebtheit. Nach Géza Hájos entwickelte sich der international gewordene Schweizerhaustypus schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer idealen Form städtischer Behausung am Land, zu einem Begriff des naturverbundenen Bauens schlechthin und fand in vielen Ländern Europas, so auch in Österreich-Ungarn spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts große Verbreitung.14 Das Schweizerhaus kam jedoch auch, wie etwa das 1887 in Spokane (Bundesstaat Washington) vom amerikanischen Architekten Kirtland Cutter errichtete Chalet Hohenstein bezeugt, über die Grenzen von Europa hinaus zum Einsatz. [abb.1] Henry C. Matthews erklärt in seiner Cutter-Monografie,15 dass dafür nicht nur die Reiseerfahrungen des Architekten, sondern auch populäre Musterbücher ausschlaggebend waren und vermutet, dass Cutter durch das weit verbreitete Buch Rural Architecture (1823) des englischen Architekten p. f. Robinson inspiriert worden ist, in dem auch ein Swiss Cottage als Muster für rurale Architektur vorgestellt wird.16 [abb. 2] Der Kirchenbau wurde im 19. Jahrhundert ebenfalls zu einem bevorzugten Terrain für die Umsetzung romantisierender Tendenzen. Während sich im Kirchenbau der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der neugotische Stil intensiv verbreitete, wurde mit der zwischen 1873 und 1874 im romantischen Tal des Flusses Bílá in Nordostmähren errichteten Kirche des Architekten Antonin Kybasta ein eher seltenes Beispiel für historistischen Folklorismus errichtet.17 Die Gründe, welche den Bauherren, den Olmützer Kardinal Friedrich Landgraf von Fürstenberg dazu bewogen haben, in dieser am traditionellen Holzkirchenbau reichen Region eine norwegische Stabkirche errichten zu lassen, sind unbekannt. Spätestens aber seitdem Johan Christian Clausen Dahl − seit 1824 Professor an der Kunstakademie in Dresden − im Jahr 1837 den ersten Katalog norwegischer Stabkirchen verfasste, kann angenommen werden, dass auch die exotischen Stabkirchen ein dankbares Motiv für die historisch-romantisierende sakrale Architektur wurden.18 14 15 16

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Ebda. Matthews, Henry C.: Kirtland Cutter. Architect in the Land of Promise. Seattle / London: University of Washington Press, 1998, S. 47ff. Robinson erklärt, dass er mit der Aufnahme des Swiss Cottage in seinem Buch auf die Anfrage von Kunden reagiert; Grundriss, Ansichten und Perspektive habe er angefertigt, nachdem er die Häuser in der Schweiz auf dem Rückweg seiner Italienreise im Jahr 1816 genau studieren konnte. Robinson, P. F.: Rural Architecture. Or, a Series of Designs for Ornamental Cottages. 4th Ed. London: Bohn, 1836 (1823), Design No. VIII. Vgl. auch Mayer [Kapeller], Vera: Holzkirchen. Neuentdeckte Baukultur in Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei. Photographien von Franz Mayer. Wien, München: Herold, 1986. Dahl, Johan C. C. (Hg.): Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst aus den frühsten Jahrhunderten in den innern Landschaften Norwegens. Dresden 1837. Es ist auch möglich, dass dem Bauherren oder dem Architekten die Stabkirche von Vang bekannt war, die der

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In der europäischen Architekturgeschichte begegnen wir also vielfach den Bemühungen, verschiedenste Formen und Elemente ländlich-bäuerlicher Architektur in eine andere Zeit, oft an einen anderen Ort, in ein anderes gesellschaftliches und soziales Milieu zu transferieren. Dabei werden Formelemente und Motive der vernakularen Architektur auch einer gestalterischen Neuinterpretation zugeführt, werden mit anderen Elementen kombiniert und synthetisiert, neuen Bauaufgaben angepasst, oft auch in anderen Materialien ausgeführt. Der Transfer von Formen geht also auch mit Transformation und Synthese, mit der Umformung vernakularer Elemente einher. Ein Phänomen, das bis heute zu beobachten ist und sich nicht zuletzt in der postmodernen Architektur der 1970er und 1980er Jahre bemerkbar gemacht hat.19 Die Idealisierung und Ästhetisierung der bäuerlichen Lebensweisen und der bäuerlichen materiellen Kultur folgt aber nicht nur romantisierenden Tendenzen. Der Rückgriff auf bäuerliche Symbolik und Ästhetik war um 1900 auch in vielen Ländern und Städten der Monarchie von ideologischen, politisch-patriotischen beziehungsweise nationalorientierten Strömungen getragen und begleitet. Auch in Böhmen war die Architektur spätestens seit den 1870er Jahren unmittelbar mit dem Streben nach nationaler Emanzipation des tschechischen Volkes, nach seiner politischen, wirtschaftlichen, geistigen und auch kulturellen Autonomie und nach Anerkennung der tschechischen Nation verbunden. Der Historismus hatte in Böhmen und Mähren, wie auch in anderen europäischen Ländern, einen Stilpluralismus mit sich gebracht, der sich durch den ideologischen Kampf zwischen den deutschen und den tschechischen Architekten noch intensiverte. Sowohl die Architekten als auch die Auftraggeber mit starken tschechischen Wurzeln haben sich um eine nationaleigene Architektur bemüht. Diese Bemühungen setzen sich auch in der aufkommenden Moderne um 1900 fort, wie etwa die Vorgeschichte zum Bau des von Jan Koteˇra errichteten Nationalhauses in Proßnitz/Mähren bezeugt.20 Das von Josef Zídek im Neorenaissancestil errichtete Nationaltheater in Prag (1868–1881, nach dem Brand im August 1881 wurde der Bau durch den Architekten Josef Schulz beendet) war der Höhepunkt der Bemühungen um einen eigenen tschechischen Nationalstil. František Žákavec bemerkte

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Landschaftsmaler Johan Christian Clausen Dahl entdeckte, kurz bevor sie abgerissen werden sollte. Sein Freund, der Maler Caspar David Friedrich, ersteigerte das Kirchlein um 86 Taler und der preußische König Friedrich Wilhelm IV. wollte das exotische Gebäude auf seiner Pfaueninsel bei Potsdam aufstellen, bis ihn die Gräfin von Wrede überredete, die Kirche der Gemeinde Brückenberg im Riesengebirge zu stiften. Mayer [Kapeller], Vera: »Burgenländische Architektur im Spannungsfeld zwischen Regionalismus und Globalisierung«, in: Grieshofer, Franz / Margot Schindler (Hg.): Netzwerk Volkskunde – Ideen und Wege. Festgabe für Klaus Beitl. Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 1999, S. 413–428. Vgl. Vybíral: Junge Meister, S. 158ff.

Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle

dazu, dass durch den Bau die erste Periode des nationalen Kampfes um die nationale Selbständigkeit abgeschlossen wurde.21 Der Neorenaissancestil galt damals als ein geigneter Stil für repräsentative Gebäude. Architekt Zítek inspirierte sich hier, nach Benešová, durch die norditalienische Renaissance-Architektur.22 Für den Architekten Zítek waren aber in erster Linie die Funktion und die architektonische Qualität des Bauwerks ausschlaggebend, war er wohl der Lehre von Gottfried Semper verbunden.23 Dieser Befund ist wenig überraschend, die Entwicklung der Historismus-Architektur verlief in Böhmen und Mähren im 19. Jahrhundert in Anlehnung vor allem an die historisierende Ringstraßenarchitektur in Wien. Es bestanden enge Kontakte zwischen Prag und Wien, so studierten die Prager an den Wiener Architektur- und Bauschulen (unter anderem auch Josef Zítek) und arbeiteten eng mit Wiener Architekten der Gründerzeit zusammen.24 Die Schüler von Otto Wagner setzten dann später diese Entwicklung fort.25 Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bemühte man sich in Prag aber intensiv mit vom Historismus abweichenden Ausdrucksmitteln zu einem tschechischen Nationalstil zu gelangen. Es war der Architekt Antonín Wiehl, der den damals aktuell gewordenen Neorenaissancestil durch einen auf heimische Vorbilder der böhmischen Renaissance zurückgreifenden Stil mit malerischen Sgraffiti-Fassaden und dekorativen Attiken zu ersetzen versuchte.26 Die sogenannte Tschechische Neorenaissance sollte als ein gewisser Gegenpol zu dem von den Deutschen beanspruchten Neorenaissancestil, der auch als Altdeutscher Stil bezeichnet wurde, dienen. Typisch für diese tschechische Neorenaissance war die Fassadenmalerei, bei welcher man neben Motiven aus der Geschichte des tschechischen Volkes zunehmend auch volkskundliche Motive verwendete, eine Gestaltungsidee, die auch beim Villenbau um die Jahrhundertwende viele Nachahmungen fand. Bei vielen öffentlichen Bauten, Zinshäusern und Villen, nicht nur in Prag, son-dern auch in vielen Kleinstädten, dominieren gemalte volkskundliche und historische Motive die Fassade. Mehrere Beispiele für diese repräsentative Fassadengestaltung aus den 1890er Jahren finden wir etwa in Prag auf dem Wenzelsplatz und am Graben. 21 22 23 24 25 26

ˇ eská architektura XIX. století. Praha: J. Stˇenc, 1922, Wirth, Zdeneˇk / Mateˇjcˇek, Antonín: C S. 36. ˇ eská architektura v promeˇnách dvou století 1780–1980. Praha Státní Benešová, Marie: C Pedagogické Nakl., 1984, S. 181. ˇ eská architektura XIX. století, S. 40. Wirth / Mateˇjcˇek: C Ebda., Kapitel I. und II. Vgl. Vybíral: Junge Meister. Poche, Emanuel / Líbal, Dobroslav/ Reitharová, Eva / Wittlich, Petr: Praha národniho probuzení: cˇtvero knih o Praze. Praha: Panorama, 1980, S. 173–190; Wirth / Mateˇjcˇek: Cˇeská architektura XIX. století, S. 294f.

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Nachdem in den 1890er Jahren die Neostile als Träger der nationalen Identität nicht überzeugen konnten, wurde auf die Ausdrucksmittel der Volkskultur, die zu einer nationalen Kultur erhoben werden sollte, zurückgegriffen. Die von der Aufklärung geprägte und von der Romantik vertiefte Volksverbundenheit verwandelte sich in eine zunehmende Betonung des bäuerlichen Elementes – des Volkes – als der wahren Grundlage der tschechischen Nation. So hieß wohl auch anfangs die Volkskunde im Tschechischen národopis, was man als Nationalkunde übersetzen könnte. In der bildenden Kunst waren es zuerst die Maler – etwa Josef Mánes (1820–1871) und Mikoláš Aleš (1852– 1913) −, die das bäuerliche Element als Synonym für das »Nationale« beziehungsweise »Slawische« interpretierten.27 Seit den 1890er Jahren begegnen wir den Versuchen, die Elemente bäuerlicher Architektur – und hier ist das Wort »bäuerlich« richtig am Platz, denn es handelte sich immer um Bauten der dörflichen Oberschicht –, als stilistisches Vorbild für die »nationale tschechische Architektur« zu verwenden. Dieser Vorgang vollzieht sich relativ spät, wahrscheinlich auch deswegen, da die bäuerliche Architektur in Böhmen erst im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Objekt ernsthaften Interesses und in den 90er Jahren schließlich auch zum Objekt wissenschaftlichen Studiums wurde. Ein wichtiger Impuls zur Beschäftigung mit der ländlichen Architektur in Böhmen und Mähren ging von der Weltausstellung 1873 in Wien aus, wo unter anderem Bauernhäuser aus verschiedenen Teilen der Monarchie und anderen Ländern ausgestellt wurden (vgl. dazu den Beitrag von Elke Krasny in diesem Band). Sieben Jahre danach, 1880, wurde von der Sektion für die bildende Kunst der Vereinigung tschechischer Künstler Umeˇ lecká beseda in Prag, namentlich von dem Maler Professor Sobeˇslav Pinkas, dem schon erwähnten Architekten Antonin Wiehl und dem Architekten Jan Koula (einem Schüler des Wiener Ringstraßenarchitekten Theophil Hansen und seit 1892 Direktor der historisch-archäologischen und volkskundlichen Sammlung des Nationalmuseums in Prag) ein Aufruf zum Studium, zur Erhebung und Erhaltung bäuerlicher Bauten verfasst. Die Bedeutung diverser Welt-, Landes-, Industrie- und Kunstausstellungen im 19. Jahrhundert für das Nationalprestige und die Präsentation des industriellen, technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschrittes einzelner Nationen, ist bekannt. In Böhmen war es die Jubiläums-Landesausstellung des Königreichs Böhmen (1891), die aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der ersten Industrie-Ausstellung in Prag veranstaltet wurde. Die

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Josef Mánes hatte u. a. viele Studien zu den bäuerlichen Trachten angefertigt und hat sich mit dem ländlichen Leben in Mähren – Haná – sehr intensiv in seinem Schaffen auseinandergesetzt. Vgl. dazu Novák, Jaroslav (Red.): Josef Mánes. Líbánky na Hané. Brno: Nakl. Blok, 1982.

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Jubiläumsausstellung 1891 war die erste rein tschechische Äußerung der Emanzipation in allen Bereichen des Nationallebens. Neben Bauten im Stil der tschechischen Neorenaissance wurde hier eine idealisierte Darstellung des »tschechischen Bauernhauses« ausgestellt.28 Als Vorbilder dienten typische Elemente bäuerlicher Architektur aus verschiedensten Regionen Böhmens. Der Plan des Hauses wurde vom Protagonisten der »tschechischen Neorenaissance«, dem Architekten Antonín Wiehl entworfen, nach Zeichnungen von Jan Prousek, einem Schüler der Wiener Akademie der bildenden Künste, großen Bewunderer und Autor vieler Zeichnungen ländlicher Architektur. [abb. 3] Das Ausstellungshaus − innen wurde die Volkskunst präsentiert – an dessen Realisierung sich unter anderem auch der Architekt Jan Koula, der Schriftsteller Antonín Jirásek und der Volkskundler Cˇeneˇk Zíbrt (Gründer der volkskundlichen Zeitschrift Cˇesky lid) beteiligten, war für die Beschäftigung mit der regionalen Architektur in den tschechischen Ländern von großer Bedeutung, denn sie wurde zum Impuls für die Veranstaltung der Volkskundlichen tschecho-slawischen Ausstellung 1895 in Prag, die zu einer großen Manifestation tschechischer nationaler Emanzipation wurde.29 Dieses Ereignis fiel in den Zeitraum nach der ersten Industrialisierungswelle, in dem es in manchen, insbesondere böhmischen Regionen zum Erlöschen traditioneller Volkskultur kam. Die Grundidee der Ausstellung war »das ganze eigenartige Leben des tschechischen Volkes kennenzulernen und sein Bild zu erhalten«.30 In erster Linie war diese Ausstellung jedoch eine politische. Im Kampf um die nationale Befreiung wollte man: »nicht mit dem Schwert in der Hand, sondern durch die kulturelle Kraft siegen«.31 Im Rahmen der Volkskundlichen tschecho-slawischen Ausstellung im Jahr 1895 kam der Präsentation von »Volksarchitektur« eine große Bedeutung zu. An den Vorbereitungen und an der Gestaltung des großzügigen, aus zahlreichen Gebäuden bestehenden Ausstellungsdorfes beteiligten sich eine ganze Reihe von Volkskundlern, Künstlern und Architekten.32 In der Mitte

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Vgl. Frolec, Václav/ Varˇeka, Josef: Lidová architektura. Encyklopedie. Praha: Nakladatelství Technické Literatury, 1983, S. 26 – »cˇeská chalupa«. Vgl. die Ausstellungspublikation Klusácˇek, K. (Hg.): Národopisná výstava Cˇeskoslovanská v Praze 1895. Prag: Otto, 1895, S. 12. Ebda., S. 9. Ebda. Ebda., Kapitel »Byt lidu vesnického. Výstavní de ˇdina«, S. 97–150, mit ausführlichen Beschriftungen, Photos und Zeichnungen der ausgestellten Bauten. Über diese Ausstellung referierte Rudolf Meringer: »Die Cechisch-slawische ethnographische Ausstellung in Prag, speciell ˇ echische Haus und seine Geräthe (Mit 9 Text-Illustrationen)«, in: Mitin Bezug auf das C theilungen der Anthropologischen Gesellschaft XXV, 1895, S. 98–105. Im Gegensatz zu den tschechischen Nationalisten zweifelt er jedoch an der Eigenständigkeit des tschechischen, resp. slawischen Hauses: »Das ›germanische‹, ›slawische‹ Haus scheint ein Traum zu sein. […] Eines bleibt, das tschechische Haus zeigt keine andere Cultur als das deutsche Bauernhaus; es ist dieselbe, kaum eine andere Entwicklungsstufe derselben Cultur.«

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des Ausstellungsdorfes befand sich eine Holzkirche. [abb. 4] Es handelte sich nicht um die Kopie einer bestimmten Kirche, sondern der Architekt Edvard Sochor versuchte hier, nach eingehendem Studium erhaltener Holzkirchen einen idealen Typus zu rekonstruieren.33 Auch für das Gehöft aus der Umgebung des Flusses Jizera in Nordostböhmen dienten dem Architekten Jan Vejrych mehrere Bauten als Vorbilder. [abb. 6] Der einstöckige Bau ist in Blockbauweise auf einer Stein-Untermauer errichtet und zeichnet sich durch einen für diese Gegend typischen, reich gegliederten Giebel aus. Wegen seiner dekorativen Wirkung wurde gerade dieser Typus bei folkloristischen Bauten oft nachgeahmt, wie etwa bei dem bereits erwähnten »tschechischen Bauernhaus«. Der Architekt Jan Koula entwarf weiters gemeinsam mit J. Klvanˇa das Haus aus der Mährischen Slowakei getreu dem Vorbild eines Bauernhauses im mährisch-slowakischen Ort Tvrdonice.34 An den Vorbereitungen und der Realisierung des Ausstellungsdorfes hatte sich auch der Architekt Dušan Jurkovicˇ beteiligt. Zusammen mit dem Baumeister Michael Urbánek aus Vsetín, bei dessen Firma Jurkovicˇ beschäftigt war, entwarf und realisierte er unter anderem die Gruppe volkstümlicher Bauten aus der Mährischen Walachei, ein walachisches Gehöft mit Wirtschaftsbauten und einem Gasthaus.35 Als Vorlage für dieses Gehöft wurde ein Bau aus Nový Hrozenkov herangezogen. Bei einem weiteren Haus, einem einstöckigen Blockbau mit Galerien, hatte Jurkovicˇ das Haus einer Großfamilie mit Wirtschaftsbauten aus Cˇicˇmany in der Mittelslowakei getreu nachgebildet.36 Wir treffen also im Ausstellungsdorf auf zwei unterschiedliche Gestaltungsprinzipien: Entweder ist das Ausstellungsobjekt getreu einem bestimmten Vorbild ausgeführt oder es wird aus mehreren Vorlagen ein idealer Bautypus einer bestimmten Region oder einer Bauform, wie bei der erwähnten Kirche, geschaffen. Die gestalterische Freiheit ist bei beiden dieser Bauprinzipien durch das Bemühen um eine treue oder zumindest ideale Wiedergabe eingeschränkt. Im Ausstellungsdorf befand sich noch ein Bau, das sogenannte Schultheißhaus des Prager Vereins der Häusler, der sich die Pflege alten Brauchtums zum Ziel gesetzt hat, eine Vereinigung also, die man mit den österreichischen und deutschen Heimatschutzvereinen vergleichen könnte. [abb. 5] In dem Schultheißhaus bereiteten die Häusler eine Ausstellung über ihre Tätigkeit vor. Während der Ausstellung wurde hier ein dörflicher Gasthof geführt. Den Plan hierfür hat der Architekt Jan Koula entworfen. Er nahm sich die dörflichen Schultheißhäuser zum Vorbild, insbesondere das in Pohorˇí bei Opocˇno

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ˇ eskoslovanská V Praze 1895, S. 142–144. Vgl. Klusácˇek (Hg.): Národopisná výstava C Ebda., S. 104–106, S. 64, 65, 67, 105. Ebda., S. 101–104, Beilage Nr. 9, Tabelle 1–2, Abb. S. 100. Ebda., S. 120–123, Abb. S. 121, 122.

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in Ostböhmen. Weiter diente ihm das berühmte Rathaus von Železný Brod, ein Blockhaus mit einem mächtigen Turm, als Vorlage. Das Motiv der Galerien wurde hingegen bei den nordböhmischen Bauten übernommen – wiederum also ein durchaus eklektizistischer Stil. Die Abweichungen von den getreu nachgebauten Gehöften waren allerdings bekannt. So wird in der Ausstellungspublikation vermerkt, dass es sich »um einen nicht mehr volkstümlichen, sondern einen künstlichen Bau handle, wo allerdings Motive und künstlerische Elemente aus den volkstümlichen Bauten, insbesondere denen Nordostböhmens übernommen wurden«.37 Aber auch weitere Ausstellungsbauten sind in dem Zusammenhang erwähnenswert. Waren die wichtigsten Ausstellungsbauten wie der Volkskunde- und Industriepavillon in der damals üblichen Bauweise aus Eisen und Glas errichtet, so sehen wir auf der Darstellung Idealansicht auf die Volkskundliche Ausstellung38 einige Bauten – Restaurants, Kaffeehäuser, Weinschenken und kleinere Pavillons – im Heimatstil.39 Links vor dem Pavillon der Industrie stand etwa das Restaurant »Zur Windmühle«, das der Architekt Dvorak nach Vorbildern aus Schlesien und aus dem Hinterland des Riesengebirges errichten ließ. Der Gasthof der Prager Brauerei Smíchov wurde als ein Holzhaus mit reich gegliedertem Giebel und Holzarkaden errichtet. Das Dach des Restaurantgebäudes der zweiten großen Brauerei in Prag-Vinohrady wurde mit kleinen Glockentürmchen geschmückt und der Giebel, wie auch der linke Turm im Obergeschoß mit einer Fachwerkvorblendung verziert. Die zwei Restaurants vor dem Springbrunnen − Roudnice und Demín − wurden von einem bekannten Architekten des tschechischen Historismus und des Jugendstils, Josef Fanta (1856–1954), entworfen. Es wurden hier Fachwerkselemente verwendet, der Turm im Obergeschoß erinnert an mittelalterliche Burganlagen. Es handelt sich hier um Stilelemente, die in der europäischen Landhaus- undVillenarchitektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts häufig verwendet wurden. Spätestens seit der Volkskundlichen tschecho-slawischen Ausstellung im Jahr 1895 kann in der Architekturgeschichte aber über jenen wichtigen Aspekt des Folklorismus gesprochen werden, den Nils-Arvid Bringéus tref-

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Ebda., S. 142. Ebda., Beilage Nr. 21. Unter dem Begriff Heimatstil werden Bauweisen und -formen verstanden, die sich auf die lokalen beziehungsweise regionalen Bautraditionen beziehen. Im Gegensatz zum internationalen Heimat- beziehungsweise Schweizerhaus-Stil, der als eine romantisierende ländliche Wohnbauweise für bürgerliche Bauherren weite Verbreitung fand. Vgl. etwa Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. Fraunfeld: Huber, 2005; Senarclens de Grancy, Antje: »Heimatschutz und moderne Architektur. Ambivalente Beziehung am Beispiel Graz vor 1914«, in.: Uhl, Heidemarie (Hg.): Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. (Studien zur Moderne Bd. 4, hg. von Moritz Czáky u. a.) Wien: Passagen Verlag, 1999, S. 197–248.

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fend als »Feedback-Effekt« der volkskundlichen Forschung bezeichnete.40 Die Ausstellung hatte endgültig das Interesse an der »Volksarchitektur« geweckt und die ausgestellten Bauten wirkten, insofern sie Vorbildfunktion übernahmen beziehungsweise die vernakulare Architektur allgemein als verwertungswürdiges Material zu Bewusstsein kam, auf die Bauproduktion der Architekten zurück. So wurde der vom Architekten Albin Prokop entworfene Pavillon der Erzherzoglichen Kammer Teschen auf der Jubiläums-Ausstellung 1898 in Wien im Heimatstil ausgeführt.41 Im Kirchenbau versuchte Albin Prokop wiederum an heimische Traditionen anzuknüpfen. Im Jahr 1897 baute er im Teschener Ort Bystrˇice nad Olší anstelle der zu kleingewordenen Holzkirche aus dem Jahr 1587 eine neue Kirche, ebenfalls aus Holz. Der traditionelle Grundriss einer einschiffigen Kirche mit polygonal abgeschlossenem Presbyterium wie auch die Blockbautechnik wurden hier verwendet. Im Interieur sind die Deckenbalken und die stützenden Elemente − Säulen und Bänder − ornamental beschnitzt. Auch beim Umbau der Kapelle auf dem Berg Radhošt’ (1898–1899) errichtete der unbekannte Architekt 1926 an der Westfront einen Glockenturm, wobei er sich von den slowakischen Glockentürmen inspirieren ließ. [abb. 7] Vielmehr waren es aber profane Bauten in den Sommerfrischen und Kurorten − Landhäuser und Villen −, bei welchen als eine Art Reaktion auf den in Böhmen und Mähren meist bei den deutschen Bauherren verbreiteten Schweizerhaus-Stil versucht wurde, einen eigenen »tschechischen Stil« zu entwickeln. Eine Villa in diesem Stil wurde von dem Architekten Jan Vejrych entworfen, der unter anderem für die Volkskundliche Ausstellung 1895 das Haus aus der Gegend um den Fluss Pojizerˇí in Nordböhmen entworfen hatte. Das typische Element des Schweizerhaus-Stiles − die typische Veranda mit der Laubsägeornamentik − wurde hier durch die Elemente des nordböhmischen Hauses − die Arkadenlauben mit einem gegliederten Giebel −, wie auch durch einen, dem Rathausturm in Železný Brod sehr ähnlichen Turmaufbau ersetzt.42 Die Auftraggeber kamen meist aus den Kreisen der neuen tschechischen Unternehmer und der tschechischen Nationalisten. Der wichtigste Vertreter dieser Stilrichtung, die auch als »volkskundlicher Lyrismus« bezeichnet wird, war der Architekt Dušan Jurkovicˇ, der bereits im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Volkskundliche tschecho-slawische Ausstellung erwähnt wurde. Eines seiner wichtigsten Werke ist das Ensemble touristischer Pensionen mit einem Gasthof (1897–1899), Pustevny genannt, auf dem Weg zum

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Bringéus: »Folklorismus«, S. 56. Abb. siehe in: Der Architekt IV 1898, S. 43. Abb. siehe in: Der Architekt VI 1900, Beilage Nr. 60.

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altslawischen Berg Radhošt’ − der nach dem heidnischen slawischen Gott Radegast benannt wurde und auch mit den Slawenaposteln Cyrill und Method verbunden ist. Ein Ort, der für die tschechische Nationalgeschichte große Bedeutung hatte. Der erste von Jurkovicˇ hier errichtete Bau ist die Pension Mameˇnka. Er beschreibt detailliert, welche Vorbilder ihm für diesen Bau dienten: für den Grundriss griff er auf den Schultheiß-Hof in Velké Karlovice in der Mährischen Walachei und das Großfamilienhaus aus Cˇicˇmany, das auch auf der Volkskundlichen Ausstellung aufgestellt wurde, zurück. Als Vorlage für die Dachfenster diente der Schultheiß-Hof in Velké Karlovice, die Konsolen der Galerien waren vom Sanktuarium der Kirche der Hl. Katarina in Valašské Mezirˇícˇí inspiriert und beim Türmchen orientierte er sich an den Dachreitern dörflicher Kirchen. Auch die Schnitzereien sind getreu nach volkstümlichen Mustern gestaltet, ebenso wie das Interieur.43 Bei dem weiteren Bau handelt es sich um einen Gasthof, dessen Grundriss mit einem polygonal abgeschlossenen Raum an eine Holzkirche erinnert. Die volkstümliche Inspiration zeigt sich hier auch in Details des Exterieurs. Für die Färbelung gab es im volkstümlichen Bau nur wenige Beispiele, so dass Jurkovicˇ als Vorlage die 1793 von einem volkstümlichen Zimmermann angefertigte Kanzel der evangelischen Kirche in Velká Lhota verwendete.44 Großen Reichtum an volkskundlichen Motiven und Farben finden wir hier auch im Interieur, das ebenfalls durch seine Kassettendecke und den Übergang zwischen dem Haupt- und dem polygonal-abgeschlossenen Nebenraum, der die Illusion eines Triumphbogens erweckt, an eine Holzkirche erinnert. [abb. 9] Unter der Kassettendecke befinden sich in den Ecken große geschnitzte Tauben, wie sie in den bäuerlichen Stuben über dem Tisch aufgehängt wurden. Die freien Felder wurden mit ornamentalen Motiven verziert. Nach Entwürfen von Mikoláš Aleš wurden die volkstümlichen Helden und Rebellen Jánošík mit seinen Kumpanen in slowakischer und walachischer Tracht, im Polygon der »Apsis« der heidnische Gott Radegast und der Nationalheilige Fürst Wenzeslaus abgebildet. Die Reaktionen der Kritiker darauf waren durchaus positiv. So schreibt der Sprecher der Jungtschechischen Partei Josef Kuffner in Národní listy: »In einem Jahr werden wir auf dem Radhošt’ das haben, was wir bis jetzt nirgendwo hatten: einen Sommerfrischenort mit künstlerischem Geschmack inmitten wunderbarer Natur gegründet, durch den Ursprung und das Leben ganz eigen ... Zwischen Zakopané und Radhošt’ liegt ein großartiges Programm für die slawische Sommerfrische«.45 Durch solche Reaktionen fühlte

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Žákavec, František: Dílo Dušana Jurkovicˇe. Kus deˇjin cˇeskoslovenské architektury. Praha: Vesmir, 1929, S. 37. Ebda., S. 39. Ebda., S. 36.

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sich Jurkovicˇ in seinen Bemühungen um einen tschechischen nationalen Stil gestärkt und so entwarf er unter anderem auch ein Gartenportal im »slawischen Stil«.46 Eines der größten Projekte Jurkovicˇs war der Um- und Ausbau des Kurortes Luhacˇovice in Mähren. Auch hier schwebte ihm geistig und formal ein slawischer Kurort vor, umso mehr, als die berühmten Kurorte in Böhmen und der Slowakei in deutschen beziehungsweise ungarischen Händen waren. Die Bauten in Luhacˇovice waren zu dieser Zeit zum einen im Empire- und Biedermeierstil, zum anderen mehr oder weniger im internationalen Schweizerhaus-Stil errichtet. In der ersten Phase beinhaltete die Tätigkeit Jurkovicˇs den Umbau einiger schon existierender Bauten. So wurde 1902 die alte Herrschaftsmühle zu einem Haus für Wasserkuren umgebaut. [abb. 8] Im Kurhaus Jan (1902) verbindet Jurkovicˇ zum ersten Mal die Fachwerkselemente mit der Jugendstilornamentik. [abb. 10] Die Fassade ist dynamisch aufgebaut. Über dem Erdgeschoß mit rechteckigen Linien kommt das erste Stockwerk mit geraden und geschwungenen Linien und geht zur Fachwerkdekoration mit einem Schwan-Motiv im zweiten Stockwerk über. Das Dach ist durch eine Reihe von Ziergauben aufgelockert. Die Details der Fassadendekoration sind schon durchaus modern, im Jugendstil gestaltet. Jurkovicˇ entwarf und realisierte zwischen 1902 und 1914 in Luhacˇovice noch andere Bauten; einige seiner Entwürfe, wie zum Beispiel ein Entwurf für Kolonaden aus dem Jahr 1904, wurden allerdings nicht realisiert. [abb. 11] Im Jahr 1903 baute Jurkovicˇ die Villa Jestrˇabí. An der Fassade vermischen sich hier wiederum die Jugendstil- mit den Fachwerkselementen. Die Entwicklung der architektonischen Gestaltung von einer getreuen Übernahme volkskundlicher Elemente, wie etwa bei dem Ensemble Pustevny, zu einem von der vernakularen Formensprache befreiten modernen Stil ist deutlich. Weder an der Villa Jestrˇabí noch an dem nicht realisierten slowakischen Hotel (1906) können wir Anspielungen auf das »Nationale« beziehungsweise »Slawische« finden. So unterscheiden sich diese Bauten von der in Europa weit verbreiteten Schweizerhaus-Stil-Architektur, in der seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts das Fachwerk zu einem der wichtigsten Gestaltungselemente wurde, kaum. Gewiss kann man daher mehr von Jurkovicˇs Luhacˇovice als von einem »slawischen« beziehungsweise »nationalen« Kurort Luhacˇovice sprechen. Bei der Villa Praha (1900) in Luhacˇovice sind die dekorativ gestalteten Giebel mit dem Fächermotiv möglicherweise unter dem Einfluss Jurkovicˇs entstanden. Die allgemeinen Trends des Villenbaus im ausgehenden 19. Jahr-

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Abb. siehe in: Der Architekt, 1900, S. 34.

Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle

hundert, bei welchem sich die romantischen Elemente mittelalterlicher Burgarchitektur mit den Elementen des Schweizerhaus-Stils und mit Fachwerk häufig vermischen, sind hier sichtbar. Wenn auch Dušan Jurkovicˇ in vielen seiner Bauten einen originellen, unverwechselbaren Stil entwickelte, der sich durch eine poetische und malerische Umsetzung volkskundlicher Elemente und durch eine große Farbfreudigkeit auszeichnet, ist eine immer stärker werdende Annährung an die damalige moderne Architektur unübersehbar. So gab es in der Fassadengestaltung zuerst die Verflechtung von Dekorationselementen des Heimatstiles mit Elementen des Jugendstils, später kam die Absage an das »Heimatliche«. Bei der Villa Vyšehrad in Luhacˇovice vermischen sich noch Fachwerk und die mit Holz dekorierten Giebel mit einer plastischen Ornamentik, die an Fachwerk erinnert. Bei der Villa »Hradcˇany« (1908) in Luhacˇovice bleiben nur noch die plastisch ausgeführten Fachwerk-Reminiszenzen übrig. Deutlich belegen lässt sich die Entwicklung Jurkovicˇs vom »volkskundlichen Lyristen« zum Architekten der Moderne am Beispiel seiner Villen. Zwischen 1900 und 1901 baute Jurkovicˇ für einen Brünner Fabrikanten die ˇ ezku« in der Nähe von Nové Meˇsto nad Metují in Ostböhmen. Villa »na R Während er beim Exterieur und bei der Inneneinrichtung auf volkskundliche Motive tschechischer und slowakischer Provenienz zurückgriff, machten sich (etwa mit der hall oder dem bay-window) Elemente der englischen Cottage-Architektur bemerkbar. [abb. 12] Obwohl der Architekt die hall hier als »weiße Stube« bezeichnet und dabei an die slowakische Stube denkt, und ein Freund des Bauherren sie als »slawisch frei, offen und luftig« beschreibt, macht František Žákavec in seiner Monografie über Jurkovicˇ auf die englischen Impulse aufmerksam und nennt den Architekten den »tschechischen Baillie Scott«.47 Das Motiv der Halle erscheint auch in einer weiteren Villa des Architekten, die er als programmatisch für die Villa des tschechischen Intellektuellen betrachtete.48 Im Jahr 1906 baute er für sich eine Villa in Žabovrˇesky, einem Brünner Stadtviertel. [abb. 13] Bei Betrachtung der Fassade zeigt sich, dass die vernakulare Ornamentik kaum noch verwendet wurde. Auch das hier angebrachte Mosaik (heute entfernt) wurde nicht mehr nach Vorbildern aus der Volkskunst gestaltet, sondern nach Motiven aus der Märchenwelt. Das Eingangstor hat sich vom Gartenportal im »slawischen Stil« zu einem fast märchenhaften Gebilde mit zwei Pfauen verwandelt. Wenn auch Jurkovicˇ seine Vorliebe für das »Volkskundliche« nie ganz aufgab − wie seine Werke, zum Beispiel der Umbau der Mühle Peklo zur Gaststätte in 47 48

Vgl. Žákavec: Dílo Dušana Jurkovicˇe, S. 66–70. Es überrascht nicht, ist das Interesse der Schüler Otto Wagners und der Wiener modernen Architektur an der Art & Crafts-Bewegung durchaus bekannt. Für Böhmen und Mähren vgl. dazu u. a. Vybíral: Junge Meister, S. 73ff. Vgl. auch Senarclens de Grancy: »Heimatschutz und moderne Architektur«.

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Ostböhmen (1909) [abb. 14], der Entwurf für die Stationen des Kreuzweges im Wallfahrtsort Hostýn in Ostmähren (1903), die Gartengestaltung des Schlosses von Nové Meˇsto nad Metují (1911) und insbesondere seine Friedhofsbauten und Aussichtstürme belegen − hat er sich doch voll auf die Seite der jungen tschechischen Künstler gestellt, die mittels der Reaktion gegen die historistischen Stile zu modernen Ausdrucksformen gelangen wollten. Aber auch der Anführer dieser Generation junger tschechischer Architekten, der Schüler und Mitarbeiter von Otto Wagner, Jan Koteˇra (1871– 1923), hatte eine kurze Schaffensphase, in der er sich mit volkskundlichen Motiven als Quelle der Inspiration auseinandersetzte.49 Im Jahr 1903 baute Koteˇra die Villa für Herrn F. T. in Prag, bei welcher er das Motiv des Holzgiebels aufnahm. [abb. 15] Bei näherer Betrachtung der Ornamente sind allerdings nicht dem regionalbezogenen Heimatstil, sondern dem Jugendstil eigene Ausdrucksmittel zu erkennen. Koteˇra verwendete beim Giebel die Fachwerkornamentik, so wie auch die meisten Architekten der Jahrhundertwende, unter anderem auf der Rückseite der Villa des Herrn F. T. in Prag oder bei der Villa des Herrn V. M. in Bechyneˇ. Für den Prager Rechtsanwalt Ferdinand Tonder baute Jan Koteˇra eine Villa in St. Gilgen am Wolfgangsee im Salzkammergut (1905–1906).50 In malerisch-dekorativer Weise verwendete er hier wiederum der Volksarchitektur entnommene Motive. Auf das Giebelmotiv kommt Koteˇra noch einmal bei seinem Entwurf für den Pavillon der tschechischen Kunst auf der Weltausstellung 1904 in Saint Louis zurück, die Anspielung an die vernakulare Formensprache wird hier allerdings schon völlig durch die Ornamentik des Jugendstils verdrängt. [abb. 16] Auch ein Schüler Koteˇras, Otakar Novotný, versuchte sich, wenn auch nur bei einigen Bauten, in einem heimatlichen, vernakulare Motive verwertenden Stil. Für die Dachdeckung wählte er bei dem Entwurf für die Villa des Dr. Z. in Újezd (1904) Stroh als Material. [abb. 17] Ein anderer − wahrscheinlich der bedeutendste − Schüler von Jan Koteˇra, Josef Gocˇár (1880– 1945), experimentierte bei einer Villa in Krucemburk mit dem volkstümlichen Motiv des hölzernen Giebels. An den Pilastern der Fensterumrahmungen sind aber bereits Ansätze seiner kubistischen Schaffungsphase zu erkennen.51 Auch bei seinem Holzhaus in Kbely nahe Prag geht es nicht mehr um Anlehnung an Volkskunst, sondern um kubistische Variationen. Es ließen sich zwar weiterhin einige Architekten des Jugendstils aber auch der Moderne in Böhmen und Mähren von der vernakularen Architektur inspirieren, doch geschah dies nicht unter nationalideologischen sondern eher romantisieren-

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Vgl. Vybíral: Junge Meister, S. 147–157. Abb. siehe in: Oberhammer, Monika: Sommervillen in Salzkammergut. Die spezifische Sommerfrischenarchitektur des Salzkammergutes in der Zeit von 1830 bis 1918. Salzburg: Verlag Galerie Welz, 1983, S. 84, Abb. S. 85.

Volkskunst und regionale Baukultur als Inspirationsquelle

den Vorzeichen. Das Landhaus und die Villa im Grünen gehörten weiterhin zu den Bauaufgaben für eine auf dem Land Erholung suchende Bürgerschicht, in denen auf lokale Bautraditionen zurückgegriffen wurde.52 So hat etwa auch Josef Hoffmann für die Familie Primavesi in Winkelsdorf (Kouty nad Desnou) im Vorland des Altvatergebirges ein Landhaus (1915–1915) errichtet, mit Reminiszenzen an die traditionelle Blockbauweise dieser Region (vgl. auch der Beitrag von Rainald Franz in diesem Band). Dieser spielerische Umgang mit Motiven der vorfindlichen, bereits fast historisch gewordenen bäuerlichen Kultur wurde von Jinrˇich Vybíral auch treffend als »folkloristische Romantik« bezeichnet.53 Resümierend zeigten sich beide Konzepte – sowohl die historisierenden Neostile (etwa die tschechische Neorenaissance) als auch der zum Nationalstil stilisierte Heimatstil – bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts als nicht mehr zeitgemäß und wurden durch den Jugendstil und bald durch die Moderne abgelöst. Man hatte erkannt, dass die programmatische Rückbesinnung auf die Vergangenheit, sei es im Historismus oder im Folklorismus beziehungsweise Vernakularismus, und die Leitvorstellung einer »Nationalkunst« die schöpferische Freiheit des Künstlers einschränkte. Im Jahr 1904 kämpfte unter anderem der bekannte tschechische Kunsthistoriker František Xaver Šalda in seinem Artikel Probleme des Nationalismus in der Kunst gegen diese Strömungen (sowohl Neostile als auch Heimatstil) an. Um national zu sein, müsse man zwar seiner Meinung nach auf die historischen beziehungsweise volkskundlichen Motive zurückgreifen. Da diese jedoch schon versteinert und abgestorben seien, erschien ihm die gegenwärtige tschechische Nationalkunst als etwas Negatives: »Der Begriff der Nationalkunst ist deswegen so mörderisch, weil auch unsere Auffassung und unser Nationalgefühl so negativ, mechanisch und abgestorben sind [...] Nationalismus soll jedoch nicht der Begriff des Abgestorbenen und des Vergangenen sein, sondern des Lebens und der Hoffnung – es ist kein statischer sondern vielmehr ein dynamischer und dramatischer Begriff [...]«.54 Als sich dann auch noch die Kunsthistoriker und Kunstkritiker an den Diskussionen über die Bedeutung der Volkskunst in der Kunstgeschichte beteiligten und diese, entsprechend der damaligen kunstgeschichtlichen Auffassung, lediglich als »gesunkenes Kulturgut« ohne eigene schöpferische Kraft verurteilten, war in den tschechischen Ländern diese Stilepisode in der Architektur an ihr Ende gelangt. Die

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Abb. siehe in Karplus, Arnold: Neue Landhäuser und Villen in Oesterreich. Wien: Schroll, 1908, Tafel 20. Zum Landhaus vgl. neben Karplus v. a. auch die Veröffentlichungen von Hermann Muthesius. Zu Letzterem siehe: Stalder, Laurent: Hermann Muthesius 1861–1927. Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf. Zürich: gta, 2008. Vgl. Vybíral: Junge Meister, S. 225ff. Šalda, František Xaver: »Problémy národnosti v umeˇní«, in: Volné smeˇry VIII, 1904, S. 5.

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Suche nach einer nationalen tschechischen Ausprägung der Architektur, der Kunst und des Gewerbes ging allerdings weiter. Das Ergebnis war der sogenannte Tschechische Kubismus (1910–1925), mit dem die neue Generation tschechischer Architekten erfolgreich den Anschluss an die internationale Avantgarde gefunden hatte, gleichzeitig aber auch die regionale Ästhetik in ein neues Licht gerückt wurde (Rondokubismus). Dies war gewiss im Sinne von Šalda, der im Grunde nur für eine von erstarrter Nationalideologie befreite Kunst und Architektur eintrat: »National zu sein bedeutet an einem mystischen Ziel zu arbeiten – an einer Weltgeschichte, in der die Nationalität nur eine der vielen Kräfte und Darsteller ist.«55

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Das Schweizerhaus in den USA. Chalet Hohenstein in Spokane (Washington) von Architekt Kirtland Kutter, 1887 (aus: Matthews, Henry C.: Kirtland Cutter. Seattle / WA 2007, S. 49) Cutters Inspiration: Swiss Cottage im Musterbuch Rural Architecture von P. F. Robinson, 1823, Design Nr. VIII Tschechisches Bauernhaus, Jubiläums-Landesausstellung des Königreichs Böhmen 1891 in ˇ eskoslovanská v Praze 1895. Praha 1895, S. 12) Prag, Antonín Wiehl (aus: Národopisná výstava C

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Holzkirche, Volkskundliche tschechoslowakische Ausstellung 1895 in Prag, Edward Sochor (aus: Národopisná výstava cˇeskoslovanská v Praze 1895. Praha 1895, S. 23) 5 Schultheißhaus, Volkskundliche tschechoslowakische Ausstellung 1895 in Prag, Jan Koula (aus: Národopisná výstava cˇeskoslovanská v Praze 1895. Praha 1895, S. 141) 6 Bauernhaus aus der Umgebung des Flusses Jizera nahe Turnov in Nordostböhmen, Volkskundliche tschechoslowakische Ausstellung 1895 in Prag, Jan Vejrych (aus: Národopisná výstava cˇeskoslovanská v Praze 1895. Praha 1895, Beilage 10) 7 Dolní Becˇva / Mähren, Cyrill- und Method-Kapelle auf dem Berg Radhošt’, 1898–1899, Glockenturm an der Westfront, 1926 (Foto: Vera Mayer [seit 2007 Kapeller] 1988) 8 Luhac ˇovice / Mähren, Haus für Wasserkuren, Dušan Jurkovicˇ, 1902 (Foto: Vera Mayer [Kapeller] 1989) 9 Dolní Bec ˇva / Mähren, Interieur des Gasthofes, Ensemble Pustevny, Dušan Jurkovicˇ, 1897–1899 (Foto: Vera Mayer [Kapeller] 1988) 10 Kurhaus Jan, Luhac ˇovice / Mähren, Dušan Jurkovicˇ, 1902 (Foto: Vera Mayer [Kapeller] 1989) 4

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Kolonade, Luhacˇovice / Mähren, nicht realisierter Entwurf von Dušan Jurkovicˇ, 1904 (aus: Žákavec, František: Dílo Dušana Jurkovicˇe. Praha 1929, Beilage Nr. VIII) 12 Nové Me ˇsto nad Metují / Böhmen, Villa in Rezek, die »weiße Stube«, kolorierte Studie von Dušan Jurkovicˇ, 1901 (aus: Žákavec, František: Dílo Dušana Jurkovicˇe. Praha 1929, Beilage Nr. I) 13 Brno/ Mähren, Eigenhaus Jurkovic ˇ, Vorderansicht, Dušan Jurkovicˇ, 1906 (aus: Žákavec, František: Dílo Dušana Jurkovicˇe. Praha 1929, Beilage Nr. II) 11

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14 Gaststätte Peklo nahe Náchod / Böhmen, Wanddetail, Umbau 1909, Dušan Jurkovic ˇ

(Foto: Vera Mayer [Kapeller] 1988) 15 Prag / Böhmen, Villa für Herrn F. T., 1903, Entwurf von Jan Kote ˇra

(aus: Volné smeˇry VIII, 1904, Beilage) 16 Weltausstellung in St. Louis, Pavillon der tschechischen Kunst, Interieur, Jan Kote ˇra

(aus: Volné smeˇry VIII, 1904, S. 121) 17 Újezd / Böhmen, Villa für Herrn Dr. Z., Entwurf Otakar Novotný, 1904

(aus: Volné smeˇry VIII, 1904, S. 285)

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Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde Le Corbusier, die Volkskunst und das einfache Bauen

Beziehungslosigkeit zu Tradition und Ort, Unabhängigkeit von historischem Vorbild und Abkehr von der Geschichte gelten als programmatische Eckpfeiler der modernen Baubewegungen im Europa der 1920er und 1930er Jahre. Tatsächlich ist das Verhältnis der Avantgarde-Produzenten zu Vergangenheit und Tradition – wie auch der die Historiografie der architektonischen Moderne kritisch unter die Lupe nehmende Architekturhistoriker Werner Oechslin betont 1 – um einiges komplexer als dies die holzschnittartige Erzählung einer von reifizierten Kategorien beziehungsweise stilgeschichtlichen Entitäten ausgehenden Architekturgeschichtsschreibung nahe legt. Denn nicht nur, dass aus der Opposition der Modernen gegenüber traditionalistischen Strömungen (Heimatkunst- und Heimatschutzbewegung) nicht einfach ein grundsätzliches Desinteresse der modernen Avantgarde am volkskulturellen Erbe oder eine völlige Ablehnung und Geringschätzung traditioneller Bauweisen abgeleitet werden kann. Es darf auch nicht vergessen werden, dass bei manchen Protagonisten und Kommentatoren des modernen Bauens der Rekurs auf das Vernakulare – auf »Volkskunst« als Totale einer ästhetisch und moralisch in sich stimmigen Kulturproduktion – eine wesentliche Rolle gespielt hat. Und zwar weniger im Hinblick auf die Entwicklung einer neuen Formensprache, als vielmehr zur Rechtfertigung und moralischen Absicherung derselben. Dass »niedere Architektur« nicht nur von den Vertretern traditionalistisch- nationalistischer Baubewegungen, sondern auch von den Modernen zum Ideal erhoben und – freilich auf völlig andere Weise – als Vorbild herangezogen wird, lässt sich nicht zuletzt am Beispiel von Le Corbusier aufzeigen, der sich in den 1920er Jahren zur Rechtfertigung seiner (aus dem Einsatz neuer Materialien und der Übertragung fordistischer Prinzipien auf den 1

Oechslin, Werner: Moderne Entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte. Köln: DuMont, 1999.

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Wohnbau resultierenden) ikonoklastischen Neuerungen unter anderem auf vernakulare Architektur (Schutzhütten im Gebirge, improvisierte Fischerhütten etc.) beruft. Diese Legitimierungs- und Verankerungsstrategie herauszuarbeiten und darzustellen, wie autochthone Baukultur, aber auch Spontan- und Primitivarchitektur zum Bezugspunkt für ein »industrialisiertes« Bauen werden kann, ist das Anliegen dieses Beitrages. Dabei wird nicht nur zu zeigen sein, wie sehr die um 1900 verbreitete Wahrnehmung von Volkskunst – als einer anonymen, naturwüchsigen, dem zeitlichen Wandel enthobenen, nicht vorsätzlich als Kunst produzierten Gemeinschaftskunst – die Ausformulierung einer modernen (zur vorherrschenden Vorstellung von Architektur als dekorativer Kunst alternativen) Architekturauffassung geprägt hat. Es wird auch aufzuweisen sein, wie sehr sich die modernistische Aneignung von Volkskultur auf abstrakter Ebene, im sprachlichen Bereich der Begründung und Rechtfertigung vollzog. Was gleichbedeutend damit ist, dass die von modernen Produzenten und Kommentatoren behauptete und vom Bilddiskurs unterstützte Verwandtschaft zwischen vernakularer und modern-avantgardistischer Architektur ex post konstruiert und damit ein rein diskursives, für die Gestaltungspraxis selbst irrelevantes Element geblieben ist. Vom »Heimatstil« zum »industrialisierten« Bauen

Als Charles-Edouard Jeanneret im Paris der 20er Jahre als Wortführer eines modernen Bauens das internationale Parkett der Architektur betrat,2 hatte er bereits einen radikalen Standpunktwechsel hinter sich gebracht. (Ein Standpunktwechsel, ja Bruch, den er mit der Annahme des Pseudonyms »Le Corbusier« nicht zuletzt an sich selbst, in seiner eigenen Lebenserzählung vollzieht.) Aufgewachsen im abgelegenen Schweizer Gebirgsstädtchen La ChauxdeFonds, wo ihm in der lokalen Kunstgewerbeschule eine vom Geist der Artsand-Crafts-Bewegung getragene Ausbildung (1902–1907) zum Uhrenstecher zuteil geworden war, hatte er zunächst unter dem Einfluss seines Lehrers L’Eplattenier seine ersten Gehversuche als Architekt innerhalb einer auf Erneuerung des Handwerks ausgerichteten regionalistischen Baubewegung unternommen. Er hatte in mehreren Villenbauten das Dekorationsprogramm eines die umgebende Natur abstrakt-ornamental verarbeitenden »jurassischen Jugendstils« umgesetzt [abb. 1], aber auch in städtebaulichen Studien (etwa seinem Gartenstadtprojekt »Aux Crétets« für seine Heimatstadt La Chaux-de-Fonds, 1914) und in seinen frühen Entwürfen für Arbeitersiedlungen in Frankreich (etwa für Saint-Nicolas-d’Aliermont, 1917–19) die pit-

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Besonders im Zuge seiner Autortätigkeit für die von ihm gemeinsam mit dem Maler Amedée Ozenfant und dem Dichter Paul Dermée herausgegebenen, zwischen 1920 und 1925 in 28 Heften erschienen Zeitschrift Ésprit Nouveau.

Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde

toresken, ästhetischen Produktionsmuster der von England auf den Kontinent ausstrahlenden Gartenstadtbewegung zur Anwendung gebracht.3 Einige Jahre später, beeinflusst durch seine Deutschland-Reisen und die von ihm mit Wissensdrang verfolgten Werkbund-Debatten um Typisierung, künstlerische Verwendung neuer Werkstoffe und Heimatschutz,4 aber auch getra-

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Le Corbusiers Sozialisierung und seine in der autoritativ verfassten Werkdokumentation ausgeblendete frühe Produktion sind Gegenstand einschlägiger Untersuchungen. Als biografische Standardwerke gelten: Brooks, H. Allen: Le Corbusier’s Formative Years: Charles-Edouard Jeanneret at La Chaux-de-Fonds. Chicago / London: University of Chicago Press, 1997; ders. (Hg.): Le Corbusier. Early Buildings and Projects, 1912–1923. The Le Corbusier archive, Vol. 1. New York / London: Garland Publishing, Fondation Le Corbusier, 1982; Turner, Paul Venable: The Education of Le Corbusier. A Study of the Development of Le Corbusier’s Thought, 1900–1920. New York / London: Garland Publishing, 1977 (1971); Sekler, Mary Patricia May: The Early Drawings of Chales-Edouard Jeanneret (Le Corbusier) 1902–1908. New York /London: Garland Publishing, 1977 (1973). Brooks behandelt speziell auch Le Corbusiers Transformation von der »malerischen« zur »industriell-modernen« Gartenstadt in »Jeanneret and Sitte: Le Corbusiers earliest ideas on urban design«, in: Searing, Helen (Hg.): In Search of Modern Architecture: A Tribute to Henry Russell Hitchcock. London /Cambridge Mass.: MIT Press, 1982, S. 278–297; ders.: »Jeannerets Auseinandersetzung mit dem Städtebau«, in: archithese 13 /2, 1983, S. 29–32. Eine wichtige Studie, welche auch die vom Produzenten ausgeblendeten, vor 1920 entstandenen Entwürfe für Arbeitersiedlungen in den Blick nimmt, stammt von Taylor, Brian Brace: Le Corbusier et Pessac 1914–1928. 2 Bände, Fondation Le Corbusier in collaboration with Carpenter Center, Harvard University. Paris: Spadem, 1972; zu seiner Ausbildung und seiner frühen Baupraxis in La Chaux-de-Fonds vgl. auch Colli, Luisa Martina: »Jeanneret und die École d’Art«, in: archithese 13 /2, 1983, S. 16–22; Baker, Geoffrey H. und Jacques Gubler: Le Corbusier: Early Works at la Chaux-de-Fonds. Gordonsville, Virginia: St. Martin’s Press, 1987; Le Corbusiers in verschiedenen Gattungen aufgehendes »Frühwerk« war auch Gegenstand einer großen Ausstellung, die dokumentiert ist in: Moos, Stanislaus von / Rüegg, Arthur (Hg.): Le Corbusier before Le Corbusier: Applied Arts, Architecture, Painting and Photography, 1907–1922. New Haven: Yale University Press, 2002; zu der von Charles L’Eplattenier in La Chaux-deFonds entwickelten Variante des Art nouveau vgl. der Ausstellungskatalog von Bieri Thomson, Helen (Hg.): Le style sapin. Une expérience art nouveau à La Chauxde-Fonds. Paris: Somogy, 2006. Als Zeichenlehrer an der École d’Art wird der junge Jeanneret 1910 von seinem Lehrer und Förderer L’Eplattenier auf Deutschlandreise geschickt, um über die neuesten Entwicklungen in den Künsten zu berichten. Er kommentiert in dem von seiner Schule publizierten Reisebericht auch die Diskussion um den »Heimatschutz«, der (v. a. von Karl Schäfer in oppositionelle Stellung zum Werkbund gebracht) für seinen imitierenden Blick auf alte Formen angegriffen wurde. Jeanneret, Charles-Eduard: Etude sur le Mouvement d’Art Décoratif en Allemagne. La Chaux de-Fonds 1912, S. 33. Zum Einfluss und Fortwirken von Gedankengut, das Le Corbusier im Deutschland der Vorkriegszeit aufgenommen hat, dessen Herkunft er jedoch später verschleiert bzw. verdrängt hat, vgl. Oechslin, Werner: »Le Corbusier und Deutschland: 1910/1911«, in: ders.: Moderne entwerfen, S. 173–191; vgl. auch: Nerdinger, Winfried: »Le Corbusier und Deutschland – Genesis und Wirkungsgeschichte eines Konflikts 1910-1933«, in: arch+ 3, 1987, S. 80–87. Zur Aufnahme und Weiterführung von Werkbundgedanken – etwa die von Muthesius in einem Vortrag auf der Werkbund-Tagung in Köln von 1914 (der Le Corbusier beiwohnte) angestoßene Diskussion um Typen und Typisierung oder die ebenfalls 1914 von Gropius in seinem Aufsatz über »den stilbildenden Wert industrieller Bauformen« vorgebrachte Auffassung, dass in den von Ingenieuren berechneten Bauten die neue Architektur zu sehen sei – vgl. auch Nerdinger, Winfried: »Standard und Typ: Le Corbusier und Deutschland 1920–1927«, in: Moos (Hg.): Moos, Stanislaus von (Hg.): L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920–1925. Berlin: Ernst & Sohn, 1987, S. 44–53.

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gen von den Hoffnungen und Plänen, die er im Zuge seiner durch Auguste Perret und seinem Jugendfreund Max Du Bois angeregten Beschäftigung mit Konstruktionen aus Eisenbeton (wie der Stahlbeton bis in die 1920er Jahre genannt wurde) entwickelt hatte,5 und nicht zuletzt inspiriert von der Lektüre französischer Sozialtechnologen und den Schriften Frederick W. Taylors,6 geht der junge Architekt zu seinen frühen, von L’Eplattenier vermittelten Überzeugungen immer mehr auf Distanz und plädiert für eine die dekorativen Künste ganz hinter sich lassende, ganz vom Geist der anonymen Industrieprodukte getragene Architektur. Zu Beginn der 1920er Jahre war Le Corbusier – unter anderem mit Loos7 und dem Werkbund – also zu der Ansicht gekommen, dass die Reform nicht über die Erfindung einer neuen kunstgewerblichen Ästhetik und schon gar nicht durch Wiederbelebung traditioneller (weder hoch- noch volkskultureller) Bauformen und Motive herbeizuführen sei. Seiner Meinung nach konnte eine zeitgemäße, die »verlorene kulturelle Einheit« wiederherstellende Baukultur nur aus neuen Materialien (dem Wunderstoff béton armé) entstehen und sollte, dem Zeitalter der Industrie und der modernen Massenproduktion entsprechend, wie ein anonymer, für alle verfügbarer Alltagsgegenstand zutage treten.

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DuBois hatte als Assistent bei Emil Mörsch an der ETH Zürich 1909 das Standardwerk seines Lehrers Der Eisenbetonbau (1902) ins Französische übersetzt und in Paris die Firma S.A.B.A. (Société d’Application de Béton Armé) gegründet, ein aus Ingenieuren und Industriellen bestehendes, in Paris ansässiges Unternehmen, für das Jeanneret zwischen 1916 und 1920 auch als Konsulent tätig war. Jeanneret wandte sich bei seinem Parisaufenthalt 1914 in der Bibliothèque National de Paris speziell der 1894 von Alfred de Foville, dem Gründer des Statistischen Zentralamtes in Frankreich, publizierten »Studie über die Wohnbedingungen in Frankreich« zu. Das 1911 erschienene und ein Jahr später ins Französische übertragene Buch Principles of Scientific Management von Frederick W. Taylor dürfte von Jeanneret 1917 gelesen worden sein. Zum Einfluss einer auf die Norm menschlicher Wohnbedürfnisse abstellenden Sozialforschung auf Jeanneret vgl. Taylor, Brian Brace: Le Corbusier et Pessac 1914–1928, Bd. 1, S. 11–12. Zum Taylorismus als fundamentale Komponente in Le Corbusiers Architektur- und Theorieproduktion der Zwischenkriegszeit siehe v. a. McLeod, Mary: »›Architecture or Revolution‹: Taylorism, Technocracy, and Social Change», in: Art Journal, 43 /2, 1983, S. 132–147; zum Schulterschluss von Kunst und industrieller Elite vgl. auch Moos, Stanislaus von: »Standard und Elite. Le Corbusier, die Industrie und der ›Esprit Nouveau‹«, in: Buddensieg, Tillmann / Rogge, Henning (Hg.): Die nützlichen Künste. Gestaltende Technik und bildende Kunst seit der industriellen Revolution. (Aus Anlaß des 125-jährigen Jubiläums des Vereins Deutscher Ingenieure; Ausstellung in Berlin, Messegelände am Funkturm, 15. Mai bis 21. Juni 1981) Berlin: Quadriga, 1981, S. 306–323. Zur Entwicklung der modernen Architektur, erzählt als Geschichte einer Ästhetik, die nur in Verbindung mit den Ideen des Scientific Management auftreten konnte, siehe Guillén, Mauro F.: The Taylorized Beauty of the Mechanical. Scientific Management and the Rise of Modernist Architecture. Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2006. Zum Einfluss von Loos auf Le Corbusier vgl.: Moos, Stanislaus von: »Le Corbusier und Loos«, in: ders. (Hg.): L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920–1925. Berlin: Ernst & Sohn, 1987, S. 122–133.

Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde

›Alte‹ und ›moderne‹ Volkskunst – Usurpation le folklore

Die Vorstellung von Architektur als anonymer, im Einklang mit der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung stehender Gebrauchsgegenstand – eine Auffassung, die übrigens zu seinem für die Architektur angemeldeten Kunst-Anspruch in unauflösbarem Widerspruch steht – entwickelt Le Corbusier, wie bereits Francesco Passanti zu zeigen versucht hat,8 nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit »Volkskunst«. Das heißt genauer, in aufmerksamer Beobachtung der mit Industrialisierung beziehungsweise Durchsetzung der industriell-kapitalistischen Produktionsweise einhergehenden Veränderungen in ländlich-bäuerlichen Lebenswelten. Als mehr oder weniger angepasster, in die ästhetischen Programme der modernen Kunstgewerbebewegung einsozialisierter, junger Kunsthandwerker macht Le Corbusier 1911 (damals und bis 1920 noch Charles-Edouard Jeanneret) auf seiner von ihm selbst als voyage d’Orient bezeichneten Balkanreise9 seine ersten und zugleich nachhaltigen Erfahrungen mit der ihm bislang fremden, also auch vor der eigenen Haustüre nicht groß wahrgenommenen Bauernkultur.10 Er stößt, oder sucht vielmehr auf seiner Reise, die ihn mit seinem Freund August Klipstein über Prag, Wien und Budapest in die Balkanländer und von Istanbul nach Griechenland und Italien zurück in die Schweiz führt [abb. 2], neben den hochkulturellen Hotspots, die typisch für eine klassische bürgerliche Bildungsreise sind (Hagia Sophia, Akropolis, das antike Rom etc.), auch die »intakte« und »organische« Kultur der Bauern. Mit diesem erweiterten Kulturprogramm, seiner Suche nach dem Echten und Authentischen befindet sich Le Corbusier durchaus innerhalb der Konventionen einer bildungsbürgerlichen europäischen Kulturelite, die in der Bauernkultur seit 1900 verstärkt (Gründungswelle der volks- und völkerkundlichen Museen) Werte zu identifizieren begonnen hatte, die ihr selbst

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Passanti, Francesco: »Volkskunst, die Moderne und Le Corbusier«, in: Moravánszky, Ákos (Hg.): Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2002, S. 249–278. Le Corbusier hat seine Reiseeindrücke auch zu Papier gebracht, sie sind posthum, ein Jahr nach seinem Tod erschienenen – Le Corbusier: Le Voyage d’Orient. Paris: Forces Vives, 1966; sein Skizzenbuch zur Reise wurde ebenfalls veröffentlicht – Le Corbusier: Voyage d’Orient: Carnets. Hg. von der Fondation Le Corbusier unter Mitarbeit von Giuliano Gresleri. Mailand und Paris: Electa, 1987. Ausführlich dokumentiert und interpretiert wurde Le Corbusiers Balkanreise von Giuliano Gresleri: Le Corbusier. Viaggio in Oriente. Venedig: Marsilio, 1984; auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Le Corbusier: Reise nach dem Orient: unveröffentlichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret. Zürich: Spur, 1991. Eine Ausnahme bilden einige Detail- und Landschaftsstudien von Jeanneret aus den Jahren 1902–1907, in denen auch Bauernhäuser aus der Umgebung zum Gegenstand geworden sind; diese Darstellungen sind aber weder vom Interesse für Baukultur und -konstruktion getragen, sondern sind der Konvention malerischer Landschaftsdarstellung verpflichtet. Abbildungen vgl. Sekler: The Early Drawings of Chales-Edouard Jeanneret, S. 495, 496, 540, 542.

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verlustig gegangen schienen. Jedenfalls war die mit der modernen Großstadtkultur kontrastierende, »zurückgebliebene« ländlich-bäuerliche Lebenswelt in Mittel- und Südosteuropa, nachdem sie um die Jahrhundertwende von Ethnografen, aber auch Künstlern, Architekten und Reiseschriftstellern erforscht und für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war,11 zu einer kulturellen – und damit auch aufsuchenswerten – Größe geworden. Le Corbusier war selbst, was seinen Zugang und sein Interesse für Volkskunst betrifft, von einem ausgezeichneten Balkankenner, dem aus dem schweizerischen Neuenburg (Neuchâtel) stammenden, in München und Le Landeron lebenden Kulturpublizisten und Literaten William Ritter [abb. 3] beeinflusst und eingewiesen worden. Dieser hatte, mit außergewöhnlichem Sprachtalent begabt, längere Zeit in Mittel- und Südosteuropa gelebt, in dieser Zeit »Volkskunst« gesammelt und seine Neigung zu den Slawen und zum Landleben auf dem Balkan auch literarisch – unter anderem in den Erzählungen Fillette Slovaque. Le cycle de la nationalité (Paris, 1903) und L’Entêtement slovaque (Paris, 1910) – zum Ausdruck gebracht.12 Als Kulturpublizist war Ritter in jene sozialreformerischen, von stammlich-nationalen Ideen aber nicht unfreien Debatten verstrickt, in denen Volkskunst zum Inbegriff für eine noch unverfälschte, die Einheit von Kunst und Leben repräsentierende Lebensweise geworden war. Er glaubte an eine vorgegebene, im Kollektiven wurzelnde Identität, an das Verwachsensein des Einzelnen mit seinem Ort und seiner (stammlich fundierten) Kultur und sah dementsprechend in den Zeugnissen der Volkskunst den gemeinsamen, in einer »ewigen« Tradition aufgehobenen Besitz einer mehr oder minder fest umrissenen ethnischen Gruppe (im Originalton »Rasse«). Nicht nur die Reiseroute, auch die Wahrnehmung des damals 24-Jährigen scheint maßgeblich vom väterlichen Freund inspiriert, um nicht zu sagen vorstrukturiert. Auffällig jedenfalls ist, dass ein Großteil seiner posthum unter dem Titel Le Voyage d’Orient (Paris, 1966) erschienenen Reiseaufzeichnungen der Beschreibung der Dörfer des Donaubeckens von Wien bis zum Schwarzen Meer, ihrer materiellen Kultur (Häuser, Trachten, Kera-

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Zur »Eroberung« dieser mitteleuropäischen Regionen durch Künstler vgl. Moravánszky (Hg.): Das entfernte Dorf. Zur Verbindung von Ritter und Jeanneret vgl. auch Brooks: Le Corbusier’s Formative Years, S. 217–219; Vogt, Adolf Max: Le Corbusier, der edle Wilde. Zur Archäologie der Moderne. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1996, S. 89–93; weiterführende Literatur zu Ritter auch bei Passanti: »Volkskunst, die Moderne und Le Corbusier«, S. 256f., 275. Le Corbusier hatte übrigens Ritters 1910 publizierte Novelle, in deren Zentrum das bäuerliche Leben der für ihre Volkskunst geachteten Slowaken steht, vor Reiseantritt gelesen; seine eigenen, später als Le Voyage d’Orient (1966) publizierten Reiseaufzeichnungen sind wesentlich von Ritters Sprache und seiner ehrfürchtigen Haltung gegenüber der Kunst und dem Leben der Bauern geprägt.

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mik etc.), ihrer Bräuche und Feste gewidmet ist. Wie für so viele Bildungsbürger war auch für den jungen Kunstgewerbler, wie ein Brief an einen Freund belegt, die Volkskultur zu einem in vielem der hohen Kultur Überlegenes geworden: »Von einem bestimmten Standpunkt aus überragt die Volkskunst die höchsten Zivilisationen. In ihr besteht eine Norm fort, ein Takt, deren Richtmaß der Mensch der Rasse ist – der Wilde, wenn Du magst. […] Ich sage Dir Perrin, dass wir, wir anderen, die Zivilisierten der Zentren, die Wilden sind […].«13 Wiewohl sich für Le Corbusier die durch Ritter geschürten Erwartungen erfüllen, er also die Reise als ein Eintauchen in »jahrhundertealte Traditionen« erlebt, erfährt er jedoch auch die zerstörerischen Auswirkungen des »Fortschritts« auf die »natürlichen« Lebenswelten. Ihm war klar geworden, dass die Menschen überall da, wo sich billige Handelsware mit der Eisenbahn ihren Weg gebahnt hatte, bereit waren, ihr traditionelles Handwerk aufzugeben und die mit eigenen Händen produzierten Sachgüter bedenkenlos gegen industriell produzierte Massenware auszutauschen: »Der Bauer aus dem Donaubecken hat gewählt. Es gibt keine Volkskunst mehr, aber es gibt das ganze Dekor der industriellen Schundware. Überall!«14 Als Augenzeuge dieser Umwälzung kommt er auch auf einen serbischen Töpfer zu sprechen, von dem er ein Souvenir, eine aufwendig dekorierte Vase [abb. 4b] erworben hatte: »Der serbische Töpfer, der diese Vase etwa 1900 hergestellt hat, hatte sie bereits mit vielen anderen auf seinem Dachboden verstaut. Es war die letzte, die er in dieser Art produziert hat, er glaubte nicht mehr daran. In seinem Regal hatte sich vulgär von Maschinen verziertes Handelsgeschirr breitgemacht. Der ›Fortschritt‹ hat mit einem brutalen Schlag jahrtausendealte Traditionen zu Fall gebracht.«15 Die Balkanreise hatte Le Corbusier also vor Augen geführt, wie der Volkskunst durch die Industrialisierung die Existenzgrundlage entzogen worden war. Ein Prozess, den er schmerzlich zur Kenntnis nahm, den er für unbarmherzig und tragisch, aber auch für unvermeidlich hielt. So bedauert er zwar den Verlust der alten Handwerkskünste, hadert damit aber nicht. Er will

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»Considéré d’un certain point de vue, l’art populaire surnage les civilisations les plus hautes. Il demeure une norme, sorte de mesure dont l’étalon est l’homme de race – le suavage, sit u peux. […] Je te dis Perrin que nous sommes, nous autres civilicés du centre, des sauvages […].« Le Corbusier: Le Voyage d’Orient, S. 15, 22. Le Corbusier: L’Art Décoratif d’Aujourd’hui. Collection de l’Esprit Nouveau. Paris: Crès, 1925, S. 57. Ebda., S. 34.

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nicht retten und bewahren, akzeptiert die destruktive Seite der »Modernisierung«, ja bildet sogar positive Aufmerksamkeiten für die Veränderungen und Ablösevorgänge aus – wenn er etwa im Anschluss an den serbischen Töpfer fortfährt: »Aber einige Wochen später sah ich überall an der ägäischen Küste, wie die Krüge, die Amphoren, mit denen man zu den Brunnen ging (mit denen man seit zwanzig Jahrhunderten zum Brunnen ging) ersetzt wurden und der Töpfer keine Arbeit mehr hatte: Petroleum-Kanister aus Weißblech, die aus Batumi kamen, wurden als Gefäße benutzt, bequemer zum Tragen und obendrein unzerbrechlich; anstatt den Krug (einen einzigen Krug) auf der Schulter zu tragen, […] ist man, mit einen Kanister in jeder Hand, im Gleichgewicht und kann das doppelte Pensum erledigen.«16 Anzumerken ist, dass diese Zeilen 13 Jahre nach seiner Orientreise, also zu einem Zeitpunkt verfasst worden sind, da Le Corbusier bereits von großem (utopischen) Vertrauen in die Industrie getragen war. Einer Industrie, die nicht (negativ) für billige Reproduktion von alten Formen und Mustern stand, sondern (positiv) für eine moderne, versachlichte, nach den Gesetzen der Materialökonomie und Wirtschaftlichkeit hervorgebrachte Dingwelt. Hatte er ursprünglich, in seinen Reiseaufzeichnungen noch viel stärker die Auswirkungen der Industrialisierung beklagt, darüber lamentiert, dass der Fortschritt im Osten wie im Westen so hässlich und zerstörerisch sei, spielt die Modernisierungskritik in seinen mehr als ein Jahrzehnt später vorgebrachten Stellungnahmen zu Volkskunst und Folklore nur mehr eine marginale Rolle. Ja die Geschichte der durch Blechkanister ersetzten Tonkrüge in dem zunächst in L’Esprit Nouveau (E.N. 21, 1924) und dann in L’Art Décoratif d’Aujourd’hui (1925) publizierten Text Usurpation le folklore erscheint sogar unter einem zukunftsweisenden Licht, insofern er die neuen, von den Menschen nicht mehr selbst erzeugten, sondern »vorgefundenen« Gefäße hier bereits als Teil einer der industrialisierten Gesellschaft entsprechenden modernen Sachkultur lesbar macht. Usurpation le folklore ist also nicht nur der Text, in dem sich Le Corbusier gegen eine Wiederbelebung der im Verschwinden begriffenen lokalen Handwerkskünste ausspricht und Stellung gegen den »Regionalismus« beziehungsweise die »Heimatkunst« bezieht, es ist vor allem auch jener Text, in dem er die Vorstellung von industriell produzierten Gebrauchsgegenständen als »moderner Volkskunst« entwickelt. Wie bereits der Titel verrät, wendet sich Le Corbusier gegen diejenigen, die Volkskunst »usurpieren«, das heißt durch eine Form der Aneignung an sich reißen, die in der Reproduktion, aber auch im Sammeln der alten Objekte und Formen besteht. Seiner Meinung 16

Ebda., S. 34f.

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nach lebten Menschen, die sich mit Formen aus anderen Zeiten und Kulturen umgeben, in einer Lüge, weil sie sich in diesen Objekten nicht selbst begegnen könnten. Die Kultur der anderen – »argentinischer Tango, russische Stickereien, bretonische Kästen, Fayencen von überall, japanische Kunst in allen Sorten« –, wie sie in bourgeoisen Haushalten als »Stimmengewirr« (brouhaba) zusammenfindet, wäre bloß Dekoration, unecht, eine »Art Ersatz« (façon ersatz), der die eigenen, zeitgemäßen Bedürfnisse verdeckte, nur dazu da, Löcher zu füllen, die in der eigenen Kultur entstanden sind.17 Wie die von historischen (Stil)Formen zehrende kunstgewerbliche Produktion, gegen die Le Corbusier in fasten allen in L’Art Décoratif d’Aujourd’hui (1925) versammelten Texten zu Felde zieht, ist für ihn auch der gestalterische Rückgriff auf Formen der Volkskultur ein Anachronismus. Was von denjenigen zu halten ist, die sich zu derlei anachronistischen Vergnügungen hinreißen lassen, teilt er mit einer als Schlusspunkt gesetzten Abbildung mit: Zu sehen sind zwei »musizierende« Schimpansen, deren Hantieren mit Instrumenten wohl als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass Übernahme und Gebrauch von Elementen aus fremden Kulturen nur falsche Töne, nur glücklose, ja peinliche Ergebnisse hervorzubringen vermag. [abb. 4d] Es ist aber nur die aneignende Verwendung beziehungsweise Verwertung von Volkskunst und nicht die Volkskunst selbst, gegen die der Architekt sich richtet. Für die Objekte selbst empfindet er die allergrößte Wertschätzung, wie auch die zahlreichen Abbildungen in Usurpation le folklore – darunter auch Zeichnungen, die er 1907 wohl bei einem seiner Aufenthalte im Trocadéro, dem Pariser Völkerkundemuseum, angefertigt hat – bezeugen. Seltsamer Weise sind die über den ganzen Text verteilten Bildbeispiele alter Volkskulturen – von skandinavischem Schnitzwerk und peruanischen Vasen, über Tonkrüge aus Serbien und Spanien, einer aufwendig bestickten russischen Kappe bis zu polynesischen Stoffmustern [abb. 4c] – von zwei Darstellungen eingefasst, die sich von den Volkskunstobjekten abheben: Auf der ersten Seite, über dem Titel, findet sich eine Tabakpfeife des englischen Herstellers Comoy [abb. 4a], auf der vorletzten Seite des Textes eine Taschenuhr der Marke Omega. [abb. 4d] Doch was haben die zum Teil üppig verzierten ethnischen Artefakte mit der schmucklosen, industriell produzierten Massenware zu tun? Das Programm hinter dieser Konfrontation, deren Objekte – was Form, Produktionsweise, Verbreitung und Gebrauch betrifft – nicht gegensätzlicher sein könnten, ist zugleich die Grundthese, die das ganze Buch L’Art Décoratif d’Aujourd’hui (1925) durchzieht: In den Industrieprodukten der modernen Warenwelt (hier repräsentiert durch Uhr und Pfeife, aber auch durch den Benzinkanister) zeige sich die »Volkskunst der Gegenwart« (folk17

Ebda., S. 28.

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lore d’aujourd’hui), die gerade dabei wäre, das Kunstgewerbe, die traditionellen arts décoratifs zu ersetzen. Jeder Versuch, bei der Gestaltung von Gebrauchsgütern von der Suche nach einer neuen Ästhetik auszugehen, wäre zum Scheitern verurteilt. Denn ein Stil könne nicht einfach herbeigewollt und von außen an einen Gegenstand herangetragen werden, sondern könne nur – wie eben bei traditionellen Volkskulturen – Resultat einer »natürlichorganischen« Beziehung zwischen der Gesellschaft und den von ihr hervorgebrachten Kulturprodukten sein. Wenn Le Corbusier – wohlgemerkt in einem Zirkelschluss – der »alten« Volkskunst und der »Volkskunst von heute« Gemeinsamkeiten unterstellt, wird die Grundannahme von der Volkskunst als einer Äußerung kollektiven, anonymen Schaffens18 auch mit der Idee einer darwinistischen Selektion der Formen verknüpft. Denn wie die volkskulturellen Gegenstände, die durch den Gebrauch über lange Zeit eine formale Läuterung erfahren haben, kann auch das gute, zur Perfektion gebrachte Serienprodukt – und dafür stehen neben der ihrer dekorativen Elemente entledigten Omega-Uhr auch Pfeifen, Flaschen, Gläser und Stühle – in den Augen von Le Corbusier nicht von einem einzelnen Individuum (Künstler) entwickelt und »von oben« her verordnet werden, sondern nur in einem langen Prozess von Auslese und Experiment »aus der Masse heraus«, »von unten« her entwickelt werden. Es sind nicht formale Ähnlichkeiten, sondern unsichtbare Eigenschaften, ein Ethos, eine Art moralische Ökonomie, die Le Corbusier eine Verwandtschaft zwischen der schmucklosen, seit 1920 in automatisierter Produktion hergestellten Taschenuhr 19 des modernen Städters und der reich verzierten, von Hand modellierten Vase des serbischen Töpfers konstruieren lassen. Sämtliche Qualitäten, durch die sich »alte« Volkskunst auszeichnen soll – »schon immer und überall« wäre sie »rein, prägnant, ökonomisch, intensiv und essentiell«20 gewesen –, schreibt Le Corbusier auch den anonymen Industrieprodukten zu. Und was bislang als Eigenschaft der vormodernen Volkskunst ausgewiesen worden war – »organische« Kultur zu sein, das »gesunde«, nicht entfremdete Verhältnis der Menschen zu ihren Gebrauchsgegenständen auszudrücken –, wird nun auch als Eigenschaft kommender Baukunst postuliert.

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Diese Annahme wurde bereits in den 1920er Jahren von Folklore-Fachleuten (mit der Frage nach Transfer, Entlehnung und Transformation von Formen) relativiert und heftig diskutiert. Vgl. etwa Jakobson, Roman: »Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens« (1929), in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993 (1979), S. 140–157. Schilder, Lotte: »Präzisionsindustrie – Typenbildung und Standard«, in: Moos: L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920–1925, S. 267. Ebda, S. 32.

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Un standart meurt – un standart nait

Grundsätzlich gilt für Le Corbusier, dass die stolze Erfindung kaum Aufmerksamkeit für das Alterhergebrachte und schon gar nicht für die Erforschung vernakularer Baukulturen zugelassen hat. Er hatte sich auf seiner Orientreise kein einziges Mal wirklich eingehend mit der Bauweise und Struktur regionaler Bautypen befasst und er ist auch später nie in die Verlegenheit oder Versuchung gekommen, vormoderne Bauformen systematisch zu erforschen. Bäuerlich-ländliche Architektur war ihm letztlich keine tiefergehende Beschäftigung wert. Mit einer kleinen Ausnahme vielleicht, hatte er sich doch vergleichsweise intensiv mit der alten bretonischen Baukultur auseinandergesetzt. Le Corbusier war wohl 1917, im Zuge seines ersten, direkt beauftragten und immerhin teilweise ausgeführten Bauprojektes in Frankreich, einer Arbeitersiedlung für Saint-Nicolas-d’Aliermont, auf die vernakulare Baukultur im Nordwesten Frankreichs gestoßen. Zeichnungen aus dem Jahr 1913 zeigen aber, dass er sich bereits früher mit alten Haustypen in der Normandie vertraut gemacht haben muss. [abb. 5] In jedem Fall dürften die Zeichnungen, die er bei seinen Aufenthalten an der Atlantikküste angefertigt hat, nicht ganz Selbstzweck gewesen sein. Denn es bestehen, wie bereits Brian Brace Tyalor hingewiesen hat,21 unübersehbar Ähnlichkeiten zwischen dem von ihm für Saint-Nicolas-d’Aliermont konzipierten Haustyp und der lokalen vernakularen Architektur [abb. 6], die er vorab in seinen Zeichnungen analysiert hat. Jedenfalls weist das einzig realisierte und bis heute noch relativ unveränderte Doppelhaus der Siedlung [abb. 8] – der Auftraggeber, ein Uhrenfabrikant namens Robert Duverdrey, hatte 1918 nach dem Bau des Musterhauses aufgrund der hohen Baukosten von seinem Vorhaben Abstand genommen – eine Formensprache auf (steiles Satteldach mit Gauben, Schornstein an der Giebelwand), die sich durch eine gewisse Nähe zur lokalen Alltagsarchitektur auszeichnet. Allerdings wäre es übertrieben, hier von einer unmittelbaren Nachahmung und Weiterführung der alten vernakularen Bauweise zu sprechen. Ist der Siedlungsentwurf doch einerseits stark von den Prototypen der englischen Gartenstadt (Hampstead, Letchworth) beeinflusst und greift andererseits auf die seit dem Aufschwung der Uhrenindustrie im 19. Jahrhundert (bei öffentlichen Bauten, aber auch im Herrschafts- und Arbeiterwohnbau) lokal üblich gewordene Ziegelbauweise zurück und nicht auf das alte, von weiß gekalkten Fugen bestimmte Bruchsteinmauerwerk.22 Mag das Projekt für Saint-Nicolas-d’Aliermont formal und bautechnisch auch nicht unmittelbar

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Vgl. dazu Taylor: Le Corbusier et Pessac 1914–1928, Bd. 1, S. 18–19. Zu erwähnen ist, dass Le Corbusier ursprünglich vorhatte, die Häuser in einer neuen innovativen Bauweise, nämlich aus Beton-Hohlblocksteinen zu fertigen. Im Jahr der Beauftragung

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an die alten Bauten anknüpfen und – wie fast alle Siedlungsentwürfe, die Jeanneret während seiner Zeit als Konsulent für die s.a.b.a. (Société d’Application de Béton Armé) zwischen 1916 und 1920 projektiert – hybride Züge aufweisen, so ist es methodisch, von der Herangehensweise her durchaus als regionalistisches Unternehmen einzustufen: Ein »von außen kommender« Architekt analysiert die alten lokalen Hausformen und versucht, Elemente dieser Nicht-Architekten-Architektur im Arbeiterwohnbau zu verarbeiten. Es versteht sich von selbst, dass Le Corbusier später, nachdem er seine formale Position geklärt und sich zu einer antiregionalistischen Haltung durchgerungen hatte, über diesen Fortschreibungsversuch von Lokalem, über diesen Versuch der Entwicklung einer »heimatlichen« Formensprache für die untersten Klassen den Mantel des Schweigens gebreitet hat. Allerdings kommt er 1925 im Almanach d’Architecture Moderne abermals auf die Regionalbaukultur im Nordwesten Frankreichs zurück. Eingefügt in einem Buch, das der Dokumentation des 1925 für die Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes gebauten Pavillon de l’Esprit Nouveau gewidmet ist, wirkt der Beitrag über das ländliche Bauwesen auf den ersten Eindruck deplaziert: Die vielen Bilder von alten bretonischen Bauernhäusern wollen nicht so recht in das Umfeld der vom Geist der seriellen Massenproduktion bestimmten modernen Wohnkultur und der damit verbundenen urbanistischen Visionen passen. Das den Text dominierende Bildmaterial – neben einer fotografischen Aufnahme und zwei Detailskizzen, zeigen sieben malerische Landschaftsdarstellungen traditionelle bretonische Häuser [abb. 6, 7] – lässt eher auf die Schwärmerei eines den Reizen der bretonischen Landschaft mit seinen alten Häusern erlegenen Sonntagsmalers schließen als auf den Verkünder eines neuen, formal von allen Traditionen abgeschnittenen »industriellen« Bauens. Doch schon der Titel, Un standart meurt – un standart nait (Ein Standard stirbt – ein Standard wird geboren), korrigiert den ersten Eindruck: Der Leserschaft soll klar gemacht werden, dass die vormodernen, regionalen Haustypen unwiderrufbar im Verschwinden begriffen, ja zum Tode verurteilt sind und an die Stelle der alten Bauweise nur eine völlig neue treten kann. Für Le Corbusier steht fest, dass das Neue nicht aus dem Alten abgeleitet werden kann, dass es sich nur unabhängig und eigenständig aus den neu verfügbaren Materialien und Konstruktionsweisen entwickeln kann. Er weiß aber auch, dass dieses Neue – und dafür steht der Pavillon de l’Esprit hatte er ein Unternehmen im Pariser Vorort Alfonteville gegründet, ein Ingenieurbüro für die Entwicklung und Erforschung industrieller Konstruktionsmethoden (Société d’entreprises industrielles et d’études), dem auch eine Backsteinfabrik angeschlossen war – ein Umstand, der bei der Entscheidung für eine Ausführung in Sichtziegelmauerwerk eine Rolle gespielt haben könnte.

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Nouveau, also der Prototyp der stapelbar gedachten Wohnzelle, mit dem er den neuen Bautyp für die »maschinelle Zivilisation« entwickelt zu haben meint – eines Rückhalts, einer historischen Absicherung bedarf. Weil er sich nicht auf die Abwertung der vorherrschenden »Dekorationsarchitektur« beschränken kann, er nicht einfach nur in Ablehnung und Negation aufgehen kann, sondern für seine neuartigen architektonischen Formen auch unbedingt einen Positiv-Bezug braucht, breitet er im Almanach wie bereits in Vers une Architecture (1923), in Urbanisme (1925) und später auch in Une Maison – un Palais (1928) ein ganzes Netz von historischen Bezügen aus, das neben alter Monumentalbaukunst vor allem auch vernakulare Bauten umfasst. Im Unterschied zu den meisten seiner Avantgardekollegen argumentiert Le Corbusier also ständig vor dem Hintergrund der Tradition, wobei sein Zugriff grundsätzlich ahistorisierend und idealisierend verläuft. Wenn dieser Rekurs auch in erster Linie der Untermauerung seiner zur Wahrheit verabsolutierten Vorliebe für einfache geometrische Formen dient,23 ist von Bedeutung, dass sein Verständnis von Bautradition nicht bloß die Werke der großen Baukunst, sondern auch die eines unscheinbaren, alltäglichen Bauens umfasst. Wie in seinen Stellungnahmen zur Malerei, wo er zeitgenössische avantgardistische Kunst mit Artefakten aus antiken Hochkulturen und Kulturgegenständen »naiver« außereuropäischer »Volkskunst« konfrontiert,24 wird auch die künftige (Beton)Bauweise sowohl von Bildern einer »hohen« wie auch »niederen« Baukunst sekundiert. Vor allem unter Verwendung von Abbildungen aus Auguste Choisys Histoire de l’Architecture (1899) und eigener Zeichnungen von seiner Orientreise greift er einerseits auf »legitime« historische Kult- und Monumentalbauten zurück – von den Tempeln der griechischen, ägyptischen und assyrischen Hochkultur, über die großen Bauten der römischen Antike bis hin zur byzantinischen Sakralarchitektur – und andererseits auf »illegitime« vernakulare Bauten. Diese neue Bezugsgröße der vernakularen Baukultur schließt traditionelle Bautypen in den von der Industrialisierung relativ unberührt gebliebenen Randzonen (die alten bretonischen Steinhäuser, aber auch Berghütten) ebenso ein, wie die in verschiedenen Kulturen anzutreffende »Hütte der Wilden«. [abb. 13, 14]

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Paradoxer Weise war diese »Wahrheit der Geometrie« Le Corbusier im Rahmen einer die Natur abstrahierenden Ornamentlehre einverleibt worden. Zu den verschiedenen Einflüssen – akademische Ornamentlehre, französische und deutsche Architekturtheorie – seines Glaubens an die »reine Form« und Geometrie vgl. Turner: The Education of Le Corbusier, S. 234f; Brooks: Le Corbusier's Formative Years, S. 68, 447; Colli: Jeanneret und die École d’Art, S. 18ff. Ozenfant, Amédée /Jeanneret, Charles-Eduard: La Peinture Moderne. Paris: Crès, 1925, S. 36, 153–157; zur Präsenz der »mode nègre« in der von Jeanneret und Ozenfant gemeinsam mit Paul Dermée herausgegebenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau vgl. Moos (Hg.): L’Esprit Nouveau, S. 208f.

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Doch kommen wir auf die bretonischen Bautypen zurück: Wie sieht der »moderne« Zugang zu diesen bis dahin von der akademischen Überliefung im Feld der Architektur ausgeblendeten Bauten aus? Vorauszuschicken ist, dass Le Corbusier die Bretagne eher beiläufig während beziehungsweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg für sich entdeckt. Also fast zwei Jahrzehnte nach den französischen Künstlern, die sich hier wie Paul Gauguin – der in seinen Briefen mitteilt, dass er in der Bretagne das »Wilde« und »Primitive« gefunden hat25 – auf der Suche nach dem einfachen Leben zurückgezogen hatten. Der Umweg über eine andere Gesellschaft, seine Orientreise, dürfte Le Corbusier also auch die Augen für das geöffnet haben, was im industrialisierten West-Europa nur mehr in abgelegenen Randgebieten zu finden war: Autochthone Bautypen, die sich in relativ abgeschlossenen Lebenswelten unter den jeweils gegebenen klimatischen Bedingungen, abhängig von den verfügbaren Materialien und im Zusammenhang mit einer oft über Jahrhunderte entwikkelten Produktions- und Wirtschaftsform herausgebildet hatten. Zwar kommt es ihm nicht in den Sinn (wie etwa unter nationalistischen Architekten in Mitteleuropa durchaus verbreitet) diese Objekte patriotisch zu konnotieren, doch sind die alten Bauten auch für ihn durch und durch positiv besetzt. Sie stellen für ihn »reine«, »exakte«, »wahre« und zur »Perfektion gebrachte«, »ewige« Formen dar. Die alten bretonischen Steinhäuser, die sich für ihn ganz natürlich wie Früchte (comme une pomme, une poire26) aus der Erde entwickelt haben und sich – wie seine pittoresken Landschaftsdarstellungen belegen sollen – perfekt in die Landschaft fügen, ja »die Landschaft erst machen« (la maison fait le paysage), werden von ihm primär ästhetisch (als geometrisch vollkommene Formen) rezipiert, doch werden sie (wie der Parthenon) vor allem auch als »Standard« interpretiert. Ein Standard, das ist für Le Corbusier ein »Ausleseprodukt, angewandt auf einen schon bestehenden Typ«.27 Erst das Streben nach Perfektion, das durch Wettbewerb ausgelöste Bemühen um Verbesserung macht für ihn aus einer verbreiteten Lösung ein zur Vervollkommnung gebrachtes Standardprodukt. In seinen Augen ist nicht nur der griechische Tempel mit seinen ästhetisch zur Vollendung gebrachten kannelierten dorischen Säulen, sondern auch das mit einfachen Mitteln hergestellte Bauernhaus ein solches über Generationen verfeinertes und verbessertes Ausleseprodukt – das sich aus dieser Sicht mit seiner Vorstellung von kommender Baukunst solide verbinden lässt. 25 26 27

»J’aime la Bretagne. J’y trouve la sauvage, le primitif.« Paul Gauguin zit. nach Malingue, Maurice (Hg.): Lettres de Gauguin à sa femme et à ses amis. Paris: Grasset, 1946, S. 332. Le Corbusier: »Un standart meurt – un standart nait«, in: Almanach d’Architecture Moderne. Collection de L’Esprit Nouveau. Paris: Crès, 1925, S. 83–90, S. 86. Le Corbusier: 1922 Ausblick auf eine Architektur. (Vers une Architecture. Paris: Crès, 1923) Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1995 (1963), S. 105.

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Gewiss, der mit völlig ungewohnten, formal reduzierten Bauten für Aufruhr sorgende Architekt möchte sich nicht ein »ausgetrockentes Herz«, wie er im gleichen Jahr in dem mit »Confession« (Bekenntnis) überschriebenen Schlussteil von L’Art Décoratif d’Aujourd’hui eingesteht, nicht Unempfindsamkeit gegenüber der Schönheit des einfachen regionalen Bauens vorwerfen lassen. Wichtiger jedoch ist, dass sich von den vormodernen Bautypen auch vorzüglich eine Brücke zur Gegenwart, zu seinem aus vorfabrizierten Elementen bestehenden Typenhaus schlagen lässt: Wie die alten Bauernhäuser sollen auch die Waben der modernen Wohnhausarchitektur ein Standard sein, also eine von Grundbedürfnissen ausgehende und diese befriedigende Lösung, für alle bestimmt, für alle gleich und damit der Kultur des individuellen Ausdrucks entgegenstehend (»Dem Individualismus, diesem Fieberprodukt, ziehen wird das Banale, das Allgemeine, der Ausnahme die Regel vor.«28) Wie die alten Bautypen sollen die von Le Corbusier zur Grundlage des neuen Städtebaus erklärten Standard-Zellen kulturelle Einheit und kollektive Identität zum Ausdruck zu bringen. Sie sollen aber auch – zumal für ihn das Gesetz der Wirtschaftlichkeit auch die Schönheit eines Gebäudes verbürgt (»L’économie est la condition de base de la beauté.«29) – wie die alten regionalen Bautypen ebenso einfache wie ökonomische Lösungen sein. Der Begriff Standard ermöglicht es Le Corbusier also nicht nur, eine Brücke zur großen Tradition der abendländischen Baukunst zu schlagen und damit jenes auf neue Art und Weise anzusprechen, was bislang von den von ihm so gehassten Akademikern in Beschlag genommen worden war. Er hilft ihm auch dabei, eine Verbindung zu jenem herzustellen, was so lange von der gelehrten Kultur ausgeschlossen und seit 1900 zusehends von den »Heimatkünstlern« okkupiert worden war. Wie auf dem Land gebaut werden soll – Le Corbusier versus Loos

Natürlich greift Le Corbusier in Un standart meurt – un standart nait, wenn auch implizit, die für die Architektenschaft allerorts drängende Frage auf, wie in Zukunft auf dem Land gebaut werden soll, ob eine regionaltypische Formensprache unter den gegebenen Rahmenbedingungen der Modernisierung erhalten werden kann und soll. Er selbst bezieht diesbezüglich eine klare Position. Denn so sehr er auch über den alten bretonischen Bauten, ihren klaren Formen und ihrer Einbettung in die Landschaft ins Schwärmen gerät, so wenig tritt er doch für den Erhalt, den Fortbestand und das Wiederaufnehmen dieser Formen ein. Warum es für ihnen keinen Sinn macht, an den alten Formen festzuhalten, erklärt sich für ihn aus der Einsicht, dass sich die 28 29

Le Corbusier: Städtebau. Stuttgart: DVA, 1929, S. 35. Le Corbusier: Almanach d’Architecture Moderne, S. 79.

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modernen Produktionsverhältnisse wie ein zerstörerisches Erdbeben auf die vormoderne Kultur ausgewirkt hatten. Genauestens hat er beobachtet, wie die fortschreitende Modernisierung die alten Bauformen einer nicht mehr rückgängig zu machenden Veränderung unterworfen hatte. An einem Detail, der für die bretonischen Häuser typischen Giebelfront, hat er den mit der Verfügbarkeit neuer Materialien einhergehenden Transformationsprozess studiert. [abb. 9] Mit der Eisenbahn wäre der Schieferstein in diese Region gekommen, womit ein wesentlich dauerhafteres Material wie auch anderswo (nicht zuletzt aus Brandschutzgründen verordnet) das traditionelle Strohdach verdrängt hat. Infolge der bautechnisch problematischen, weil für das Eindringen von Wasser anfälligen Stoßstelle zwischen Dachbelag und der höheren Giebelmauer hätte man begonnen, die Dachfläche mit einem Überstand auszubilden – womit jedoch auch die hochgezogene, in einen Kamin übergehende Giebelwand samt ihrem aus Granitsteinen gefertigten Ortgang eliminiert worden war, und mit ihr der regionalspezifische Charakter der Bauten: »In zehn Jahren wird alles überformt und umgebildet sein. Das bretonische Zeichen wird verschwunden sein.«30 Der technische Fortschritt hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Teilen Europas zu einem Verschwinden alter autochthoner Bauformen geführt, was aus städtischer Perspektive allgemein als Verlust und Zerstörung empfunden worden war und allerorts vom Ruf nach Pflege dieses »Kulturschatzes des einfachen Volkes« begleitet war. Für Le Corbusier konnte das Ansinnen, die alten Bauweisen auf dem Lande am Leben zu erhalten – ob nun aus denkmalpflegerischem oder identifikatorischem Interesse – nur das Zeichen einer in Unordnung geratenen Gesellschaft sein. Nüchtern beschreibt er den Status quo, die Austauschverhältnisse zwischen Stadt und Land, wie einerseits die bretonische Landbevölkerung die städtische Kultur assimiliert, die Jungen nach den Klängen des mechanischen Klaviers tanzen und ihre Spitzen nach Pariser Vorlagen anfertigen, und andererseits die Städter nach altem ländlichen Handwerksgut gieren. Missmutig stellt er fest, dass »die Bretonen der Bretonnerie, die aus Paris sind« das bereits erloschene Feuer der Töpfer wieder angeworfen hätten und im Begriffe wären, unter der Ägide der arts décoratifs auch bald zur Rettung der bretonischen Giebelwand zu schreiten.31 Wie Loos wendet er sich entschieden gegen jene, »die dem noch zurückgebliebenen Teil des Volkes aus ästhetischen Gründen ihre alte Kultur erhal-

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»Dans dix ans ils seront tous transformés, réformés. Le signe breton aura disparu.« Le Corbusier: Almanach d’architecture moderne, S. 88. »Il y a les Bretons de Bretagne qui sont en Bretagne et les Bretons de Bretonnerie qui sont à Paris. Les Bretons de Bretonnerii ont rallumé le four du potier de Quimper … qui s’étaient éteints un jour (le potier et le four). Les ‚Arts Décoratifs’ de l’Esplanade des Invalides voudraient rallumer le four et sauver le fronton.« Le Corbusier: Almanach d’architecture moderne, S. 89f.

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ten wollen.«32 Wo Le Corbusier gegen den Regionalismus der Bahnhöfe entlang der Eisenbahnlinie Paris-Dieppe polemisiert, »[…] ausgerechnet jetzt [nach den Zerstörungen des Krieges] sind wir wieder bei der H-e-i-m-a-t-k-u-n-s-t [R-é-g-i-o-n-a-l-i-s-m-e] angekommen! […] weil jeder der dreißig, von Schnellzügen verqualmten Bahnhöfe seinen eigenen Hügel und seinen besonderen Apfelbaum hat, die so gut zu ihm passen und seinen Charakter, seine Seele, ausdrücken. Verdammte Flöte Pans!«33 klagt sein Gesinnungsgenosse in Wien die »Heimatkünstler« an, die damit begonnen hatten, Elemente der ländlichen Baukultur auch im städtischen Umfeld einzusetzen: »Statt aber die neuesten errungenschaften unserer kultur und unseres geisteslebens, statt unsere neuen erfindungen und erfahrungen auf das land hinauszubringen, versuchen es die heimatkünstler, die ländliche bauweise in die stadt hineinzutragen. Die bauernhäuser erscheinen diesen Herren exotisch, was sie mit dem Wort malerisch umschreiben. Malerisch erscheinen die kleidung der bauern, ihr hausrat und ihre häuser nur uns. Die bauern selbst kommen sich gar nicht malerisch vor, auch ihre häuser sind es für sie nicht. Sie haben auch nie malerisch gebaut. Aber die stadtarchitekten tun es nun nicht mehr anders. Malerisch sind unregelmäßige fenster, malerisch die raue, die abgeschlagene wand, malerisch die alten dachziegel. Und dies wird in der stadt nach den geboten der heimatkunst alles imitiert. […] Und ich sehe schon die zeit kommen, wo unsere geschäfts- und miethäuser, unsere theater- und konzerthäuser mit schindeln und stroh gedeckt werden. Nur immer ländlich – schändlich.«34 Doch so sehr sich Loos und Le Corbusier in ihrer Ablehnung der »Heimatkunst« einig sind und die nostalgische Aneignung und Wiederbelebung bäuerlich-ländlicher Formen durch die Städter verurteilen – als »unwahre naivtuerei« und »bauerntheaterspielerei« (Loos), als »verdammte Flöte Pans« (Le Corbusier) –, so unterschiedlich sind doch ihre Schlüsse im Hinblick auf die Frage, wie (von Architekten) auf dem Land gebaut werden soll. Während Le Corbusier ab dem Zeitpunkt, da es ihm um die Durchsetzung »industrieller« Baumethoden und die Produktion moderner (unter anderem mit Flachdach ausgestatteter) Serienhäuser geht, alle traditionellen Bauformen und

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Loos, Adolf: Richtlinien für ein Kunstamt. Wien, 1919. Diese Stellungnahmen findet sich in dem 1921 publizierten Artikel »Maisons en Série« –also da, wo er nicht nur »in drei Tagen fix und fertig[e]« Wunderhäuser aus Gussbeton, sondern auch gleich eine an der neuen Architektur genesende Gesellschaft verspricht. Le Corbusier: 1922 Ausblick auf eine Architektur, S. 167. Loos, Adolf: »Heimatkunst« (1914); in: ders.: Trotzdem. Gesammelte Schriften 1900–1930. Hg. von Adolf Opel. Innsbruck: Brenner, 1931, S. 122–130, S. 127.

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-techniken abwerten muss – »Hauselemente, die fast heilig waren, sind erledigt: Dächer, die nicht mehr spitz sein müssen, damit das Wasser abläuft, und die großen und so wunderschönen Fensterrahmungen, die uns nur ärgern, weil sie uns einkerkern und uns das Licht wegnehmen […].«35 – fordert Loos Besinnung auf die Tradition (des Handwerks).36 In seinen Regeln für den, der in den Bergen baut (1913) plädiert er für Respekt vor dem Alten bei gleichzeitiger Offenheit für Veränderungen – die für ihn allerdings nur dann akzeptabel sind, wenn sie auch Verbesserung bedeuten.37 Der Tradition auf dem Land zu folgen, bedeutet für Loos also nicht, die malerische Wirkung der Bauernhausarchitektur nachzuahmen – dies führe ja nur zu jenem »kindische[n] gelalle, das sich unter dem namen heimatkunst birgt«38 –, sondern auf regional vorherrschende Bauweisen und bewährte Handwerkskunst zurückzugreifen. Was dabei herauskommt, wenn ein »Maurer, der Latein gelernt hat« nicht im »Steinklopferdialekt« mit den Bauern spricht, sondern in seiner eigenen großstädtisch, bürgerlich-gebildeten Sprache, hat Loos bei einem im Semmeringgebiet liegenden Landhaus vorgeführt, das er 1929/30 für den Wiener Lebensmittelindustriellen Paul Khuner errichtet hat.39 Anders als die umgebenden, im »internationalen Heimatstil« errichteten Villen der Wiener Sommerfrische-Gesellschaft, die mit ihren Holzverzierungen und vorgetäuschten Fachwerken weder die Motive noch die Bauweise der lokalen vernakularen Baukultur reflektieren, greift Loos auf die in den östlichen Alpen verankerte Bautradition des auf Steinsockel aufgesetzten Blockbaus zurück. Nicht ohne dabei selbstbewusst die Ansprüche der großstädtischen, bürgerlichen Klientel zu artikulieren: Statt geduckter, aus Not(wendigkeit) geborener Kleinräumigkeit wird hier ein großzügiges bürgerliches Raumprogramm inszeniert, das von außen betrachtet zu einer aufgeblähten Blockhütte führt [abb. 10]; statt kleinformatiger Bauernhoffenster 35 36

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Le Corbusier: 1922 Ausblick auf eine Architektur, S. 170. »Statt lügnerischen schlagworten wie ›heimatkunst‹ zu folgen, entschließe man sich doch endlich zu der einzigen wahrheit zurückzukehren: zur tradition. Man gewöhne sich, zu bauen wie unsere väter gebaut haben, und fürchte nicht, unmodern zu sein.« Loos: »Heimatkunst«, S. 130 »Achte auf die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der urväterweisheit geronnene substanz. Aber suche den grund der form auf. Haben die fortschritte der technik es möglich gemacht, die form zu verbessern, so ist immer diese verbesserung zu verwenden. Der dreschflegel wird von der dreschmaschine abgelöst.« Loos, Adolf: »Regeln für den, der in den Bergen baut« (1913); in: ders.: Trotzdem, S. 120–121. Loos: »Heimatkunst«, S. 130. Kristan, Markus: Adolf Loos. Landhaus Khuner am Kreuzberg. Hg. von der Höheren Graphischen Bundes-, Lehr- und Versuchsanstalt. Wien, 2004; Schwarz, Mario: »Adolf Loos: Landhaus Khuner in Payerbach, 1930«, in: Kos, Wolfgang (Hg.): Die Eroberung der Landschaft. Semmerin-Rax-Schneeberg. Katalog der Niderösterreichischen Landesausstellung Schloss Gloggnitz 1992, Wien: Falter Verlag, 1992, S. 358; Kulka, Heinrich: Adolf Loos. Wien: Löcker, 1931, S. 42f.

Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde

werden große Panoramafenster zum Einsatz gebracht, die ein modernisiertes, die Landschaft in den Innenraum hereinholendes Wohnen anzeigen. [abb. 11] Mit diesem Verschnitt von städtischer Villen- und alpiner Bauernhausarchitektur hat Loos zwar dem späthistoristischen Heimatstil einen modernen Regionalismus entgegengesetzt, doch bleibt die Synthese von ländlichbäuerlicher Handwerkstradition und (groß)bürgerlichem Lebensstil nicht frei von Ambivalenzen. Jedenfalls hätte ihm Le Corbusier den Vorwurf der (bäuerlichen) »Verkleidung« gemacht. Im Gegensatz zu Loos war Le Corbusier nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass die Architektur aus den Lektionen der industriellen Massenproduktion zu lernen hätte. Er ging davon aus, dass der Einsatz neuer Materialien und Fertigungsmethoden »ganz von selbst« eine neue, die industrielle Gesellschaft repräsentierende Formensprache hervorbringen würde, mit der sich auch jede Weiterführung von »bodenständiger Tradition« erübrigte. Für Le Corbusier war gewiss: »Eine neue Epoche ist angebrochen, mit einer neuen Gesellschaft und neuen Menschen. Und nichts aus der Vergangenheit wird wiederaufleben. Bauen, das heißt nach vorne blicken und nicht zurück.«40 Wie die anonymen, massenindustriell gefertigten Produkte der Alltagskultur sollten Wohnhäuser zu einem überall und für alle verfügbaren seriell fabrizierten Gegenstand werden. Sie sollten Kosmopoliten sein, die sich als wurzel- und staatenlose Gebilde überall niederlassen und allerorts die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigen. Die Forderung nach einer von regionalen Eigenheiten völlig unberührten »internationalen« Formensprache wird von Le Corbusier in Usurpation le folklore artikuliert: »Verzichten wir auf die regionalen Ausformungen zugunsten eines internationalen Charakters. […] Was sollen wir in unserem Leben mit den Wiederbelebungen anfangen, die man uns vorschlägt? Die Wiedererweckung der regionalen Künste, das Aufleben der okzitanischen Sprache, der bretonischen und Tiroler Trachten, des Kimono oder des Peplum von Duncan, der Keramik von Lunéville? All das ist vergangen, abgelegt und verworfen durch einen neuen Geist.«41

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Le Corbusier: Une Maison – un Palais. A la Recherche d’une Unité architecturale. (Paris: Crès, 1928) Paris: Editions Connivences, 1989, S. 36f. »Abandon des caractères régionaux en faveur d’un caractère international. Les frontières tombent et tous les sites nous sont connus; seul l’homme subsiste entier avec des clairs besoins et une poétique plus élargie. Que viennent faire dans notre vie les résurrections que l’on propose? Resurréction des arts régionaux, réstauration de la langue d’oc, du costume breton ou tyrolien, du kimono ou peplum de Duncan, de la vaisselle de Lunéville? Tout cela est passé, classé, chassé par un sentiment neuf. Réagir, c’est regarder derrière et c’est aussi se faire broyer comme l’arbre qui chute dans un torrent.« Le Corbusier: L’Art Décoratif d’Aujourd’hui, S. 37.

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Die Hochschätzung des Vernakularen ging bei Le Corbusier also nie mit dem Anspruch einher, sich gestalterisch an überlieferten Formen zu inspirieren, diese aufzugreifen und neu zu interpretieren, sondern hatte vielmehr mit einem moralisch besetzten Anspruch auf Wahrhaftigkeit in der architektonischen Gestaltung zu tun. Mit vernakularer Architektur ließ sich das Exempel eines »wahren«, »stillosen«, das heißt von historistischen Dekorationen befreiten Bauens statuieren, an dem sich moderne Architekturproduktion zu messen und zu orientieren hätte. Anklänge dieses ideellen, von unmittelbarer gestalterischer Nachahmung unberührten Zugangs zum Vernakularen finden sich auch im frühen Architektur-Diskurs der Wiener Moderne. Schon 1897 hatte der Wiener Architekt Josef Hoffmann die »reine, volksthümliche Bauweise« auf Capri wegen ihrer »glatten Einfachheit« gelobt, dafür, dass sie »frei von künstlicher Überhäufung mit schlechten Decorationen« sei, zugleich aber auch davor gewarnt, dass diese Bewunderung »nicht zur Nachahmung dieser Bauweise führen« dürfe.42 Und auch Joseph August Lux hatte 1904 in Das moderne Landhaus die Bürgervillen von Josef Hoffmann und Leopold Bauer dahingehend interpretiert, dass sie, obschon formal eher dem Jugendstil und dem englischen Landhaus verpflichtet, aus der Besinnung auf das Bauernhaus heraus entstanden wären.43 Die Gegnerschaft zur vorherrschenden Stilkunst und zum Akademismus, der Ruf nach einem »unverbildeten Schaffen« und die damit verbundene Überzeugung, dass »echte Baukunst« nur da möglich ist, wo das Bauen durch keinerlei ästhetisches Dogma und »Kunststreben« beeinflusst ist, wo Form »ganz natürlich« aus dem Material und dem Zweck abgeleitet ist – all das sind wesentliche Elemente einer modernen Haltung zum Gestalten, die sowohl im Avantgarde-Diskurs als auch im kulturkritisch-reformerischen Diskurs um »Heimatkunst« zu finden sind. Was radikale Moderne und »Heimatschützer« bisweilen über alle Unterschiede hinweg verband, war der Rekurs auf das Vernakulare zum Zweck der Legitimierung von Gegenwartsproduktion. Ob nun die Jugendstilvillen eines Leopold Bauer oder die kubische Flachdacharchitektur eines Le Corbusier – sämtlichen Formen, die mit dem historistischen Kanon brachen, wurde eine Verwandtschaft mit dem vernakularen Bauen unterstellt. Dieses Verfahren, das man auch »Andichten« nennt, hatte natürlich seine Nuancen: Denn während etwa Lux das heimische Bauernhaus der Umgebung zum Bezugspunkt erklärt, mobilisiert Le Corbusier vernakulare Vorbilder aus allen Zeiten und Zonen. Es ist die archaische,

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Hoffman, Josef: »Architektonisches von der Insel Capri. Ein Beitrag für malerische Architekturempfindungen«, in: Der Architekt III 1897, S. 13–14. Lux, Joseph August: Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst. Wien: Anton Schroll, o.J. [1903 oder 1904], »Das Bauernhaus als Grundlage des Landhauses«, S. 7ff. Näheres dazu vgl. der Beitrag von Georg Wilbertz in diesem Band.

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letztlich dem Ort und der Zeit enthobene »Urarchitektur«, die seine »wurzellose« Gegenwartsproduktion verankern soll. Primitivarchitektur als Modell für das moderne ›einfache Bauen‹

Wie Adolf Behne, der in Eine Stunde Architektur (1928) sein Plädoyer für das neue Bauen unter anderem mit Bildern von primitiven Bauweisen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Klimazonen sekundiert – er zeigt einen Iglu der Inuit, den er als »Das Haus des Nanuk« tituliert, und mit dem »Dschungeldorf in Siam« einen Pfahlbau aus der südostasiatischen Tropenregion –,44 greift auch Le Corbusier in seinem Kampf um Durchsetzung neuer Produktionsmuster auf Bilder primitiver Bauweisen zurück. Ethnografische Studien über indigene Volksgruppen in Afrika, Südostasien oder im arktischen Raum hatten um 1900 eine Vielzahl von Bildern fremder Baukulturen in Umlauf gebracht,45 die etwas unerwartet auch im modernen Architekturdiskurs auftauchten und hier eine bestimmte Aussage und Wirkung entfalten sollten. [abb. 12, 13] Die Bilder sprechen in diesem Kontext nicht für sich, das heißt den Gegenstand, der abgebildet ist, die Kultur, die damit repräsentiert wird, sondern erfüllen eine andere Funktion: Wie in der Kunst, wo der avantgardistische Blick auf den Alltag und die »primitive Kunst« (sei es nun die eigene oder die fremde) mit einem Gewaltangriff auf die akademische Malerei verbunden war und zugleich auf Legitimierung einer neuen Malweise (etwa des Kubismus) abzielte,46 war auch in der Architektur das Hereinholen des Primitiven mit antiakademischen Impulsen und Legitimierungsabsichten verknüpft. Auch hier wurde das Primitive (als das Archaische, evolutionär Frühere) als Ausdruck eines »in sich stimmigen«, »nicht entfremdeten« Zivilisationsstadiums gesehen. Weshalb mit den (wie bei Behne) oft unkommentiert bleibenden Bildern wohl auch angedeutet sein sollte, dass die neue Baubewegung genau bei jener »Urarchitektur«, bei jener Einfachheit und Übereinstimmung von Form und soziokultureller wie -ökonomischer Lebenswirklichkeit ansetzte, deren Verlust man in der fortgeschrittenen (Hoch)Kultur beklagte.

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Behne, Adolf: Eine Stunde Architektur. Stuttgart: Akademischer Verlag Dr. Fritz Wedekind & Co., 1928, S. 4, 62. Vgl. etwa die soziologisch-ethnologischen Studien von Marcel Mauss zur Kultur der Eskimos (1906) oder Emile Durkheims Untersuchungen (1893) zum Leben der Tuareg. Vgl. etwa Brückner, Wolfgang: »Der Blaue Reiter und die Entdeckung der Volkskunst als suche nach dem inneren Klang«, in: Böhm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink, 1995, S. 57–79; Korff, Gottfried: »Einstein, Prinzhorn, Geist. Nichtvolkskundliche Ansätze zu einer Volkskunst-Theorie der Zwischenkriegszeit«, in: Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard (Hg.): Volkskunst. Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 1997, S. 379–397.

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Le Corbusier, der sich auf seinen Reisen und Wanderungen immer als äußerst aufmerksamer, seine Eindrücke mit dem Zeichenstift festhaltender Beobachter erwies, hatte sich natürlich auch einen eigenen Fundus von Zeichnungen und Bildern angelegt, auf den er zurückgriff und zusammen mit Büchern und Zeitschriften durchwühlte, wenn ein Bildkommentar für eine seiner zahlreichen Schriften anzufertigen war. Schriften, in denen es immer um Selbstautorisierung ging, um gehämmerte Forderungen eines Erlöser-Architekten, der sich nicht mit einer neuen Ästhetik für eine privilegierte Klientel begnügte konnte, sondern immer das Ganze wollte: eine neue Gesellschaft, die für ihn durch und mit einer neuen Architektur zu erreichen war. Nicht zufällig besinnt er sich gerade am Tiefpunkt seiner Karriere, da wo er die schwere Niederlage beim Völkerbund-Wettbewerb (1927) zu verkraften hat,47 auf das »primitive«, von Unterprivilegierten produzierte Haus, auf jene ärmlichen Behausungen und Notunterkünfte, denen er nicht zuletzt auf seinen Baustellenbesuchen und Wanderungen oft unvermittelt begegnet und offensichtlich fasziniert »wie ein Erwachsener dem Kinde« gegenübergestanden sein muss. Die Schmach, beim prestigeträchtigen Genfer Großprojekt von einem Fortsetzter der alten Stilarchitektur verdrängt worden zu sein, verlangte jedenfalls nach einem umfassenden Gegenangriff. Und so legt er 1928 mit Une Maison – un Palais jenes Buch vor, mit dem nicht nur der Rang seines Projektes für alle Zeit außer Streit gestellt, sondern ganz grundsätzlich die »Wahrhaftigkeit« seiner neuartigen Architektur unter Beweis gestellt werden soll. Zur Rechtfertigung seiner mit alten Produktionsmustern radikal brechenden Neuerungen (mit dem Verzicht auf klassischen Säulendekor, einem asymmetrischen Kompositionsprinzip, das auf frei gewichtetem Spiel von Elementen des Typs Würfel-mit-Flachdach basiert, dem vom Boden abgehobenen und aufgeständerten Baukörper sind nur einige regelbrechende Merkmale des Projektes benannt) hebt er im ersten Teil des Buches zu einer Wesensbestimmung der Architektur an, mit der er die Rückkehr zur »reinen« und »wahrhaftigen« architektonischen Praxis fordert. Dabei bringt er, nach einem Aufguss dessen, was bereits aus seinen Vorgänger-Schriften bekannt ist (der Bezug auf Industrie- und Ingenieurbauten, griechische Tempelarchitektur, Autos, Flugzeuge etc.), auf einer Buchstrecke von immerhin 17 Seiten einen neuen Argumentationshorizont ins Spiel – er setzt an beim »primitiven Haus«.48 Also bei dem, was vom herrschenden Geschmack, vom Akademismus bislang völlig verdrängt worden war, letztlich bei dem, wogegen sich die Architektur als Institution und Symbolsystem konstituiert hat.

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Aigner, Anita: »Ein Entwurf, der zu früh kommt. Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast«, in: UmBau 22, 2005, S. 91–104. Le Corbusier: Une maison – un palais, S. 36–52.

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Neben vor- beziehungsweise frühgeschichtlichen Beispielen – Stonehenge, Crannoges-Siedlungen und andere mehr49 – sind es vor allem die ganz gewöhnlichen, »vulgären« Bauten der einfachen, mittellosen Leute auf dem Land, die unscheinbaren Produkte einer unterlegenen und als solche gar nicht wahrgenommenen Kultur, mit denen er sich identifiziert, die er idealisiert und für sein anti-akademisches Konzept von Architektur mobilisiert. In Précisicons (1930) gibt er zwei Jahre später eine knappe Zusammenfassung seines Auf- und Umwertungsprogramms: »Ich habe die Hütte des Wilden gezeichnet (157) und den primitiven Tempel (158) und das Haus des Bauern (159), und ich habe erklärt: Diese Organismen, die die gleichen wertvollen Eigenschaften aufweisen, mit denen die Natur ihre Werke auszeichnet – Sparsamkeit, Echtheit, Eindringlichkeit –: sie sind es, die eines Tages zu Palästen geworden sind. Ich habe das Haus des Fischers gezeigt (160), das unbestreitbar in strenger und echter Form gebaut wurde. […] ›Dieses Haus‹, rief ich mir zu, ›dieses Haus ist ein Palast!‹«50 Mit dieser Gleichsetzung erhellt sich nicht nur der Buchtitel, sondern auch die zwei kontrastierenden Zeichnungen auf dem Einband, von denen die obere eine Fischerhütte und die untere das Völkerbundprojekt zeigt. [abb. 16] Für Le Corbusier kann also das Einfachste das Würdigste sein, die NichtArchitektur der improvisierten Fischerhütten in der architektonischen Rangordnung ganz oben stehen. Doch geht es ihm nicht bloß um die Aufwertung und Nobilitierung von illegitimer Produktion. Worauf er hinaus will, das ist die Rechtfertigung der eigenen, feldintern und allgemein (noch) nicht anerkannten Architektur. Das Mittel dazu: die Analogie zur Primitivarchitektur. Die einfache Hütte verfüge über dieselbe würdevolle Einfachheit, sei ebenso echt und unverfälscht, ebenso unberührt von akademischer Lehre wie die von ihm ins Feld geführte Zukunftsarchitektur. Natürlich schlummert auch in Le Corbusier jener seit Laugier die Architekturtheorie begleitende Rousseauismus, der die Lehre von Architektur auf rational verstandene Urformen zurückführen will. Doch während in der gelehrten Tradition aus der Urhütte die Entstehung von Säule, Gebälk und Giebel abgeleitet wird, also das ursprüngliche Haus als Keimzelle für »Säulenarchitektur« herangezogen wird, mobilisiert Le Corbusier das anfängliche Haus, um für eine von allem Überfluss (Dekor) gereinigte Architektur »für alle« zu plädieren. Bereits Adolf Max Vogt hat darauf hingewie-

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Vgl. Vogt: Le Corbusier, der edle Wilde, S.137ff. Le Corbusier: 1922 Feststellungen zu Architektur und Städtebau. (Précisicons sur un État présent de l’Architecture et de l’Urbanisme. Paris, 1930) Braunschweig /Wiesbaden: Vieweg, 1987 (1964), S. 152.

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sen, wie sehr Le Corbusiers Affinität zur Primitivarchitektur, seine Neigung zu Einfachheit und Reduktion auch dem Calvinisten und Rousseau-Anhänger Le Corbusier geschuldet ist. Einer, der sich selbst für unverbildet hält, weil er (wie der von Natur aus gute »edle Wilde« bei Rousseau) nicht von den »gekünstelten Lehren« des akademischen Geistes durchdrungen ist, fühlt sich auch berufen zur klärenden Arbeit am kulturellen Bestand. Kultur, das ist für Le Corbusier »das Ergebnis eines Ausleseprozesses. Auslesen heißt ausscheiden, ausräumen, reinigen, das Wesentliche nackt und klar herausbringen.«51 Auf formal-ästhetischer Ebene ist dieser Akt der Reinigung eine Befreiung von allem Ornament und Dekor. Eine Säuberung, die jedoch auch mit einer Sozialmoral verbunden ist: die Menschen sollen von Überflüssigem gereinigt werden, von allem, was über das Elementare der Existenz hinausgeht. Das Modell für ein solch »reines«, Überfluss in Askese verkehrendes Architektur-Programm findet Le Corbusier in Refugien extremer Lage und in von Fortschritt (vor allem der Eisenbahn) noch relativ unberührten Randgebieten, wo die Bewohner noch im System der Subsistenzwirtschaft aufgehoben sind (also das Ziel von Produktion in der Selbstversorgung, in der Versorgung mit Lebensnotwendigem und nicht im Erwerb von Geld oder in der Akkumulation von Besitz liegt). Nachdem er in Une Maison – un Palais zunächst das anfängliche Haus der Vor- und Frühgeschichte beschwört und die Hütte des Berglers zur »Architektur« erklärt [abb. 15], kommt er schließlich zu den Fischerhütten bei Arcachon, die, wie der Buchumschlag vermuten lässt, in seiner »Neudefinition« von Architektur eine besondere Rolle spielen. In die von Kiefernwäldern überzogene Gegend hinter der Atlantikküste war Le Corbusier über einen Auftrag des Industriellen Henry Frugès gelangt, für den er zwischen 1924 und 1926 zwei Arbeitersiedlungen, eine im nördlich an der Bucht von Arcachon gelegenen Lège [abb. 19] und die andere im damals noch außerhalb von Bordeaux liegenden Pessac realisiert. Die Aufgabe, für mittellose Arbeiter ein modernistisches Bauprogramm zu realisieren, bei dem die neuesten Baumethoden (armierter Beton; Betonkanonen) und Prinzipien der Industrie (Serienfertigung; Durchrationalisierung und Planung des Arbeitsprozesses im Sinne des Taylorismus) zum Einsatz kommen sollen, hat ihn offensichtlich auch für die einfachen Behausungs- und Lebensformen der besitzlosen Klasse in der Umgebung seines Bauplatzes aufmerksam gemacht. Und so entdeckt er, fasziniert vom Kontrast aufeinanderprallender Produktionswelten, unmittelbar »vor den Pforten des lärmenden Maschinenbetriebs«52 in den bescheidenen Hütten der besitzlosen Fischer den Weiterbestand des »ewigen Tatbestandes Architektur«. 53 [abb. 17] Weil die

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Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 109. Le Corbusier: Une Maison – un Palais, S. 48. Ebda.

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Fischer auf dem Boden, der einem Großgrundbesitzer gehört, keine Steinhäuser errichten können, bauen sie nur einfachste Behausungen aus Holz: »Sie machen sich eine Unterkunft, eine Schutzhütte, und nicht mehr, und zwar einfach und redlich. Sie verwirklichen ein reines Programm, das gerade nicht überladen ist mit Ansprüchen auf Geschichte, auf Kultur, auf den Geschmack des Tages: sie bauen eine Unterkunft, eine Hütte, von einem Tag zum nächsten, mit den ärmlichsten Materialien, die sie in der Umgebung gefunden haben. Und sie machen dies mit ihren Händen und ohne große Berufskenntnis […] haushälterisch noch mit der kleinsten Anstrengung, erpicht auf jede Erfindungsgabe, vom Wunsch erfüllt, mit wenig viel zu erreichen. […] Alles dient. Keine Überfülle, keine unnötige Wiederholung, dafür aber eine volle Wirkungskraft.«54 In diesen unter prekären Produktionsbedingungen entstandenen Holzhütten erkennt Le Corbusier das Ethos eines aus Notwendigkeit geborenen »einfachen Bauens«, dem er sich zutiefst verbunden fühlt und das er nun als Vorbild für ein modernes Bauen »für alle« mobilisiert. Der »architektonische Geist«, die Qualitäten, die für ihn in der Primitivarchitektur zu beobachten sind – das Maximum an Ökonomie, die auf Geometrie basierenden reinen Formen, einfaches Material, einfachste Konstruktion, der menschliche Maßstab – müssten nur auf die Gegenwart mit ihren bautechnischen Möglichkeiten, Materialien und wissenschaftlich definierten Ansprüchen eines Wohnens für das Existenzminimum übertragen werden: »Verwandeln wir diese ephemeren Bruchbuden in solide Bauwerke für unsere Zeitgenossen; verwirklichen wir diese Metamorphose jetzt, in einer Qualität, die diesem Geist entspricht. Anstatt des Holzes aus den Kieferwäldern, armierter Zement; anstatt des ländlichen Programms, die ›Wohnmaschine‹; anstatt der ursprünglichen Poesie der Fischer […], die des kultivierten Mannes. Es wird zwar nichts von diesen Bruchbuden der Fischer bestehen bleiben, doch wird sich eine neue Sache erheben, als Antwort auf ein anders gestelltes Problem.«55 Um seine Leserschaft davon zu überzeugen, dass der mit der Verbreitung des béton armé einhergehende Umsturz der Baukultur unaufhaltbar ist, dass die Verwendung des neuen Wunderstoffs ganz von selbst und ohne Zutun der 54 55

Ebda. u. S. 50, zit. nach Vogt: Le Corbusier, der edle Wilde, S. 119. »Bref: muons ces masures éphémères en bâtisses solides destinées à nos contemporains; réalisons la métamorphose en maintenant une qualité d’esprit équivalente. Au lieu du pin de la pinède, le cement armé; au lieu du programme champêtre, la ‚machine à habiter’; au lieu du lyrisme primaire de ces pêcheurs qui après la Grande Guerre ont construit ces maisons de toujours, les aspirations d’un homme cultivé. Rien de ces masures ne demeurera, mais autre chose s’élèvera, sur un problème différemmebt posé.« Le Corbusier: Une Maison – un Palais, S. 52.

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Architekten zu neuen Formen und Typen führen muss, kommt er auf ein für ihn aufwühlendes Erlebnis zurück. Er erzählt die (bereits 1925 in Un standart meurt – un standart nait vorgetragene) Geschichte, wie er in der Bretagne zum Zeugen der Geburt einer kommenden Architektur geworden war: Ein italienischer Maurer hätte mit armiertem Beton experimentiert und sich in der bretonischen Landschaft ganz nahe am Meer eine Gastwirtschaft gebaut. Just dort, wo alte Traditionen noch lebendig sind, hat er ein völlig neuartiges, das heißt für die Umgebung fremdartiges Gebäude realisiert, das sich für Le Corbusier als »Revolution von fesselnder Art« ausnimmt. [abb. 18] Die kubische Form, das als Aussichtsterrasse genutzte Flachdach, der Einsatz des neuen Baustoffes – alles in allem wesentliche Eigenschaften der von ihm propagierten modernen Bauweise, die in diesem Beispiel vernakularer Spontanarchitektur vorweggenommen sind. Ob und in welcher Weise vernakulare Produktion nun auch formal ein Vorbild gewesen ist, darüber ließe sich nun freilich streiten. Man kann zwar, wie Adolf Max Vogt in seiner »Archäologie der Moderne« Wurzelsuche betreiben und die formalen Eigenschaften von Le Corbusiers neuer architektonischer Grammatik in alten, ja ältesten Baukulturen (etwa der ihm als Schüler nahegebrachten vergangenen Pfahlbaukultur seiner Heimatregion) suchen. Doch so sehr auch das übliche Verfahren architekturgeschichtlichen Kommentierens, das an die Würdigung der Leistung des Autors und die Erforschung der formalen Besonderheit seiner Produkte geknüpft ist, dazu verleitet, mit Hingabe herauszuarbeiten, warum die Architektur der Moderne »geometrisch rein« und »weiß«, und im Fall von Le Corbusier »auf Pfählen abgehoben« daherkommen »muss«, so sehr besteht auch die Gefahr, aus einer konstruierten Beziehung eine reale abzuleiten. Nur zu schnell ist aus einer nachträglichen Zuschreibung und Erklärung eine bewusste, mit Vorsatz verfolgte Praxis gemacht – auch und gerade dann, wenn formale Analogien im Spiel sind. Sicher hat sich Le Corbusier an und mit vernakularen Bauten bestimmte Qualitäten moderner Betonbauweise bewusst gemacht, er hat die im bürgerlichen Volkskunst-Diskurs artikulierten Werte für das neue Bauen in Anschlag gebracht und mit seinem Umwertungsprogramm wohl auch auf die verschatteten Areale im architektonischen Ordnungssystem aufmerksam gemacht. Was er allerdings nicht sehen konnte beziehungsweise wahrhaben wollte, das waren einerseits bestimmte Eigenschaften »traditionellen« Bauens, die aus einer heutigen ökologischen Perspektive positiv zu bewerten sind – etwa Einsatz vorfindlicher Baustoffe und bewährter Bautechnologien. Andererseits ignorierte er die Probleme und Konflikte, die ein modernes, einfaches Bauen für »einfache Leute« nach sich zog. Die Hybris eines Architekten, der den missionarischen Auftrag einer Reform und »Reinigung« von Gesellschaft durch und mit »fordistischer« Architektur zu erfül-

Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde

len hat,56 machte ihn nicht nur für die Ausgliederung der Nutzer/-innen aus dem Bauprozess blind, sondern vor allem auch für den Umstand, dass Menschen, die bislang ihre Häuser weitgehend selbst und mit Nachbarschaftshilfe errichtet hatten, nun plötzlich mit einem fertigen Produkt konfrontiert, ja mit Häusern zwangsbeglückt wurden, die in keinster Weise ihren ästhetischen Gewohnheiten entsprachen. Dass die aus benachteiligten Schichten sich rekrutierenden Nutzer/-innen den passenden Lebensstil durch Gewöhnung entwickeln würden, Architektur also ihre Bewohner/-innen umerziehen könnte, hat sich jedenfalls, wie die Geschichte der von Le Corbusier in den 1920er Jahren errichteten Arbeitersiedlungen zeigt,57 als Fehlannahme herausgestellt. Die Überforderung der Nutzer/-innen durch den avantgardistischen Geschmack hat letztlich zur gestalterischen Überformung der Häuser geführt. [abb. 20] Dass die Bewohner/-innen ihren Lebensstil beziehungsweise Geschmack nicht dem modernen Haus, sondern umgekehrt, das moderne Haus ihrem »schlechten« Geschmack angepasst haben, kann zwar als widerständische Praxis der kulturell Mittellosen interpretiert werden. Angemessener dürfte es jedoch sein, in diesem Prozess der »Verländlichung« von weißer, kubischer Flachdacharchitektur das Aufeinanderprallen von differenten, klassenstrukturell bedingten ästhetischen Präferenzen zu sehen, eine Form der Aneignung von Architektur, die auch als »Vernakularisierung« bezeichnet werden kann. Bedeutet doch das englische Verb to vernacularise, dass etwas eingebürgert, in die Umgangssprache übertragen, dass etwas »verheimatlicht« wird. Dieses das »Vertraut-« und »Heimatlich-Machen« der fremdartigen und fremdproduzierten Flachdacharchitektur, wie es in Lège durch die Überformung mit »umgangssprachlichen« Elementen wie Satteldach oder hölzernen Fensterläden zu beobachten war (die Siedlung ist in der Zwischenzeit wieder in den Originalzustand rücküberführt), zeigt allerdings eine andere, ganz andere Dimension von »vernakularer Moderne«, die an anderer Stelle noch einmal näher zu erörtern sein wird. 56

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»Wir sind in einer Sackgasse gelandet: das soziale und moralische Räderwerk ist in Unordnung geraten. […] Die Reform, die unternommen werden muss, ist tiefgreifend: Liebe, Ehe, Gesellschaft, Tod; wir sind ganz und gar verfälscht, wir sind unecht! […] wenn man sich vor Augen hält, dass die Lebensart überall die gleiche sein könnte, dass aber allein eine geänderte Morallehre die verworrenen mäandrischen Krümmungen einer in Verfall geratenen Kultur zu zerbrechen imstande wäre; […] dass es genügte, wenn eine Autorität – ein Mann – auf den Plan träte, der gleichzeitig Dichter wäre, die Maschine anlassen und ein Gesetz, eine Ordnung, eine Doktrin verkünden könnte, dann würden das jetzt von Arbeit geschwärzte Gesicht, die von Arbeit geschwärzten Hände der modernen Welt rein […].« Le Corbusier: 1922 Feststellungen zu Architektur und Städtebau, S. 22f., 29f. Die erste Studie, die sich dem Aspekt der Aneignung und der Transformation moderner Siedlungen (aus architektursoziologischer Sicht) gewidmet hat, stammt von Boudon, Philippe: Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen à la Le Corbusier. Sozio-architektonische Studie. (frz. Originalausgabe: Pessac de Le Corbusier. Paris: Dunod, 1969) Gütersloh: Bertelsmann, 1971.

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Anita Aigner

Schlussbemerkung

Es ist die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Wahrnehmung von Volkskunst – als einer anonymen, naturwüchsigen, dem zeitlichen Wandel enthobenen Gemeinschaftskunst, die nicht vorsätzlich als Kunst produziert wird –, die Le Corbusier reichlich Ansätze für die Ausformulierung einer den Institutionen widersprechenden Architekturauffassung bot: Ebenso wie die vormodern-vorindustrielle Produktion sollte auch die modern-industrielle (1.) anonym sein – das heißt eher von Ingenieuren stammen denn von Meister-Architekten58 –, sich (2.) aus den gegebenen technischen, materiellen, sozialen und ökonomischen Bedingungen wie von selbst (eben »organisch«) entwickeln, (3.) unbefleckt von künstlerischer Absicht sein und schließlich (4.) für alle gleich sein. Das Vernakulare diente den Modernisten also nicht unmittelbar als Form-Vorbild, sondern vielmehr als moralisches Ideal-Vorbild, das zur Rechtfertigung der eigenen Visionen geeignet war. Der Respekt vor dem »echten« Vernakularen purifizierte und veredelte den modernistischen Standpunkt, der nicht auf bewährtes Handwerk, sondern auf den Einsatz neuer Technologien und Materialien für einen industriellen Massenwohnbau ausgerichtet war. Dass das Vernakulare sowohl im Legitimierungsdiskurs der konservativ-reformerischen wie auch der avantgardistisch-modernen Architektur seinen Platz hatte, gehört zu den Widersprüchlichkeiten architektonischer Moderne, die in einer auf dichotomen Vorstellungen basierenden Architekturhistoriographie, die nur »Moderne« auf der einen und »Tradition« auf der anderen Seite kannte, lange verdeckt geblieben sind. Der Hinweis auf die Gemeinsamkeiten divergierender reformerischer Strömungen darf jedoch nicht missverstanden werden. Denn je nach Kontext wurde das Vernakulare – als bestätigende Bezugskategorie – durchaus unterschiedlich und nicht zuletzt zur Abgrenzung vom jeweils anderen Lager genutzt. Hatte der avantgardistische Modernismus, obschon oder gerade weil er sich auf das »reine«, zeit- und ortlos Vernakulare berief, eine lokale Traditionen fortschreibende oder auch neue heimatliche Formensprache erfindende Architektur abgelehnt, warf der vernakulare Modernismus, dem es um ein Erinnern und die Wiedererlangung von Lokalkultur ging, der klassischen Moderne gerade die Rücksichtslosigkeit und Verweigerung gegenüber dem Ort und seinem Erbe vor. Le Corbusiers diskursiver Umgang mit dem Vernakularen blieb im modernen Lager jedenfalls kein Einzelphänomen. Die von ihm ins Spiel gebrachte Verwandtschaft von vernakularer und moderner Architektur wurde im Zuge der Verbreitung der internationalen Flachdacharchitektur weiter zugespitzt und war in den 1930er Jahren, etwa in dem von Eduard 58

Die in Frankreich in Beaux-Arts-Tradition ausgebildet über keinerlei Kontakt mit der Industrie und auch kaum ein Wissen über Konstruktionsmethoden verfügten.

Das Vernakulare als Berufungsinstanz für die moderne Avantgarde

Keller herausgegebenem Ascona Bau-Buch (1934), bereits zu einem Standard-Argument ausgebaut.59 Dabei erfuhr der modernistische Zugriff auf das Vernakulare durchaus eine Wendung. Die weiße, kubische Flachdacharchitektur, die in dem am Ufer des Lago Maggiore gelegenen Ascona von vielen als fremd empfunden wurde und Anlass für lebhafte Diskussionen um das »Problem der Anpassung« gab, hatte auch ihren aus Bern stammenden Fürsprecher Eduard Keller argumentativ unter Zugzwang gebracht. Um den Feinden der neuen Bauweise ihr Hauptargument (Abweichung vom lokalen Stil, Entstellung des Landschaftsbildes) zu entziehen, bemüht er – nicht zuletzt unter Berufung auf Le Corbusier – das Argument der Verwandtschaft und behauptet, dass die »ehrlichen Sachbauten« der Asconeser Architekten das Resultat eines »auf die Bodenständigkeit des guten alten Tessinerhauses« gestützten »schöpferischen Wirkens« seien. In Gegnerschaft zur »falschen«, weil fremde (akademisch geprägte) Formelemente übernehmenden Tradition wurde für die moderne Architektur nun also der Anspruch geltend gemacht, die »echte« Tradition auf legitime Weise fortzusetzen. Wo sich Le Corbusiers Legitimierungsstrategie noch abgehoben und vage ausnimmt,wird Keller konkret und unterstellt den modernen Asconeser Architekten bereits einen »Entwurfsansatz«. Mag die in der Reflexion entwickelte Verknüpfung zwischen Alt und Neu auch in die Praxis zurückgewirkt und zu der Entwurfshaltung geführt haben, moderne Architektur als Interpretation von »echter« lokaler Baukultur zu verstehen, so ist doch festzuhalten, dass die frühen modernen Flachdachbauten, die dann von späteren Kommentatoren als neuer Regionalismus kategorisiert worden sind, zunächst einmal Fremdkörper, ein Import aus einem vom Ort und seinen lokalen Bautraditionen weit entfernten architektonischen Universum gewesen sind. Dass der Anspruch auf ein bescheidenes, auf Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit ausgerichtetes »einfaches Bauen« von Le Corbusier selbst durchaus gelebt worden ist, beweist der einzige Bau, den er für sich selbst (im Jahr 1950) errichtet hat: sein cabanon (franz. Hütte), eine kleine, bescheidene, im Grundriss 3,66 auf 3,66m messende und 2,26m hohe als Ferienhaus genutzte Holzhütte in Roquebrune-Cap-Martin an der französischen Riviera. (abb. 21) Bei allen sich hier aufdrängenden Parallelen und Ähnlichkeiten ist jedoch Vorsicht geboten, zumal einfaches Bauen nicht gleich einfaches Bauen ist. Nicht übersehen werden darf nämlich, dass Asketismus aus freier Wahl und als bewusste Beschränkung eine Eigenschaft der kultivierten gebildeten Klasse ist – weshalb auch die anspruchsvolle Einfachheit moderner Architektur nicht mit der anspruchslosen Einfachheit vernakularer Bauten gleichzusetzen ist. 59

Keller, Eduard (Hg.): Ascona Bau-Buch. Zürich: Oprecht & Helbling, 1943. Faksimile-Ausgabe 2001 begleitet von einem Kommentar-Heft von Bruno Maurer und Christoph Bingens.

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Beispiel für »jurassischen Jugendstil«: Villa Fallet in La Chaux-de-Fonds, 1905 (Foto: Anita Aigner, 2006) 2 Route der »Voyage d’Orient« von 1911 (aus: Le Corbusier: L’Art Décoratif d’Aujourd’hui 1925, S. 216) 3 William Ritter in rumänischer Tracht (Archiv der Bibliotheque de la Ville, La Chaux-de-Fonds; Fonds William Ritter, WR108-003-02) 4 a, b, c, d Le Corbusier: Usurpation le folklore (aus: Le Corbusier: L’Art Décoratif d’Aujourd’hui 1925,S. 27, 34, 35, 30, 33, 35, 37) 1

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Le Corbusier: Skizze eines alten Seinhauses in der Normandie, 1913 (?) (Archiv Fondation Le Corbusier, Paris) 6 Bretonisches Bauernhaus (aus: Le Corbusier: Almanach d’Architecture moderne 1925, S. 84) 7 Le Corbusier: Malerische Darstellungen der bretonischen Landschaft (aus: Almanach d’Architecture moderne 1925, S. 86) 5

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Le Corbusier: das einzig realisierte Doppelhaus der Arbeitersiedlung in Saint-Nicolasd’Aliermont, 1917–19 (Foto: Melaine Lefeuvre, 2009) 9 Le Corbusier registriert die Veränderungen der für die bretonischen Häuser typischen Giebelfront (aus: Le Corbusier: Almanach d’Architecture moderne 1925, S. 88) 10, 11 Loos, Adolf: Haus Khuner in Payerbach 1929 /30 (Loos-Archiv Albertina, Wien) 8

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12a, b »Das Haus des Nanuk« und »Dschungeldorf in Siam«

(aus: Behne, Adolf: Eine Stunde Architektur 1928, S. 4) 13 Zeltlager der Nomaden (aus: Le Corbusier: Städtebau 1925, S. 24)

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14 Hütte des Wilden (aus: Le Corbusier: Städtebau 1925, S. 17) 15 Schutzhütte in den Alpen (aus: Le Corbusier: Une Maison – un Palais 1928, S. 41)

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16 Die Fischerhütte als Palast (Buchumschlag von Une Maison – un Palais 1928) 17 Le Corbusier: Fischerhütte (aus: Le Corbusier: Une Maison – un Palais 1928, S. 51) 18 Le Corbusier: Spontanarchitektur mit »modernen« Attributen

(aus: Le Corbusier: Une Maison – un Palais 1928, S. 47) 19 Le Corbusier: Siedlung Lège, 1924–26 (Archiv Fondation Le Corbusier, Paris) 20 Die »verländlichten«, von Nutzer/ -innen überformten Häuser in Lège

(Foto: Philippe Boudon, ca. 1968) 21 Le Corbusiers Cabanon, 1950 (Foto: Berthold Werner, 2005)

Für sämtliche Abbildungen von Le Corbusier: © FLC Paris / VBK Wien 2010

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Autorinnen und Autoren

Anita Aigner Geboren 1968, Studium der Architektur in Wien. Lehrt als Assistenzprofessorin am Institut für Kunst und Gestaltung der TU Wien Dreidimensionales Gestalten und Kultursoziologie. Gastwissenschafterin am Department of History der University of California in San Diego im Jahr 2007. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie Pierre Bourdieus, architektonische Kultur der Moderne, Geschichte der Profession, Mechanismen der Wert- und Bedeutungsproduktion im Feld der Architektur; kulturwissenschaftliche Arbeiten zum Themenkomplex Kunst /Architektur/ Natur/ Landschaft. (Hg.): Landschaft vor Augen. Neutralisierung eines romantischen Gebildes (Sonderzahl, 2004). David Crowley Geboren 1966. Leiter des Department of History of Design am Royal College of Art in London. Spezialist für Kunst, Kunstgewerbe und Design in Osteuropa, mit besonderem Schwerpunkt auf Polen. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben und herausgegeben, unter anderem: Pleasures in Socialism: Leisure and Luxury in the Eastern Bloc (Northwestern University Press, 2010); Warsaw (Reaktion Books, 2003); Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc (Berg, 2002); Socialism and Style. Material Culture in Postwar Eastern Europe (Berg, 2000); National Style and Nationstate. Design in Poland from the Vernacular Revival to the International Style (MUP, 1992). Rainald Franz Kunsthistoriker, Studium in Wien, Munchen, London, Rom, Venedig; stellvertretender Leiter der Bibliothek und Kunstblättersammlung des MAK– Österreichischen Museums für angewandte Kunst /Gegenwartskunst; President der ICDAD – International Committee of Decorative Arts and Design; Lehrbeauftragter am Kunsthistorischen Institut der Universität Wien und am Institut für Konservierung und Restaurierwissenschaften der Universität für angewandte Kunst, Wien; Forschungsschwerpunkte: Architektur der Neuzeit, Geschichte der Ornamentik, des Kunstgewerbes und frühen Design. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Gemeinsam mit Andreas Nierhaus (Hg.) Gottfried Semper und Wien (Böhlau, 2007); mit Inge Podbrecky (Hg.) Leben mit Loos (Böhlau, 2008). Vera Kapeller (vormals Mayer) Geboren 1950 in Jeseník (Tschechische Republik), Kulturwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin, Wohnbauforscherin. Studium der Kunstgeschichte und europäischen Ethnologie an der Karls-Universität in Prag, zwischen 1986 und 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Gegenwartsvolkskunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, seit 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW in Wien. Autorin und Koautorin zahlreicher Veröffentlichungen zu den Themen wie zum Beispiel sakrale Holzarchitektur in Böhmen, Mähren und der Slowakei, Bau- und Wohnkultur im städtischen und ländlichen Bereich (Burgenland, Wien), Suburbanisierung des Wohnens im Großraum Wien, umfassende Erneuerung der Plattenbausiedlungen in Wien und Bratislava sowie Kunst und Plattenbau in Wien. Elke Krasny Kulturtheoretikerin, Kuratorin, Autorin, lehrt Kunst und Öffentlichkeit, Visuelle Didaktik, Museumspädagogik sowie Didaktik Architektur, Raum und Umwelt am Institut für das Künstlerische Lehramt an der Akademie der bildenden Künste Wien. Jüngste Ausstellungen und Publikationen: Kuratorin von Da, Dort & Dazwischen. 20 Jahre KulturKontakt Austria, 2009; Kuratorin gemeinsam mit Angela Heide von Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße, 2009; (Hg.) Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture, (Birkhäuser, 2008), Katalog zur Ausstellung im Architekturzentrum Wien; (Hg.) Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien (Metro Verlag, 2008), Katalog zur Ausstellung in der Wienbibliothek im Rathaus; gemeinsam mit Irene Nierhaus (Hg.) Urbanografien. Stadtforschung in Architektur, Kunst und Theorie (Reimer, 2008).

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Vernakulare Moderne

Astrid Mahler Geboren 1972 in Linz, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Wien. Kuratorin in der Fotosammlung der Albertina in Wien seit 2000. Veröffentlichungen zur österreichischen Fotogeschichte mit Schwerpunkt Kunstfotografie um 1900. Zu Gerlach erschien 2005 Martin Gerlachs ›Formenwelt aus dem Naturreiche‹. Fotografien als Vorlage für Künstler um 1900. Gemeinsam mit Monika Faber die monografische Ausstellung und Publikation Heinrich Kühn: Die vollkommene Fotografie (Hatje Cantz, 2010). Diana Reynolds Professorin für moderne europäische Geschichte an der Point Loma Nazarene University in San Diego, Kalifornien / USA. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Europa, unter anderem zwei Fulbright-Stipendien in Wien; Gastwissenschafterin an der Technischen Universität Wien im Jahr 2006. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf europäischem Kolonialismus und Imperialismus; Studien zur materiellen Kultur, zu Museen und Kunstgewerbeausbildung in der Habsburger Monarchie. Beate Störtkuhl Geboren 1963 in Landshut, Kunsthistorikerin am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg; Lehrbeauftragte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts; Neuere Kunstgeschichte Ostmitteleuropas; Geschichte der Kunstwissenschaft. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.) Architekturgeschichte und kulturelles Erbe – Aspekte der Baudenkmalpflege in Ostmitteleuropa (Frankfurt /Main unter anderem 2006); Liegnitz – die andere Moderne. Architektur der 1920er Jahre (München 2007). Maiken Umbach Geboren 1970 in Hamburg, lehrt moderne europäische Geschichte an der University of Manchester/UK, Research Fellow unter anderem am German Department, University College London (2004–2008); Visiting Fellow unter anderem am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (2008), an der Universitat Pompeu Fabra, Barcelona (2004) und am Center for European Studies der Harvard University (2003 und 2001 /02). Mitherausgeberin der Zeitschrift German History. The Journal of the German History Society; zahlreiche Publikationen, unter anderem: Federalism and Enlightenment in Germany, 1740–1806 (London, 2000); (Hg.) German Federalism: Past, Present, Future (New York, 2002); gemeinsam mit Bernd Hüppauf (Hg.) Vernacular Modernism: Heimat, Globalization, and the Built Environment (Stanford University Press, 2005); German Cities and Bourgeois Modernism, 1890–1924 (Oxford University Press, 2009). Christian Welzbacher Geboren 1970 in Offenbach am Main, promovierter Kunsthistoriker. Er war Stipendiat der Gerda Henkel-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Als freier Journalist unter anderem tätig für die Süddeutsche Zeitung und das Magazin A10. Jüngste Publikationen: Die Staatsarchitektur der Weimarer Republik (Berlin: Lukas-Verlag, 2006; mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Fischer-Preis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, München); Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes (Amsterdam: SUN, 2008); Edwin Redslob. Biografie eines unverbesserlichen Idealisten (Berlin: Matthes und Seitz, 2009). Georg Wilbertz Geboren 1963, Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte in Köln und Wien. 1997 Promotion mit einer Arbeit zur Marienkirche in Gelnhausen. 2006/07 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Architekturtheorie der RWTH Aachen. Lehrt seit 2000 Architekturgeschichte und theorie an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Architekturgeschichte des Mittelalters, Architektur und Architekturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts; arbeitet gegenwärtig im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Geschichte der Architekturausbildung in Wien.

Architekturen Julia Gill Individualisierung als Standard Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur Oktober 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1460-2

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes Dezember 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1551-7

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes April 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Architekturen Sonja Hnilica, Markus Jager, Wolfgang Sonne (Hg.) Auf den zweiten Blick Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen September 2010, 280 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1482-4

Tom Schoper Zur Identität von Architektur Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung Dezember 2010, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1587-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de