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German Pages 310 Year 2014
Adam Paulsen, Anna Sandberg (Hg.) Natur und Moderne um 1900
Edition Kulturwissenschaft | Band 23
Adam Paulsen, Anna Sandberg (Hg.)
Natur und Moderne um 1900 Räume – Repräsentationen – Medien
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Inhalt
Natur und Moderne um 1900 Kontexte, Begriffe, Anschlüsse Adam Paulsen und Anna Sandberg | 9
I. D IE K OLONISIERUNG DES R AUMES Im »Allerheiligsten der Natur« Zur Veränderung von Alpenbildern in der Kultur um 1900 Michael Ott | 31
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der deutschen Heimatschutzbewegung Eine ökokritische Perspektive Adam Paulsen | 51
Touristische Natur Naturkonzeptionen in den Schriften des schwedischen Touristenvereins Annegret Heitmann | 71
Mit Herrn Baedeker ins Grüne Die Popularisierung der Natur in Baedekers Reisehandbüchern des 19. Jahrhunderts Kathrin Maurer | 89
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten Grenzraum und Gesellschaftskritik um 1900 Vera Alexander | 103
II. L ITERARISCHE R EPRÄSENTATIONEN DER N ATUR Das Drama der Ökologie Henrik Ibsens En folkefiende (1882) Heinrich Detering | 121
Natur, Mensch und Moderne in Strindbergs I havsbandet Karin Hoff | 143
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900 Jens Peter Jacobsen als ökologischer Dichter Anna Sandberg | 161
Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor Zu Ansätzen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten Axel Goodbody | 183
Zyklischer Vitalismus Die Dialektik von Tod und Leben in der deutschen Lyrik 1890-1905 Sven Halse | 203
Schrecken der »Naturwahrheit« Ansätze einer Modernitätskritik bei Franz Kafka Moritz Schramm | 219
III. D ISKURSE UND M EDIEN DER M ODERNE Natur und Natürlichkeit Eine Lektüre von Friedrich Nietzsches »Wir Künstler!« (Fröhliche Wissenschaft 59) Christian Benne | 237
»Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis« Zur Naturauffassung in Ernst Haeckels Kunstformen der Natur Mirjam Gebauer | 247
Die Ambimodernität der »Naturbilder« Zur Interferenz von Natur und früher Kinematographie Stephan Michael Schröder | 265
Kartierung der Welt Das Luftbild in der Weimarer Republik Detlef Siegfried | 285
Abbildungsverzeichnis | 303 Autorinnen und Autoren | 305
Natur und Moderne um 1900 Kontexte, Begriffe, Anschlüsse Adam Paulsen und Anna Sandberg
Die Jahrzehnte um 1900, die in Deutschland mit dem Aufstieg und dem wenig glorreichen Ende des Kaiserreiches als Weltmacht zusammenfallen, gehören zweifellos zu den Perioden, die die Historiker und Kulturwissenschaftler am nachhaltigsten fasziniert haben. Kaum lässt sich an einen Aspekt dieser Zeit denken, der nicht im Rahmen eines Sammelbandes zur Jahrhundertwende zur Sprache gekommen ist – ganz zu schweigen von den großen, fachübergreifenden Themen der Epoche. Finden sich also zu den Jahrzehnten zwischen etwa 1880 und 1918 überhaupt noch Erkenntnis versprechende Fragestellungen oder Quellen, die nicht bereits abgenutzt oder durchgesichtet worden sind? Diese Frage zu stellen, scheint umso mehr berechtigt, wenn wie im vorliegenden Band ein Thema angesprochen wird, das nicht zum ersten Mal in der Forschung vorkommt. Hervorgegangen ist der vorliegende Band zur Funktion und Bedeutung der Natur im Prozess der Modernisierung um 1900 aus einer zunehmenden Besorgnis, die die Herausgeber zweifellos mit vielen ihrer Mitbürger teilen: nämlich die Gleichgültigkeit oder zumindest Passivität, mit der die Entscheidungsträger der westlichen Hemisphäre die immer alarmierenderen Berichte vom Zustand unserer natürlichen Umwelt zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie inzwischen von fast allen Fachleuten und sachverständigen Gremien attestiert werden. So ist der Gedanke längst nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Welt, wie wir sie kennen, unmittelbar vor einem ökologischen Desaster steht, vorangetrieben durch eine kurzsichtige Wachstumsideologie, die von allen politischen Parteien getragen wird und auch global gilt. Wie weit wir davon entfernt sind, bzw. welche Folgen es kurz- oder langfristig haben wird, darüber herrscht auch unter Experten keine Einigkeit, doch eins scheint mittlerweile sicher: Zum ersten Mal seit dem Beginn der industriellen Revolution dürfte sich die Mehrheit der westlichen Bevölkerung darüber im Klaren sein, dass wir uns nicht mehr wie früher aus der Krise herausarbeiten können, indem wir noch mehr produzieren. Vielmehr stehen wir jetzt vor der Entscheidung, weiterzumachen wie bisher und dabei zwangsläufig eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes auszulösen oder uns von der Wahnvorstellung zu
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befreien, Wachstum sei auch diesmal die Lösung, und stattdessen über alternative Lebensweisen nachzudenken. Nun hat es freilich in der neueren Geschichte nicht an Warnungen gefehlt, die Menschheit treibe wegen unverantwortlichen Wirtschaftens dem Abgrund entgegen, und wie die Geschichte dieser falschen Ökoalarme zeigt, waren nicht alle gleichermaßen berechtigt.1 Kassandrarufe – oder was für solche gehalten wurde – gehören nicht weniger zum Prozess der Modernisierung als die Industrialisierung selbst, und was bereits der Bielefelder Umwelthistoriker Joachim Radkau in seinen wegweisenden Studien zur angeblichen Holznotkrise im 18. Jahrhundert geltend gemacht hat,2 soll hier nicht bestritten werden: Auch die Kassandras sind oft von Interessen geleitet, die nicht allein der selbstlosen Sorge um die Umwelt geschuldet sind. Dennoch bleibt festzuhalten, dass erst die seit etwa einer Generation ständig erweiterten Kenntnisse über den »wahren Zustand der Welt«3 deutlich weniger Raum für Zweifel daran lassen, dass wir, sofern wir unseren Umgang mit der Umwelt nicht ändern, unsere eigene Existenzgrundlage zerstören. Wenn uns das menschliche Erfindungsvermögen auch immer wieder überrascht hat, können wir doch nicht davon ausgehen, dass es uns damit behilflich sein wird, Wachstum und Wohlstand ins Unermessliche zu steigern – zumindest nicht, solange die Menschen, wie Kant es formuliert hat, »auf der [Erde] als Kugelfläche […] sich nicht ins Unendliche zerstreuen können«4 . Es ist weiterhin anzunehmen, dass Wachstum in einer endlichen Welt auch endlich bleiben muss. Wie ist es dazu gekommen, dass der moderne Mensch diese ganz basalen Fakten vergessen konnte, dass es ihm anscheinend gelungen ist, die Grundbedingung des Menschseins schlechthin, eben der Erde oder der Biossphäre, zu verdrängen? Hier, so unsere Vermutung, stellt der kulturwissenschaftliche Rückgriff auf die Epochenschwelle 1900 im deutsch-skandinavischen Raum eine interessante Perspektive dar, die ein neues Licht auf unsere gegenwärtige Situation werfen kann. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden.
1 | Vgl. Uekötter, Frank/Hohensee, Jens (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Wiesbaden: Franz Steiner 2004. 2 | Siehe u.a. Radkau, Joachim: »Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 513-543; »Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts Revisionistische Betrachtungen über die ›Holznot‹«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 1-37. 3 | So der provozierende dänische Originaltitel (1998) des vom einstigen Klimaskeptiker Bjørn Lomborg umstrittenen Buches The Skeptical Environmentalist (Cambridge University Press 2001), der als ironische Anspielung auf die von Worldwatch Institute veröffentlichten Jahresberichten (»State of the World«) zu verstehen ist. Seitdem ist allerdings auch Lomborg kluger oder wenigstens vorsichtiger geworden. 4 | Kant, Immanuel: »Zum ewigen Frieden«, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 214.
Natur und Moderne um 1900
Dass die Jahrzehnte um 1900 für das Verhältnis von Mensch und Natur von großer Bedeutung sind, scheint aus deutscher Sicht zunächst einmal keiner weiteren Erklärung zu bedürfen, ist doch die zweite Hälfte des Kaiserreiches durch einen stürmischen Aufbruch in die Moderne gekennzeichnet, der in wenigen Jahren altvertraute Lebensformen und Landschaften von Grund auf veränderte.5 So ging die zweite Industrialisierungswelle, die in den Jahren nach 1890 das Reich überflutete, mit einer im europäischen Vergleich beispiellosen Verstädterung einher, die sich teils aus dem generellen Bevölkerungswachstum, teils aus der Ost-WestBinnenwanderung zusammensetzte. In wenigen Jahren wuchsen Städte zu modernen Metropolen heran, in den neuen Ballungsgebieten im Westen Deutschlands wurden Industriestädte buchstäblich aus dem Boden gestampft, moderne Verkehrs- und Kommunikationsformen erleichterten die Verständigung zwischen den verschiedenen Regionen und brachten ihre Einwohner näher aneinander, und mit der immensen Produktivitätssteigerung nahm auch die finanzielle Vernetzung mit dem Ausland weiter zu. Kurz vor Kriegsausbruch, auf dem Höhepunkt seiner Prosperität, hatte Deutschland sogar die Weltmacht Großbritannien als Handelsnation überholt und stand nun, nach den Vereinigten Staaten, an der Spitze des Welthandels. Zeichneten sich die Folgen dieses »ersten deutschen Wirtschaftswunders«6 in einer allgemeinen Erhebung des Lebensstandards ab, so gingen mit dem Aufschwung auch Veränderungen der natürlichen Umwelt einher, die bald auf Widerspruch stießen und in rascher Folge zu Gründungen von Interessenverbänden und Behörden führten, die in vielen Fällen bis in die Gegenwart reichen, wenn 5 | Dazu im Allgemeinen Nitschke, August et al. (Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990. Für eine Geschichte der deutschen Landschaft siehe Blackbourn, David: The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany, London: Jonathan Cape 2006. Zur Auseinandersetzung um Natur und Landschaft im deutschen Kaiserreich sei verwiesen auf die einschlägigen Werke von Dominick, Raymond: The Environmental Movement in Germany. Prophets and Pioneers, 1871-1971, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1992; Knaut, Andreas: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung (= Supplement 1 zum Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege), Greven: Kilda-Verlag 1993; Pekan, Thomas: Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge/London: Harvard University Press 2004; Rohkrämer, Thomas: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1999; Schmoll, Friedemann: Erinnerung um die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M.: Campus 2004. Aus einer globalhistorischen Perspektive siehe des weiteren Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München: C.H. Beck 2000; ders.: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München: C.H. Beck 2011. 6 | Ulrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 127.
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auch unter anderen Namen.7 Die Reaktionen auf diese erheblichen Transformationsprozesse kamen wohl in der Mehrzahl aus dem städtischen Bürgertum, waren aber nicht darauf begrenzt, sondern fanden sich auch, wie schon Ulrich Linse ausführlich dokumentiert hat, unter proletarischen und sozialdemokratischen Naturfreunden.8 Beiden Gruppen gemeinsam war, dass die Kritik sich überwiegend auf die sichtbaren Folgen der »Naturverhunzung« (Hermann Löns) richtete, während die unsichtbaren Folgen der Umweltverschmutzung wenn auch nicht ganz unbeachtet blieben, dann doch deutlich hinter die Bemühungen um den Schutz bestimmter kulturell vorgeprägter Landschaftsbilder zurückfielen. Ein etwas andersartiges Interesse dieser Zeit an Natur und Natürlichkeit lässt sich dagegen in der Lebensreform erkennen.9 Handelte es sich in der Naturschutzbewegung tatsächlich eher um den Schutz der Heimat im weitesten Sinne, so fanden sich in der Lebensreformbewegung auch anders gerichtete Strategien, die im Modus der Natur und der Natürlichkeit verschiedenste Formen der Selbstverwirklichung ausprobierten – bis hin zu den Gründungen von Landkommunen, deren Bewohner das Ideal des neuen Menschen vorlebten.10 So wurden hier wie in anderen Teilen der Lebensreformbewegung alternative Lebensweisen praktiziert, die einen neuen Bund zwischen Mensch und Natur in der Moderne einzulösen versprachen. Wichtige Vorbilder und Impulse für diese Neuorientierung in Fragen der Gesundheit, der Ernährung, der Körper- und Nacktkultur,11 der Wohn- und Gartenkultur12 sowie der agrar-ländlichen Lebensformen lieferten die skandinavischen Länder Schweden, Norwegen und Dänemark, die auch für ihre Landschaften und wilde Natur bewundert wurden. So stellte die Neuorientierung an Natur und Na7 | Uekötter, Frank: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Campus 2011, S. 40. 8 | Linse, Ulrich: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München: dtv 1986, S. 42-56. 9 | Zur Lebensreformbewegung in ihrer ganzen Breite siehe vor allem Buchholz, Kai et al. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2. Bde., Darmstadt: Häusser 2001. 10 | Siehe dazu insbesondere die Quellensammlung von Linse, Ulrich (Hg.): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933, München: dtv 1983, die die ideologische und praktische Vielfältigkeit ausgewählter deutscher Landkommunen anhand von Manifesten, Briefen, Zeitschriftenartikeln, privaten Aufzeichnungen und Fotos ausführlich dokumentiert. 11 | Linse, Ulrich: »Nordisches in der deutschen Lebensreformbewegung«, in: Henningsen, Bernd et al. (Hg.): Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800-1914, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1997, S. 397-407. 12 | Als Beispiel sei die Resonanz der Bilder Carl Larssons von schwedischen Interieurs und häuslichen Idyllen in der Landhaus- und Gartenstadtbewegung genannt, vgl. Lengefeld, Cecilia: Der Maler des glücklichen Heims. Zur Rezeption Carl Larssons im wilhelminischen Deutschland, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1993.
Natur und Moderne um 1900
türlichkeit, die im deutschen Kontext vor allem mit dem Begriff der Lebensreform verbunden wird, zugleich ein wichtiges Bindeglied zwischen Deutschland und dem Norden in den Jahrzehnten um 1900 dar. Der Norden stieg zum bevorzugten Projektionsraum deutscher Natursehnsüchte auf und ließ sich so für die verschiedensten Konfigurationen instrumentalisieren. Die deutschen Imaginationen vom Norden waren jedoch keineswegs widerspruchsfrei oder einheitlich. Wenn auch der Norden im Zuge der Nordenschwärmerei und der Nordlandfahrten des Wilhelm II. in den Jahren 1889-1914 bald zum beliebten Reiseziel der Gebildeten emporstieg und so das allgemeine Wissen um die skandinavischen Länder in Deutschland um einiges erhöhte, wurden sie anachronistisch eher als romantische Elementarlandschaften denn als moderne Staaten wahrgenommen. Dass dies auch mit den innerdeutschen Befindlichkeiten in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung zu tun hatte, die, so das vorherrschende Gefühl in bürgerlichen Kreisen, von der ersehnten Reichsgründung im Inneren sowie einer neuen Blüte deutscher Kultur nicht begleitet wurde, liegt auf der Hand.13 So stellte der Norden im Bildungsbürgertum eine modernitätskritische Alternative zur wilhelminischen Zivilisation dar. Zu diesem imagologischen Sehnsuchtskomplex gehörten auch die Hoffnung auf eine »geistige Erneuerung«, die Begründung einer neuen Volkstümlichkeit und – verstärkt durch die Neurezeption mittelalterlicher skandinavischer Literatur und altnordischer Mythologie – das Aufkommen einer populären heroisch-germanentümelnden Vorstellungswelt, wenn dies auch zunächst keine politischen Folgen hatte.14 Die ideologische Aufladung des Nordischen antizipierte aber zweifellos die nationalistischen und antisemitischen Rassenlehren, die im Laufe der 1920er Jahre politische Wirklichkeit wurden.15 13 | Zur Moderne- und Kulturkritik der Jahrhundertwende siehe u.a. das unlängst wiederaufgelegte Standardwerk von Fritz Stein (Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 2005) sowie die ebenfalls ältere Darstellung von Fritz Ringer (The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890-1933, Cambridge: Cambridge University Press 1969), die sich allerdings auf die wilhelminischen Hochschullehrer begrenzt. Zur Bildungs- und Kulturkrise um 1900 siehe auch die weiter gefasste Darstellung von Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, bes. S. 225-289. 14 | Wie Julia Zernack festgestellt hat, ist die deutsche Rezeption des Nordens seit ihren humanistischen Anfängen im Umfeld des Nationalgedankens anzusiedeln, wird aber weder in der Romantik um 1800 noch im Kaiserreich um 1900 politisch instrumentalisiert, vgl. Zernack, Julia: »Nordenschwärmerei und Germanenbegeisterung im Kaiserreich«, in: Henningsen et al. (Hg.): Wahlverwandtschaft, S. 71-80, hier S. 77. 15 | Grundlegend dazu Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008; Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Reli-
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Adam Paulsen und Anna Sandberg
Ab 1871 kooperierten politisch das Deutsche Reich und die nordischen Staaten als souveräne Nationalstaaten (Norwegen wird 1905, Finnland 1917 und Island 1918 selbständig), für den Rumpfstaat Dänemark aber blieb die Beziehung zu Deutschland nach der Niederlage zu Preußen 1864 und dem Verlust von Schleswig spannungsreich, zumal die gemeinsame Sprache und Kultur im Grenzgebiet weiterhin für Konflikte sorgte.16 Quer zur politischen Abgrenzung verliefen aber auch wichtige gesellschaftliche und kulturelle Prozesse des Austauschs. 1864 bedeutete zwar das Ende der politischen Idee des Skandinavismus, doch die kulturelle Vernetzung wurde in den Dezennien vor 1900 noch weiter ausgebaut und umfasste nicht nur den skandinavischen, sondern auch den nordeuropäischen Raum. Die wirtschaftlich und industriell expandierende Großmacht Deutschland fungierte für Skandinavien als zivilisatorisches Vorbild. Man bewunderte das Bildungsniveau, die neuen technischen Ausbildungen wie die herausragende Stellung Deutschlands im Bereich der Wissenschaft überhaupt, und Ingenieure aus Deutschland und Europa sowie dort ausgebildete skandinavische Berufsspezialisten trugen zum Aufbau der industriellen Infrastruktur, zu neuen Wasser-, Elektrizitäts-, und Gaswerken, Fabriken und Produktionsanlagen bei.17 Der »deutsche Unternehmer« wurde in gion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001; Puschner, Uwe et al. (Hg.): Handbuch zur »völkischen Bewegung« 1871-1918, München: Saur 1999; Bohnen, Klaus: »Skandinavismus und Nordischer Gedanke«, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Ausgabe, Bd. 28, Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2005, S. 614-620. 16 | Zum transnationalen Hintergrund siehe insbesondere Østergaard, Uffe: »Ursprünge und Entwicklungen: Deutschland, Der Norden, Skandinavien«, in: Henningsen et al. (Hg.): Wahlverwandtschaft, S. 29-38; Øhrgaard, Per: »Zwischen offizieller Anpassung und inoffizieller Distanz. Dänemark und Deutschland nach der Auseinandersetzung um Schleswig und Holstein«, in: Henningsen, Bernd (Hg.): Wahlverwandtschaft. Begegnungen – Deutschland und der Norden im 19 Jahrhundert, Berlin: Arno Spitz 2000, S. 219-241; Frandsen, Steen Bo: Dänemark: der kleine Nachbar im Norden. Aspekte der deutsch-dänischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, bes. S. 83-119. – Zum »Schicksalsjahr« 1864 siehe neuerdings Jahnke, Carsten/ Møller, Jes Fabricius (Hg.): 1864 og historiens lange skygger. Den dansk-østrigsk-preussiske krig og dens betydning i dag/1864 und der lange Schatten der Geschichte, der österreichisch-preußisch-dänische Krieg und seine Gegenwartsbedeutung, Husum: Ihleo 2011, sowie die etwas breitere Darstellung von Tom Buk-Swienty: Schlachtbank Düppel, 18. April 1864. Die Geschichte einer Schlacht, Berlin: Osburg 2011. Dass 1864 in Dänemark noch immer eine große mentalitätsgeschichtliche Bedeutung besitzt, wird dadurch unterstützt, dass die letztgenannte Darstellung, die 2012 auf Dänisch erschien, ein Dauerrenner geworden ist, der denn auch bald von einem zweiten, sich ebenso gut verkaufenden Band gefolgt wurde. 17 | Henningsen, Bernd: »Das Bild vom Norden«, in: Henningsen et al. (Hg.): Wahlverwandtschaft, S. 21 und Runeby, Nils: »Deutschland als technisches Vorbild«, ebd., S. 389.
Natur und Moderne um 1900
den skandinavischen Modernisierungsprozessen eine Leitfigur,18 parallel dazu organisierten sich die skandinavischen Arbeiterbewegungen nach deutschem Muster, wie die sozialdemokratischen Parteien im Norden ihre Programme nach deutschen Vorlagen verfassten. In anderen Bereichen waren die Rollen des deutsch-skandinavischen Austauschs jedoch anders verteilt. So stellten vor allem die Kultur und Künste eine nationalstaatlich übergreifende Praxis dar, die ungeachtet der führenden wirtschaftlichen Position Deutschlands von den nordischen Ländern mitgetragen und maßgeblich geprägt wurde.19 Wo der Norden immer schon Empfänger der deutschen kulturellen Einflüsse war oder aber sich im dänisch-norwegisch-deutschen Staatenkonglomerat bis 1814 eine deutschsprachige »Kultursymbiose« entfaltete,20 bahnte sich um die Jahrhundertwende eine neue Nord-Süd-Bewegung an, die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichte. Initiiert wurde der künstlerische Transfer vom Norden nach den deutschsprachigen Metropolen Berlin, München und später Wien von den Gesellschaftsdramen Henrik Ibsens, der bereits ab den 1880er Jahren zu den meistaufgeführten Dramatikern in Deutschland gehörte und eine moderne deutsche zeitgenössische Dramatik mitanregte.21 Wenig später fand auch die skandinavische Erzählprosa von Autoren wie Jonas Lie, Alexander Kielland, Selma Lagerlöf, Jens Peter Jacobsen und Herman Bang große Resonanz im deutschen Sprachraum22 und erlangte dadurch eine für die nordische Literatur bisher
18 | Ebd., S. 390. 19 | Vgl. dazu u.a. Schröder, Stephan Michael/Zerlang, Martin (Hg.): 1908. Et snapshot af de kulturelle relationer mellem Tyskland og Danmark, Hellerup: Forlaget Spring 2011. 20 | Die deutsch-nordischen Wechselwirkungen und Grenzgänge sind wieder aufgearbeitet worden in den einschlägigen Bänden von Detering, Heinrich (Hg.): Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften, Göttingen: Wallstein 1996, und Detering, Heinrich et al. (Hg.): Dänisch-deutsche Doppelgänger. Transnationale Literatur zwischen Barock und Moderne, Göttingen: Wallstein 2001, sowie in Hoff, Karin: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland, Göttingen: Wallstein 2003. 21 | Vgl. Pasche, Wolfgang: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen und August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1967, Basel: Helbing und Lichtenhahn 1979. 22 | Vgl. dazu Friese, Wilhelm: »Skandinavische Literaturen«, in: Kohlschmidt, Werner et al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, Berlin: Walter de Gruyter 1977, S. 841-873; Bruns, Alken: Übersetzung als Rezeption. Deutsche Übersetzer skandinavischer Literatur von 1860-1900, Neumünster: Wachholtz 1977; Meyen, Fritz: Die deutschen Übersetzungen norwegischer Schönliteratur 1730-1941, Oslo: Stenersen 1942; Paul, Fritz et al. (Hg.): Schwedische Literatur in deutscher Übersetzung 1830-1980. Eine Bibliographie, 7 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987f.
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Adam Paulsen und Anna Sandberg
beispiellose Position als Weltliteratur.23 Wie Henrik Ibsen und August Strindberg wählten viele skandinavische Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Komponisten Deutschland als ihr neues künstlerisches »Schaffensexil«, was die Vernetzung der skandinavischen Künstler mit ihren deutschen Kollegen noch weiter vorantrieb. Getragen wurden die skandinavisch-deutschen Transmissionen der Künste aber nicht nur von den Künstlern, sondern auch Verleger, Übersetzer und andere Akteure trugen mit dazu bei. So spielte der radikalliberale Kritiker Georg Brandes eine herausragende Rolle als transnationaler Vermittler und Mentor in den intellektuellen und künstlerischen Milieus des Nordens, Deutschlands und Österreichs – ganz zu schweigen von der kaum zu unterschätzenden Bedeutung, die er für die Vermittlung deutscher Autoren im deutschsprachigen Raum hatte.24 Wichtiger noch für unseren Zusammenhang ist jedoch der von Brandes geprägte Begriff der Moderne, der sich im Anschluss an seine programmatischen Vorlesungen über die europäische Literatur in Kopenhagen ab 1871 anbahnte und ihn in der Folge zum Chefideologen des »modernen Durchbruchs« in Skandinavien aufsteigen ließ. Mit seinen Forderungen nach einer zeitgemäßen, emanzipatorischen und den Themen der Geschlechter, der Religion und der Druckfreiheit aufgreifenden Literatur regte Brandes die wohl bedeutendste Wende der nachromantischen Literatur in Skandinavien an, wenn diese auch bald von einem zweiten Einschnitt um 1890 herausgefordert wurde, in dem sich bereits eine Ablösung 23 | Vgl. Paul, Fritz: »Deutschland – Skandinaviens Tor zur Weltliteratur«, in: Henningsen et al. (Hg.): Wahlverwandtschaft 1997, S. 193-205. Pascale Casanova beschreibt diese Umkartierungen von Peripherie und Zentrum und die neuen Hierarchien im autonomen weltliterarischen Raum um 1900 als Ergebnisse von Prozessen, die sich unabhängig von ökonomisch-wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen vollziehen (La République mondiale des Lettres, Paris: Éditions du Seuil 1999). 24 | Als wichtigstes Beispiel dafür sei Friedrich Nietzsche genannt, der im deutschsprachigen Raum durch Brandes eingeführt wurde, vgl. dazu vor allem den kürzlich neuaufgelegten Brandes-Essay »Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus« (1889/1890), in: Brandes, Georg: Nietzsche, hg. von Klaus Bohnen, Berlin: Berenberg 2004, S. 25-127. Zu Brandes/Nietzsche siehe neuerdings auch Benne, Christian: »Vom aristokratischen zum antiquarischen Radikalismus. Radikale Missverständnisse von Georg Brandes zu Oscar Levy«, in: Reschke, Renate/Brusotti, Marco: »Einige werden posthum geboren«. Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin: Walter de Gruyter 2012, S. 407-426, und Ehlers Dam, Anders: Den vitalistiske strømning i dansk litteratur omkring år 1900, Aarhus: Aarhus Universitetsforlag 2010, S. 156-163. – Zu Brandes Wirkung um 1900 im europäischen Vergleich siehe außerdem Harsløf, Olav (Hg.): Georg Brandes und Europa. Forelæsninger fra 1. internationale Georg Brandes-konference i Firenze 7.-9. november 2002, København: Museum Tusculanums Forlag/Det Kongelige Bibliotek 2004, sowie der von Klaus Bohnen herausgegebene Band: Georg Brandes in seiner deutschen Korrespondenz. Beispiele, Zusammenhänge, Kommentare (= Text & Kontext, Sonderband 49), Kopenhagen/München: Wilhelm Fink 2005.
Natur und Moderne um 1900
der sozialkritischen und gesellschaftsreformatorischen von einer psychologischbewusstseinsorientierten und subjektkritischen Literatur mit neuen Repräsentations- und Darstellungsformen abzuzeichnen begann.25 Die beiden Zäsuren dieser »frühen Moderne«, die etwa der Differenzierung zwischen einer gesellschaftlichen und einer ästhetischen Moderne entsprechen, können aber gerade im Kontext der skandinavisch-deutschen Transmissionen keine Autorität beanspruchen. Erstens bedeuten die Transferprozesse der skandinavischen Kunst eine zeitliche Entfernung vom gesellschaftskritischen Entstehungskontext des modernen Durchbruchs, zweitens tendieren die deutsche Rezeption, Übersetzung und Vermarktung dazu, das kritische Potential der Werke zugunsten einer harmonisierenden Konstruktion des Nordischen auszublenden, die mit Bedeutungsfeldern wie Melancholie, Ursprünglichkeit und unberührter Natur konform geht. So wird denn auch die Funktionalisierung des Nordischen allgemein als eine kompensatorische aufgefasst, die vor allem regressiv-eskapistische Inhalte transportiert.26 Dass sie in vielen Fällen tatsächlich solche Züge trägt, soll keineswegs bestritten werden. Doch gerade die literarischen und kulturellen Naturdiskurse können, so unsere Vermutung, auch als Sensibilisierungen und Korrekturen betrachtet werden, die weder als ausschließlich antimodern noch als ausschließlich modern kritisch einzustufen sind. Zu prüfen wäre in diesem Sinne vielmehr, inwiefern die sich um 1900 eröffnenden »Naturräume« die zeitlichen Kategorien von Fortschritt, Entwicklung und Wachstum allmählich abzulösen beginnen und so als Gegenbewegungen aufgefasst werden können, welche die Denaturierung des Menschen zu balancieren versuchen.27 Verwischen sich so durch die transnationale Perspektive die von Brandes und seinen Nachfolgern geprägten Zäsuren der Moderne wieder, dann tritt die Bedeutung des Geographischen und des Räumlichen in der ästhetischen Moderne umso deutlicher hervor. Kommen wir nun wieder auf die geschichtlichen Prozesse der Modernisierung zurück, dann bestätigt sich zunächst einmal die These von den räumlichen Neuorientierungen um 1900, wie sie seit einigen Jahren auch in der Geschichtswissenschaft unter dem Schlagwort des »wiederkehrenden Raumes«
25 | Vgl. Heitmann, Annegret: »Die Moderne im Durchbruch (1870-1910)«, in: Glauser, Jörg (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 2006, S. 183-230. 26 | Vgl. dazu auch die Diskussion über die Heimatkunst um 1900 als Herausforderung der literarischen Moderne bei Lohmeier, Anke-Marie: »Normative Modernebegriffe in Literatur und Literaturwissenschaft«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 37/I (2012), S. 80-87, hier S. 85f. 27 | Vgl. die Deskription des Zeitraums 1880-1930 als dritter Artikulationsphase des bürgerlichen Naturgedankens bei Großklaus, Götz: »Der Naturtraum des Kulturbürgers«, in: Großklaus, Götz/Oldemeyer, Ernst (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe: Loeper 1983, S. 169-196.
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vertreten wird.28 Unterstützt wird diese These zudem durch die Auseinandersetzung um das begriffsgeschichtliche Moderne-Konzept, die sich neuerdings wieder in der Geschichtswissenschaft entfacht hat. Anders als in den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, in denen 1900 schon immer als Epochenschwelle galt,29 hielt sich die deutsche Geschichtswissenschaft bekanntlich lange an dem von Reinhart Koselleck geprägten Begriff der Sattelzeit, d.h. an einem Modernebegriff, der die großen Umbrüche zwischen 1750 und 1850 als die Schwellenzeit der Moderne festlegte,30 wobei die Genese dieser Datierung viel länger zurückreicht und bereits von dem Theologen und Religionsphilosophen Ernst Troeltsch vorgeprägt wurde.31 In den letzten Jahren mehren sich jedoch auch in der Historikerzunft 28 | Vgl. dazu z.B. Osterhammel, Jürgen: »Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie«, in: Neue politische Literatur, 43 (1998), S. 374-395; ders.: »Raumerfassung und Universalgeschichte«, in: Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 151-169; ders.: »Geschichte, Geographie, Geohistorie«, in: Küttler, Wolfgang et al. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 3 (= Die Epoche der Historisierung), Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 257-271; Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Carl Hanser 2003. 29 | Eine Ausnahme davon, wenn auch nicht die einzige, ist Karl Heinz Bohrer, der mit Hinweis auf einen rein ästhetisch gefassten Autonomiebegriff den Beginn der literarischen Moderne auf die Frühromantik zurückverlegt, vgl. dazu u.a. Bohrer, Karl Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, sowie ders.: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. – Zum Begriff der literarischen bzw. ästhetischen Moderne im Einzelnen siehe Gumbrecht, Hans Ulrich: »Modern, Modernität, Moderne«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart: Ernst Klett 1978, S. 93-131, sowie Cornelia Klinger: »Modern/Moderne/Modernismus«, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler 2002, S. 121-166. 30 | Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in: Brunner, Otto et al. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XV. Zur Sattelzeit im Rahmen der Geschichtliche Grundbegriffe siehe auch Richter, Melvin: »Begriffsgeschichte and the History of Ideas«, in: Journal of the History of Ideas 48/2 (1987), S. 247-263. 31 | Siehe dazu insbesondere Troeltsch, Ernst: »Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt« (1906/1911), in: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, hg. von Trutz Rendtorff, Berlin: Walter de Gruyter 2004, S. 199-316, sowie der weniger bekannte Überblicksartikel »Das Wesen des modernen Geistes« (1907), in: Preußische Jahrbücher 128 (1907), S. 1-40. – Zum Moderne-Konzept Ernst Troeltschs siehe auch Fischer, Hermann: »Die Ambivalenz der Moderne. Zu Troeltschs Verhältnisbestimmung von Reformation und Neuzeit«, in: Troeltsch-Studien, Bd. 3 (1984), S. 54-77, sowie Kittsteiner, Heinz Dieter: »Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne«, in: TroeltschStudien (Neue Folge) 1 (2006), S. 21-47.
Natur und Moderne um 1900
die Stimmen, die sich für eine Rekonstruktion des historischen Moderne-Begriffs unter stärkerer Berücksichtigung der ästhetischen, politischen und wissenschaftlichen Transformationen um 1900 aussprechen. So hat Christof Dipper kürzlich ein »integrales Moderne-Konzept« vorgeschlagen, das die Selbstdeutung der Epoche zugrunde legt und die Moderne als Epochenschwelle im engeren Sinne 1880 beginnen lässt.32 Vielversprechend ist dieses Konzept nicht nur deswegen, weil es zwischen den langfristigen Trends oder »Basisprozessen«, die Dipper als »eigengesetzliche Verlaufsformen« versteht, und dem epochalen »Ordnungsmuster« zu differenzieren ermöglicht, sondern auch weil es eine kulturwissenschaftliche Perspektive, wie sie in diesem Band vertreten wird, unterstützt und so das Aneinanderrücken bisher getrennter Bereiche theoretisch in die Wege leitet. Wenn hier von Moderne die Rede ist, dann also im Sinne eines umfassenden, ganzheitlichen, wenn auch zeitlich eingeengten Ordnungsmusters, das sich etwa 1880 in zum Teil sehr unterschiedlichen Diskursen durchsetzt und das eine Verlagerung von zeitlichen hin zu räumlichen Kategorien kennzeichnet. So ist es gewiss kein Zufall, dass der Geograph Friedrich Ratzel sein geopolitisches Konzept des »Lebensraumes« zur selben Zeit entwickelte, wie sich die Heimatschutzbewegung formierte und der Massentourismus entstand. Die Moderne, wie sie hier verstanden wird, setzt sich eben im Großen wie im Kleinen aus Räumen zusammen, die beherrscht, erobert oder beschützt werden müssen, und ebenso unterschiedlich sind die Medien und Diskurse, die uns davon berichten. Wie schon eingangs angedeutet, hat der Band aber zugleich einen aktuellen Anlass. Es geht uns zwar auch um Prozesse der Verräumlichung in der Moderne an sich, insbesondere aber um verschiedene kulturelle und ästhetische Aspekte dieser natürlichen Räume und ihrer medialen Repräsentationen. Beeinflusst wurde diese Thematik theoretisch durch die sogenannte grüne Wende in den Kulturwissenschaften, die sich ab Anfang der 1990er Jahre verstärkt sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Literaturwissenschaft geltend gemacht hat.33 32 | Dipper, Christof: »Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 37/I (2012), S. 58. – Der Literaturhistoriker Eugen Wolff nahm bereits 1886, vier Jahre vor Hermann Bahr, Moderne für die jüngste deutsche Literatur in Anspruch (vgl. Gumbrecht: »Modern, Modernität, Moderne«, S. 120-121; Klinger: »Modern/Moderne/Modernismus«, S. 139). 33 | Bis auf wenige Ausnahmen wurde die grüne Wende in Deutschland zunächst nur von der Geschichtswissenschaft wahrgenommen. Vgl. zur deutschen Umweltgeschichte im Allgemeinen insbesondere die obengenannten Titel von Joachim Radkau, Andreas Knaut, Ulrich Linse, Friedemann Schmoll, Raymond Dominick und Thomas Pekan sowie Brüggemeier, Franz-Josef/Rommelspacher, Thomas (Hg.): Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 1989; Sieferle, Rolf Peter: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München: C.H. Beck 1997; Siemann, Wolfram (Hg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektive, München: C.H. Beck 2003; Trepl, Ludwig: Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegen-
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Wenn wir auch den Beiträgern mit ihren jeweiligen fachlichen Hintergründen keine bestimmte theoretische Perspektive vorschreiben wollten, dann werden die Beiträge des vorliegenden Bandes insgesamt von diesem theoretisch vielschichtigen Rahmen zusammengehalten. So ist es unsere Hoffnung, die unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die hier zusammenfinden, auch in theoretischer Hinsicht wenigstens andeutungsweise zu überbrücken, was im deutschen Sprachraum überraschend selten versucht worden ist. Parallelen dazu finden sich in benachbarten Diskursen und Theoriefeldern wie der spatialen oder topographischen Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften,34 die wie die wart, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987; Uekötter, Frank: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880-1970, Essen: Klartext 2003. Eine unverzichtbare Forschungsübersicht ist Uekötter, Frank: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2007. – In der Literaturwissenschaft und Germanistik lagen bis vor kurzem bezeichnenderweise überwiegend Arbeiten von Auslandsgermanisten und Anglisten vor, vgl. u.a. Goodbody, Axel: The Culture of German Environmentalism. Anxieties, Visions, Realities, New York/Oxford: Berghahn 2002; ders.: Nature, Technology, and Cultural Change in Twentieth-Century German Literature. The Challenge of Ecocriticism, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007; ders. (Hg.): Wasser, Kultur, Ökologie. Beiträge zum Wandel im Umgang mit dem Wasser und zu seiner literarischen Imagination, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008; ders. (Hg.): Literatur und Ökologie (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 43), Amsterdam: Rodopi 1998; Hermand, Jost: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewusstseins, Frankfurt a.M.: Fischer 1991; ders.: Im Wettlauf mit der Zeit. Anstöße zu einer ökologiebewussten Ästhetik, Berlin: Edition Sigma 1991; ders. (Hg.): Mit den Bäumen sterben die Menschen. Zur Kulturgeschichte der Ökologie, Wien: Böhlau 1993; Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans, Tübingen: Niemeyer 2002; ders. (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft, Heidelberg: Winter 2008. Eine Ausnahme davon bildet Heinrich Detering, der seit Anfang der 1990er Jahre kontinuierlich ökokritische Publikationen zu einzelnen Autoren vorgelegt hat (u.a. zu Wilhelm Raabe und Wilhelm Lehmann). In der Kulturtheorie seien zudem die Arbeiten von Gernot und Hartmut Böhme erwähnt, die neuerdings auch in der angloamerikanischen Ökokritik rezipiert werden (vgl. dazu die Aufsätze von Kate Rigby und Timo Müller in Goodbody, Axel/Rigby, Kate [Hg.]: Ecocritical Theory. New European Approaches, Charlottesville/London: University of Virginia Press 2011). Zum Vergleich bahnt sich in der angloamerikanischen Ökokritik schon die dritte Generation an (siehe z.B. die Forschungsübersicht von Lawrence Buell, Ursula K. Heise und Karen Thornber in Annual Review of Environment and Resources: 10.1146/annurev-environ-111109-144855). 34 | So u.a. Döhring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008; Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005; Günzel, Stephan (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008; ders.
Natur und Moderne um 1900
bereits erwähnte »Wiederentdeckung des Raumes« in der Geschichtswissenschaft streckenweise mit den ökotheoretischen Ansätzen übereinstimmen. Was alle diese geohistorischen, raumsoziologischen, topographischen oder kartographischen Studien jedoch von den ökotheoretischen unterscheidet, ist nicht nur das Ausmaß, das der Natur in den jeweiligen Theorieansätzen und Studien eingeräumt wird, sondern auch die Definition dessen, was überhaupt unter Natur verstanden wird. Soweit sie sich überhaupt mit Natur als Fläche oder Raum befassen, sind sie der Tendenz nach sehr viel mehr geographisch-kartographisch ausgerichtet als die ökokritischen Studien und Theorien, die sich dagegen eher an den Repräsentationen der Natur als Landschaft, Wildnis oder Heimat orientieren. Wie der Begriff der Moderne, der dem vorliegenden Band zugrunde liegt, ist deshalb auch der der Natur recht weit gefasst, auch wenn es fast ausschließlich um die äußere Natur geht.35 Im Fokus steht explizit die Vieldeutigkeit der unterschiedlichen Zugriffe auf (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007; ders. (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010; Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009; Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne, Bd. 22), Wien: Passagen 2005; Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Wilhelm Fink 2005; Geppert, Alexander et al. (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2005; Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hg.): Raum – Wissen – Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-165; Eigler, Friederike: »Critical Approaches to Heimat and the ›Spatial Turn‹«, in: New German Critique 115, Vol. 39, Nr. 1 (2012), S. 27-48; Winkler, Kathrin/Seifert, Kim/Detering, Heinrich: »Die Literaturwissenschaften im Spatial Turn«, in: Journal of Literary Theory (JLT), 6/1 (2012), S. 253-269. – Eine Auswahl klassischer raumtheoretischer Texte aus den Geistes- und Naturwissenschaften findet sich in Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, sowie in Heuner, Ulf (Hg.): Klassische Texte zum Raum, Berlin: Parodos 2008. 35 | Vgl. zum Begriff der Natur die Standardwerke von Gloy, Karen (Hg.): Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn: Bouvier 1996; dies.: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, München: C.H. Beck 1996; Weber, HeinzDieter (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz: Universitätsverlag 1989; Böhme, Hartmut: »Natürlich/Natur«, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler 2002, S. 432-498; Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989; ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992; Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; Smuda, Manfred (Hg.): Land-
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die Natur um 1900, die sich, wie neulich von Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl vorgeschlagen, an den Idealtypen »Landschaft«, »Wildnis« und »Ökosystem« veranschaulichen lässt. So gehen Kirchhoff und Trepl davon aus, dass diesen drei idealtypischen Konfigurationen unterschiedliche Zugänge zur oder Urteile über die Natur zugrunde liegen: ein ästhetisches, ein moralisch-praktisches und ein theoretisches Urteil.36 Die hier versammelten Beiträge lassen sich mit ihrem jeweiligen Fokus auf mediale Repräsentationen, Interventionen, Bewegungen und theoretisch-wissenschaftliche Erkundungen diesen drei Kategorien zuordnen. Der Band ist in drei Sektionen gegliedert, die sich mit 1) der Kolonisierung des Raumes, 2) den literarischen Repräsentationen der Natur und schließlich 3) den Diskursen und Medien der Moderne befassen. In der ersten Sektion werden die Kolonisierung des Naturraums um 1900 und die Erschließung der deutschen und der nordischen Natur durch Alpinisten, Touristen und Reisende sowie durch Heimatschutzaktivisten und Gartenfreunde untersucht. Die wilde Natur der Alpen und die Gebirge Schwedens, die Flusslandschaft in der Transition zur Industriegesellschaft und der kultivierte Garten werden als Orte der Verhandlung von Modernität und Natur in den analytischen Blick genommen. Michael Ott eröffnet die Sektion mit seinem Beitrag über die Wahrnehmung der Alpennatur um 1900 im Rückgriff auf das sich wandelnde Alpenbild seit dem 18. Jahrhundert. Um 1900 ist die Entdeckung der Alpen als Landschaft in eine touristische Kolonisierung umgeschlagen, und gleichzeitig ist die »sportliche« Eroberung der Alpengipfel nahezu abgeschlossen. Die Praktiken und Diskurse des Alpinismus in den Medien von Handbüchern über kulturkritische Essays bis zur schönen Literatur verhandeln auf unterschiedliche Weise den alpinen Raum als Gegenraum zur Zivilisation in verschiedenen Weisen. Das Interesse an »führerlosen Touren« und die Propagierung von existentieller Gefahr und Schwierigkeit sind Teil einer Extremisierung und Intensivierung der Hochtouristik, die durchaus Affinitäten zum vitalistischen Denken der Zeit aufweisen. Am anderen Ende des diskursiven Spektrums ist eine Sakralisierung der Hochgebirge als Erlösungsort festzustellen, die eine parareligiöse Dimension des Alpinismus in der säkularen Moderne andeutet. Ott zeigt anhand von alpinen Handbüchern, den Schriften von Georg Simmel und Hermann Hesses Erzählung Der geheimnisvolle Berg, wie die Alpen einen Resonanzraum kultureller Veränderungsprozesse bilden. Annegret Heitmann wendet sich einem neuen Quellenmaterial des Tourismus zu und wertet in einer kritischen Auseinandersetzung mit neuerer Tourismusforschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; Piechocki, Reinhard: Landschaft, Heimat, Wildnis. Schutz der Natur – aber welcher und warum?, München: C.H. Beck 2010. 36 | Kirchhoff, Thomas/Trepl, Ludwig: »Landschaft, Wildnis, Ökosystem: Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen«, in: dies.: Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturwissenschaftliche Phänomene, Bielefeld: transcript 2009, S. 13-69, hier S. 16f.
Natur und Moderne um 1900
schung die frühen Jahresschriften des schwedischen Touristenvereins (Svenska Turistföreningen, ab 1886) aus, um die Naturkonzeption im Spannungsfeld von touristischer Aneignung und ökologischem Bewusstsein zu analysieren. Die Berichte zeugen von einem doppelten Naturbezug der Nordenreisenden: Sie verhalten sich einerseits zur Natur als Wildnis, andererseits als Landnahme. Der Pionierdiskurs ist von vielfältigen Strategien der Aneignung, Medialisierung, Verwaltung, Nutzbarmachung und Eroberung durchsetzt. Die Anweisungen der Schriften sind selektiv auf das gerichtet, was Erlebnis- oder Genusswert zu versprechen scheint: Berggipfel, Wegmarkierungen und Aussichtsplätze. Die Natur tritt dabei nicht als eigenständiges Ökosystem, sondern als touristisch nutzbar hervor. Die andersartig kanonisierten Texte der deutschen Baedeker-Reiseführer (ab 1832) untersucht Kathrin Maurer in ihrem Beitrag. Baedeker werden in der kulturwissenschaftlichen Forschung seit einigen Jahren insbesondere im Hinblick auf die Nationalisierungstendenzen und -bestrebungen im 19. Jahrhundert untersucht. Demnach suggerieren die weitverbreiteten Reiseführer einen kollektiven nationalen Kulturraum, mit dem sich das reisende Bürgertum identifizieren sollte. Maurer liest jedoch die Naturkonzeptionen Baedekers unter anderen Vorzeichen, indem sie – angeregt von den Modernitätstheorien Michel Foucaults und Bruno Latours – die in den Texten zum Ausdruck kommenden Wissensordnungen hinterfragt. Mithilfe der analytischen Optik der Kartographie und des Panoramas stellt sich heraus, dass die Naturdarstellungen einerseits als inventarisierende Kataloge und Archive statische, enzyklopädische und räumliche Aspekte aufweisen und andererseits durch eine panoramistische Medialisierung eine Art göttliche Überblicksperspektive gewähren. Die Reiseführer sind somit mit ihren kosmopolitischen und universellen Ausrichtungen eher als vormodern einzuordnen. Nicht die von den Reisenden erfahrene Natur, sondern die kultivierte und ästhetisierte Natur des Gartens wird von Vera Alexander behandelt. Ihre Lektüre des autobiographischen Romans Elizabeth von Arnims Elizabeth und ihr Garten (englisch 1898, deutsch 1908) analysiert die Funktion des Gartens als eines hybridisierten Natur- und Kulturraums, der den politischen Spannungen Europas und dem nationalen Antagonismus zwischen England und Deutschland um 1900 entgegenwirkt. Neue Identitäten quer zu sowohl nationalen als auch zu geschlechtlichen Festschreibungen werden im heterotopischen Grenzraum des Gartens ermöglicht. Durch ihr Schreiben über den Garten gelangt von Arnim zu einer neuen weiblichen Stimme des Humors, die zur transnationalen Verständigung beiträgt, und ihre Selbstfindung und Emanzipation werden nicht zuletzt vom Verkaufserfolg des Romans unterstützt. Adam Paulsen setzt sich mit der Landschaft aus der Perspektive des Naturschutzes um 1900 auseinander. Sein Ausgangspunkt ist eine Diskussion der Diskrepanzen innerhalb der aktuellen Ökokritik und der Umweltbewegung. Es geht um die Spannung zwischen der Bindung an den lokalen Ort, die Heimat und die sinnlich-erfahrbare Lebenswelt auf der einen Seite und die Verpflichtung zu einem globalen Ausblick, der die Biosphäre als planetarische Einheit begreift, auf
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der anderen. In Anlehnung an Joachim Radkaus umweltgeschichtliche Analysen untersucht Paulsen ein prominentes Fallbeispiel aus der Vorgeschichte der Umweltbewegung: die Kontroverse um die Wasserkraftanlage am Laufenburg, die mit der Gründung des Bundes Heimatschutz 1904 einherging. Bei näherem Hinsehen waren die Heimatschutzbewegung und andere Akteure im Umfeld der Lebensreformbewegung von sehr divergenten ideologischen Motivationen angetrieben, und die Bemühungen um die Erhaltung der ursprünglichen Flusslandschaft mit den Stromschnellen scheiterte nicht zuletzt daran, dass das Verständnis für das Biosystem ebenso fehlte wie eine ökologische Perspektive überhaupt. Die zweite, literarische Sektion unseres Bandes setzt sich mit Werken und Autoren aus der skandinavischen und deutschen Moderne auseinander. Zunächst werden die ästhetischen Naturverhandlungen bei den drei »Großen« der norwegischen, schwedischen und dänischen Literatur in den Blick genommen: Henrik Ibsen, August Strindberg und Jens Peter Jacobsen. Das Wasser als biologische und ökonomische Ressource thematisiert Henrik Ibsens Ein Volksfeind (En Folkefiende, 1882). Es wurde aber seinerzeit und wird immer noch kaum als Ökodrama, sondern als ein Konfliktstück über den Kampf zwischen Individuum und Majorität wahrgenommen, und Heinrich Detering zeigt in seiner eingehenden Lektüre, wie die Probleme der Bedrohung der Stadtwerke und der Verseuchung des Wassers langsam aus der Handlung verschwinden in einem für Ibsen typischen Prozess der Metaphorisierung des Textes, der aber gerade eine kollektive und diskursgeschichtlich repräsentative Verdrängung der Umweltprobleme selbst darstellt. Durch eine umweltgeschichtliche Kontextualisierung arbeitet Detering auf, wie die industrielle Wasservergiftung im späten 19. Jahrhundert zum Herausbilden eines ökologischen Bewusstseins beitrug und damit zum Thema in der europäischen Literatur wurde. Bei Ibsen sind sowohl der neue Bädertourismus als auch die Gerberei-Industrie der norwegischen Stadt vom Wasser abhängig. Während es den einen um die Erhaltung der Natur geht, steht für die Gerberei vor allem der Verbrauch der natürlichen Ressourcen im Zentrum. Ibsen diagnostiziert damit präzise das Problem der Natur im nordeuropäischen Gründerzeitkapitalismus und antizipiert gleichzeitig, durch die Übertragung der biologischen Vorgänge auf soziale Prozesse und durch die sozialhygienische Ideologie des Protagonisten Stockmann, die »schwarze Ökologie« des 20. Jahrhunderts. Das Wasser und das Meer sind auch Sujet und Schauplatz in August Strindbergs Am offenen Meer (I Havsbandet), aber auf ganz andere Weise. Mit diesem heterogenen und in der Forschung vieldiskutierten Roman, der als dritter Teil seiner sogenannten Schären-Trilogie 1890 erschien, befasst sich Karin Hoff. Die Vorarbeiten Strindbergs umfassen umfangreiche naturwissenschaftliche Studien, die das Interesse des Romanprojekts an der Verträglichkeit von Mensch, Umwelt und Natur deutlich erkennen lassen. In diesem postnaturalistisch-experimentierenden Roman können drei Relationen des Protagonisten zur Natur identifiziert werden: eine wissenschaftlich-rationale Beherrschung, eine klassizistisch-ästhetisierende Domestizierung und letztendlich eine neuromantisch-verklärende und auf Sym-
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biose zielende Sehnsucht. Diese Verhaltensweisen werden im Laufe der Selbstentfremdungsgeschichte ausprobiert und, besonders in ihren Kollisionen mit den Naturauffassungen der Schärenbevölkerung, ironisch reflektiert. Jedoch erweisen sie sich alle als unzureichend, und Am offenen Meer verhandelt so die nicht vorhandene Balance von Mensch und Natur als Kennzeichen der Moderne. Ein anderer Grenzgänger zwischen den Wissensformen der Naturwissenschaft und der Dichtung sowie zwischen den Strömungen des Naturalismus und den späteren post- oder antinaturalistischen Strömungen des Symbolismus und der Dékadence war der Däne Jens Peter Jacobsen, den Anna Sandberg als einen ökologischen Denker und Künstler liest, der die Beziehung zwischen Mensch und Natur und die Dimensionen der physischen Umwelt, des Bioraums und der Landschaft in allen Phasen seines kurzen Schaffens populärwissenschaftlich und literarisch gestaltet. In ihrem Beitrag untersucht sie drei Phasen seiner Produktion: die frühen naturwissenschaftlichen Essays, die Darwin und Haeckel an die dänische Leseöffentlichkeit vermittelten, die Debütnovelle Mogens und schließlich den Desillusionsroman Niels Lyhne (1880), der in deutscher Übersetzung im Kontext des Fin-de-Siècle rezipiert wurde. Jacobsens Schaffen zeigt die Kontinuitäten und Wandlungen eines »evolutionsästhetischen« Naturdenkens, das die sinnstiftende Funktion der Religion in der Modernität einzunehmen trachtet, jedoch in eine Radikalisierung des antagonistischen Mensch-Natur-Verhältnisses mündet. Seine Ökopoetik kann aber auch mit Hubert Zapf als eine kreative Energie innerhalb einer kulturellen Ökologie verstanden werden, die im transnationalen Transfer neue literarische Imaginationen veranlasst und neue Diskursfelder eröffnet. Im zweiten Teil dieser Sektion geht es um die deutschsprachige Literatur um 1900. Axel Goodbody hinterfragt und interpretiert den Begriff »Heimat« neu am Beispiel von drei Romanen aus der Zeit um 1900. Heimat galt lange als rückwärtsgewandte Utopie und wurde als Kompensationsversuch für das Leiden an den Problemen der Gegenwart verstanden, mit der eine gefährliche, weil politisch reaktionäre Identifikation mit dem Geburtsort einherging. Ausgehend von einem neueren deutschen Heimatdiskurs und Entwicklungen in der internationalen Gesellschafts- und Kulturtheorie sowie dem englischsprachigen Ecocriticism diskutiert Goodbody zunächst die Entwicklung des Heimatbegriffs und der Heimatliteratur im Laufe des 20. Jahrhunderts. Er blickt sowohl auf die Rolle des Raums für die Identitätsbildung als auch auf die Bedeutung der Heimat für das Verhältnis zur Umwelt. Anschließend wird in Analysen von Bruno Willes Offenbarungen des Wachholderbaums (1901), Hermann Hesses Peter Camenzind (1903) und Josef Pontens Siebenquellen (1909) gefragt, ob nicht Spuren des heutigen dynamischen, aktiven, offenen und pluralen Heimatverständnisses in der Literatur der Jahrhundertwende zu finden sind. Obwohl widersprüchlich und ambivalent, scheinen Wille, Hesse und Ponten an einer Erweiterung des Heimatbegriffs in Richtung soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Kosmopolitismus zu arbeiten, und die literarischen Werke können somit als Archiv alternativer Vorstellungen zu den leitenden Heimatauffassungen um 1900 dienen.
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Sven Halse unternimmt eine Begriffsdiskussion des Vitalismus und Klärung des Konzepts des »Lebens« in der Literatur und Kultur um 1900. Im Anschluss an die einschlägigen Darstellungen der germanistischen Literaturwissenschaft der 1960er und 1970er Jahre interessiert sich die jüngere skandinavische Forschung schon länger für den Vitalismus und die Lebensphilosophie, und Halse verfolgt diese kulturhistoriographischen Bestimmungen in Hinsicht auf ihre Operationalisierbarkeit. Anhand von exemplarischen Gedichtlektüren der in populären Textanthologien um 1900 vertretenen Autoren Johannes Schlaf, Julie Virginie Scheuermann, Julius Hart, Hedwig Dransfeld, Marie-Madeleine und Gottfried Benn demonstriert er, dass der vitalistischen Dichtung nicht nur die Dimension der Lebensbejahung zukommt, sondern auch Stillstand, Erstarrung und Auflösung. Damit kommt zugleich eine Dialektik von Leben und Tod zum Ausdruck. Diese Dialektik wäre mit dem Begriff eines »zyklischen Vitalismus« einzufangen, der sich wiederum in zwei Hauptgruppen eines kosmischen und eines biologischen Vitalismus gliedert. Moritz Schramm versucht in seinem Aufsatz die verschiedenen Funktionen des Naturbegriffs bei Franz Kafka zu beschreiben und historisch einzuordnen. Dazu gehören die Gegenüberstellungen von Stadt und Land, Zivilisation und Natur, die in den Werken Der Process, Das Schloß und in den frühen Erzählfragmenten zum Kleinen Ruinenbewohner (1910) aufgespürt und untersucht werden. Der im Schloß entworfene Begriff der Naturwahrheit stellt eine Bedrohung der Welt der Beamten und damit ein Gegenpol zur Macht des Gesetzes dar; der Naturbegriff funktioniert somit als eine Störung der modernen Erfahrungswelt. Die Natur taucht aber auch auf in Zusammenhang mit der Suche nach Auswegen aus der Moderne und als potentielle Alternative zur städtischen Sozialisation, zur Erziehung und zur Bürokratie. Natur verbindet sich dabei in Kafkas Werken mit der Vorstellung einer hinter der rationalen Erkenntnis ruhenden Unmittelbarkeit, der man sich annähern kann, ohne ihrer jedoch jemals habhaft werden zu können. In der dritten Sektion werden moderne Naturdiskurse der Philosophie und der Naturwissenschaft sowie die Medialisierungen des im Zeitraum entstehenden Films und des Luftfotos beleuchtet. Das Verhältnis von Natur und Moderne beim wichtigsten und wirkungsmächtigsten Philosophen um 1900, Friedrich Nietzsche, untersucht Christian Benne. Er stellt dar, wie Nietzsches Denken, geprägt von der Engführung positivistischer Wissenschaft mit der Philosophie des Idealismus und der historisch-philologischen Methodik, sich mit dem Erbe des Rousseauismus kritisch auseinandersetzt und es überwindet. Anhand der Lektüre eines einzelnen Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft (1882), »Wir Künstler!«, arbeitet Benne begriffsgeschichtlich die Natur- und Kunstkonzeption Nietzsches auf und zeigt, wie nicht zuletzt die literarische Formgebung des Aphorismus eine zentrale Rolle für das Verständnis des antiken Gegensatzes von Kunst und Natur spielt, den Nietzsche auf originelle Weise wiederbelebt. Einen anderen Leitdiskurs der Moderne finden wir beim Zoologen und Naturphilosophen Ernst Haeckel, der auch als begabter Maler und Zeichner in bild-
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künstlerischen Arbeiten seine monistische Weltanschauung und seine Ideen von einer neuen Erkenntnis der Natur vermittelte. Mirjam Gebauer untersucht die Bildtafeln in Haeckels Kunstformen der Natur (1899-1904), welche die Formenvielfalt und ornamentale Schönheit von maritimen Lebewesen wie Radiolarien, Medusen und Korallen vor Augen führt. Dabei ist die dargestellte Natur als solche oftmals nicht erkennbar, vielmehr provoziert Haeckel durch verschiedene Techniken der Stilisierung einen Wiedererkennungswert des Natürlichen als Kunstform und zeichnet ein dem ästhetischen Empfinden des Jugendstils entsprechendes, modisches Naturbild. Angeregt von der These Olaf Breidbachs zeigt Gebauer, wie Haeckel, indem er einen Anschauungsraum »Natur« entwirft, eine zweite bestimmende Traditionslinie des modernen Naturverständnisses repräsentiert. Haeckels Alternative zur Zerlegung der Welt in empirische Daten und mathematische Formeln und seine ganzheitliche Wissenschaftsmethode erscheint lehrreich im Lichte neuerer Versuche, die »anthropische Denkform der Moderne« zu überwinden, wie sie Wolfgang Welsch kulturkritisch herausgearbeitet hat. Mit den beiden letzten Beiträgen in dieser Sektion wenden wir uns den neuen visuellen Medien im Zeitraum zu. Eine »Ambimodernität« stellt Stephan Schröder in Bezug auf die Naturdarstellung der frühen Kinematographie fest, und dieses packende Schlagwort trifft überhaupt auf die meisten der im Band analysierten Texte, Praxen und Medien zu. Der Ausgangspunkt Schröders ist der Diskurs vieler Intellektueller um 1900, das moderne Medium des Films habe seine eigentliche Aufgabe in der Darstellung von »Naturbildern«. Aber wie waren die Darstellungsmodi von Natur im Kinematographen, und was wurde unter »Naturbildern« verstanden? Die reine, asemiotisch vergegenwärtigte Natur der allerfrühesten Filme wurde im Kinematographen schnell durch vielfältig kulturalisierte Natur abgelöst. Die »Natur« im Genre der »Naturbilder« bezog sich dabei vor allem auf die atechnía-Relation zum Aufgenommenen, die zusammen mit dem konservativen Stil der »Naturbilder« deren Popularität in intellektuellen Kreisen begründete. Die »Naturbilder« sind so, Schröder zufolge, ein Beispiel für Ambimodernität: Sie sollten ein den Interventionen der metropolitan-industriellen Moderne mit ihren wahrnehmungssensorischen Veränderungen entzogenes Reservat darstellen, obwohl sie nur durch die Opposition zu dieser Moderne definiert und technologisch durch sie hervorgebracht wurden. Das Ende der im Band behandelten Zeitspanne greift Detlef Siegfrieds Aufsatz zur Technik und zur politisch-ideologischen Funktion des Luftbilds in der Weimarer Republik auf. Vorangetrieben durch den Ersten Weltkrieg, erlebte die Luftbildphotographie in den 1920er Jahren einen enormen Aufschwung. In ihrer Konzeptionalisierung und Nutzung vermittelten sich allgemeine, aber auch spezifisch deutsche Interpretationen der modernen Gesellschaft und Hoffnungen auf einen politischen Wiederaufstieg Deutschlands. Im Gegensatz zur Zentralperspektive, die in der künstlerischen Gestaltung immer einer subjektiven Deutung folgt, strebt die auf die Erstellung von Messbildern gerichtete technisch-industrielle Luftbildphotographie die Kartierung einer als objektiv gegeben betrachteten Oberflächen-
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struktur der Welt an und postuliert damit einen wissenschaftlichen Blick. Beide Perspektiven, subjektiver Fokus und »objektive« Fläche, spielten im Diskurs um die Deutung der Moderne eine wichtige Rolle. Siegfrieds abschließende Analyse zeigt somit Landschaftsvermessung und photographische Dokumentation topographischen und gesellschaftlichen Wandels als Versuche, die Moderne zu verstehen und zu gestalten. Der Großteil der Beiträge des vorliegenden Bandes geht auf ein interdisziplinäres Forschungssymposion zur Natur und Moderne um 1900 zurück, das im Oktober 2011 in Kopenhagen von den Herausgebern organisiert, durchgeführt und von der Süddänischen Universität Odense und der Universität Kopenhagen unterstützt wurde. Mit den anregenden Vorträgen und Diskussionen der Teilnehmer aus der dänischen und deutschen Germanistik, Skandinavistik, und Kultur- und Geschichtswissenschaft wurden die ersten Grundlagen dieses Buches geschaffen und zusätzliche Autoren haben auf Einladung mit ihren Beiträgen das Themenfeld weiter umrissen und den Band komplettiert. Wir sind der Carlsberg-Stiftung, dem Goethe-Institut Kopenhagen, der Stiftung Lademanns Fond sowie dem Institut für Anglistik, Germanistik und Romanistik an der Universität Kopenhagen für ihre finanzielle Hilfe sehr dankbar. Ohne die großzügigen Fördermittel der CarlsbergStiftung wären weder die Tagung noch die Publikation dieses Buches möglich gewesen. Ein sehr herzlicher Dank geht an alle Beteiligten dieser dänisch-deutschen Kooperation.
I. Die Kolonisierung des Raumes
Im »Allerheiligsten der Natur« Zur Veränderung von Alpenbildern in der Kultur um 1900 Michael Ott
I In einem Aufsatz mit dem Titel »Alpenreisen«, der in der Wiener Wochenzeitung Die Zeit im Hochsommer 1895 erschien, setzte sich der Philosoph und Soziologe Georg Simmel, passend zur Hauptreisezeit, kritisch mit einem Prozess auseinander, der in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kulturell »zu unzweideutiger Herrschaft gelangt«1 sei – mit dem Massenphänomen von Reisen in die Alpen. »[I]n mehr als äußerlicher Analogie zu unserer ökonomischen Entwickelung«, so Simmel, könnte man diese immer stärkere Verbreitung von Alpenreisen »den Großbetrieb des Naturgenusses nennen«:2 Zu Zielen, die sonst nur einsamer Wanderung zugängig waren, führen jetzt Eisenbahnen, die sich in rascher Folge accumulieren; wo die Steigungen zu steil sind, um Fahrstraßen zu bauen, wie nach Mürren oder Wangernalp, baut man eine Eisenbahn; schon scheint die Bahn auf den Eiger gesichert, und so viele Bergsteiger bisher überhaupt die schwierige Höhe erstiegen haben – ebensoviele wird die Bahn vielleicht an einem einzigen Tag hinaufbringen. Der Faust’sche Wunsch: »Stünd‹ ich, Natur, vor dir, ein Mann allein!« wird immer seltener erfüllt, und deshalb immer seltener gesagt. Es war ein pädagogischer Wert der Alpenreisen, ihre Genüsse nur um den Preis zu gewähren, daß man äußerlich und innerlich auf sich selbst stand; nun aber lockt die Bequemlichkeit der Heer- und Herdenstraßen. 3
1 | Simmel, Georg: »Alpenreisen«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900 (= Gesamtausgabe Bd. 5), hg. von Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 91-95, hier S. 91. Der Aufsatz erschien zuerst in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, 4. Bd. 1895 (13.07.1895), S. 23-24. 2 | Ebd. 3 | (EG
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Schon in den ersten Sätzen seines Essays formuliert Simmel eine Paradoxie, die für die im vorliegenden Band untersuchte Frage der Naturwahrnehmung in der Zeit um 1900 von großem Interesse ist: Zur industrialisierten und technisch mobilisierten Moderne Europas gehört seit dem späten 19. Jahrhundert die periodische Flucht des Bürgertums in »die Natur«, und ein bevorzugtes Ziel dieser touristischen Fluchten sind – neben den Küsten und Stränden – die Alpen. Durch diese touristische Massenbewegung aber wird das Gebirge von eben der Zivilisation, als deren »natürlicher« Gegenraum es erscheint, nachhaltig verändert, ja förmlich kolonisiert; verkehrstechnische und touristische Infrastrukturen – wie Eisenbahnen, Bergbahnen oder Grand Hôtels – berauben es zunehmend jener Unzugänglichkeit, Unberührtheit und Wildheit, die seine »Natürlichkeit« ausmachten; und in dieser Gebirgsnatur bleibt folglich niemand mehr »allein«, sondern ist immer schon umgeben von anderen Touristen. Der »Großbetrieb des Naturgenusses«, den die Alpenreisen organisieren, spiegelt für Simmel daher »in mehr als äusserlicher Analogie« die kapitalistische Durchdringung aller Lebensbereiche – und zwar gerade auch der Naturräume als Außen- und Grenzzonen der modernen Zivilisation. Simmels Aufsatz diagnostiziert damit zugleich einen Veränderungsprozess in der Wahrnehmungsgeschichte der Alpen. Denn diese waren seit ihrer »Entdeckung« im 18. Jahrhundert ja tatsächlich zum Inbegriff unberührter, wilder, »erhabener« Natur avanciert;4 als Objekt ästhetischer Praktiken – beispielsweise in Literatur, Malerei und Oper5 – und im Zuge wissenschaftlicher Erforschung und 4 | Vgl. Allgemein: Seitz, Gabriele: Wo Europa den Himmel berührt. Die Entdeckung der Alpen, München/Zürich: Artemis Verlag 1987; zum Erhabenen: Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim: VCH Acta Humaniora 1989; zum Naturerhabenen: Groh, Ruth/Groh, Dieter: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; ferner Mathieu, Jon/Boscani Leoni, Simona (Hg.): Die Alpen! Les Alpes! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance. Pour une histoire de la perception européenne depuis la Renaissance, Bern: Peter Lang 2005; Macfarlane, Robert: Berge im Kopf. Die Geschichte einer Faszination, Zürich: AS Verlag 2005. 5 | Vgl. nur beispielsweise: Weiss, Richard: Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Horgen/Zürich/Leipzig: Münster-Presse 1933; Raymond, Petra: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1993; Wozniakowski, Jacek: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; Kunz, Stephan/Wismer, Beat/Denk, Wolfgang (Hg.): Die Schwerkraft der Berge: 1774-1997, Ausstellungskatalog zu den Ausstellungen im Aargauer Kunsthaus Aarau und der Kunsthalle Krems 1997, Basel/Frankfurt a.M. 1997; Senici, Emanuele: Landscape and Gender in Italian Opera: The Alpine Virgin from Bellini to Puccini, Cambridge: Cambridge University Press 2005.
Im »Allerheiligsten der Natur«
Erschließung – beispielsweise in Geographie, Geologie, Glaziologie oder Botanik – waren sie seitdem vielfach und in immer neuen Codierungen medial repräsentiert worden,6 wodurch sich das kulturelle Vorstellungsbild der Alpen als wilder Naturlandschaft allererst ausgebildet hatte. Doch blieb die kulturelle Praxis des Bereisens bis weit ins 19. Jahrhundert auf wenige (oft Intellektuelle) und blieben die Ziele dieser Reisen meist auf bestimmte Regionen und Orte vor allem der Schweiz beschränkt – wie die Landschaft der Tell-Sage um den Vierwaldstätter See, die »Eismeere« um Chamounix oder die Regionen des Wallis, die seit Rousseaus Julie und Saussures Montblanc-Besteigung 1787 zu Topoi der Faszination des Gebirgsraumes geworden waren. Diese doppelte Beschränkung – auf ästhetische oder wissenschaftliche Motive und auf Erfahrungen vergleichsweise weniger – begann sich jedoch mit der alpinistischen »Eroberung« vor allem der Westalpen (nicht zuletzt durch britische Alpinisten) und mit der Ausbreitung des Alpinismus durch die Alpinen Vereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzulösen.7 Die hochalpinen Zonen der Gletscher und Gipfel werden nunmehr zu einem Raum praktischer »Eroberung«, ja unmittelbar körperlicher Erfahrung der Natur; und der dabei entstehende alpinistische Diskurs wird, so die im Folgenden entwickelte These, in den Jahrzehnten um 1900 zum Resonanzraum kultureller Veränderungsprozesse und zum Echoraum zentraler Fragen der Kultur, die für moderne Vorstellungen von »Natur« in hohem Maß aufschlussreich sind. Als kulturwissenschaftliche Selbstverständlichkeit ist dabei vielleicht vorauszuschicken, dass Vorstellungen einer ursprünglichen »Natürlichkeit« des Gebirges immer schon kulturelle Konstruktionen in dem Sinn sind, wie es schon das Wort »Natur« selbst ist, das bekanntlich in der Natur nicht vorkommt: Die Differenz Kultur–Natur ist stets eine von Seiten der Kultur her bestimmte. Es geht im Folgenden aber nicht um eine weitere Demonstration dieser Selbstverständlichkeit, sondern um eine differenziertere Analyse dieser Konstruktionsarbeit von »Natur«Vorstellungen in der Moderne selbst. Sie resultieren im konkreten Beispiel – womit zugleich ein Aufriss des Folgenden gegeben wäre – aus der Ausdifferenzierung alpinistischer Praktiken und des Diskurses darüber (II), aus der dabei propagierten 6 | Neben den genannten literarischen oder künstlerischen Darstellungen spielen dabei insbesondere die Kartographie – deren Techniken sich nicht zuletzt im alpinen Raum erst entwickelten – und das Medium des Panoramas eine erhebliche Rolle; vgl. Gugerli, David/ Speich, Daniel: Topographien der Nation. Politik, kartographische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich: Chronos Verlag 2002; Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M.: Syndikat 1980; vgl. allgemein: Tschofen, Bernhard: Berg – Kultur – Moderne. Volkskundliches aus den Alpen, Wien: Sonderzahl 1999. 7 | Vgl. zur Geschichte des Alpinismus: Unsworth, Walt: Hold the Heights. The Foundations of Mountaineering, London: Mountaineers Books 1994; Grupp, Peter: Faszination Berg. Die Geschichte des Alpinismus, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2008.
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Vorstellung der Alpen als eines Gegenraums zur von Zweckrationalität, Industrialisierung und Arbeitsteilung geprägten Zivilisation (III), aus der Bestimmung des Hochgebirges als Raum der Zeitlosigkeit und Transzendenz (IV) und schließlich aus der medialen Repräsentation des Gebirges, zu der neben photographischen Abbildungen und alpinistischen und essayistischen Texten auch solche der Literatur beitrugen (V).
II Auch wenn Georg Simmel im genannten Alpenreisen-Aufsatz zunächst die alpine Massentouristik kritisch in den Blick nimmt,8 sieht er sie nicht rein negativ – »immerhin sind Unzähligen dadurch Naturfreuden ermöglicht, die früher ihren Kräften und Mitteln unerreichbar waren«9. Sein Hauptaugenmerk gilt jedoch den kulturellen Begründungen für diese Alpenreisen: »Es gehört zur Bildung, sagt man, daß man die Alpen sehe, […] tiefe und geistige Menschen glauben ihr Tiefstes und Geistigstes zu cultivieren, wenn sie in die Alpen gehen.«10 Darin allerdings sieht Simmel eine Verblendung, die im Bürgertum fast zwanghafte Legitimation eines rein ästhetischen, egoistischen Genusses aus »höheren Gesichtspunkten«: Der Anblick der Hochalpen wäre zwar tatsächlich ästhetisch überwältigend, erregend und erhebend; doch fielen diese Intensitäten des Gefühls, kaum seien die Alpen wieder verlassen, auch wieder in sich zusammen, und anders als »italienische Reisen« besäßen Alpenreisen darum keineswegs den behaupteten »Bildungswert«.11 Eine besondere Form dieser Selbsttäuschung aber werde, so Simmel weiter, im »Hochalpensport« gepflegt: In den Kreisen des Alpenclubs gilt die Vorstellung, das Ueberwinden der lebensgefährlichen Schwierigkeiten sei sozusagen sittlich verdienstvoll, als ein Triumph des Geistes über den Widerstand der Materie, als ein Ergebnis ethischer Kräfte: des Muthes, der Willensstärke, des Aufgebotes alles Könnens für ein ideales Ziel. Und über diesen wirklich eingesetzten Energien vergißt man, daß sie hier nur als Mittel für ein völlig sittlichkeitsfremdes, 8 | Er kannte sie übrigens aus eigener Anschauung, da er selbst häufig sommers in die Alpen reiste. Fünfzehn Jahre nach dem erwähnten Aufsatz schreibt er z.B. in einem Brief am 20.08.1910: »Chamonix mit all seiner unvergleichlichen Schönheit ist mir doch durch den tobenden Fremdentrubel, mit zahllosen Autos [!] u. geschniegelten Pariserinnen, gänzlich verleidet. Jetzt sitzen wir in der richtigen Alpenstille, in die von allen Beförderungsmitteln nur Maulesel gelangen können. […] Tausend Grüße und Dank!« (Simmel, Georg: Briefe 1880-1911 [= Gesamtausgabe Bd. 22], hg. von Klaus-Christian Köhnke und Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 846f.) 9 | Simmel: »Alpenreisen«, S. 91. 10 | Ebd., S. 92. 11 | Ebd., S. 93.
Im »Allerheiligsten der Natur« ja, oft unsittliches Ziel aufgehoben [sic!] werden, für den momentanen Genuß, der aus solcher Anspannung aller Lebenskräfte, aus dem Spiele mit der Gefahr, aus der Ergriffenheit durch das erhabene Bild fließt.12
Es musste dem Philosophen einigermaßen befremdlich erscheinen, dass Alpinisten dem Klettern und dem Eingehen lebensgefährlicher Risiken in der Natur den Wert sittlicher Persönlichkeitsbildung zuschrieben. Der Hintergrund dieses, in den »Kreisen des Alpenclubs« tatsächlich geführten Diskurses bildet allerdings eine Entwicklung, in der die »Ergriffenheit durch das erhabene Bild« der Alpen längst durch eine andere, nicht länger rein ästhetische Motivation des Bergsteigens abgelöst worden war. Denn die meisten der zwischen 1860 und 1874 gegründeten kontinentalen Alpenvereine13 hatten sich, im Gegensatz zum britischen Alpine Club (welcher sich auf die exklusive Mitgliedschaft bergsteigender Gentlemen beschränkte), die Verbreitung der Alpenbegeisterung in breiten Bevölkerungsschichten zum Ziel gesetzt. Sie waren aber damit derart erfolgreich, dass ihre »Erschließungsarbeit«, die Anlage von Wegen, Schutzhäusern und Hütten, schon bald den alpinen Raum selbst veränderte; den ersten »Eroberern« folgten alsbald Wanderer und Sommerfrischler, die nach Komfort verlangten, und dies provozierte in den Alpenvereinen alsbald intensive Diskussionen über diese nichtintendierten Folgen des eigenen Tuns und Fragen nach dem alpinistischen Selbstbild.14 Vor allem aber provozierte es Differenzierungen im Alpinismus selbst. Schon seit den 1860er Jahren hatten einige Alpinisten besonders in Österreich und Deutschland begonnen, im Gegensatz zu den britischen Bergsteigern, die ihre Eroberungen der Schweizer Westalpen fast immer mit einheimischen Bergführern unternommen hatten, ohne Führer (und nicht selten ganz ohne Begleiter) zu klettern. Verstärkt wurden nun alpine Touren unternommen, die zuvor von einheimischen Bergführern aus Selbstschutz oder Verantwortungsgefühl als undurchführbar bezeichnet worden waren; und ganze Gebiete der Alpen, die außerhalb der touristisch schon erschlossenen Regionen lagen, wurden nun von Pionieren des 12 | Ebd. 13 | Sie entstanden alle in einem kurzen Zeitraum: Alpine Club (GB) 1857/58; Österreichischer Alpenverein 1862; Club Alpino Italitano 1863; Schweizer Alpenclub 1863; Deutscher Alpenverein 1869; Club Alpin Français 1874, um nur die größten zu nennen. Simmel meint mit dem »Alpenclub« mutmaßlich den Schweizer Alpenclub, ganz analoge Diskurse gibt es allerdings auch im seit 1871 vereinigten Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein. Vgl. zu diesem zuletzt: Gidl, Anneliese: Alpenverein. Die Städter entdecken die Alpen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2007. 14 | Vgl. zur Entwicklung in den Alpenvereinen (bes. dem DÖAV) und den Diskursen darüber die vorzügliche diskursgeschichtliche Studie von Günther, Dagmar: Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus (1870-1930), Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1998.
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»führerlosen Bergsteigens« wie beispielsweise Hermann von Barth, den Brüdern Zsigmondy oder Ludwig Purtscheller neu »erobert«: Sie erschienen den Alpinisten als Raum einer tatsächlich noch weitgehend unerschlossenen, wilden Natur.15 Diese Differenzierung war indessen folgenreich. Während ein größerer Teil der Bergsteiger sich weiter auf Führer verließ und die Annehmlichkeiten besserer Erschließung genoss, wurden von einer alpinistischen Elite genau diese Zivilisierungen kategorisch abgelehnt und immer schwierigere Besteigungen angegangen. Ferner suchte man nicht länger die einfachsten Anstiege auf Berggipfel, sondern im Gegenteil besonders ausgesetzte Grate, Wände oder Überschreitungen als besondere Herausforderungen. Die Entwicklung der »führerlosen Tour« wurde so zur Bedingung der Möglichkeit alpinistischer Avantgarden, die man mit einigem Vorbehalt auch als Vorläufer heutiger Extremsportler ansehen kann.16 Diesen Avantgarden folgten freilich, ganz in der Logik touristischer Vorstöße ins Unentdeckte und Unberührte,17 wiederum andere Touristen; so erklärt sich zumindest 15 | Dass dadurch auch eine Wahrnehmungs-Änderung des alpinen Raums vorbereitet wird, in der nunmehr ein Kampf oder Ringen mit »der« Natur im Vordergrund steht, wird vor allem bei dem Geologen Hermann von Barth sichtbar, der seit den späten 1860er Jahren die Berchtesgadener Alpen und das Karwendel erschloss; vgl. Barth, Hermann von: Aus den nördlichen Kalkalpen. Ersteigungen und Erlebnisse in den Gebirgen Berchtesgadens, des Algäu [sic!], des Innthales, des Isar-Quellengebietes und des Wetterstein. Mit erläuternden Beiträgen zur Orographie und Hypsometrie der Nördlichen Kalkalpen geschildert von Hermann von Barth, Gera 1874 (Nachdruck: München: Fines Mundi Verlag 1984, mit einem Nachwort von Albert von Schirnding). In dessen Einleitung heißt es beispielsweise: »Werth der Beachtung, werth des Besuches der Bergfreunde sind sie in der That, diese Kalkalpen. Und einen Vorzug besitzen sie vor den begletscherten Gebirgen, – ein Vorzug freilich, der in den Augen der alpinen Welt wohl eher als das Gegentheil eines solchen angesehen werden möchte: auf sein eigenes Können allein gestützt, vermag der Alpenwanderer ihren Firsten zu nahen, und nur dem, der dies vermag, öffnet sich das Allerheiligste ihres Tempels. Preiset nicht das begeisterte Wort kühner Hochgebirgsdurchforscher das Ersteigen seiner Gipfel als die Bethätigung der Ueberlegenheit menschlicher Kunst, menschlicher Kraft, gelenkt von selbstbewusstem Willen, über den starren Widerstand der Materie, – als Besiegelung der Herrschaft des Menschen im ganzen Reiche der Natur? – Wo möchte die Ueberlegenheit schärfer zum Ausdrucke gelangen, wo möchte Siegesfreude und Siegeszuversicht gewaltiger emporlodern als da, wo der einzelne Mensch für sich allein den Kampf besteht, – kein Mehr kein Weniger, – das Ganze des Erfolges durch eigenes Thun errungen hat?« (ebd., S. 12). 16 | Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Todeszonen. Über Denkräume des Extremen im frühen Extremalpinismus«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, H.II/3 (2008), Extremes Denken, S. 55-70, der auch bereits einige der hier behandelten Texte untersucht. 17 | In seiner »Theorie des Tourismus« hat Hans Magnus Enzensberger die Paradigmatik und die Paradoxie auch und gerade dieses Tourismus folgendermaßen beschrieben: »Eine Schlüsselrolle in der Geschichte des Tourismus fällt den Bergsteigern zu. […] Die Schlüs-
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teilweise der Boom von Reisen in die Dolomiten, die erst seit den 1870er Jahren zu einer bevorzugten Sommerfrische des Wiener (und später auch des internationalen) Bürgertums avancierten. Eine wichtige Voraussetzung dafür war freilich weniger eine alpinistische als eine technische – der Bau der Pustertaler Bahn, die 1871 in Betrieb ging; und katalysiert wurde diese touristische Eroberung ganz wesentlich auch durch mediale Repräsentationen z.B. auf Bildpostkarten, welche die Wahrnehmung der alpinen Regionen auch politisch fundierte.18 Sowohl die immer weitere Verbreitung des Bergsteigens als auch die zunächst auf wenige »Extreme« beschränkte Praxis des Schwierigkeits- und Gefahrenalpinismus brachten in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts jedoch das Thema der alpinen Unglücksfälle ins Zentrum der Diskussion. So stürzte – ausgerechnet im Erscheinungsjahr seiner eigenen Lehrschrift Die Gefahren der Alpen (1885) – mit dem erst 23-jährigen Emil Zsigmondy ein prominenter führerloser Bergsteiger tödlich an der Meije ab.19 Die selbstgewählten Gefahren bildeten aber nur den einen Pol des alpinistischen Risikospektrums; schon die zunehmende Zahl von Alpentouren teils unerfahrener und unbekümmerter »Normalbergsteiger« verursachte eine stetig wachsende Zahl von Unfällen, die in den Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins dokumentiert und regelmäßig in Artikeln analysiert wurden.20 In einem Ausrüstungs-Handbuch für »Hochtouristen« heißt es im Jahr 1900: Mit großer Aufmerksamkeit verfolge ich seit längerer Zeit die Reihe der alljährlich wiederkehrenden Unglücksfälle im Hochgebirge. Hierbei stelle ich regelmässig fest, dass eine nicht unbedeutende Anzahl dieser Katastrophen lediglich auf Mängel und Fehler in der Ausrüstung der betreffenden Touristen zurückzuführen ist. So hätte, um nur einige Beispiele aus den letzten zwei Jahren aufzuführen, die Mitnahme der Fäustlinge und genügender
selrolle des alpinistischen Vorstoßes beruht darauf, daß er die romantische Ideologie des Tourismus besonders rein verkörpert. Er richtet sich auf das ›Elementare‹, das ›Unberührte‹, das ›Abenteuer‹. Unter welchem Namen das Ziel auch verstanden wird, ändert an der Dialektik des Vorgangs nichts: indem es nämlich erreicht wird, ist es auch schon vernichtet« (Enzensberger, Hans Magnus: »Eine Theorie des Tourismus« [1958], in: ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964 [1958], S. 179-205). 18 | Vgl. zu dieser Dimension der Wahrnehmungsgeschichte der Dolomiten und vor allem ihrer Veränderung im ersten Weltkrieg: Holzer, Anton: Die Bewaffnung des Auges. Die drei Zinnen oder Eine kleine Geschichte vom Blick auf das Gebirge, Wien: Verlag Turia + Kant 1996. 19 | Vgl. zu Zsigmondy: Günther: Alpine Quergänge, S. 164f. 20 | Vgl. z.B. Becker, Gustav: »Die Hochalpenunfälle 1899«, in: Mittheilungen des deutschen und oesterreichischen Alpenvereins, Bd. 26 (1900), Nr. 5, S. 51-54, sowie in den Folgeheften; hierzu Günther: Alpine Quergänge, S. 166f.
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Michael Ott Lebensmittel den Tod des Dr. Schmitt an der Zugspitze sicher verhindert, […] ein zu kurzes Seil verursachte den Tod des Prof. Nasse am Piz Palu […]. 21
Durch die wachsende Zahl tödlicher Unfälle geriet das Bergsteigen insgesamt unter Legitimationsdruck: Diese Abstürze schienen es als Praxis zu erweisen, die allen bürgerlichen Sicherheitsbedürfnissen Hohn sprach. Umso nachdrücklicher wurde in den Alpenvereinen darum ein Legitimationsdiskurs geführt, der die »ideale« Seite des Alpinismus betonte und dessen positive, »charakterprägende« Seiten hervorkehrte. So verteidigte Ludwig Norman-Neruda in einer Abhandlung über Die alpinen Unglücksfälle des Jahres 1894 den Alpinismus damit, dieser [habe] in seiner idealen Bedeutung das den meisten Sports vor, daß er den Menschen zwingt, dort seine Kräfte zu versuchen und zu stählen, wo die Natur am erhabensten und am grossartigsten ist, daß er nicht den Tod auch nur des kleinsten Thierchens bezweckt, daß er diejenigen, die ihn ausüben, nicht untereinander zum Wettbewerb antreibt, daß er seinen Anhängern weder Preise noch Medaillen verschafft, daß er die Selbstlosigkeit fördert, ja die Aufopferung des Einen für den Anderen geradezu verlangt. 22
Und es war offenkundig dieser Diskurs über die sittliche, persönlichkeitsbildende Bedeutung von Schwierigkeit und Gefahr, auf welchen Simmel in seinem Artikel über die Alpenreisen kritisch reagierte, indem er die Bergsteigerei mit einem anderen, im zeitgenössischen Bürgertum ebenso kritisch gesehenen Phänomen verglich – dem Hazardspiel.
III In derselben Zeitschrift, und unter anderem direkt auf Simmel, reagierte aber im Folgejahr wiederum der wichtigste Wortführer des führerlosen Bergsteigens, der Wiener Gymnasialprofessor Eugen Guido Lammer, auf diese Kritik.23 Hatte er bereits vorher in den Alpenvereins-Mitteilungen das »führerlose« Gehen im Sinne 21 | Simon, J.: Die Ausrüstung des Hoch-Touristen, 3. Aufl., München: Kellerer 1900, S. 3. 22 | Norman-Neruda, Ludwig: »Die alpinen Unglücksfälle des Jahres 1894, Teil 1«, in: Mittheilungen des deutschen und oesterreichischen Alpenvereins, Bd. 21 (1895), Nr. 3, S. 2831, hier S. 29. – Drei Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes stürzte übrigens auch dessen Autor tödlich ab. 23 | Lammer, Eugen Guido: »Der Bergsport«, in: Die Zeit, Nr. 94, Wien 1896; hier zit.n. ders.: Jungborn. Bergfahrten und Höhengedanken eines einsamen Pfadsuchers, Wien: Bergverlag Rudolf Rother 1922, S. 209-217. Vgl. zu Lammer Walkner, Martin: »Zur Entstehung des Alpinismus im Wien des Fin de Siècle. Die Bedeutung von Eugen Guido Lammer«, in: Zeitgeschichte 23 (1996), S. 291-305; ferner Märtin, Ralf-Peter: »Talschleichen oder Gipfelstürmer. Der Streit zwischen Heinrich Steinitzer (1869-1947) und Eugen Guido
Im »Allerheiligsten der Natur«
des genannten Legitimationsdiskurses damit propagiert, dass der »Einzelkampf mit schwierigem Hochgebirge« »alle Kräfte des Körpers und sehr viele des Geistes«24 mehr fordere als irgendeine andere menschliche Tätigkeit, war der äußerer Anlass seines Artikels 1896 die in diesem Jahr ausgetragene und zeitgenössisch ebenfalls umstrittene erste Olympiade der Neuzeit. Doch aus Lammers Sicht ist »[d]as wahre enfant terrible des scheidenden Jahrhunderts […] der Bergsport«: Wie auf ein rotes Tuch fährt auf ihn der Bullenzorn des Philisters los […]. Und in der Tat, der Alpinismus ist des Jahrhunderts echtestes Kind. Als Rousseau vor 140 Jahren entdeckte, daß die Alpen schön seien, da hatte ihn ein großer Ekel fort aus der Welt des Puders und der Seidenstrümpfe in die abgelegensten Winkel getrieben. Auch jetzt wieder faßt viele eine unsägliche Kulturmüdigkeit; mitten aus dem Raffinierten und Übernervösen, aus dem Räderwerk komplizierter Maschinen, aus dem Getöse und Gehaste heraus tönt immer brünstiger der Sehnsuchtschrei nach Stille und Einfachheit. Und wo könnten unsere gemarterten Nerven diese schneller und leichter finden als im Hochgebirge? 25
Es ist bezeichnend, dass sich Lammer auf Rousseau beruft, dessen Ablehnung der höfischen Kultur ihn in die Alpen (man kann assoziieren: »zurück zur Natur«) getrieben hätte. Unter den Antrieben des Bergsports erscheint hier mit der Nervosität aber sogleich ein Zentralmotiv der eigenen Epoche;26 und hier schon ist der Rekurs auf Leitbegriffe und Leitdifferenzen vitalistischer Zivilisationskritik des Fin de Siècle – Müdigkeit, Maschinenkultur, Beschleunigungsangst, Stadt vs. Natur, Lärm vs. Stille, Raffinesse vs. Einfachheit – erkennbar, die für den alpinistischen Diskurs um 1900 zentrale Stichworte bilden werden. Unmittelbar ins Zentrum der Naturvorstellung des so propagierten »Gefahrenalpinismus« führt nun Lammers Fortsetzung: Und wie wohl uns wird, wenn wir den nackten Fels mit der nackten Faust packen, statt all der Maschinen dort drunten höchstens einen schlichten Eispickel oder ein Seil als Gehilfen! »Steh‹ ich, Natur, vor dir ein Mann allein, da ist’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.« In solchen einsamen Augenblicken wird uns dann so wildkatzenhaft zu Mute, wir fühlen Lammer (1863-1945) über Alpinismus, Sport und Kultur«, in: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaften 2006, S. 60-75. 24 | Lammer, Eugen Guido: »Führerloses Alleingehen im Hochgebirge«, in: Mittheilungen des deutschen und oesterreichischen Alpenvereins, Bd. 15 (1884), S. 284f.; wieder (überarbeitet) in ders.: Jungborn, S. 200-204. 25 | Lammer: Jungborn, S. 210f. 26 | Vgl. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München: Econ 1998. So schreibt Lammer 1894 auch, der Drang zu Gefahren und Schwierigkeiten im Gebirge steige »spontan aus den Nerven des Geschlechtes der [sic!] fin de siècle empor« (Lammer, Eugen Guido: Großvenediger [1894], wieder in: Lammer: Jungborn, S. 44-69, hier S. 69).
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Michael Ott uns fast wie die stolzen und freien Menschentiere der Urzeit […]. Ja, viele von uns sind kultursiech geworden. Und darum sind die echten Alpinisten geschworene Feinde aller Bergbahnen, aller Höhenhotels mit Schwalbenschwanzkellnern, aller Verkünstelung der rauhen Bergnatur. 27
Indem er denselben Goethe-Vers zitiert wie Simmel, ihn aber in den Realis umdichtet,28 markiert Lammer sowohl sein authentisches Erleben des Gebirges (er steht wirklich »allein« vor der Natur) als auch den Bildungsanspruch des akademischen Alpinisten. Umso deutlicher muss Lammer, der die Kritiker seines Tuns als Philister29 verhöhnt, allerdings dem Verdacht eigenen Philistertums vorbeugen: Hier hält keine kultursieche Hand Goethes Faust, sondern die nackte Faust nackten Fels oder einen Eispickel; an der animalischen Männlichkeit dieses »stolzen und freien Menschentier[s] der Urzeit« darf offenbar kein Zweifel aufkommen. Im Zentrum des Bergsport-Aufsatzes wie weiterer Texte30 Lammers steht allerdings ein fast mythisch aufgeladener Begriff von Gefahr, wie sie nur noch in der »rauhen Bergnatur« erfahren werden könne. Denn Gefahr, so argumentiert Lammer, rufe »immer neue Reserven der Leibes- und Seelenkräfte« herbei, »nur um nicht zu sterben«; sie verlange den »ganzen Einsatz« – und sie werde dadurch zum völligen Gegenpol der modernen Arbeitsteilung, die gerade keinen solchen Einsatz des Ichs mehr erfordere. Das gelte ebenso von der Industriearbeit – nach Lammer: »Maschinenwartung« – wie vom Tun des »sogenannte[n] geistige[n] Arbeiter[s]«, der »beim Licht betrachtet, gewöhnlich eine Art Lokomotivführer« sei, »eingeschnürt in tausend Normen, die für ihn des Denkens besten Teil besorgen; dem Beamten, dem Lehrer, dem Handelsangestellten schraubt sich die Unfreiheit immer enger um die Kehle, ein Zerbrechen der Schablone wird immer schwerer«. Selbst der moderne Krieg sei »meist nur eine Massenbewegung von Schachfiguren«, und Lammer sieht die Gesellschaft »scheinbar rettungslos in das ärgste Chinesentum hineinsteuern«.31 Es ist evident, dass Lammer um die Auratisierung des Gefahrenmoments im Gebirge eine ganze Reihe von Elementen versammelt, die in Diagnosen der Moderne von Max Weber bis Ernst Jünger entscheidende Bedeutung gewinnen werden: Die Entindividualisierung, die Natur- und Selbstentfremdung des Einzelnen durch die moderne Arbeitsteilung, die Maschinenhaftigkeit der Existenz und 27 | Lammer: Jungborn, S. 211. 28 | Der von Simmel richtig (an)zitierte Vers lautet: »Stünd’ ich, Natur, vor Dir ein Mann allein/Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein« (Johann Wolfgang Goethe: Faust II, Vs. 11406f., HA III, S. 343). 29 | Der Vorwurf des Philiströsen ist ein Topos in der Konstruktion des »Antialpinismus« aus der Sicht der kritisierten Bergsteiger selbst; vgl. Günther: Alpine Quergänge, S. 157-161. 30 | Vgl. auch hier zum Kontext Günther: Alpine Quergänge, S. 161-170, hier S. 169. 31 | Alle Zitate nach Lammer: Jungborn, S. 214f.
Im »Allerheiligsten der Natur«
den Entzug selbst noch von Möglichkeitsräumen traditionellen Heroismus’ wie im Krieg. All dem steht bei Lammer der Asylraum des Gebirges und dort die Intensivierung des Lebens im Augenblick der Gefahr gegenüber, und damit wird er, obgleich in konservativen Alpinistenkreisen höchst umstritten, für die alpinistische Folgegeneration äußerst einflussreich. So beginnt ein kleines Handbuch mit dem Titel Der Hochtourist. Ein Handbuch für Anfänger, das F. Niedermayr 1908 in Wien herausgab, mit Grundsatzerwägungen zu den zwei »Erscheinungen der Natur«, die »von jeher das Gemüt des Menschen auf das tiefste [sic!] erregt«32 hätten – Meer und Hochgebirge. In der jüngeren Eroberungsgeschichte des Gebirges und bei den Scharen, die bei der allsommerlichen »Völkerwanderung« in die Alpen strömten, ließen sich jedoch einige Typen unterscheiden: Neben bequemen, passiven Sommerfrischlern in den Tälern gäbe es zunächst jene Bergsteiger, die auf gesicherten Wegen zu bequemen Aussichtsgipfeln und entsprechend aktivem Naturgenuss strebten. Doch das Interesse Niedermayrs liegt noch jenseits davon: Die Hochtouristik, des Alpinismus höchste Vollendung, beginnt dort, wo die Wege und Steige aufhören. Durch gefährliche Schnee- und Eisrinnen, über exponierte Wände, durch Kamine und Risse geht es hinauf zum zackengekrönten Grat, zum Gipfel. Jeder Meter muß erkämpft, ertrotzt werden, in hundert Gestalten lauert der Tod auf die Verwegenen, fürwahr, ein mühseliges, gefährliches Handwerk. Und doch leuchtet aus den Augen der Mutigen, wenn sie nach vollbrachter Arbeit in die Hütte treten, eine heimliche, innige Freude. Sie kommen aus dem Allerheiligsten der Natur, sie haben etwas Großes erlebt, etwas, das sich nicht mit Worten sagen läßt, aber unauslöschlich in die Seele haftet. Und kaum dem Tode entronnen, treten sie ihm von neuem entgegen. Dieser Alpinismus ist ein wahrer Dämon, wen er erst einmal hat, den läßt er nimmer los. 33
Diesen »Hochtouristen«34, die nicht nur »hoch« wollen, sondern auch in seiner Bewertung hoch stehen als »des Alpinismus höchste Vollendung«, gilt die eigentliche Bewunderung des Verfassers, und ihnen gelten die Hinweise zur Ausrüstung, Kletter-Technik und den alpinen Gefahren, die das Buch dann ausführt. Ihnen aber misst er, dabei erkennbar Lammers Stichworte aufgreifend, auch eminente Kulturbedeutung zu.
32 | Niedermayr, F.: Der Hochtourist. Ein Handbuch für Anfänger, Wien/Leipzig: Hartlebens Verlag 1908, S. 1. 33 | Ebd., S. 3. 34 | Der heute kaum noch gebräuchliche Ausdruck ist um 1900 üblich; seit ca. 1880 werden »Hochtouristen« förmlich als eigene Gruppe innerhalb der Bergsteiger geführt. Vgl. z.B. Dent, C.T. (Hg.): Hochtouren. Ein Handbuch für Bergsteiger, dt. hg. von Walther Schultze, Leipzig: Duncker & Humblot 1893.
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Michael Ott Die letzte Wurzel des Alpinismus ist ein im tiefsten Grunde der Menschenseele schlummerndes Verlangen nach Abenteuern, eine unbezwingbare Freude am Kampfe gegen die Titanenkräfte einer herrlichen, aber dem Menschen feindlichen Natur, ohne Zweifel eine letzte, verdämmernde Erinnerung an die verschollenen Zeiten der Urwelt, da der Mensch, nackt und frei und ungebändigt, das Land durchstreifte. So ist der Alpinismus als eine Art Renaissance des verwegenen, kraftstrotzenden Urmenschentums, bewußt oder unbewußt, die heftigste Reaktion gegen die Dekadenz der Gegenwart mit ihren lächerlichen Menschenkarikaturen. Darin liegt die kulturelle Bedeutung des Alpinismus, daß er der Kraft, der Schönheit und der Freiheit des Menschen dient. Er ist kein Sport sondern ein Bekenntnis. 35
An diesem Beispiel, dem viele weitere zur Seite zu stellen wären, ist erkennbar, dass der alpinistische Diskurs um die Jahrhundertwende förmlich zum Echoraum der zeitgenössischen Zivilisationskritik wird: An Nordwänden, Felsnadeln, Gletschern und Graten scheint noch die urweltliche »Feindlichkeit« einer Natur erlebbar zu werden, die überall sonst zivilisatorisch gebändigt ist; das Hochgebirge wird zum Raum einer intensiven, ursprünglichen Subjekterfahrung im »Kampf« mit der Natur und im gefahrvollen Abenteuer stilisiert; und darin scheinen die problematischen Dimensionen moderner Subjekte, ihre Ungewissheit sozialer, geschlechtlicher und psychischer Identität, in der Praxis großer »Taten« wie von selbst zu verschwinden.36 Die korporale Praxis des extremen Bergsteigens wird, gerade weil sie die Bewältigung von Gefahren ohne alle technischen Bändigungen und modernen Zivilisierungen der Natur zum Ziel hat, zu einer modernen Selbstpraxis vor allem männlicher, bürgerlicher Subjekte, und sie geht in der bloß ästhetischen Betrachtung erhabener Landschaften, wie das überkommene Konzept 35 | Niedermayr: Der Hochtourist, S. 3. 36 | Gerade die geschlechtliche Dimension ist im Übrigen ein zentraler Punkt in den Selbstverständigungs-Diskursen des Alpinismus um 1900; so hatte Lammer schon in einem seiner frühesten Texte zwischen »passivem«, »weiblichem« Aussichtsgenuss und »männlicher« alpiner »Tat« unterschieden: Mönch [1886], in ders.: Jungborn, S. 146-155; vgl. dazu Günther, Alpine Quergänge, S. 196f. Die Diskussion eskaliert nach der Jahrhundertwende förmlich, als konservative Alpinisten den gefahrensuchenden »Extremen« und ihren Texten, welche die Gefahren entsprechend schilderten, »peinlichste Gefühlsseziererei«, Hysterie und sogar »schwächliche[n] Feminismus« vorwarfen (vgl. Enzensperger, Ernst: »Der neue alpine Stil. Eine Kritik zu E. Königs ›Empor‹«, in: Mitteilungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins 33 [1907], S. 16-18); darauf antwortete wiederum Lammer (Lammer, Eugen Guido: »Von alpiner Tat und alpinem Stil. Entgegnung«, ebd., S. 47-48), dieser Vorwurf sei lächerlich und das Gefahrenbergsteigen bringe Texte hervor, in denen man die »komprimierteste Mannestat vor Augen« habe und gerade keine feminisierte »Gefühlsseziererei« (S. 48). Vgl. zur Frage der Geschlechtergeschichte des Alpinismus neben Günther, Alpine Quergänge, besonders zur Entwicklung in der Schweiz auch: Wirz, Tanja: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz, Baden: Hier+Jetzt. Verlag für Kultur und Geschichte 2007.
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des Naturerhabenen sie vorsah, keineswegs auf: Ihr Ziel ist eine »kämpferische«, »körperliche« Bewährung des Selbst in der Natur – als Gegenraum einer Kultur, die derartige Bewährungen scheinbar überflüssig gemacht hatte.
IV Im letztgenannten Beispiel finden sich aber Spuren einer mit dem Hochgebirge verbundenen Naturvorstellung, die es noch in anderer Weise als Gegenraum37 der Moderne profiliert: Die Hochtouristen, so Niedermayr, bewegen sich im »Allerheiligsten der Natur«. Eine entsprechende Semantik, beispielsweise die Rede von den höchsten Gipfeln und unzugänglichsten Wänden als »Tempel«38 der Natur, findet sich in entsprechenden Texten ebenso häufig wie andere, traditionelle Formen der rhetorischen Sakralisierung, beispielsweise das Erscheinen von scheinbar schwebenden Berggipfeln über »Nebelmeeren« (in Anlehnung an das berühmte Gemälde Caspar David Friedrichs) oder die, als Topos der Landschaftsbeschreibung gängige, Ekphrasis eines aus Wolken hervorbrechenden und dadurch gerahmten Bildes von Alpengipfeln.39 Man könnte sich fragen, ob sich daran in einer Art Intensivierung traditioneller Konzepte des Naturerhabenen auch eine parareligiöse Dimension der alpinistischen Praxis in der säkularen Moderne zeigt, oder zumindest eine Kompensationsform »transzendentaler Obdachlosigkeit« (Georg Lukács). Jedenfalls aber führt diese sakrale Codierung zur Frage nach der grundsätzlichen Wahrnehmung 37 | Vgl. zu einer grundsätzlichen Diskussion des Gegenwelt-Konzepts von Natur den Band von Großklaus, Götz/Oldemeyer, Ernst (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe: Loeper 1983; ferner zum Gebirgsraum Großklaus, Götz: »Der Berg- und Alpen-Mythos: Utopischer Ort – ›Schöne Aussicht‹ – Leerer Raum«, in: ders.: Natur – Raum: von der Utopie zur Simulation, München: Iudicium 1993, S. 97-118. 38 | Vgl. das obige Zitat von Hermann von Barth, der mitteilt, nur dem Alleingänger in den Bergen öffne »sich das Allerheiligste ihres Tempels« (von Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen, S. 12). 39 | Auf diese Weise erblickt beispielsweise der Held des Bergsteigerromans Excelsior! von Georg von Ompteda schon als Jüngling erstmals das Matterhorn: »Die Wolken taten sich auf von der dunklen Erde bis hinan in des Himmels stahlblaue Pracht. Mitten darin, umrahmt von Schleiern und Dünsten, leuchtete es, gleich der Herrlichkeit des ersten Tages. Da stand über dem Tal auf einem Sockel grüner Matten und schwarzen Gesteins, von gleißenden, erstarrten Strömen Eises umflossen, ein Wundergebilde sondergleichen, eine Felsensäule, furchtbar gewaltig, ein Obelisk mit steilen, grauenvollen Flanken, weiß bestäubt von neuem Schnee dieser letzten bösen Tage, ein Berg, schreckhaft fast, unwahrscheinlich und herrlich doch in einem, unsäglich wunderbar! Stand ganz allein empor sich reckend in den Himmel: das Matterhorn!« (Ompteda, Georg Freiherr von: Excelsior! Ein Bergsteigerleben, Berlin 1909, S. 9).
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des Alpinen in der Moderne zurück – und auch zum eingangs genannten Text von Georg Simmel. Denn bei aller kritischen Distanz zum touristischen Großbetrieb und den alpinistischen Selbststilisierungen ist das Hochgebirge auch für Simmel immerhin mit dem Index des Transzendenten versehen: Je ruheloser, ungewisser, gegensatzreicher das moderne Dasein wird, desto leidenschaftlicher verlangt uns nach Höhen, die jenseits unseres Guten und Bösen stehen, zu denen wir aufsehen, die wir sonst das Emporblicken verlernt haben. Ich wüßte nichts in der sichtbaren Natur, was so den Charakter irischer Ueberirdischheit [sic!] trüge, als die Firnschneelandschaft, nichts, was schon in Farbe und Form so sehr die »Höhe« zum Ausdruck brächte. Wer dies einmal genossen, der sehnt sich darnach, wie nach der Erlösung, nach dem, was schlechthin anders ist, als das Ich mit seinen trüben Unruhen und norddeutschen Tiefebenen, und woran die Qual des Willens Halt macht. 40
Auf andere Weise als bei den Extremalpinisten, doch ebenso deutlich wird das Hochgebirge auch bei Simmel ein Gegenraum der Moderne und moderner Immanenz. Einige Jahre später widmete er der Frage der Ästhetik der Alpen noch einmal einen eigenen, großen Essay,41 der den überwältigenden Eindruck des Hochgebirges auch systematisch zu fassen sucht. Neben dem Gegensatz von Formenchaos und materieller Schwere, das bildlich nicht zu repräsentieren sei (weshalb der ästhetische Eindruck des Gebirges für Simmel an die Autopsie gebunden bleibt), ist auch hier die Dimension des Transzendenzen grundlegend: Andrerseits aber sind die übergroß aufsteigenden Felsen, die durchsichtigen und schimmernden Eishänge, der Schnee der Gipfel, der keine Beziehung mehr zu den Niederungen der Erde hat – alles dies sind Symbole des Transzendenten, den seelischen Blick aufführend, wo über dem mit höchster Gefahr noch Erreichbaren das liegt, zu dem keine bloße Willenskraft mehr hinauflangt. 42
Diese symbolische Qualität erweist sich auch hier gerade vor der Kontrastfolie der alpinistischen Praxis, welche die Natur »mit höchster Gefahr« zu »erobern« sucht; sie ist wieder eine Qualität reiner Anschauung. Zudem liegt diese Qualität für Sim-
40 | Simmel: »Alpenreisen«, S. 94. Der Nietzsche-Bezug im Zitat ist unübersehbar; wie man überhaupt Nietzsche als Stichwortgeber der Alpenwahrnehmung um 1900 in vielen Texten nachweisen könnte. Vgl. die anregende Studie von Hüser, Andreas: Wo selbst die Wege nachdenklich werden. Friedrich Nietzsche und der Berg, Zürich: Rotpunktverlag 2003. 41 | Simmel, Georg: »Die Alpen« [1911], in: ders.: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (= Gesamtausgabe Bd. 14), hg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 296-303. 42 | Ebd., S. 298.
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mel nicht mehr im hochalpinen Raum als solchem, sondern eigentlich nur in der »reinen« Firnlandschaft: An den Felsen spüren wir noch irgendwie die entgegengesetzt gerichteten Kräfte: die aufbauenden, die das Ganze gehoben haben, und die zernagenden, wegspülenden, abwärtsrollenden […]. Die Firnlandschaft aber läßt kein Spiel dynamischer Faktoren mehr fühlbar werden. Was von unten her aufgebaut ist, ist durch den Schnee- und Eisbezug völlig überdeckt. Das Zustandekommen der Form durch Schneefall, Abschmelzen, Gletscherbildung ist an der zustandegekommenen nicht mehr zu empfinden. […] Das Firnrevier ist sozusagen die absolut »unhistorische« Landschaft; hier, wo nicht einmal Sommer und Winter das Bild wandeln, sind die Assoziationen mit dem werdenden und vergehenden Menschenschicksal abgebrochen, die alle anderen Landschaften in irgendeinem Maße begleiten. 43
Die Faszination der Hochgebirgslandschaft, wie Simmel sie schildert, resultiert damit aus einer doppelten Opposition: Absolut »unhistorisch«, veränderungslos, also ewig (Simmel nennt das Wort freilich nicht in Bezug auf die Alpen) steht sie in diametralem Gegensatz zur Zeiterfahrung der Moderne, der Beschleunigungserfahrung kultureller, technischer, sozialer und historischer Umwälzungen. In ebenso großem Gegensatz steht sie jedoch zu den traditionellen Bildern der Alpenlandschaft selbst, in der diese »Firnregion« zwar als »ewiger Schnee« auf den Gipfeln präsent ist, gerade das Ensemble von Wäldern, Wiesen, Matten, Felsen und Firn aber die Harmonie der Naturerfahrung zu gewährleisten schien.44 Auch Simmels ästhetische Faszination gilt somit keiner natürlichen Idylle mehr, sondern im Gegenteil einer eigentlich leeren, ja im Wortsinn leblosen Natur: Nur insofern sie Abstand vom Leben besitzt und mit Leben im eigentlichsten Sinn unverbunden ist, kann die Region von Eis und Firn als »Anderes« dieses Lebens auch eine »Erlösung« von diesem bedeuten.
43 | Ebd., S. 300f. 44 | Simmel macht dies selbst explizit: »Wenn der Talboden völlig verschwunden ist, stellt sich die reine Beziehung nach oben her, d.h. wir sind nicht mehr relativ sondern schlechthin ›hoch‹, nicht mehr soundso viele Meter über einem Tieferen. Die mystische Erhabenheit dieses Eindrucks ist darum mit dem, was als die ›schöne‹ Alpenlandschaft gilt, gar nicht zu vergleichen: in der die Schneeberge nur als Krönung einer niederen, leichtlebigen Landschaft mit Wald und Matten, Tälern und Hütten dienen, in deren Heiterkeit sie hineingezogen sind. Erst wenn man dies alles hinter sich gelassen hat, ist das prinzipiell, das metaphysisch Neue gewonnen: eine absolute Höhe, ohne die dazu gehörige Tiefe […]. Dies ist die Paradoxe des Hochgebirges« (ebd., S. 302f.).
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V Spuren dieses heterogenen Spektrums von modernen »Natur«-Vorstellungen, die mit den Alpen verbunden sind, lassen sich außer in solchen essayistischen und vielen alpinistischen Texten, die zudem seit der Jahrhundertwende immer häufiger mit fotografischen Repräsentationen des Gebirgsraums verbunden sind, schließlich auch in literarischen Texten finden.45 Als signifikantes Beispiel hierfür soll abschließend eine kurze Erzählung Hermann Hesses mit dem Titel Der geheimnisvolle Berg skizziert werden, die erstmals 1910 im Simplicissimus erschien.46 Sie bietet sich an, da Hesse, der ein begeisterter Skifahrer war und, nachdem er 1907 auf dem Monte Verità den »Naturpropheten« Gusto Gräser kennengelernt hatte, sich auch in der eigentümlichen Praxis des Nacktkletterns versuchte,47 aufgrund seines Höhenschwindels zwar nie sehr hohe Berge bestieg, diese Erzählung jedoch eine konkret alpinistische Dimension besitzt. Ihr Beginn beschreibt indessen den titelgebenden »geheimnisvollen« Berg in charakteristischer Differenz zu den alpinistischen und touristischen Stereotypen, nämlich als einen Naturraum im Abseits: Der Monte Giallo stand inmitten eines Kreises von schönen und berühmten Bergen wenig bekannt und ungeliebt. Er galt für unbesteiglich, doch reizte das niemanden, da ringsum Dutzende von leichten, schweren und ganz schweren Gipfeln standen. Man hatte ihn von jeher vernachlässigt, sein Name war nur in der nächsten Umgebung bekannt, die Zugänge waren weit und mühsam, der Aufstieg und auch die Aussicht wenig lohnend. Dafür war er durch Steinschläge, schlimme Windecken, schlechte Schneeverhältnisse und brüchiges Gestein in einen üblen Ruf gekommen. So stand er zwischen seinen berühmten Brüdern un45 | Vgl. für eine umfassende Untersuchung meine im kommenden Jahr erscheinende Studie Poetiken der Höhe. Der alpine Diskurs und die deutschsprachige Literatur der Moderne, vorauss. München 2014. 46 | Hesse, Hermann: »Der geheimnisvolle Berg«, in: ders.: Sämtliche Werke in 20 Bänden, hg. von Volker Michels, Bd. 9, Die Märchen. Legenden. Übertragungen. Dramatisches. Idyllen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 33-41. Vgl. Hesse, Hermann: »Der Monte Giallo«, in: Simplicissimus 15 (1910), S. 125, 131, 135; der Text, den Hesse auch bei Lesungen häufig vortrug, erschien erneut 1913 in den Basler Nachrichten (Sonntagsblatt), 8 (1913), S. 65-66, ferner – unter verschiedenen Titeln (»Der Berg«, »Der geheimnisvolle Berg«, »Der umworbene Berg«, »Cesco und der Berg«, »Der Sonderling«) und leicht verändert in verschiedenen Zeitungen. Vgl. zur Druckgeschichte: Mileck, Joseph: Hermann Hesse. Biography and Bibliography, Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1977, S. 317f. 47 | Die recht bekannten Fotos, die Hesse dabei zeigen, entstanden allerdings erst im Jahr 1910; vgl. zu seinen Klettererfahrungen: Hesse, Hermann: »In den Felsen. Notizen eines ›Naturmenschen‹«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 314-320. Vgl. hierzu und zu einigen weiteren Texten Hesses auch Zopfi, Emil: Dichter am Berg. Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich: AS Verlag 2009, S. 56-75.
Im »Allerheiligsten der Natur« geschätzt und vergessen da, als ein ruppiger und langweiliger Steinhaufen ohne Schönheit und Anziehungskraft. Er blieb ohne Ruhm und Ehren, aber er blieb auch von Weganlagen, Hüttenbauten, Drahtseilen und Zahnradbahnprojekten verschont. An seinem südlichen Fuße gab es wohl einige Weiden und Sennhütten, an Touren oder gar an eine Besteigung war aber von dieser Seite aus nicht zu denken. Dort zog sich durch die ganze Bergseite in halber Höhe eine lange, senkrechte Wand von brüchigem Gestein, das im Sommer braungelb schimmerte und dem der Berg auch seinen Namen verdankte. 48
Schon der wenig einladende Name des Bergs scheint einen Kontrast zum »Montblanc« als dem Muster »schöner und berühmter« Berge zu bilden; mangels Schönheit oder alpinistischer Reize ist er unbeliebt, eben deshalb aber auch ein letztes Relikt unerschlossenen Gebirges. Der Protagonist, der diesem im Text stark anthropomorphisierten Berg49 gegenübertritt, ist nun der Sohn eines Uhrmachers aus einem nahegelegenen Dorf namens Cesco Biondi50, ein »leidenschaftlicher, aber ungeselliger junger Mensch«, den zumal die Mädchen des Dorfs nicht dauerhaft fesseln können und der darum »stolz und launisch«51 in den Bergen herumstreift und dabei den unberührten Berg für sich entdeckt. Doch aus einem »halbvertraulichen Verhältnis« entwickelt sich nach und nach ein »Kampf« mit dem Berg, den Cesco schließlich auskundschaftet, »um ihn eines Tages anzugreifen und zu unterwerfen«.52 Nachdem er bei einem ersten Besteigungsversuch schon abstürzt und sich verletzt, erneuert er im Folgejahr den Versuch mit einem Begleiter, und diesmal scheint er einen Weg zu finden. Frohlockend betrat er den schmalen Steig und ging behend und leicht wie eine Ziege voraus. Aber er war noch nicht oben. Die Wand machte eine Biegung; und im Augenblick, da Cesco um die Krümme [sic!] schritt, fuhr ihm von jenseits unerwartet ein heftiger Sturmwind entgegen. Er wandte das Gesicht ab, griff nach seinem wegfliegenden Hut, tat einen winzigen Fehltritt und verschwand vor den Augen des Kameraden plötzlich in die mächtige Tiefe. 53 48 | Hesse: »Der geheimnisvolle Berg«, S. 33. 49 | »Er [sc. der Berg] verharrte jedoch gleichmütig in seiner wilden Verlassenheit, sah der Beliebtheit seiner Nachbarn ungereizt und schweigend zu und meinte es mit niemandem böse. Er hatte genug anderes zu tun. Der Kampf mit dem Sturm und dem Wasser, das Offenhalten der Steinrinnen und der Bäche, im Frühjahr das Hinwegschaffen des Schnees, das Lawinenrollen, das kümmerliche Pflegen der verzagten Arven und Legföhrne und das Beschützen der sorglosen, lachenden Blumenpracht, das ließ ihn nicht zu Gedanken kommen« (ebd.). 50 | Symbolistisch werden Berg und Mensch über Farben (Biondi – Giallo) aufeinander bezogen; ob im »Gelben« zudem eine Symbolisierung von Neid/Kampf gesehen werden kann, ist allein aus der Erzählung nicht auszumachen. 51 | Ebd., S. 34. 52 | Ebd., S. 36f. 53 | (EG6
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Die Rettungsversuche des Begleiters sind vergebens; Cesco Biondi liegt mit gebrochenen Beinen und Rippen am Fuß der Wand. Die abschließenden Passagen des Textes erzählen vom Sterben des Helden, der sich an sein Leben erinnert und dem plötzlich seine frühere Liebe zu dem Berg wieder einfällt: Unter Schmerzen wendete er den Kopf und schaute umher und in die Höhe, und der Berg sah ihm ruhig in die Augen. Cesco sah den alten Gesellen an, der in der Abenddämmerung geheimnisvoll und traurig stand, mit verwitterten und zerwühlten Flanken, uralt und müde, in seiner kurzen Sommerrast zwischen den brausenden Todeskämpfen des Frühjahrs und den Schneewettern des Herbstes. Die Nacht kam, und in den Höhen dämmerte ein blasses Licht hinsterbend fort, eine ungeheure Fremde und Einsamkeit lag auf der steinernen Einöde. 54
Sterbend nimmt der Bergsteiger zum ersten Mal etwas von der »Einsamkeit und traurigen Würde« des Berges selbst wahr, er fühlt sich selbst nicht mehr »völlig einsam«, und ist schließlich nicht mehr widersetzlich, sondern »mit seinem Sterben seltsam einverstanden«.55 Sein Leichnam wird nicht gefunden, und am Ende kommentiert der Erzähler: »Aber er ruhte im Gestein des Berges nicht schlechter und vollzog die Gebote der Notwendigkeit nicht anders, als wenn er nach einem langen und fröhlichen Leben im Schatten der heimatlichen Kirche begraben worden wäre.«56 Man kann dieses Ende des Textes wohl als Ausdruck monistischer Lebensphilosophie betrachten,57 als Inszenierung der Aufhebung von Welt- und Naturentfremdung durch das »Eingehen« des sterbenden Protagonisten in die »Natur«; und ebenso wäre die Anthropomorphisierung des Berges wohl ein Äquivalent der Vorstellung, dass die Natur per se nicht ein Außen des Menschen, sondern innerlich, wenngleich der modernen Rationalität verborgen, mit ihm verbunden ist. In dieser Perspektive werden nun allerdings auch alle Stereotypen alpinistischer Gebirgswahrnehmung negiert – der Monte Giallo ist »ein ruppiger und langweiliger Steinhaufen ohne Schönheit und Anziehungskraft«58; die Metaphorisierung des Bergs als »Gegner« erscheint als interne, am Ende überwundene Perspektive des Helden; und gerade der »Kampf« mit dem Berg, den er aufnimmt, bringt ihm das Verhängnis. Man kann die Geschichte, nimmt man die Mehrdeutigkeit des Wortes »Fehltritt« ernst, sogar vor der Folie der biblischen Sündenfall-Erzählung 54 | Ebd., S. 39. 55 | Ebd., S. 40. 56 | Ebd. 57 | Vgl. zum Monismus um 1900 Fick, Monika: Sinnstiftung durch Sinnlichkeit. Monistisches Denken um 1900, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs und Manfred Koch, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1998, S. 69-83. 58 | Hesse: »Der geheimnisvolle Berg«, S. 33.
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kontrafaktorisch als Rückkehr in eine paradiesische Einheit mit der Natur durch den »Fall« lesen. Die größte Abweichung von traditionellen Naturkonzepten (nicht nur) alpinistischer Prosa aber inszeniert die Erzählung im Sterben des Helden: Hier ist es nicht der panoramatische Blick vom Gipfel, der zur Introspektion und Erinnerung der eigenen Geschichte führt und konstitutiv für das Subjekt wird, sondern der Blick im Sterben hinauf in die »Einöde« der Höhen und ihre »ungeheure Fremde und Einsamkeit«, über der – auch hier nur blasse Spur religiöser Konnotation – ein »blasses Licht« liegt. Konsequent ist daher, dass nicht die Bergung der Leiche und ein Beerdigungsritual am Ende des Textes steht, sondern das Eingehen in die Ordnung der »Natur« selbst: Dorf und Kirche sind in Hesses Erzählung ebenso wie alpine Ästhetik und der Alpinismus Teil jener Entfremdung des modernen Subjekts von der Natur, aus der Cesco Biondi in seinem Sterben »erlöst« wird. Deutlich ist indessen auch, dass diese Erlösung ebenso wie dieser erlöschende Blick nicht bildlich repräsentierbar, sondern allenfalls literarisch, als modernes Märchen, erzählbar ist.
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Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der deutschen Heimatschutzbewegung Eine ökokritische Perspektive Adam Paulsen Seit der Entstehung der modernen Umweltbewegung in den späten 1960er Jahren gelten Ortskenntnisse als Vorbedingung für nachhaltiges Wirtschaften. »Kennt man den Geist des Ortes«, so der US-amerikanische Ökoideologe und Dichter Gary Snyder in einem vielzitierten Manifest des Bioregionalismus, »begreift man, dass man ein Teil eines Teils, und dass das Ganze aus Teilen zusammengesetzt ist, von denen wiederum jeder für sich ganz ist«.1 Und das bedeutet für Snyder zugleich auch: Ohne ein detailliertes Wissen von dem komplexen Ökosystem, aus dem sich unsere Lebenswelt zusammensetzt, fehlt uns der unmittelbare Antrieb, schonend mit der Natur umzugehen, was letzten Endes katastrophale Folgen für unsere gemeinsame Lebensgrundlage haben wird. Je mehr Wissen wir von der Bioregion haben, in der wir leben, umso mehr werden wir uns daher um unsere Heimat kümmern – und was sich im Kleinen vollzieht, wird sich auch, so jedenfalls die Vermutung, im Großen auswirken und damit zur Herausbildung eines globalen oder planetarischen Umweltethos beitragen. In den letzten Jahren ist diese Ethik der Nähe (»Ethic of Proximity«), die vor allem in der Ökokritik angloamerikanischer Prägung weit verbreitet ist, jedoch zunehmend ins Visier einer neuen Generation von Ökokritikern geraten. Kritisiert werden insbesondere die offenkundige Diskrepanz zwischen der romantischexklusiven Bindung an die Heimat, die sich der Ökokritik mit ihrer Ortsversessenheit (»small ist beautiful«) verschrieben hat, und der grenzüberschreitenden, globalen Ausrichtung der schweren Umweltprobleme.2 Ferner wird darauf hinge1 | Snyder, Gary: Lektionen der Wildnis, aus dem Englischen von H. Blume, Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 56. 2 | Vgl. Garrard, Greg: Ecocriticism, 2. Ausg., London/New York: Routledge 2012, S. 183199.
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wiesen, dass die Annahme einer authentischen Verbindung von Ort und Identität, die der Ethik der Nähe zugrunde liegt, völlig ignoriert, dass die Welt nicht aus partikulären, deutlich abgegrenzten Kulturen besteht. Während die mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse der Deterritorialisierung in anderen Bereichen der Kultur- und Sozialwissenschaften längst in die einschlägige Theoriebildung eingearbeitet sind, hält die Ökokritik, so beispielsweise die Literaturwissenschaftlerin Ursula K. Heise, immer noch an der veralteten Vorstellung einer einheitlichen, ortsgebundenen kulturellen Identität fest.3 Für Heise und andere Kritiker wird die Ökokritik daher erst dann ihre Relevanz wiedergewinnen können, wenn sie sich in viel höherem Grade als bisher dem globalisierungstheoretischen Diskurs öffnet und die ortsgebundene Perspektive mit einem »Öko-Kosmopolitismus« ersetzt, der die Biossphäre als planetarische Einheit begreift. Die aktuelle Diskussion über das Verhältnis des Heimatlich-Lokalen und des Planetarisch-Globalen ist freilich nicht so neu, wie es den Anschein hat. Aus einer historischen Perspektive wird vielmehr deutlich, dass wir es hier mit einem Problem zu tun haben, das im ökologischen Zeitalter stets präsent war und immer neu verhandelt wurde – im spirituellen »One World«-Idealismus der 1970er Jahre ebenso wie in den desillusionierten Antiglobalisierungsbewegungen der Gegenwart. Wie heute stand auch vor 40 Jahren die Frage im Mittelpunkt, ob der Weg zu einer besseren bzw. grüneren Welt eine spezifische Ortsverbundenheit und ein ausgeprägtes Heimatsgefühl voraussetzt oder ob solche lokalen Bindungen vielmehr eine gefährliche Begrenzung der notwendigen globalen Perspektive darstellen – und aller Wahrscheinlichkeit nach gehört sie nicht zu den Fragen, die sich ein für alle Mal beantworten lassen. Zum einen werden auch in aufgeklärten lokalen Gemeinschaften manchmal Entscheidungen getroffen, die aus der Sicht der Umwelt fatal sind und den »Geist des Ortes« unbeachtet lassen, zum anderen sollte man nicht einfach davon ausgehen, dass globale Netzwerke und hybride Identitäten jede Verbindung zwischen Ort und Kultur ersetzen können. Noch immer verbringt die große Mehrheit der Menschen den Hauptteil ihres Lebens innerhalb eines begrenzten geographischen Raumes, der ihren Erfahrungshorizont emotional färbt. Wenn Heise im Anschluss an die Risiko- und Globalisierungstheorie Ulrich Becks behauptet, Klimaveränderungen und Rückgänge der Artenvielfalt ließen sich nicht mehr sinnvoll in lokale Handlungsimperative zurückübersetzen, bleibt sie wenigstens eine Antwort darauf schuldig, wie ihre Vision des »Öko-Kosmopolitismus« je den sinnlichen Erfahrungsraum unserer Lebenswelt ersetzten kann, der für weite Teile der Menschheit prägend ist. Wie verführerisch der »Öko-Kosmopolitismus« auch sein mag – das Problem des Engagements und der Begeisterungsfähigkeit scheint er genauso wenig lösen zu können wie Kants Vorstellung eines Weltfriedens, Habermas’ Verfassungspatriotismus oder andere wohlmeinenden »Globalismen«. Mit dem einseitigen Fokus auf die nichterfahrungsbasierte Aneignung von 3 | Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 42-43.
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
Wissen sowie mit der Hoffnung auf eine primär rational begründete Einwirkung der globalen Netzwerke auf unser Alltagsleben im Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Technologie, der Kultur, der Gesellschaft und der Ökologie wird er aller Wahrscheinlichkeit nach nur professionelle Klima-Diplomaten oder bereits überzeugte NGOs ansprechen. Sinnvoller wäre es daher, die beiden ökokritischen Strategien – d.h. die lokale bzw. regionale »Bottom-up« und die globale »Top-down« – als Pole im dynamischen »Ensemble von Spannungsszenarien« zu sehen, die nach dem Umwelthistoriker Joachim Radkau für die ganze »Ära der Ökologie« kennzeichnend ist.4 Ohne die Ökokritik als analytisches Hilfsmittel abzuwerten, würde eine solche Auflockerung bzw. Dynamisierung der Perspektive es ermöglichen, eine Übersetzung von normativen Handlungsstrategien in geschichtliche Positionen vorzunehmen, die dazu beitragen kann, die bis heute offene Frage nach dem Verhältnis des Lokalen zum Globalen auf einer empirischen Grundlage neu zu stellen und so die historischen Erfahrungen für die Herausforderungen der aktuellen Umweltbewegung nutzbar zu machen. Dies soll im Folgenden am Beispiel eines gut dokumentierten Falles aus der Vorgeschichte der Umweltbewegung versucht werden, der zugleich eine der berühmtesten öffentlichen Kontroversen im späten Kaiserreich darstellt – und zwar die Auseinandersetzung um die Stromschnellen bei Laufenburg, die auch deswegen von Interesse ist, weil sie mit der Gründung des »Bundes Heimatschutz« einhergeht, den man als Vorläufer der späteren grünen Bürgerinitiativen der 1970er Jahre auffassen kann. Nun scheint es freilich auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlich, den Bund Heimatschutz zu den geistigen Voraussetzungen der neuen sozialen Bewegungen zu zählen.5 In der älteren Forschung wurde die Heimatschutzbewegung im Gegenteil fast ausschließlich als eine antimoderne Bewegung verstanden 4 | Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie, München: C.H. Beck 2011, S. 32. – Außer der polaren Spannung zwischen lokal und global weist Radkau auf drei solche wiederkehrenden »Spannungsgeneratoren« hin, die für die Ära der Ökologie typisch sind, und zwar erstens der zwischen der Konzentration auf ein bestimmtes Ziel (die Umweltinitiativen als sogenannte »Ein-Punkt-Bewegungen«) und der immer deutlicher gewordenen Einsicht, dass Umweltprobleme vielfach vernetzt sind; zweitens der zwischen einer anfänglichen charismatischen und spirituellen Dynamik und dem im Prozess der Institutionalisierung sich immer breiter machenden Interesse an Selbsterhaltung; und drittens schließlich der zwischen Konflikt- und Konsensstrategien, zwischen einem Freund-Feind-Denken im Sinne von Carl Schmitt und dem »kommunikativen Handeln« im Sinne von Jürgen Habermas (ebd., S. 35-37). 5 | Wie schon Ulrich Linse festgestellt hat, wurde die ausgesprochene »Geschichtslosigkeit ökologischen Denkens« gewissermaßen durch die Sozialwissenschaften bestätigt, die die vielen Bürgerinitiativen der 1970er Jahre als »neue soziale Bewegungen« verstanden haben (Linse, Ulrich: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München: dtv 1986, S. 10).
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– und dies aus gutem Grund. Nicht nur setzte sich die Heimatbewegung zum großen Teil aus Leuten zusammen, die dem Dunstkreis der Völkischen entstammten und später unter den niedrigen Parteinummern der NSDAP zu finden waren, sondern viele der ursprünglich liberalgesinnten Naturfreunde zeigten sich auch überraschend schnell bereit, sich der in den 1920er Jahren aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen. So trat beispielsweise der Reformarchitekt Paul Schultze-Naumburg, der Mitbegründer und erster Vorsitzender des Bundes Heimatschutz war und bis Anfang der 1920er Jahre noch zum modernen, fortschrittsfreundlichen Flügel der Lebensreformbewegung gehörte, 1930 der Partei bei, nachdem er sich bereits ab Mitte der 1920er Jahre so begeistert zur nationalsozialistischen Bewegung bekannt hatte, dass Opportunismus zumindest nicht die einzige Erklärung sein kann.6 Dessen ungeachtet ist die Einschätzung der Heimatschützer jedoch in den letzten Jahren geradezu auf den Kopf gestellt worden. Nachdem die Heimatschutzbewegung jahrzehntelang im Lichte der späteren Geschehnisse gesehen wurde, als symptomatischer Ausdruck einer geradezu protofaschistischen »Agrarromantik und Großstadtfeindschaft«,7 hat sie in den 1990er Jahren eine erstaunliche Neucodierung durch die amerikanische Umweltgeschichte erfahren. Wurde die Kritik an der hemmungslosen Kolonisierung und Kommerzialisierung der Landschaft, an der Wachstumsideologie und der daraus erfolgten Ausbeutung der Natur als Ware, die sich z.B. wenig um die Verseuchung der Wasserwege scherte, zuvor als pathologischer Ausdruck eines dem Großstadtbürgertum entstammenden Unbehagens an der Moderne sowie des Bedürfnisses nach einem »Kompensationsraum« gedeutet,8 wird jetzt – unter Berufung auf dasselbe Inventarium – darauf hingewiesen, dass die Heimatbewegung eigentlich eine progressive Bewegung gewesen sei, die sehr früh ein grünes Korrektiv zum unerbittlichen Gesetz der freien Märkte formuliert, aber keineswegs die Moderne 6 | Vgl. Knaut, Andreas: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung (= Supplement 1 zum Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege), Greven: Kilda-Verlag 1993, S. 54-62. – Zum Verhältnis von Heimatschutz und Nationalsozialismus siehe auch Uekötter, Frank: The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi-Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2006, und Lekan, Thomas: Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge/London: Harvard University Press 2004, S. 153-252. Zur Heimatschutzbewegung im breiteren Kontext der zivilisationskritischen Moderne vgl. auch Rohkrämer, Thomas: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1999, hier insbesondere S. 117-217. 7 | Vgl. Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft (= Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft), Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain 1970. Bergmanns Buch galt lange als das Standardwerk schlechthin zur Heimatschutzbewegung. 8 | Cremer, Will/Klein, Ansgar: »Heimat in der Moderne«, in: dies. (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (= Diskussionsbeiträge zur politischen Didaktik, Bd. 294/I), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, S. 35.
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als solche abgelehnt habe.9 Aus dieser Perspektive scheint die Heimatschutzbewegung eine viel realistischere und differenziertere Sicht auf die Industrialisierung und ihre Folgen gehabt zu haben, als es bei ihren Kritikern der Fall gewesen ist, deren einseitige und viel zu optimistische Einschätzung der technisch-rationalen Rationalität und deren blinder Glaube an die Funktionsfähigkeit der Märkte im Gegenteil von einer unglaublichen Naivität zeugen. Dass diese Umwertung hauptsächlich der amerikanischen Umweltgeschichte zu verdanken ist, lässt sich wahrscheinlich zum Teil institutionell durch die an den dortigen Hochschulen weit verbreiteten Environmental Studies erklären. Doch hinzu kommt zweifellos auch, dass die amerikanische Ökobewegung ungenierter mit den in Deutschland kontaminierten Begriffen Boden, Heimat und Volk umgehen konnte.10 So könnte man konsequenterweise fast den Eindruck bekommen, als sei die Heimatschutzbewegung in ihren Anfängen eine eindeutig moderne und lobenswerte Erscheinung gewesen, deren Ruf erst durch die spätere Korrumpierung vieler ihrer Mitglieder zerstört worden sei. Doch auch dies wäre sicherlich voreilig. In der Realität handelt es sich vielmehr um eine durchaus inhomogene Bewegung, die zwar als Reaktion auf das ungezügelte Verheeren der modernen Fortschritts- und Wachstumsideologie entstanden ist, aber darüber hinaus in viele, zum Teil sehr unterschiedliche Richtungen weist. Um die ganze Komplexität der Laufenburger-Kontroverse zu begreifen, soll zunächst einmal dieser paradoxe Hintergrund der deutschen Heimat- und Naturschutzbewegung und im engeren Sinne der Gründung des Bundes Heimatschutz, Zentralverband des deutschen Heimatschutzes, dargestellt werden.
D IE DEUTSCHE H EIMATSCHUT ZBE WEGUNG Der Bund Heimatschutz wurde 1904 mit dem Zweck gegründet, eine gemeinsame Plattform für die vielen lokalen Heimatvereine zu schaffen, die seit Anfang der 1870er Jahre überall im Kaiserreich emporgeschossen waren, und ist unlösbar 9 | Vgl. Rollins, William H.: A Greener Vision of Home. Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement, 1904-1918, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1997, S. 11-26. 10 | Die weitgehend unkritische Heidegger-Rezeption in der angloamerikanischen Eco Criticism ist dafür ein gutes Beispiel, wenn sich auch mittlerweile dazu einige kritische Stellungnahmen finden (siehe z.B. Garrard, Greg: »Heidegger Nazism Ecocriticism«, in: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 17.2 [2010], S. 251-271). Signifikant scheint mir in diesem Zusammenhang das wiederholte Bedürfnis des Wahlamerikaners Hans Ulrich Gumbrecht, sich für seine affirmative Heidegger-Lektüre zu rechtfertigen, wie es z.B. in der Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe seines Präsenz-Buches zum Ausdruck kommt (Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 13).
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mit dem Namen Ernst Rudorff verbunden. Der Musikprofessor aus Berlin hatte bereits 1880 einen Artikel veröffentlicht, in dem er aufs schärfste mit einer »mehr und mehr ausschließlichen Herrschaft realistischer Lebensauffassung« ins Gericht ging,11 welche seiner Meinung nach die Poesie der Landschaft zerstöre und nur einen Maßstab kenne, nämlich den des Geldes und der materiellen Werte. Von Hause aus konservativ hegte er eine große Liebe zur deutschen Romantik und stand entsprechend dem Geist der Gründerzeit verständnislos gegenüber. Die Prozesse der Urbanisierung und der Massenabwanderung vom Land in die Stadt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren ihm aber nicht nur unverständlich, sondern schlechthin unakzeptabel. Er machte sich deswegen dafür stark, »daß man der Landbevölkerung das Land nicht verleidet, daß man vorzüglich die Aermeren nicht verführt, ihr Heil in der großen Stadt zu suchen«12 . Auch wenn in dieser und ähnlichen Formulierungen eine Abneigung gegen den vierten Stand durchscheint und bei Rudorff wohl auch eine gewisse Angst vor ihm vorlag, war seine Kritik nicht ausschließlich von Standesinteressen bestimmt. Rudorff wandte sich vielmehr gegen die Homogenisierungsprozesse, die im Laufe seiner eigenen Lebenszeit jeder Stadt und Gegend ihre Eigenart geraubt hätten. In den Städten hätten demnach Werbeplakate, Telefon- und Elektrizitätsleitungen sowie billige historistische Effekthascherei und andere moderne Fremdkörper den Raum kolonisiert und jahrhundertalte Bautraditionen verdrängt. Und noch schlimmer stellte sich aus seiner Perspektive die Situation auf dem Lande dar, wo Monokulturen, Verkoppelungen, die Einebnung von Hecken und Flurgrenzen, Begradigungen von Wasserläufen und Eisenbahnen, die die Landschaften kreuz und quer durchzogen, in wenigen Generationen das ganze Land in einen eintönigen, geometrisch aufgeteilten Raum umgewandelt hätten – ja, selbst die letzten Oasen, die davon unberührt geblieben waren, würden, wie Rudorff mit Empörung feststellen musste, inzwischen durch Massentourismus und Werbungen verunstaltet. Facettenreicher als diese unversöhnliche Ablehnung der industriellen Moderne war hingegen sein Hinweis auf das scheinbare Paradox, dass die moderne Welt einerseits einen geradezu gnadenlosen Umgang mit der Natur praktiziere, die bis zum letzten Tropfen ausgebeutet wurde, andererseits aber einen neuen Naturkult hervorgebracht habe, der genauso kompromisslos die authentische, wilde Landschaft verehre.13 Beides war ihm, daraus machte er machte kein Hehl, zuwider, und beides sollte entsprechend bekämpft werden, ehe es zu spät sei. Erst nach jahrzehntelangem erfolglosem Werben gelang es ihm jedoch kurz nach der Jahrhundertwende, genug Gesinnungsgenossen für die Gründung einer überregionalen Dachorganisation zum Schutz der Heimat zu gewinnen, und im März 1904 wurde der
11 | Rudorff, Ernst: »Ueber das Verhältniß des modernen Lebens zur Natur«, in: Preussische Jahrbücher 45 (1880), S. 264. 12 | Ebd., S. 272. 13 | Ebd., S. 261-263.
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Bund Heimatschutz endlich ins Leben gerufen.14 Rudorff setzte sich dabei für ein defensives Programm ein, das die besonders schutzwürdigen Landschaften durch Einhegung konservieren wollte. In Einklang mit seinem Wunsch, die arme Landbevölkerung am liebsten in ihren authentischen Ortschaften einzusperren, sah er den Zweck der Naturschutzarbeit hauptsächlich darin, den modernen Naturtourismus von den schutzwürdigen Landschaften fernzuhalten. Bereits während der Gründerversammlung wurde jedoch deutlich, dass Rudorffs romantisch gefärbter Holismus und sein musealer Wunsch nach Konservierung bei weitem nicht von allen geteilt wurde. Zwar herrschte unter den Rednern weitgehend Einigkeit darüber, dass »der Herrschsucht der Industrie« und »[d]er ungehemmten rationellen Ausnutzung des Bodens« Halt geboten werden müssten,15 und in den Satzungen heißt es entsprechend, der Zweck des Bundes bestehe darin, »die deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen«16. Die Mehrheit der Vorstandsmitglieder war allerdings viel pragmatischer eingestellt als Rudorff, und auch wenn er in seiner Eigenschaft als Spiritus Rector allgemein respektiert war, blieb sein Einfluss auf die Arbeit des Bundes doch allem Anschein nach relativ bescheiden. Tonangebend waren vielmehr Leute wie Robert Mielke, Carl Johannes Fuchs, Ferdinand Avenarius und der bereits vorhin erwähnte erste Vorsitzende des Bundes, Paul Schultze-Naumburg, die in entscheidenden Fragen deutlich von Rudorff abwichen.17 Diese Meinungsverschiedenheiten blieben auch in den folgenden Jahren bestehen. Als Rudorff sich beispielsweise in einem 1911 erschienenen Artikel in der von Avenarius herausgegeben Zeitschrift Der Kunstwart wieder einmal über die Zerstörungen des Naturtourismus aufregte,18 wies Avenarius in einer nachgestellten Entgegnung darauf hin, dass Naturschutz vom Wohlwollen und Verständnis sowohl der Politiker als auch der breiteren Bevölkerungsschichten abhängig sei, und dass es schon deswegen nicht sinnvoll sei, das Volk von der Natur auszusperren.19 In dieser Grundsatzfrage waren die unterschiedlichen Auffassungen schlicht unvereinbar. Während Rudorff darauf beharr14 | Zur Geschichte des Bundes Heimatschutz vgl. insbesondere Knaut: Zurück zur Natur, S. 65-207, sowie Schmoll, Friedemann: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich (= Geschichte des Natur- und Umweltschutzes, Bd. 2), Frankfurt a.M./New York: Campus 2004, S. 391-414. 15 | Mielke, Robert: »Bericht über die konstituierende Versammlung. Dresden, 30. März 1904«, in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1/1 (1904), S. 3-4. 16 | Ebd., S. 7. 17 | Siehe z.B. die pragmatischen Programmerklärungen von Friedrich Avenarius (»Heimatschutz«, in: Der Kunstwart XVII/12 [1904], S. 653-657), Paul Schultze-Naumburg (»Aufgaben des Heimatschutzes«, in: Der Kunstwart XXI/2 [1908], S. 221-227) und Robert Mielke (»Heimatschutz und Landesverschönerung«, in: Die Gartenkunst 10 [1908], S. 143145, S. 156-160 u. S. 182-186). 18 | Rudorff, Ernst: »Naturschutzgebiete«, in: Der Kunstwart 24 (1911), S. 235-238. 19 | Ebd., S. 238-239.
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te, die Natur vor dem Menschen zu schützen, was einer Trennung von Mensch und Natur gleichkam, war es Avenarius daran gelegen, die Bande des verfremdeten Kulturmenschen zu seiner natürlichen Umgebung zu stärken. Ebenso groß war die Divergenz in anderen Punkten. Dem Bund Heimatschutz ist oft vorgeworfen worden, eine ausschließlich ästhetische Perspektive auf den Heimat- und Naturschutz zu vertreten, so dass schwerwiegende Problemfelder, deren ästhetischer Reiz eher gering war, entweder in Vergessenheit gerieten oder ganz unbeachtet blieben.20 Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn auch wenn man den Naturschutz der Jahrhundertwende im Ganzen wohl zu Recht anthropozentrisch nennen kann, war Ästhetik bei weitem nicht der einzige Motivationsfaktor. Andere Faktoren wie (öffentliche) Gesundheit, Hygiene, Wirtschaft, Rücksicht auf die nachfolgenden Generationen sowie verschiedene Formen des Antimodernismus haben ebenfalls eine große Rolle gespielt, und dehnt man die Perspektive auf die ganze Lebensreformbewegung aus, häufen sich auch die dezidiert nichtanthropozentrischen Argumente.21 So vertritt beispielsweise der um die Jahrhundertwende vielgelesene Naturfreund und Buddhist Ludwig Ankenbrand die Auffassung, dass Naturschutz sich aus der Achtung vor allem Lebendigen herleite und daher in seiner folgerichtigsten Durchführung den Vegetarismus sowie den »ethischen Pflanzenschutz« umfassen müsse.22 Und noch größer ist die Spannweite bei Ludwig Klages, der in seiner berühmten Abrechnung mit dem Fortschrittsglauben zur Jahrhundertfeier der Freideutschen Jugend 1913 auf dem Hohen Meissner das Bild einer Apokalypse wahrhaft globalen Ausmaßes evoziert, die sich kaum mehr aufhalten lässt: Unter den Vorwänden von »Nutzen«, »wirtschaftlicher Entwicklung«, »Kultur« geht er [der Fortschritt] in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt, gleich dem »Schlachtvieh« zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienste aber
20 | Siehe u.a. Andersen, Arne: »Heimatschutz. Die bürgerliche Naturschutzbewegung«, in: Brüggemeier, Franz-Josef/Rommelspacher, Thomas (Hg.): Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 1989, S. 143-157, und Hermand, Jost: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 82-91. 21 | Vgl. dazu vor allem Dominick, Raymond H.: The Environmental Movement in Germany. Prophets and Pioneers, 1871-1991, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1992, S. 30-41. 22 | Ankenbrand, Ludwig: Naturschutz und Naturschutz-Parke, München: Melchior Kupferschmid o.J. [1911], S. VII.
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft. 23
So verschieden diese beiden Perspektive auch sind, Ankenbrand und Klages stimmen in einem wichtigen Punkt überein: Beide sehen den Hauptgrund für die destruktive Ausbeutung der Natur im Christentum – Klages behauptet sogar, die christliche Ethik habe durch die ganze Geschichte hindurch ihren Hass auf die Natur stets zu verschleiern gewusst, der Sinn sei jedoch immer derselbe gewesen: »daß alles übrige Leben wertlos sei, außer sofern es dem Menschen diene!«24. Kein Zweifel, Gesichtspunkte wie die von Ankenbrand und Klages waren mit der offiziellen Linie des Bundes Heimatschutz nicht vereinbar, hatte er doch als Interessenorganisation kein Interesse daran, sich hinter einer mehr oder weniger unversöhnlichen Religions- und Kulturkritik zu verschanzen. Im breiteren Spektrum der Lebensreform waren solche Gesichtspunkte dagegen nicht ungewöhnlich. In den vielen Landkommunen, die um die Jahrhundertwende emporschossen, ging der Wunsch nach einem Leben in Harmonie mit der Natur oft mit esoterischen Denkstilen und Lebenspraxen fernöstlicher Prägung einher, und je größer die spirituelle Komponente war, umso weniger wurde auf die anthropozentrischen Argumente Wert gelegt – oder, um es noch polemischer zu formulieren, umso mehr wurde gerade der Anthropozentrismus als der eigentliche Grund allen Übels angesehen. Auf einer kategorischen Unterscheidung von anthropozentrischen und nichtanthropozentrischen Motivationen zu bestehen, scheint von daher wenig sinnvoll. Vielmehr sollte man die vielen alternativen Strömungen und Bewegungen der Jahrhundertwende als ein Kontinuum betrachten, innerhalb dessen verschiedenste Bemühungen zur Neuetablierung des Verhältnisses von Mensch und Natur koexistierten und deren vielfältige Erscheinungsformen nicht nur von religiösen oder ideologischen Glaubenswahrheiten abhingen, sondern auch von Interessen, Allianzen und strategischen Überlegungen. Ich stimme daher der Vermutung Rollins zu, dass ästhetisch-kulturelle Argumente auch strategisch eingesetzt wurden, um sich in einer breiteren Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, an 23 | Klages, Ludwig: Mensch und Erde, Stuttgart: Kröner 1956, S. 12. 24 | Ebd., S. 19. – Wie wegweisend Stimmen wie Klages oder Ankenbrand tatsächlich sind, wird erst richtig deutlich, wenn man sich die berühmte Weihnachtsansprache des US-amerikanischen Mediävisten Lynn White aus dem Jahr 1966 vergegenwärtigt, die die »historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise« ebenfalls in der jüdisch-christlichen Tradition aufspürte, weil erst diese den Menschen aus dem »beseelten Ganzen der Natur herausgelöst und ihm die Natur als Objekt der Herrschaft und Ausbeutung gegenübergestellt« habe, wogegen die östlichen Religionen weiser gewesen seien, indem sie »den Menschen als Teil der Natur begriffen« (»The Historical Roots of Our Ecological Crisis«, hier zitiert nach: Radkau: Die Ära der Ökologie, S. 258). Wenn sich die Beatniks, »die wahren Revolutionäre unserer Zeit«, an den östlichen Religionen orientieren, dann zeigen sie, so White, einen »gesunden Instinkt« (ebd.).
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der die spirituellen Argumente genauso wie heute abprallten.25 Vermutlich waren solche strategischen Überlegungen auch von erheblicher Bedeutung, als der neugegründete Bund sich dafür entschied, in seiner ersten öffentlichen Aktion gegen den Bau eines Laufwasserkraftwerkes bei Laufenburg am Oberrhein zwischen Konstanz und Basel zu protestieren, wo der Strom sich zu einem Felsenloch verengte und die besten Bedingungen für die Ausnutzung der Wasserkräfte abgaben.26 Denn hier lag einen Fall vor, der beinahe perfekt dafür geeignet war, die Durchschlagskraft des Bundes in der Öffentlichkeit sowie bei den zuständigen Behörden zu testen. Nicht nur handelte es sich um einen Konflikt grundsätzlichster Art zwischen klassischen bildungsbürgerlichen Werten und dem Ideal des neuen Zeitalters in der Gestalt des Ingenieurs, der die Natur auf eine Formel reduzierte und sich nur für ihren Nutzwert interessierte.27 Die wilde Flusslandschaft mit den tosenden und schäumenden Schnellen, von dramatischen Felsensprüngen überragt, ließ sich auch zu »einem der schönsten Landschaftsbilder Deutschlands, ja der Welt« hochspielen,28 wie es in einer ersten Eingabe an die jeweiligen Entscheidungsträger in Baden und dem Kanton Aargau hieß.
D IE L AUFENBURGER S TROMSCHNELLEN Pläne für die Nutzung der Wasserkräfte bei Laufenburg lagen schon lange vor und hatten bereits für große Aufregung unter den örtlichen Heimatvereinen gesorgt, als der Bund Heimatschutz 1904 auf die Barrikaden stieg und zum Angriff gegen ihre Verwirklichung blies. Die Hauptgestalt in dieser ersten Phase des Widerstan25 | Rollins: A Greener Vision of Home, S. 25f. 26 | Bereits Rolf Peter Sieferle widmete der Aktion eine knappe Darstellung in seinem immer noch lesenswerten Überblick der Technik- und Fortschrittskritik in Deutschland (Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck 1984, S. 168-173). Jedoch erst mit der äußerst wertvollen Rekonstruktion des Geschehens durch Ulrich Linse, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, wurden alle einschlägigen Quellen zur Erschließung der Aktion und seiner politisch-sozialhistorischen Hintergründe gesichtet (Linse, Ulrich: »›Der Raub des Rheingoldes‹. Das Wasserkraftwerk Laufenburg«, in: ders. et al. [Hg.]: Von der Bittschrift zur Platzbesetzung. Konflikte um technische Großprojekte, Berlin/Bonn: Verlag J.H.W. Dietz, Nachf. 1988, S. 11-63, S. 257-264, S. 281-286). Im Anschluss an Linse haben sich A. Knaut und F. Schmoll im Rahmen ihrer jeweiligen Arbeiten zur Natur- und Heimatschutzbewegung im Kaiserreich ebenfalls mit dem Fall beschäftigt (vgl. Knaut: Zurück zur Natur, S. 421-427; Schmoll: Erinnerung an die Natur, S. 416-419). 27 | Linse: »›Der Raub des Rheingoldes‹«, S. 14f. 28 | »Laufenburg« (= Eingabe des Bundes Heimatschutz an den Großherzog von Baden, das Großherzogliche Ministerium und die Regierung des Kantons Aargau), in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1/4-5 (1904/1905), S. 69.
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
des bis hin zur Gründung des Bundes war Ernst Rudorff, der schon seit Ende der 1890er Jahre gegen die Pläne gewettert hatte, deren Verwirklichung »getrost ein Verbrechen an der Menschheit genannt werden dürfte«29. Bezeichnenderweise wurde der weitere Verlauf aber nicht von seinen Gesichtspunkten bestimmt. Rudorff agitierte unermüdlich und unnachgiebig für eine restlose Erhaltung der bedrohten Landschaft, die sich seines Erachtens nicht nur aus dem betroffenen Ausschnitt des Stromes zusammensetze, sondern auch die Mittelalterstadt Laufenburg umfasste, die aus dem schweizerischen Laufenburg und seiner badischen, ebenfalls Laufenburg benannten Schwesterstadt bestand. Von Anfang an schien freilich festzustehen, dass eine solche Lösung nicht in Frage kommen würde, zumal die Ortsansässigen sich schon lange geweigert hatten, die Statistenrolle in einer romantisch-sentimentalen Inszenierung des Ensembles »Landschaft mit Mittelalterkulisse und Burgruine« zu übernehmen. Nachdem die Einwohner Anfang der 1890er Jahre zunächst ihren Widerstand gegen die ersten Pläne für einen Kraftwerksbau bei Laufenburg bekundet hatten, waren sie spätestens um die Jahrhundertwende zu dem Schluss gekommen, dass die Zukunft der Stadt vielmehr vom Wachstum abhing, das sich voraussichtlich mit dem Bau einstellen würde – umso mehr als die Fischerei, die bisherige Haupteinnahmequelle der Stadt, aufgrund der durch Verschmutzung immer schlechter werdenden Wasserqualität des Rheins allmählich zu versiegen begann.30 Als der Bund Heimatschutz auf den Plan trat, herrschte daher bereits weitestgehende Einigkeit unter Ortsansässigen und Konzessionären, und beide Parteien strebten geradezu ungeduldig danach, die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen.31 Der Bund verfolgte von Anfang an eine Doppelstrategie, die teils darauf zielte, in der breiteren Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen, teils darauf, durch Bittschriften und dergleichen direkt auf den Entscheidungsprozess einzuwirken. An der Spitze der Aktion stand der Nationalökonom Carl Johannes Fuchs, der wie Avenarius im Tourismus einen Verbündeten der Naturschutzbewegung sah. Nach einem halbherzigen Versuch, die Einwohner Laufenburgs für eine Lösung zu gewinnen, die aus dem vermeintlich künftigen Ballungsgebiet einen naturschönen Erholungsort machen würde, wurde allerdings ein neuer Kurs eingeschlagen, der auf eine kompromisshafte Versöhnung der »einander widerstrebenden wirtschaftlichen und ästhetischen Interessen« zielte.32 In Verlängerung dieser Strategie wurden dann alle Kräfte eingesetzt, um die Konzessionserteilung aufzuschieben und 29 | Rudorff, Ernst: Heimatschutz, 3. veränd. Aufl., München/Leipzig: Verlag von Georg Müller 1904, S. 42. 30 | Vgl. Linse: »›Der Raub des Rheingoldes‹«, S. 38. 31 | Linse weist darauf hin, dass es zu diesem Zeitpunkt nur zwei Kraftwerksgegner unter den Ortsansässigen gebe (ebd., S. 42). Einer der beiden, Karl Eggemann, äußerte sich in der Folge sehr kritisch über den Kraftwerksbau im Vereinsblatt (vgl. Eggemann, Karl: »Das Ende der Laufenburger Stromschnellen«, in: Heimatschutz 7/2 [1912], S. 77-79). 32 | »Laufenburg« (1904/1905), S. 70.
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ein neues Preisausschreiben unter Ingenieuren zu veranstalten. Nachdem auch dieses Vorhaben scheiterte, entschied man sich letztlich dazu, auf eigene Faust und auf eigene Rechnung neue Gutachten einzuholen und zugleich eine Unterschriftenkampagne anzufangen, die in der Folge u.a. von Max Weber, Werner Sombart, Friedrich Naumann und Ernst Troeltsch unterstützt wurde und in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit nach sich zog.33 Von Rudorff und seinen konservativen Unterstützern abgesehen, die die Laufenburger wohl am liebsten lebenslänglich in einen Kompensationsraum bürgerlich-sentimentaler Sehnsüchte eingesperrt hätten, waren die Hauptgestalten im Bund Heimatschutz also in ihrer Kompromissbereitschaft und ihrem Pragmatismus erstaunlich modern. Und modern war nicht zuletzt ihre Einschätzung der Möglichkeiten einer Vereinigung von Natur und Technik. Während Rudorff daran festhielt, dass die bei Wasserkraftanlagen angelegten Staudämme und Talsperren nie etwas anderes sein können als eine »Verunglimpfung der Natur«, ein Zeugnis von der »kalten unbarmherzigen Gewaltherrschaft des Menschen über die Natur«,34 war die Mehrheit der Mitglieder gegenüber umfassenden Landschaftsumgestaltungen viel differenzierter und aufgeschlossener eingestellt. So sah etwa Schultze-Naumburg nicht nur die modernen technischen Anlagen zur Nutzung der Wasserkräfte als unabdingbare Weiterentwicklung der vorindustriellen Wasser- und Windmühlen, sondern behauptete sogar, dass Schleusen, Wasserstauanlagen, Staudämme, Fabrikanlagen sowie andere menschliche Eingriffe in die Natur die ästhetische Qualität der betroffenen Orte erhöhen könnten – zumindest solange auf die Sonderheiten der Landschaft genügend Rücksicht genommen wurde. Wenn die Wassermühlen und Fabriken der Vorzeit den meisten idyllischer als ihre hässlichen modernen Gegenstücke vorkamen, dann lag dies nach Schultze-Naumburg vor allem darin begründet, dass »frühere Zeiten es eben besser verstanden, ein jedes Ding harmonisch und schön zu gestalten«35. Weder die Größe der Anlagen noch die grundsätzlichen Unterschiede ihrer Aufgaben könnten daher aus seiner Perspektive die Differenz zwischen den malerischen Wassermühlen und den »außerordentlich hässlichen« Industrieanlagen erklären, sondern diese sei ausschließlich auf »die Gestaltungsunfähigkeit unserer Zeit« zurückzuführen.36 33 | Vgl. Schmoll: Erinnerung an die Natur, S. 417. 34 | Rudorff, Ernst: »Zur Talsperrenfrage«, in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1 (1904/1905), S. 178f. 35 | Schultze-Naumburg, Paul: »Kraftanlagen in ihrer ästhetischen Bedeutung, insonderheit der Talsperren«, in: Heimatschutz 1 (1905), S. 72. 36 | Ebd. – Dass Gestaltung dem Architekten Schultze-Naumburg überhaupt viel mehr am Herzen lag als dem Naturschützer Rudorff, liegt auf der Hand. Siehe auch SchultzeNaumburg, Paul: »Kraftanlagen und Talsperren«, in: Der Kunstwart XIX/15 (1906), S. 180186, und das dreibändige Hauptwerk Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen (Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten, Bd. VII-IX, München: Kunstwart-Verlage 1915-1917).
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
Wie aufgeschlossen Schultze-Naumburg und seine Mitstreiter für eine kommerzielle Ausnutzung der Natur im Prinzip auch waren, so sahen sie eine kritische Überprüfung im Einzelfall jedoch für unbedingt erforderlich an – und was Laufenburg betraf, daran herrschte im Bund Heimatschutz kein Zweifel, wiegte die Rücksicht auf das betreffende Landschaftsbild letztlich schwerer als der angebliche wirtschaftliche Gewinn. Man wollte es deswegen nicht beim Mitspracherecht hinsichtlich der äußeren Gestaltung der Wasserkraftanlage bewenden lassen. Der Entschluss des Bundes, für die Rettung der Stromschnellen bei Laufenburg einzutreten, zielte im Gegenteil unmissverständlich darauf, so viel wie möglich vom betreffenden Flussabschnitt zu bewahren. Nach dem misslungenen Versuch, die Behörden zur vorläufigen Einstellung des Projekts zu bewegen, wandte man sich daher an den international führenden Experten im Bereich der Wasserkraftanlagen, den schweizerischen Ingenieur Eduard Locher-Freuler, und beauftragte ihn, den bereits verworfenen Alternativvorschlag einer Tunnellösung, die eine fast vollständige Bewahrung des einmaligen Landschaftsbildes zulassen würde, neu zu durchdenken. Und in der Tat kam Locher-Freuler zu dem Ergebnis, dass eine solche Lösung nicht nur möglich war, sondern bezüglich der jahresdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit sogar vollkommen dem beschlossenen Vorschlag entsprach, was die Gegner der Tunnellösung bisher geleugnet hatten. Gegen die Tunnellösung sprachen allerdings viele Unsicherheitsfaktoren – vor allem fehlte es an einem detaillierten Prospekt, der einen Kostenvergleich der beiden in Frage stehenden Projekte ermöglichte. Die fehlenden bzw. höchst unsicheren Auskünfte über die Finanzierung sowie der skizzenhafte Charakter des Ganzen erleichterte es den Interessenten, den Alternativvorschlag abzulehnen. Wie aus dem Gutachten der badischen Behörden über den Tunnelvorschlag hervorgeht, waren weder die Entscheidungsträger noch die Konzessionäre bereit, die schon weit gediehenen Verhandlungen nochmals von vorne zu beginnen, und im Januar 1906 stimmten die Parteien dem Vorschlag endgültig zu.37 Damit war die Sache abgeschlossen. Zugleich forderte das badische Ministerium des Innern aber – wohl um die Kritik, die sich dank der Kampagne des Bundes im ganzen Land verbreitet hatte, zumindest teilweise abzumildern – den Hauptkonzessionär Emil Guilleaume auf, einen Betrag in Höhe von 10.000 Reichsmark für eine künstlerische Rettung der Stromschnellen durch den Maler und Akademieprofessor Gustav Schönleber bereitzustellen. Guilleaume willigte ein, unter entsprechender Herabsetzung der
37 | Vgl. »Gutachten der großh. badischen Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus über das Lochersche Projekt für Laufenburg«, in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 2/5-6 (1906), S. 68-74. Bereits in der März-Ausgabe der Mitteilungen hatte Carl Johannes Fuchs Bericht erstattet und die Entscheidung des Ministeriums sowie deren Beipflichtung durch die Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues im Anhang gebracht (vgl. Fuchs, Carl Johannes: »Das Ende von Laufenburg«, in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 2/3-4 [1906], S. 33-38).
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Konzessionsgebühren, und 1907 wurde das Gemälde an die badische Kunsthalle in Karlsruhe überreicht, zu deren Sammlung es noch immer gehört.38
Gustav Schönleber: Blick auf Laufenburg am Rhein mit den Stromschnellen, 1908. Öl auf Leinwand
Der Befund scheint insofern klar: Die Aktion des neugegründeten Bundes zur Rettung der Laufenburger Stromschnellen wurde ein schmähliches Fiasko. Der versöhnlichen und kompromissbereiten Haltung der Heimatschützer zum Trotz war das einzige Ergebnis der Aktion ein Gemälde, das die Landschaft in die Kunst hinüberrettete, worauf der Flussabschnitt planmäßig gezähmt und bis zur Unkenntlichkeit rektifiziert werden konnte. Einiges spricht daher dafür, in dem Ausgang dieser Auseinandersetzung einen geradezu beispielhaften Ausdruck des faktischen Stärkeverhältnisses zwischen der Heimatschutzbewegung und dem großindustri38 | Vgl. Linse: »›Der Raub des Rheingoldes‹«, S. 33f. – Der Malerei folgte wenig später die Erzählung Der Laufen (1909) des Dichters, Lebensreformers und Naturschützers Emil Strauß, die den Laufenburger Stromschnellen ein literarisches Denkmal setzt. Zum biographischen und sozialhistorischen Kontext der Erzählung siehe auch Linse, Ulrich: »Reformschuhe und Sandalen«, in: Rudin, Bärbel (Hg.): »Wahr sein kann man«. Zu Leben und Werk von Emil Strauß 1866-1960 (= Symposion der Stadt Pforzheim, 8.-10. Mai 1987), Pforzheim 1990, S. 29-40. Dass Laufenburg nicht nur seiner Berühmtheit wegen auch als Modell für das Wasserkraftwerk in Martin Heideggers Die Frage nach der Technik (1953) gedient haben mag, ist zumindest eine naheliegende Vermutung, lag es doch nur wenige Kilometer von seinem Rückzugsort auf Todtnauberg entfernt.
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
ellen Sektor zu sehen, in dem die Bereitschaft, die Natur nicht nur als auszubeutende Ressource zu betrachten, nicht gegeben war. Zugleich ist aber auch deutlich, dass der Bund Heimatschutz eine Mitverantwortung für diesen Verlauf trug und im gewissen Sinne erntete, was er gesät hatte. Welche Überlegungen auch immer dazu geführt hatten, dass der Kampf um die Erhaltung der Laufenburger Stromschnellen zur ersten Aktion des Bundes gemacht wurde, letztlich musste doch der fast unvermeidliche Eindruck entstehen, dass er allein von ästhetischen Interessen getrieben wurde und eine sogar für die damaligen Verhältnisse ziemlich bornierte Einstellung zu Natur und Naturschutz hatte. Denn während die Mitglieder des Bundes die Stromschnellen in den höchsten Tönen lobten und diese mit den größten Kulturgütern der Welt gleichsetzten, sucht man bei ihnen vergeblich nach einem Anflug von Interesse oder Verständnis für das Biosystem, aus dem sich das gepriesene Landschaftsbild zusammensetzte. Vom Rhein ist bezeichnenderweise nur die Rede, wenn ein kulturhistorischer Zusammenhang zwischen der bedrohten Landschaft und dem nationalromantischen Mythos vom »Vater Rhein«39 oder noch früheren »Dokumenten germanischer Kultur«40 hergestellt werden soll. Dass gerade der Oberrhein im Laufe des 19. Jahrhunderts so oft und durchgreifend rektifiziert worden war, dass er um die Jahrhundertwende der mit Abstand meistmodifizierte Fluss der Welt und dazu noch rettungslos verseucht war,41 danach sucht man in dem ansonsten wortreichen Kampagnenmaterial des Bundes vergebens. Die Landschaft, für die sich der Bund einsetzte, mag zwar auf den ersten Blick schön und authentisch ausgesehen haben, doch ein genauerer, zweiter Blick hätte schnell ergeben, dass sie genauso verschmutzt gewesen ist wie der Rest des Flusses. Wie die spätere Kritik zu Recht hervorgehoben hat, wird man dies kaum auf einen unzureichenden Kenntnisstand des Bundes zurückführen können. Als der Bund gegründet wurde, war das Wissen von der »unsichtbaren« Verschmutzung u.a. der Wasserwege vielmehr schon seit Jahrzehnten verbreitet – eine Tatsache, die im konkreten Fall vor allem deshalb interessant ist, weil es bei dem geplanten Wasserkraftwerk um die Nutzung einer Energiequelle ging, die den Fluss nicht noch zusätzlich mit Abwässern belasten würde. Noch entscheidender für das Ergebnis der Kontroverse war jedoch, dass die Aktion des Bundes im Unterschied zu modernen Bürgerinitiativen von den Ortsansässigen weder getragen noch unterstützt wurde. Nicht nur ging der Protest gegen den Kraftwerksbau nicht von der örtlichen Gemeinschaft aus, sondern die gesamte Aktion war geradezu verhasst unter den Bewohnern von Laufenburg, die schon längst für den Plan gewonnen waren, als der Bund Heimatschutz mit seiner Aktion anfing. Und wahrscheinlich lässt sich auch der etwas schrille Ton, der der Kampagne des Bundes anhaftete, zum großen Teil auf die fehlende Unterstützung der Ortsansässigen zurückfüh39 | Mielke: »Heimatschutz und Landesverschönerung«, S. 145. 40 | Schultze-Naumburg: »Kraftanlagen«, S. 89. 41 | Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, aus dem Englischen von Udo Rennert, München: Pantheon 2007, S. 93-96.
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ren. Denn während die betreffenden Behörden darauf hinweisen konnten, dass sie mit der Genehmigung des Baus in »Übereinstimmung mit den zunächst beteiligten Gemeinden und der Volksvertretung« waren,42 sahen die Heimatschützer keinen anderen Ausweg, als den Streit um die landschaftliche Idylle zur Grundsatzfrage aufzubauschen, in der eine uneigennützige Interessenorganisation im Namen der Menschheit gegen die gierigen und kurzsichtigen Ortsansässigen auf den Plan trat. Der ansonsten unbefangene Carl Johannes Fuchs berichtete entsprechend sarkastisch von der entscheidenden Sitzung, in der die Laufenburger im Bezirksrat der nahegelegenen Stadt Säckingen wie erwartet das Todesurteil über die »berühmten Stromschnellen des Rheins« sprachen: Der mäßig große Raum ist gefüllt von einer lebhaft erregten Menge aus Säckingen und den beiden Laufenburg. Vergebens sucht man in den Zügen einen Funken von Verständnis für das Wunderwerk der Natur, zu dessen Verurteilung man sich drängt; nur Geldgier spricht aus den meisten Augen: der »kapitalistische Geist« hat seinen Einzug gehalten. Endlich sollen die beiden »zurückgebliebenen« Städtchen auch ihren »Aufschwung« bekommen, wie andere in der Nachbarschaft – ihren Aufschwung und wahrscheinlich auch ihren Krach! Doch an den denkt man nicht. Wohl hätten beide Orte durch fleißige Arbeit, d.h. verständige Pflege des Fremdenverkehrs, längst schon einen soliden Aufschwung nehmen können, aber durch Bodenspekulation reich werden ist natürlich einfacher. 43
Wie seine herablassende Berichterstattung deutlich zeigt, interessierten sich die Gegner des Kraftwerks herzlich wenig für die Meinung der Ortsansässigen und deren Pläne für die Zukunft – wobei allerdings hinzugefügt werden muss, dass Fuchs im Prinzip nichts gegen einen Kraftwerksbau bei Laufenburg einzuwenden hatte und sich schon gar nicht gegen eine zukünftige Nutzung billiger Energiequellen wie der Wasserkraft stellte. Als Nationalökonom war ihm natürlich vollkommen klar, dass die Steigerung des Wohlstands, die ein wesentlicher Teil der deutschen Bevölkerung seit Ende des 19. Jahrhunderts erlebt hatte, von großer nationaler Bedeutung war und auch Wasserkraftanlagen wie die umstrittene in Laufenburg erforderte. Wogegen er sich aber wehrte, war eine einseitige Rücksichtnahme auf industrielle und wirtschaftliche Interessen. Beeinflusst durch den berühmten »Kathedersozialisten« Gustav Schmoller, der wie viele zeitgenössische Nationalökonomen den zügellosen Privatkapitalismus sehr kritisch beurteilte, widersetzte er sich der Tendenz, ganze Naturgebiete dem Privateigentum zur Verfügung zu stellen und den Gewinn, den die Nutzung der Naturkräfte erbrachte, so nur einer »Minderheit von Privatpersonen, von Aktionären« zufallen zu lassen 42 | »Laufenburg« (= Antwortschreiben des Badischen Ministeriums des Innern an Paul Schultze-Naumburg), in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1/9 (1905), S. 149. 43 | Fuchs, Carl Johannes/Schultze-Naumburg, Paul: Die Stromschnellen des Rheins bei Laufenburg und ihre Erhaltung (= 3. Flugschrift des Bundes Heimatschutz), Halle an der Saale: Verlag von Gebauer-Schwetschke Druckerei und Verlag 1906, S. 16.
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
und nicht der »Allgemeinheit«.44 Genau diese Nachgiebigkeit gegenüber privatökonomischen Interessen stellte für Fuchs das Hauptproblem in diesem wie in vielen ähnlichen Fällen dar. Statt die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Gemeinschaft zu unterstellen, wurde hier eine allein auf egoistische Gewinnmaximierung zielende Minderheit begünstigt, wodurch sich privatökonomische Interessen mit nationalökonomischen vermischten. Wo diese aber nicht zusammenfielen, forderte Fuchs unbedingt das Primat der Letzteren. Für ihn war Staatsinterventionismus, wollte man eine rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen verhindern, die einzige Möglichkeit – und mit Blick auf die Wasserkraft kam dies einem allgemeinen Verbot ihrer Nutzung durch privatindustrielle Interessen gleich. Dies hinderte ihn aber nicht, davor zu warnen, die Volkswirtschaft als einzigen Maßstab anzusetzen: Die Volkswirtschaft ebenso wie die Industrie ist nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Daher ist weder schrankenlose Ausnützung der natürlichen Kräfte bis zum äußersten, noch Vermehrung der Industrie oder Steigerung des Verkehrs um jeden Preis volkswirtschaftlich richtig. 45
Und selbst dort, wo die Nutzung der Wasserkräfte berechtigt war, sollte sie tunlichst unter Berücksichtigung des kulturellen und natürlichen Umfeldes erfolgen, gerade wenn dies ohne weitere Schwierigkeiten möglich war wie im Fall Laufenburg, wo gleich zwei Alternativen zum umstrittenen Plan vorlagen: das Kraftwerk bei einer nur unbedeutenden Verringerung der Leistungsfähigkeit einige hundert Meter oberhalb oder unterhalb der Stromschnellen zu bauen oder bei einer geringfügigen Erhöhung der Baukosten auf die von Locher-Freuler skizzierte Tunnellösung zu setzen. In beiden Fällen hätte man das Landschaftsbild erhalten können und dabei immer noch die Möglichkeit gehabt, später einmal auch das touristische Potential auszuschlachten.46 Während die ungehinderte und uneingeschränkte Nutzung der natürlichen Ressourcen für die Befürworter eines ungezügelten Kapitalismus eine schlechthin unentbehrliche Voraussetzung des künftigen nationalen Wohlstandes darstellte, sahen die Heimatschützer im Kapitalismus also primär eine potentiell zerstörerische Kraft, die aus Rücksicht auf das Allgemeinwohl gezügelt werden müsste – und eben das sollte die Mobilmachung für eine rücksichtsvolle Ausnutzung der Wasserkräfte bei Laufenburg veranschaulichen. 44 | Fuchs, Carl Johannes: Heimatschutz und Volkswirtschaft (= 1. Flugschrift des Bundes Heimatschutz), Halle an der Saale: Verlag von Gebauer-Schwetschke Druckerei und Verlag 1905, S. 20-21. 45 | Fuchs, Carl Johannes: »Die Ausnützung der Wasserkräfte«, in: Heimatschutz 8 (1913), S. 97. 46 | Dass dies bei der Tunnellösung möglich wäre, wird allerdings im »Gutachten« der badischen Oberdirektion in Frage gestellt, die auf den niedrigen Wasserstand beim Tunnelbau hinweist. Vgl. jedoch dazu Schultze-Naumburgs Entgegnung (»Noch einmal Laufenburg«, in: Der Kunstwart XIX/2 [1906], S. 217).
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D IE GLOBALE H EIMAT Welche Lehren können wir aus dieser gescheiterten Kampagne aus der Vorgeschichte der Umweltbewegung ziehen? Aus heutiger Sicht springen ja zunächst einmal die offenkundigen Unzulänglichkeiten ins Auge, allem voran das unübersehbare Missverhältnis zwischen dem eingesetzten Aufwand an Energie und Kraft und dem Umfang der letztlich doch sehr bescheidenen Forderungen, die man vergebens durchzusetzten versuchte. Und dennoch stellt sich die Frage, ob Laufenburg nicht als ein geradezu musterhaftes Beispiel für unsere Bemühungen dienen kann, den Wachstumsdämon, der seit zweihundert Jahren die Welt immer mehr beherrscht, zu bändigen. Gewiss, die Probleme von heute sind sicherlich ganz anderen Ausmaßes, die heutigen NGOs arbeiten professioneller, ihre Kenntnisse von den jeweiligen Fachbereichen sind entsprechend größer und ihre Aktionen um ein Vielfaches spektakulärer. Doch die fundamentale Einsicht, dass man sich auf einen Punkt bzw. auf einen exemplarischen, überschaubaren Fall beschränken muss, um sich in der breiteren Öffentlichkeit durchzusetzen – diese Einsicht hat sich auch die moderne Umweltbewegung ans Herz gelegt, und angesichts der begrenzten nationalen Tragweite der Laufenburger Stromschnellen war der Bund Heimatschutz wohl auch nicht weniger erfolgreich mit seiner Kampagne als etwa Greenpeace, denen es in der globalen Ära von heute ebenfalls häufig gelingt, die Aufmerksamkeit der überreizten Massenmedien durch eine spektakuläre Aktion für einen kurzen Augenblick auf sich zu lenken. Die »Pfadabhängigkeit« der modernen Umweltbewegung – um es mit einem analytischen Konzept aus den Sozialwissenschaften auszudrücken – scheint auf diese Weise nicht nur offenkundig, sondern auch weitgehend gerechtfertigt. Die Kampagne des Bundes Heimatschutz war erfolgreich in dem Sinne, dass sie für großes Aufsehen in den Medien sorgte, bei vielen prominenten Intellektuellen des Kaiserreiches beredsame Unterstützung fand und dem Bund überhaupt erst einen Namen und eine Plattform in der breiteren Öffentlichkeit verschaffte. Problematischer scheint hingegen die Pfadabhängigkeit in einer anderen Hinsicht. Skepsis gegenüber der Kampagne scheint nämlich vor allem aufgrund der skrupellosen oder bestenfalls naiv einseitigen Inszenierung der ganzen Angelegenheit angebracht. Dass die Landschaft bei Laufenburg bei weitem nicht zu den sieben Weltwundern zählte, wozu sie in der Kampagne des Bundes aufgebauscht wurde, mag noch angehen. Viel schlimmer ist aus heutiger Sicht jedoch, dass der Bund in seinem ständigen Bemühen, sich mit der Botschaft Gehör zu verschaffen, zum einen die Bedürfnisse und Interessen der Ortsansässigen ignorierte und zum anderen die Aktion zur Erhaltung der Laufenburger Stromschnellen zu einem weiteren Kapitel in der Erzählung von dem rücksichtslosen Raubbau der Zivilisation an den wenigen unberührten bzw. nicht urbar gemachten Naturlandschaften machte. Gerade das konnte sie freilich nicht für sich reklamieren – oder zumindest nur in einem abgeleiteten, symbolischen Sinne. Damit wurde aber auch eine Praxis eingeführt, die zum großen Teil für die Umweltbewegung
Die Stromschnellen bei Laufenburg und die Entstehung der Heimatschutzbewegung
nach 1970 kennzeichnend ist, nämlich die Auffassung, dass der Zweck die Mittel heiligt, dass es erlaubt sei, im Namen des Guten eine höchst zweifelhafte Angelegenheit zu instrumentalisieren, wie es etwa in der erfolgreichen, zugleich aber äußerst manipulativen Greenpeace-Aktion gegen die Versenkung der Bohrinsel Brent Spar zum Ausdruck kam,47 ja dass es mitunter sogar erforderlich sein kann, eine ganze Bevölkerung als Geiseln zu nehmen, um sein Ziel zu erreichen oder zumindest möglichst viel Wirbel für die gute Sache zu machen – wer erinnert sich beispielsweise nicht an die bestialische Massentötung von Babyrobben durch hartgesottene grönländische Fänger, die sich später, als die Kameras nicht mehr liefen und die Journalisten schon längst abgezogen waren, als reine, durch Greenpeace zynisch inszenierte Fiktion entlarvte?48 Auch wenn solche Geschichten natürlich selten sind, weisen sie dennoch mit aller Deutlichkeit auf die Gefahr hin, komplexe Fragen auf einfache Gegensätze oder Antithesen zu reduzieren, wie dies in den erwähnten Beispielen der Fall war. Vor allem aber, und das ist in diesem Zusammenhang noch wichtiger, bieten sie demjenigen, der ethische Richtlinien für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur sucht, keinerlei Hilfe, seien sie auch anthropozentrisch oder nichtanthropozentrisch begründet. Aus den angeführten Beispielen könnte man zwar im Sinne von Gary Snyder den dringenden Bedarf an einer bioregional verwurzelten Ethik der Nähe ableiten – umso mehr als die Laufenburg-Kampagne wie auch die beiden Greenpeace-Kampagnen von NGOs inszeniert und gelenkt wurden, die über keine oder nur sehr unbefriedigende Ortskenntnisse verfügten und unter den Einheimischen entsprechend keine Unterstützung fanden. Aber erstens reichen Ortskenntnisse und Wissensstand nicht immer aus, um kurzsichtiges und unverantwortliches Handeln durch die einheimische Bevölkerung zu verhindern, und zweitens kann die Ethik der Nähe für den großen Zusammenhang blind machen und schlimmstenfalls der regionalen oder globalen Verantwortlichkeit entgegenwirken. Ein aktuelles Beispiel aus der dänischen Umweltbewegung mag abschließend illustrieren, wie tief diese Schwierigkeiten tatsächlich greifen. Dänemark erlebt seit einiger Zeit einen Konflikt um einen grünen Industriezweig, für den das Land auch international bekannt ist, und zwar den der Windenergie. Während der Ausbau der Windmüh47 | Siehe dazu Wöbse, Anna-Katharina: »Die Brent Spar Kampagne. Plattform für diverse Wahrheiten«, in: Uekötter, Frank/Hohensee, Jens (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Wiesbaden: Franz Steiner 2004, S. 139-160. 48 | Siehe z.B. »Die große Schlacht um Robben und Fische«, Der Spiegel, Nr. 14/1983, S. 140-149. – Bereits um die Jahrhundertwende wurde in Natur- und Tierschutzkreisen mit Vorliebe auf Robbenmord hingewiesen, der wie Vogelfang als besonders verabscheuungswürdig und bestialisch galt. Es ist von daher kein Zufall, dass Friedrich Avenarius in einem Plädoyer für internationale Verträge gerade an »den Vogelmord im Süden und im Norden den Robbenmord« erinnert (Avenarius, Friedrich: »Heimatschutz«, in: Der Kunstwart XVII/12 [1904], S. 656). Zur Beziehungsgeschichte zwischen Tier und Mensch im Kontext des Naturschutzes siehe Schmoll: Erinnerung an die Natur, S. 237-387.
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lenindustrie bis vor kurzem noch von fast allen NGOs gefeiert wurde, mehren sich inzwischen die Stimmen, die der einstigen grünen Vorzeigeindustrie kritisch gegenüberstehen, weil sie, so der Vorwurf, dazu beiträgt, schutzwürdige Landschaften zu kolonisieren, darunter einige der ganz wenigen nicht urbar gemachten Naturschutzgebiete Dänemarks. Deutlich wird diese Problemlage beispielsweise im aktuellen Konflikt über die Platzierung eines Windtestparks im Naturschutzgebiet Østerild Klitplantage im nördlichen Jütland, der den Interessengegensatz zwischen dem klassischen Naturschutz und einer von aktuellen Umwelt- und Klimafragen diktierten Energiepolitik sehr anschaulich vorführt. Wie im Konflikt um die Laufenburger Stromschnellen geht es hier um den Gegensatz zwischen einer lokalen und einer regionalen Agenda, wobei die lokale Bevölkerung in diesem Fall zusammen mit der dänischen Umweltschutzorganisation NOAH sowie der 1911 gegründeten Naturschutzorganisation, Danmarks Naturfredningsforening, für die Erhaltung eines angeblich einmaligen Naturschutzgebietes kämpft, während die Regierung nicht zu Unrecht behauptet, eine nachhaltige und international vertretbare Energiepolitik zu verfolgen. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, was in diesem Fall schwerer wiegt: grüne Energie auf Kosten eines angeblich unersetzbaren Naturschutzgebietes oder grüne Umwelt auf Kosten einer längst überfälligen Weiterentwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien, die u.a. wegen der außergewöhnlichen Wetterlage angeblich nur dort stattfinden kann. Nicht viel deutet darauf hin, dass eine solche Frage sich unter Hinweis auf eine Ethik der Nähe oder auf einen Öko-Kosmopolitismus abschließend beantworten lässt.
Touristische Natur Naturkonzeptionen in den Schriften des schwedischen Touristenvereins Annegret Heitmann
»Aber die Sache ist die, dass ein Tourist seine Alltagssorgen und sein offizielles Gewand zu Hause gelassen hat und ganz einfach ein Tourist unter Touristen ist; was annähernd so viel heißt wie: ein Mensch unter Menschen.«1 Während der Urheber dieses Satzes aus Svenska Turistföreningens Årsskrift Tourismus ganz allgemein mit Menschlichkeit gleichsetzt, bedarf er wohl der Einschränkung, dass es sich beim Touristen um einen Menschen der Moderne handelt, der sich von den zweckorientierten Reisenden früherer Zeiten, sei es als Pilgerer, Handelnder oder Bildungssuchender, unterscheidet.2 Als Repräsentant der Moderne – entstanden ist der Begriff im Englischen um 18003 – vereint er in sich die ihr inhärenten Widersprüche, da der Tourismus sowohl die neu entstandene Freiheit als auch deren Begrenzungen abbildet, die der moderne Mensch grundsätzlich erfährt. Seine Entwicklung ist ohne die verkehrstechnische Modernisierung nicht denkbar, doch neben Fortschritt und Tempo brachte die Modernisierung auch Entfremdung und Sehnsucht mit sich, weil die durch Industrialisierung und Technisierung bedingten Lebensverhältnisse eine vorübergehende Flucht aus
1 | »Men saken är den, att en turist lemnat sina hvardagsbekymmer och sin officiella omklädnad hemma och är helt enkelt en turist bland turister, något som bra mycket närmar sig till: en människa bland människor.« In: Svenska Turistföreningens Årsskrift (im Folgenden abgekürzt als STÅ und unter Angabe der Jahrgangs- und Seitenzahlen nachgewiesen), 1890, S. 2. Alle Übersetzungen sind von mir (AH). 2 | Vgl. z.B. Spode, Hasso: »Der Tourist«, in: Frevert, Ute/Haupt, Hans-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1999, S. 113-137. 3 | Erstmalig taucht der Begriff 1798 im Titel einer Sammlung von Reiseberichten auf. Vgl. dazu u.a.: Hachtmann, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 11-12.
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dem Alltag nicht nur möglich, sondern auch erstrebenwert machten.4 Der »homo touristicus«5 zeichnet sich daher durch seine Freiheitssehnsucht und seine Suche nach Authentizität und Abenteuer aus.6 Authentizität wurde vor allem in Naturerlebnissen gesucht, Abenteuer versprachen um 1900 Bergbesteigungen, Polarexpeditionen und exotische Ziele. Die Verfolgung derartiger Intentionen weisen den Tourismus als einen Anfangsdiskurs der Moderne aus, wobei Anfang als die Suche nach dem Neuen oder die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit zu verstehen ist, die gerade in ihrer Gegenläufigkeit beide die Moderne kennzeichnen.7 Die Äußerung eines Mitglieds des schwedischen Touristenverbandes lässt diese Verbindung von Tourismus und der Anfangssehnsucht der Moderne deutlich erkennen: Mit jeder Anhöhe, die man erobert, öffnen sich neue Aussichten. […] Man befindet sich in einer neuen Welt, so ungleich all dem, was man gewöhnlich sieht. Und diese Entdeckergefühle steigern sich und nehmen an Reiz zu, wenn das Gebiet, das man durchwandert, sog. »jungfräulicher Boden« ist, d.h. Boden, der zuvor noch nie von einem Menschenfuß betreten wurde. Ein jungfräulicher Berg ist ein versiegelter Brief, adressiert an den ersten Bezwinger (Hervorhebungen von mir, AH).8
Dieses Authentizitätsstreben des Touristen wurde nun aber schnell als vergeblich entlarvt: Der intendierte Ausstieg aus der Zeit richtete sich sehr bald auf Fahrpläne ein und der Freiheitsdrang des Abenteurers wurde durch den massenhaften Ansturm auf die Reiseziele geradezu ad absurdum geführt. So bald ein Ort als sehenswert galt, wurde er zum Zeichen seiner selbst, seine Besucher wurden zwangsläufig zu Nachfahren. Wenn Tourismus, wie Jonathan Culler argumentiert,
4 | Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: »Eine Theorie des Tourismus«, in: ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964 [1958], S. 179-205. 5 | Spode: »Der Tourist«, S. 112. 6 | Vgl. zum Abenteuer: Simmel, Georg: »Das Abenteuer«, in: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essays, Berlin: Wagenbach 1983 [1911], S. 25-38. 7 | Vgl. zur Theoretisierung des Anfangs die Publikationen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe »Anfänge (in) der Moderne«, die von 2006-2012 an der LMU München angesiedelt war. Zum skandinavistischen Teilprojekt dieses Forschungsvorhabens vgl. Eglinger, Hanna/Heitmann, Annegret: Landnahme. Anfangserzählungen der skandinavischen Literatur der Moderne, München: Wilhelm Fink Verlag 2010. 8 | »För hvar ny höjd man eröfrar, öppna sig nya utsigter. […] Man befinner sig i en ny verld, så olika allt hvad man vanligen ser. Och dessa upptäckarekänslor stegras och tilltaga i behag, om den terräng man genomvandrar är s. k. ›jungfrulig mark‹, d. v. s. mark, som förut aldrig varit trampad af menniskofot. Ett jungfruligt fjäll är ett försegladt bref, adresseradt till den förste bestigaren« (STÅ, 1889, S. 55; Hervorhebungen von mir, AH).
Touristische Natur
in der Entzifferung von Zeichen des Bekannten besteht,9 liegt der touristischen Erfahrung eine Nachträglichkeit zugrunde, die das Anfangsstreben unterläuft. Hinzu kommt, dass der Tourist als ein nach dem Fremden suchender Zeichenleser geradezu prädestiniert ist für die Verdrängung seiner eigenen Stellung. Meine Frage wird sein, ob das auch für den Natursuchenden in Schweden um 1900 gelten kann, der sich noch nicht an einem Massenphänomen beteiligt, sondern selbst Spuren legt und den Anfang macht. Doch warum bekennt er sich dann – wie das einleitende Zitat und die Selbstbenennung als »Touristenverein« zeigen – zu dieser meist abschätzig bewerteten Spezies? Die frühe Tourismusdarstellung und -forschung hat jedenfalls den Diskurs fast ausschließlich kritisch beleuchtet: den Touristen pejorativ beschrieben, sein Streben nach Unmittelbarkeit als von seiner Teilhabe an einem Massenphänomen verhindert gesehen und seinen Blick als medial überformt analysiert.10 Von diesem kritisch-abwertenden Bild hat sich die Tourismusforschung der letzten 20 Jahre distanziert, indem sie auf neue Weise den umstrittenen Begriff der Authentizität in den Mittelpunkt gestellt hat. John Urry, Tom Selwyn,11 Jørgen Ole Bærenholt, Britta Timm Knudsen12 und andere gehen nunmehr von einer nur performativ hervorzubringenden Authentizität, von einer »staged authenticity«13 oder gar von »delight in inauthenticity«14 aus. Ohne zu werten, akzeptieren sie Tourismus als Teil modernen und postmodernen Daseins und untersuchen nun Formen der Handlungen, die touristische Erfahrungen hervorbringen, wobei sie performative Akte in den Mittelpunkt stellen. Ein Team des Tourism Research Centre of Denmark wählt als ein Bild für diesen Performanzansatz das »sandcastle on the beach«,15 die Sandburg, die eine touristische und daher vorübergehende freudvolle Erfahrung in Szene setzt und den Strand somit in einen »tourist place« verwandelt, also die Unbestimmtheit eines Ortes (»space«) mit Bedeutung belegt (zu »place« macht) und ihm durch die körperliche Performanz als touristischem Akt Sinn verleiht. Authentizität ergibt sich diesem Ansatz zufolge aus der Inszenierungspraktik, wird hergestellt und ist an den Akteur und nicht an den Ort, das Objekt, gebunden.
9 | Culler, Jonathan: »The Semiotics of Tourism«, in: ders.: Framing the Sign. Criticism and its Institutions, London: University of Oklahoma Press 1988, S. 153-167, hier S. 155. 10 | Vgl. z.B. Urry, John: The Tourist Gaze, London: Sage Publications 1990. 11 | Vgl. Selwyn, Tom: The Tourist Image. Myths and Mythmaking in Tourism, Chichester et al.: John Wiley and Sons 1996. 12 | Vgl. Timm Knudsen, Britta/Waade, Anne Marit (Hg.): Re-Inventing Authenticity. Tourism, Place and Emotion, Bristol et al.: Channel View Publications 2010. 13 | MacCanell, Dean: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1999, S. 91. 14 | Urry, John: Consuming Places, London 1995, S. 140. 15 | Bærenholt, Jørgen Ole et al. (Hg.): Performing Tourist Places, Aldershot: Ashgate 2004, S. 2.
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Nun kann nicht jede touristische Praxis mit der nächsten Flut oder von der nächsten Welle weggespült und ungeschehen gemacht werden. Im Gegenteil: Das Massenphänomen des Tourismus bringt zerstörte Landschaften, verbaute Küsten, hohen CO²-Ausstoß, Lärm, Müll und Umweltbelastungen vielfacher Art mit sich, die ich hier nicht darlegen muss. Auch John Urry schlussfolgert: »It is not entirely fanciful to suggest that tourism produces some of the most difficult contemporary environmental issues.«16 Die Strandburg ist also nicht nur ein treffendes Bild für den Performativitätsansatz der Tourismusforschung, sondern kann, als fragiles Objekt, auch als ein Hinweis auf die implizite ökologische Problematik gedeutet werden, die nicht vernachlässigt werden darf. Sie gerät aus dem Blick, wenn das Authentizitätsstreben ausschließlich subjekt-, nicht aber objektbezogen analysiert wird, wenn bei der Fokussierung der Handlungskompetenz der Akteure vernachlässigt wird, was mit dem Ort geschieht, der touristisch angeeignet wird. Insofern ist es legitim, den Tourismus auch aus der Perspektive der Ökologie im weiteren oder des Ecocriticism im engeren Sinne zu behandeln. Auch wenn sich moderne Reise- und Freizeitpraxis weder in objektbezogenem Authentizitätsstreben noch in Suche nach Exotik erschöpft, spielt doch das Naturerlebnis weiterhin eine wichtige Rolle für den Touristen heute, für die Mitglieder des schwedischen Touristenvereins um 1900 war es das zentrale Ziel. Die Forderung nach einem »Naturvertrag« (»naturkontrakt«),17 die Sverker Sörlin schon 1991 aufstellte, um die im gängigen Naturverständnis vorherrschende Anthropozentrik zu überwinden, stellt auch den Kern der Agenda von Öko-Kritikern wie Lawrence Buell oder Stacy Alaimo dar.18 Wenn auch der ökologische Ansatz, wie Joachim Radkau unlängst deutlich herausgearbeitet hat, eine Vielzahl von nicht unbedingt widerspruchsfreien Inhalten hat und sich sicher nicht auf eine reine oder absolute Form der Natur bezieht,19 kann man ihn vielleicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Hinterfragung eben dieser Anthropozentrik bringen, die – mit Verweisen auf die Genesis – von Aufklärern, Sozialdarwinisten und Imperialisten gleichermaßen verfochten wurde. Und wenn man diesen Gedanken dann auf kulturelle Praktiken und Texte anwenden will, ist nicht nur auf die Darstellung der Natur, sondern vor 16 | Urry: Consuming Places, S. 192. 17 | Sörlin, Sverker: Naturkontraktet. Om naturomgängets idéhistoria, Stockholm: Carlssons Bokförlag 1991. 18 | Vgl. Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism, Malden/Oxford: Blackwell Publishing, 2005; Alaimo, Stacy: Undomesticated Ground. Recasting Nature as Feminist Space, New York: Cornell University Press 2000. 19 | Vgl. Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie, München: C. H. Beck 2011. Auch der Tourismus muss Radkau zufolge sehr differenziert betrachtet werden: Während er einerseits die Natur zerstört, ja sie »prostituiert«, gibt es andererseits auch einen engen Zusammenhang zwischen Naturschutz und Tourismus, Radkau bezeichnet den Tourismus, mit einem überzeugenden Bild, gar als »illegitimen Erzeuger« des modernen Umweltbewusstseins. Vgl. dazu S. 458-465.
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allem auf die Frage zu achten, inwiefern »nonhuman environment [is] represented as an active presence and player within the text«20. So gesehen kann man dann »environmentality as a property of any text«21 aufspüren, wobei die Ausdifferenzierungen und die Problematisierung des Naturbegriffs, wie sie z.B. Hartmut Böhme vorgenommen hat, selbstverständlich mitgedacht werden müssen.22 An einem Bild, das dann auch überleitet zu der Zeit um 1900 und uns nach Skandinavien führt, kann die Stellung der Natur im Spannungsfeld von Tourismus und Ökologie am besten verdeutlichen werden. Das Plakat wurde in einer informativen Ausstellung zum Thema »Nordlandreise« im vergangenen Jahr zusammen mit vielen anderen Zeugnissen deutscher Begeisterung für skandinavische, und im Besonderen norwegische, Natur gezeigt.23 Es stützt sich auf Traditionen der Marinemalerei und war seinerseits stilbildend für eine ikonographische Tradition der Inszenierung des Nordlandtourismus.24 Feste Bestandteile sind der Fjord, die Fjelllandschaft und das Schiff. Auf dem im Jahre 1900 entstandenen Plakat stellen Fjell und Wasser einen skandinavientypisch konnotierten, weil an Kälte und Klarheit gemahnenden Blau-Weiß-Kontrast dar, die Natur wird als weiße Stille entworfen, unveränderlich und unberührt, das dampfende Schiff fungiert als Zeichen der vom Menschen in die Stille eingebrachten Technik, des Fortschritts, der Bewegung und des Komforts. Die Konfrontation von Natur und Kultur wird – im wahrsten Sinne des Wortes – gerahmt von einer Drachenornamentik, die historische Reminiszenzen aufruft und eine Verschmelzung von wikingerzeitlichem Drachenstil und Art Nouveau darstellt. Der Rahmen verschränkt Historie, Mythos und Kunst und bereitet gewissermaßen die Bühne für den Auftritt des Touristen, den Eintritt der Moderne in die archaische und stille Welt der Schönheit. Das Schiff steht als Akteur der Moderne im Zentrum des Bildes, die Landschaft ist backdrop, Kulisse, Objekt des Blicks und der touristischen Aneignung. So jedenfalls kann man es sehen, wobei diese Lesart eine im Bild versteckte Ambivalenz unterschlägt. Man kann in diesen als Werbung intendierten Plakaten auch ein entgegen gesetztes Hierarchieverhältnis entdecken: Die Landschaft ist groß, mächtig, überwältigend, während das Signum menschlicher Überlegenheit geradezu winzig und insignifikant erscheint. Die Macht scheint eher auf Seiten der unnahbar steilen Abhänge zu sein, der kraftvollen Wasserfälle und des eisigen Gletschers, die dem Schiff eine untergeordnete Position zuweisen und es 20 | Buell: Future, S. 51. 21 | Ebd. S. 25. 22 | Vgl. Böhme, Hartmut: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. 23 | Kinzler, Sonia/Tillmann, Doris: Nordlandreise. Die Geschichte einer touristischen Entdeckung, Ausstellungskatalog, Kiel o.J. [2010], S. 107. 24 | Vgl. Kinzler/Tillmann: Nordlandreise, S. 32 oder 149. In dem Katalog ist eine ganze Reihe von Plakaten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgedruckt, die eine ähnliche Bildstruktur aufweisen.
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geradezu zu bedrohen scheinen. Es macht nicht den Anschein der Eroberung dieses wilden Landes, das ja auch die von den frühen Kreuzfahrern in den seltensten Fällen und höchstens am Rand betreten wurde, sondern wirkt eher wie ein unterlegener Eindringling, der sich den Gefahren der Natur, den Tücken von Eis, Felsen und Meer, aussetzt. Das Bild der Natur des sogenannten Nordlandes ist also kein eindeutig anthropozentrisches, ob die sowohl in der Tourismusforschung als auch im Ecocriticism eingeforderte Handlungskompetenz auf Seiten der Natur oder auf Seiten des Menschen liegt, bleibt in der Doppeldeutigkeit des Bildes verborgen.
Carl Langhein: Nordlandfahrten, Hamburg-Amerika-Linie, 1911. Plakat 105 x 73 cm, Archiv deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven
Touristische Natur
Die Kreuzfahrt stand im Zentrum des frühen deutschen und englischen Skandinavientourismus, insbesondere die Bedeutung der Norwegenfahrten von Kaiser Wilhelm II. und deren Einfluss auf die Herausbildung des deutschen Norwegentourismus ist eingehend untersucht worden.25 Demgegenüber wurde der landesinterne Tourismus in Skandinavien durch die länderspezifischen Tourismusvereine geprägt und gefördert, Den norske turistforening, DNT26 in Norwegen, und der schwedische Namensvetter Svenska Turistföreningen, STF. Der Letztgenannte soll mir hier als Testfall dienen, um die Natur um 1900 im Spannungsfeld von touristischer Aneignung und ökologischem Bewusstsein zu erkunden. Als ein veritabler Anfangs- und Landnahmediskurs27, der der touristisch noch nicht erschlossenen Natur gilt, können die Bestrebungen des STF eine Sicht auf die Natur aufzeigen, die sich explizit dem Neuen und dem Authentischen, der wilden, ursprünglichen Natur, sowie dem ausdrücklich so genannten Tourismus widmen. Wie diese beiden Seiten der Medaille, die Wildnis und die Landnahme, die Natur und der Tourist, zueinander in Beziehung gesetzt werden, will ich durch eine Lektüre der frühen Schriften des STF, des Svenska Turistföreningens Årsskrift (STÅ), überprüfen. In dieser Schrift, die seit 1886 nahezu kontinuierlich erschienen ist, kommunizieren die Mitglieder des Vereins ihre Natureindrücke, sie beschreiben Wanderungen, Berge, Täler und Seen, Erkundungen von abgelegenen Ortschaften, geben Ratschläge zu Ausrüstung, Planung und Transportmitteln, berichten über Kosten und Dauer der Ausflüge, erläutern Wegbeschaffenheit und besonders schöne Aussichtspunkte. Praktisch zeichnete der STF für den Ausbau des Wanderwegenetzes und dessen Beschriftung, den Bau von Schutzhütten oder die Bereitstellung von Kartenmaterial und Booten verantwortlich. Der Verein wurde 1885 nach dem Vorbild des 15 Jahre älteren norwegischen Touristenverbands von einigen Akademikern in Uppsala gegründet. Zunächst war es nur eine kleine Gruppe von 74 Mitgliedern im ersten und 89 im zweiten Jahr. Doch der Verband wuchs schnell, um die Jahrhundertwende hatte er bereits 25.000 Mitglieder, heute sind es 300.000, womit der STF zu einer der größten Interessenorganisationen des Landes geworden ist. Die erste Gebirgshütte wurde 1888 gebaut, und zwar am Ufer des Varvekälven zwischen Kvikkjokk und Sulitelma, 1899 begannen die Planungen für den bekannten Wanderweg Kungsleden zwischen Abisko und Kvikkjokk, 1933 gründete der STF die erste schwedische Jugendherberge. Schon 1895 ergriff er die Initiative zu einer Sammlung aller bekannten Alpinisten- und Touristenvereine in einem gemeinsamen Verband, und 1898 wurde die Ligue Internationale des Associations Touristes gegründet, die sich später in Alliance Internationale de Tourisme, AIT, umbenannte. 25 | Vgl. Marschall, Birgit: Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelm II, Hamburg/Heidelberg: Ernst Kabel Verlag 1991. 26 | DNT wurde 1868 gegründet. Die Geschichte des DNT findet sich gut dokumentiert auf der Internetseite des Vereins: www.turistforeningen.no. 27 | Vgl. zum Begriff der Landnahme: Eglinger/Heitmann: Landnahme, S. 11-14.
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Die Bestrebungen des STF sind also durchaus nicht singulär, sie ordnen sich ein in Naturkonzepte und Schutzbestrebungen des späten 19. Jahrhunderts, die bereits auf eine bedrohte Natur reagieren. Joachim Radkau spricht vom »Umweltaktivismus im nervösen Zeitalter«28. Als ein Pionier dieser Wertschätzung der Natur gilt der Amerikaner John Muir, der die Natur als »community« begriff, ein Freiluftleben führte und für die Einrichtung von Nationalparks warb, was 1890 zur Gründung des Yosemite National Park führte. Wie Radkau gezeigt hat, liegt diesen Bewegungen kein einheitliches Konzept zu Grunde, sie alternieren zwischen »conservation« und »preservation«, ihre Haltung zur industriellen Erschließung von bislang unberührten Landesteilen ist gespalten, ihr Verständnis von Natur keineswegs eindeutig.29 Erik Erlandson-Hammargren hat in einer sehr informativen Dissertation die Ausprägungen und die Entwicklung der Naturauffassungen des schwedischen Vereins gründlich nachgezeichnet.30 Als oberstes, offizielles Ziel galt jedoch, was der STF in § 1 seiner Grundordnung formuliert: »Die schwedische Touristenvereinigung hat das Ziel das touristische Leben in Schweden zu entwickeln und zu erleichtern.«31 Die Annäherung an die Natur im Zeichen von Freizeit, Vergnügen und Zweckfreiheit geschah in erster Linie durch Wanderungen, der größte Teil der frühen Artikel in STÅ stellt Wegbeschreibungen, also Erschließungen von Wanderrouten dar, in die auch Begegnungen mit den unterwegs angetroffenen Menschen, die nicht selten Sami sind, eingehen; später werden Spezialdiskurse zur Botanik, Geologie oder Forstwirtschaft häufiger. In nur sehr eingeschränktem Maße ist von Tieren und von der Jagd die Rede, die im Verein umstritten ist. Ab 1915 besteht das Jahrbuch dann aus Themenheften zu den einzelnen schwedischen Landschaften, in denen es auch um Brauchtum, Kultur, Landwirtschaft und Erwerb geht. Erlandson-Hammargren beobachtet eine Entwicklung von »Alpenromantik« (»alpromantik«) zu »Heimatromantik« (»hembygdsromantik«), von sublimer zu heimattümelnder Naturauffassung, von »vy« zu »ly« (eigentlich: von »Aussicht« zu »Schutz/geschützter Platz«, doch mehr Sinn macht die freie Übersetzung des Reimausdrucks als »von Panorama zu Heimat«).32 Doch in der Gründungsphase vor der Jahrhundertwende, um die es mir hier geht, liegt eine Erschließungsaufgabe vor, zu der die Aufsätze von Mitgliedern oder anderen Autoren beitragen. Da viele von ihnen nur durch Initialen gekennzeichnet oder gar anonym verfasst sind, werden sie hier nicht als Einzelbeiträge behandelt, sondern bewusst als Teilhabe an einem Diskurs gewertet. Selbstverständlich geben sie unterschiedlichen Stimmungen und Stilen Ausdruck – auch zu etlichen individuellen Beiträgern findet 28 | Radkau: Ära der Ökologie, S. 58. 29 | Vgl. ebd., S. 80 und passim. 30 | Vgl. Erlandson-Hammargren, Erik: Från alpromantik till hembygdsromantik. Natursynen i Sverige från 1885-1915, Hedemora: Gidlund 2006. 31 | »Den Svenska Turistföreningen har till ändamål att utveckla och underlätta turistlifvet i Sverige« (STÅ, 1886, S. 4; Hervorhebung im Original). 32 | Vgl. ebd., passim.
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sich Information bei Erlandson-Hammargren – doch sie alle tragen bei zum Diskurs der touristischen Natur um 1900. Das offensichtlichste Kennzeichen dieses Diskurses ist die Begeisterung, die das Erlebnis des Aufenthaltes in der Natur hervorruft. Immer wieder ist vom Lohn der Mühen die Rede, der das Erreichen eines Aussichts- oder Endpunktes einer Wanderung kennzeichnet. Die schwedische Natur wird in adjektivreicher Prosa als schön, weit, imposant, einzigartig, wunderbar, großartig, ja paradiesisch bezeichnet. Die Suche nach Einsamkeit und unberührten Gegenden führt das Gefühl von Frieden und das Erlebnis von Freiheit mit sich: »Ja, es lebe das freie Leben in Wald und Feld!«33. Es entsteht also ein Idealbild, das dem Erholung suchenden Wanderer epiphanische Augenblicke ermöglicht. Dem tun auch die häufig thematisierten Mücken oder das doch sehr gemischte schwedische Wetter keinen Abbruch. Auf den ersten Blick hat es also den Anschein, als führe die touristische Suche nach Ursprünglichkeit und Authentizität zum Erfolg. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Umsetzung von Natur in Sprache, die den Kern der Authentizitätsproblematik ausmacht,34 auch die vermeintliche Unmittelbarkeit des touristischen Erlebens affiziert und letztlich einer Aneignung, einer metaphorischen Form der Landnahme entspricht. Selbst die einfachsten Versprachlichungen, die lediglich nüchtern zu registrieren scheinen, sind Ausdruck von Aneignungsbewegungen, wenn es z.B. heißt: Ausflug zum Trollberg. Verbeigerudert an der Kirche nach Norrboda, ungef. 7 km. Von hier ungef. 4 km östl. Ruderer und Wegweiser für 1-2 Personen 2 Kr., für jede weitere 50 Öre. Großartige Aussicht n.w. über die Seen, s.w. Gulleråsen und Osmundsberg in Boda (Hervorhebungen im Original). 35 33 | »Ja, lefve det fria lifvet i skog och mark!« (STÅ, 1892, S. 106). 34 | Vgl. Wiefarn, Markus: Authentifizierungen. Studien zu Formen der Text- und Selbstidentifikation, Würzburg 2010. Die Studie zeigt eindrucksvoll, dass der Begriff, der eine unklare Etymologie aufweist, bis zum 19. Jahrhundert als ein Spezialausdruck benutzt wurde, der die Relation eines Schriftstückes z.B. religiöser oder juristischer Art zu seinem Urheber meint. So kommt er auch in den hier untersuchten Schriften, so weit ich sehe, nur einmal in eben diesem Zusammenhang (in Bezug auf eine Steininschrift, STÅ, 1890, S. 36) vor. Authentifizierung bedeutet immer die Relation von etwas Sekundärem zu etwas Ursprünglichem, zu einer Heiligen Schrift oder einem inspirierten Text. Insofern kann eine Verschriftlichung der Natur ihre Authentizität gar nicht zeigen, der Text ist der Natur immer sekundär. Erst mit Heidegger und Sartre erlangt der Begriff sein heutiges Bedeutungsfeld und wird von einer Objekt- auf die Subjektebene übertragen, wo ihn auch die eingangs zitierte Tourismusforschung ansiedelt, die den existentialistisch geprägten Selbstermächtigungsbegriff mit einem Performativitätsansatz unterlegt. Im Grunde, so Wiefarn, ist die Bedeutungsverschiebung einer Verlegenheitsübersetzung von Heideggers Begriff der »Eigentlichkeit« ins Französische geschuldet ist (vgl. Wiefarn: Authentifizierungen, S. 85). 35 | »Utflykt till Trollberget. Rodd förbi kyrkan till Norrboda, omkr. 7 km. Härifrån omkr. 4 km. Ö-ut. Roddare och vägvisare för 1-2 personer 2 kr., för hvarje öfver 50 öre. Storartad
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Der Autor gibt sachdienliche Hinweise, die dann auch die Natur versachlichen und verwalten. Die Angaben von Entfernungen und Himmelsrichtungen, die Nennung der Kosten sowie vor allem die stilistische Verknappung zu oft verblosen oder passivisch formulierten Kurzsätzen, die Abkürzungen und Zahlenangaben erinnern an Amtsprosa. Die Natur wird in eine Schriftform der Nützlichkeit überführt, in der es um die Ausrichtung auf touristische Bedürfnisse geht, bis hin zu dem Hinweis, wo die Damentoiletten zu finden seien: Karlsvik (12 km) unten an der Mündung der Enå. Sehr gutes Quartier, Zimmer mir Aussicht auf den See. Ungefähr 3 Kr. Pro Tag alles inklusive. Poststation in der Nähe. Endpunkt der Telefonleitung. […] Abkürzung zum Strand. Schlüssel im Posthof. Die Herbergen für Kirchgänger [= Kirchenställe] sind gleichzeitig die Damentoiletten. Aussicht vom Balkon des Pfarrhofes und von Bärselis Villa. 36
Die sprachliche Darstellung kommt einer touristikspezifischen Kartierung gleich, in die Telefone, Gästezimmer, Aussichtspunkte und eben auch Toiletten eingetragen werden, so wie es im Übrigen auch in den Jahrbüchern veröffentlichten Karten entspricht, die auf touristische Bedürfnisse reduziert sind, indem sie z.B. entweder ausschließlich Fischgründe, Wanderpfade oder Aussichtspunkte anzeigen. So entsteht durch Reduktion und sprachliche Zuspitzung verwaltete, touristische Natur. Diese Verknappung kommt eher selten vor, widerspricht sie doch der überwiegenden Attitüde der Naturverehrung. Doch auch diese Haltung setzt die Natur stets in eine Beziehung zum Menschen, zum Touristen, vor allem indem sie selbst vermenschlicht oder vermittelt betrachtet wird. Die häufigste Strategie, die sich leitmotivisch durch die Jahrbücher zieht und auch von Erlandson-Hammargren herausgestellt worden ist, macht die Landschaft zum Bild, zu einer »tafla«, und die Natur zum Maler, wenn z.B. von: »diese[m] großartige Bild aus der Meisterhand der Natur«37 die Rede ist. Das eine Mal malt die Natur selbst, ein anderes Mal gemahnt der Anblick an bekannte Gemälde oder Maler, wie z.B. Marstrand (vgl. STÅ, 1886, H.2, S. 83), in jedem Fall wird die Natur als Bild wahrgenommen: »Plötzlich entrollt sich vor ihm ein wunderliches Bild des unter ihm liegenden, überwiegend waldbedeckten Landes.«38 Dafür gibt es Hunderte von Beispielen. Die Identifikautsigt N. V. öfver sjöarne, S. V. Gulleråsen och Osmundsberget i Boda« (STÅ, 1888, S. 51; Hervorhebungen im Original). 36 | »Karlsvik (12 km) nere vid Enåns utlopp. Mycket godt qvarter, Rum med utsigt åt sjön. Omkring 3 kr, pr dygn för allt. Poststation i närheten. Ändpunkt för telefonledningen. […] Genväg efter stranden. Nycklarne i prostgården. Kyrkstallarne äro på samma gång qvinnornas toilettrum. Utsigt från komministergårdens balkong och Bärselis villa« (STÅ, 1887, H. 2, S. 9). 37 | »denne storartade tafla af naturens egen mästarehand« (ST Å, 1890, S. 49). 38 | »Der framrullar sig på en gång för honom en sällsam tafla öfver det nedunder liggande, till större delen skogiga landet« (STÅ, 1888, S. 27).
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tion mit einem Bild reduziert die Natur auf ein statisches und zweidimensionales Artefakt, wobei das schwedische Wort »tafla« besonders auf die Materialität, den Zeichenträger Leinwand, aufmerksam macht. Als Kunstwerk begriffen stellt sich die Natur als vom Menschen Gemachtes dar; sie wird zum Medium, zur technē und eben des Unmittelbaren, Eigenständigen beraubt. Sie erscheint wie für den Betrachter hervorgebracht. Dieser direkte Bezug auf den Menschen wird in zwei weiteren, bevorzugt angewandten Strategien sichtbar: der Anthropomorphisierung der Natur und dem Panoramablick. Wenngleich es sich dabei um sprachliche Konventionen und Klischees handelt, verraten Attribute, die die Natur als bescheiden, lächelnd, mild oder majestätisch, ernst und aristokratisch, beseelt oder bekleidet entwerfen, eine Anpassung der Natur an den Menschen und seine Erfahrungen. Die Relation zur Natur ist in dieser sprachlichen Überformung eben gerade nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Ångermanelfven ist »stolz« (»stolt«; STÅ, 1887, S. 34), »die Birken kleideten sich in Purpur und Gold« (»Björkarna klädde sig i purpur och guld«; STÅ, 1891, S. 12), Sandträsket zeichnet sich durch »aristokratische Schönheit« (»aristokratisk skönhet«; STÅ, 1889, S. 82) aus, oder aber »Alles hier hat ein sozusagen bescheidenes und mildes Gepräge« (»Allt här har en så att säga beskedlig och mild prägel!«; STÅ, 1886, S. 9). Meist geht die Medialisierung des Blicks, die gewissermaßen einen Filter menschlicher Erfahrung vor die Natur setzt, noch weiter, wenn Vergleiche mit dem Eiffelturm, einem Diadem, Juwelen oder einem Schauspiel eine ähnliche mediale Überformung und sprachliche Aneignung vollziehen wie der häufige Bild-Vergleich. Wenn das eigentliche Ziel des Naturerlebnisses der unmittelbare Zugang, das Streben nach Authentischem war, wird es auf diese Weise ad absurdum geführt. Die Natur wird zum Turm, zum Aristokraten, zu einem Herrschergeschlecht (STÅ, 1891, S. 3) oder eben zum Photo, das im Laufe der Geschichte des Touristenvereins eine immer größere Rolle spielt, sowohl durch Photowettbewerbe als auch durch eine steigende Anzahl von Landschaftsabbildungen in den Jahrbüchern. Als Photographie kann man die Landschaft »nehmen«, wie es im Schwedischen heißt, oder gar mitnehmen: »[Wir] nahmen dann die ganze Landschaft auf Fotografieplatten mit uns. Auf dieselbe Weise behandelten wir ein schönes Gletschertor auf dem Salajäkna, das wir am Nachmittag erkundeten.«39 Die metaphorische Landnahme wird hier deutlich ausgesprochen. Am anschaulichsten wird die implizite Anthropozentrik der touristischen Naturerfahrung durch den Panoramablick in Szene gesetzt, für den anfangs schon ein Beispiel zitiert wurde. Der Rundblick aus erhöhter Perspektive lässt den Betrachter sich als im Zentrum stehend und überlegen erfahren:
39 | »[Vi] togo sedan hela landskapet med oss på fotografiplåtar. På samma sätt behandlade vi en vacker jökelport på Salajäkna, hvilken vi på e. m. upptäckte« (ST Å, 1891, S. 3).
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Annegret Heitmann Die Aussicht vom Gipfel ist weit, man sieht bis zu 30 km im Umkreis waldbekleidete Höhen abwechseln mit Wasserflächen, wovon man ungefähr 20 sehen kann, und die Gegend liegt einem in drei Richtungen wie ein Panorama zu Füßen. 40
Die Gesamtheit der erblickten Weite ist der Perspektive des Schauenden unterworfen, der einen zentralperspektivisch organisierten Überblick über die Natur hat. Der Leere der Landschaft steht der beschreibende, ordnende Blick gegenüber, dessen Präsenz Überblick, Autorität und Aneignung suggeriert. Mary Louise Pratt hat vom Typus des »seeing-man« gesprochen, dem »European male subject of European landscape discourse – he whose imperial eyes passively look out and possess«41, der sich nicht nur in Siedler- und Erobererliteratur beobachten lässt, sondern offenbar auch im touristischen Diskurs. Eine Kartenskizze aus dem Jahrbuch unterstreicht das zentralperspektivische Sehen und seine Anthropozentrik visuell: Sie zeigt strahlenförmig Linien auf diverse Berggipfel, die gebündelt von einem Punkt in der rechten unteren Kartenecke ausgehen, der den Blickpunkt des Betrachters anzeigt.42 Dass es sich dabei, wie Pratt gezeigt hat, um eine gegenderte Perspektive handelt – obwohl natürlich auch zunehmend Frauen auf Wanderschaft gehen und über weibliche touristische Erfahrungen berichten –, deutet das folgende Zitat an: »Die meisten, die den schönen, blauschimmernden Kegel erblicken, werden von einer Lust ergriffen, ihn [im Schwedischen: sie] aus der Nähe zu sehen und ihre intimeren Reize zu erforschen.«43 Das Zitat lässt vermuten, dass der touristische Blick weitergehende politische Implikationen in sich tragen kann. Zum einen trägt der Tourismus-Diskurs zu einer relativ expliziten Strategie des »nation building« bei, die der Verein seinen Grundsätzen nach verfolgt, sowie zum anderen zu der damals virulenten Debatte um die industrielle Nutzung und Ausbeutung der nördlichen Landesteile Schwedens, der sogenannten »Norrlandfrage«, in der die Meinungen im Verein durchaus geteilt waren. Beide Themen sind bereits gründlich behandelt worden.44 Der patriotische Impetus des schwedischen Touristenvereins kommt in vielen Artikeln explizit und implizit zum Ausdruck, vor allem durch den häufigen Gebrauch von 40 | »Utsigten från toppen är vidsträckt, man ser ända till 3 mil omkring skog-klädda höjder omvexlande med vattendrag, hvaraf man kan räkna ett 20-tal, och trakten ligger åt 3:ne håll såsom en panorama under ens fötter« (STÅ, 1888, S. 52). 41 | Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/New York: Routledge 1992, S. 7. 42 | Bergman, A.O.: »Syftlinjer öfver afvägningspunkten vid Svenska Turistföreningens hydda på Gellivara Dundret« (STF, 1994, geg. S. 261). 43 | »De flesta, som skåda den fagra, blåskimrande käglan, gripas af lust att få se henne på närmare håll och utforska hennes intimare behag« (ST Å, 1905, S. 155). 44 | Vgl. v.a. Sörlin, Sverker: Framtidslandet. Debatten om Norrland och naturresurserna under det industriella genombrottet, Stockholm: Carlssons Bokförlag 1988; ErlandsonHammargren, Erik: Från alpromantik till hembygdsromantik.
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Superlativen, in schmeichelhaften Vergleichen der schwedischen mit anderen Landschaften, die z.B. den Stora Sjöfallet in Relation zu den Niagara-Fällen setzen, oder mit anderen Ländern, vor allem Norwegen, Österreich und der Schweiz, mit denen Schwedens Landschaft sich in einer Art Schönheitswettbewerb zu befinden scheint. Es ist die Rede von »Dalarnas Schweiz« (STÅ, 1887, H. 2, S. 6) oder von einem »amerikanischen Canyon en miniature« (»amerikansk canyon i miniatyr«; STÅ, 1887, H. 2, S. 12-13). An anderer Stelle heißt es: Zu den interessantesten Erscheinungen in der Welt unserer Fjells müssen wir doch die Gletscher rechnen, die lange Zeit in einer Weise übersehen wurden, dass wir nicht einmal wussten, dass es sie in unserem Land gibt. Und doch besitzt Schweden eine große Zahl davon, dass es in Bezug auf die Rangordnung unter Europas Ländern, die Gletscher besitzen, beinahe mit Tirol gleichgestellt werden kann. Unsere schwedischen Gletscher weisen im Allgemeinen dieselben Besonderheiten wie die der Schweiz auf. 45
Deutlich wird hier nicht nur der nationale Aspekt, sondern auch das Neue, das das Interesse für Gletscher und Hochgebirgslandschaften in den 1880er Jahren noch darstellt. Mit dem Titelbild der 1889-Ausgabe, das einen der Sarek-Gletscher abbildet, will man, so heißt es weiter in dem soeben zitierten Artikel, explizit Alpinisten auf die Besteigung schwedischer Gletschergebiete aufmerksam machen. Nicht selten finden sich aber auch direkte nationalistische Appelle, die durchaus zum Programm des Vereins gehörten: Denn es ist sicher, dass, wenn die heilige Glut der Vaterlandsliebe nicht bei dem erwacht, der die Gelegenheit hat, sich mit eigenen Augen in unserem herrlichen Vaterland umzusehen, dann kann nichts sie wecken und dann ist dieser Mann oder diese Frau es nicht wert, Schwedisch genannt zu werden. 46
Die Natur wird hier zum Testfall patriotischen Gefühls und zum Träger nationaler Werte, Landschaftsformationen werden als spezifisch schwedisch kanonisiert und mit politischen Zielsetzungen belegt. Übertragbar und verallgemeinerbar auf den Tourismusdiskurs ist die Tendenz zu Vergleichen und Superlativen, die in den nationalistischen Äußerungen häufig auftritt, sowie natürlich ganz allgemein 45 | »Till de intressantaste företeelserna inom vår fjällverld må vi dock räkna jöklarne eller glaciärerna, som länge varit till den grad förbisedda, att vi ej ens vetat, att sådana finnas inom vårt land. Dock eger Sverige ett så stort antal dylika, att det i afseende på rangordningen bland Europas jökelbärande länder är närmast likstäldt med Tyrolen. Våra svenska jöklar förete i allmänhet samma märkvärdigheter som de schweiziska« (ST Å, 1889, S. 5). 46 | »Ty visst är, att, om ej fosterlandskärlekens heliga eld vaknar hos den, som är i tillfälle att med egna ögon se sig omkring i vårt härliga fädernesland, då kan intet väcka den till lifs, då är den mannen eller kvinnan ej värd att kallas svensk« (STÅ, 1888, S. 84; Hervorhebung im Original).
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die Debatte um Nutzung oder Bewahrung der Natur. Ebenso wie die damals auch unter den Mitgliedern des Touristenvereins höchst umstrittene Frage, ob Norrland als Naturraum bewahrt oder seine Bodenschätze genutzt werden sollten, so dass es zu einem »Zukunftsland« werden könne, ist auch der »nation building«-Diskurs zeit- und ortsbedingt und bedarf der genaueren historischen Kontextualisierung, wie sie Sverker Sörlin vorgenommen hat. Verallgemeinerbar ist dabei die Frage, in welchem Verhältnis Tourismus und die Bewahrung der Wildnis zueinander stehen, die in einer anderen Aneignungs-Strategie, die vor allem in Beschreibungen von Bergbesteigungen zutage tritt, noch deutlicheres Profil gewinnt. Angeregt durch den Alpinismus machen sich auch schwedische Wanderer zu Erstbesteigungen der Berggipfel in der Fjellregion auf. Dabei werden Eroberungsund Erstheitsbestrebungen besonders klar herausgestellt: Es geht um jungfräulichen Boden, die erste Besteigung des Kebnekaise, die erste Winterbesteigung, die erste Besteigung durch Frauen usw. Die Beschreibungen der Aufstiege stehen also im Zeichen des Wettstreits und der Rekorde, die Natur bietet sich dar als zu bezwingendes Objekt: Die Berge werden höher, ihre höchsten Spitzen sind kahl, es liegt etwas Trollhaftes, Geheimnisvolles in den dunklen Wäldern, die die Strände der Seen umgrenzen, Euer Gefühl erfährt eine Sehnsucht, diesen geheimnisvollen Schleier zu durchdringen, zu durchreißen – […]. 47
In einem Vortrag auf der Jahresversammlung des Touristenvereins im März 1889 wird dieser »internationale Alpendurst« (»internationale Alptörst«) mit der Nervosität des modernen Menschen begründet, also als Kompensationsphänomen und Zivilisationsmüdigkeit erklärt. Die Erstheitsbestrebung leitet sich damit als Modernitätsphänomen her, das die Suche nach Ursprünglichkeit als ein Abenteuer zu entfalten sucht, in dem Sinne, wie Georg Simmel es in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1911 beschrieben hat.48 Der Abenteuerdrang, der ausdrücklich auf das Neue und größtmögliche Authentizität, auf Grenzüberschreitung und die Erschließung von Ursprünglichem abzielt, lässt die Berghelden der Jahrhundertwende als die Innovatoren einer Reiseform gelten, die sich als Gegenbewegung zum Massentourismus begreift. Dabei wird nicht nur der Pioniergeist, sondern auch die Gefahr der Unternehmung besonders betont. Im Gegensatz zu anderen, eher additiv organisierten Berichten weisen die Texte über Bergbesteigungen durchaus spannungsgenerierende Elemente auf: Schneefelder, Eisspalten, Dunkelheit, furchtsame samische Begleiter, Nebel u.Ä. erschweren den Aufstieg und heben die eigene Leistung hervor: 47 | »Bergen blifva högre, deras högsta spetsar äro kala, det ligger något trolskt, hemlighetsfullt i de mörka skogarne, som kanta sjöns stränder; edert sinne känner en längtan att genomtränga, att slita denna hemlighetsfulla slöja – […]« (STÅ, 1887, S. 20-21). 48 | Vgl. Simmel: »Das Abenteuer«.
Touristische Natur Aber als der Anstieg steiler wurde, weigerte der Finne sich weiterzugehen, da er den Stab durch die dünne Eisdecke stechen konnte ohne auf festen Grund zu treffen unter der darunter liegenden dicken Schneedecke. H und ich gingen trotzdem weiter, obwohl der Finne behauptete, dass wir nie zurückkommen, sondern herunterstürzen und vom Schnee begraben werden würden. Nach einer Weile musste ich unsere Eisaxt hervorholen um Stufen ins Eis zu schlagen. Es gelang, die Stufen hinaufzukommen, auch wenn das Eis unter uns leicht brach. Zum Schluss krochen wir auf Knien und kamen zu einem Absatz, über dem sich eine noch steilere Eiswand als die vorige erhob. 49
In Passagen wie dieser scheint die Natur sich den Eroberungsbestrebungen entgegenzustellen und sich der Unterwerfung zu widersetzen. Doch der Mensch ist siegreich und untermauert seine Gründungsgeste, indem er das Erreichte durch Markierungen in der Landschaft belegt. Als Bezeugung seiner Anwesenheit referiert er genaue Messungen von Längen- und Breitengraden, von exakten Höhenund Luftdruckangaben und verewigt seine Erstbesteigung: Bevor wir vom Gipfel abstiegen, schlugen wir unsere Namen tief in das Eis ein mit riesengroßen Buchstaben. Für den Fall, dass jemand bald danach den Gipfel bestiegen sollte, wollten wir, dass er sehen sollte, dass er nicht der erste war. 50
Michael Ott hat in solchem Zusammenhang von »medialer Kolonialisierung«51 gesprochen. Doch nicht nur der Extremtourismus bedient sich medialer Strategien zur Beglaubigung seiner Eroberungsphantasmen, die mediale »Landnahme« von bestimmten Regionen durch Beweismaterial in Schrift, Bild, Karten und Souvenirs stellt ein übliches Charakteristikum des Tourismus dar, das die Natur aneignet und zum Zeichen ihrer selbst macht. Wo ist nun in all dem die Ambivalenz, die das Verhältnis von Natur und Tourismus in dem Werbeplakat der Nordlandfahrt zu kennzeichnen schien? Wird der touristischen Natur gar keine Eigenständigkeit, kein Handlungspotential zu49 | »Men då stigningen blef brantare nekade finnen att gå vidare, emedan han igenom det tunna istäcke vi klättrade på, kunde stöta ned stafven utan att finna fast mark under det därunder liggande tjocka snölagret. H och jag fortsattelikväl, i trots af finnens påstående, att vi aldrig skulle komma tillbaka utan störta ned och begrafvas af snön. Efter en stund måste jag framtaga vår isyxa för att hugga trappsteg i isen. Det lyckades att komma uppför trappstegen, ehuru isen lätt brast under oss. Till sist kröpo vi på knäna och kommo upp på en afsats, hvaröfver en ännu brantare isvägg än den förra höjde sig« (STÅ, 1890, S. 77-78). 50 | »Innan vi nedstego från toppen, höggo vi in våra namn djupt i isen med jättestora bokstäfver. För den händelse någon snart därefter skulle bestiga toppen, ville vi, att han skulle kunna se, att han icke var den första« (STÅ, 1890, S. 79). 51 | Ott, Michael: »Alleingang. Alpinismus und Automedialität«, in: Dünne, Jörg/Moser, Christian (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitutionen in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S. 241-159.
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gestanden? Im Bestreben, die schwedische Natur touristisch zu erschließen, so muss man schlussfolgern, wird sie in den meisten Fällen zum Objekt, nur selten einmal tritt sie als Akteur hervor. Doch es gibt Passagen, in der die Natur als Handelnde auftritt, als »drohend« (»hotande«; STÅ, 1889, S. 42) zum Beispiel, die den Wanderer zu Umwegen zwingt, als Hindernis, das aber überwindbar ist,52 oder auch als Kraft, die der Wanderer bewundert. Vor allem die oft beschriebenen Wasserfälle werden oft mit Ausdrücken belegt, die ihre Kraft bezeichnen, häufig wird anschließend allerdings auch gleich auf ihre Nutzbarkeit hingewiesen und die Energie und Gewalt gewissermaßen in den Dienst des Menschen gestellt. Eine andere Textstelle, die die Kraft des Wassers beschwört, stellt sie gleichzeitig als mystisch, als »Sagengestalten« (»Sagogestalter«; STÅ, 1896, S. 52) evozierend dar und verschiebt die Macht in menschenähnliche Bereiche. Nur selten einmal gibt es Passagen, die dem Menschen seine Ohnmacht vor Augen führen und die Grenzen der Anthropozentrik aufscheinen lassen:53 Man muss den kolossalen Spalt beachten, der den Berg unmittelbar an und parallel mit seinem östlichen Abhang durchschneidet. Etliche Gründe sprechen dafür, dass sich dieser Spalt langsam weitet. Es ist höchst wahrscheinlich, dass früher oder später eine Katastrophe eintreffen wird und eine unfassbare Bergmasse auf den darunter gelegenen Wald herabstürzen wird.54
Der etwas überraschende Gesamtbefund ist jedoch, dass trotz der Naturbegeisterung, die im STF zweifelsfrei vorherrschte, in den Jahrbüchern überwiegend Strategien der Aneignung, Verwaltung, Medialisierung, Nutzbarmachung oder Eroberung zum Ausdruck kommen. Sie scheinen, im Gegensatz zur Anerkennung der Eigenständigkeit der Natur, den touristischen Diskurs auszumachen. Insofern ist es nur zu berechtigt, dass die Vereinsmitglieder sich selbst als Touristen bezeich52 | »[…] er versteht aber auch, warum es gerade die am schwersten zugänglich Berge sind, die für die Bergsteiger am verlockendsten sind. Je größer der Widerstand, desto angenehmer wird nämlich der Sieg. Es ist daher das Gefühl der besiegten Schwierigkeiten, das den Kernpunkt der Freude des Bergsteigens ausmacht.« (»[…] han förstår emellertid också, hvarför det just är de svårtillgängligaste bergen, som för bergsklättrarne äro de mest lockande. Ju större motståndet är desto angenämare blir nemligen segern. Känslan af besegrade svårigheter är det sålunda, som utgör kärnpunkten i bergsklättringens behag« (STÅ, 1889, S. 55). 53 | Weitere Beispiele Erlandson-Hammargren: Från alpromantik till hembygdsromantik, S. 82 (1900, S. 134) und S. 142 (1896, S. 52). 54 | »Man lägge märke till den kolossala spricka, som genomskär berget omedelbart vid och jämnlöpande med dess östra brant. Åtskilliga skäl tala för att denna spricka småningom vidgar sig. Det är högst sannolikt, att förr eller senare en katastrof skall inträffa och att en ofantlig bergmassa då skall nedvältras öfver den nedanför belägna skogen« (STÅ, 1889, S. 81).
Touristische Natur
nen. Natur wird in den hier untersuchten Schriften nicht als ökologisches System, als Landschaftsraum gesehen, in dem Boden, Gestein, Pflanzen, Tiere und evt. auch Menschen interagieren und dem mit Umweltbewusstsein begegnet wird. Selektiv richtet sich die Aufmerksamkeit auf Berggipfel, Wegmarkierungen und Aussichtsplätze, die stets auf die Erleichterung, den Genuss oder die Eroberung des Menschen hin zugeschnitten repräsentiert werden. Diese Erschließung des schwedischen Naturraums wird individuell sicher unterschiedliches Erleben befördert haben: Dem einen ging es um kontemplative Ruhe, dem anderen um sportliche Ertüchtigung, dem dritten um Gemeinschaftserlebnisse. Indem der STF entlegene Gebiete überhaupt erst bekannt und zugänglich gemacht hat, kann auch er als »illegitimer Erzeuger«55 eines modernen Umweltbewusstseins gelten, die Illegitimität in dieser Genealogie betrifft die hier herausgearbeiteten Strategien der Aneignung, die aus entlegenen Landschaften »touristische Natur« gemacht haben.
55 | Radkau: Die Ära der Ökologie, S. 458.
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Mit Herrn Baedeker ins Grüne Die Popularisierung der Natur in Baedekers Reisehandbüchern des 19 . Jahrhunderts Kathrin Maurer
Der Verleger und professionelle Tourist Karl Baedeker (1801-1859) veröffentlichte 1832 sein erstes Baedeker-Reisehandbuch und legte damit den Grundstein zu der außergewöhnlichen Karriere seines Verlages: Die Baedeker avancierten zu den Erfolgsschlagern der deutschen Reisebuchbranche und werden bis heute publiziert. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts schnellte die Auflage der in viele Sprachen übersetzten handlichen roten Büchlein in die Höhe, und der Verlag vermerkte hervorragende Verkaufszahlen.1 Die Söhne des Gründers führten das Unternehmen erfolgreich in Baedekers Namen weiter, und der Reiseführer erreichte bereits unter den Touristen des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Kultstatus. Selbst Mark Twain, Kurt Tucholsky und Sigmund Freud reisten nur ungern ohne ihn. Sogar in der Literatur führt der Baedeker die Figuren samt deren Autoren auf die rechten Wege. In Jules Vernes Roman Der Stahlelefant (1880) geht der Protagonist mit dem Baedeker auf eine Entdeckungsreise nach Indien, und Karl May orientierte sich beim Verfassen seiner Abenteuergeschichten an Baedekers Karten und Landschaftsbeschreibungen. Doch der Baedeker gehörte keinesfalls ausschließlich zu einer intellektuellen Elite; publiziert in großer Auflage richtete er sich an das Massenpublikum des deutschen Bildungsbürgertums, das im 19. Jahrhundert das Reisen entdeckte. Das Erleben der Natur spielt im Baedekerischen Reisevergnügen eine wichtige Rolle. Neben den kulturellen Sehenswürdigkeiten gibt das Reisehandbuch praktische Hinweise zu den Natursehenswürdigkeiten und geschichtliche, geologische und topographische Informationen über Gebirge, Seen, Meere, Wälder und Wasserfälle. Historiker und Kulturwissenschaftler stellen die Diskurse über die Natur in den (deutschsprachigen) Baedekern oft in einen Zusammenhang mit dem 1 | Siehe dazu Koshar, Rudy: Baedeker’s Germany, in: German Travel Cultures, Oxford, NY: Berg 2000, S. 19-64.
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politischen Prozess der Nationalisierung im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts.2 Es ist sicherlich richtig, dass die Natur in den Baedekern oft national codiert wird. Gerade zur Zeit des Wilhelminismus fungierten sie oft als patriotische Reiseführer des geeinten Deutschlands. Dennoch scheinen die Baedeker sich nicht ausnahmslos in dieses Nationalisierungsprogramm einzufügen. Wenn ich mir die Baedeker um die Mitte des 19. Jahrhunderts (insbesondere Ausgaben über Süddeutschland, Schweiz, Tirol und Italien) genauer ansehe, bekomme ich nicht den Eindruck, dass ich mich auf eine nationale Entdeckungstour begebe. Stattdessen erinnern mich die Baedeker’schen Naturbeschreibungen an alte, verstaubte Herbarien und an nomenklatorische Sammlungen von Naturphänomenen. Nur anstelle der getrockneten Pflanzen sehe ich akribische Kataloge von Natursehenswürdigkeiten. In diesen Katalogen wird die Natur nicht für ein nationales Ziel instrumentalisiert und dabei in einen geschichtlichen progressiven Entwicklungsprozess eingebunden, sondern sie bekommt vielmehr den Charakter einer statischen Entität und eines abgeschlossenen Raums. Inspiriert durch die Thesen des Soziologen und Anthropologen Bruno Latour3 sollen in diesem Aufsatz anhand von Baedekern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten im Hinblick auf Naturdarstellungen markiert werden. In soziologischen und ästhetischen Theorien zur Moderne werden moderne Wissensordnungen oft als entwicklungsbestimmtes, temporal geprägtes und innovatives Denken gekennzeichnet, und das Vor- bzw. Nichtmoderne bekommt im Gegenzug die Attribute des Statischen, Räumlichen und Typologischen zugeschrieben. Laut Latour kann das Aufbrechen bzw. Infragestellen gerade dieser Oppositionen neue Beobachtungsmöglichkeiten über Wissensformation liefern. Dementsprechend können wir beispielsweise beobachten, inwiefern vormoderne Denkfiguren über Natur in modernen Diskursen über Natur des 19. und 20. Jahrhunderts zirkulieren. Somit soll im Folgenden zu zeigen versucht werden, dass im Gegensatz zu nationalistischen modernen Codierungen der Natur der Baedeker vormoderne Naturarchive erstellt, die den naturhistorischen Sammlungen des frühen 18. Jahrhunderts ähnlich sind. Das Ziel meines Beitrags ist, diesen Naturkatalogen im Baedeker poetisch, kulturwissenschaftlich und modernitätstheoretisch auf die Spur zu kommen. Der erste Teil des Aufsatzes veranschaulicht die Kommerzialisierung und Nationalisierung der Natur im Baedeker als einen modernen Naturdiskurs und geht auf die Entwicklungen des Tourismus im 19. Jahrhundert ein. Daran anschließend versuche ich durch genaue 2 | Siehe dazu Koshar: Baedeker’s Germany, S. 19-64. Auch folgende Darstellung betont die nationale Orientierung des Baedekers: Benedikt Bock: Baedeker & Cook. Tourismus am Mittelrhein 1756 bis ca. 1914 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, Bd. 26), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2010. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Natur und Nation im Baedeker siehe vor allem Bock: Baedeker & Cook, S. 278-288. 3 | Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer asymmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag 1995.
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und exemplarische Textlektüren des Baedekers gerade diese Beobachtungen über die Nationalisierung kritisch zu erweitern und vormoderne bzw. pränationale Repräsentationsmodi der Natur hervorzuheben.
1. TOURISMUS IM 19. J AHRHUNDERT Bereits in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts bemerkte die vielgereiste Johanna Schopenhauer eine »epidemieartige Reiselust, die in einem einzigen Jahre zehnmal so viel Reisende auf den Heerstraßen hin und her treibt, als ehemals in zehnmal so langer Frist«4 . Diese Reiselust entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Reiseboom. Die Verbesserungen des Transportwesens, wie z.B. der rasante Ausbau des Eisenbahn- und Dampfschifffahrtnetzes sowie der Anstieg des Straßenverkehrs, beflügelten das Reisen. Aber auch die zunehmende Industrialisierung und Kapitalisierung der Gesellschaft in der Zeit des Wilhelminismus schuf für das aufstrebende Bürgertum ein Bedürfnis nach Freizeit. Viel mehr Menschen arbeiteten nun in einem Angestelltenverhältnis in Büros, Bildungsanstalten oder anderen gesellschaftlichen Institutionen. Die Arbeitszeit war dadurch viel geregelter, und die Menschen begannen mehr zwischen Arbeit und Freizeit zu differenzieren. Das sogenannte Reichsbeamtengesetz von 1873 und die Tarifverhandlungen dieser Zeit legten die ersten Urlaubsansprüche auf offizielle Weise fest.5 Dadurch wurde die Nachfrage nach touristischen Angeboten beträchtlich, und der Tourismus wuchs zu einer eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Branche. Das Reisen wurde zu einem Massengeschäft; die tradierten Reiseformen wie die aristokratische »Grand Tour« sowie die individuelle Bildungsreise wurden von touristischen Organisationen schlichtweg überrollt. Die Sommerfrische, die Spa- und Ressortaufenthalte, die Pauschalreisen, der Besichtigungstourismus und der Wintersport gehörten zum Lebensstil der bürgerlichen Schichten. Das Erlebnis der Natur als Freizeit steht auch im Baedeker im Mittelpunkt. Im Kontrast zum städtischen Leben versprach beispielsweise ein Aufenthalt in den Bergen frische Luft, Gesundheit und Entspannung vom Alltag. Die romantische Entdeckung der Natur als ein individuelles, gefühlsbetontes Erlebnis nahm im Baedeker die Form eines programmierten Spektakels an. So war das Rheintal schon lange ein Anziehungspunkt für Reisende, doch im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es systematisch für den kommerziellen Tourismus erschlossen. Nun konnte man mit der Eisenbahn durch den Loreley-Tunnel durch die wilde und pittoreske Rheinlandschaft brausen und dabei dem Komfort des Speisewagens frönen. Auch die Alpen wurden Ziel des Massentourismus. Zuvor mehr oder weniger ein Hindernis auf dem Weg nach Italien und ein exklusiver Erlebnisraum für individuelle 4 | Schopenhauer, Johanna: Ausflug an den Niederrhein und nach Belgien im Jahr 1828, Leipzig: Brockhaus 1831, S. 103. 5 | Bock: Baedeker & Cook, S. 264.
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Bergsteigertouren, entwickelten sie sich nun zum beliebten Reiseziel für die ganze Familie. Die Natur im Baedeker repräsentiert somit keine wilde Natur, sondern sie steht ganz im Zeichen des Komforts und des kultivierten bürgerlichen Lebensstils. Dementsprechend gibt Baedekers Schweiz (1905)6 beispielsweise genaueste Anleitungen, wie man sich in den Alpen zu bewegen hat. Nicht nur exakte Tourenpläne, Reisekostenaufstellungen und Vorschläge zur Reiseausrüstung sind hier zu finden, sondern auch Tipps für Allergiker, Lungen und Nervenkranke. Baedeker schreibt gleichzeitig als Reiseleiter, Laiendoktor und Therapeut: »Kurmusik, lautes Treiben auf den Promenaden oder geräuschvoller Sport können den Neurastheniker zur Verzweiflung bringen und die Vorteile der herrlichsten Alpenluft aufheben.«7 Weiterhin gibt er Ratschläge über das Gehtempo bei Wandertouren, die Kunst des Gepäckvorrausschickens und warnt zudem davor, dass das Gletscherwasser nie ohne die »Beimischung von Cognac, Kirsch oder Rum«8 zu genießen sei. Damen wird folgendes als Wanderausrüstung empfohlen: »Flanellblusen für Touren und eine Seidenblouse fürs Quartier. Ganz praktisch sind Pumphosen, unter dem Rock getragen, der dann bei Klettertouren abgelegt wird.«9 Herr Baedeker hat einfach für alles eine Lösung. Aus diesen wenigen Beobachtungen über das Baedekerische Reisen geht bereits hervor, dass das Naturerleben durch zivilisatorische, kulturelle und soziale Paradigmen bestimmt wird. Die Natur steht für einen bürgerlichen Möglichkeitsraum, in dem sich ein kollektives Massenvergnügen entwickeln kann. Roland Barthes, der in seiner Essaysammlung Mythologies10 über das französische Pendant des Baedekers, den sogenannten Guide Bleu, geschrieben hat, stellt das Prädikat des touristischen Pittoresken als eine Verlängerung der bürgerlichen Ideologie dar. Das touristische Erleben der Natur folgt denselben Rhythmen, moralischen Kategorien und Werten des bürgerlichen Arbeitslebens; die Wandertour ist nur ein routiniertes Echo des Stakkato und Akkordtakts der Büros, der Schulen und der anderen öffentlichen Institutionen. An diese ideologiekritischen Thesen anschließend argumentieren, wie bereits einleitend angemerkt, gegenwärtige Forschungsarbeiten für eine Nationalisierung der Naturdarstellungen im Baedeker. Dementsprechend kommerzialisiert der Reiseführer die Natur und schafft damit gerade die Voraussetzungen der nationalen Identifikation mit den bereisbaren Naturräumen. So kennzeichnet der amerika6 | Baedeker, Karl: Baedekers Schweiz. Die Schweiz nebst den angrenzenden Teilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende, Leipzig: Verlag Karl Baedeker 1905, 31. Aufl. 7 | Ebd., S. XIX-XX. 8 | Ebd., S. XXIII. 9 | Ebd., S. XXI. 10 | Barthes, Roland: »The Blue Guide«, in: Mythologies, übersetzt von Annette Lavers, New York: Hill und Wang 1957, S. 74-77.
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nische Historiker Rudy Koshar auch die frühen Baedeker (also aus den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts) und deren Repräsentationsmodi von Natur und Kultur als politische Dokumente des politischen Liberalismus, mit denen das bürgerliche Individuum die nationalen Grenzen unter eigener Regie selber setzten konnte.11 Karl Baedeker, selbst aus einem politisch liberalen Umfeld kommend, sieht somit sein Reisehandbuch als ein Mittel zur nationalen und liberalen Emanzipation. Im Vorwort zu Baedekers Rheinlande heißt es: Erste Aufgabe desselben ist, die Unabhängigkeit des Reisenden so viel als möglich zu sichern […] ihm behülflich zu sein, auf eigenen Füssen zu stehen, ihn frei zu machen und ihn so zu befähigen, mit frischem Herzen und offenen Augen alle Eindrücke in sich aufzunehmen.12
Die Freiheit des bürgerlichen Reisenden verbindet sich mit der Entdeckung des nationalen Territoriums, so verbinden sich Liberalismus und Nationalismus, wie es ja für die Zeit des Vormärzes in Deutschland typisch war. Obwohl Koshar zwischen den frühen und späten Baedekern des 19. Jahrhunderts differenziert, steht das Erfahren der Natur bei einem Ausflug ins Grüne, bei einer Reise durch das Rheinland oder in das Umland Berlins immer im Zeichen eines nationalen identitätsstiftenden Diskurses. Dabei erscheint ihm die Natur als eine Folie von Exklusionen: Das sind z.B. die Arbeiter, die sich das bildungsbürgerliche Reisen nicht leisten konnten, und die Frauen, vor deren Dabeisein auf den Reisen (trotz der Angaben über deren Reisebekleidung) Baedeker ausdrücklich warnt. Diese Exklusionen markieren im Baedeker die Ein- und Ausgrenzungen einer politischen Gemeinschaft und der Reiseführer steckt damit ein nationales Territorium ab, das eben nur von manchen betreten werden kann. Doch trotzdem erscheinen mir diese Lesweisen als zu einseitig, um den Naturdarstellungen im Baedeker aus der zweiten Jahrhunderthälfte vollends gerecht zu werden. Zu thematisch-historisch liest man so über die sprachlichen und strukturellen Repräsentationsmechanismen der Naturdiskurse hinweg. Genau bei diesen möchte ich jedoch in den folgenden beiden Sektionen meines Aufsatzes ansetzen, um die Natur als einen vormodernen Raum entschlüsseln zu können und damit den Baedeker nicht nur als Ideologiebeleg und Instrument des Nationalismus, sondern als eine spannende historische Quelle über Anachronismen und Ungleichzeitigkeiten der Moderne zu deuten.
11 | Koshar: Baedeker’s Germany, S. 19-64. 12 | Baedeker, Karl: Baedekers Rheinlande von der Schweizer bis zur holländischen Grenze, Coblenz: Karl Baedeker 1866, 14. Aufl., S. III.
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2. D IE E NZ YKLOPÄDISIERUNG DER N ATUR IM B AEDEKER Im Vergleich zu anderen Reiseführern des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, wie z.B. die zeitgenössischen englischen Reisehandbücher (Murray’s Travelguide oder die Reisebücher von Thomas Cook), sind die Baedeker weit weniger ausführlich, verbos und anekdotisch geschrieben. Knappe Teilsätze, zahlreiche Abkürzungen, Listen mit Fakten und Daten, Informationen in Klammern sowie minimale narrative Verknüpfungen bestimmen das Lesen. Die Abbildung des Layouts einer Seite aus Baedekers Rheinlande13 illustriert diesen gedrängten und dichten Stil.
Darstellung der für den Baedeker typischen Text- und Bildgestaltung (aus Baedekers Rheinlande, 1912)
Verschiedene Schriftgrößen, Fettdruck und Absätze heben wichtige Informationen in den Vordergrund. In Klammern gesetzte Höhenmeter und Kilometerangaben präzisieren die Lage der Orte; ausgeklügelte Kurzformen machen genaue Wegangaben. Die Autoren des Baedeker waren die Meister der rhetorischen Trope der »brevitas«, die laut dem römischen Rhetoriker Quintilian den Sprecher dazu anhält, weder zu viel noch zu wenig zu sagen: »Die Kürze (brevitas): Vermeidung alles Überflüssigen, den Redegegenstand ›nicht nur deutlich vor Augen stellen, sondern
13 | Baedeker, Karl: Baedekers Rheinlande. Die Rheinlande, Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, Leipzig: Karl Baedeker 1912, 32. Aufl., S. 465.
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in knappen Umriss und rasch‹ (Quint. VIII, 3, 81).«14 In der Tat gibt es im Baedeker keine nutzlosen Leerzeichen, keine Ausschweifungen, alles wird verdichtet und so effizient wie möglich dargestellt. Der Baedeker vermittelt vielmehr den Eindruck einer Enzyklopädie, die Kataloge von Wissen entwirft und lexikalisch anordnet. Diese Anordnung ist vor allem im Hinblick auf die Naturdarstellungen interessant. Einerseits versucht der Baedeker noch die romantischen Landschaftserlebnisse, die ja für den Leser und Reisende des frühen 19. Jahrhunderts ausschlaggebend waren, mit emotionalen Adjektiven und dergleichen nachzuempfinden. Andererseits durchzieht er die romantischen Stimmungsattribute durchweg mit sachlichen und faktischen Informationen. Ulrike Pretzel fasst den sprachlichen Stil im Hinblick auf Naturdarstellungen wie folgt zusammen: »Die Sachlichkeit hat absoluten Vorrang vor stimmungsvollen Naturbeschreibungen. […] Korrekte, genaue Ortsangaben haben Vorrang vor dem Entwerfen von Landschaftsbildern.«15 Auch das Kapitel über die Naturlandschaften des Schwarzwaldes enthält diesen Stil der »brevitas«. Im dessen Einleitungskapitel verzeichnet der Baedeker in einem knappen Absatz genaue Angaben über seine geographischen Ausmaße, sein geologisches Fundament (»Gneis, Granit, Buntsandstein«16), seine Vegetation (»Fichten«, »Tannen, »Moosteppiche«, »Farne«17) sowie seine Seen (»Moorsee«, »Gletscherseen«18). Der Baedeker klassifiziert den Schwarzwald als Naturraum in Listen und Katalogen. Diese Inventare werden auch topographisch ausgeweitet. So erfährt man z.B. über den Bergsee namens Titisee folgende Information: »Der Titisee (848 m ü. M., 107, 8 ha groß, 40 m tief), wie alle Schwarzwaldseen ein altes Gletscherbett, wird hauptsächlich durch den vom Feldsee kommenden Seebach gespeist und entsendet talwärts die Wutach (auf der ersten Strecke Gutach genannt).«19 Diese Angaben veranschaulichen nicht nur ein Musterbeispiel der »brevitas«, sondern sie ordnen das Wissen über den Naturraum auf enzyklopädische Weise an. Die Beschaffenheit des Sees verkörpert kein atmosphärisches, individuelles Erlebnis, sondern sie wird durch die Aufzählung von Daten registriert. Damit konstruiert der Baedeker eine auf Fakten und statistischem Wissen basierende Vorstellung der Natur. Diese Wissensindexe der Natur ziehen sich durch das gesamte Schwarzwaldkapitel. Sie tauchen bei der Beschreibung der Wasserfälle in Triberg auf, die dem
14 | Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Der Grundriss der Rhetorik. Geschichte-Technik-Methode, 3. Aufl., Stuttgart: Metzler 1994, S. 284. 15 | Pretzel, Ulrike: Die Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchungen am Beispiel des Rheins (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1531), Frankfurt a.M.: Peter Lang 1995, S. 114. 16 | Baedeker: Baedekers Rheinlande, S. 384. 17 | Ebd., S. 384. 18 | Ebd., S. 384. 19 | Ebd., S. 422.
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Leser exakte Angaben über ihre Wassermasse, ihre Wucht und ihre Höhe liefert.20 Bei der Darstellung des Höllentals (ein Tal zwischen der Stadt Hinterzarten und dem Dorf Himmelreich) zählt der Verfasser die Höhenmeter, die Distanzen zu anderen geographischen Orten und die Fakten seiner geologischen Beschaffenheit auf penibelste Weise auf.21 Der Naturraum erscheint als eine poetisch anmutende Nomenklatura geographischer Namen; die höchste Erhebung des Schwarzwalds, der Feldberg, konstituiert sich aus dem verdichteten Netz der Ortsnamen (»Sonneck«, »Hinterwaldkopf«, »Rinken«, »Hörnle«22). Diese systematische Vermessung des Naturraums geschieht nicht nur im Hinblick auf die Regionen in Deutschland, sondern der Baedeker schildert auch andere Natursehenswürdigkeiten Europas auf diese Weise. Selbst der wunderschöne Lago Maggiore in Italien kommt unter das Messer der »brevitas«, und der Leser wird pedantisch über seine Länge, Durchschnitt, Tiefe, Seefläche, Lage und Wassertemperatur unterrichtet: »Der *Lago Maggiore (194 m ü. M., größte Tiefe 372 m), deutsch Langensee, der Lucas Verbanus der Römer, ist wahrscheinlich durch eine große Querverschiebung der Südalpen entstanden […].«23 Dieses Inventarisieren der Natur kennt keine spezifischen nationalen Grenzen, sondern verkörpert ein universales Beschreibungsraster, das im Prinzip auf jede europäische Kultur anwendbar ist. Somit macht der Baedeker keineswegs ausschließlich für die deutschsprachigen Naturlandschaften Reklame, sondern berichtet mit gleicher Präzision und »wissenschaftlichem« Enthusiasmus über die Natur- und Kultursehenswürdigkeiten in anderen Ländern, wobei man jedoch seine eurozentrische und bildungsbürgerliche Perspektive im Auge behalten muss.24 Einen spezifischen deutschen Kultur- oder Naturnationalismus vermitteln diese Baedeker jedenfalls nicht. Der Fels der Loreley ist genauso sehenswert wie der Ätna auf Sizilien oder das Erlebnis einer Wolga-Fahrt in Russland. Wenn man diese verschiedenen vom Baedeker beschriebenen Naturräume aneinanderlegen würde, ergäbe sich ein kartographisches Konstrukt, das grenzüberschreitend und universal ausgerichtet ist. Das einzige Instrument, die Natursehenswürdigkeiten qualitativ zu unterscheiden, bietet ein ausgeklügeltes Asterisken-System: Bei einem Sternchen ist der Besuch empfohlen, zwei Sternchen deuten an, dass man die jeweilige Attraktion keinesfalls verpassen sollte. Es geht also nicht darum, die Naturräume nationalistisch aufzuladen, vielmehr steht die Kartographierung einer universalen Kulturgemeinschaft, die vor allem durch die Reisenden getragen wird, im Vordergrund. Auch der Baedeker-Tourist selbst verfolgt weder eine spezifische nationale Mission 20 | Ebd., S. 405. 21 | Ebd., S. 419. 22 | Ebd., S. 422. 23 | Baedeker, Karl: Baedekers Riviera und Südost-Frankreich, Leipzig: Karl Baedeker 1913, 5. Aufl., S. 45. 24 | Baedeker verlegte jedoch durchaus Reiseführer über Kleinasien, Ägypten, Algerien, Palästina und Syrien.
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noch soll er eine solche durch seine Reisen erlernen. Der Baedeker-Tourist verkörpert eher ein Mitglied eines transnational gearteten Club-Méditerranées, der auf anachronistische Weise Sammelleidenschaft mit organisiertem Freizeitgenuss verbindet. Baedekers Naturbeschreibungen stehen somit quer zu den damaligen Nationalisierungen der Natur, wie es in den sogenannten Heimatromanen, der Vaterlandsliteratur, den Naturhandbüchern sowie den illustrierten Zeitschriften der Fall ist.25 Seine Naturdiskurse ähneln vielmehr den frühen Enzyklopädien der Naturhistoriker, wie z.B. denen von Carl von Linné, der im 18. Jahrhundert die Grundlagen von botanischen und zoologischen Kategorien schuf. So ordnen Linnés Werke die Naturreiche der Tiere, der Pflanzen und der Mineralien mittels Begriffen der Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Vielfalt. Baedekers Naturdiskurse weisen in Ansätzen Ähnlichkeiten auf, da diese ebenfalls darauf abzielen, die Phänomene in ein universelles Ordnungssystem einzufügen. Laut Michel Foucault beschreiben diese naturhistorischen Ordnungen des 18. Jahrhunderts perfekte Welten, in denen die Merkmale der Naturphänomene hierarchisch und als ein geschlossenes System geordnet werden können: »Die Naturgeschichte ist nichts anderes als die Benennung des Sichtbaren.«26 Im Gegensatz zu den Perfektibilitätsmodellen der Moderne, die die Natur auf einen entwicklungstheoretischen Ursprung, auf das Individuum oder auf eine unsichtbare symbolische Idee (wie z.B. Nation) festlegen, geht es in den Taxonomien um die Sammlung des Sichtbaren. Wie kann man die Präsenz dieser naturhistorischen Episteme des 18. Jahrhunderts im Bestseller der deutschen Reisehandbücher des 19. und 20. Jahrhunderts verstehen? Eine Antwort auf diese Frage soll im folgenden Abschnitt mithilfe der Figur des Panoramas versucht werden.
3. B AEDEKERS B ERGPANOR AMEN UND DIE VORMODERNE C ODIERUNG DER N ATUR Das von Robert Barker 1787 patentierte Bildmedium Panorama wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland bekannt, und das Rundbild entwickelte sich schnell zu einem populären Massenmedium.27 Neben historischen Schauplätzen zeigten die Panoramabilder oft touristische Attraktionen und Sehenswürdigkeiten. Beliebt waren z.B. spektakuläre Sonnenauf- und Sonnenuntergänge in Berglandschaften oder Küstengebieten; auch Kulturschätze ferner Län25 | Zum Verhältnis von Nation und Natur siehe Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München: Beck 2002, S. 260-274. 26 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 14. Aufl., S. 173. 27 | Über die Entstehung und Entwicklung des Panoramas siehe Oettermann, Stephan: Das Panorama: Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M.: Syndikat 1980.
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der wie indische Tempel, die Pyramiden von Gizeh oder das Kolosseum in Rom wurden in Panoramen bestaunt. Mithilfe dieses Unterhaltungsmediums konnte eine gesamte Familie für ein paar Groschen in die Ferne reisen, ohne das Land zu verlassen. Doch nicht nur für diese »Zimmerreisen« waren die Panoramen populär, in kleinformatiger Ausführung wurden sie auch in den Reiseführern und den Wanderbüchern abgedruckt. Gerade das Genre des sogenannten Bergpanoramas boomte im 19. Jahrhundert: Schier unübersehbar ist die Zahl der Bergrundsichten, die geschäftstüchtige Verleger vor allen in den Jahren 1850-1910 auf den Markt warfen. Die Alpenvereine gaben Blätter für ihre Mitglieder als Beilagen zu den Vereinszeitschriften heraus und ermunterten sie zu eigenen Versuchen; kaum eine Berghütte, die etwas auf sich hielt, die nicht eine Rundsicht von ihrem Standort angeboten hätte. Allein der deutsche Alpenklub verzeichnete in seiner Bibliothek mehr als 600 verschiedene Panoramen, ungerechnet die, die in Büchern gebunden waren. 28
Auch im Baedeker wird der Reisende von einem Gipfel zum anderen geschickt, um dort die Aussicht zu genießen und diese anhand der zahlreichen eingefügten Panoramakarten zu studieren. Vor allem im Baedekers Schweiz (1905) wimmelt es nur so von Panoramakarten. Ein besonders schönes Beispiel ist das der Rigi Kulm, der höchste und nördlichste Berg der Rigi-Gruppe in der Umgebung des Vierwaldstätter Sees.
Panoramakarte der Rigikulm in der Schweiz (aus Baedekers Schweiz, 1905)
Der Baedeker repräsentiert dieses gleich in dreifacher Ausführung mit einer taxonomischen Beschreibung, einer ausfaltbaren Panoramakarte und einem panoramatischen Stimmungsbild in Form einer Textpassage. Dabei stimmen die taxonomischen Beschreibungen mit der visuellen kartographischen Darstellung des Bergmassivs rhetorisch und strukturell überein: Der Text zur Karte und das Kartenbild vermitteln ein Datenarchiv der geographischen Orte, der Bergeshöhen, der Lage der Seen, der Vegetation und der geologischen Gesteinsformationen. So heißt es im Legendentext: 28 | Oettermann: Das Panorama, S. 32.
Mit Herrn Baedeker ins Grüne ** AUSSICHT (vgl. das Panorama). Zunächst und am meisten wird das Auge angezogen von der 200 km lang sich hinziehenden Alpenkette. Sie beginnt mit dem Säntis. An ihn reiht sich der schneebedeckte Rücken des Glärnisch; der Tödi, davor die Clariden und das doppelzackige Scheerhorn […]. 29
Der Text zieht die visuelle Nomenklatur des Bergpanoramas exakt nach und reiht die Ortsnamen listenartig an; dabei hält Baedeker die Passage so kurz und prägnant wie möglich. Kein Adjektiv wird verschwendet; alles ist im Stil der »brevitas« gehalten. Über diese Inventarisierungen der Berglandschaft, die alles Atmosphärische und Emotionale aus der Darstellung der Natur extrahieren, breitet Baedeker im Haupttext zur Rigi Kulm ein romantisches Stimmungsbild aus: Vor Sonnenuntergang ist die Beleuchtung am schönsten, die Aussicht auf das Hochgebirge oft durch Wolken verhüllt. Größere Gewähr für eine reinere Aussicht bietet der frühe Morgen […]. Ein Lichtschimmer im Osten, vor dem der Glanz der Sterne allmählich erbleicht, ist der erste Bote des beginnenden Tages. Der Schimmer verwandelt sich in einen Goldstreifen am Horizont und wirft ein blassrotes Licht auf die schneebedeckten Häupter der Berner Alpen. Eine Bergspitze nach der anderen nimmt den goldigen Schein an, der dunkle Zwischenraum zwischen Horizont und Rigi erhellt sich; Wälder, Seen, Hügel, Städte, Dörfer treten hervor, bis endlich die Sonne, oft mit zuckenden Strahlen hinter dem Gebirge hervorbricht und dann schnell steigt. 30
In dieser Passage scheint der Text mit dem stilistischen Ideal der »brevitas« zu brechen; Adjektive wie »schön«, »blassrot«, und »goldig« werden gebraucht und schaffen ein atmosphärisches Alpenpanorama. Die Ansicht des Naturschauspiels vermittelt eine ästhetisch-pittoreske Erfahrung; die Natur wird erlebbar und sie selbst enthält menschliche Züge (die Sterne erbleichen und die Berge haben Häupter). Doch diese Aspekte bilden lediglich ein zeitgenössisches Kolorit, welches tradierte romantische Wahrnehmungsmuster der Natur aufruft und sie in das Genre des effizienten Reiseführers einzubinden versucht. Damit sind jedoch die naturhistorischen Katalogisierungen der Natur nicht verschwunden, sie werden lediglich pittoresk übermalt. Das lexikalische Fundament des Bergpanoramas bleibt nämlich bestehen und das Stimmungsbild bildet das horizontale Pendant zu den vertikalen Taxonomien. Dabei gewinnt die naturhistorische Dimension auch eine religiöse Ausrichtung, durch die Häufung von religiösen Metaphern suggeriert die in der Textpassage dargestellte Natur nämlich eine präfigurierte und determinierte religiöse Ordnung. Die letzten drei Sätze des Zitats beschreiben eine allumfassende Sicht auf die Berge und ihre Lichtverhältnisse: Die Sonne steigt im Osten in die Höhe, die Naturlandschaft bekommt einen goldenen Schein und das Dunkle erhellt sich. Das Bild der täglich wiederkehrenden aufstrebenden Sonne fungiert 29 | Baedeker: Baedekers Schweiz, S. 120. 30 | Ebd., S. 120.
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nicht nur als Symbol einer Art natürlichen Uhr, die die Welt in einen gleichmäßigen, immer wiederkehrenden Takt einteilt, sondern deutet als Licht- und Lebensquelle auch die Präsens einer göttlich geordneten Natur an. Diese Verbindung des panoramatischen Blickwinkels mit einer göttlichen Perspektive auf die Geschichte wurde bereits lange vor der Erfindung der Panoramamalerei festgestellt. Jacob Böhme beispielsweise charakterisiert den Blick Adams im Paradies als einen panoramatischen: »Sein [Adams] Sehen war Tag und Nacht mit aufgesperrten Augen ohne Wimpern, in ihme war kein Schlaff, und in seinem Gemüthe keine Nacht: denn in seinen Augen war die Göttliche Kraft, und er war gantz und vollkommen.«31 Adams Auge verkörpert das vollkommene Auge Gottes, das im Gegensatz zum Menschen omnipräsent (»kein Schlaff«) ist; es kennt keine blinden Flecke und es kann alles beobachten. Im Medium des Panoramas im 19. Jahrhundert wird der Blick des Zuschauers auf ein 360°-Format scheinbar ermöglicht und simuliert dadurch ebenfalls einen übermenschlichen Sehwinkel. Obwohl das Panorama durch das Massenpublikum die göttliche Allperspektive gleichsam säkularisiert, veranschaulicht es durch seine Perspektivtechnik den Wunsch nach Kontinuität und Totalität, nach einer Geschichte als absolutes Kontinuum jenseits von Veränderungen. Das panoramatische Naturbild verkörpert demnach keine Story mit einem Anfang und einem Ende, sondern eine Augenweide, ein Bild, in dem die Gesetze des Vorher und Nachher, narrative Abfolgen kausaler und chronologischer Verknüpfungen aufgehoben zu sein scheinen. Obwohl es in der RigiTextpassage eine schwache narrative Folge gibt, die den Lichtwechsel des Naturschauspiels nachzieht, bleibt die Natur des Bergpanoramas statisch, unbewegt und abgeschlossen. Das kairologische Moment im alpinen Blick des Baedeker-Bergsteigers entfaltet keine Dynamik auf eine offene Zukunft, sondern die religiösen Metaphern suggerieren eine typologische Perspektivierung der Natur. Die Stimmungsattribute der Morgenröte sind im Bergpanorama fest zementiert und illuminieren lediglich eine schon fertig ausgemalte Welt. So wie die enzyklopädischen Listen über den Schwarzwald suggeriert das Rigi-Kulm-Panorama eine Archivierung und Konservierung der Natur. Weder konfiguriert sich die Natur national noch stellt sie einen Teil einer geschichtlichen fortschreitenden Entwicklung dar, sondern sie vermittelt die überschaubare Welt eines naturhistorischen Sammlers. Durch diese katalogischen und typologischen Weltordnungen, die hier nur exemplarisch aufgewiesen werden konnten, sperrt sich Baedeker gegen die Prozesse der Moderne. Anstatt die nationale Identität anhand von gemeinsamen Naturräumen zu konstruieren und somit einen fortschreitenden nationalen Geschichtsprozess zu suggerieren, schafft der Baedeker Panoramen taxonomischer Übersichten, die eine Sehnsucht nach Übersicht, Differenzlosigkeit und Stasis andeuten. Karl Schlögel formuliert diesen Zusammenhang in seinen Analysen über den Baedeker 31 | Böhme, Jacob: »De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Prinzipien Göttlichen Wesens«, in: Sämtliche Schriften, hg. von Will-Erich Peuckert, Bd. 2, Stuttgart: Frommann 1960, S. 107.
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zu Österreich-Ungarn (1889) mit folgenden Worten: »Alles hat seine Ordnung. Das Reich ist, trotz seiner vielen Völkerschaften, Sprachen, Bekenntnisse, übersichtlich, transparent. Der Baedeker legt die Sichtachsen und die Strecken, spannt das Koordinatennetz, in dem sich auch der Anfänger mühelos bewegen kann.«32 Baedekers Reisehandbücher geben somit einen Einblick in eine Welt von gestern, die eine Nostalgie für eine souveräne Ordnung markieren. Nur an die Stelle des Souveräns hat sich der Reisende des Baedekers selbst positioniert. Wie im Panorama, wo das bürgerliche Subjekt mit den Höhen des Souveräns experimentieren konnte, so beansprucht der Baedeker-Tourist ebenfalls Allaussicht. Der schon sprichwörtlich gewordene Satz aus Jaques Offenbachs Libretto seiner Operette Pariser Leben (1866) bringt dies auf den Punkt: »Könige und Regierungen mögen irren, aber niemals Herr Baedeker.« Doch diese Selbsterhöhung des bürgerlichen Subjekts soll nicht nur als ein Zeichen seiner Emanzipation und seines Nationalbewusstseins gelesen werden, sondern deutet auch auf eine Sehnsucht nach einer vormodernen Weltsicht der Ordnung und Entdifferenzierung; einer Welt, die auf gesellschaftlicher Ebene noch nicht durch Nationalisierungsprozesse auseinandergerissen wurde.
32 | Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007, S. 373.
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Elizabeths »deutsch-englischer« Garten Grenzraum und Gesellschaftskritik um 1900 Vera Alexander
Die Literatursensation des Jahres 1898 in London war ein anonym veröffentlichter Roman mit dem Titel Elizabeth and her German Garden. Das heitere Büchlein in Tagebuchform spielt auf einem preußischen Landgut und erzählt vom Alltag der jungen englischstämmigen Ehefrau des Junkers Henning von Arnim-Schlagenthin. Genauer gesagt, es beschreibt, wie sich diese vor ihren gesellschaftlichen Pflichten in einen verwilderten Garten zurückzieht.1 Elizabeth von Arnims Bericht über die gärtnerischen Anfänge ihrer Protagonistin ist gespickt mit Anekdoten über ihre Familie, ihre adlige Nachbarschaft, renitente Bedienstete, kuriose Gäste und widrige Brauchtümer. Zwischen romantischen Naturbeschreibungen bietet sie ihren Lesern nebenbei humorvolle Einblicke in die deutsch-englischen Beziehungen an der Jahrhundertwende.2 Wie die Possessivkonstruktion im Titel andeutet, macht Elizabeth den Garten zu ihrem Eigentum. Sie erobert im Garten einen Teil Deutschlands, nimmt durch ihren fröhlich-naiven Stil dieser imperialistischen Geste jedoch bewusst jegliche nationale oder kriegerische Prägung. Für den Kulturkontakt der Kaiserzeit erweist sich ihr Garten als eine Brücke zwischen Altem und Neuem, Fremdem und Bekanntem, Natur und Kultur, Männern und Frauen. Diese transkulturelle Rolle soll im Folgenden im Kontext der Bedeutung von Natur und Moderne näher untersucht werden.
1 | Elizabeth von Arnim (1866-1941) war eine schillernde Person mit vielen Namen und Gesichtern. Die in Australien geborene Mary Annette Beauchamp wurde »May« genannt, wuchs in Großbritannien auf und erhielt bei ihrer Heirat den Titel einer Gräfin von ArnimSchlagenthin. Das Pseudonym, unter dem sie heute bekannt ist, schuf sie sich durch ihr Buch. 2 | Die erste deutsche Version, übersetzt von Hedwig Deneke-Wächter, erschien 1911, nach dem Tod des Grafen, unter dem Titel Elizabeth und ihr Garten (Leipzig: J. Zeitler); die zweite Übersetzung folgte 1928 in München. Die hier verwendete dritte Übersetzung von Adelheid Dormagen erschien 1987 (Frankfurt a.M.: Insel).
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Die Texte Elizabeth von Arnims leisten einen Beitrag zur Erstellung einer Geschichte englischer Fremdbilder über Deutschland und liefern so wichtige Aufschlüsse über die deutsch-englischen Beziehungen und Konstellationen eines europäischen Diskurses um 1900.3 Die Kulturbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland sind über lange Strecken gekennzeichnet von einer Tradition des gegenseitigen Nicht- bzw. Halbverstehens: Klischees und Vorurteile über Klassen und Hierarchien, Rechtssysteme, Essgewohnheiten, den jeweiligen Humor (respektive das angebliche Fehlen eines solchen), das Hängen an Gewohnheiten und historischen Brauchtümern bis hin zu neidgesteuerten Vergleichen der Industrie- und Bildungsleistungen bieten nach wie vor unerschöpfliches Material für populäre Veröffentlichungen und Comedy-Sendungen. Die Andersartigkeit des jeweiligen anderen ist in der Gegenwart zum liebgewordenen rhetorischen Versatzstück geworden sowie zu einem wichtigen Teil der Tourismusindustrie. In einem Klima der politischen Korrektheit und Zusammenarbeit haben explizit antideutsche Äußerungen im England der Gegenwart genauso wenig Platz wie antibritische Kritik in der deutschen Öffentlichkeit. Konkurrenzdiskurse werden großteils im Fußballstadion ausgetragen. Nicht so zur Zeit der Vormoderne: An der Grenze des 20. Jahrhunderts sind die Beziehungen der beiden Kolonialmächte von Missverständnissen und Misstrauen bestimmt. Im Ausklang des imperialen Zeitalters gab Andersheit Anlass zur Besorgnis und stellte eine potentielle Bedrohung dar, und die regional übergreifende Klassenzusammengehörigkeit vor allem der oberen, adligen Gesellschaftsschichten wurde von einem wachsenden Nationendiskurs überlagert.4 Obwohl er schon in seinem Buchtitel betont, wie eng England und Deutschland nicht nur dynastisch miteinander verwandt waren, kleidet Peter Edgerly Firchow das Deutschlandbild Großbritanniens in eine Begrifflichkeit aus der Schauerromantik: Im britischen Denken vor 1914 […] waren abstrakte hehre Moralvorstellungen noch gültig und konnten ohne Bedenken in Großbuchstaben gedruckt werden. Auch wenn Gott wohl tot war und die Natur im Sterben lag, so waren Großbritannien und seine Gentlemantradition noch am Leben. Und für die Briten dieser Zeit kam die größte Bedrohung dieser Werte aus Deutschland, einer rücksichtslosen Macht, der es um nichts anderes als die Weltherrschaft ging, und die auf nichts außer Blut und Eisen vertraute. Deutschland spukte in der britischen Fantasie wie ein böser Geist herum, und im engeren Sinne lässt sich die Heiligkeit
3 | Komm, Katrin: Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang 2003, S. 127. 4 | Details zur kulturpolitischen Konkurrenzsituation Englands und Deutschlands in der Moderne und deren literarische Auswirkungen diskutieren u.a. Görner, Rüdiger: »Zur Psychopathologie der Anglophilie und Germanophobie von Vorurteilen und anderen Identitätsproblemen«, in: Angermion (2010), S. 185-201, und Brown, Cedric/Fischer-Seidel, Therese: Cultural Negotiation: Sichtweisen des Anderen, Tübingen: A. Francke 1998.
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten des Great War, des ersten Weltkrieges nur erklären als ein bitterer Kampf, diesen deutschen Satan zu exorzieren. 5
Parallel attestiert Katrin Komm den Deutschen der Kaiserzeit eine »Phase der Anglophobie«6. Dabei war es der geographische und physikalische Raum als Besitztum und Machtgrundlage, der sowohl auf den britischen Inseln als auch im Deutschen Reich im Mittelpunkt des Interesses besonders der wohlhabenden Schichten stand. Landbesitz und der Betrieb großer Gutshöfe wurde auf beiden Seiten des Ärmelkanals zum wirtschaftlichen Problemfall. Mit dem Motiv des Gartens widmet Elizabeth ihren Roman demgegenüber einem scheinbar unverfänglichen Idyll. Dem Garten kommt eine traditionell stereotypisierte Rolle zu: Nahe am Haus steht er dem domestizierten Kontrollraum nahe, ist dabei aber gleichzeitig Korridor zur Öffentlichkeit: Gärten sind Räume der Repräsentation, Visitenkarten, mit denen unter anderem der Wohlstand ihrer Besitzer zur Schau gestellt wird. Ein beachtliches Terrain, das nicht als Nutzraum dient, impliziert größere Besitzungen sowie den Luxus von Muße. Als offene Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben, Ort der Erholung, kindgerechtes Paradies sowie erotischer »locus amoenus«, Demonstrationsraum unterschiedlicher nationaler und regionaler Auffassungen der Beziehung von Mensch und Umgebung, ist der Garten eine vertraute Erscheinung für Leser unterschiedlicher sozialer und kultureller Hintergründe. Selbst unwirtliche Klimazonen wie Wüsten und Tundraregionen haben Gartenkulturen hervorgebracht.7 Gärten vereinen das Bekannte mit dem Exotischen. Dabei weiß jeder Gärtner, wie viel Auseinandersetzung mit Alterität das Gärtnern bietet: Erfolg setzt harte Arbeit ebenso voraus wie Sachkenntnis; kommunizieren oder direkt verhandeln kann der Mensch mit Bäumen und Blumen nicht. Auf den zweiten Blick sind Gärten so trotz ihres Appells an Harmonie und Einfachheit komplexe und ambivalente Konstrukte. Der Garten rankt in Schnittmengen aus Politik, Ökologie und Kultur hinein, und seine Eigenarten und Bedeutung beschäftigen so gegensätzliche Disziplinen wie Botanik, Gartenarchitektur, Philosophie und Kulturgeschichte. Wie Elizabeths amerikanische Schriftstellerkollegin Leslie Marmon Silko ein Jahrhundert nach ihr festhält, bringt das Schreiben über Gärten Einsicht in wenig idyllische ökonomische wie machtpolitische Zusammenhänge von Ausbeutung, Gewalt und Kolonialismus: »Ich dachte, Gärten seien ein apolitisches Thema. Aber auf die Conquistadores folgten Pflanzensammler – Gärten waren Vorzeigeobjekte, Zeichen für Konsum. 5 | Firchow, Peter: The Death of the German Cousin, Variations on a Literary Stereotype, 1890-1920, Lewisburg/London: Bucknell UP, Associated UP 1986, S. 31. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von mir. 6 | Komm, Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, S. 134. 7 | Zum Beispiel in Grönland, siehe Nørregaard, Karen: Grønlandske haver gennem tre århundreder, København: Det grønlandske selskab 2005, S. 102.
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Die meisten Blumen in einem englischen Blumengarten stammen gar nicht aus England.«8 Die Vorstellung vom Garten als Naturraum wirft so an und für sich bereits Fragen auf: Inwiefern sind Gärten überhaupt (noch) Natur? Wie lässt sich Natur überhaupt definieren? Zwar bestehen Gärten aus organischen, natürlichen Materialien, aber diese sind großteils Produkte von Import und Züchtung – Gärten sind künstlich angelegte, geschaffene Räume, die ohne Pflege innerhalb kurzer Zeit nicht mehr als Garten erkennbar wären. Zufolge der Historikerin Jenny Uglow ist »der Garten […] lediglich eine Schwelle zwischen uns und der Wildnis, eine gezähmte Sphäre, die ständig versucht, zur Wildnis zurückzukehren«9. Dabei erweist sich die Terminologie von Natur als Gegenbegriff zu Kunst oder von Menschenhand Geschaffenem von Grund auf problematisch. In dem Moment, wo Natur sprachlich beschrieben oder kategorisiert wird, arbeitet man bereits mit etwas, das seine Ursprünglichkeit verloren hat, wie Laurence Busch et al. betonen: »Zwar erzeugen wir nicht die Moleküle, Organismen oder Organismussysteme, aber nichtsdestotrotz konstituieren wir Natur durch unsere praktischen und kognitiven Aktivitäten.«10 Inwiefern und mit welcher Begründung Ursprünglichkeit, Unberührtheit oder Wildheit notwendige Aspekte oder Romantisierungen des Natürlichen sind, ist darüber hinaus umstritten.11 Was immer die gewählte Begrifflichkeit, der Garten konfrontiert Besucher wie Gärtner mit ständiger Veränderung und zyklischen Entwicklungsvorgängen nahezu mystischer Art, die Anlass zu philosophischen Reflektionen sowie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Werdensgeschichte geben.12 Wie diverse Ökokritiker am Ende des 20. Jahrhunderts festhalten, ist Na8 | Cohen, Robin: »Of Apricots, Orchids, and Wowoka: An Interview with Leslie Marmon Silko«, in: Southwestern American Literature 24 (1999), S. 55-56. 9 | Uglow, Jenny: A Little History of British Gardening, London: Vintage 2004, S. 3. 10 | Busch, Lawrence/Lacy, William B./Burkhardt, Jeffrey/Hemken, Douglas/Moraga-Rojel, Jubel/Koponen, Timothy/de Souza Silva, José: Making Nature, Shaping Culture. Plant Biodiversity in Global Context, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1996, S. 4. 11 | Diese Debatte im englischsprachigen Raum wird in folgenden Werken beleuchtet: Clark, Timothy: The Cambridge Introduction to Literature and the Environment, Cambridge: Cambridge University Press 2011; Coupe, Laurence (Hg.): The Green Studies Reader, from Romanticism to Ecocriticism, London: Routledge 2000; Garrard, Greg: Ecocriticism, London: Routledge 2008; Glotfelty, Cheryll/Fromm, Harold (Hg.): The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology, Athens: University of Georgia Press 1996; Kerridge, Richard/Sammells, Neil (Hg.): Writing the Environment, Ecocriticism and Literature, London: Zed Books 1998. 12 | Autobiographisch geprägte Gartenbücher sind besonders im englischsprachigen Raum verbreitet, wo viele in Zeitungskolumnen ihren Ursprung haben. Oft sind es Schriftstellerinnen oder bekannte Dichter, die mittels Gartenbüchern Einblick in ihre Biographie gewähren. Prominente Beispiele sind Perényi, Eleanor: Green Thoughts. A Writer in the Garden, New York: Modern Library Gardening 2002; Fox, Robin Lane: Vita Sackville-West. The
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tur an sich ein Konstrukt, und während der Mensch ihr schaden kann, ist er gleichzeitig in sie eingebunden: Natur ist nicht natürlich. Die Vorstellung, es gäbe etwas »da draußen« — Wildnis, den Kosmos, physikalische oder biologische »Realität« — welches die Wissenschaften entdecken, kartographieren und manipulieren ist genauso verkehrt wie die von Bildhauern manchmal vertretene These, eine Statue sei irgendwie schon im Stein angelegt und müsse mit dem Meißel nur noch enthüllt werden.13
Der Erkenntnisweg, der sich hier abzeichnet, prägt bereits die epigonalen Naturbeschreibungen der Romantik, die sich vor dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung eine bereits verdrängte Natur wieder erschreibt. In der Moderne und in der Literatur des Modernismus ist Natur ein Thema mit politischer Durchschlagkraft, da sich im Spannungsfeld von Kultur und Natur Ideale und Utopien einer besseren Zukunft entwickeln.14 Hier entfalten sich prinzipielle Diskurse über die Abhängigkeitsbeziehungen des Menschen zu seiner Umwelt. Laut Adrian Franklin kommt deren Ambivalenz am besten im Garten zum Ausdruck: Gärten sind eine zur Moderne passende Natur, da sie Prozesse der Globalisierung und Technologien zur Manipulation und Hybridisierung von Natur kombinieren. Gärten und das Gärtnern illustrieren auf perfekte Weise die Hybridität unserer Beziehungen zur natürlichen Welt.15
Hybridität findet sich auf verschiedenen Ebenen. In der Rezeption von Elizabeth and her German Garden lässt sich der Gartenroman nur schwerlich von Elizabeths Person und Biographie trennen. Der Garten als Grenzraum zwischen Natur und Gesellschaft ist für Elizabeth ein Zufluchtsort. Ihre fortschreitende Expertise in der Gärtnerei zeichnet einen Lernprozess nach, zugleich jedoch einen sich verfestigenden Eskapismus in eine Ersatzwelt. Ihr ironischer Humor dient als Werkzeug, diese Konflikte verbal zu überbrücken:
Illlustrated Garden Book. A New Anthology, London: Mermaid 1986; Kincaid, Jamaica: My Garden (Book), New York: Farrar, Straus & Giroux 1999. 13 | Busch et al.: Making Nature, Shaping Culture, S. 3. 14 | Im angelsächsischen Raum lässt sich dies am vermehrten Auftreten utopischer Schriften und Initiativen mit nostalgischen Umweltideen ablesen. Am bekanntesten ist William Morris, News from Nowhere (1890), aber auch die Gartenstadtbewegung unter Ebenezer Howard reflektiert die Sehnsucht nach einer Wiedereinsetzung der Natur als intaktem Rahmen für modernes menschliches Leben. 15 | Franklins Betonung der Globalisierung lässt erkennen, dass seine Moderne eher am Ende als am Anfang des 20. Jahrhunderts anzusiedeln ist: Für von Arnim geht es eher um eine Europäisierung. Franklin, Adrian: Nature and Social Theory, London: Sage 2002, S. 16.
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Vera Alexander 16. Mai. Der Garten ist mein Schutz, meine Zufluchtsstätte, zu der es mich hinzieht, nicht das Haus. Im Haus gibt es Pflichten und Verdruß, Dienstboten, die man ermuntern und ermahnen muß, Möbel und Mahlzeiten; aber dort im Freien drängen sich auf Schritt und Tritt die Segnungen.16
Freiheit ist ein wichtiges Stichwort, das mit dem Garten assoziiert wird, und das, was der Freiheit entgegensteht, ist die Institution der Ehe und die dazugehörigen Pflichten. Elizabeths Verhältnis zu ihrem Mann, dem Grafen Henning von ArnimSchlagenthin, den sie in den Büchern alttestamentarisch als »Mann des Zorns« betitelt, ist nicht harmonisch. Der Graf wünscht einen männlichen Erben; Elizabeth bekommt in sechs Jahren vier Töchter. Sie fühlt sich als Fremde: Durch ihre Heirat wird sie Mitglied einer höheren Schicht als der, in die sie geboren wurde, und einer fremden Sprachkultur, der sie sich nicht zugehörig fühlt. Als Frau eines mehr oder weniger verarmten Landadligen hat sie Prominenz und Repräsentationspflichten, jedoch keine tatsächliche Macht: Nicht einmal der Gärtner befolgt ihre Anordnungen. Von Erwerbsarbeit und sinnstiftenden Tätigkeiten ist sie ausgegrenzt, sowie vom Handanlegen im Garten: »Wenn ich doch nur selbst graben und pflanzen könnte! Um wie viel leichter wäre es und wie faszinierend, die Löcher selbst machen zu können, genau dort, wo man sie haben will« (33). Ihr latenter Protofeminismus äußert sich im Buch vor allem in ihrem bitteren Protest gegen die biologische Unausweichlichkeit ihrer Mutterrolle.17 Zwei sich überlappende Wege der Sinn- und Selbstfindung eröffnen sich angesichts ihrer vielen zeitraubenden, aber sinnfreien Beschäftigungen: die Wiederbelebung des alten Gartens auf dem Gut Nassenheide und das Schreiben darüber. Der Garten wird dabei hyperbolisch und programmatisch mit Glück und Freude, aber auch Andersheit assoziiert: 14. Mai. Was bin ich doch für eine glückliche Frau, daß ich in einem Garten lebe, mit Büchern, Kindern, Vögeln und Blumen und reichlich Muße, all das zu genießen! Meine Bekannten in der Stadt empfinden dies als Gefangenschaft und Begrabensein und weiß Gott was noch […], wenn sie zu solch einem Leben verdammt wären. (34)
Für Elizabeth von Arnim ist der Garten demgegenüber ihr persönliches Paradies, ihr Garten Eden und damit Ursprungsort. In von Arnims Werk überlappen Realität und Erfindung in komplexer und bewusst irreführender Weise, beginnend bei 16 | Von Arnim, Elizabeth: Elizabeth und ihr Garten, übersetzt von Adelheid Dormagen, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1993, S. 10. Alle folgenden alleinstehenden Seitenangaben folgen dieser Ausgabe. 17 | Biographen belegen durch Auswertung ihrer Tagebucheintragungen, wie sehr sich Elizabeth durch ihre Schwangerschaften und die verbissenen Bemühungen um einen Sohn und Erben traumatisiert fühlte. De Charms, Leslie: Elizabeth of the German Garden. A Biography, London/Melbourne/Toronto: Heinemann 1958; Jüngling, Kirsten: Elizabeth von Arnim. Eine Biographie, Frankfurt a.M.: Insel 1996.
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ihrem Versteckspiel mit der eigenen Identität.18 Wie Katrin Komm in ihrer Analyse diverser Kaiserzeitromane hervorhebt, »beginnt ihre Karriere als Schriftstellerin in Deutschland«19: Die Genese der »Elizabeth« ist gleichsam Wiedergeburt oder eigenständige Neuerfindung. Dieses regenerative Moment ist praktisch wie symbolisch mit dem Garten verbunden. Elizabeth und ihr Garten präsentieren sich in einer Art kreativer Symbiose: Während Elizabeth den »deutschen Garten« ihres ersten Buches auf dem Gut ihres Mannes und auf dem Papier ihres Buches sozusagen doppelt erschafft, macht der Garten im Gegenzug aus der frustrierten Emigrantin May eine satirische Schriftstellerin mit dem mittelalterlich anmutenden Pseudonym »Elizabeth vom deutschen Garten«.20 Statt eines einseitigen Machtgefälles betont dies Momente des Austausches und der Gegenseitigkeit. Die Andersheit der Pflanzenwelt21 entspricht der Andersartigkeit der deutschsprachigen Gesellschaft mit ihren Titeln, Historien und den vielen nicht hinterfragbaren Konventionen, in die sich Elizabeth widerwillig fügt. Pflanzen verlangen indirekte Kommunikationsformen und ein allmählich wachsendes Verständnis 18 | Die Erstausgabe des Buches war auf Insistieren ihres Mannes anonym erschienen. Spätere Ausgaben berufen sich vage auf »The author of Elizabeth and her German Garden« (im Englischen ist dies geschlechtsneutral) und sogar »Elizabeth of the German Garden«, was für die ständig wachsende Leserschaft eine zusätzliche Attraktion ausmachte: Spekulationen über die Identität der Verfasserin – oder war es doch ein Mann? – kurbelten den Verkauf der frühen Ausgaben extra an. Karen Usborne behauptet sogar, die »ungenannte Elizabeth war für eine kurze Zeit die berühmteste Frau der anglophonen Welt«. Usborne, Karen: »Elizabeth«. The Author of »Elizabeth and Her German Garden«, London: The Bodley Head 1986, S. 75. 19 | Komm: Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, S. 132. 20 | Elizabeth verschwand trotz ihrer Beliebtheit und Produktivität für lange Zeit vom Radar der Literaturwissenschaft, bis Feministinnen sie in den 1980er Jahren wieder herausgaben und übersetzten. Bis zum Tod ihres ersten Ehemanns 1910 schrieb sie in Isolation, allerdings pflegte sie Kontakte zu englischen Intellektuellenkreisen: So gehörten Schriftsteller wie E.M. Forster und Hugh Walpole zu den Hauslehrern ihrer Töchter. Der Romanautor H.G. Wells wurde ihr Liebhaber, und sie war mit Mitgliedern des Bloomsbury-Zirkels befreundet. 1916 heiratete sie den Bruder des Philosophen Bertrand Russell. Die modernistische Erzählerin Katherine Mansfield war eine jüngere Kusine von Arnims und zählte Elizabeth zu ihren literarischen Inspirationsquellen. Auf dem Zenit ihrer Bekanntheit reicht ihre Rezeption so bis Neuseeland. Eine detaillierte Rezeptionsgeschichte findet sich hier: Hollington, Michael: »›Elizabeth‹ and her Books«, in: AUMLA: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 87 (1997), S. 43-51. 21 | Die Andersheit der Natur besteht laut John Passmore in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Schicksalen, siehe Passmore, John: Man’s Responsibility for Nature, London: Duckworth 1974; und Hailwood, Simon A.: »The Value of Nature’s Otherness«, in: Environmental Values 9 (2000), S. 353-372.
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für ihre individuellen Bedürfnisse. Elizabeth anthropomorphisiert Pflanzen, Tiere und Naturvorgänge, sie projiziert menschliche Emotionen, Verhaltensweisen und Motivationen auf die Gartenbewohner: »[J]ede Blume und jedes Unkraut ist ein guter Bekannter und jeder Baum ein Liebster« (10). Elizabeths Garten dient sowohl zur Flucht vor menschlichen Kontakten als auch gleichsam zu deren Übersetzung und Verarbeitung. Im Blumenbeet sind sowohl Hierarchien als auch Fortpflanzungsprozesse für sie akzeptabel: Der Garten naturalisiert und legitimiert Vorgänge, mit denen sie in ihrem menschlichen Umfeld Probleme hat. Die konstruierten Abhängigkeitsverhältnisse im Garten werden zum Spiegel für die künstlichen Gesellschaftskonventionen, denen sich Elizabeth ausgesetzt sieht. Im Unterschied zur sozialen Welt, wo sie sich ihre Pflichten nicht aussuchen kann, bestimmt sie im Garten selbst, ob und wo bestimmte kapriziöse Pflanzen angelegt werden. Elizabeth konzentriert sich bewusst auf eine Pflanzenwelt, in der, allen Linné’schen Erkenntnissen über geschlechtliche Vermehrungsprozesse zum Trotz, keine Geschlechterdiskriminierung anzutreffen ist. Sie konstruiert die Gartennatur als Idealraum, aber zugleich als Domizil einer ironisch beobachtenden Außenseiterin, der es nichts ausmacht, für überspannt gehalten zu werden: Die Leute in der Nachbarschaft halten mich natürlich, um es so freundlich wie möglich auszudrücken, für äußerst exzentrisch, denn es hat sich herumgesprochen, daß ich den Tag mit einem Buch im Freien verbringe und kein Sterblicher mich je hat nähen oder kochen sehen (13).
Von Arnim schreibt nicht als Stellvertreterin irgendeiner politischen Ausrichtung oder Gruppe. Dabei ist sie sich nationaler Gegensätzlichkeiten allerdings ständig bewusst. Sie überträgt diese lediglich in eine semantische Sphäre, wo sie als wenig sinnvoll herausstechen, etwa wenn sie den Gesang von »deutschen« Eulen für englische Leser übersetzt (9) oder über die Nationalität von Teerosen sinniert: 10. Mai. Kein Geschöpf in dieser ganzen Gegend hier kann auch nur annähernd verstehen, mit welchem Herzklopfen ich mich auf das Aufblühen dieser Rosen freue! Gibt es doch nicht ein deutsches Gartenbuch, das nicht alle Teerosen ins Treibhaus verbannt, sie lebenslang einsperrt und so für alle Zeit dem Odem Gottes entzieht. Zweifellos war es reine Unwissenheit, daß ich dort, wo teutonische Engel keinen Fuß aufzusetzen wagen, fröhlich hineingestürzt bin, und meine Teerosen dem nördlichen Winter ausgesetzt habe; doch sie haben ihm unter Kiefernzweigen und Laub ins Gesicht geblickt, und nicht eine hat darunter gelitten – und heute sehen sie so glücklich aus und dazu entschlossen, sich des Lebens zu erfreuen, wie, dessen bin ich mir sicher, jede andere europäische Rose (29).
Tatsächlich unterläuft ihr Spiel mit dem Nationalismus bei allen Seitenhieben auf die restriktiven Teutonen hier die Autorität von Nationaldenken. An ihre Stelle setzt Elizabeth emotionale Signale, Glück und Lebensfreude. Sie stellt Beziehungen in den Vordergrund. Elizabeth und ihr Garten sowie sein Folgeroman, Der einsame
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten
Sommer (1899), erforschen ein breites Panorama an Beziehungen, insbesondere die von Mensch und Natur – mehrere Kritiker sprechen sogar von einer Romanze, und tatsächlich beginnt Elizabeth mit der Erklärung: »Ich liebe meinen Garten« (9). Die Beziehung zwischen Elizabeth und ihrem Garten ist dabei der Schlüssel zu vielen anderen: zu ihrem Mann, ihren Töchtern, den Deutschen, der preußischen Junkerschicht, den Angestellten, der weiblichen Bekanntschaft. All diese Beziehungen werden als ambivalent dargestellt. Sie haben private und öffentliche Gesichter, die nicht miteinander übereinstimmen. Andersartigkeit in kultureller Hinsicht, aufgrund von Alter, sozialer Schicht oder Geschlecht, schafft Reibungen, die als konstruktiv, aber auch als schmerzhaft empfunden werden können. Beziehungen, ob zwischenmenschlicher Art oder andere, rufen allerdings insbesondere dann Erzählungen hervor, wenn sie problematisch oder gestört sind oder in irgendeiner Art der Erklärung bedürfen. Beziehungen sind ein wegweisendes Moment für den Modernismus in der englischsprachigen Literatur, den Virginia Woolf in einer oft zitierten Definition als umfassenden Wandel von traditionellen Beziehungsgeflechten definiert: Um Dezember 1910 herum veränderte sich die menschliche Natur. Ich sage nicht, dass man eines Tages hinausging, wie man einen Garten betritt und auf einmal sieht, dass eine Rose erblüht ist oder eine Henne ein Ei gelegt hat. Der Wandel kam nicht plötzlich, er war nicht klar definierbar. Aber stattgefunden hat er, und so datieren wir ihn der Willkür halber um 1910. […] Alle menschlichen Beziehungen haben sich verschoben – die zwischen Herren und Dienern, Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Und wo menschliche Beziehungen sich verändern, gibt es zugleich auch Veränderungen in der Religion, im Verhalten, der Politik und der Literatur. 22
Von Arnims Frühwerke datieren zwar aus einem Jahrzehnt vor dem von Woolf beschriebenen Wendepunkt; sie kann aber in mancher Hinsicht zu den Wegbereiterinnen dieser modernistischen Wende zählen. Einer klaren Zuordnung zum englischsprachigen Modernismus entzieht sich Elizabeth dabei gekonnt. Programmatisch modernistische Experimente sucht man vergebens. Im Gegenteil: Inspi22 | Woolf, Virginia: »Mr. Bennett and Mrs. Brown« (1924), in: The Captain’s Death Bed and Other Essays, London: Hogarth 1950, S. 91-92. Dass Woolf ausgerechnet ein Gartenbild benutzt, um den schleichenden Wandel zum Modernismus zu verdeutlichen, ist mehr als nur ein glücklicher Zufall. In Woolfs eigener Schriftstellerkarriere war es eine Gartengeschichte, mit der sie den Übergang von einer realistischen zu einer modernistischen Erzählweise vollzog: Die 1919 erschienene Kurzgeschichte Kew Gardens, selbst ein Bestseller, spielt im botanischen Garten und blendet menschliche Beziehungsfragmente und biologische Vorgänge in einem Blumenbeet ineinander. Woolf, Virginia: »Kew Gardens«, in: The Penguin Book of English Short Stories, Hg. von Christopher Dolley, Harmondsworth: Penguin 1967. Siehe dazu auch Alexander, Vera: »Kew Gardens as a Literary Space«, in: Studies in Gardens and Designed Landscapes 32.2 (2012), S. 116-127.
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riert von den Gartenromanzen Alfred Austins, orientiert Elizabeth sich stilistisch an einem viktorianischen Realismus, von dem sich modernistische Schriftsteller kritisch und praktisch abzugrenzen suchten. Formell entzieht sich das Buch einer eindeutigen Klassifizierung, es bewegt sich auf der Grenze zwischen Fiktion und Autobiographie.23 Das Auftreten der Protagonistin betont nicht ein progressives Frauenbild, sondern eher ein regressives: Ich bin immer glücklich (im Freien, versteht sich, denn drinnen sind die Dienstboten und die Möbel), aber auf ganz unterschiedliche Weise, und mein Frühlingsglück ähnelt nicht meinem Sommer- oder Herbstglück, ist auch nicht stärker; im letzten Winter gab es sogar Tage, wo ich trotz meines Alters und meiner Kinder vor lauter Freude im frostigen Garten tanzte. Natürlich hinter einem Busch, denn ich weiß, was sich gehört (10).
Das Bild einer kindlich-naiven Exzentrikerin und Elizabeths Humor vertuschen ihre scharfe Kritik an der sie observierenden Gesellschaft, die zwischen den Zeilen ihrer Erzählung zum Ausdruck kommt. Es sind Passagen wie die soeben zitierte, die die Inszeniertheit dieser Rolle durchscheinen lassen – denn wieviel Deckung bietet ein kahler Busch in einem winterlichen Garten? Neuere literaturwissenschaftliche Besprechungen des Romans betonen Themen, die mit der Bildung einer spezifischen weiblichen Perspektive und Stimme zu tun haben. Barbara Gates sieht außerdem in ihrer kompensatorischen Verwendung von Humor und Satire ein modernes Merkmal: Von Arnim schreibt in einem spritzigen modernen Stil, voller Witze über den Bekanntenkreis ihrer Protagonistin. Dabei dienen die Witze nicht dazu, die Heldin als eine machtvolle Mondäne darzustellen, sondern sie kompensieren die Tragödie einer gescheiterten Ehe. Ihre Witze sind Teil einer komplexen Bildlichkeit, die sich durch das gesamte Buch zieht. Der Garten symbolisiert Elizabeths Leben, und ihr emotionaler Zustand enthüllt sich in ihren 23 | Während der Umschlag das Buch als Roman kennzeichnet, wimmelt es von Verweisen auf die Biographie der Autorin. Iwona Eberle und Jennifer Shepherd bezeichnen das Buch als »fiktives Gartentagebuch«, siehe Eberle, Iwona: Eve with a Spade: Women, Gardens and Literature in the Nineteenth Century, München: GRIN 2001; Shepherd, Jennifer: »Marketing Middlebrow Feminism: Elizabeth von Arnim, the New Woman and the Fin-De-Siècle Book Market«, in: Philological Quarterly 84.1 (2005), S. 105-131. Lynne Hapgood arbeitet mit dem Titel »Gartenromanze«, Hapgood, Lynne: Margins of Desire. The Suburbs in Fiction and Culture, 1880-1925, Manchester/New York: Manchester University Press 2005, und andere Kritiker sehen es als Autobiographie oder Gesellschaftssatire: Haines, Sheila: »›Angles Had Everywhere Taken the Place of Curves‹: Elizabeth von Arnim and the German Garden«, in: Turn of the Century Women 2.2 (1985), S. 36-41. Römhild, Juliane: »›Betwixt and Between‹: Reading von Arnim Writing Elizabeth«, in: Working Papers on the Web. Investigating the Middlebrow, hg. von Erica Brown (2008), S. 5-22. Online: http://extra.shu.ac.uk/wpw/ middlebrow/Romhild.html.
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten Beschreibungen von Blumenbeeten und Setzlingen. Es ist ein viktorianisches Klischee, Frauen mit Blumen zu vergleichen, aber einigen Ästhetinnen gelang es, sich diese Metapher zurückzuerobern und sie sich für ihre eigenen wagemutigen Darstellungen zu Eigen zu machen. […] Indem sie einen Garten pflanzt, charakterisiert sich Elizabeth implizit selbst. 24
Die Fiktion ist Mittel zur Selbstfindung, wie sie in dieser Form erst um 1900 möglich war. Nicht genug damit, dass sich Elizabeth ihre Identität erschreibt und im Garten ein Denkmal setzt, sie schafft darüber hinaus eine reelle Existenzgrundlage. Als um 1908 die Finanzen ihres Mannes zusammenbrechen, sind es die Tantiemen aus Elizabeths Bestsellern, die die Familie finanzieren, und nach dem Tod des Grafen 1910 lebt Elizabeth mit ihren Kindern von ihrer Schriftstellerei.25 Die Erfindung und Geburt der Elizabeth verwischt die Grenze zwischen Fiktion und Realität, beziehungsweise stellt deren konventionelle Folge in Frage: Die Realität der Identität Elizabeths hat ihren Ursprung in der Fiktion, die Wirklichkeit folgt und erfüllt ein literarisches Programm. Und der Garten, sowohl der tatsächliche, materielle als auch sein geschriebenes Pendant, ist der kreative Raum, in dem diese Umkehrschöpfung, der Austausch von Fiktion und Realität, stattfindet. Man kann wirkliche Gärten betreten und dabei diese als Ideal wahrnehmen, eine nicht auf Dauer erreichbare oder erhaltbare Utopie. Michel Foucault hat für eine solch halbideale, halbreale Übergangswelt, die in der Moderne an Bedeutung gewinnt, den Begriff der Heterotopie geprägt: Es gibt […] – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte […], tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind […]. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.
Foucaults Liste solch realer Utopien weist dem Garten einen prominenten Platz zu: »Aber vielleicht ist die älteste dieser Heterotopien mit widersprüchlichen Platzierungen der Garten. […] Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf
24 | Gates, Barbara: Kindred Nature. Victorian and Edwardian Women Embrace the Living World, Chicago/London: University of Chicago Press 1998, S. 233. Die Idee des Gartens als femininem Raum wird detaillierter besprochen in Lutwack, Leonard: The Role of Place in Literature, Syracuse, N.Y: Syracuse University Press 1984, S. 94-98, sowie Horwood, Cathrine: Women and their Gardens: A History from the Elizabethan Era to Today, Chicago: Ball Publishing, 2010. 25 | Laut Komms Recherchen erlangte Elizabeths erstes Buch im ersten Jahr 21 Neuauflagen und brachte von Arnim über 10.000 Pfund ein, in heutige Verhältnisse umgerechnet gut eine halbe Million Pfund. Komm: Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, S. 135.
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ist er die Totalität der Welt. Der Garten ist seit dem ältesten Altertum eine selige und universalisierende Heterotopie.«26 Für die Literaturwissenschaft bietet die Gartenheterotopie einen Ausweg, wie mit Motiven wie dem Garten verfahren werden kann, ohne in deskriptiven imagologischen Listen von Stereotypen, nationalen Eigenarten und ihrer Bedeutung festzufahren. Bei aller Widersprüchlichkeit ist Foucaults Heterotopiebegriff ein nützliches Werkzeug für das Verständnis des Gartens. Nicht nur erfasst die Heterotopie die Grenzstellung des Gartens zwischen Ideal und Wirklichkeit, sie trägt darüber hinaus der Repräsentationsfunktion des Gartens Rechnung. In seinem Bestreben, die Schnittmenge von Utopie und Heterotopie zu bestimmen, arbeitet Foucault mit dem Motiv des Spiegels und seinen Eigenschaften der Reflektion und Projektion. Elizabeths Garten ist Raum der Reflektion im konkreten wie im bildlichen Sinne. Er spiegelt Sehnsucht nach einer einfacheren Gesellschaft, der eindeutigen und bescheideneren Welt ihrer Kindheit, einer einsprachigen Umgebung. Komplexer wird die Deutung des Gartens durch die geschriebene Natur des Gartenraumes. Vieles spricht dafür, Gärten als Abbildungen, Repräsentationen von Natur anzusehen, besonders im Kontext von Literatur über Gärten, wie Barbara Gates vorschlägt: »Der Garten ist an sich eine durch Kultur revidierte Abbildung von Natur, ein Ort für eine bereits bestehende ästhetisierte Natur. Texte über Gärten revidieren diese Natur-im-Garten noch ein weiteres Mal, indem sie sie sprachlich abbilden.«27 Dies gilt laut Lynne Hapgood besonders für Elizabeth: »Von Arnims Garten ist gleichermaßen literarisch wie realistisch. Sie teilt mit ihren Lesern nicht nur den Garten selbst, sondern was er ihr bedeutet.«28 Der Garten und das Schreiben über Gärten sind miteinander verbunden, beide bieten einen Ausweichraum von den Widrigkeiten der Alltagswelt, eben die Heterotopie im Foucault’schen Sinne. Die Ekphrase der Kunstform des Gartens im Buch dient dabei als Mittel, ein Hinterfragen von Naturkonzepten mit Kulturkritik zu kombinieren. Die besondere Spiegeleigenschaft des Gartens wird dabei durch metatextuelle Hinweise auf den Akt des Schreibens und Vergleiche zwischen der Kreativität natürlicher Wachstumsprozesse im Garten und menschlicher Kreativität auf dem Papier betont. Garten und Bücher gehören zusammen. Wie der Garten, so sind auch Bücher »Räume« und Zufluchtsorte. Besonders im Fortsetzungsroman, A Solitary Summer (erschienen 1899), spielen Bücher eine der Hauptrollen: Mal sind sie Menschenersatz und Freunde, mal Räume für den mentalen Rückzug und dadurch Parallelen zum Garten als Ziel eines gesellschaftsmüden Eskapismus. Die Autorität und Vitalität beider wird durch die selbstkritische Autorinstanz ironisch
26 | Foucault, Michel: »Andere Räume« (1967), in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis.Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: reclam1992, S. 34-46. 27 | Gates: Kindred Nature, S. 189. 28 | Hapgood: Margins of Desire, S. 102.
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten
gebrochen, womit von Arnim der Formel Walter Paches von dem Wechselspiel von Degeneration und Regeneration an der Jahrhundertwende entspricht.29 Die Grenzposition des Gartens und sein Status als Heterotopie, halbreale Wunschwelt ist Teil einer subtilen, humorvoll verpackten Kritik an den Begrenzungen, denen sich Frauen an der Jahrhundertwende ausgesetzt sehen, wie Marianne Flassbeck in einer feministischen Studie des Humors von Elizabeth hervorhebt: Die topographische Lage des Gartens versinnbildlicht die duale Position weiblichen Schreibens – von feministischen Theoretikerinnen auch als weibliches Schreiben mit »Doppelsinn« bezeichnet: In ihrem Garten nämlich bewegt sich Elizabeth noch innerhalb der Kultur und nicht etwa gänzlich außerhalb, in einer völlig unkultivierten »wilderness«, aber immerhin doch außerhalb der festgefügten Ordnung des gräflichen Gutshauses. 30
Von Arnims Grenzgang findet in verschiedenen Bereichen statt: zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen England und Preußen, zwischen Romantik und Modernismus, zwischen konkurrierenden ambivalenten Stereotypen zur Weiblichkeit, Oberschicht und Arbeiterklasse, Fiktion oder Utopie und Realismus oder Autobiographie. Von Arnim beschreibt den preußischen Adel aus einer ambivalenten Stellung, die zwischen Insider- und Fremdperspektive wechselt.31 Dabei ist der nationale Aspekt im Titel von Elizabeths erstem Buch aufschlussreich, den die deutschen Übersetzungen unterschlagen. Den Aspekt des Gartens als Besitz betont von Arnim bereits in ihrem Buchtitel, unterläuft dabei jedoch zugleich die Eigentumsautorität, denn die Bezeichnung »German Garden« wirft mehr Fragen als Antworten auf: Hat ein Garten eine Nationalität? Was macht die Nationalität eines Gartens aus, der Ort, an dem er angesiedelt ist oder seine Eigentümer und Bewirtschafter? Was ist, wenn diese wechseln? Elizabeth selbst war weder Besitzerin noch direkt Gärtnerin. Die nichtmenschlichen »Bewohner«, die einen Garten ausmachen, Pflanzen oft exotischer Abstammung, sind eher an Klimaregionen als an Landesgrenzen gebunden. Sie stellen als transkulturelle Produkte komplexer Migrations-, Invasions- oder Adaptionsprozesse die Kategorie der Nationalität an sich in Frage, scheiden als Projektflächen von Nationalidentität also aus. Während einige Stilrichtungen der Gartenbaukunst national konnotiert sind (so kann es in München einen Englischen Garten geben), besteht im deutschsprachigen Raum eine Vielfalt regionaler Unterschiede. Von einer generalisierba29 | Pache, Walter: Degeneration – Regeneration, Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte zwischen Dekadenz und Moderne, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. 30 | Flassbeck, Marianne: Gauklerin der Literatur. Elizabeth von Arnim und der weibliche Humor, Rüsselsheim: Christel Göttert 2003, S. 11. 31 | Preußen, Blücher-Land, ist von allen Regionen die am meisten mit Vorurteilen behaftete, wie Firchows imagologische Analyse belegt: The Death of the German Cousin, Variations on a Literary Stereotype, 1890-1920. Siehe auch Komm: Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, S. 123-130.
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ren »deutschen« Einheit im Gartenstil kann nicht die Rede sein. Was den Garten »deutsch« macht, ist seine geographische Lage. Wie Elizabeth selbst hat »er«, der Garten, keine Macht, sich diese auszusuchen. Sein Gedeihen symbolisiert Elizabeths Versuche, in einem fremden Land Fuß zu fassen, Wurzeln zu schlagen. Was das Ergebnis von Elizabeths eigener Gartenplanung angeht, so hat ihre Biographin Leslie de Charms eine Reihe von Zeitzeugnissen ausgewertet, die die Systematik einer strikten Stilrichtung fraglich erscheinen lassen. Elizabeths Hauslehrer Edward Morgan Forster und Hugh Walpole beschreiben die Anlage in ihren Memoiren als ziemlich verwildert und kaum als Garten erkennbar. Das deckt sich mit Elizabeths eigener Beschreibung: »7. Mai. Das hier ist eher eine Wildnis als ein Garten. Seit fünfundzwanzig Jahren hat niemand in diesem Haus gelebt, geschweige denn im Garten« (10). De Charms folgert aus Elizabeths oft geäußertem Unmut über die sie umgebende preußische Ordnungsmanie: »[D]er Garten, den sie sich vorstellte, war ein englischer, in dem es darauf ankam, geschickt einen Effekt der Natürlichkeit hervorzurufen und nicht eine der steifen und konstruierten Kompositionen, die auf dem Kontinent geschätzt wurden.«32 Der Titel ihres Buches verweist allem Anschein nach auf eine Utopie natürlicher, universell als harmonisch verstandener Ordnung. Tatsächlich ist der Garten weder deutsch noch englisch, sondern bietet einen – wenn auch fragilen und stets bedrohten – Rückzugsraum, in dem Fragen der Nationalität und der damit verbundenen Repräsentation durch Hybridisierungsprozesse relativiert werden. Der Garten ist ein Niemandsland ohne den dazugehörigen Krieg. In ihrer Untersuchung über Elizabeths Darstellung des Kaiserreiches liest Katrin Komm Elizabeths Darstellung der in Reih und Glied gepflanzten Blumen als einen Kommentar zur sprichwörtlichen preußischen Ordnung und die Blumen als Stellvertreter für die Deutschen an sich: »Das Deutschlandbild, das sich in Elizabeth and Her German Garden für LeserInnen stereotypisch abzeichnet und thematisch variiert, ist ein Image des Deutschen, dem jegliche Individualität fehlt und der einem kollektiven Impuls folgt.«33 Was Komm außer Acht lässt, ist ihre Kritik an den Engländern bzw. Engländerinnen – Besuchern wie Gouvernanten, mit denen Elizabeth ihre Leser ebenfalls unterhält. Sie lebt in Distanz zu beiden Nationen: May wurde durch ihre Heirat deutsche Staatsbürgerin und stilisiert Elizabeth durchweg als Vertreterin des preußischen Junkertums, wenn auch als eine extrem eigenwillige, etwa wenn sie ausmalt, »wie das Leben einer deutschen Dame von Stand sein sollte« (13) und wie sehr sich ihr Verhalten davon unterscheidet. Sie führt diese Eigenarten nicht auf ihr Englischsein zurück, und es ist lediglich in ihren Klagen über das Sprachgemisch ihrer Kinder, dass ihr britischer Hintergrund überhaupt thematisiert wird. Meist streitet sie jegliche Bindung an England ab, wie hier: 32 | De Charms: Elizabeth of the German Garden, S. 73. 33 | Komm: Das Kaiserreich in Zeitromanen von Hedwig Dohm und Elizabeth von Arnim, S. 134.
Elizabeths »deutsch-englischer« Garten 7. Dezember. Ich war in England. Ich wollte mindestens einen Monat dort bleiben, verbrachte eine Woche im Nebel und wurde im Sturm wieder heimgeweht. Zweimal bin ich vor dem Nebel aufs Land geflohen, um Freunde mit Gärten zu besuchen, aber es regnete ständig, und außer dem schönen Rasen (unerreichbar im Vaterland) […] gab es nichts, was den intelligenten und gartenliebenden Fremden interessieren konnte. (94)
Die Umkehrung von Heimat und Fremde in Zitaten wie dem obigen, das scheinbar naive Spiel mit Identität, Nationalität sowie Fremdheit, und die humorvolle Kritik an Deutschland wie England bringen Leichtigkeit in ein Thema, das zu Elizabeths Zeit nur wenige leicht nehmen konnten. Dabei sind durch die Grenzgängersituation Elizabeths sowohl ihre Aussagen über die preußische Junkerkultur als auch über England ironisch gebrochen.34 Ihre Zuordnung zum Junkertum lediglich aufgrund ihrer Heirat stellt in Frage, inwieweit Nationalität und Identität überhaupt von Bedeutung sind: Für sie ist das Deutschsein nicht Identität, sondern eine Rolle, die mit bestimmten Kostümen und Gebräuchen konnotiert ist, mit ihrer eigentlichen individuellen Identität aber nur begrenzt zu tun hat. Diese drückt sich im Hybridraum des Gartens aus. Elizabeths Betonung der Natürlichkeit im Garten ist nicht so sehr auf den Garten als Naturraum gerichtet, sondern der Garten ist ein Raum, wo sie keine Rolle spielen muss. Der geschriebene Garten in Elizabeth von Arnims Büchern eröffnet den Raum für eine transkulturelle Annäherung zwischen dem deutschen Kaiserreich und Großbritannien. Trotz der Subjektivität von Elizabeths Betrachtungen trafen ihre gewollt naiven Gartenanekdoten den Nerv ihrer englischsprachigen Zeitgenossen. Ihre Leserschaft sah hier eine Möglichkeit, sich von den zunehmend ernsten Verhältnissen ihrer Zeit in eine kindlich-anarchistische Spielwelt zurückzuziehen. Die Unbeirrbarkeit der Natur mit ihren zeitlos-zyklischen Vorgängen hat einen tröstlichen Effekt, indem sie nationale Gegensätze als flüchtig und vergänglich erscheinen lassen. Von Arnims Bücher exemplifizieren eine ästhetische Überwindung von Fremdheit und nehmen englischen Lesern einen Teil ihrer Furcht vor »den Deutschen«. Als Alltagsraum mit potentieller Repräsentationsfunktion depolitisiert der Garten nationale Gegensätzlichkeiten, die in Elizabeths Fall durch den Geschlechterkontrast verstärkt werden. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sie Machtverhältnisse aus der Politik in die Biologie übersetzt: Deutschland ist für sie männlich konnotiert, synonym mit der Dominanz ihres Mannes und der institutionellen Gewalt ungleicher Eheverhältnisse. Die Natur im Garten ist insofern weiblich-aristokratisch konnotiert und als Identifikationsraum für Elizabeth nützlich, als sie zur Untätigkeit, zur dekorativen Nutzlosigkeit verdammt scheint. Die34 | Ihre Hybridität bereitet noch heutigen Kritikern Schwierigkeiten bei der Klassifizierung, wie folgende hölzerne Beschreibung zeigt: »[D]urch ihre Heirat wurde sie irgendwie auch eine deutsche Schriftstellerin.« (Holzer, Stefanie: »›Zu jener Zeit hatten wir noch nichts gegen die Deutschen‹ – Über Elizabeth von Arnim«, in: Merkur 59 [2005], S. 436-441).
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sen Umstand vermag Elizabeth zu wenden: Während das Gut Nassenheide, dem ihr Garten zugehört, ihrem Mann für ein landwirtschaftliches Projekt der Entwässerung dient, scheitern all seine Versuche, daraus Profit zu schlagen. Dahingegen sind es die geschriebenen Produkte von Elizabeths scheinbaren Mußestunden, die die finanzielle Grundlage der Familie bilden, als Hennig von Arnim wegen Veruntreuung von Geldern in Haft genommen wird, und insbesondere nach seinem Tod 1910. Der Garten ist ein Hilfsmittel, sich in die biologischen Unausweichlichkeiten der Natur zu fügen. Dass er im Leben der Elizabeth von Arnim tatsächlich eine Lebensgrundlage werden sollte, ist gleichsam Ironie des Schicksals. Der Garten ist nicht nur Raum der Bewegungsfreiheit, er steht auch für die Freiheit im Denken und im Verhalten, die Elizabeth mit Humor assoziiert.35 Über die Nationalitätengrenze hinweg kritisiert Elizabeth vor allem, wenn sich ihre Mitmenschen zu ernst nehmen, blind an Gewohnheiten und Traditionen festhalten und dabei praktische Belange außer Acht lassen. Mangel an Humor und Selbstironie findet sie bei Deutschen wie auch Engländern, und in dieser Hinsicht ist der Garten ein wichtiger Raum, um Abstand von beiden zu gewinnen. Unter der naiven Oberfläche ihrer enthusiastischen Gartentagebücher trägt Elizabeth zum Kulturdialog zwischen Deutschland und England ihrer Zeit bei, indem sie Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt. Der Fossilisierung nationaler Unterschiede setzt sie einen universalisierenden Impuls entgegen: Umwelt, Raum und Land sind mehr als nur Nation. Land ist Natur, und diese stellt identische Ansprüche an englische wie deutsche Gärtner. Sowohl der Garten als Abbild einer Idealnatur als auch das Schreiben als Akte der Ästhetisierung und Sinnstiftung geben Impulse zu einem besseren Verständnis dieser Gemeinsamkeit.
35 | Der hier pionierte Versuch, Xenophobie durch Humor zu überwinden, charakterisiert auch spätere englische Kulturproduktionen, wie die Fernsehserien Blackadder, Dad’s Army und Goodness Gracious Me!
II. Literarische Repräsentationen der Natur
Das Drama der Ökologie Henrik Ibsens En folkefiende ( 1882 ) Heinrich Detering
Glaubt man den Rezensenten, dann geht es in Ibsens Schauspiel Ein Volksfeind (En folkefiende, 1882) um das Verhältnis des starken Individuums zu einer auf Mediokrität und Ressentiment, Geldgier und bequeme Korruption gegründeten Gesellschaft, um Kritik oder Selbstkritik einer bürgerlichen Demokratie, die auf dem Ideal einer »kompakten Mehrheit« beruht, um den Übermenschen und die Vielzuvielen, um Nietzsche in Norwegen. Die »Lebenslüge«, das zentrale und ambivalente Thema des späten Ibsen, wird diesmal als selbstzerstörerische Macht enthüllt und bestätigt, in deren Bekämpfung sich auch der Wahrheitsfanatismus in seinerseits selbstzerstörerische Größenphantasien hineinsteigert: eine Spirale des Ressentiments. Liest man Ibsens Volksfeind noch einmal neu,1 dann sieht man: Hier geht es zuerst um die Stadtwerke. Genauer: um verseuchtes Wasser, um die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und in der Folge um die physische Bedrohung ebenjener Bürger, die sich unverdrossen um den Übermenschen und die Vielzuvielen streiten. Zum Öko-Text aber taugte das Drama dennoch nicht recht, auch wenn in der neueren Aufführungsgeschichte immer wieder einmal entsprechende Aktualisierungsversuche unternommen worden sind. Denn die ökologische Bedrohung, mit deren Aufdeckung es beginnt, verliert es im Laufe seiner fünf Akte selber aus den Augen, indem es die ökologischen Begriffe des Anfangs in derselben Weise zu leitmotivischen Metaphern abstrahiert, wie das kurz zuvor in Gengangere mit den Gespenstern geschehen ist und wenig später in Rosmersholm mit dem Spuk der »weißen Pferde« geschehen wird: Was als konkreter Gegenstand von Ängsten und 1 | Textgrundlage ist der Abdruck in Band 7 der 2008 unter der Leitung von Christian Janss herausgegebenen Gesamtausgabe: Ibsen, Henrik: »En folkefiende«, in: Henrik Ibsens Skrifter, 7/1, utgitt av Universitetet i Oslo, Oslo 2008, S. 527-727; daraus wird im Folgenden nur mit Angabe der Seitenzahlen zitiert. Kommentare finden sich im zweiten Teilband: 7/2: Innledninger og kommentarer, darin zu En folkefiende S. 581-736; daraus wird im Folgenden zitiert: Kommentar, Seitenzahl.
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Sorgen eingeführt worden ist, endet als Symbol – so eindeutig wie die Gespenster als die Wiedergänger veralteter Tabus oder so vieldeutig wie die weißen Pferde als Chiffre des unheimlich wiederkehrenden Verdrängten. »Sobald die Fronten abgesteckt sind, verschiebt sich das Thema ungeheuer rasch von dem Problem der realen Bedrohung von Menschenleben durch verseuchtes Wasser hin zu einem abstrakten Kampf […]«, bemerkt Robert Ferguson in seiner Ibsen-Biographie: »Diese Abstraktion in der Auseinandersetzung wird sofort von allen Parteien akzeptiert, was beim Zuschauer den merkwürdigen Eindruck einer Absprache zwischen den Figuren erzeugt.«2 Aber wie, wenn eben diese Metaphorisierung, als eine kollektive und diskursgeschichtlich repräsentative Verdrängung und Verschiebung, selber eines der Themen wäre, die Ibsens auch in diesem vermeintlichen Thesenstück noch vieldeutige Dramenkunst uns eröffnete? Eine Antwort ergibt sich, wenn man das Schauspiel versuchsweise gegen den Strich liest und die in ihm geführten Reden über Vergiftung und die Ökonomie der Wasserversorgung beim Wort nimmt – und wenn man ihre Abstraktion zu Metaphern gesellschaftlicher Korruption (als einer im Gesamtwerk neuen und besonders verabscheuungswürdigen Form der Ibsen’schen »Lebenslüge«) als Reaktionen auf diese wörtliche Bedeutung betrachtet.3 Art und Umfang dieser Bedeutung erschließen sich allerdings nicht aus dem Text allein, sondern bedürfen einer umweltgeschichtlichen und diskursgeschichtlichen Kontextualisierung. Man könnte darum den Versuch machen, das Drama vom metaphorischen Kopf auf die ökologischen Füße zu stellen – geleitet von der Arbeitshypothese, dass sein scheinbar bloßer Anlass keineswegs beliebig austauschbar ist, sondern spezifisch ökologisch, und dass das Drama sich lesen lässt als eine Modellstudie über 2 | Ferguson, Robert: Henrik Ibsen. Eine Biographie, aus dem Englischen von Michael Schmidt, München: Kindler 1998 (englisch zuerst London: Faber & Faber 1996), S. 359. 3 | Anders als im skandinavischen und deutschen Sprachraum haben die ökologischen Aspekte des Dramas im angloamerikanischen Sprachraum im Kontext von Ecocriticism und Environmental Studies etwas größere Aufmerksamkeit gefunden. Auch hier aber liegt, soweit ich sehe, keine textanalytisch vertiefte Einzeluntersuchung vor (es ist aber angesichts der großen Zahl kleinerer Publikationsorgane möglich, dass ich hier etwas übersehen habe). Immerhin nennt Lynn Jacobson in der Zeitschrift American Theatre 8 (no. 11, feb. 1992) Ibsens Stück »the granddaddy of environmental plays«. Downing Cless’ Studie über Ecology and Environment in European Drama (New York: Routledge 2010), der ich dieses Zitat verdanke, würdigt den Volksfeind auf drei Seiten als »the first major play to deal with an industry-induced toxic crisis« (S. 139). Hub Zwart betont eher die wissenschaftsethischen als die im engeren Sinne ökologischen Aspekte des Dramas: »Environmental Pollution and Professional Responsability. Ibsen’s A Public Enemy as a Seminar on Science Communication and Ethics«, in: Environmental Values 13 (no. 3), 2004; in eine ähnliche thematische Richtung geht Caudhill, David S.: »Ibsens’s An Enemy of the People and the Public Understanding of Science in Law«, in: Georgetown International Environmental Law Review 16 (no. 1), 2003/2004.
Das Drama der Ökologie
das Versagen der Öffentlichkeit einerseits, eines politischen Intellektuellen andererseits in der ökologischen Krise.4 Worum also geht es?
1. V OM V OLKSFREUND ZUM V OLKSFEIND Der Plot des 1882 erschienenen und im folgenden Jahr uraufgeführten Schauspiels ist einfach, einfacher und geradliniger als in fast allen anderen Dramen Ibsens: In einer als zeitgenössisch dargestellten norwegischen Kleinstadt hat der Arzt und populärwissenschaftliche Schriftsteller Tomas Stockmann – zurückgekehrt von einem nicht näher ausgeführten langjährigen Aufenthalt im fernen Norden – die Heilkräfte der heimischen Quellen erkannt und eine medizinische Badeanstalt begründet, deren Badearzt er nun ist. Der neue Badeort hat eben begonnen, Heilung suchende Touristen anzuziehen und ökonomisch zu prosperieren, als derselbe Tomas Stockmann, beunruhigt durch einzelne Krankheitsfälle unter den Badegästen, eine bestürzende Entdeckung macht: Die Heilquellen sind verseucht, und zwar durch die Gerbereien, die neben anderen auch sein Schwiegervater Morten Kiil oberhalb des Städtchens betreibt. (Da diese offenbar schon lange existieren, die Wasservergiftung aber ein neues Phänomen ist, wird hier stillschweigend eine neue, industrielle Dimension der Gerbereibetriebe vorausgesetzt.) In der Annahme, sowohl den auswärtigen Badegästen als auch den Mitbürgern, denen er sich dankbar »brüderlich« verbunden fühlt,5 damit einen großen Dienst zu erweisen, will Stockmann seine durch chemische Fachgutachten beglaubigte Entdeckung öffentlich bekannt machen. Daran aber wird er von all jenen gehindert, die vom verseuchten Badebetrieb ökonomisch profitieren. Und das sind, wie sich in der Kette sich tragikomisch steigernder Angriffe erweist, am Ende alle Bürger der Stadt – von seinem Bruder Peter, dem Bürgermeister und Leiter des Badeunternehmens, über die vorgeblich freigeistige, in Wahrheit aber opportunistisch auf »die Abonnenten« schielende Redaktion des linksliberalen Volksboten und die selbstbewusst auftretende »kompakte Majorität« der Kleinbürger und ihres bigotten politischen Sprechers, des Buchdruckers Aslaksen, bis hin zu den vielen Namenlosen, die auf der von Stockmann schließlich einberufenen Bürgerver4 | Diese Modellhaftigkeit hat zur Folge, dass das Dramengeschehen sich mit wenigen Modifikationen in andere Zeiten und Systeme transponieren lässt – man sehe die moderne norwegische Verfilmung von Erik Skjoldbærg, in der es zeitgemäß um durch Pflanzenschutzmittel kontaminierte Mineralwasserflaschen geht, oder die indischen (Satyajit Rays Verfilmung Ganashatru, 1989) und chinesischen Adaptationen wie eine energisch aktualisierte Aufführung im Jahr 2011, auf die die norwegische Zeitung Aftenposten hinweist: www.aftenposten.no/article1170627.ece#.T880Om8q8pwQ (letzter Zugriff am 12. Mai 2012). 5 | »i broderlig forening« (587).
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sammlung als »das Volk« auftreten und sich bereitwillig von allen manipulieren lassen, von denen sie sich geldwerte Vorteile erhoffen. Der allgegenwärtige Wahlkampf – die Wahlen zum Stadtparlament stehen bevor – gibt diesen Auseinandersetzungen eine besondere Schärfe. Effektvoll wird Ibsens Satire vor allem dort, wo sie die Leser oder Zuschauer zunächst in Hoffnungen wiegt, die dann jäh enttäuscht werden – Hoffnungen auf die Durchsetzung kommunikativer Fairnessregeln und elementarer demokratischer Rechte wie der freien Meinungsäußerung, der Gleichheit vor dem Gesetz, schließlich überhaupt der körperlichen Unversehrtheit. Die Individuen versagen im Laufe des Geschehens ebenso wie die Parteien (die unter wechselnden Vorzeichen jeweils nur der Karriere ihrer Anführer zuarbeiten) und wie schließlich auch die politischen Institutionen und Behörden, vom demokratisch gewählten Stadtparlament bis zur Polizei; »Bürosklaven«6 hätten die Herrschaft über die freien Menschen übernommen, schimpft Doktor Stockmann. In immer schärferen und gröberen Zügen zeichnet das Drama als Motive der Handlungen aller nichts als Geltungssucht, Opportunismus und Rachgier, Geiz (der sich auf reales und auf symbolisches Kapital gleichermaßen richtet) und Geilheit (der Bürgermeister ist interessiert an Tomas Stockmanns Tochter). Schließlich findet sich der zunächst zum »Gesellschaftsfeind«, dann zum »Bürgerfeind« und schließlich zum »Volksfeind«7 ausgerufene Arzt mitsamt seiner Familie als ein Vogelfreier, allen sozialen und körperlichen Schikanen seiner Mitbürger wehrlos ausgesetzt. Er wird verspottet, geschlagen, aus dem Amt entlassen, ebenso wie seine Tochter, enterbt (das Erbe hätte in Aktien der Badeanlagen bestanden), in seinem Haus mit Steinen angegriffen (und beinahe wie ein Märtyrer gesteinigt). Die zur kleinen rhetorischen Münze gewordene »idealistische« Moral entlarvt sich selbst als ideologische Heuchelei, über deren faktische soziale Funktion sich alle außer dem Titelhelden stillschweigend einig zu sein scheinen; Freundschaften und selbst Familienbindungen werden dort, wo es um die Bewahrung der allgegenwärtigen Korruption geht, zur Makulatur – die verräterischen Journalisten sind bei Tomas Stockmann als Hausgäste ein- und ausgegangen; sein Schwiegervater gehört, als Betreiber der vergiftenden Gerbereien, ebenso zu seinen Feinden wie sein Bruder, der Bürgermeister und Polizeichef. In dieser universalen Heuchelei wird die demokratische Wahl ebenso zur Farce – eine ans Kabarettistische grenzende Szene im vierten Akt demonstriert das eindrucksvoll (kabaretthafte Züge trägt auch die Szene, in der Doktor Stockmann die Amtsinsignien seines Bruders trägt und ihn parodiert) – wie die von der Aufklärung erkämpfte bürgerlich-demokratische Öffentlichkeit. Deren Probleme werden im Drama, mit ähnlichem Scharfblick wie die Krise der demokratischen Institutionen, sowohl als Probleme des Verhältnisses von Rechtsordnung und Macht verhandelt (»was hilft es dir, recht zu haben, wenn du keine Macht hast«, fragt Frau 6 | »kontortrælle« (606). 7 | »samfundets fiende« (603), »borgerfiende« (681), »folkefiende« (681).
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Stockmann)8 als auch, ineins damit, als Probleme der Medien: zunächst der vorgeblich freien Presse und ihrer faktischen ökonomischen Abhängigkeiten, dann der Beschränkungen des Zugangs zu den Medien, schließlich auch der scheinbar »direkten« Demokratie, die zum ungleichen Kampf um Rederechte, Veranstaltungsorte und Verfahrensregeln geworden ist. Er sei ein Freund der demokratischen Selbstbestimmung, erklärt der Kleinbürger Aslaksen – mit einem Schlüsselwort der skandinavischen Demokratien des 19. Jahrhunderts: »folkeligt selvstyre« –, sofern sie die Steuerzahler nicht belaste. (»Ich bin auch ein Freund der Selbstverwaltung des Volkes, sofern sie die Steuerbürger nicht zu teuer kommt.«)9 Angesichts dieses vom Drama mit fast sadistischer Konsequenz und Insistenz bloßgelegten Verblendungszusammenhangs erscheint nun die radikale ideologische Wende des Titelhelden folgerichtiger und plausibler, als es vielen Ibsen-Bewunderern recht sein kann. Indem er die ihm zugeschriebene Rolle eines »Volksfeindes« wütend akzeptiert (»Wenn sie gesagt haben, ich sei Volksfeind, dann lass mich doch einen Volksfeind sein«10), wird der eben noch als Vernunftapostel und moralischer Idealist agierende Stockmann zum aggressiv zynischen Menschenverächter. In seinen sich zu immer heftigeren Ausbrüchen steigernden Reden vor der Bürgerversammlung und dann in einer Reihe von Dialogen erklärt er, gegen die »verfluchte, kompakte, liberale Majorität« und ihre »Gesellschaftslügen«,11 nicht nur die Badeanlagen, sondern das Gemeinwesen selbst für »verseucht«: ein »Pestloch«, dessen Bewohner selbst als lebensunwerte Schädlinge »ausgerottet« werden müssten. Er selbst, der zunächst an eine Flucht ins amerikanische Exil dachte, in der dortigen Demokratie aber vom Regen in die Traufe zu kommen fürchtet, entschließt sich, am Ort zu bleiben und im Widerstand gegen die »kompakte Majorität«, die für ihn aus nichts als »Kötermenschen« besteht, auf eigene Faust neue Edelmenschen zu erziehen, ja zu züchten, zusammen mit seiner Frau und Tochter, einer Lehrerin – eine elitäre Utopie, die viele Leser und Zuschauer an Friedrich Nietzsches um dieselbe Zeit entwickelten und auf eine durchaus vergleichbare Demokratiekritik gegründeten »Züchtungs«-Phantasien denken ließ.12 (Zwar scheint 8 | »hvad hjælper det, at du har retten, når du ikke har nogen magt?« (604) 9 | »Jeg er også en ven af folkeligt selvstyre, når det bare ikke falder for dyrt for skatteborgerne.« (661) 10 | »Har de sagt, at jeg er en folkefiende, så lad mig være en folkefiende da« (696). 11 | »den forbandede, kompakte, liberale majoritet«, »samfundsløgne« (670f.). 12 | Es bleibt eine ironische Pointe der Wirkungsgeschichte, dass allein Nietzsche selbst Ibsen beharrlich mit den emanzipativ-optimistischen Aus- und Aufbruchsvorstellungen des Nora-Dramas Ein Puppenheim verband und ihn als den Vertreter einer »weibisch«-liberalen Demokratie dem vermeintlich geistesverwandten August Strindberg kontrastierte. Vgl. dazu meinen Aufsatz »›Das Ich wird zum Wortspiel‹: Ibsen, Strindberg, Nietzsche und das Drama der Abstraktion«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 6 (1998), S. 239-256, erneut in: Widersprüche. Zur frühen Nietzsche-Rezeption, hg. von Andreas Schirmer und Rüdiger Schmidt, Weimar: Böhlau 2000, S. 79-101.
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er ausdrücklich nur ein Erziehungs- und Bildungsprogramm im Sinn zu haben, der massiv biologisch argumentierende Kontext gibt dem aber eine eugenische Wendung.)13 Und wie Nietzsche es wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Ibsens Stück in äußerster Konsequenz tun wird, so stilisiert sich am Ende auch Tomas Stockmann selbst, vollends in seinen Größenphantasien verloren, zu einem Antichrist. In Ibsens makaber-ironischer Namengebung tritt ihm, schon durch seinen Vornamen in die Nähe des zweifelnden Jüngers gerückt, sein Bruder Peter entgegen, der wie der biblische Petrus als der »Fels« der Mehrheitsmeinung erscheint und wie ebendieser Petrus zum Verräter wird. Denn Stockmann selbst inszeniert sich in expliziten Zitaten und Anspielungen als einen neuen Bergprediger, Richter und Heilsbringer, der nicht nur die Giftquelle, sondern geradezu »ein gekalktes vergiftetes Grab« entdeckt hat,14 der von »allen Sendboten des Teufels« versucht wird,15 der im Gestus des »Ich aber sage euch« auftritt16 und wie ein Apostel »zu Zeit und Unzeit predigt, wie irgendwo geschrieben steht«17, der in der seiner nicht würdigen Stadt den Staub von den Füßen schüttelt,18 der in seinem Zorn statt der Vergebung Vergeltung predigt und sich dabei bereits in der Rolle des Gekreuzigten zeigt,19 für den »die liberale öffentliche Meinung« nur »Teufelswerk« ist,20 und der endlich in seine geistesaristokratische Zuchtanstalt »zwölf Knaben« berufen will, wie Christus zwölf Jünger beruft,21 und zwar aus den verachteten Straßenjungen.22 Mit Stockmanns auf den Wilhelm Tell anspielender und sprichwörtlich gewordener, allerdings sonderbar unbeholfen formulierter Proklamation, »der stärkste Mann in der Welt« sei »der, der am meisten allein dasteht«,23 endet das Stück – oder viel-
13 | Vgl. das »Folkefiende«-Kapitel in Kramarz, Susanne: Eyolf. Kinder und Kinderschicksale im Werk Henrik Ibsens, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1990, S. 45-54, bes. S. 50f. 14 | »en kalket forgiftig grav« (559, anspielend auf Mt 23, 27). 15 | »besøg af alle fandens sendebud« (720). 16 | »Oh Toren, die ihr seid – ich sage euch –« (»Å I dårer, som I er, – jeg siger jer, at –«, 682; vgl. Mt 23, 17 und 5, 21f.). 17 | »jeg skal præke for dem både i tide og i utide, som der står skrevet etsteds« (722, vgl. 2 Tim 4, 2). 18 | »ryster støvet fra sine fødder« (687, vgl. Mt. 10, 14). 19 | »Ich bin nicht so gutmütig wie eine gewisse Person; ich sage nicht: ich vergebe euch, denn ihr wisst nicht, was ihr tut« (»Jeg er ikke så godslig som en viss person; jeg siger ikke: jeg tilgiver eder; thi i ved ikke, hvad I gør«, 687) – das spielt an auf das Wort des Gekreuzigten über seine Verfolger Lk 23, 34. 20 | »den liberale offentlige mening og alt det andet djævelskab« (692). 21 | »ich muss für den Anfang mindestens zwölf Jungs haben« (»jeg må ha’ mindst tolv gutter til at begynde med«, 725). 22 | »gadelømler« (725; vgl. Lk 14, 23). 23 | »at den stærkeste mand i verden, det er han, som står mest alene« (727).
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mehr: mit den zweifelnden und besorgten Gesten, mit denen seine Ehefrau und seine Tochter diesen Satz aufnehmen.24 So weit – so eindeutig. Keines von Ibsens späteren Dramen ist von Theaterkritikern und Literaturwissenschaftlern so sehr als Thesenstück aufgefasst worden wie dieses. Umstritten ist bis heute eigentlich nur die Frage geblieben, bis zu welchem Punkt Tomas Stockmann als Sprachrohr des Autors zu verstehen sei – des Autors, der hier offenkundig seine eigene Verbitterung über die Fehlentwicklungen der jungen und so hoffnungsvoll begonnenen norwegischen Demokratie in den Gründerjahren artikuliert, der sich verschiedentlich im Sinne von Stockmanns Antiliberalismus und seinem vehement individualistischen Anarchismus geäußert hat und der in dem für die Handlung eigentlich überschüssigen Detail von Stockmanns Rückkehr aus einem langjährigen Aufenthalt in der Ferne (»Ich stand allein und stritt für den Gedanken, viele Jahre lang, und ich schrieb und schrieb«25) jeden Kundigen auf sein eigenes selbstgewähltes Exil und die nun bedauerte Rückkehr nach Norwegen hinweist; auch dass Ibsen selbst in einer Debatte des norwegischen Parlaments 1882 als »ein Gesellschaftsfeind« bezeichnet worden war,26 hatte Aufsehen erregt. Dass Ibsen selbst dennoch hier wie bei jedem anderen seiner Stücke die Identifikation der dort vertretenen Meinungen oder Figuren mit dem Autor unwirsch zurückgewiesen hat, schien die Befürchtung zu zerstreuen, in Stockmanns wüsten antidemokratischen, geistesaristokratischen und schließlich in eugenischen Züchtungs- und Ausrottungsvorstellungen übergehenden Reden spreche womöglich doch »his masters voice«. Tatsächlich aber lässt der Text diese Frage in einer beunruhigenden Schwebe. Die deutlich gesetzten Distanzierungszeichen etwa in der gerade zitierten Schlussszene können den Auffassungen Stockmanns gelten, aber auch nur deren Durchsetzungsmöglichkeit oder seinem mehrmals als aufbrausend und geltungsbedürftig beschriebenen Charakter. Entsprechend sind die Übergänge zwischen den – in Anbetracht des Handlungsverlaufs – sehr begründeten Wutausbrüchen und dieser neuen ideologischen Position durchaus fließend. Zweifellos zeigt Ibsens Drama über die satirische Kritik der liberalen Demokratie hinaus auch, wie verbale Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Ungewiss bleibt, wie weit er mit dieser Gewalt selber sympathisiert. Bezeichnend für diese Ambivalenz, ja geradezu als deren experimentelle Überprüfung kann die Rezeption des Dramas im »Dritten Reich« erscheinen. Wie Uwe Englerts rezeptionsgeschichtliche Studie zeigt, kann das Drama – ähnlich wie das Schauspiel vom vermeintlich nordisch-faustischen Peer Gynt – nur um den Preis energischer Texteingriffe zur Verkündigung einer antidemokratischen, rassisti24 | »Frau Stockmann smiler og ryster på hodet: Å du Tomas –!/Petra trøstig, griber hans hænder: Far!” 25 | »Jeg stod alene og stred for tanken gennem mange år; og jeg skrev og skrev –« (596; vgl. 666f.). 26 | »en samfundsfiende« (Kommentar 651, 594f. und 600).
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schen und führer-betonten neuen Ordnung zugerichtet werden.27 Das gilt für die Theaterinszenierungen in Nazideutschland ebenso wie für Hans Steinhoffs Verfilmung des Stoffes aus dem Jahr 1937. Erst an diesen Streichungen wird vollends erkennbar, wie ambivalent Stockmanns ideologische Wendung in Ibsens Text tatsächlich beurteilt ist.
2. Ö KONOMIE UND U MWELTGESCHICHTE In der 130-jährigen Auseinandersetzung über die spektakulären ideologischen Streitfragen von »Volk« und »Feindschaft« sind einige ganz unspektakuläre Fragen nicht gestellt worden. Zum Beispiel diese: Wenn es Ibsen nur auf einen prinzipiell austauschbaren Anlass ankam, an dem sich die Korrumpierbarkeit der Demokratie zeigen ließe und der überdies zu einer sozialkritischen Metaphorisierung taugte, warum wählte er dann gerade die industrielle Wasservergiftung? Wenn es aber gerade dieses Sujet sein soll, warum führt er es auf dem Weg über die Badeanstalt ein? Wie viel dramaturgisch einfacher wäre es gewesen, wenn es sich um die Wasserverhältnisse der Stadt gehandelt hätte und um den Arzt, der sie aufdeckt; diese Exposition hätte auch die Gleichsetzung des Ortes selbst mit dem »Pestloch« plausibler gemacht und die selbstzerstörerischen Konsequenzen der kollektiven Verblendung schärfer hervortreten lassen! Die Hinzufügung des Badetourismus macht die Schürzung des Konflikts aufwendiger. Aber sie differenziert auch das Thema weiter aus, das nun weitläufige ökonomisch-ökologische Zusammenhänge in den Blick bringt. Ibsens Umweg deutet an, dass es hier nicht allein um das moralische und politische Problem im Allgemeinen geht, sondern um dessen sehr spezifische zeitgenössische Modellierung: um Natur als biologische Ressource und als ökonomisches Objekt. Nicht nur im aufblühenden kommerziellen Badewesen Mitteleuropas, sondern seit den 1850er Jahren auch in Norwegen hatte sich eine neue Form von Tourismus entwickelt, die die (gleich in der ersten Szene angesprochenen) »günstigen gesundheitlichen Verhältnisse«28 wirtschaftlich ausnutzen sollte. Touristisch prosperierende Badeorte wie Sandefjord oder Modum kommen als Modelle für den Schauplatz des Dramas in Betracht; es entsteht um die Zeit eines ersten Höhepunkts dieses Tourismus. Indem der Text vorführt, wie die natürliche Nahrungsquelle zur Ware wird, zeigt er das Räderwerk einer Marktkonkurrenz, die durch die Expansion eines beschleunigten Wachstums noch erheblich verschärft wird. Dafür hat Ibsen ein schlagendes Beispiel gewählt: Die zunehmende Produktivität der Gerbereien und die 27 | Englert, Uwe: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches, Tübingen/Basel: A. Francke 2001, S. 215-232 (dort auch über Film- und Hörspielbearbeitungen). 28 | »de gunstige sundhedsforholde her hos os« (536).
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Zunahme ihrer Abwässer konkurriert mit dem Wachstum des Badebetriebs, der (wie wir im letzten Akt beiläufig erfahren) als Aktiengesellschaft organisiert ist, und seines Bedarfs nach unkontaminiertem Wasser. Das Drama demonstriert diesen Prozess, seine Voraussetzungen und Folgen, indem es sehr genau die Konturen des zeitgenössischen mittel- und nordeuropäischen Gründerzeit-Kapitalismus zeichnet, bis in die Wortwahl hinein. Der Betrieb der Heilbad-AG hat eine beispiellose wirtschaftliche Dynamik entfaltet, einen »außerordentlichen Aufschwung« in Gang gesetzt,29 mit weitreichenden ökonomischen, sozialen und politischen Folgen. Sie werden im Drama breiter entfaltet, als viele Rezeptionszeugnisse vermuten lassen: • Die Immobilienpreise steigen (»Gebäude und Grundbesitz nehmen täglich an Wert zu«, ja »täglich laufen neue Anfragen nach Wohnungen und dergleichen ein«30), • der Geldverkehr nimmt zu (»Hier kommt Geld unter die Leute«31), • »die Arbeitslosigkeit geht zurück«32, • die Belastung der Sozialkassen sinkt (»Die Belastung durch die Armenfürsorge hat in erfreulichem Umfang abgenommen«33), • und damit sinkt auch die Steuerlast, und zwar die der »besitzenden Klassen« und die der »kleinen Steuerzahler« gleichermaßen;34 • die nicht ungefährliche Konkurrenz der benachbarten Küstenstädte ist damit einstweilen aus dem Feld geschlagen.35 Die Konkurrenz zwischen den Gerbereien im Mühlental und dem Bad-Tourismus in der Stadt entspricht dem Versuch einer Aufteilung der Welt in Bereiche industrieller Produktion, in denen »Natur« verbraucht, und Bereiche industriefreier Refugien, in denen sie erhalten bleiben soll. Ebendiese Teilung zwischen zerstörten und heilen, ja Heilung versprechenden Naturbereichen problematisiert das Drama, indem es beide Seiten als untrennbar miteinander verbundene Teile ökologischer Kreisläufe erweist. Die neue industrielle Entwicklung greift auch die vorgeblichen Refugien an; und hier wie dort ist »Natur« zur ökonomischen Res29 | Peter Stockmann: »Welchen ganz außerordentlichen Aufschwung hat doch der Ort nur in diesen paar Jahren gemacht!« (»Hvilket ganske overordentligt opsving har ikke stedet taget bare i disse par år!« 535) 30 | »Bygninger og grundejendomme stiger i værdi med hver dag«, »Hver dag indløber der forespørgsler om boliger og sådant noget« (535). 31 | »Her er kommet pengene imellem folk« (535). 32 | »arbejdsløsheden tar af« (535). 33 | »Fattigbyrden er bleven i en glædelig grad formindsket« (535). 34 | »for de besiddende klasser« (535), »De små skatteydere er de talrigste« (633). 35 | »Auch die Nachbarorte besitzen gewisse Voraussetzungen, um als Badeorte aufgesucht zu werden« (»Nabobyerne har også visse betingelser for at kunne bli‹ søgte som badesteder«, 591).
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source geworden. Nirgends zeigt sich dieser Konflikt so unmittelbar, so im Wortsinne elementar wie im Umgang mit der Ressource Wasser. Zwar hat Ibsen in den ersten Entwürfen des Dramas einen Cholerafall im vorindustriellen Böhmen um 1830 als Modell benutzt.36 Doch was er daraus gestaltet, betrifft ein Thema, das im sich industrialisierenden Norwegen die ökologisch-industriellen Auseinandersetzungen so nachhaltig bestimmte wie kein anderes. Die allerorten auftretenden Formen industrieller Wasservergiftung bilden so etwas wie das Leitfossil der ökologischen Bewusstseinsbildung im Mittel- und Nordeuropa des späten 19. Jahrhunderts. (So wie es in der protoindustriellen Epoche der Waldbau gewesen war.) Die neuere Umweltgeschichte hat dafür zahlreiche Beispiele zusammengetragen. Wie bedeutsam die problematische Wasserversorgung und Abwasserentsorgung für Urbanisierungsprozesse der Moderne tatsächlich war, kommt im Titel einer historischen Überblicksdarstellung pointiert zum Ausdruck: Hydropolis. Wasser und die Stadt in der Moderne.37 In Mitteleuropa setzen die ökologischen Krisenerfahrungen mit verseuchtem Trinkwasser und unzureichender Abwasserreinigung bereits um die Jahrhundertmitte umfassend ein, und zwar sowohl in den Großstädten als auch in den neuen Industrialisierungszonen in ländlich-agrarischen Gebieten. Einen der ersten Krisenberichte präsentiert eine von dem englischen Arzt Edwin Chadwick veröffentlichte Studie aus dem England der Industriellen Revolution bereits 1842: Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain; sie erfährt weit über Großbritannien hinaus eine »grenzüberschreitende Resonanz«. Ihr folgen Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England und seit 1848, bezogen zuerst auf eine Typhusepidemie in den Industrialisierungsgebieten Oberschlesiens, der Berliner Arzt Rudolf Virchow.38 Seit 1850, so berichtet der in New York lebende Paul Gerhard, der sich einen »Gesundheits-Ingenieur« nennt, rückblickend im Jahr 1899, hätten Sanierungsbemühungen einen zunehmend erfolgreichen Kampf »gegen Krankheit und Tod« geführt, die »durch verunreinigtes Wasser, verpestete Luft, schlechte Nahrung, 36 | Vgl. Kommentar 599. 37 | Frank, Susanne/Gandy, Matthew: Hydropolis. Wasser und die Stadt in der Moderne, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2006. 38 | So Marcus Stippak in einem Aufsatz, dem ich grundlegende Informationen und Literaturhinweise verdanke: »Zur Wahrnehmung und Bewältigung städtischer Wasserkrisen im späten 19. Jahrhundert«, in: Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch-Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit: Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen, hg. von Lars Kreye, Carsten Stühring und Tanja Zwingelberg, Göttingen: Universitätsverlag 2009, S. 91-111. – Vgl. auch Büschenfeld, Jürgen: »Das Abwasserproblem im Widerstreit der Interessen. Akteure, Konflikte und Lösungsmuster in der Phase der Hochindustrialisierung«, in: Bebermeier, Wiebke/Hennig, Sarah/Mutz, Mathias: Vom Wasser. Umweltgeschichtliche Perspektiven auf Konflikte, Risiken und Nutzungsformen, Siegburg: Deutsche Wasserhistorische Gesellschaft 2008, S. 17-48.
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unreinen Boden« verursacht worden seien.39 Nicht zufällig steht in dieser Aufzählung das »verunreinigte Wasser« an der ersten Stelle. In Hamburg, in Berlin, im Ruhrgebiet, aber auch in Mittelstädten wie Darmstadt und Dessau wurde die Frage der Wasserverschmutzung zu einem zentralen sozialen, medizinischen und technischen Problem.40 In München hielt der Mediziner Max von Pettenkofer aufsehenerregende Vorträge über Canalisation und Abfuhr; im Jahr 1876 veröffentlichte er sie in Buchform – ein Jahr nachdem Henrik Ibsen dorthin gezogen war. Wie dominierend das Thema gerade hier während der Zeit von Ibsens zeitweiligem Exil gewesen ist, zeigt Peter Münchs Untersuchung der öffentlichen Debatten über Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert: Sie bezieht sich durchgehend auf den Modellfall München.41 In Norwegen setzte die Entwicklung etwas später ein, aber sie erregte nicht weniger Aufsehen – zumal sie sich vor allem in Klein- und Mittelstädten vollzog, in denen der Gegensatz von naturnaher Land- und Forstwirtschaft zu einer forcierten Industrialisierung besonders drastisch erlebt wurde. Am Beispiel von Zellulosefabriken in der Ortschaft Bamble in Telemark und in der Stadt Moss in Østfold haben zwei norwegische Historiker jüngst gezeigt, wie um 1890 die ökologischen Krisen um Wasserverschmutzung zu ähnlichen gesundheitspolitischen Eingriffen zwangen. Das Gesundheitsgesetz, Sunnhetsloven, das aus dem Jahr 1860 stammte, erwies sich als untauglich gegenüber den »neuen Verunreinigungstypen, die in großen Mengen und mit großer Verbreitungskapazität auftraten«; die gesamte zweite Jahrhunderthälfte hindurch »war die Arbeit der [staatlichen] Gesundheitskommission in den Städten von Entsorgungsproblemen bestimmt.«42 Kein Wunder also, dass früh auch die Literatur des Realismus sich diesen neuartigen ökologischen Problemen des Zeitalters vor allem anhand des Wasser-Themas zuwandte. In London ist die Entwicklung bereits um die Jahrhundertmitte so weit fortgeschritten, dass Charles Dickens in seinem 1864/1865 geschriebenen Roman Our Mutual Friend die widerstreitenden Funktionen der Themse als Lebensquelle und Kloake der Metropole zugleich thematisiert und mannigfach sym39 | Gerhard, Paul (bearbeitet von Joh[annes]. Olshausen): »Ein halbes Jahrhundert der Sanierung, 1850-1899«, in: Der Gesundheits-Ingenieur 1899, S. 175-214; hier zit.n. Stippak: Zur Wahrnehmung und Bewältigung städtischer Wasserkrisen, S. 94f. 40 | Dazu Stippak: Zur Wahrnehmung und Bewältigung städtischer Wasserkrisen, S. 100-107. 41 | Münch, Peter: Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. 42 | Storesund, Asbjørn/Rønning, Finn: »Miljørettet helsevern og industriforurensning i 1890-årene«, in: Medisinsk historie, online: http://tidsskriftet.no/article/462394, letzter Zugriff am 9. Mai 2012: »De nye forurensningstypene, som opptrådte i store mengder og med stor spredningskapasitet, var ikke forutsett i sunnhetsloven av 1860. […] Grunnlaget for lokalt miljøhygienisk arbeid i Norge lå i § 3 i sunnhetsloven av 1860. Gjennom resten av 1800-tallet var sunnhetskommisjonenes arbeid i byene preget av renovasjonsproblemene.«
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bolisch überhöht.43 In Deutschland, wo das Problem sich nach der Reichsgründung auch in den rasch sich industrialisierenden agrarischen Gebieten aufdrängt, nimmt Wilhelm Raabe in seinem 1883/1884 entstandenen, wahrhaft bahnbrechenden Roman Pfisters Mühle Nachrichten über die Vergiftung eines Bachs und das daraus folgende Gerichtsverfahren zum Anlass für eine ebenso nuancierte wie pessimistische Darstellung der Konkurrenz zwischen industrieller Landwirtschaft (hier repräsentiert durch eine Zuckerfabrik) und Tourismus (dem Gaststätten- und Ferienbetrieb einer einstigen Wassermühle). Er tut das in so wörtlicher Anlehnung an den realen Prozess, dass 1925 August Thienemann den Roman, unter resoluter Übergehung seiner Erzählkunst, geradezu als Ein Kapitel aus der Geschichte der Biologischen Wasseranalyse hin untersuchen und auf den Prozess um die Aktienzuckerfabrik Rautheim zurückführen konnte;44 Ludwig Popp hat dann 1959 das Buch einen »Schlüsselroman zu einem Abwasserprozess« genannt.45 Solche Deutungen verkürzen, wie Horst Denkler gezeigt hat, den Roman unzulässig, konzentrieren sich auf isolierte »Textpartikel« und vernachlässigen deren »ästhetische Funktion im poetischen Fiktionszusammenhang«.46 Aber dass eine solche Lektüre doch immerhin möglich war, zeigt, wie konkret hier das ökologische Problem industrieller Wasservergiftung geworden war. Ibsens 1881/1882 geschriebener Volksfeind steht nicht nur entstehungsgeschichtlich zwischen diesen beiden Texten. In seiner komplexen Metaphorisierung des ökologischen Konflikts steht er Dickens, in der präzisen Entfaltung eines kon-
43 | Zum umweltgeschichtlichen Kontext vgl. Schott, Dieter: »Stadt und Fluss: Flüsse als städtische Umwelten im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Herrmann, Bernd (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2004-2006, Göttingen: Universitätsverlag 2007, S. 141-162, und Ackroyd, Peter: Thames. The Biography, New York: Anchor 2007. 44 | Thienemann, August: »Wilhelm Raabe und die Abwasserbiologie«, in: Mitteilungen der Wilhelm-Raabe-Gesellschaft 15 (1925), S. 124-131; zur wörtlichen Übernahmen Raabes aus Beckurts’ Gutachten S. 128f. 45 | Popp, Ludwig: »›Pfisters Mühle‹. Schlüsselroman zu einem Abwasserprozess«, in: Städtehygiene 10 (1959), S. 22-25. – Vgl. auch Vaupel, Elisabeth: »Ge wässerverschmutzung im Spiegel der schönen Literatur«, in: Chemie in unserer Zeit 19 (1985), S. 77-85. 46 | Denkler, Horst: »Die Antwort literarischer Phantasie auf eine der größern Fragen der Zeit. Zu Wilhelm Raabes ›Sommerferienheft‹ ›Pfisters Mühle‹«, in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe, Tübingen: Niemeyer 1988. Ähnlich Sammons, Jeffrey L.: »The Mill on the Sewer: Wilhelm Raabe‹ Pfister’s Mill and the Present Relevance of Past Literature«, in: Orbis Litterarum 40 (1985), S. 16-32, und Kaiser, Gerhard: »Der Totenfluß als Indu striekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in Pfisters Mühle von Wilhelm Raabe«, in: ders.: Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literari scher Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum, Freiburg: Rombach Verlag 1991, S. 81-107, hier bes. 106f. Vgl. auch meinen Aufsatz »Ökologische Krise und ästhetische Innovation im Werk Wilhelm Raabes«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1992, S. 1-27.
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kreten Falls Raabe nahe – chemische Gutachten spielen hier eine kaum geringere Rolle als dort. Liest man Ibsens Drama im Zusammenhang dieser epochalen Auseinandersetzung und dieser Konstellation wissenschaftlicher, medizinischer, politischer und notabene literarischer Diskurse, dann fällt auf seine Darstellung eines ökologischen Falles ein sehr anderes Licht. In ihm treten Details scharf hervor, die in der geistes- und ideengeschichtlichen Rezeption weitgehend verdunkelt worden oder als Nebensächlichkeiten und Begleitumstände übergangen worden sind – eben, mit Doktor Stockmanns Worten, »die Kleinigkeit, dass unsere Wasserleitung vergiftet ist«47. Stellt man diese Details gegen die Dominanz der Frage nach Individualismus und Demokratie zusammen, dann ergeben sie ein ebenso eindrucksvolles wie eindringliches Bild von Symptomen der Krise, ihren Ursachen und der möglichen Abhilfe – in der Tat, »Ibsen had his facts impressively straight«48. • Präzise benannt werden die ökologischen Krisensymptome: Die vereinzelten Krankheitsfälle und der ekelerregende Gestank (»alles, was hier so widerlich riecht«49) resultieren aus einer Kontamination des Wassers in den Zugangsröhren zum Brunnenhaus50 und der Abwässer, die von dort in den See geleitet werden.51 Die Trinkwasserbelastung ist nun gerade für die vor allem an »typhösen und gastrischen« Erkrankungen leidenden Besucher gefährlich, die hier sowohl durch Bäder als auch durch Einnahme des Wassers behandelt werden sollen52 – weshalb die Anlagen bei einem Fortbestehen der Belastungen unbrauchbar – zerstört« wären.53 • Nur zögernd und portionsweise, wenn auch im Ergebnis nicht weniger deutlich, werden die konkreten Ursachen des Problems offengelegt – schließlich ist einer der Schuldigen, die auch hier durchaus Name und Adresse haben, Stockmanns Schwiegervater. (Sollte also auch der Wahrheitsfanatiker Stockmann selbst Rücksichten auf persönliche Beziehungen nehmen?) Allenfalls hier zeigen sich Spurenelemente der analytischen Technik Ibsens, die an diesem Drama sonst vermisst worden sind. Lange Zeit nämlich spricht Stockmann nur unbestimmt von »diesen Widerlichkeiten oben im Mühlental«;54 die darauf bezogene Journalistenfrage, ob das verdorbene Wasser aus einem verunreinigten Untergrund komme, bejaht er mit einem unbestimmten Hinweis auf den dor47 | »[…] den småting, at vor vandledning er forgiftet« (665). 48 | So Downing Cless in den im Übrigen leider nur knappen Bemerkungen zu En folkefiende, S. 139. 49 | »alt dette her, som lugter så fælt« (559). 50 | »det inficerede vandet i spisningsrørene til brøndhuset« (ebd.). 51 | »dette samme fordømte giftige smuds siver også ud i stranden« (ebd.). 52 | »både tyføse og gastriske tilfælder« (560), »både til indvortes og udvortes« (590). 53 | »Ellers er hele badeanstalten ubrugelig – ødelagt« (561). 54 | »disse uhumskhederne oppe i Mølledalen« (559).
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tigen »giftigen Sumpf«.55 Erst vor der Bürgerversammlung nennt er deutlicher diejenigen »Widerlichkeiten, die von den Gerbereien oben im Mühlental zum Bad heruntersickern«56. Im Nachgespräch fragt einer der Betreiber, eben sein Schwiegervater Morten Kiil, misstrauisch nach: »Was ha’m Sie da gesagt von den Gerbereien im Mühlental?« Und Stockmann bekräftigt, »dass die ganze Schweinerei genau daher kommt« und dass unter allen Gerbereien diejenige Kiils sogar »die allerschlimmste« sei.57 • Präzise benannt wird auch die mögliche sanitäre Abhilfe samt ihren finanziellen Folgen: Neue Wasserleitungen müssen verlegt werden, die nicht mehr ins von den Gerbereiabwässern kontaminierte Mühlental führen, sondern in höhere Bergzonen.58 Das aber läuft einerseits auf »ein besseres Wasserwerk«59, andererseits auf ein neues System zur Abwasserentsorgung hinaus,60 und zwar innerhalb eines Zeitraums von »mindestens zwei Jahren«, in denen die bestehenden Anlagen geschlossen bleiben müssen.61 Die Kosten werden auf »mehrere hunderttausend Kronen«62 beziffert. Diese Maßnahmen würden die Aufnahme eines Kommunalkredits erfordern63 und damit die Steuerlast erhöhen. Diese Lösungen setzen voraus, dass an öffentlichen Debatten über die »Natur«, um deren Beeinträchtigung es geht, nicht mehr alle Bürger gleichermaßen teilnehmen können, sondern dass sie zum Gegenstand einer spezialisierten Wissenschaft geworden ist. Die chemische Gewässeranalyse muss (wie in Raabes Umweltroman) von akademischen Fachleuten in besonderen Laboratorien durchgeführt werden: »Aber hier fehlten mir ja die erforderlichen wissenschaftlichen Hilfsmittel, und so habe ich Proben sowohl des Trink- als auch des Seewassers an die Universität eingeschickt, um eine exakte Analyse durch einen Chemiker zu bekommen.«64 Auch der gesellschaftliche Umgang mit den wissenschaftlichen Einsichten (und ihren ökonomischen Konsequenzen) wird bei Ibsen geradezu modellhaft 55 | »at det fordærvede vand kom af urenligheder i jordbunden«; »det kommer ganske utvivlsomt fra denne forgiftige sump oppe i Mølledalen« (574f.). 56 | »uhumskhederne som siver ned til badet fra garverierne oppe i Mølledalen« (679). 57 | »Hvad var det, De sa‹ om garverierne i Mølledalen?«, »at det var fra dem alt griseriet kom«, »det allerværste« (684). 58 | »Indtaget ligger for lavt; det må flyttes til et sted meget højere oppe« (562). 59 | »et bedre vandværk« (579). 60 | »at vi må bygge en kloak, som kann optage de postulerede uhumskheder fra Mølledalen«, wie der Bürgermeister resümiert (590). 61 | »mindst to år« (591). 62 | »flere hundrede tusend kroner« (590). 63 | »at vi optar et kommunallån« (634). 64 | »Men her mangled jeg jo de fornødne videnskabelige hjælpemidler; og så sendte jeg prøver både af drikkevandet og af sjøvandet ind til universitetet for at få en exakt analyse af en kemiker« (560).
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demonstriert: Der vergeblichen Bestreitung von Kompetenz und Zuständigkeit des Wissenschaftlers (»Das Anliegen, um das es hier geht, ist nichts rein Wissenschaftliches, sondern ein kombiniertes Anliegen, ein zugleich technisches und ökonomisches Anliegen«65) und dem vergeblichen Versuch einer Korrumpierung des Arztes durch Hinweise auf seine wirtschaftliche Abhängigkeit66 folgen schließlich sein Boykott und seine Entlassung. Die ebenso vergeblichen Bemühungen um nachträgliche Manipulationen des Gutachtens kulminieren in der Verhinderung seiner Publikation.
3. M E TAPHORISIERUNG (1) : I DEOLOGIE IN DER U MGANGSSPR ACHE Nirgends zeigt sich die kollektive Verdrängung des faktischen Gegensatzes zwischen dem ökonomischen Wachstum der Gerbereibetriebe und dem des Heilbades so subtil und eben deshalb so aufschlussreich wie in den Ideologemen der Umgangssprache. Gerade in der Beiläufigkeit der Alltagsrhetorik zeigt Ibsen, wie die ökonomischen Prozesse metaphorisch ideologisiert werden: als Grundlage eines »Lebens«, das redensartlich zwischen biologischen Existenzbedingungen und wirtschaftlichem Wohlstand changiert. Denn die neue Ökonomie bedeutet in den Augen der Stadtbürger nicht weniger als, wie sie rhetorisch-beiläufig immer wieder erklären, ihr »Leben«, und sie wird denn auch leitmotivisch, und in aller rhetorischen Selbstverständlichkeit, mit diesem gleichgesetzt: »das Bad wird zur vornehmsten Lebensgrundlage der Stadt«, sagt der Bürgermeister im ersten Akt;67 im zweiten erklärt dann der Buchdrucker Aslaksen: »Es ist das Bad, wovon wir alle leben werden, und am meisten noch wir Hausbesitzer.«68 Die Badeanlagen sind die »Pulsader«, sie sind der »Lebensnerv«, ja das »schlagende Herz« der Stadt.69 In der Verteidigung und weiteren Entwicklung des Bades gegen alle medizinischen Warnungen – und auch nur in dieser Hinsicht – sind sich deshalb quer durch die politischen Parteien und sozialen Klassen sämtliche Bewohner der Stadt einig: Der um jeden Preis gerechtfertigte Wirtschaftsaufschwung ist »ein großes gemeinsames Anliegen«70 – dies zumal dann, wenn Aussichten auf steigende Übernachtungszahlen winken.71 Noch emphatischer gebraucht und entfaltet der mit seiner Idee so erfolgreiche Badearzt Stockmann selbst zunächst die biologische Metapher, und für einen 65 | »Det anliggende, her handles om, er ikke noget rent videnskabeligt; det er et kombineret anliggende; det er både et teknisk og et økonomisk anliggende« (599). 66 | »han står jo i badets tjeneste« (536), und zwar als »underordnet tjenestemand« (598). 67 | »Badet blir byens fornemste livsbetingelse« (535). 68 | »Det er badet, vi skal leve af allesammen, og mest da vi husejere« (581). 69 | »byens pulsåre, og byens livsnerve«, »Byens bankende hjerte« (558). 70 | »et stort fælles anliggende« (534). 71 | »brav mange syge, som kan bringe anstalten i ry« (535).
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Augenblick klingt er dabei, als spreche er in seinem chiliastischen Furor für die aufstiegsgewisse Gründerzeit selbst: »Ich fühle mich so unbeschreiblich glücklich mitten in all diesem keimenden, wimmelnden Leben. Es ist doch eine herrliche Zeit, in der wir leben! Es ist, als steige rings um uns eine neue Welt empor.«72 Wenig später wird er durch die Wassergutachten unsanft daran erinnert, dass »Leben« zuerst ein biologischer und kein ökonomischer Begriff ist und dass das eine in einen Gegensatz zum anderen geraten, ja dass es um nicht weniger gehen kann als Geld oder Leben:73 Infolge der Überlastung des Wassers durch »faulende organische Substanzen« kommen darin »massenhaft Infusorien« vor.74 Und nun ist es Tomas Stockmann, der die biologische Metaphorik (für ökonomische Verhältnisse) emphatisch konfrontiert mit der Wirklichkeit der Biologie. Wenn ihm sein Bruder vorhält, er zerstöre die »wichtigste Nahrungsquelle« der Stadt, dann ruft er aus: »Die Quelle ist verseucht, Mensch! Bist du irr!«75
4. M E TAPHORISIERUNG (2) : A USROT TUNG , Z ÜCHTUNG , D ESINFEK TION Wenn aber dies alles im Drama so bemerkenswert detailliert und differenziert entfaltet ist – warum hat die Rezeptionsgeschichte es so weitgehend ignoriert? Woher kommt die Selbstverständlichkeit, mit der es allenthalben und ausschließlich auf die Auseinandersetzung um Individualismus und Mehrheitsdemokratie reduziert wird?76 Warum ist das Drama nicht zuerst als Modellstudie über das Verhältnis von Ökologie, Ökonomie und Politik gelesen worden? 72 | »Jeg føler mig så ubeskrivelig lykkelig midt i alt dette spirende, sprættende liv. Det er dog en herlig tid, vi lever i! Det er som om en hel ny verden var i opkomst omkring en« (540). 73 | Verweis auf Ibsen-Strindberg-Aufsatz. 74 | »forrådnede organiske stoffer i vandet«, »– infusorier i mængdevis« (561). 75 | »Du […] går hen og afskærer byens vigtigste næringskilde« – »Den kilde er forgiftet, menneske! Er du gal!« (602). 76 | Die weitaus meisten Stichproben in literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen zeigen, dass das Drama dort bis heute fast ausschließlich in dieser – von Ibsen gewiss auch vorrangig intendierten – Perspektive wahrgenommen worden ist. Das gilt von James McFarlanes Einleitung zur wirkungsmächtigen Übersetzung im Oxford Ibsen bis zu den Kommentaren der norwegischen Gesamtausgabe von 2008. In den Letzteren wird der ökologische Grundkonflikt – abgesehen vom Stellenkommentar zum Begriff »Badeanstalt« – gar nicht berührt, stattdessen geht es um die Auseinandersetzung mit »zwei philosophischen Hauptbegriffen: dem Volk und dem Ich« (»to filosofiske hovedbegreper: folket og jeget«, Kommentar 587). Selbst dort, wo es um Ibsens Auseinandersetzung mit »Phänomenen seiner Gegenwart« geht (»fenomener som tilhører samtiden«), geht der Kommentar ausschließlich auf die Darstellung der Presse ein (Kommentar 594). Die Wikipedia-Artikel in norwegischer, englischer und deutscher Sprache präsentieren es als Ibsens »Ab-
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Weil es selbst seinen ökologischen Anlass sehr rasch und konsequent aus den Augen verliert. Das geschieht einerseits durch den immer energischeren Rekurs auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit einem derart lebenswichtigen Thema. Und es geschieht andererseits in einer zweiten Strategie der Metaphorisierung, die sich daraus ergibt. Je leidenschaftlicher Doktor Stockmann die Verblendung und Korruption seiner Mitbürger angreift und je weiter dabei das ursprüngliche Thema in Vergessenheit gerät, desto entschiedener wird ebendieses Thema zur Metapher für soziale Prozesse, ja schließlich für maßlose eugenische Phantasien. Zuerst ist es Redakteur Hovstad, der den wasservergiftenden Sumpf im Mühlental zur Metapher für die Korruption macht, in die er doch selber verwickelt ist: »Der Sumpf, in dem unser gesamtes kommunales Leben feststeckt und fault.«77 In der damit eingeschlagenen Richtung geht dann, im dritten Akt, der über seine Zurückweisung empörte Doktor Stockmann selbst energisch weiter. Denn nun, so eröffnet er dem Journalisten Billing, »nun ist es nicht mehr nur das mit dem Wasserwerk und der Kloake. Nein, es ist die ganze Gesellschaft, die gereinigt, desinfiziert werden muss –«78. Was ihm in diesem Augenblick als eine bahnbrechende neue Erkenntnis vorkommt, markiert den Beginn einer Verblendung – der Wortlaut erlaubt es dabei, an eine Vision oder an eine Halluzination zu denken: »Heute haben sich mir so unendliche Blickweiten eröffnet. Es ist mir noch nicht alles ganz klar; aber ich werde es schon noch herausbringen.«79 Damit eröffnet Doktor Stockmann seinen rhetorischen Bürgerkrieg, im Dienste der sozialen Desinfektion: Von rechnung mit allen Machtgruppierungen und politischen Parteien seiner Zeit« und Kritik an einer »Mehrheitstyrannei auf Kosten des individuellen Rechts, anders zu denken« (so die norwegische Ausgabe, letzter Zugriff am 12. Mai 2012: »oppg jør med alle maktgrupperinger og politiske partier i sin samtid«, »flertallstyranniet på bekostning av individets rett til å tenke annerledes«). Entsprechend die englische Version: Das Drama »addresses the irrational tendencies of the masses, and the hypocritical and corrupt nature of the political system that they support. It is the story of one brave man’s struggle to do the right thing and speak the truth in the face of extreme social intolerance«, aber auch die deutsche: Ibsens »gesellschaftskritisches Drama« behandelt das Verhältnis von »Wahrheit und Freiheit sowie Mehrheit und Recht«. Die Reihe ließe sich fortsetzen. – Gegenstimmen finden sich abgesehen von den genannten Einzelstudien im Umkreis des Ecocriticism in Robert Fergusons Ibsen-Biographie und im Nachwort des Schriftstellers Nikolaj Frobenius zum Folkefiende-Band der norwegischen Taschenbuch-Neuausgabe wichtiger Ibsen-Dramen im Jahr 2006 (deutsch in: Äußerungen über Ibsen – von norwegischen Autorinnen und Autoren, deutsch von Christel Hillebrandt, Oslo 2006, S. 45-50). 77 | »Den sump, som hele vort kommunale liv står og rådner i« (575). 78 | »For nu er det ikke bare dette med vandværket og kloaken alene, ser De. Nej, det er hele samfundet, som skal renskes, desinficeres –« (616). 79 | »Der har åbnet sig så uendelige synsvidder for mig idag. Det står ikke rigtig klart for mig endnu; men jeg skal nok få rede i det« (616).
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»jungen frischen Fahnenträgern« redet er im selben Atemzug und von »neuen Befehlshabern auf allen Vorposten«.80 Dass er sich lieber auf die Sache mit den Badeanlagen konzentrieren wolle, bemerkt der Kleinbürger Aslaksen – bald wird es Stockmann selbst sein, der diese Mahnung an diejenigen richtet, die ihn zum »Volksfeind« erklären wollen: »Halten Sie sich an die Wasserleitung und die Kloake!«81 Die Desinfektions-Metapher wird zum Leitmotiv. Doktor Stockmanns Ausruf, er wolle »die Gesellschaft reinigen«82, steht effektvoll am Ende des dritten Aktes; in der Hitze der Bürgerversammlung im vierten setzt er dieses Ziel sogar dem ökologischen Anlass entgegen: Es gehe gar nicht um »die Kleinigkeit, dass unsere Wasserleitung verseucht ist«, sondern darum, »dass alle unsere geistigen Lebensquellen verseucht sind und dass unsere gesamte Bürgergesellschaft auf dem pestschwangeren Grund der Lüge ruht«83. Ungewollt entspricht er mit solchen Reden nun selber dem, was die wütenden Zwischenrufer fordern: »Sprechen Sie nicht vom Bad!«84 Eben das aber tut Stockmann ja längst nicht mehr. In nicht unaufdringlicher Wiederholung schärfen er und sein Autor ihren Zuhörern die metaphorische Übertragung ein: von der Vergiftung des Wassers auf die Vergiftung der geistigen Lebensquellen, vom Abwassersumpf im Mühlental auf die Verpestung des sozialen Untergrundes, von der ökologischen zur sozialen Reinigungsaufgabe. Und damit nimmt nun auch die metaphorische Transformation der schädlichen Infusorien zu jenen Menschen ihren Lauf, die als Schädlinge vernichtet werden müssen. Hier verbindet sich der sozialhygienische Diskurs mit sozialdarwinistischen Vorstellungen von Zuchtwahl und dem Kampf zwischen höher- und minderwertigen Lebensformen (im Bereich nicht mehr der Mikroorganismen, sondern der Säugetiere). Unauffällig vorbereitet hat sich diese diskursive Verschränkung bereits im ersten Gespräch zwischen Tomas Stockmann und seinem Schwiegervater, ausgerechnet dem Gerbereibesitzer Morten Kiil selbst. Denn bauernschlau und ungebildet, wie er ist, hält dieser die von seinem Schwiegersohn beschriebenen Lebewesen für Schädlinge, die sich – so fügt er im letzten Akt hinzu – doch wohl mit gewöhnlichem Rattengift beseitigen ließen.85 Der Ausdruck »infusionsdyr«, »Infusionstiere«, markiert den Übergang von der Sphäre der Einzeller zu derjenigen der Säugetiere: »War es nicht so, dass da ein paar Tiere in 80 | »unge friske fanebærere«, »nye befalingsmænd på alle forposter« (ebd.). 81 | Aslaksens Bemerkung 618; Stockmann: »Hold Dem til vandledningen og kloaken!« (663). 82 | »renske samfundet« (651). 83 | »Jeg vil meddele eder en opdagelse af ganske anden rækkevidde, end den småting, at vor vandledning er forgiftet […] – den opdagelse, at alle vore åndelige livskilder er forgiftede og at hele vort borgersamfund hviler på løgnens pestsvangre grund« (665). 84 | »Ikke tal om badet!« (ebd.). 85 | »Kunde De ikke probere med noget rottekrudt?« (711).
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die Wasserrohre gekommen sind?«, fragt Kiil, und Stockmann antwortet: »Oh ja, Infusionstiere.« Verständnislos fragt Kiil weiter: »Und es sollen ja eine Menge solcher Tiere da ›reingekommen sein, sagt Petra. Eine ganz wilde/unbeherrschbare Menge« – und alle seien angeblich unsichtbar.86 Massenhaft, unbeherrschbar, unsichtbar und schädlich: so erscheinen einen Akt später in Stockmanns Rede die Menschen selbst. Zunächst ist es nur die herrschende Bürokratie, die auf diese Weise rhetorisch entmenschlicht wird: »Die sind wie Ziegenböcke in einer jungen Baumschonung; […] – und ich sähe es am liebsten, wenn wir sie ausrotten könnten wie andere Schädlinge auch […].«87 Wenige Sätze später greift diese Metaphorik auch auf die gewöhnlichen Bürger selbst über – auf alle, die nicht wie Stockmann einer intellektuellen Elite angehören; und nun tritt neben die Ausrottungsidee diejenige einer gezielten Züchtung: Worin besteht der Unterschied zwischen einer kultivierten [hochgezüchteten] und einer unkultivierten Tierfamilie? Seht euch nur das gemeine Bauernhuhn an. Welchen Fleischwert hat so ein verkrüppelter Hühnerabfall? Der ist nicht groß, o nein! […] Aber dann stellt euch ein kultiviertes [hochgezüchtetes] spanisches oder japanisches Huhn vor, oder nehmt einen vornehmen Fasan oder Truthahn; – ja, da seht ihr wohl den Unterschied!88
Es ist ein beunruhigend kurzer Weg, den Stockmann hier zurücklegt von der Kultiviertheit des Geistes zum Fleischwert der Verkrüppelten – nur metaphorisch natürlich. Endpunkt seiner Metaphorisierungskette aber ist nicht das Schlachtvieh, sondern der Haushund: Denkt euch nun zuerst einen simplen Gemeindehund, – ich meine so einen widerwärtigen, struppigen, pöbelhaften Köter, der nur die Straße hinunterläuft und die Hauswände verdreckt. Und dann stellt den Köter einem Pudelhund gegenüber, der durch mehrere Generationen aus einem vornehmen Hause stammt – 89
86 | »Var det ikke så, at der var kommet nogen dyr ind i vandrørene?« »Å ja, infusionsdyr.« »Og der skulde jo være kommet mange slige dyr derind, sa‹ Petra. En rent ustyrlig mængde«. (570f.) 87 | »De er som gedebukker i en ung træplantning; […] – og jeg skulde helst se, vi kunde få dem udryddet ligesom andre skadedyr –« (668). 88 | »Hvilken forskel er da ikke mellem en kultiveret og en ukultiveret dyrefamilie? Se bare på en gemen bondehøne. Hvad kødværdi har slig en forkrøblet hønseskrot? Det er ikke stort, det! […] Men tag så for jer en kultiveret spansk eller japanesisk høne, eller tag en fornem fasan eller kalkun; – jo, da ser I nok forskellen!« (668). 89 | »Tænk jer nu først en simpel almuehund, – jeg vil sige, slig en ækkel, ragget, pøbelagtig køter, som bare render gadelangs og sviner husvæggene til. Og stil så køteren sammen med en puddelhund, som gennem flere slægtled stammer fra et fornemt hus« (676).
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dann teilt sich die Menschheit übersichtlich in die geistig und, unversehens hat die Metapher diese Gleichsetzung hervorgebracht, biologisch überlegenen Wenigen auf der einen Seite und die minderwertigen Vielzuvielen auf der anderen. Mit Stockmanns Worten: »Oh, es ist ein ganz gewaltiger Abstand zwischen Pudelmenschen und Kötermenschen.«90 Zwar verstrickt er sich schließlich in seiner eigenen Metapher, wenn er ausgerechnet den edlen Pudel, der doch den »freien Mann« repräsentieren sollte, als dasjenige Tier rühmt, das sich am leichtesten zu Kunststücken abrichten lässt91 – doch sein Vorsatz, die Wahrheit »den Kötern in den Kopf zu prügeln«, bleibt bis in die letzte Szene ebenso fest wie der Plan, einmal Experimente anzustellen mit den Kötermenschen (»Ich will es den Kötern in den Kopf prügeln, dass die Liberalen die tückischsten Feinde des freien Mannes sind«; »Ich will einmal mit den Kötern experimentieren«)92 . Wenn diese rhetorische Überhitzung im Jahr der Uraufführung komisch gewirkt haben sollte (was sie nach den vorliegenden Rezeptionszeugnissen durchaus nicht tat), dann ist sie es heute nicht mehr, so wenig wie der Zwischenruf »eines Bürgers«: »Wir sind keine Tiere«93. Doch genau das sagt Stockmann, und so meint er es auch. Der sozialdarwinistische und vulgärnietzscheanische Diskurs Stockmanns von Übermensch und Vielzuvielen tritt als ideologisches Wahnbild einer moralischen und sozialen Ökologie an die Stelle der materiellen Ökologie. Und er verdrängt diese aus dem Bewusstsein der Akteure – nicht aber des Textes selbst. Über seinen ambivalenten Protagonisten hinweg zeigt das Drama, wie sich aus der Entdeckung ökologischer Zusammenhänge in einem sehr konkreten Fall eine Ideologisierung ableiten lässt, die nicht nur den Fall weit hinter sich lässt, sondern die die an ihm beobachteten biologischen Vorgänge auf soziale Prozesse überträgt. Die Ausrottungs- und Züchtungsphantasien, die Stockmann aus der Anschauung der Tierwelt entwickelt – von den Infusorien bis zu den Straßenhunden –, verwandeln die im Wortsinne hygienischen Bestrebungen der zeitgenössischen »GesundheitsIngenieure« in Bilder eines sozialhygienischen Terrors. Eben diese Schreckbilder einer »schwarzen Ökologie« aber sind keineswegs nur seine (oder Ibsens) Ad-hoc-Erfindungen, sondern sie liegen in der Luft dieses späten 19. Jahrhunderts und tragen in erheblichem Umfang dazu bei, die realen Ausrottungs- und Züchtungsversuche des 20. vorzubereiten. Die Literaturwissenschaftlerin und Medizinerin Martina King hat jüngst in mehreren Beiträgen gezeigt, wie gerade die Entdeckung der Tuberkeln durch Robert Koch und die folgenden mikrobiologischen Erkenntnisse Louis Pasteurs, Rudolf Virchows und 90 | »Å, der er en ganske forskrækkelig afstand mellem puddelmennesker og køtermennesker« (677). 91 | »som gøglerne afretter til at gøre de allerutroligste kunststykker« (676). 92 | »Jeg vil bare få banket ind i hodet på køterne, at de liberale er de fri mænds lumskeske fiender« (722) – »Jeg vil experimentere med køterne for en gangs skyld« (725). 93 | »Vi er ikke dyr« (676).
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anderer all jenen Ideologien ein willkommenes Metaphern-Reservoir boten, die einen physischen Vernichtungskampf gegen tödliche, potentiell allgegenwärtige und dabei unsichtbare Feinde proklamierten.94 »Hygiene« und »Desinfektion« werden zu Schlagworten nicht mehr nur einer medizinischen und gesundheitspolitischen Praxis, sondern auch populärer politischer Diskurse. Wo sie sich mit den nur wenig älteren sozialdarwinistischen Vorstellungen treffen – wie das wiederum in Ibsens Drama ad oculos demonstriert wird –, da ist ihr reales Vernichtungspotential komplett.95 Der Intellektuelle, der das Problem entdeckt hat und der zunächst auch die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge analysiert hat, die seiner Behebung im Wege stehen – er wird damit selbst zu einem Teil dieser Zusammenhänge. Und zum unfreiwilligen Kumpan des ökologischen Desasters. Denn während sich diese makabre Tragikomödie der Diskurse ereignet, dauert das ökologische Problem, mit dem alles begonnen hat, ungehindert fort. Nach wie vor wirken die Infektionsherde weiter im städtischen Wassersystem. Dass es keineswegs, wie die erwerbstüchtigen Bürger offenbar annehmen, nur die anderen trifft, die gastrisch empfindsamen Badegäste, sondern sie alle, »uns« – auch das hat Doktor Stockmann in seiner Volksrede ganz nebenbei zu verstehen gegeben: »dass unsere Wasserleitung vergiftet ist«, sagt er, als längst niemand mehr von diesem Thema hören will. Aber das ist ja lange her, so lange wie diese ganze Volksfeind-Geschichte.
94 | King, Martina: »Von Mikroben und Menschen. Bakteriologisches Wissen und Erzählprosa um 1900«, in: Scientia Poetica 12 (2008), S. 141-181; dies.: »Inspiration und Infektion. Zur literarischen und medizinischen Wissensgeschichte von ›auszeichnender Krankheit‹ um 1900«, in: IASL 35/2 (2010), S. 61-97; dies.: »Staatsfeind und Schönheitsgöttin. Bakteriologisches Wissen in Wilhelm Bölsches populärdarwinistischen Schriften«, in: Susen, Gerd/Wack, Edith (Hg.): »Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder.« Wilhelm Bölsche (1861-1939), Berlin: Königshausen & Neumann 2011, S. 287-318. 95 | Zu Ibsens Beschäftigung mit Darwin in Jacobsens Übersetzung vgl. Kommentar 593 sowie Aarseth, Asbjørn: Ibsens samtidsskuespill. En studie in glasskapets dramaturgi, Oslo: Universitetsforlaget 1999, S. 110-112, und Cless: Ecology and Environment in European Drama, S. 141f.
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August Strindbergs Roman Am offenen Meer (I havsbandet)1 erschien im Jahr 1890. Dieses Jahr hat für die Rezeption des Romans von Beginn an eine große Rolle gespielt und eine Vielzahl von – teilweise widersprüchlichen – Deutungen des Textes evoziert: 1890 bedeutet in der Strindberg-Forschung nämlich das Jahr, in dem der Übergang von Strindbergs sogenannter naturalistischer Phase erfolgt mit Fröken Julie und seinem naturalistischen Manifest in der Vorrede zu diesem Drama, mit Fadren und den Einaktern hin zu einer experimentellen modernistischen Dichtung. Ab 1890 gehe es weniger um soziale Fragen, sondern zunehmend um den Verlust an Verbindlichkeiten und Orientierungshilfen für das moderne Subjekt.2 1890 ist das Jahr von Friedrich Nietzsches Zusammenbruch kurz nach dem Ende eines knappen, aber intensiven Briefwechsels zwischen Nietzsche und Strindberg, den Georg Brandes initiiert hatte und der in Strindbergs Briefen und Schriften aus dieser Zeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Forschung in I havsbandet zahlreiche Nietzsche-Anspielungen gelesen hat und das Buch unter anderem als Übermenschen-Roman interpretiert hat.3 1 | Strindberg, August: »I havsbandet« [1890], in: August Strindbergs Samlade Verk, Bd. 31, hg. und kommentiert von Hans Lindström, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1982. In der deutschen Übersetzung: Am offenen Meer (Strindberg, August: Am offenen Meer [1908], übersetzt von Emil Schering, München: Georg Müller 1919) oder Am Meer (Strindberg, August: Am Meer, übersetzt von Mathilde Mann, Leipzig: Insel Verlag 1919). Im Folgenden wird aus der Schering-Übersetzung zitiert. 2 | So etwa Olof Lagercrantz in seiner Biographie: Strindberg, Stockholm: Wahlström och Widstrand 1979, S. 307-315; Lamm, Martin: August Strindberg, Stockholm: Bonniers 1940-1942, sowie Olsson, Ulf: Levande död. Studier i Strindbergs prosa, Stockholm: Stehag Symposion 1996. 3 | Siehe dazu ausführlich: Borland, Harold H.: »Strindberg and Nietzsche«, in: Friese, Wilhelm (Hg.): Strindberg und die deutschsprachigen Länder, Basel/Stuttgart: Helbing &
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Die Jahre um 1890 markieren darüber hinaus im Allgemeinen einen Einschnitt in der skandinavischen Literaturgeschichtsschreibung: Der Konzentration auf gesellschaftliche und ökonomische Themen steht nun eine stärkere Fokussierung auf das Seelenleben einzelner Individuen sowie eine zunehmende Anzahl von poetologischen Schriften gegenüber. Die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet diese Zäsur als Übergang vom gesellschaftlichen hin zum seelischen Durchbruch.4 Knut Hamsuns Roman Sult (1890), Henrik Ibsens Hedda Gabler (1890) sowie Verner von Heidenstams programmatische Schrift Renässans von 1889 werden unter anderem als prominente Belege für diesen Paradigmenwechsel angeführt. Die Betonung eines solchen Einschnitts ist insofern schwierig, als sie die schon in den 1870er und 1880er Jahren geäußerte Kritik an einer allein an gesellschaftlichen Fragen interessierten Literatur ebenso vernachlässigt wie die ebenfalls schon früher zu beobachtenden modernistischen Experimente, die mehr oder weniger deutliche Akzentverschiebungen innerhalb der naturalistischen Ästhetik erkennen lassen. Annegret Heitmann betont daher in der Skandinavischen Literaturgeschichte zurecht, dass sich »fortschrittsskeptische« Positionen und eine Konzentration auf das moderne Subjekt durchaus früher, vor allem schon in den 1880er Jahren in den skandinavischen Literaturen finden und somit keineswegs eine Errungenschaft der 1990er sind.5 Somit greift eine solche starke Differenzierung innerhalb der Modernitätsbewegungen in den Literaturen zu kurz. Strindbergs Roman I havsbandet bestätigt die Schwierigkeit, einen derartigen Epocheneinschnitt oder radikalen Paradigmenwechsel festzuschreiben insofern, als hier dezidiert an die naturalistischen Experimente der 1970er und 1980er JahLichtenhahn 1979, S. 53-69, sowie Hoff, Karin: »›… ein angenehmer Wind von Norden‹. Nietzsche und Strindberg im Dialog«, in: arcadia 39 (2004), S. 55-69. 4 | Insbesondere in der schwedischen Literaturgeschichtsschreibung markiert das Jahr 1890 einen epochalen Einschnitt, der sich unter anderem darin manifestiert, dass zwischen den Vertretern der Literatur der 1880er und 1890er Jahre, den sogenannten Åttitalister und Nittitalister, differenziert wird. Mit dem so festgeschriebenen Einschnitt um 1890 beginnt die lange Zeit in der schwedischen Literaturgeschichte beliebte Einteilung der Epochen in Dezennien (vgl. etwa Tigerstedt, Eugène N. [Hg.]: Ny illustrerad svensk litteraturhistoria. Fjärde delen: Åttiotal/Nittiotal, Stockholm: Natur och Kultur 1967; Lönnroth, Lars/Delblanc, Sven [Hg.]: Den svenska litteraturen. III: De liberala genombrotten 18301890; IV: Den storsvenksa generationen, Stockholm: Bonniers 1988/1989). Die einbändige Literaturgeschichte Litteraturens Historia i Sverige, hg. von Bernt Olsson und Ingemar Algulin (Stockholm: Norstedts 1993) setzt die Zäsur zwar 1879 an, differenziert dann aber im Kapitel »Det moderna genombrottet (1879-1909)« zwischen »Strindbergs åttital« und »Strindbergs und Heidenstams nittital«. Es ließen sich hier noch eine Reihe weiterer Belege für diese Trennung zwischen den 1880er und 1890er Jahren anführen. 5 | Heitmann, Annegret: »Die Moderne im Durchbruch (1870-1910)«, in: Glauser, Jürg (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 183-229, hier S. 183.
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re angeschlossen wird. Diese werden aber mit anderen Erkenntnismodellen konfrontiert und ebenfalls in Frage gestellt. Damit relativiert sich auch die eingangs genannte Feststellung der Strindberg-Forschung, dass I havsbandet eine Abkehr von der naturalistischen Periode bedeute: Vielmehr markiert auch dieser Text eine weitere Station der ästhetischen Experimente der Moderne, an denen Strindberg zeitlebens gearbeitet hat. Das Verhältnis des modernen Subjekts zu seiner Umwelt – und zwar sowohl zur Gesellschaft als auch zur Natur – spielt dabei eine zentrale Rolle.
1. V ORGESCHICHTE DES R OMANS I HAVSBANDET Der Roman über den Fischereiinspektor Axel Borg, der auf eine Insel im Schärengarten vor Stockholm reist, um den Rückgang des Fischbestands zu untersuchen, hat eine recht übersichtliche Handlung: Borg reist auf die Schäre, hält sich da eine Zeit lang auf, ohne trotz seiner für die Inselbewohner lebenswichtigen Aufgabe in irgendeiner Weise in die dortige Gesellschaft integriert zu werden (was zweifellos eine von ihm selbst verschuldete Isolation aus Überheblichkeit ist); er verliebt sich in eine Frau namens Maria, löst diese Beziehung aus Eifersucht; nach einigen obskuren wissenschaftlichen Experimenten völlig verwirrt und unter Medikamentenund Drogeneinfluss verlässt er am Ende die Insel wieder – und fährt allein hinaus auf das offene Meer. Diese letzte Fahrt hinaus in den »Schoß der Allmutter«, wie es heißt, bedeutet wohl den Tod des Protagonisten – auch wenn sich in Strindbergs Nachlass im »Grünen Sack« Notizen über eine mögliche Fortsetzung des Romans finden.6 Viel passiert also nicht in diesem dritten und letzten Schärenroman I havsbandet, über den sich Kritik und Forschung seit dem Erscheinen des Buches höchst uneinig sind: Die noch größte Übereinstimmung findet sich in der zuerst von den zeitgenössischen Rezensenten und dann 1979 von Olof Lagercrantz festgestellten Heterogenität des Romans, die er wie zuletzt auch Ulf Olsson als Beleg dafür nimmt, dass »der Roman nicht richtig geglückt sei«7. Olsson schlägt zur Rettung des Textes eine allegorische Lesart vor: Er liest diesen Roman als Metatext, der seine Machart permanent auf vier verschiedenen allegorisch/symbolischen Ebenen reflektiere. Darüber hinaus wird von der Forschung immer wieder die Nähe zu Nietzsche gesucht: zum einen, indem Parallelen zwischen Borgs und Nietzsches Regression und Zusammenbruch am Ende gezogen werden, zum anderen in der Darstellung eines Übermenschen, der an der Unfähigkeit der ungebildeten Mit6 | »Köra och vända. Strindbergs efterlämnade papper«, in: Auswahl, hg. von Magnus Florin und Ulf Olsson, Stockholm: Bonniers 1999, S. 38, 66 und S. 70. 7 | Ulf Olsson: Levande död, S. 243; vgl. auch Rinman, Sven, in: Ny illustrerad svensk litteraturhistoria, Bd. 4, der I havsbandet als »ett av Strindbergs […] mest olika bedömda verk« bezeichnet (S. 83).
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menschen zugrunde geht.8 Sven Rinman liest Borg als »eine Karikatur des Selbsterhaltungstriebs und eines mechanisierten Intellektualismus«9, als Karikatur des Wissenschafts- und Übermenschen also, die notwendigerweise untergehen muss. Olsson hat den Roman schließlich unter anderem auch als »Reiseroman« charakterisiert.10 Die Frage nach der Bedeutung der Natur in Strindbergs Roman ist jedoch immer nur am Rande gestreift und nicht systematisch untersucht worden. Martin Kylhammar behauptet etwa, dass dem Text ein »pastorales Kompositionsmuster« zugrunde liege. Kernpunkt sei die Forderung nach der Anpassung des Menschen an den ihn überrollenden Modernisierungsprozess. Welche Funktion gerade dem Verhältnis von Mensch und Natur angesichts der sich permanent verändernden sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen zukommt, wird jedoch an keiner Stelle gefragt.11 Strindberg selbst hat diesen letzten Teil der Schärentrilogie seinen »Renässans«-Roman genannt und damit ausdrücklich die Wiedergeburt eines romantischen Naturverständnisses gemeint, das den Helden am Ende einholt und damit den wohl dunkelsten der drei Romane über die kleinen Inseln im Meer vor Stockholm deutlich zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem neuromantisch-mystischen Bild von der Natur positioniert. Mit dem Begriff »Renässans«, den er in einem Brief bereits im Jahr 1888 erwähnt, greift Strindberg – und er wird nicht müde, das zu betonen – Verner von Heidenstam vor, der 1889 seinen gleichnamigen wirkungsvollen Essay schrieb und damit in Schweden eine Wiederbelebung des romantischen Denkens forderte.12 Hintergrund dieser vielfachen Bestre8 | Fritz Paul differenziert überzeugend den bei Strindberg dargestellten Typus des Übermenschen als »Gehirnmensch« im Unterschied zum »Rassenmenschen« (Paul, Fritz: August Strindberg, Stuttgart: Metzler 1979, S. 112). 9 | Im Original: »en karikatyr av självhävdelsebegäret och mekaniserade intellektualismen« (Rinman: Ny illustrerad svensk litteraturhistoria, S. 83). 10 | Olsson: Levande död, S. 246. 11 | Kyllhammar, Martin: Maskin och idyll. Teknik och pastorala ideal hos Strindberg och Heidenstam, Stockholm: Liber 1985, S. 79-83. Ulf Olsson widerspricht Kylhammars Thesen vehement in Levande död, S. 461, Anm. 42. 12 | »Brief an Karl Otto Bonnier vom 7. Juni 1890«, in: August Strindbergs Brev, Bd. 8, hg. von Torsten Eklund, Stockholm: Bonniers 1964, S. 54: »Härmed nu alltså Den lofvade Dunderboken, i ny stor renässansstil. […] Detta är den nya riktningen som började med novellen De Små i Neue Freie, fortsattes med Hjernornas Kamp, Tschandala, Fröken Julie etc, alltså icke med Heidenstams profetiska böcker som äro apokryfiska«. (»Hier nun also das versprochene Donnerbuch, im neuen Renaissancestil. […] Das ist die neue Richtung, die mit der Novelle De Små in der Neuen Freien begann, mit Hjärnornas Kamp [= Kampf der Gehirne], Tschandala, Fröken Julie etc. weiterging, also nicht mit Heidenstams prophetischen Büchern, die apokryph sind«. [Meine Übersetzung, K.H.]). Siehe auch »Brief an Karl Otto Bonnier vom 2. Mai 1890«, in: August Strindbergs Brev, Bd. 8, S. 44: »en renässansbok och
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bungen, eine längst abgeschlossene Epoche wieder aufzugreifen, ist Heidenstams Enttäuschung über die mangelnde Wirkungsmacht des soziokulturellen Konzepts der modernen skandinavischen Literatur sowie eine deutliche Hinwendung zu ästhetischen und poetologischen Fragen, die sich mehr mit den spezifischen Verfahrensweisen als mit der Forderung nach einer engagierten Literatur auseinandersetzen. Heidenstams Begriff der Renaissance impliziert darüber hinaus einen Rückgriff auf romantische Muster, die bei den schwedischen Lesern große Zustimmung erfährt und zur Etablierung einer neoromantischen Dichtung beiträgt. Strindberg versteht die »Renässans« jedoch etwas anders, wie ein genauer Blick auf seinen programmatischen Roman I havsbandet zeigt. Es geht in diesem Text, der eine solche Vielzahl von einander widersprechenden Analysen und Deutungen provoziert hat, insbesondere um eine Diagnose des modernen Menschen, der nicht nur mit sich selbst im Widerstreit steht, sondern auch zu jeglicher Form von sozialer Gemeinschaft unfähig ist. Diese nicht mehr vorhandene Balance zwischen modernem Ich und Welt wird vorgeführt und vertieft am Verlust eines harmonischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Oder mit anderen Worten: Der moderne, überlegene, vernunftgesteuerte Mensch definiert sein Verhältnis zur Natur eben aus dem Gestus der Überlegenheit heraus immer wieder neu – und muss sich ihr am Ende geschlagen geben. Dieses Scheitern hängt aber nicht zuletzt auch mit seiner Unfähigkeit zur sozialen Bindung zusammen. Er befindet sich eben nicht im Einklang mit seiner Umwelt – weder mit den Menschen noch mit der Natur. Und dieses Problem scheint mir das zentrale in diesem Roman zu sein. Für die Konzeption dieses ambitionierten Romans über das Verhältnis von Mensch und Natur hat Strindberg umfangreiche Vorarbeiten geleistet, in denen er sich insbesondere mit neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut gemacht hat. Die Entstehungs- und Vorgeschichte ist aber noch aus anderen Gründen für die Frage nach dem Verhältnis von Mensch, Natur und Moderne in diesem Roman relevant. So schließt I havsbandet an die beiden erfolgreichen Schärenromane Hemsöborna und Skärkarlsliv programmatisch an. In seinen Briefen an den Verleger Karl Otto Bonnier begründet Strindberg sein Vorhaben, einen dritten Band zu schreiben, mit der Notwendigkeit, auch die »Schattenseiten« des isolierten Schärenlebens darstellen zu wollen.13 Die Recherchen für den Roman waren ungewöhnlich umfangreich. Strindberg war – wie den Briefen zu entnehmen ist – um wissenschaftliche Exaktheit bemüht und betrieb deshalb ausführliche Studien über das Fischereiwesen, die Botanik und Geologie auf den Inseln. Darüber hinaus eignete er sich nautische und meteoen framtidsprogramskrift« (»ein Renaissancebuch und eine Zukunftsprogrammschrift«). Vgl. auch Hans Lindströms Kommentar zu I havsbandet, S. 192-193. 13 | »Brief von Karl Otto Bonnier an Strindberg, 10. Oktober 1888«, sowie »Strindberg an Karl Otto Bonnier, 12. Oktober 1888 und 6. Januar 1889«, in: August Strindbergs Brev, Bd. 7, hg. von Torsten Eklund, Stockholm: Bonniers 1961, S. 138-139 sowie S. 220: »Nu vill jag skriva en 3° del Skärkarlslif.« (»Nun will ich einen dritten Teil Skärkarlsliv schreiben.«)
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rologische Kenntnisse an, um die dargestellten Naturphänomene genau beschreiben und erklären zu können. Neben dem ausdrücklichen Wunsch, eine weitere Facette des Schärenlebens mit diesem dritten Roman zu liefern, formuliert Strindberg im Brief an Ola Hansson, dass er einen »modernen Roman in Nietzsches und Poes Fußspuren« schreiben wolle.14 Sowohl neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse als auch aktuelle literarische und philosophische Diskurse werden in die Vorarbeiten integriert: Wie bereits in den Dramen aus den 1880er Jahren (Fadren und Fröken Julie) setzt sich Strindberg sowohl mit den vorrangig französischen naturalistischen Ideen auseinander, die er im Briefwechsel mit Nietzsche auch diskutiert, und überführt diesen Austausch schließlich in ein eigenes »naturalistisches« Programm, das ebenfalls permanenten Veränderungen und Richtungswechseln unterliegt. Die im Briefwechsel mit Nietzsche konstatierte »wechselseitige Bestätigung« in der Forderung nach einer »Umwertung aller Werte« (auch der eigenen gerade im Hinblick auf die Natur des Menschen!) findet hier ihre Entsprechung. Poes Texte werden insofern als Inspiration und Stilvorbild genannt, als hier das Unbewusste und Untergründige im Menschen in die Literatur überführt werden. Hinzu kommt für eine Homunculus-Szene im letzten Teil des Romans das Studium von Goethes Faust, worauf es deutliche Anspielungen gibt.15 Schließlich intendiert der Text durch die konzentrierte Zusammenführung dieser unterschiedlichsten kulturellen und wissenschaftlichen Felder, deren Folgen und Auswirkungen auf die moderne Gesellschaft zur Diskussion zu stellen: Es geht nämlich aus den Vorarbeiten ein klar erkennbares Interesse an der Frage nach der Verträglichkeit von Mensch, Umwelt und Natur angesichts sich verändernder ökonomischer, sozialer, kultureller und schließlich auch ökologischer Bedingungen hervor. Wenn Gersdorf und Mayer in der Einleitung zu ihrer Anthologie Ökologie und Literaturwissenschaft feststellen, dass eine ökologisch orientierte Literaturwissenschaft sich mit »historisch und kulturell differenten Gesellschaften und der sie konstituierenden Individuen und sozialen Gruppen zu ihren natürlichen Seinsbedingungen« auseinanderzusetzen habe, so kann man hier nur feststellen, dass bereits die Vorarbeiten zu Strindbergs Roman genau dieses Verhältnis als zentral erkennen lassen für den Romanhelden und die ihn umgebende Umwelt, die Gruppe der Inselbewohner und den jeweils differenten Bezug zum Meer.16 Thema ist also das Verhältnis des Menschen zur Natur, das sich immer wieder neu gestaltet: Der Mensch stört den natürlichen Haushalt, etwa durch den Fisch14 | Im Original: »en modern roman i Nietzsches och Poes fotspår«. (»Brief an Ola Hansson, 6. Juli 1889«, in: August Strindbergs Brev, Bd. 7, S. 347). 15 | In einem Brief von Karl Otto Bonnier an August Strindberg vom 17. Juli 1890 macht Bonnier explizit auf Goethes Faust als Vorgänger von »Homuculushistorien« aufmerksam (August Strindbergs Brev, Bd. 8, S. 55). 16 | Gersdorf, Catrin/Mayer, Sylvia: Natur – Kultur – Text. Beiträge zu Ökologie und Literaturwissenschaft, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005, S. 12.
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fang, und ist zugleich abhängig davon. Auch wenn er die Regeln des natürlichen Verlaufs beherrscht wie Borg, ist damit noch keine Lösung gefunden.
2. N ATUR UND M ODERNE IN S TRINDBERGS I HAVSBANDET Die »ethische Dimension des Verhältnisses von Mensch und Natur«17, die Strindbergs auch in seiner produktiven Auseinandersetzung mit Nietzsche und dessen Spätwerk interessiert, ist daher die zentrale Fragestellung dieses Romans. So werden (mindestens) drei verschiedene Varianten des Umgangs mit der Natur durchgespielt – und am Ende allesamt in ihrer Ausschließlichkeit für nur partiell tauglich oder gar unbrauchbar erklärt. Es bedarf offensichtlich verschiedener Annäherungsformen und Perspektiven auf die Natur, um sich überhaupt in ihr zurechtfinden und sich mit ihr arrangieren zu können. Die Modelle stützen sich sowohl auf zeitgenössische naturwissenschaftliche Diskurse als auch auf klassizistische und romantische Vorstellungen. So geht es erstens um die Auseinandersetzung mit den neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Naturalismus, zweitens um die nicht nur rationale Beherrschung, sondern auch die Domestizierung der Natur im Rückgriff auf klassizistische Muster und schließlich um eine romantische Regression, wenn der Held am Ende darauf hofft, in den Mutterschoß des Meeres zurückkehren zu können.
2.1 Natur und Wissenschaft Axel Borg kommt auf die Insel ausgerüstet mit modernster Technik und Fachliteratur. Seine ebenso sachkundige wie arrogante Begegnung mit der einfachen Schärenbevölkerung bedeutet von Beginn an eine wechselseitige Ablehnung und das Unverständnis für die jeweiligen Verhaltensweisen und Lebensformen. Borgs fachliche und intellektuelle Überlegenheit erscheint jedoch gerechtfertigt, zumal die Inselbewohner mit Aberglauben und Ablehnung auf seine Ratschläge reagieren: Er übernimmt das Ruder auf dem Boot, als ein Sturm aufkommt, ohne jede praktische Erfahrung, sich nur auf seine nautischen Studien verlassend, und schafft es auch, das Boot sicher auf die Insel zu bringen. Borgs durch und durch rationale Weltsicht ist mit der der Schärenleute und ihrer teilweise antiquierten, jedoch auch respektvollen Sicht auf das Meer so unvereinbar »wie eine Säure […], die seit der Erschaffung der Welt nur mit einer Base sich zu verbinden pflegte, jetzt aber gegen ihre Natur mit zweien in Verbindung
17 | Ebd., S. 15.
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trat« (17).18 Und diese spontan empfundene Differenz wird auch nicht überwunden werden. Markiert werden diese grundsätzlich unterschiedlichen Erwartungen und Vorstellungen von der jeweiligen Umwelt durch Borgs geradezu krampfhafte Suche nach Ordnung, an der sich sein Weltbild orientiert. Er sucht die Ordnung in der Natur, als deren Krönung er sich sieht, er empfindet die vorgefundene Welt der Inselleute als »inte i ordning«, nicht in Ordnung.19 Dass aber die Kommunikation mit den Fischern Teil seiner wissenschaftlichen und institutionellen Mission ist, übersieht der ansonsten um den völlig geordneten Ablauf der Dinge bemühte Borg wohl bewusst, da er sich als einer anderen, höheren Species zugehörig empfindet.20 Damit degradiert er die Fischer zu Gegenständen seiner Forschung und hält sie als ungebildete, mit dem wissenschaftlichen Fortschritt nicht vertraute Fremde auch im Unklaren über seine Ergebnisse; das heißt, er verschließt sich entschieden seiner Umwelt und wird sie daher auch nicht vom Fortschritt seiner zweifellos hilfreichen Instrumente und Methoden überzeugen können. Ironisch vorgeführt werden die unterschiedlichen Wissenskulturen von alt und neu bei der ersten kleinen Expedition, die ein Fischer mit Borg unternimmt, um ihm zu zeigen, wo die Fische einst waren. Der vermeintliche erfahrene Lotse muss sich dem fremden Meister und »Zauberer« geschlagen geben, der einen viel besseren Einblick in das Meer hat als er: Der Lotse, der als Ruderer mitgenommen wurde, war es bald müde, Aufklärungen zu geben, als er sah, daß der Inspektor durch Seekarte, Lot und verschiedene andere Instrumente Dinge ermittelte, an die er nie gedacht hatte. Wo die Untiefen lagen, das wusste der Lotse, und an welchen Untiefen man die Strömlingsnetze setzen musste, das wußte er auch. Aber der Meister war damit nicht zufrieden, sondern ließ die Dregge in verschiedene Tiefen hinab und brachte Getier und Pflanzenschleim mit herauf, von denen nach seiner Meinung der Strömling lebte. Er ließ das Lot bis auf den Grund gehen und holte Proben von Lehm, Sand, Schlamm, Erde und Kies herauf; die ordnete und zählte er und tat sie in kleine Gläser mit Aufschriften. Und schließlich holte er ein großes Fernglas hervor, das einem Sprachrohr glich, und guckte in die See hinunter. Davon hatte sich der Lotse nichts träumen lassen, dass man ins
18 | Im Original: »en sådan syra som sedan världens skapelse endast brukade förena sig med en bas nu emot sin natur bilda förening med två« (15-16). 19 | Z.B. »Es sei natürlich nicht in Ordnung« (16), im Original: »Det var naturligtvis inte i ordning« (15); »Übrigens, geordnet konnte alles werden« (69), im Original: »och för övrigt, ordnas kunde allt« (47). 20 | »Er hatte diese Stelle gesucht in der Absicht, alle Reiche der Natur, die hier an einem einzigen Ort gesammelt und geordnet waren, überblicken zu können« (66), im Original: »Han hade sökt sig dit i avsikt att få överblicka alla naturens riken samlade och ordnade på ett enda ställe« (45).
Natur, Mensch und Moderne in Strindbergs I havsbandet Wasser hineingucken könne; in seiner Verwunderung bat er, das Auge ans Glas und ins Verborgene hinab schauen zu dürfen. Der Inspektor, der einerseits nicht den Zauberer spielen wollte, andererseits keine Lust hatte, durch übereilte Ermittlungen gerade dessen, was ermittelt werden sollte, allzu hohe Erwartungen auf die Resultate zu wecken, beschränkte sich darauf, das Ersuchen des Lotsen zu bewilligen und einige populäre Erklärungen zu den lebenden Bildern zu geben, die sich unten in der Tiefe entrollten (41). 21
Dem Forscher ist sogleich klar, dass die Fischströme nicht mehr an der alten Stelle zu finden sind, dass das Wasser hier »überfischt« und keine Rücksicht auf die Laichstellen der Fische genommen wurde. Diese Unordnung, welche die Fischer im natürlichen Haushalt der Ostsee angerichtet haben, erkennt Borg: Er kritisiert dieses Vorgehen gegen die Natur aber nur im Stillen und teilt sich über das, was er sieht und bestätigt findet, nur ansatzweise mit.22 Es ist nicht nur an diesem Beispiel signifikant, dass Borg einen Wissenschaftler verkörpert, der die Veränderungen in der Natur zwar versteht und ihnen buchstäblich auf den Grund geht, aber weder in der Lage noch willens ist, sie den Fischern zu erklären oder näherzubringen. Das führt dazu, dass die von ihm initiierten Verbesserungen bis hin zu einem lukrativen Lachsfang als Wunder oder Zauberei gedeutet und nicht auf ihn und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückgeführt werden. 21 | »Lotsen, vilken medfördes som roddare blev snart trött på att meddela upplysningar, då han såg att intendenten medelst ett sjökort, lod och åtskilliga andra instrumenter tog reda på saker som han aldrig tänkt på. Var grunden lågo, det visste lotsen, och på vilka grund man skulle sätta strömmingsskötarne, det visste han också. Men intendenten var icke nöjd med det, utan han draggade på olika djup och fick upp småkräk och växtslem som han trodde att strömmingen levde av; han hissade ner lod till bottnen och fick prov på lerror, sand, slam, mylla och grus som han sorterade och numrerade och lade i små glas med påskrifter. Och slutligen tog han fram en stor kikare som liknade en ropare och tittade ner i sjön. Det hade aldrig lotsen drömt om att man kunde kika i vattnet, och i sin förvåning bad han att få lägga ögat till glaset och skåda ner i det fördolda. Intendenten som å ena sidan icke ville spela trollkarl, å andra icke hade lust att söka genom förhastade utredningar av just det som skulle utredas, ingiva alltför höga förhoppningar om resultaten, inskränkte sig till att bevilja lotsens anhållan och därefter avgiva några populära förklaringar till de levande tavlor som upprullade sig nere i djupet« (29). 22 | Vgl. dazu die Überlegungen von Alexander Starre, der für das Verhältnis von Literatur und Ökologie konstatiert, dass »ein Verständnis der Umwelt als Prozess anstatt als Konstante oder Gegebenheit […] im Text zumindest impliziert« werden müsse (Starre, Alexander: »Always already green. Zur Entwicklung und den literaturtheoretischen Prämissen des amerikanischen Ecocriticism«, in: Maren Ermisch/Ulrike Kruse/Urte Stobbe [Hg.]: Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen, Göttingen: Universitätsverlag 2010, S. 13-34, hier S. 23).
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Borgs Unfähigkeit zur Vermittlung trägt schließlich zur Bestätigung der irrationalen Begründungen bei, auf die sich die Inselbewohner zur Erklärung der für sie unerklärlichen Phänomene stützen. Der Konflikt zwischen Borg und der Schärenbevölkerung lässt sich also nicht auf Borgs naturwissenschaftliche Kenntnisse zurückführen, sondern auf seine von ihm durchaus intendierte Vermittlungsunfähigkeit. Der Nutzen und die Notwendigkeit der Naturwissenschaften werden nämlich keineswegs angezweifelt, vielmehr wird der naive und eigennützige Umgang der Fischer mit der Natur sogar implizit kritisiert. Es ist allein Borgs grundsätzlicher Distanzierung von seinen Mitmenschen geschuldet, dass sein Projekt zur Wiederbelebung des Fischfangs und zur Eindämmung der »Überfischung« notwendigerweise scheitern muss. Dass die naturwissenschaftliche und fortschrittsorientierte Perspektive, für die Borg steht, nicht prinzipiell in Frage gestellt wird, führt der Roman selbst auf der diskursiven Ebene vor. Der Erzähler versucht nämlich im Rückgriff auf bekannte naturalistische Verfahren und in eingehenden Passagen über Borgs Eltern zumindest ansatzweise das merkwürdige Verhalten des Protagonisten zu erklären: Der Roman gibt Einblick in Borgs schwierige Kindheit, in sein problematisches Verhältnis zum Vater und dessen Erwartungen an ihn, und auch die Beziehung zur Mutter wird angesprochen. Darin verfährt der Roman ebenso, wie es Strindberg in der Vorrede zu seinem »naturalistischen Trauerspiel« Fröken Julie formuliert hat: Borgs Beweggründe für sein Handeln, sein eigenartiges Auftreten erschließen sich teilweise aus seiner Kindheit.23 So erinnert sich Borg an seinen Vater als eines Machtmenschen, der Gefahr lief, sich selbst zu überschätzen. Diese Eigenschaft hat sich deutlich auf den Sohn übertragen.24 Das heißt, der Roman bedient sich hier zumindest partiell einer naturalistischen Erzählweise, wie sie in den 1870 und 1880er Jahren in der skandinavischen Literatur erfolgreich erprobt wurde. Dass Strindbergs eigenes naturalistisches Konzept, das er in der Vorrede zu Fröken Julie entwickelt, sich vom europäischen Naturalismus auch absetzt, in dem es ihm im 23 | »Meine Seelen (Charaktere) sind Konglomerate vergangener Kulturgrade, auch gegenwärtiger, Stücke aus Büchern und Zeitungen, Stücke von Menschen, abgerissene Fetzen von Festtagskleidern, die Lumpen geworden sind, genau wie die Seele zusammengeflickt ist […]. Fräulein Julie ist ein moderner Charakter«; im Original: »Mina själar (karaktärer) äro konglomerater av förgångna kulturgrader, och pågående, bitar ur böcker och tidningar, stycken av mänskor, avrivna lappar av helgdagskläder som blivit lumpor, alldeles som själen är hopflickad […]. Fröken Julie är en modern karaktär«. (»›Förord‹ till Fröken Julie«, in: August Strindbergs Samlade Verk, 27, S. 105; meine Übersetzung, K.H.). 24 | »Diese Beschäftigung mit dem Schicksal von Ländern und Völkern hatte ein starkes Machtgefühl zur Folge. Gegen seinen Willen wurde der Vater allmählich von der die Macht begleitende Neigung, sein Ich zu überschätzen, ergriffen« (55); im Original: »Det följde en stark känsla av makt med detta handskande med länders och folks öden, och fadren kunde icke undgå att så småningom angripas av den makten åtföljande benägenheten att överskatta sitt jag« (37).
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Wesentlichen um die Heterogenität der modernen Charaktere als »Konglomerate verschiedenster Formen und Muster« geht, zeigt eine weitere deutliche Parallele zwischen seiner Ästhetik der 1880er und 1890er Jahre. Die naturalistisch-psychologische Begründung für das befremdliche Auftreten Borgs bestätigt darüber hinaus die Möglichkeiten, welche die Wissenschaft auch der Literatur zur Verfügung stellt, sofern sie um Vermittlung bemüht ist. Genau darin besteht der Unterschied zwischen Borg und dem Erzähler. Während der Erzähler nämlich versucht, mittels naturalistischer Verfahren das Verhalten seines Protagonisten zu erklären, bedient sich Borg zwar naturwissenschaftlicher Methoden und Instrumente, ohne sie den Inselleuten näherbringen zu können oder gar zu wollen. Allerdings liefert auch der Erzähler letztlich keine abschließenden, die Isolation und Eigenart seines Helden grundsätzlich klärenden Antworten, sondern er wirft Fragen auf: Fragen nach der Situierung des modernen Menschen in einer Gesellschaft, die als »vormodern« und damit der Natur grundsätzlich verbundener geschildert wird, Fragen aber auch nach dem lebensnotwendigen Verhältnis von Mensch und Umwelt. Der Naturalismus wird somit ebenso wie das neoromantische Erzählen als eine mögliche, aber keinesfalls verbindliche Form moderner Erzählung bewertet. Auch hier sind die »Konglomerate verschiedener Muster und Formen« stilbildend.
2.2 Beherrschung und Domestizierung der Natur Dass Borg nicht nur aus naturwissenschaftlichem Interesse heraus handelt, sondern aus einem grundsätzlichen Gefühl der Überlegenheit den Menschen und zunehmend der Natur gegenüber wird im zweiten Teil des Schärenromans anschaulich vorgeführt, in dem es nicht mehr länger um die Lösung eines Problems mithilfe neuester Methoden, sondern um die Domestizierung oder Beherrschung der Natur geht. Man kann hier eine Übertragung der Relation feststellen, die Borg auch zu den Menschen auf der Insel empfindet: Ebenso wie er sich diesen gegenüber überlegen fühlt, schwindet hier die noch zu Beginn spürbare Hochachtung und Demut vor der Natur. Er meint sie in ihrer Gesetzmäßigkeit durchschaut und sich damit untertan gemacht zu haben. Desto mehr sich der Wissenschaftler von den Menschen entfernt, desto näher scheint er der Natur zu kommen – um sich sogleich wieder von ihr abzusetzen. Und der Roman nimmt sich Zeit, Borgs Sichtweise nachzuvollziehen, die von der Kenntnis und Bewunderung der Natur und ihres Schöpfers in die Erkenntnis eigener Allmacht als Krönung der Schöpfung mündet. Er isoliert sich damit nicht nur von den Inselleuten, sondern seine Schöpferphantasie lässt ihn in kurzer Zeit auch auf Distanz zum Schöpfer selbst gehen. Dessen Kreation rekapituliert er Schritt für Schritt beim Anblick der Landschaft, die vor ihm liegt, und allein diese Beobachtungen demonstrieren die Perspektive des Überlegenen:
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Karin Hoff Diese Landschaft führte ihn in die Urzeit zurück, als die Erde unter Wasser stand und die höchsten Bergspitzen sich über die Oberfläche zu erheben begannen; die Schären hatten ja noch den Charakter der Urformation, deren Grundberg direkt hinauf zum Lichte führt. […] Und er selbst saß hier als Vertreter der historischen Zeit und genoß, von dem scheinbaren Wirrwarr ungestört, diese lebenden Bilder der Schöpfung; erhöhte den Genuß durch das Gefühl, der Höchste in dieser Kette zu sein. Das war das Geheimnis der Zauberkraft dieser Landschaft, daß sie und nur sie eine Geschichte gewordene Schöpfung mit Auslassungen und Verkürzungen wiedergab. In einigen Stunden konnte man durch die Bildungsreihen der Erde reisen und doch bleiben, wo man war. Man konnte sich erfrischen, indem man die Empfindungen wiederholte, die den Gedanken auf den Ursprung zurückführen; sich in vergangenen Stadien ausruhen, die ermüdende Spannung, höherer Grade auf der Kulturskala zu gewinnen, erschlaffen lassen; gleichsam in ein heilsames Hindämmern zurücksinken und sich eins mit der Natur fühlen. […] Wie getrost machte das Gefühl, das früher Unbekannte wissenschaftlich erforscht, in Gottes bisher geheime Ratschlüsse, wie man sie nannte, einen Blick getan; alle diese Erscheinungen, die man für undurchdringlich gehalten, weil man sie nicht durchdringen konnte, durchschaut zu haben. […] Darum war die heutige Zeit die beste und größte von allen Zeiten, welche die Menschen weiter gebracht, als es Jahrhunderte vermocht hatten (48-50). 25
Die äußerst ambivalente Beziehung, die hier zu Natur aufgebaut wird, speist sich zum einen aus der Überlegenheit des Wissenschaftlers, der die idealen Formationen durchschaut, die er auf den Inseln vorfindet, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einzigartiger Verbindung zu erkennen vermag und sich gerade 25 | Im Original: »Detta landskap återförde honom till urtid då jorden stod under vatten och de högsta bergstopparna började höja sig över ytan; skären behöllo ju ännu urformationens karaktär med grundberget direkt uppe i ljuset. […] och själv satt han som en representant för den historiska tiden och ostörd av det skenbara virrvarret njutande dessa levande bilder av skapelsen, och förhöjande njutningen genom att känna sig i stort taget som den högsta i denna kedja. Detta var hemligheten i detta landskaps tjusningsförmåga att den och endast den återgav en historierad skapelse med uteslutningar och förkortningar, där man på några timma kunde färdas genom jordens bildningsserier, och stanna framme vid sig själv, där man kunde uppfriska sig med en återtagning av förnimmelser som ledde tanken tillbaka på ursprunget, vila sig i förflutna stadier, låta den tröttande spänningen i att vinna högre grader på kulturskalan slappas av, liksom återfalla i en hälsosam dvala och känna sig ett med naturen. […] Huru lugnt att känna sig hemma här på jorden […] huru fast och förtröstansfullt att ha fått vetskap om det förut obekanta, att ha fått blicka in i, genomskåda Guds hittils hemliga rådslag, som de kallades, alla de företeelser vilka ansetts ogenomträngliga därför att de dittils icke kunde genomträngas. […] Och därför var tiden som gick den bästa och största av alla tider som fört mäniskorna fram längre än århundraden förr hade hunnit göra« (35).
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aufgrund dieser kognitiven Leistung des Erkennens als »Höchster« der Natur überlegen fühlt. Diese Überlegenheit entfremdet ihn jedoch zugleich von jenem Gefühl der Einheit, das gerade an diesem alle Entwicklungsstadien der Natur preisgebenden Ort vermittelt wird. Eine derartige Gespaltenheit zwischen Harmonie und Entfremdung demonstriert darüber hinaus anschaulich, dass es dem Protagonisten eben nicht nur um die wissenschaftliche Durchdringung, sondern auch um die erhabene Erfahrung von Natur geht. Das Wissen jedoch um die nicht zu revidierende Differenz dieser beiden Seiten von Naturbetrachtung führt schließlich zu Versuchen einer alternativen Annäherung an sie. Von diesem Schritt, nämlich der Erkenntnis einer unwiderruflichen Trennung, ist es nicht mehr weit dahin, sich die Natur selbst untertan zu machen und sie nach eigenem Bilde zu gestalten – indem er sich ihrer als Kenner ihrer Regeln bemächtigt. Borgs nächste Versuchsanordnung, nämlich seiner kurzzeitig Verlobten auf der schwedischen Schäre mithilfe besonderer Lichteinfälle die Illusion einer italienischen Kunstlandschaft zu vermitteln, scheitert erneut an seiner Vermittlungsunfähigkeit und als Folge daraus an dem trotzigen Beharren der Schärenleute, seinen Erkenntnissen nicht länger zu trauen. Borg initiiert zwar mit beachtlichem Aufwand diese Illusion, indem er in die Natur eingreift, sie arrangiert und auf den richtigen Moment der getäuschten Wahrnehmung hofft. Allerdings wird die Perspektive verzerrt, weil der Mond in einem nicht zu berechnendem Maße sein Licht so auf das künstliche Naturereignis wirft, das keine erhabene, klassizistische, sondern im Gegenteil eine blasse, morbide Stimmung evoziert wird.26 Diese schreckt die Bewohner ab, anstatt sie von der Größe des Schöpfers dieser Attraktion zu überzeugen. Als der Fischereiinspektor einen Versuch machte, wurde der Anfang nicht einmal angehört, sondern das Volk stand wie betört da, als sei es in sein Entsetzen über das Unerklärliche verliebt. Daher gab Borg jeden Versuch auf, ihren Glauben zu erschüttern. Der hatte ihnen ein Zeichen geben wollen, dass weder er noch die Natur Gesetze brechen kann, und der Zufall hatte ihn dennoch zum Zauberer gemacht (190). 27
Die Umsetzung seines Experiments gelingt zwar, allerdings erreicht er sein Ziel nicht, Maria und die Inselleute davon zu überzeugen, dass die Illusion durch Licht und Wetter hervorgerufen wurde und es nur einiger Eingriffe von seiner Seite be26 | »sie […] einen leichenweißen, kolossalen Mond aufgehen sahen, über einem Friedhof mit schwarzen Zypressen, der auf der Meeresfläche schwamm« (176), im Original: »de […] sågo ein likvit kolossal måne gå upp över en kyrkogård med svarta cypresser simmande på havsytan« (115). 27 | Im Original: »Och när intendenten g jort ett försök, vars början ej avhördes ens, utan folket stod kvar bedårat, liksom förälskat i sin fasa över det oförklarliga, upphörde han med varje försök att rubba deras tro. Han hade velat giva dem ett tecken på att varken han eller naturen kunde bryta lagar, och slumpen hade likafullt g jort honom till trollkarlen« (116).
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durfte, dieses Schauspiel zu bewerkstelligen. Borg scheitert: Er hat sich in mehrfacher Weise über seine Umwelt erhoben. Zum einen verstößt er gegen die Regeln der Natur, wenn er – auf die Exaktheit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die initiierte Wiederholbarkeit natürlicher Ereignisse bauend – meint, einen einmal erlebten Augenblick in gleicher Form wiederholen zu können, zum anderen wird ihm seine mangelnde Empathie, das Unverständnis für die intellektuellen und emotionalen Kapazitäten der Inselbewohner zum Verhängnis.28 An seinen Erklärungen ist niemand mehr interessiert – vielmehr wird der Glaube an die Wissenschaft vom alten Glauben wieder völlig abgelöst, als ein charismatischer Prediger auf die Insel kommt und genau die Aufmerksamkeit erhält, die sich Borg nur wünschen konnte.
2.3 Renaissance und Verlust der Autonomie Es entspricht der ironischen Grundhaltung des Romans, dass die letzte, dritte Variante der dargestellten Relationen zur Natur einen kultisch-mystischen Charakter hat. Am Anfang vom Ende steht zunächst Borgs Absage an die Natur als Absage an die Menschen: »Aber die Natur, in der er früher Gesellschaft gesucht hat, war nun tot für ihn, denn das Zwischenglied, der Mensch, fehlte.« (282)29 Der Einklang mit der Natur als Folge von notwendigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Natur des Menschen entsprechen: Diese Einsicht kommt für Borg zu einem Zeitpunkt, in dem seine Entscheidung, sich zurückzuziehen, irreversibel ist. Sie kommt zu spät. Kurz vor seinem endgültigen Rückzug aus der Gemeinschaft, erkennt er nicht nur retrospektiv sein gestörtes Verhältnis zu seiner Umwelt, sondern er prophezeit zugleich einen grundsätzlich veränderten Umgang mit der schwedischen Natur in naher Zukunft: »Schweden sollte ein Touristenland werden, in das man die Ausländer lockt. […] die atmosphärischen Verhältnisse würden sich ändern; und mit ihnen die Menschen« (264).30 Diametral gegenüber stehen sich hier erneut einerseits Borgs weitsichtige Prospektion der Folgen, welche die Eingriffe und ökonomische Verwertbarkeit der Natur durch die Menschen bedeuten, und andererseits seine Unfähigkeit, dieses Wissen weiterzugeben. Die von ihm befürchteten Auswirkungen des Tourismus für die Landschaft und die Menschen, die dort leben,
28 | In seinen Notizen im sogenannten Grünen Sack findet sich eine Kritik an der Naturwissenschaft und eben jener vermeintlichen Überlegenheit des Menschen über die Natur, die niemals zur Wiederholung gezwungen werden kann: »Die Natur ist niemals exakt«, im Original: »Naturen är aldrig exakt« (Köra och vända, 66). 29 | Im Original: »Men naturen, hos vilken han förr sökt umgänge, blev nu död för honom, ty mellanledet, människan, saknades.« (168) 30 | Im Original: »Sverige skulle bli ett turistland och utlänningar skulle lockas in […] vilket skulle förändra atmosfäriska förhållanden och följaktligen människorna« (169).
Natur, Mensch und Moderne in Strindbergs I havsbandet
stehen darüber hinaus in einer ironischen Beziehung zu seinem eigenen Aufenthalt auf der Insel. Borgs totale Isolation im letzten Teil, in dem er sich in eine entlegene Hütte zurückgezogen und von den Menschen völlig entfernt hat, führt – in einer ihm nicht bewussten – Analogie zum alten Glauben der Schärenleute zunächst zur Religion als Ursprung auch aller menschlichen Gemeinschaft und schließlich zur Renaturierung. Seine unter Medikamenten- und Drogeneinfluss beginnende Regression bedeutet eine Hinwendung zur Romantik; er reflektiert über die Rekatholisierung Schwedens und lässt sich am Krankenbett Märchen erzählen.31 Als sich tatsächlich einer der Dorfbewohner mitleidig seiner annimmt und diesen Wunsch erfüllt, zeigt die Besinnung auf den Glauben bezeichnenderweise auch Wirkung und beruhigt kurzzeitig den immer schwächer werdenden Borg. Er spielt mit am Strand angespülten Puppen wie mit eigenen Kindern, weil sein Kind, der Homunculus, den er aus Ekel vor den anderen aus sich selbst heraus schaffen wollte, zerstört wurde. Aus dieser scheiternden Kunstwelt bleibt ihm nur noch der totale Rückzug in die Natur hinaus, der an Heiligabend stattfindet. Wie sehr auch dieser letzte Schritt die Abhängigkeit von der Kommunikation mit seiner Umwelt bedeutet, demonstriert die nun ganz andere Darstellung der Natur, die personifiziert wird, so wie auch die um Hilfe rufende Boje: Es war der Tag vor Weihnachten, als Borg nach einer stürmischen Nacht, während der er Kanonenschüsse und Rufe von Menschen zu hören glaubte, in den frisch gefallenen Schnee hinaus ging. Der Himmel war schwarzblau wie Eisenblech; die See stürzte gegen den Strand, während die Glockenboje ein einziges zusammenhängendes Geheul ausstieß, als riefe sie um Hilfe (283). 32
Wenn Borg schließlich die »Allmutter« Meer aufsucht, ist damit vermutlich sein Ende besiegelt33 – und er lässt erkennen, dass er sich zurücksehnt in jene Zeit, in 31 | »Nein, Europa sollte wieder eins werden. Der Weg des Volkes ging über Rom, der Weg der Intelligenz über Paris!« (265), im Original: »Nej Europa skulle vara ett igen, och folkets väg gick över Rom, intelligensens över Paris!« (170). 32 | Im Original: »Det var nu dagen före julafton, då han, efter en stormig natt, under vilken han trott sig höra kanonskott och rop av människor, gick ut att vandra på den nyfallna snön. Himlen var svartblå som järnplåt och sjöarne vräkte mot stranden under det ljudbojen skrek i ett enda sammanhängande tjut som om den ropade om hjälp« (180). 33 | Zur Metaphorik des offenen Meeres und des Horizonts siehe ausführlich: Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Koschorke beschreibt, dass im neuzeitlichen Naturverständnis die Kunst dem herkömmlichen Raumverständnis die Basis entzieht (S. 323). Auch in Strindbergs Roman fällt auf, dass die Natur immer in Form von Bildern wahrgenommen wird. Das heißt, der Blick auf die Natur ist durch eine ästhetische
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der er noch eine Beziehung zu seiner Umwelt hatte, für die signifikant und an erster Stelle die Bindung zur Mutter steht: Hinaus, dem neuen Weihnachtsstern entgegen ging die Fahrt, hinaus übers Meer, die Allmutter, aus deren Schoß der erste Funke des Lebens sich entzündete; dem unerschöpflichen Quell der Fruchtbarkeit und der Liebe, des Lebens Ursprung und des Lebens Feind (286). 34
Noch einmal fällt hier die Nähe zu Nietzsche auf, die sich eben nicht in erster Linie auf das Modell des Übermenschen bezieht, sondern vielmehr auf die Darstellung eines gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, auf die Klage über den Verlust eines harmonischen Einklangs zwischen beiden. In Abschnitt 124 der Fröhlichen Wissenschaft, der »Im Horizont des Unendlichen« heißt und unmittelbar vor dem Kapitel »Der tolle Mensch« steht, wird dazu aufgerufen, »das Land zu verlassen und zu Schiff zu gehen auf das Meer hinaus«. Und das Bild des Meers ist Ursprung, Freund und Feind des Menschen zugleich. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit, der Ausspruch »Es gibt kein Land mehr«, bedeutet eben sowohl Freiheit als auch Angst.35 Diese Analogie zwischen Borgs Fahrt auf das offene Meer und Nietzsches ambivalenter Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Meeres wirft noch einmal die Frage nach der Funktion und Rolle der Natur für den Menschen auf, die immer wieder neu zu bestimmen ist, nicht mehr vorgegeben und in ihrer Ambivalenz auszuhalten.
3. S CHLUSS Der Roman positioniert sich nämlich letztlich weder auf Seiten Borgs noch auf der sich seinen Erkenntnissen vehement verschließenden Inselbevölkerung, vielmehr wirft er Schlagschatten auf die sich notwendigerweise verändernde Perspektive auf die Natur und diskutiert verschiedene Modelle der Auseinandersetzung der modernen Gesellschaften und Individuen mit ihr. So ist der Roman keine Form des »Nature Writing« als Gegenmodell zur fortschrittsorientierten Moderne, da er keinen grundsätzlichen Dissenz zwischen Moderne und Natur formuliert, son-
Wahrnehmung bestimmt, die ihrerseits die traditionellen Raumgrenzen überschreitet. Damit kommt der Unendlichkeit des Horizonts eine entscheidende, utopische Dimension zu. 34 | Im Original: »Ut mot den nya julstjärnan gick färden, ut över havet, allmodren, ur vars sköte livets första gnista tändes, fruktsamhetens, kärlekens outtömliga brunn, livets ursprung och livets fiende« (183). 35 | Nietzsche, Friedrich: »Die Fröhliche Wissenschaft« [1887], in: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: Verlag de Gruyter 1980, S. 343-651, hier S. 480.
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dern vielmehr die Frage aufwirft, wie sich die Abhängigkeit von der Umwelt mit den zunehmenden Möglichkeiten ihrer Beherrschung in Einklang bringen lässt.36 Dabei wird sowohl die »paradoxe Spannung« zwischen der Vorstellung »einer Versöhnung des Menschen mit der Natur« als auch ein »kulturbeherrschender […] Fortschrittsglauben« vorgeführt.37 Die Wiederbelebung eines romantischen Naturverständnisses erscheint als Versuch, einem rationalen Bild von der Natur eine andere Schattierung entgegenzuhalten, in der nicht die Domestizierung und Erklärung der Natur im Zentrum steht, sondern vielmehr das Eingeständnis, sich der Natur zu unterwerfen und sich damit auch der Natur des Menschen mit allen seinen Abgründen zu stellen. Diese paradoxale, letztlich nicht auszuhaltende Spannung von wissenschaftlicher und neuromantischer Wahrnehmung der Natur ist Thema von Strindbergs Roman I havsbandet aus dem Krisen- oder Umbruchsjahr 1890, in dem einem grundsätzlichen Fortschrittsoptimismus die Tendenz zum Rückzug oder zur Individualisierung zur Seite gestellt oder auch entgegengestellt wird. Es wird damit nicht die Wissenschaft grundsätzlich kritisiert, sondern vielmehr die mangelnde Vermittlungsfähigkeit eines Wissenschaftlers. Die Natur lässt sich nicht allein mit den Mitteln eines um Kausalität bemühten Naturalismus beschreiben, noch geht es um eine Reromantisierung der Natur und der Gesellschaft. In Strindbergs drittem Schärenroman I havsbandet wird daher dezidiert nicht eine grundsätzliche Ausdifferenzierung von Natur und Kunst verhandelt, sondern vielmehr die Diskussion unterschiedlichster Wahrnehmungsformen angeregt, die den Menschen und seine jeweils spezifische Sicht auf die Natur kennzeichnen. Es ist offensichtlich, dass dieses paradoxale Dilemma zwischen Natur als Wissenschaft und Natur als nicht zu domestizierender Domäne nicht gelöst werden kann. Der Roman konzentriert sich daher auf mindestens drei Modelle von Relationen zwischen Natur und Mensch, die nacheinander abgerufen und jedes einzelne in seinem Ausschließlichkeitsanspruch als vermessen dargestellt wird. Diese Differenz, die vom Helden aus der hyperbolischen Geste des Überlegenen heraus betont wird, bleibt schließlich am Ende bestehen – allerdings muss sich Axel Borg als Vertreter einer modernen Gesellschaft und als der vermeintliche Beherrscher der Natur geschlagen geben. Es bleibt somit die Feststellung einer zwingenden Auseinandersetzung des Menschen mit der ihn umgebenden Natur, seiner Verantwortung für sich und für die Umwelt. An diesem Anspruch scheitert der Held – und es entspricht Strindbergs Diagnose des modernen Menschen, dass ihn dieses Verhältnis nicht loslassen wird, dass er aber eine Lösung für die zuneh36 | Axel Goodbody beobachtet dieses Problem besonders in der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts (Goodbody, Axel: Nature, Technology and Cultural Change in Twentieth-Century German Literature. The Challenge of Ecocriticism, Basingstoke: Palgrave 2007, S. 15). 37 | Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 17.
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mende Diversifikation von Mensch und Natur natürlich nicht anbietet. Vielmehr stellt die ästhetische Darstellung und Bewältigung dieser Relation in Strindbergs Roman die eigentliche Herausforderung der Moderne dar. Oder anders gesagt: Es geht um die Grenzen des absoluten Individualismus angesichts der Veränderungen der »atmosphärischen Bedingungen«, die Mensch und Umwelt gleichermaßen betreffen. Die Gefahren des totalen Individualismus und die Notwendigkeit der Vermittlung, werden in Strindbergs Roman im Jahr 1890 mit dem Verweis auf die Unzulänglichkeit der neuen und der alten Erklärungsmuster vorgeführt. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt wird als eine zentrale Frage aufgeworfen, auf die Strindbergs Schärenroman bewusst einander ausschließende und neue Fragen provozierende Antworten gibt.
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900 Jens Peter Jacobsen als ökologischer Dichter Anna Sandberg
Der doppelte Modernitätsbegriff einer sozialen und einer ästhetischen Moderne ist mit den beiden Zäsuren eines »modernen Durchbruchs« 1871 und eines »seelischen Durchbruchs« um 1890 in der dänischen Literatur- und Kulturgeschichte eingebürgert.1 Quer zu dieser Trennung schrieb der auch im deutschen Raum vielgelesene Jens Peter Jacobsen (1847-1885) seine sprachartistischen und subjektkritischen Werke, und parallel dazu vermittelte er, der als Botaniker ausgebildete Dichter, den neuen Darwinismus in der dänischen Öffentlichkeit. Einerseits stellte sich Jacobsen in den Dienst der radikalliberalen Literaturpartei um Georg Brandes in Kopenhagen und forderte Säkularisierung und soziale Emanzipation, andererseits war er ein fortschrittsskeptischer Ästhet und wurde als solcher in den Literaturmilieus Berlins und des jungen Wiens ab den 1890er Jahren intensiv rezipiert u.a. von Stefan George, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Thomas Mann, Robert Musil und Hermann Hesse. Niels Lyhne galt als »Gebetbuch der jüngeren Maler und Poeten« (Marie Herzfeld, 1905) und »unser Lehrbuch der Sensibilität« (Stefan Grossmann);2 Jacobsens eigene Biographie, seine Krankheit und sein früher Tod trugen auch zur Steigerung ins Kultische bei. Im Zentrum des Denkens Jacobsens steht die Auseinandersetzung mit sowohl der inneren Men1 | Vgl. beispielsweise die Diskussion Annegret Heitmanns im Kapitel »Die Moderne im Durchbruch«, in: Glauser, Jörg (Hg.): Skandinavische Literaturgeshichte, Stuttgart: J.B. Metzler 2006, S. 183-229, besonders S. 183-184. 2 | Sørensen, Bengt Algot: »Dekadenz und Jacobsen-Rezeption in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende«, in: Bengt Algot Sørensen: Funde und Forschungen. Ausgewählte Essays, hg. von Steffen Arndal, Odense: Odense University Press 1997, S. 285-307, die Zitate S. 286. Zur weltweiten (und intermedialen) Rezeption Jens Peter Jacobsens vgl. auch die mehrsprachige Publikation: Billeskov Jansen, F.J. (Hg.): J.P. Jacobsens spor i ord, billeder og toner, København: C.A. Reitzel 1985.
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schennatur als auch der äußeren physischen Natur. Im Folgenden soll vorgeschlagen werden, wie Jacobsen im weiteren Sinne als ökologischer Denker aufzufassen ist, indem er die Beziehung zwischen Mensch und Natur und die Dimensionen der physischen Umwelt, des Bioraums und der Landschaft in allen Phasen seines kurzen Schaffens und in den verschiedenen Wissensformen der Naturwissenschaft und der Literatur gestaltet und thematisiert. Seine Naturdiskurse entfalten sich quer zu den literargeschichtlichen Epocheneinteilungen, zeigen in gewisser Weise eine Kontinuität vom Naturalismus zum Symbolismus und verhandeln den Begriff der Modernität neu in dieser Übergangszeit, die auch als Transition von einer biozentrischen zu einer technozentrischen Lebensform zu begreifen ist. Als Beispiele für Jacobsens Diskussion dienen seine einführenden Aufsätze zu Darwin in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Nyt dansk Maanedsmagasin, die Debütnovelle Mogens (1872) und den »Desillusionsroman« Niels Lyhne (1880), wie ihn Georg Lukács in seiner Theorie des Romans3 benennt.
I. J ACOBSEN ALS NATURWISSENSCHAF TLICHER D ENKER — N ATUR , N ATURWISSENSCHAF T UND D ARWINISMUS IM DÄNISCHEN K ONTE X T Wenn auch die fachwissenschaftliche Rezeption in Dänemark von Darwin schon kurz nach der Erscheinung von On the Origin of Species (1859) begann, und die Evolutionstheorie schnell Vorlesungsstoff an der Universität und Teil des Ausbildungscurriculums wurde, war keineswegs von einer konsensuellen Zustimmung der Professoren die Rede, und erst nach 1880 wurde die Theorie richtungsweisend für die biologische Forschung.4 Georg Brandes’ aufklärerisch-liberales und religionskritisches Programm des »modernen Durchbruchs« hat als wichtige Komponente die Evolutionslehre, und 3 | Lukács, Georg: Theorie des Romans [1920], Berlin: Luchterhand 1965, S. 122. Lukács beendet seine Charakteristik von Niels Lyhne mit der Feststellung: »Denn dieses Leben, das zur Dichtung werden sollte und zum schlechten Fragment wurde, wird in der Gestaltung wirklich zu einem Scherbenberg; die Grausamkeit der Desillusion kann nur den Lyrismus der Stimmungen entwerten, und den Geschehnissen kann sie doch keine Substanz und Schwere des Daseins verleihen. Es bleibt eine schöne aber schattenhafte Mischung von Schwelgen und Bitterkeit, von Trauer und Hohn, aber keine Einheit; Bilder und Aspekte, aber keine Lebenstotalität« (S. 123). 4 | Vgl. Hjermitslev, Hans Henrik: Om modtagelsen af Darwin i Danmark: Website der Universität Aarhus: www.evolution.dk. (letzter Zugriff am 30. August 2012). Die Diskussionen der Evolutionstheorie spielen sich jedoch friedlicher ab als in England, umstritten bleibt bis in die 1920er Jahre die These von der Selektion, vgl. hierzu Sand-Jensen, Kaj: »Naturhistorien«, in: Kjærgaard, Peter (Hg): Dansk naturvidenskabs historie. Lys over landet. Bind 3, Aarhus: Aarhus University Press 2006, S. 141-192, bes. S. 167-172.
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900
zeitgleich mit seinen Vorlesungen über die Hauptströmungen der europäischen Literatur 1871 übersetzte Jens Peter Jacobsen On the Origin of Species und The Descent of Man (die 1871-1872 und 1874-1875 auf Dänisch erscheinen) und vermittelte Darwins Lehre in der Zeitschrift Nyt dansk Maanedsskrift (1870-1874), dem Hauptorgan des Brandes-Kreises dieser Jahre. In dänischer Literaturgeschichtsschreibung gilt Jacobsen immer noch weithin als der erste Popularisator von Darwins Evolutionstheorie, tatsächlich wurde diese aber schon in den 1860er Jahren dem dänischen Lesepublikum in zahlreichen populärwissenschaftlichen Aufsätzen übermittelt.5 Zweifellos ist Jacobsens Vermittlung aber die wirkungsmächtigste; seine Übersetzung (von der fünften, überarbeiteten und etwas moderierten Fassung) von Origin of Species ist auch als eine Dichtung Jacobsen’scher Prägung zu lesen und wurde erst im Darwin-Jahr 2009 von einer neuen Übertragung ins Dänische ersetzt. Jacobsens Grenzgänge zwischen Naturgeschichte, Naturphilosophie und Naturwissenschaft einerseits und zwischen Wissenschaft, Kulturkritik und Kunst andererseits verschafften ihm eine zentrale Position in der Öffentlichkeit in einer Umbruchszeit der intellektuellen Geschichte Dänemarks. Grundlegend vertritt er in seinen zwischen 1870 und 1873 publizierten Aufsätzen ein positivistisches Wissenschaftsideal und eine empirische Naturauffassung; er betont immer wieder die Wichtigkeit von Observation und Experiment6 und erläutert die Lehre von der natürlichen Selektion durch eine nationale Kontextualisierung mit Fallbeispielen aus dänischer Zucht und aus dänischer Pflanzen- und Tierwelt. In dieser Hinsicht wären seine Essays der amerikanischen Gattung »Nature Writing« vergleichbar. Jacobsens Leistung als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit liegt nicht zuletzt in der Form der Darstellung, indem er streckenweise eine dramatische und poetische Narrativisierung verwendet – Darwins Stil nicht unähnlich –, die als pädagogische Verstehenshilfe funktioniert, zu einer identifikatorischen Sicht einlädt und den Leser zur neuen Naturauffassung überredet. Er paraphrasiert und erklärt die Argumentation Darwins, vor allem aber »inszeniert« er Dialoge und Diskussionen mit Darwins Kombattanten und anderen Schulen durch eine Montage von langen Exzerpten und Zitaten aus der spekulativen Naturphilosophie sowie aus der vorherrschenden systematisch-klassifizierenden Naturlehre in seine
5 | Zu diesem Mythos von Jacobsen als einzigem Wegbereiter des Darwinismus im Norden trug Georg Brandes auch im Ausland bei. Grumsen verweist auf Brandes’ Nachwort zu Jacobsens Novelle »Die Pest in Bergamo« in der Deutschen Rundschau 1883, vgl. Grumsen, Stine: »Den stærkeste overleverer. En studie af en litteraturhistorisk myte om darwinismen i Danmark«, in: Slagmark. Tidsskrift for idéhistorie, vol. 54 (2009), S. 119-130, hier S. 125. 6 | Vgl. Søvsø Thomsen, Laura: »Darwinist, men hvilken Darwinist? Videnskabsideologi og litterære virkemidler i J.P. Jacobsens populærvidenskabelige artikler«, in: Slagmark. Tidsskrift for idéhistorie, vol. 54 (2009), S. 105-118.
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Texte. Beispielsweise setzt er sich im ersten Aufsatz kritisch mit Gustav Theodor Fechners Theorie vom »Seelenleben der Pflanzen« aus 1848 auseinander.7 Nicht nur Zustimmung zur Evolutionsbiologie, sondern auch Vorbehalte sind in diesen eher als intertextuelle, synkretistische Entwürfe denn als Wissenschaftsvermittlung zu verstehenden Texte zu lesen. Gegen Ende des einführenden Aufsatzes zu Origin of Species und Animals and Plants under Domestication mit dem Titel »Darwins Theorie« zitiert Jacobsen Darwins abschließenden Lobpreis auf die Evolutionslehre: dass wir beim Anschauen der Natur ihrer Vielfältigkeit gewahr werden, die durch die Kräfte des Wachstums, Reproduktion, Vererbung und Variabilität hervorgebracht worden ist und aus dem Kampf ums Dasein und der natürlichen Selektion hervorgeht. Jacobsen mitzitiert an dieser Stelle Darwins veränderte Abschlusssentenz der fünften Fassung, welche die Möglichkeit eines Schöpfers offenhält und die heikle Frage der Selektion abmildert: »Es ist eine Grösse in dieser Sicht des Lebens, dass es und seine Kräfte ursprünglich vom Schöpfer in wenigen Formen oder in einer einzigen eingehaucht wurden […].«8 Mit einem nachdenklichen Passus rundet Jacobsen die Erörterung ab, indem er das Absterben der Arten durch die Kultivierung und das Schwinden der Biodiversität beklagt.9 Parallel dazu sei die Zivilisierung des Menschen in einem von Ratio und Nutzen bestimmten Prozess festzustellen. Jacobsen zitiert hier den schweizerischen Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli (1817-1891) und lässt seine Kritik daran, dass das moderne soziale Leben nicht mehr mit Wunder, Schicksal und Gefühlen, sondern mit Gesetzmäßigkeit und Ordnung der Natur rechne, zu Wort kommen.10 Jacobsens letzter Aufsatz zu Descent of Man thematisiert den Wechsel von einer religiösen zu einer wissenschaftlichen Weltauslegung und reflektiert die Rolle der Naturwissenschaft als Leitkultur am Ende des 19. Jahhunderts. Er beginnt seine Darstellung mit einem Angriff auf die Religion; seine Kritik ist aber nicht im Sinne der vom Linkshegelianismus speisenden dänischen Durchbruch-Bewegung gegen die Metaphysik an sich gerichtet, sondern an die ästhetischen Defizite in der religiösen Medialisierung. Die Überlieferung der nordischen und antiken Mytho7 | Jacobsen, Jens Peter: »Om Bevægelsen i Planteriget«, in: Nyt dansk Maanedsskrift, vol. 1 (1870-1871), S. 7-16. Vgl. hierzu Sørensen, Bengt Algot: »Naturalismus und Naturphilosophie: Über Jens Peter Jacobsen, Charles Darwin und Ernst Haeckel«, in: ders: Funde und Forschungen, Odense: Odense University Press 1997, S. 307-316. 8 | Die Übersetzungen der Zitate sind von mir (AS), der dänische Text: »Der er Storhed i dette Syn paa Livet, at det og dets forskellige Kræfter oprindelig er bleven indaandet af Skaberen i nogle faa Former eller i en eneste […]«, Jacobsen, Jens Peter: »Darwins Theori«, in: Nyt dansk Maanedsskrift 1870-1871, København 1871, S. 411. Das Originalzitat bei Darwin: »There is a grandeur in this view of life, with ist several powers, having been originally breathed by the creator into few forms or more […]«, zitiert nach Sand-Jensen 2006, op. cit. S. 168, vgl. auch seine Diskussion. 9 | Nyt dansk Maanedsskrift 1870-1871, S. 418-419. 10 | Ebd, S. 419.
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900
logie sowie des mittelalterlichen Katholizismus mit den alltäglichen Bildern von Göttern bei ihren Festen im Walhal oder auf dem Olymp oder der Ikonographie eines Vaters mit langem Bart seien sinnlich unbefriedigend.11 Dafür aber vermöge die Evolutionslehre zu begeistern! Den potentiellen Widerstand zu Darwins Abstammungslehre beseitigt Jacobsen mit der Entwicklungslehre: Die materialistische Naturauffassung sei »viel gesünder, edler und idealer als die dunklen Träume von Adam und Eva im nie aufgefundenen Garten Eden« und grundsätzlich vorzuziehen, da sie eine Vervollkommnung des Menschen und seiner Intelligenz verheiße.12 Jacobsens Aufsatz trägt im Untertitel den Hinweis auf Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868/1870), und Jacobsen amalgamiert hier teilweise den Naturwissenschaftler Darwin mit dem einflussreichsten deutschen Darwinisten und Chefideologen des neuen Monismus. Umstritten in der Forschung ist, in welchem Grade Jacobsen Haeckel zustimmt und welchem Haeckel: dem positivistischen Forscher, der sich wie Jacobsen für die »zierlichen Formen« der Desmidiaceen, der Süsswasseralgen, begeisterte – oder dem spekulativ-idealistischen Monisten?13 Jacobsen beschwört hier die Wissenschaftlichkeit Haeckels herauf,14 lässt aber seinen Beitrag in ein langes Zitat aus Natürliche Schöpfungsgeschichte münden mit der Forderung an den modernen Menschen nach einer vollständigen und aufrichtigen Rückkehr zur Natur. Hier scheint Jacobsens generelle Vorsicht, weltanschauliche Folgen aus Darwins Lehre zu ziehen, der Faszination von einer neuen Synthese aus Religion, Naturwissenschaft und Naturphilosophie bei Haeckel zu weichen. Diese Wende wird emphatisch als neue Naturreligion zur Ablösung der herkömmlichen Glaubenssysteme begrüßt. Zu beachten ist aber zugleich, dass im erwählten Zitat nichts von Allbeseelung oder romantischer Identitätsphilosophie zum Ausdruck kommt. Jacobsens Textzitat vertritt aber eine deutlich »biophile« Position mit der tendenziellen Erweiterung zu einer »kosmo-ökologischen« Vision hin. Jacobsen akzentuiert die Abhängigkeit des Menschen von seiner physischen Umwelt sowie die Wechselwirkungen zwischen Mensch und umgebendem Milieu als ein übergreifendes Sinnsystem; er aktualisiert damit Haeckel als Mitbegründer der Ökologie.15 Auch schwingt die philosophisch-existentielle Dimension des »Oi11 | Jacobsen, Jens Peter: »Menneskeslægtens Oprindelse«, in: Nyt dansk Maanedsskrift April-September 1871, København 1871, S. 97-99. 12 | Ebd., S. 101. 13 | Vgl. die Diskussion bei Sørensen, Bengt Algot: Jens Peter Jacobsen, München: C.H. Beck 1991, S. 27-33, und Thomsen, Laura Søvsø, in: Slagmark 2009. 14 | Jacobsen: »Menneskeslægtens Oprindelse«, S. 120. 15 | Haeckels Generelle Morphologie der Organismen (1866) gilt als Initiationsschrift der Ökologie, verstanden als die »Lehre vom Haushalt« und als »Wissenschaft von den Wechselbeziehungen der Organismen unter einander« und zur anorganischen Umwelt, vgl. Goodbody, Axel: »Einführung«, in: Literatur und Ökologie, Amsterdam: Rodopi 1998, S. 17. In der biologischen Wissenschaftsgeschichte gilt der dänische Botaniker Eugen Warming (18411924) als der erste Pflanzenökologe; seine Studie »Pflanzengesellschaften. Grundzüge der
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kos« im Sinne einer (altgriechischen) Hausgemeinschaft oder von Haushalt (vor der Polis) mit, wie später in Verbindung mit Jacobsens literarischen Werken zu diskutieren sein wird. Um Jacobsens Position im Naturdiskurs klarer begreifen zu können, ist an dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu den geschichtlichen Typen des menschlichen Verhältnisses zur Natur notwendig. Laut Ernst Oldemeyers Entwurf einer solchen Typologie (1983)16 entsteht zu Beginn des 19. Jahrhunders eine kulturgeschichtlich neue Auffassung von der Mensch-Natur-Relation. Bis zu dieser Zäsur überlagern sich kulturgeschichtlich drei verschiedene Grundformen von kognitiven und werthaft-normativen Naturverhältnissen: ein magisch-mythisches Verhältnis, ein biomorph-ganzheitliches Denken (mit Heraklit als Prototyp) und schließlich eine antagonistische Beziehung, in welcher die Natur als »Gegenstand und Gegenbegriff« aufgefasst wird; wo eine Entfremdung des Menschen oder verschiedene Grade von Fremdheit zwischen Subjekt und Objekt vorherrschen. Dieser dritte Typus umfasst eine Reihe von Denktraditionen von Vorsokratismus bis zur Neuzeit, wo sich drei moderne Untertypen bzw. Bezüge herauskristallisieren lassen: eine mechanisch-technizistische, eine transzendental-idealistische und eine sogenannte ästhetisch-sentimentalische. Letztere reagiert auf die aufklärerisch-technizistische Auffassung von Natur und behauptet sich mit Vertretern wie Rousseau und Schiller bis zur Zivilisationskritik des 20. Jahrhunderts. Der vierte Typ, dem Jacobsen angehört, unterscheidet sich strukturell von den drei anderen durch eine Auffassung von der Natur als einem »offenen, umgreifenden Gesamtsystem«. Hierher gehören laut Oldemeyer Goethes Naturdenken und Schellings Naturphilosophie sowie die biologische Evolutionstheorie, die materialistische Dialektik und endlich auch die relativistische und quantentheoretische Physik. Diesen weltanschaulichen und wissenschaftlichen Ansätzen gemeinsam ist die Überwindung der Einstellung zur Natur als Gegenbegriff; eine Beseitigung der »postulierten Ex-Territorialität des erkennenden und handelnden Subjekts«17. Dies neue gesamtheitliche Verständnis von Natur und Mensch bedeutet eine integrative Kognition, mit der Einschränkung aber, dass die Natur nicht als »Ganzes« erfasst werden kann, indem der Mensch ein Element in der Natur ist und sie nur »perspektivisch als ein offen erscheinendes System von Systemen begreifen kann«18. Interessant für unsere Fragestellung ist die Typologisierung Oldemeyers, weil sie sowohl die romantische Naturphilosphie als auch die Evolutionsbiologie der vierten, modernen Bezugsvariante zuordnet und sie gemeinsam als einen Neuökologischen Pflanzengeographie« (1895) wurde als Pionierleistung ins Deutsche, Russische und Englische übersetzt. Vgl. Sand-Jensen: Naturhistorie, S. 184-185. 16 | Oldemeyer, Ernst: »Entwurf einer Typologie des menschlichen Verhältnisses zur Natur«, in: Großklaus, Götz/Oldemeyer, Ernst (Hg.): Natur als Gegenwelt, Karlsruhe: Loeper 1983, S. 15-43. 17 | Oldemeyer: »Entwurf einer Typologie«, S. 36. 18 | Ebd.
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ansatz begreift, der auch als einen Paradigmenwechsel oder Epochenschwelle zu bezeichnen wäre.19 Jacobsen artikuliert und diskutiert diese Schwelle mit ihren Überlagerungen von Mensch-Naturbeziehungen und setzt sich auch in seinen literarischen Texten mit den verschiedenen Spielarten dieser Relationen auseinander. Besonders kritisch steht er der Position zur Natur als einem »Gegenbegriff« oder »Gegenraum« gegenüber. Im Folgenden soll es nicht um eine reine Applikation der skizzierten Typologie in Jacobsens Werken gehen, sie kann aber zur Verdeutlichung von seinen dichterischen Naturdiskursivierungen dienen.
II. D IE N ATUR IN DER D ICHTUNG J ACOBSENS . D IE D EBÜTNOVELLE »M OGENS« Entsprechend lässt sich weder eine darwinistische Lebensanschauung noch eine monistische Philosophie im dichterischen Werk Jacobsens feststellen; er verfasst weder Tendenz- noch Weltanschauungsliteratur, problematisiert aber das Bedürfnis und die Sehnsucht nach einer Weltanschauung in der säkularen Moderne.20 Man könnte Jacobsens Werk als eine Art »Lebenswissen« lesen, wo Biologisches, Psychologisches und Soziales integriert sind; doch sind auch die Gattungsunterschiede der Texte festzuhalten. Die Ansicht, seine naturwissenschaftlichen Schriften seien spekulativer und phantasievoller als seine kühl-rationalen Dichtungen,21 ist meines Erachtens zugespitzt; in seiner erzählerischen Prosa werden aber die Bezüge zwischen Mensch und Natur sowohl auf der Inhalts- als auf der Formebene thematisiert. Eine Leitfrage zu den Lektüren ist, ob er sein im Darwin-HaeckelEssay formuliertes Plädoyer für Ästhetisierung, Evolution, Ökologie und Sinnsystem in den literarischen Texten verwirklicht. Jacobsens Debütnovelle Mogens 1872 wurde lange und wird immer noch in der dänischen Literaturgeschichtsschreibung als eine ästhetische Parallelaktion zum 19 | Vgl. auch die Aktualisierungen von Darwins Evolutionstheorie in bzw. den adaptationistischen humanwissenschaftlichen Ansätzen und in der materialistischen, poststrukturalistischen, von Science and Technology Studies angeregten Ökokritik, siehe v.a. Carroll, Joseph: Literary Darwinism. Evolution, Human Nature and Literature, New York: Routledge 2004 und Morton, Timothy: The Ecological Thought, Cambridge/Massachussets/London: Harvard University Press 2010. 20 | Die neuere Forschung zu Jens Peter Jacobsen umfasst wenige Monographien, einschlägig sind Vosmar, Jørn: J.P. Jaocbsens digtning, Gyldendal 1984 und Sørensen, Bengt Algot: J.P. Jacobsen, München: Hanser 1990 sowie Andersen, Jørn Erslev: J.P. Jacobsen. Forfatterportræt. Arkiv for dansk litteratur ved Dansk Sprog og Litteraturselskab, www. adl.dk und Glienke, Bernhard: Jens Peter Jacobsens lyrische Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte der modernen Poesie, Neumünster: Wachholtz 1975. 21 | Vgl. Andersen, Jørn Erslev: »J.P. Jacobsens atomer«, in: ders: Værkelighed. Essays om dansk litteratur, Aarhus: Forlaget Modtryk 2005, S. 142.
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darwinistischen Denken und als die Begründung einer naturalistischen Literatur in Übereinstimmung mit Brandes’ Forderungen aufgefasst. Vilhelm Andersen, der einflussreichste dänische Literaturhistoriker nach Brandes, interpretierte die Novelle als Lehrstück über die sexuelle Selektion durch die erotischen Erfahrungen des Protagonisten Mogens.22 Die Dreiphasenhandlung verläuft von der ersten instinktiven, unschuldigen und unerfüllten Liebe zu Kamilla über eine exzessive Periode mit sexuellen Verhältnissen rein physischer Art zu zufälligen Frauen und der Prostituierten Laura, bis hin zu einer Integration von Körper und Geist in der Ehe mit Thora als Endpunkt. Die Entwicklung der Hauptfigur kann der Leser nur mühsam nachvollziehen, Mogens wird mithilfe einer auch im übrigen Werk Jacobsens angewandten »Stationentechnik« beschrieben, welche die Figuren in verschiedenen Lebenssituationen ohne Erklärung von Übergängen zeigt. Nach Jørn Erslev Andersen ist dies als Teil einer komplementären Sichtweise Jacobsens zu verstehen, welche durchgehend eine Statik im Bereich des Biologisch-Körperlichen festschreibt, dazu komplementär eine Dynamik im Geist und im Bewusstsein entfaltet. Der Mensch verändert sich nicht äußerlich, dafür aber wandeln sich seine Träume, Gedanken und Phantasien.23 Dies wird in einer Analyse von der Deskription und Funktion des Naturbezugs in der Debütnovelle und im LyhneRoman zu untersuchen sein.24 Die Phasen von unterschiedlichen physischen und emotionellen Erfahrungen bringen das moderne naturalistische Thema der Entfaltung von Sexualität und die Triebnatur des Menschen auf die Tagesordnung. Jacobsen untersucht zwar den Menschen als sinnliches Wesen, aber immer in einer Wechselwirkung mit der äußeren Natur. Die zeitgenössischen Naturdiskurse – Darwinismus, Rousseauismus, ein romantischer Pantheismus sowie ein moderner »Tourismus« – werden in seinem Text durchgespielt, dazu werden neue Positionen ausprobiert und formuliert. Ich werde hier besonders den Anfang und das Ende der Novelle beachten. Die Anfangszeilen läuten mit ihrem romantisch-biedermeierlichen Erzählstil fast ein Märchen ein: Sommer war’s; mitten im Tag; an einer Ecke des Zauns. Gerade davor stand ein alter Eichbaum, von dessen Stamm man wohl sagen konnte, er winde sich aus Verzweiflung über den 22 | Andersen, Vilhelm: Illustreret dansk Litteraturhistorie, Bd. 4, København: Gyldendal 1925, S. 212. 23 | Andersen, Jørn Erslev: »En åndelig migræne. Aspekter af forholdet mellem kunst og videnskab 1870-1920 – og modernitet?«, in: Høiris, Ole/Ledet, Thomas (Hg.): Modernitetens Verden. Tiden, videnskaben, historien og kunst, Aarhus: Aarhus Universitetsforlag 2009, S. 525-536, hier S. 528. 24 | Für meine Analyse wichtige Interpretationen sind neben Erslev Andersen: Østerud, Erik: »Unravelling the Riddle of Nature. J.P. Jacobsens ›Mogens‹ in the Field of Conflict between Religion and Science«, in: ders: Theatrical and Narrative Space, Aarhus: Aarhus University Press 1998, S. 101-134, und Sørensen: Naturalismus und Naturphilosophie.
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900 Mangel an Harmonie zwischen seinem ganz neuen, gelblichen Laub und den schwarzen und dicken, knorrigen Ästen, die am ehesten von Allem grob verzeichneten frühgotischen Arabesken glichen […]. 25
Eröffnet wird so mit einem zugleich autoritativen, ästhetisierenden und ironischen Blick auf die Natur, die aus Landschaft und zaunumrandetem Garten besteht. Die Hässlichkeit der Eiche wird paradox durch einen schönen Vergleich vermittelt und die Natur (die Zweige) der Kunst (der Arabeske) gegenübergestellt. Metapoetisch wird somit auch auf die eigene Darstellungsart und die kunstvoll gewundenen Sätze hingewiesen. Die Technik der Personifizierung wird mit erzählerischem Vorbehalt verwendet (»man konnte wohl« vom Stamm sagen), und der anthropomorphe Zugang zur Natur deutlich ironisiert. In geradezu überdeutlicher Absetzung zu einer naturwissenschaftlich-darwinistischen, aber auch zu einer naturphilosophisch-ganzheitlichen Beobachtungsweise scheint dieser Anfang geschrieben. Jacobsen vertritt hier nicht das neue Paradigma (bzw. den vierten Typus im Entwurf Oldemeyers), im Gegenteil: Die Perspektive, die er verfolgt, ist vielmehr eine akzentuiert kulturalistische und vermittelt daher den fremden Blick auf die Natur. In der nächsten Sequenz der Textstelle verschiebt sich aber diese Einstellung, und der totalisierende Blick des Erzählers wandelt sich in einen punktuellen-pointilistischen: Und dann der Mensch unter der Eiche; er lag und schnappte und schaute wehmütig, hilflos zum Himmel auf. Er summte ein wenig und gab es auf, pfiff, gab auch dieses auf, kehrte sich, kehrte sich wieder um und ließ seine Augen auf einen alten Maulwurfshügel sehen, der vor Dürre ganz lichtgrau geworden war. Plötzlich kam ein kleiner runder dunkler Fleck auf den lichtgrauen Mull, noch einer, drei, vier, viele, noch mehr, der ganze Hügel war völlig dunkelgrau. Die Luft war lauter lange, dunkle Striche, die Blätter neigten und beugten sich, und es kam ein Sausen, das in Sieden überging: es schüttete Wasser herab (S. 4).
Diese Wahrnehmung eines beginnenden Regenschauers vermittelt eine weitere Facette der Beobachtung: Von den einzelnen Tropfen bis zum Guss aus der Perspektive des liegenden Menschen fährt der Erzähler mit einer Deskription des Regenwetters fort, die sich über eine ganze Textseite ausbreitet; hier entfaltet Jacobsen wiederum eine neue Variation seiner Beschreibungstechnik: Durch einen anhäufenden Verbalstil sowie die Wiederholungen und Varianten werden die Prozessualität und Vitalität des Naturvorgangs sehr detailliert gespiegelt: Alles glimmte, funkelte, spritzte. Blätter, Zweige, Stämme, alles glänzte vor Nässe; jeder kleine Tropfen, der auf die Erde, auf das Gras, auf den Steig, auf was immer fiel, wurde zer25 | Jacobsen, Jens Peter: Gesammelte Werke, Bd. 1, aus dem Dänischen von Marie Herzfeld, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1905, S. 3. Im Folgenden verweisen die Seitenzahlen in Klammern nach Zitaten auf diese Angabe.
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Anna Sandberg splittert und in tausend kleine Perlen fortgesprüht. Kleine Tropfen hingen ein bisschen da und wurden zu grossen Tropfen, tropften hier herab, sammelten sich mit anderen Tropfen, wuchsen zu kleinen Strömen, verschwanden in kleinen Furchen, liefen in große Löcher hinein und bei kleinen heraus, segelten dahin mit Staub, mit Splittern und Laubstümpfchen weg, setzen sie auf den Grund, machten sie flott, schnurrten sie rundum und setzten sie wieder auf den Grund. Blätter die nicht beieinander gewesen, seitdem sie in der Knospe gelegen, trafen sich in der Nässe, Moos, das vor Trockenheit zu Nichts geworden, brauste auf und wurde weich, geträufelt, grün und saftig; und graue Flechte, die fast zu Schnupftabak gedörrt, breitete sich in zierlichen Spitzen, strotzend wie Brokat und mit Glanz wie Seide […] (S. 5).
Die Textstelle zeigt einen Verlauf von Atomisierung zu Ganzheiten, von Separation zur Vereinigung und zeugt überhaupt von den vielfältigen Transformationen im Organischen (Tropfe werden Ströme, Blätter vereinigen sich, Moos und Flechten verändern Substanz und Farbe). Bemerkenswert ist die Funktion der Kultur: Durch die Vergleiche mit den Kulturprodukten Seide, Brokat, Tabak wird die Naturschönheit gesteigert, was man als einen Versuch zur Überbrückung der Natur-KulturDifferenz betrachten könnte, oder aber als Affinität zur symbolistischen Vorliebe für das Künstliche. Insgesamt würde ich vorschlagen, diese dynamische, detailliertmikroskopische und artistische Sicht- und Darstellungsweise von Naturprozessen als eine evolutionsästhetische zu bezeichnen, die das Programm aus dem DarwinHaeckel-Essay literarisch einzulösen scheint. Diese Ästhetisierung der Evolution und die Freude am immanenten Leben könnten die sinnstiftende Funktion der Religion in der Modernität ersetzen. Diese neue Modalität wird hier vom Erzähler übermittelt, und im wichtigen Gespräch am Schluss der Novelle nochmals vom Protagonisten zur Sprache gebracht. Mit dieser kontrapunktischen Kompostion des Anfangs schildert Jacobsen zwei Ansichten von und Bezüge zur Natur und stellt damit den Lesern zugleich zwei Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung.26 Der »Mensch«, wie er zu Anfang emphatisch genannt wird, verkörpert in dieser ersten der drei Phasen die Natürlichkeit und das Verbundensein mit der Natur; er tanzt und singt im Regen, wie im Eden vor dem Sündenfall. Dementsprechend hat er keine Ausbildung, seine einzige Lektüre sind alte Volkssagen, er ist unwissend über Politik und Kunst und erstaunt, dass man die Natur auf so etwas wie Landschaftsgemälden betrachten kann. Der Dichterkollege Herman Bang hinterfragte in seiner späteren Kritik27 von Jacobsen den Realismus der Darstellung. Wieso haften Mogens, dem Sohn eines Amtsmannes, überhaupt keine Spuren einer Kindheit im Beamtenmilieu und einer zeitgenössischen Sozialisierung an? Bang fordert vom modernen realistischen Künstler, dass er die Gesellschaft kennt wie ein Botaniker die Biologie, und er bemängelt sowohl in dieser Debütnovelle 26 | Vgl. Østerud: Unravelling the Riddle, S. 107. 27 | Bang, Herman: »Realisme og Realister« [1879], in: Det danske Sprog- og Litteraturselskab, København: Borgen 2001, S. 79.
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als im Roman Frau Marie Grubbe die Brüchigkeit der zeitgeschichtlichen Realität und das Fehlen einer psychologischen Kausalität. Der Anfang signalisiert, dass wir den Helden Mogens nur mit Vorsicht als realistisches Individuum auffassen dürfen und ihn eher allegorisch oder symbolisch verstehen sollten. Mogens kann als das Experiment gelten, eine präzivilisatorische, vorkulturelle Existenzweise in und nach der Zivilisation zu praktizieren,28 was aber zugleich als unmöglich dargestellt wird. Dass diese Position nicht mit dem sentimentalen Typus des NaturMensch-Bezuges (dem dritten Typus bei Oldemeyer) identisch ist, wird anhand der Kontrastfigur des Justizrats gezeigt. Der Justizrat tritt als Sprachrohr einer rousseauistischen Kulturkritik auf, die damit eine dritte Spielart im Natur-Mensch-Bezug in die Novelle einbringt. Dieser »Freund der Natur« wird mit der Erzähltechnik einer deutlich ironisch erlebten Rede entlarvt: […] Der Justizrat protegierte die Natur, er verteidigte sie gegen das Künstliche […]. Die Natur war das Ungebundene, das Unverdorbene; aber durch den Sündenfall war die Civilisation über die Menschen gekommen; nun war die Civilisation eine Notwendigkeit geworden, aber es würde besser sein, wenn sie es nicht wäre; der Naturzustand war etwas ganz anderes, ganz was anderes. Der Justizrat hätte nichts dagegen gehabt, davon zu leben, dass er in einem Schaffell herumging und Hasen und Schnepfen und Brachläufer und Schneehühner und Hirschziemer und Wildschwein schoss. Nein, der Naturzustand war nun einmal eine Perle, förmlich eine Perle (S. 8-9).
Nach dem Tod der ersten Liebe und einer Krise, welche auch die Abkehr von Gott bedeutet, erfährt Mogens schließlich in der Begegnung mit Thora ein neues Lebensglück. Die Natur ist das Medium, durch welches sie sich verstehen, und Thora vertritt eine romantisch-pantheistische Naturauffassung im poetischen Glauben an eine von Trollen, Berggeistern, Elfenmädchen und Meerfrauen bevölkerte Natur. Damit bestätigt sie die Anfangsposition des märchenähnlichen Erzählers in der Eröffnungsszene der Novelle und vergegenwärtigt die zurückliegende literarische Tradition der Romantik und des Biedermeiers. Als Mogens sich damit nicht einverstanden zeigt, stellt Thora die »Gretchenfrage« der Novelle: ob er denn die Natur liebe? Oder ob er nur mit einer touristischen Einstellung lebe? »Ja, ich meine nicht die Natur, wie man sie von einer Aussichtsbank und Hügeln mit Treppen hinaufsieht, wo sie uns feierlich serviert wird, sondern die Natur, jeden Tag, allzeit. Lieben Sie derart die Natur?« (S. 52), fragt die junge Frau. Zwar liebt Mogens die Natur, seine Naturauffassung weicht jedoch von Thoras ab. Auch hier vertritt er aber weder eine rein mechanistisch-materialistische Auffassung noch eine rein darwinistische. Er entfaltet vielmehr nochmals, wie der Erzähler in der Regenwetter-Szene, eine »evolutionsästhetische« Position, welche die Schönheit in der Eigengesetzlichkeit der Natur als Physis entdeckt:
28 | Vgl. hierzu Østerud: Unravelling the Riddle, S. 117.
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Anna Sandberg Es liegt an der Farbe, an der Bewegung und an der Form, die es hat, und dann am Leben, das darin ist, den Säften, die in Bäumen und Blumen aufsteigen, an Sonne und Regen, die sie wachsen machen, und dem Sand, der zu Hügeln zusammenweht, und den Wolkenbrüchen, die die Abhänge furchen und zerreißen […] (S. 53).
Ein solcher Naturbezug ist aber nicht unproblematisch, und im selben Atemzug ergänzt und erweitert Mogens seine Ansicht in eine monistische Richtung:29 […] es ist manchmal zu viel! – Allzuviel! Und wenn dann Form und Farbe und Bewegung so anmutsvoll und leicht sind, und dann hinter all dem eine seltsame Welt ist, die lebt und jubelt und seufzt und sich sehnt und das Alles singen und sagen kann, so fühlt man sich so verlassen, wenn man dieser Welt nicht nahezukommen vermag, und das Leben wird so matt und so schwer (S. 53).
Diese Sehnsucht nach einem Einswerden mit der beseelten Natur ist ein Echo der Frage aus dem Darwin-Essay nach einem öko-kosmischen Sinnsystem, hier aber mit negativem Ergebnis. Der Mensch bleibt ausgesperrt und kann sich nicht mit den physischen, zeugenden Naturkräften verbinden oder teilhaben an ihrer elementaren Energie. Sein Bezug zur Natur scheint hier zweifach motiviert zu sein: sowohl bestimmt von der Liebe zur biomorphen Natur als Physis und Evolution als auch von einer mystischen, panvitalistischen Sehnsucht nach einer Integration in und Kommunikation mit der Natur, die sich aber dem Subjekt sperrt.30 Im Gegensatz zu etwa Goethes und Schellings ganzheitlichen Naturauffassungen betont und betrauert Jacobsen hier den Riss zwischen Mensch und Natur. Diese Sehnsucht nach einer Transition bleibt ein Problem bei Jacobsen. In dieser Novelle wird jedoch die umfassendere kosmologische Dimension der Geist-Körper-Dichotomie ausgeblendet und stattdessen auf der individuell-menschlichen Ebene ausgehandelt, im Bereich der Erotik und der Sexualität. Zeittypisch ist Mogens’ Angst vor der Zerstörung der edlen-geistigen Liebe zu Thora sowie seine Weigerung einer physischen Beziehung zu ihr. Er verurteilt seine eigene Leidenschaft als hässlich, stark und schmutzig, was erst überwunden wird, als Thora um physische Liebe bittet. Die Novelle endet mit Heirat, bürgerlicher Etablierung im Privat- und Be29 | Sørensen verweist auf die Parallele des Zitats in Haeckels Vortrag »Zellseelen und Seelenzellen« und sieht die Stelle als Beispiel für eine dichterische Verwertung ohne ideologische oder wissenschaftliche Zustimmung seitens Jacobsens, vgl. Sørensen: Naturalismus und Naturphilosophie, S. 312. 30 | Vgl. hierzu Timothy Mortons auf Darwins Evolutionstheorie rekurrierendes Konzept »the mesh« (Netz, Geflecht), das die Erkentnisse von der Interdependenz aller Lebewesen und von der Arbitrarität der natürlichen Selektion zu verbinden und als neue »negative Ökoethik« zu begründen versucht (Morton, Timothy: »The Mesh«, in: LeMenager, Stephanie et al. [Hg]: Environmental Criticism for the Twenty-First Century, New York: Routledge/Francis &Taylor 2011, S. 19-30).
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rufsleben; Mogens wird Landwirt und eignet sich eine utilitaristische Perspektive auf die Natur an, die Drainierung und Kornpreise umfasst (S. 57). Der deutsche Ökokritiker Hubert Zapf sieht die Literatur als privilegiertes Medium einer »kulturellen Ökologie«, indem sie als kreative Energie zur Erneuerung der kulturellen Sphäre beiträgt.31 Bezieht man die Novelle auf Zapfs triadisches Funktionsmodell32, wäre festzustellen, dass Jacobsen die drei Funktionsweisen von ökologischer Literatur betätigt: Der Text funktioniert erstens als kritischer Metadiskurs und bilanziert die binär aufgebauten Deutungsmuster des öffentlichen Diskurses; Jacobsen leistet mit seiner literarischen Narration über die Wechselbeziehung von Kultur und Natur einen Beitrag zur Überwindung der kulturell normierten Geist-Körper- Dichotomie der Epoche. Zweitens hat der Text eine gegendiskursive, imaginative Funktion und stellt das Ausgegrenzte neu dar: die Natur und die Sexualität. Und drittens »re-integriert« er das Ausgegrenzte und lässt verschiedene »Episteme« nebeneinander existieren: das pantheitisch-romantische Naturwissen Thoras und des Erzählers, den sentimentalen Rousseauismus des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts und dazu eine neue evolutionsästhetischganzheitliche Auffasung. Diese Letztere wird aber auch im Negativum dargestellt. Die Beherrschung der äußeren und der inneren Natur und die sexuelle Emanzipation scheinen zwar das »Fazit« der Novelle zu sein; zu fragen bleibt aber, ob das existentielle Problem der Hauptperson und die umfassendere Suche nach einem neuen öko-kosmischen Bezug gelöst sind. Hier bleibt meines Erachtens ein Rest, eine Irritation im Text, die trotz oder gerade in der Schlussszene festzumachen wäre. Anders als Interpreten wie Bengt Algot Sørensen33 und Erik Østerud, die eine Harmonie und eine erfüllte Utopie: eine »Kosmopolis«34 am Schluss feststellen, würde ich einen impliziten Verlust im pittoresken »Naturkulturbild« sehen:
31 | Seine Definition in Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008: »Sie ist die selbstreflexive Inszenierung komplexer Lebensprozesse, die ihre ökologische Relevanz in der Literatur nicht nur auf einer inhaltlich-referentiellen Ebene, sondern in ihren ästhetischen Prozessen selbst entfaltet. Literatur ist in dieser Sicht eine Form kultureller Textualität, die sich in Ko-Evolution mit und im Spannungsverhältnis zum Prozess der zivilisatorischen Modernisierung herausgebildet hat und der die grundlegende Bedeutung der Kultur-Natur-Beziehung gewissermaßen als ihr generatives Prinzip eingeschrieben ist« (S. 32). 32 | Ebd., S. 33-39. 33 | Vgl. Sørensen: Naturalismus und Naturphilosophie, S. 314. 34 | »The utopia Jacobsen constructs deals with man and nature, or more precisely with the body and cosmos. It unites an anatomy with a cosmology. It extends the idea of correspondence between the body and and the universe to a social order: a cosmopolis.« (Østerud: Unravelling the Riddle, S. 116) Dieser Terminus kombiniert »Kosmos« und »Polis« und ist Stephen Toulmin enlehnt (ebd., S. 146). Auf dem Hintergrund der Darwin-Essays würde ich aber eher den Begriff des »Oikos« als nicht erreichtes Ideal hier einsetzen.
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Anna Sandberg Sie gingen mit einander in den frischen Morgen hinaus. Das Sonnenlicht jubelte über die Erde hin, es funkelte der Tau, frühzeitig wache Blumen strahlten, die Lerche zwitscherte hoch unter dem Himmel, die Schwalben jagten durch die Luft. Er und sie gingen über den grünen Anger zum Hügel nach der Niederung mit den gilbenden Roggen; sie folgten dem Pfad, der hindurch lief, Thora ging voran, ganz langsam, und sah über die Schulter nach Mogens zurück, und sie sprachen und lachten. Je weiter sie den Hügel abwärts kamen, desto mehr vom Korn kam dazwischen, bald konnte man sie nicht mehr sehen (S. 62).
Mogens und Thora verschwinden in der kultivierten Agrarnatur und gehen darin auf. Berichtet und inszeniert wird dies aber vom auktorial-biedermeierlichen Erzähler. Die Natur- und Landschaftsbeschreibung ist konventioneller und trivialisierter als diejenige in der anfänglichen Regenwetter-Szene; eine deutliche Abschwächung im sprachlichen und stilistischen Ausdruck ist darin augenfällig. Das Verstummen dieser anderen, wilderen Erzählstimme, der Wechsel vom dialogischen zum monologischen Prinzip und die Ausblendung der evolutionsästhetischen Perspektive sowie der intensiven Wahrnehmung des »Menschen« sind insgesamt eine narratologische Reduzierung und deuten an, dass die Zivilisierung nicht umsonst zu haben ist. Eine ganzheitliche Existenzweise in und mit der Natur, eine neue Kosmoökologie, erweisen sich am Ende als die unrealisierte Utopie der Novelle.
III. N IELS LYHNE UND DER DÄNISCH - DEUTSCHE TR ANSFER Im Erscheinungsjahr von Jacobsens Roman Niels Lyhne, 1880, ist die Diskussion des Darwinismus in der dänischen Öffentlichkeit und der Literatur immer noch virulent. Im Todesjahr Darwins 1882 huldigt ihn der dänisch-deutsche Grenzgänger Karl Gjellerup mit einem Darwin-Requiem. Mit mehr Ambiguität diskutiert Herman Bang in seinem Roman Hoffnungslose Geschlechter (1880) die Rolle des Darwinismus für die Bewusstseinsbildung der dänischen Jugend und zeigt anhand der Vererbungsgesetzlichkeit den Untergang des Helden, enthüllt aber auch kritisch die Lehre Darwins als Weltanschauungsmodell: Der Protagonist William Høg verwendet seine Darwin-Haeckel-Lektüre als »geistiges Chloroform«, d.i. zur Selbstbetäubung und zur Selbstrechtfertigung seines Scheiterns.35 Niels Lyhne beschreibt die Biographie eines modernen Werther, den Werdegang eines Melancholikers, Träumers und Künstlers, dessen Vorstellungen, Sehnsüchte und Ideale ihn an einer Lebensteilnahme und an einer eigentlichen Kunstpraxis 35 | Vgl. Bohnen, Klaus: »Mit den ›Augen‹ Darwins gegen den Darwinismus. Zum Verhältnis von Wissenschaftsmethode und Literaturanspruch in Herman Bangs Hoffnungslose Geschlechter«, in: Bohnen, Klaus et al. (Hg): Fin de Siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext, München: Wilhelm Fink 1984, S. 111-127.
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hindern. Er führt zwar einen Kampf für den Atheismus und die Ablösung des alten Gottesglaubens durch eine neue Religion der Lebensimmanenz und Lebensintensität, aber ans selbstentworfene »Evangelium der Gefühle« kann er letztendlich nicht selber glauben. Jacobsen stellt so den Individualismus in der säkularen Moderne zur Diskussion und fragt, ob der freigesetzte Mensch ohne Glauben zurechtkommen kann. Die Antwort des Romans ist alles andere als euphorisch- affirmativ. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Beitrag zehn Jahre früher wird kein naturreligiöser Monismus propagiert und die »evolutionsästhetische« Position wird Teil einer Radikalisierung des antagonistischen Mensch-Natur-Bezugs. Wie auch in der Mogens-Novelle ist die Erotik durch Begegnungen mit hier vier Frauen (der Tante Edele, der emanzipierten Witwe in Kopenhagen Tema Boye, der mit dem Jugendfreund Eruk verheirateten Fennimore und schließlich Gerda, seiner jungen Braut) ein tragendes Thema. Die letzten Kapitel bestehen aber aus Todesdarstellungen: Niels’ Mutter, sein kleiner Sohn und Gerda sterben. Am Ende fällt Niels als Freiwilliger im dänisch-preussischen Krieg 1864. Sentenzartig wird Niels’ letzte Einsicht im Todesbett zusammengefasst: »Es war die große Traurigkeit, dass die Seele stets allein ist. Es war eine Lüge, jeder Glaube an die Verschmelzung von Seele und Seele.«36 Die Suche nach Einheit durchströmt den Roman, was besonders im Bezug zur Natur deutlich ist. Georg Brandes versuchte seiner aktivistischen Literaturpolitik gemäß den Roman als Streitschrift über Atheismus und Sexualität zu lesen und die Fortschrittlichkeit der sozialen Moderne bestätigt zu sehen, obwohl seine Erwartungen von einer handlungsorientierten, aussagekräftigen Gesinnungsliteratur alles anders als erfüllt waren. Die deutsche Rezeption nach der Übersetzung im Jahre 1889 bedeutete aber einen Wechsel vom Entstehungskontext des nordischen Naturalismus zum Rezeptionskontext des deutsch-österreichischen Fin de Siècle in den Strömungen des Symbolismus, des Jugendstils, der Dekadenz und der Neuromantik. Zunächst aber spielte der Roman eine wichtige Rolle in der Konkurrenz um die Definition der Moderne in den beiden deutschsprachigen Zentren vor und um 1900. Im Naturalismus der Berliner Moderne wurde Niels Lyhne vorerst als Kultur- und Gesellschaftskritik funktionalisiert,37 wenig später im Ästhetizismus des jungen Wien als eine neuartige dichterische Imagination und Versprachlichung des Unbewussten entdeckt. Jacobsens Darstellung von Gefühlen, Leidenschaft, Sehnsucht und insbesondere von körperlichen Reizen, Impulsen und Nerven bedeutete eine neue literarisch-ästhetische Produktivität und trug zur Eröffung des 36 | Jacobsen, Jens Peter: Niels Lyhne, aus dem Dänischen übersetzt von Marie von Borch, hg. von Klaus Bohnen und Stuttgart: Philipp Reclam 2002, S. 216. Im Folgenden verweisen die Seitenzahlen in Klammern nach Zitaten auf diese Ausgabe. 37 | Zur Rezeption in der Berliner Moderne vgl. v.a. Bohnen, Klaus: »Vorgeschichte der ersten deutschen Ausgabe des Niels Lyhne (1889)« und »Zur Rezeption des Niels Lyhne im deutschen Sprachraum«, in: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne, hg. von Klaus Bohnen, Stuttgart: Philipp Reclam 1984, S. 224-234, S. 256-267.
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neuen Diskursfeldes der Psychologie bei. Trotz seiner Vorbehalte hat Georg Brandes durch seine Vermittlungsarbeit die Übersetzung des Romans fast zehn Jahre nach der dänischen Veröffentlichung ausgewirkt. Sein Kontakt zu und Briefwechsel mit dem Verleger und Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff führte zur Reclam-Herausgabe, die innerhalb von fünf Jahren mehr als 10.000 Exemplare verkaufte und mit einer umfangreichen Einführung von Wolff versehen war. Auf diese Ausgabe und den »dünnen abgegriffenen Reclamband« weisen die deutschen Bewunderer wie Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke hin, wenn sie im Rückblick die Lyhne-Mode erklären und erläutern sollen. Wolff vermarktet Jacobsen im Kontext des nordischen Naturalismus mit Brandes und Ibsen als Leitfiguren, indem er die naturwissenschaftliche Beobachtungshaltung des Werks und die Gesellschaftskritik akzentuiert. Obwohl er eine Erneuerung von Sprache und Stil anerkennt, und auch so weit geht, den Roman als »moderne, naturwissenschaftliche Romantik« zu etikettieren, erklärt er die Naturbeschreibung Jacobsens überwiegend literaturpolitisch und nationalideologisch. Er begründet Jacobsens Kunst im Klima, Milieu und in der Landschaft, die zu einer These von einer dänischen Volkstypologie gebündelt werden, wie die zeitgenössische geisteswissenschaftlich-positivistische Literaturtheorie Hippolyte Taines vorschrieb, die auch für Brandes eine Leitfunktion hatte. Die spezifische Natur Seelands determiniert die Menschennatur und weiter den literarischen Stil: Das dänische Volk hat in seinem Wesen etwas, das an die weichen Uferlinien von Seelands Küsten gemahnt – so etwas traumhaft sich Verlierendes, im Nebel Verschwimmendes, Zerrinendes. Und so sind auch Jacobsens Menschen. Niels Lyhne ist so und Mogens und Marie Grubbe und viele andere, sie sind weich und träumerisch und hingebend, sie haben so wenig Wirklichkeitssinn und leben am liebsten in haltlosen Nebelbildern, sie haben zu viel zarte, überzarte Empfindung und geraten darum mit der bestehenden Gesellschaftsordnung in Konflikt, stossen überall an und fallen auf Schritt und Tritt. Vielleicht kommt dieses nationale Element bei Jacobsen auch im Stil zum Ausdruck. Man sieht das am besten, wenn man diesen Stil demjenigen der neueren norwegischen Schriftsteller entgegenhält. Bei dem Dänen alles rund und weich und nebelhaft, bei den Norwegern eckig und schroff und bestimmt. 38
Dies ist ein Beispiel für das imagologische Fremdbild einer anderen Nationalliteratur, und Wolff mag damit zur Gründung des sogenannten nordischen Mythos im Deutschland der Jahrhundertwende in dieser Epoche der Nord-Süd-Bewegung der literarischen Wechselwirkungen beigetragen haben. Die Landschaft, die Gesellschaft und die Menschen werden unter einem nationaltypologischen Begriff des Träumerischen subsumiert, was als Gegenbild zum wilhelminischen Deutschland
38 | Theodor Wolffs Einleitung zur deutschen (Reclam-)Ausgabe (1889), in: Jacobsen, Jens Peter: Niels Lyhne, Stuttgart: Reclam 1984, S. 249.
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funktionierte.39 Aber auch die geringe Größe Dänemarks begründet laut Wolff die Psychologie der Figuren, sie scheitern »an der Beschränkheit der heimischen Zustände. Ihre Gedanken fliegen weit hinaus über die engen Grenzen des Zwei-Millionen Landes«40, schreibt er. Gerade seine Schwerpunktsetzung im Konfliktuellen und Oppositionellen deckt sich mit der Interpretation Brandes’, weicht aber von Jacobsens Darstellung des Versagers Lyhne ab. Jacobsen konzipierte weder den Roman bewusst als Gegenbild zur hegemonialen Kultur, noch war seine gesellschaftliche Kontextualisierung sehr ausgeprägt. Bei Jacobsen ist von keiner intendierten Nationalisierung der Landschaft die Rede und Niels Lyhnes Tod im Krieg 1864 – dessen 25. Gedenkjahr gerade 1889 in Dänemark »gefeiert« wurde – wird nicht nationalideologisch überhöht. Jacobsen bedient sich einerseits der Epochenschemata des Naturalismus von Determination und Vererbung, andererseits beschäftigt ihn die Entwicklung der Figuren nicht. Wir verfolgen den Protagonisten Lyhne auf ähnliche Weise wie Mogens durch eine Reihe von Stationen ohne Kausalität und Zusammenhang, hören aber nur von seiner stets anwachsenden Müdigkeit. Im Romanprolog bekommen wir auf naturalistische Weise die Begründung seiner psychologischen Veranlagung durch die Familiengenealogie. Niels ist das Ergebnis einer träumerischen, poetischen Mutter und eines rationalen, intelligenten und bodenständigen Vaters; die beiden führen in seiner Kindheit einen Kampf um Niels’ junge Seele. Diese kontrastvolle Zuschreibung von emotionalen und intellektuellen Dispositionen zum männlichen und weiblichen Geschlecht verwenden, wie bekannt, auch Thomas Mann zur Verfalls-Narration in den Buddenbrooks und Rainer Maria Rilke zum symbolistischen Bewusstseinsbericht in den Aufzeichnungen desMalte Laurids Brigge, beide Autoren waren Jacobsen-Verehrer. Der Prolog ist aber durchzogen von einer ironischen Erzählhaltung, welche die Gefahr der Illusionierung seitens der träumerischen Mutter immer wieder andeutet und ihren Eskapismus kritisiert: »[Sie] vergaß, was zu vergessen so naheliegt: dass selbst die schönsten Träume, das tief innerste Sehnen nicht einen einzigen Zoll zum Wachstum des Menschengeistes beiträgt« (S. 5). Sowohl Mutter als Vater werden mit biologischen Metaphern beschrieben: Die Mutter ist »eine Art tropisches Gewächs« (S. 5), das in wärmerer Luft hätte besser gedeihen können, der Vater will am liebsten »in gemütlicher Ruhe still auf seinem Zweig sitzen und den müden Kopf zum Schlummer in den weichen Flaum unter dem Flügel bergen« (S. 9). Das biologische Metaphernfeld deutet, trotz Humor und Ironie, Defizite im Ökosystem an; die Menschen sind – im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren – nicht in ihrem Milieu zu Hause. Über den rationalen Vater und praktischen Landwirt hören wir aber auch im Prolog, dass er oft »eine halbe Stunde lang an einer Heckentür oder auf einem Grenzstein 39 | Zur differenzierten Analyse von den transnationalen Bezügen der Epoche vgl. den umfangreichen Band von Henningsen, Bernd et al. (Hg.): Wahlverwandtschaften. Skandinavien und Deutschland 1800 bis 1914, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1997. 40 | Wolff: Einleitung, S. 253.
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sitzen und in seltsam vegetativer Ergriffenheit [meine Kursivierung, A.S.] auf den üppig grünenden Roggen oder den goldenen, ährenschweren Hafer starren« konnte (S. 11). Diese von den Eltern verkörperten Naturbezüge sind Vorgaben für Niels Lyhnes Suche. Die Mutter verhält sich zur Natur als Gegenraum und Gegenbegriff und nimmt eine sentimentalische Position ein. Niels Lyhne versucht viel radikaler als Mogens die Grenze zwischen Subjekt und Objekt/Natur zu überschreiten, um das Einssein mit der Natur als Physis zu erreichen. Beide Figuren agieren aber auf der Folie des »vierten Naturbezugstypus« als Ideal: die Eingliedering des Menschen in die Natur als »offenes, umgreifendes Gesamtsystem« (Oldemeyer). Die Beschreibung vom Versuch einer Transgression der Grenze zwischen Mensch und Natur bedeutet aber zunächst eine ganz andere Poetik und Sichtweise, was an einem längeren Textbeispiel gezeigt werden soll. Niels ist von einem Spaziergang durch den Wald zum Sund zurückgekehrt und sitzt jetzt am Fenster. Die äußere Natur wird auf die elementaren Bestandteile Licht, Luft und Feuer reduziert, und der Prozess ihres physiologisch-neurologischen Einwirkens auf den menschlichen Organismus, Blut und Nerven, minutiös dargestellt: Niels saß am Fenster und starrte durch die bronzefarbigen Ulmen des Walles in den Wolkenbrand. Er war vor der Stadt gewesen, unter knospenden Buchen, in grünenden Roggenfeldern, auf buntblumigen Wiesen; alles war so klar und leicht gewesen, der Himmel so blau, der Sund so glänzend, und die promenierenden Damen seltsam schön. Singend war er den Waldweg entlanggegangen – aber zuerst schwanden die Worte seines Liedes, dann legte der Rhytmus sich, zuletzt erstarben die Töne, und die Stille kam über ihn wie ein Schwindel. Er hatte die Augen geschlossen, aber er hatte doch gemerkt, wie das Licht sich gleichsam in ihn hineinsog und durch alle Nerven flimmerte, während die kühle berauschende Luft das heftig wallende Blut bei jedem Atemzug mit immer wilderer Kraft durch die machtlos bebenden Adern jagte. Es war ihm gewesen, als suchte das Keimende, Werdende, Knospende in der Frühlingsnatur sich in ihm zu einem einzigen lauten Schrei [meine Kursivierung, A.S.] zu sammeln, und ihn dürstete nach diesem Ruf, er lauschte auf ihn, und dies Lauschen ging in eine unklare, schwellende Sehnsucht über (S. 70).
Niels versucht, sich mit der Physis-Natur zu verbinden und ihre schaffende Kraft nachzumachen. Zunächst kann man sein Verlangen als eine Umkehrung des transzendental-idealistischen Naturbezugs lesen: Er unternimmt keine Kolonisierung der Natur durchs Bewusstsein, sondern ist vielmehr bemüht, sich der Natur zu unterwerfen und ihren Gesetzen zu gehorchen. In der nächsten Sequenz der Textstelle wandelt sich das Verlangen: Niels sehnt sich nach einer diesen körperlichen Reizen adäquaten Imaginationsfähigkeit; nach »Träumen« und »Bildern«, die ihn letztendlich zum entgegengesetzten Pol des Aufhörens, der Stille, der Glut und des Tods führen. In diesem Verlauf werden die Grenzen zwischen Körper und Bewusstsein verwischt, und alle Sinne werden aktiviert, um – paradox – einen Zustand zu erreichen, der jenseits des sinnlich Fassbaren, jenseits der Sprache und der Repräsentation liegt.
Natur und literarische Moderne im dänisch-deutschen Kulturtransfer um 1900 Und jetzt, wie er da am Fenster saß, erwachte die Sehnsucht von neuem. Er sehnte sich nach tausend zitternden Träumen, Bildern von kühler Zartheit entgegen: – leichten Farben, flüchtigem Duft und leiser Musik von straffgespannten, silbernen Saiten; – und dann Stille, hineien in das innerste Herz der Stille, wohin sich die Wellen der Luft nie den geringsten Laut trugen, wo alles sich in der stillen Glut roter Farben und in der harrenden Wärme feuriger Wohlgerüche zu Tode ruhte. Er sehnte sich nicht hiernach, aber es glitt hervor aus dem anderen und überschwemmte es, bis er sich davon abwandte und das eigene wieder hervorholte […]. (Ebd.)
Das Nichts ist das Ziel des Protagnonisten. Damit ist Georg Lukács’ Analyse vom Desillusionsroman zuzustimmen, dass »die Außenwelt, die mit dieser Innerlichkeit in Berührung kommt, dem Verhältnis der beiden entsprechend, vollständig atomisiert oder amorph […] sein muss«41 . Man könnte aber auch sagen, dass die Extremzustände von Leben, Fülle und Schrei bis zu Tod, Leere und Stille42 die Koordinaten eines selbstgeschaffenen Kosmos werden, der als eine Umwandlung der Öko-Kosmologie im Darwin-Essay, als Regress statt Progress, zu sehen ist.43 Der Prozess endet negativ; im letzten Schritt kehren Bewusstsein und Selbstreflexion wieder und trennen den Menschen endgültig von der Natur:
41 | Lukács:Theorie des Romans, S. 115. 42 | Vgl. die Diskussion Sørensens von der Spannung zwischen Lebensflucht und Lebensbejahung bei Jacobsen, die gerade in der deutschen Variante der europäischen Dekadenz Resonanz fand. Sørensen, Bengt Algot: »Dekadenz und Jacobsen-Rezeption in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende«, in: Funde und Forschungen, Odense University Press 1997, S. 285-307. 43 | Gottfried Benn hat mehrmals, sowohl in seinen dichterischen Anfängen als im späteren Werk, über die »vegetative Ergriffenheit« des älteren Lyhne gesprochen, die Niels hier zu durchleben scheint. Benn versteht diesen Zustand als eine Kritik am Evolutionsgedanken, anstatt Linearität ein Zirkel- oder sogar Kurzschluss: »Es ist wie ein Kreis, der sich schließt: das Resultat millionenjähriger Entwicklung, das Hirntier, das Zerebralgeschöpf, nun wird es zurückgezogen zum Vegetativen, Pflanzlichen.« Benn, Gottfried: »Gespräch« (1910), zitiert nach: Bauer, Conny: »Die Rezeption Jens Peter Jacobsens in der deutschsprachigen Kritik 1890-1910«, in: Bohnen, Klaus et al. (Hg.): Fin de Siècle. Zur Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext (= Text und Kontext Sonderreihe, Bd. 20), München: Wilhelm Fink Verlag 1984, S. 139. Jahrzehnte später erfindet Benn in einem Brief an F.W. Oelze den Terminus »Geopathie« als Kontraktion von Apathie und Geographie zur Bezeichnung von der Entfaltung von geistig-meditativen Zuständen in der Begegnung mit Natur. Im Brief Gottfried Benns an F.W. Oelze 1937, zitiert nach: Müller-Seidel, Walter: »Zwischen Darwinismus und Jens Peter Jacobsen. Zu den Anfängen Gottfried Benns«, in: Bohnen, Klaus et al. (Hg.): Fin de Siècle, S. 161.
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Anna Sandberg Er war seiner selbst, der kahlen Gedanken, der Kopfträumen müde. Das Leben ein Gedicht! Nein! Nicht wenn man nur umherging und an seinem Leben herumdichtete, anstatt es zu leben. Wie inhaltslos es war, leer, leer, leer. (Ebd.)
Dieser Leerlauf kann als eine Kritik an der subjektphilosophischen Tradition und am Vorrang des Bewusstseins, das Seiende zu konstituieren, gedeutet werden. Es gelingt dem Menschen keine dauerhafte Selbsterneuerung, er erstarrt in einer Art solipsistischen Bewegung; die Natur-Ich-Relation wird zur Ich-Ich-Relation. Die Frage ist aber, wie sich die »evolutionsästhetische« Perspektive aus den Darwin-Essays und der Novelle im Roman behauptet. Die oben analysierte »implosive« Naturrelation steht gewiss nicht allein im Roman da, sondern wird von einer extensiven und explosiven Landschaftsbeschreibung ergänzt, ja fast »herausgefordert«; eine Landschaft, die während der ersten und letzten Auslandsreise Niels’ mit seiner todkranken Mutter erlebt wird. Sie hat sich zeitlebens nach dem Fernen gesehnt, wird jedoch bei der Erfahrung der südlichen Natur Europas nur enttäuscht. Unbefriedigt fahren Mutter und Sohn weiter, um zu sehen ob es denn »keinen Ort gäbe, den sie als Fleck jener erträumten Welt wiedererkennen könne« (S. 97). Die Endstation ist schließlich die Schweiz, ausgerechnet Rousseaus Clarens, Julies Ort, der literarische Erinnerungsort par excellence. Hier wird der Frühling beschrieben und der Botaniker Jacobsen verlebendigt im nahezu enzyklopädischen, vor allem aber poetischen Bericht die Flora des schweizerischen Biotops: Um sie her wurde das schönheitsschwangere Fest des Frühlings gefeiert, die weißen Schneeglöckchen läuteten es ein, die geäderten Becher der Krokusblume grüssten es jubelnd. Hundert kleine Bergströme stürzten kopfüber hinab ins Tal, um zu melden, dass der Frühling gekommen sei, und alle kamen sie zu spät, denn wo sie an grünen Grabenkanten vorüberkamen, standen Primen in Gelb und Veilchen in Blau und nickten: wir wissen schon, wir wissen schon, wir haben es früher gemerkt als du. Die Weiden hissten die gelben Wimpel, und krauses Farnkraut und samtweiches Moos hängten grüne Girlanden an die nackten Weinbergmauern, während Tausende von Nesseln den Fuss der Mauer mit langen Verbrämungen in Braun und Grün und mattem Purpur verbargen. Das Gras breitete seinen grünen Mantel weit und breit aus, und viele hübsche Kräuter setzten sich darauf, Hyazinthen mit Blumen wie Sterne und Blumen wie Perlen, Tausendschön zu Millionen, Enzian, Anemonen und Löwenzahn und hundert andere Blumen […]. Mitten in all dieser Schönheit saß sie mit unbefriedigter Schönheitssehnsucht im Herzen […] (S. 99).
Dieser Ausschnitt aus der viel längeren, einfühlsamen Detailbeschreibung der schweizerischen Landschaft und der Floristik profiliert die Entfremdung des Menschen von der Natur in aller Deutlichkeit. Die intensive Deskription des Wachsens und Blühens entspricht negativ dem Absterben der Mutter, die mit der Hoffnung auf eine Lebenserfüllung im Jenseits ausatmet. Schuld an dieser Konkurrenzsituation zwischen der Vitalisierung der Natur auf der einen Seite und der Entkräftigung des Menschen auf der anderen hat der Mensch selbst mit seinem Vorstel-
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lungsvermögen und seiner Subjektivität. Jacobsen stellt hier nicht bloß die Natur als schöne Todeskulisse dar, sondern als Agens: Wasser, Blumen und Pflanzen sind Akteure in einem Prozess des Werdens, sie machen die Präsenz einer Schönheit aus, die in sich selbst Wert hat. Diese Spielart einer Evolutionsästhetik, die auch mit der romantisch-pantheistischen Beschreibungstraditon (aus der MogensNovelle) hybridisiert wird, dient dazu, die Dichotomie zwischen Natur und Kultur und die »selbstverschuldete« Aussperrung des Menschen von der Sphäre des Naturschönen zu zeigen. Die Stilmittel der Personifizierung und Anthropomorphizierung verwendet Jacobsen mit dem Zweck einer Umwertung des Mensch-NaturBezugs. Die Natur scheint in diesem Wechselspiel eine Superiorität zu behaupten, denn die Blumen wissen mehr als die Menschen. Damit verwendet Jacobsen eine Technik der Spiegelverkehrung oder Verzerrung des antizivilisatorischen, sentimentalen Naturbezugs. Nicht zufällig ist daher die Wahl des Erinnerungsorts: Die Initiation der Empfindsamkeit, die mit Rousseau gefeiert wurde, gelangt hier an ihr Ende, der Ort wird als Warnung vor Sehnsucht und Schwärmerei topologisiert. Zusammenfassend kann man sagen, dass Niels Lyhne die Tragik der »Exterritorialität des Subjekts« (Oldemeyer) und die »transzendentale Obdachlosigkeit« (Lukács) vorzeigt: Es wird weder eine »öko-kosmologische« Vision gefeiert noch ein »Oikos«, verstanden als ein existentielles Zuhause, dargestellt. Jacobsen befindet sich mitten im neuen Naturbezug des 19. Jahrhunderts, zeigt aber, dass dieser ein Desiderat und ein Sehnsuchtsziel bleibt. Jacobsens Innovationen sind also erstens zu verstehen als eine neue »Evolutionsästhetik«, die aber als Sinnsystem verworfen wird, und zweitens als die Neubeschreibung von inneren Zuständen, wo kurzfristig und momentweise eine interdependente Relation zwischen Natur-Physis und Menschen-Physis erreicht wird. Diese neue Deskription hängt eng mit einer neuen künstlerischen Form zusammen, welche die gängigen Dichotomien von Kultur-Natur, Geist-Körper und Form-Inhalt neu verhandelt, aufweicht und teilweise suspendiert. Gerade diese poetologische Verfahrensweise wird in der deutschsprachigen Literatur der folgenden Jahrzehnte produktiv und zum Signum der ästhetischen Moderne. Hugo von Hofmannsthals Lyhne-Lektüre 1893 ist ein Beispiel dafür, wie der Roman die Neudiskursivierungen von Bewusstseinszuständen in der Literatur und Psychologie um 1900 mitanregt. Hofmannsthal bemerkt, ähnlich wie Gottfried Benn, das »Pflanzenhafte« an der vegetativen Ergriffenheit Lyhnes,44 und stellt hier das Novum der »Form der Seele« fest:
44 | Hofmannsthal, Hugo v.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M.: Fischer 1959, S. 101.
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Anna Sandberg Mai. Jens Peter Jacobsen. Was er zuerst dargestellt hat; das Doppelsehen, gleichzeitig real und stilisiert. In den alten psychologischen Romanen (»Werther«, »Adolphe«, »Manon Lescaut«) wird der Inhalt des Seelenlebens dargestellt, bei Jacobsen die Form davon, psychiatrisch genau beobachtet; das Sichdurchkreuzen, das Aufflackern und Abirren der Gedanken, die Unlogik, das Brodeln und Wallen der Seele. Der schnelle Ekel, das Verweilen und Glanzloswerden der Dinge, die Farbenfreude und Farbensehnsucht – neuropathischer Idealismus.45
Die Seele wird in dieser Lesart des Textes also neu semantisiert. Neurologie, Pathologie und Idealismus kürzt Hofmannsthal zur innovativen Formel, welche die Polarisierung von Modernität und Tradition in den literaturpolitischen Zuordnungsversuchen des Romans zu überbrücken vermag. Diese Analyse ist ein Signal für die Beteiligung der Literatur an der Entstehung der modernen Humanwissenschaften um 1900. Gottfried Benns »Geopathie« ist ein anderes Beispiel, und eine weitere Parallele wäre Thomas Manns Darstellung von Tonio Krögers mystischer Entrücktheit angesichts der Unendlichkeit des Meeres.46 Sigmund Freuds Leseerlebnis 1895 bedeutet noch eine weitere organologische Metapher: »[D]er Jacobsen hat mir tiefer ins Herz geschnitten, als irgendeine Lektüre der letzten neun Jahre«, schreibt er,47 und zahlreiche zusätzliche Briefstellen und Kurzrezensionen von Autoren wie Zweig, Rilke, Musil, Thomas Mann und Hesse zeugen davon, dass der Roman Jacobsens im transnationalen Transfer eine neue literarische Imagination veranlasst und eine neue Begrifflichkeit mit sich führt, die letztendlich auch ein erweitertes Verständnis vom Menschen bedeutet. Die »re-integrative und re-generative Funktion« von Literatur nach Hubert Zapfs Modell wird nicht textintern, im Roman selbst, sondern textextern, in der Wirkungs-und Rezeptionsgeschichte, erreicht. Jacobsens Alternative einer »Evolutionsästhetik«, die besonders in den Landschaftsbeschreibungen entfaltet wird, kann man als eine neue Ökopoetik verstehen. Diese ist aber in der Folgezeit kaum als modern wahrgenommen worden – vielleicht ist das kritische Potential dieser Perspektive erst auf dem Hintergrund vor den Umweltkrisen und dem Klimawandel des 20. Jahrhunderts zu sehen. Jacobsens Kunstwerk nimmt in diesem Sinne an einem kreativen Evolutionsprozess oder poetischen »Recycling« teil, das auch heute noch zu einer Revitalisierung unserer Wahrnehmung von der Natur beitragen kann.
45 | Ebd., S. 100. 46 | Vgl. Sørensen: Dekadenz und Jacobsen-Rezeption, S. 300. 47 | Zitiert nach Sørensen: Dekadenz und Jacobsen-Rezeption, S. 287.
Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor Zu Ansätzen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten Axel Goodbody Ausgangspunkt dieses Aufsatzes war die Beobachtung von Parallelen zwischen Aspekten des neueren Heimatdiskurses im deutschsprachigen Raum und Entwicklungen in der internationalen Gesellschafts- und Kulturtheorie sowie dem englischsprachigen Ecocriticism (d.i. der ökologisch orientierten Literatur- und Kulturwissenschaft). Einerseits handelt es sich dabei um den etwa gleichzeitigen Verlauf der Wiederentdeckung des Raumes als zentrale Kategorie in der Gesellschaftstheorie1 mit dem Wiederaufleben öffentlichen Interesses an Heimat und der Umdeutung des Begriffs in Richtung eines dynamischen, aktiven, offenen und pluralen Bezugs zu ihr, der nicht mehr allein durch emotionale Bindung an den Geburts- oder Wohnort bestimmt wird, sondern gewissermaßen deessentialisiert und deterritorialisiert worden ist.2 Andererseits besitzt der Trend zur Ablösung von local durch global (d.i. von ortsbezogener Identität durch Kosmopolitanismus als Umweltbewusstsein fördernder Schlüsselfaktor3) in den ökokritischen Debatten 1 | Das neue Interesse am Raum begann in den 1970er Jahren (beispielsweise mit Henri Lefebvres einflussreicher Studie zur sozialen Produktion des Raumes und Yi-Fu Tuans Ausführungen zur Bedeutung räumlicher Verwurzelung für menschliche Identität und Wohlbefinden). Neue Raumkonzepte wurden aber vor allem in den 1980er und 1990er Jahren im Zeichen der Postmoderne, der Migration und der Globalisierung entwickelt (etwa bei David Harvey, Edward Soja, Andreas Huyssen, Homi Bhabha und Arjun Appadurai). 2 | Friederike Eiglers kürzlich erschienener Aufsatz »Critical Approaches to Heimat and the ›Spatial Turn‹« (in: New German Critique 115, Bd. 39, Nr. 1 [Winter 2012], S. 27-48) bietet einen hilfreichen Überblick über die neueren Raumkonzepte sowie die Entwicklung des Heimatbegriffs und die diesbezügliche Forschung. 3 | Siehe hierzu v.a. Heise, Ursula: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global, Oxford: Oxford University Press 2007.
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des letzten Jahrzehnts eine bisher kaum beachtete Ähnlichkeit mit neuen Ansätzen in der Heimattheorie seit ihrer ›ökologischen Wende‹ in den 1970er Jahren.4 Zu den wichtigsten dieser Ansätze gehört die wachsende Erkenntnis der zunehmenden Verbundenheit heimatlicher Orte mit der weiteren Region, der Nation, der EU und der ganzen Welt infolge der Ausbreitung des internationalen Handels, größerer Mobilität und der ökologischen Konsequenzen der Produktion und des Konsums. Da Heimat noch oft mit Stasis und Nostalgie verbunden und als notwendigerweise regressiv, exklusiv und rassistisch gesehen wird, wird die Entwicklung des Heimatbegriffs und der Heimatliteratur im Laufe des 20. Jahrhunderts im Folgenden in groben Zügen nachgezeichnet, aus der doppelten Perspektive der Rolle des Räumlichen bei der Identitätsbildung und der des Heimatgefühls für das Umweltverhalten. Anschließend wird anhand von drei Romanen aus der Zeit um 1900 (Bruno Willes Offenbarungen des Wachholderbaums, Hermann Hesses Peter Camenzind und Josef Pontens Siebenquellen) rückblickend gefragt, ob nicht Spuren des heutigen Heimatverständnisses in der Literatur der Jahrhundertwende zu finden sind. Abschließend wird überlegt, ob die Analyse der behandelten Romane Aufschluss über die Stellung der literarischen Repräsentation und Imagination im Heimatdiskurs (wenigstens im Zeitraum um 1900) geben kann.
H EIMATBE WEGUNG UND H EIMATBEGRIFF UM 1900 Es besteht generelle Einigkeit darüber, dass der Wert der Heimatbewegung um 1900 dadurch entscheidend begrenzt war, dass ihre neoromantische Idealisierung der Vergangenheit Zivilisationsfeindschaft förderte, und eine konkretere Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen der Moderne erschwerte.5 Der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat und die Gründung des Deutschen Reiches führten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts breite Kreise des Bürgertums dazu, Rückschau zu halten. Neben den Gewinnen (die erstarkte Nation, wirtschaftliches Wachstum, ein großer Zugewinn an Lebensqualität für die meisten) waren auch Verluste bemerkbar geworden: Zerstörungen der vertrauten Stadt- und Landschaftsbilder durch Errichtung hässlicher Mietskasernen, Erschließung immer 4 | Siehe Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München: Beck 1979, besonders das Kapitel »Heimat – wieder aktuell?«, S. 19-34. 5 | Siehe Ditt, Karl: »Die deutsche Heimatbewegung 1871-1945«, in: Cremer, Will/Klein, Ansgar (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, Bd. 1, S. 135-154, hier S. 153. Neben Ditts Aufsatz stützen sich die folgenden Ausführungen vor allem auf Hermann Bausingers Überblick über die Entwicklung des Heimatbegriffs: »Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte«, in: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Heimat heute, Stuttgart et al.: Kohlhammer 1984, S. 11-27.
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größerer Landflächen und die Verabschiedung sogenannter deutscher Werte und Ideale zugunsten »schrankenlosen Materialismus«. Die Heimatvereine, die in bürgerlichen Kreisen, vor allem in mittelgroßen und kleineren Städten entstanden, widmeten sich daher der Erforschung, Bewahrung und Pflege von der kulturellen Überlieferung in ihrer näheren Umgebung. Sie verfolgten teils ästhetische, teils emotionale Interessen (etwa Lokalstolz und Sorge um die Zukunft in einer Zeit des schnellen Wandels). Natur und Zeugnisse kultureller Tradition wurden gleichermaßen geschätzt als Bollwerke gegen die rapiden Veränderungen. Einflüsse aus dem westlichen Ausland abwehrend sowie von den sogenannten vaterlandslosen Gesellen im Inneren, stärkten Teile der Heimatbewegung nicht nur die konservativen Gemeinschaftsvorstellungen, sondern auch das politischkulturelle Sendungsbewusstsein im deutschen Reich.6 Bei einer Minderheit der Mitglieder herrschte die Vorstellung einer nicht nur geschichtlich-kulturellen, sondern auch biologischen Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem Volk und seinem Raum, zu Gemeinschaft und Heimat. Heimat wie Volkstum waren damit zwar Begriffe der Identifikation und Integration, aber auch der Exklusion. Diese nationalistische und politisch reaktionäre Aufladung von Heimat begünstigte die spätere Vereinnahmung der Bewegung durch die Nationalsozialisten. Als ängstliche, rückwärtsgewandte Reaktion auf die heftigen sozialen Modernisierungsschübe im Kaiserreich ist die Heimatbewegung also zu verstehen, als eine Antwort auf Landflucht, Verstädterung, kulturelle Nivellierung und Verlust regionaler Vielfalt, industrielle Verschmutzung und Landschaftsverbrauch, die gefährlich war, weil sie leicht politisch instrumentalisiert werden konnte. Dass dieses quasiuniverselle Nebenprodukt der Modernisierungsschübe des späten 19. Jahrhunderts in Deutschland besondere gesellschaftliche Bedeutung erlangte, wird in der Regel durch die bürgerliche Sonderentwicklung Deutschlands erklärt. Der relativ fortgeschrittenen industriellen Entwicklung standen weiterhin traditionelle politische und soziale Strukturen gegenüber: Weite Kreise des Bürgertums blieben ohne politische Entfaltungsmöglichkeit. In dieser Beschränkung diente das bürgerliche Heimatbild als Wunschtraum, in dem die Spannungen der Wirklichkeit scheinbar ausgeglichen waren.
H EIMATROMAN UND R OMANE DER H EIMATKUNSTBE WEGUNG Die Aktivitäten der Heimatvereine und die Vermittlung ihrer Ziele durch den Heimatkundeunterricht in der Schule wurden durch die Heimatkunstbewegung begleitet, die positive heimatliche Werte zur Geltung zu bringen suchte, im bewussten Gegensatz zur sozialen Elendsdichtung der Naturalisten und zur sogenannten Asphaltliteratur Münchens und Berlins. Bei ihrer Entstehung in den 1870er und 1880er Jahren war die Heimatliteratur nicht pauschal antimodern: So6 | Siehe Ditt: Die deutsche Heimatbewegung, S. 153.
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wohl bei Ludwig Anzengruber als auch beim frühen Peter Rosegger und Wilhelm von Polenz findet man liberale und realistische Tendenzen.7 Wohl aber war sie von einer grundsätzlichen Ambivalenz gezeichnet: Volksaufklärung ging mit regressiver Nostalgie einher. Der frühe Heimatroman wurzelte in der Dorfgeschichte, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge der Romantik zentrale Bedeutung erlangt hatte, und in der idyllische Naturbeschreibungen ein Leben der Menschen in Harmonie mit der Natur vorspielten. Im Zentrum der Erzählung stand in der Regel eine Störung des dörflichen Friedens, welche am Ende durch die Bestrafung der zumeist fremden Störenfriede und das Zueinanderfinden der Liebenden wiederhergestellt wurde. Werte wie Fleiß, Ordnung, Disziplin und Pflichterfüllung wurden beschworen. Heimat erweist sich also in dieser Gattungsform als ein auf einen geographischen Raum bezogenes kollektives Ordnungssystem. Unter den späteren Heimatromanen, die im Umkreis der Heimatkunstbewegung um die Jahrhundertwende entstanden, haben Karlheinz Rossbacher und andere zwischen liberal, agrarisch-konservativ und völkisch ausgerichteten unterschieden. Vor allem im völkischen Bauernroman, der von Adolf Bartels’ Die Dithmarscher (1898) und Hermann Löns’ Der Wehrwolf (1910) exemplifiziert wird, findet man Einkreisungsphantasien und einen Aufruf zur militanten Verteidigung von Gut und Blut. Optimismus, Emotionalität und Ländlichkeit fanden ihre Erfüllung in dem Bild des einfach-natürlichen, schollengebundenen Bauerntums, wie Thomas Dupke in seiner Studie von Löns’ Werk ausführt.8 Den Gegenpol bildete entweder die Stadt oder, wie bei Löns im Wehrwolf, der Krieg: diese wurden mit fremden Einflüssen, Chaos, Verbrechen, Zerstörung und unkontrollierter Sexualität assoziiert. Vermeintlich »echte« Gefühle und Triebe wurden allerdings glorifiziert. Vor allem die eigenartige Synthese von Gewalt und Sentimentalität in diesen Werken faszinierte die Zeitgenossen: Löns vermischte Elemente der Ideen Nietzsches mit Schlagworten der konservativen Kulturkritik (etwa von Julius Langbehn und Paul de Lagarde). Auch die liberalen und gemäßigt konservativen Romane im Umkreis der Heimatbewegung vermittelten eine Oppositionshaltung gegenüber Verstädterung und Industrialisierung, Internationalismus und Intellektualismus und ein Gefühl der Bedrohung der heimatlich vertrauten Lebensweisen sowie die Vorstellung einer möglichen Erneuerung des Menschen durch Volkstum, Natur und organisches Landleben.
7 | In diesem Abschnitt stütze ich mich weitgehend auf Peter Zimmermanns Überblickskapitel: »Heimatkunst«, in: Tromler, Frank: Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus. 1880-1918 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hg. von Horst Albert Glaser, Bd. 8), Reinbek: rowohlt 1982, S. 154-168. Differenzierter geht Karlheinz Rossbacher in seiner detailreichen Studie vor: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart: Klett 1975. 8 | Siehe Dupke, Thomas: Mythos Löns: Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1993, S. 126-162.
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D IE R EHABILITIERUNG VON H EIMAT SEIT DEN 1970 ER J AHREN Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Erfahrung einer anderen Art von Verlust der Heimat das Leben von Millionen von Deutschen geprägt, die aus dem Osten Europas vertrieben worden waren. Die Herausforderung an die bundesrepublikanische Gesellschaft, die ihre Integration darstellte, ist in zahllosen populären Romanen und Filmen erkennbar, in denen die Sehnsucht nach Heimat Ausdruck fand. In der wissenschaftlichen Diskussion wurde die Bedeutung solcher ortsbezogenen Gemeinschaftsgefühle allerdings lange nicht anerkannt: zu sehr war der Begriff »Heimat« mit Revanchismus verbunden und vom Geruch von Blut und Boden belastet. In den 1960er Jahren kam ein zweiter Grund hinzu, warum Heimat nicht mehr zeitgemäß erschien: die Vorstellung einer lebenslangen, innigen Verbindung mit dem Geburtsort entsprach der Lebenserfahrung in einer durch gesteigerte Mobilität charakterisierten Moderne immer weniger. War Heimat jetzt nicht bloß Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des wirklichen Lebens ausgeglichen wurden? War sie jemals mehr gewesen als soziale Gegensätze harmonisch versöhnende »schöne Spazierwelt«?9 Die Rehabilitierung des verpönten Begriffs fing in den frühen 1970er Jahren an, als die deutsche Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus die in Amerika von Robert Ardrey entwickelte Vorstellung der Territorialität des Menschen auf deutsche Verhältnisse anwendete. Es gebe ein psychisches Grundbedürfnis nach Heimat als naturnaher Landschaft (oder natürlichen Elementen in der Stadt), argumentierte sie, ebenso wie nach sozialer Umwelt, sei es in Familie, Betrieb, Vereinen, oder in einer kulturell-sprachlichen Gemeinschaft. Heimat sei ein unabdingbarer Raum der Identität, an deren Gestaltung der Einzelne auch aktiv beteiligt sein müsse. Es sei sogar eine Hauptaufgabe des Staates, jedem Bürger die Chance zu geben, sich eine Heimat anzueignen: Heimatbedingungen zu schaffen als politische Aufgabe zielt über die quantitative und notwendige Verbesserung von Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit hinaus auf die Unterstützung des Menschen bei seiner je eigenen und damit alternativen Einrichtung in einem Territorium, das er sich als »Heimat« aktiv und selbstgestaltend aneignen möchte. Die Lebensqualität Heimat ist weder angeboren noch kann sie verordnet werden, sondern sie ist eine Leistung des tätigen, sich Umwelt aneignenden Subjekts. Ihm reale Chancen für dieses selbstbestimmende Handeln zu geben, ist die »politische Aufgabe Heimat«10 .
In Die Unwirtlichkeit unserer Städte hatte Alexander Mitscherlich schon Mitte der 1960er Jahre von der Notwendigkeit geschrieben, Stadtbewohnern ein bestimm9 | Der Begriff ist Bausinger: Auf dem Wege, S. 15 entnommen. 10 | Greverus: Auf der Suche, S. 17. Das Kapitel ist die erweiterte Fassung eines 1974 gesendeten Rundfunkvortrags.
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tes abgegrenztes Territorium oder Revier anzubieten, mit dem sie sich verbunden fühlen konnten.11 In diesem neuen Heimatverständnis wurde die Stadt also nicht mehr pauschal als Gegensatz von Heimat abgetan: Genauso wie das Land könnte und sollte Stadt Heimat sein. Heimat gebe Antwort auf die Frage »Wer bin ich und wohin gehöre ich?« Sie sei die menschliche wie räumliche Umwelt, an die wir uns rational wie emotional gebunden fühlen und die individuelle wie kollektive Identität ermögliche. Diese positive Umdeutung des Begriffs wurde durch die Entstehung der Bürgerinitiativbewegung begünstigt. Heimatgefühl als Sehnsucht nach einem Ort, in dessen Überschaubarkeit und Unverwechselbarkeit man sich wiederfinden kann, nach Geborgenheit, menschlicher Nähe und Vertrautheit, war eine Antwort nicht nur auf die Infragestellung der Identität durch gesellschaftliche Modernisierung und wachsende Entfremdung, sondern auch auf die Bedrohungen der natürlichen Umwelt. Man erkannte, dass die aus persönlichen Erinnerungen entstandene Empfindung lokaler Ortszugehörigkeit eine wichtige Motivation für Engagement für die Umwelt darstellte. Andererseits entstand Heimatgefühl gerade aus dem Prozess der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Umweltproblemen und anderen gesellschaftlichen Anliegen, aus tätiger Aneignung und Beeinflussung von Orten und sozialen Strukturen. Norbert Mecklenburgs wichtige Studien zur Heimatliteratur der Nachkriegszeit Erzählte Provinz und Die grünen Inseln fielen zwar mit diesem neuen Heimatdiskurs zeitlich zusammen. Jedoch rechnete Mecklenburg mit den verschiedenen Spielarten zeitgenössischer deutschsprachiger Heimatliteratur recht kritisch ab: Die meisten Zeugnisse der literarischen Heimatwelle seien nichts mehr als eine affirmative Entpolitisierung des politischen Regionalismus demokratischer Basisbewegungen gegen die strukturelle Gewalt der Apparate wie der Antiatom-, Ökologie-, und Friedensbewegung.12 Region und Provinz (Begriffe, die Mecklenburg an die Stelle von Heimat setzt) seien allzu oft weiterhin als Exotikum behandelt oder mit Ideologie weiterhin befrachtet. Seit den 1990er Jahren hat es aber neue Bestandsaufnahmen der Behandlung des Themas Heimat in der Literatur und im Film gegeben, die die Notwendigkeit, den Einzelnen in einer zunehmend mobilen bzw. globalisierten Gesellschaft zu verorten, zum Ausgangspunkt nehmen und zu einem positiveren Urteil über die Leistung deutscher Schriftsteller bzw. Regisseure in diesem Zusammenhang gelangen.13
11 | Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965. 12 | Mecklenburg, Norbert: Die Grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes, München: Iudicium 1986, S. 66-68. 13 | Siehe etwa Rosenstein, Doris: »›Heimat‹-Bilder«, in: Kreuzer, Helmut (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte der achtziger Jahre, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1996, S. 59-97; und Boa, Elizabeth/Palfreyman, Rachel: Heimat. A
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Nach diesem knappen Überblick über die Entwicklung des Heimatverständnisses und der Heimatliteratur soll der Frage nachgegangen werden, welche Aspekte des gegenwärtigen (zunehmend dynamischen, aktiven, offenen und pluralen) Verständnisses von Heimat, wenn auch nur im Ansatz, in Romanen der Jahrhundertwende auszumachen sind – gewissermaßen als Gegenentwürfe zur oben beschriebenen, dominanten (statischen, exklusiven und nationalistischen) Heimatvorstellung der Zeit.
B RUNO W ILLE , O FFENBARUNGEN DES WACHHOLDERBAUMS Der Populärphilosoph, linke Publizist und religiöse Freidenker Bruno Wille war ein führendes Mitglied des 1890 gebildeten Friedrichshagener Dichterkreises, jener losen Vereinigung, die zur Wiege lebensreformerischer, politischer, religiöser und kultureller Ideen und Initiativen in Deutschland um die Jahrhundertwende wurde. Freund und Mitarbeiter von Wilhelm Bölsche, Heinrich und Julius Hart, auch zeitweise von Rudolf Steiner und Gustav Landauer, vertrat er eine von Nietzsche beeinflusste Philosophie der Befreiung, in der Abkehr vom Leben in der Stadt und Hinwendung zu einer einfachen Lebensweise in der Natur eine zentrale Rolle spielten. Sein Weltbild war durch den Pantheismus Goethes und insbesondere den psychophysischen Monismus Gustav Fechners und Ernst Haeckels nachhaltig geprägt.14 Er stand in enger Beziehung zur Neuen Gemeinde, in der Heinrich und Julus Hart die um die Jahrhundertwende von der zeitgenössischen Philosophie und Naturwissenschaft untermauerten und in populärwissenschaftlichen Schriften wie Haeckels Die Welträthsel (1899) und Bölsches Das Liebesleben in der Natur (1899-1902) verbreiteten monistischen Vorstellungen einer Weltseele und der kosmischen Einheit des Menschen mit Pflanzen, Tieren und den Himmelskörpern zwischen 1900 und 1903 in Lebenspraxis umzusetzten versuchten, und war Mitbegründer des Deutschen Monistenbundes im Jahr 1906. Willes 1901 erschienener Roman, der den Untertitel Roman eines Allsehers trug,15 vermittlete in Erzählform die Vorstellungen Haeckels und Bölsches des Alls als harmonische Einheit von Geist und Materie sowie der Fähigkeit von ästhetiGerman Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890-1990, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 194-212. 14 | Siehe Jacobsen, Eric Paul: From Cosmology to Ecology. The Monist World-View in Germany from 1779 to 1930, Oxford etc.: Peter Lang 2005, besonders S. 257-277; auch Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus und die Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen: Niemeyer 1993 (zu Wille S. 135-136). 15 | Erstausgabe Pfullingen: Baum 1901. Im Folgenden wird aus der zweiten Auflage mit Angabe des Bandes und einfacher Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert: Wille, Bruno: Offenbarungen des Wachholderbaums. Roman eines Allsehers. 2 Bde., Leipzig: Eugen Diederichs 1903.
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scher wie wissenschaftlicher Anschauung der Natur, Ahnungen bzw. Kenntnisse von der Weltseele zu ermöglichen. Wille war keineswegs der einzige Schriftsteller, der die vermeintlichen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse der Zeit von einer kosmischen Einheit in literarischen Werken zu verbreiten und zu vertiefen suchte.16 Er nimmt in seinem Roman direkten Bezug auf Goethe, Spinoza, Fechner und Jacob Böhme, wobei dessen christliches Weltbild durch eine Religion der Versöhnung mit der Natur abgelöst wird. (Wille war selbst Prediger und spielte eine führende Rolle in der Freireligiösen Gemeinde in Berlin.) Seine als Gegenentwurf zu dem immer abstrakter werdenden Weltbild der modernen Naturwissenschaften zu verstehende Auffassung einer beseelten Natur steht der Naturreligiosität nahe, die eine wichtige Strömung in der grünen Bewegung seit den 1980er Jahren gebildet hat. Mit seinem Glauben, alle Wesen seien »im Innersten Eins« (Bd. 2, S. 20) und seiner Beseelung der Natur ist Wille auch ein Vordenker des ökologisch ausgerichteten Panpsychismus, den die australische Philosophin Freya Mathews ein Jahrhundert später in ihren Büchern For Love of Matter und Reinhabiting Reality17 entwickelt hat. An manchen Stellen kommt Willes Panpsychismus der Gaia-Hypothese James Lovelocks nahe, beispielsweise wenn er behauptet, nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Steine seien sich selbst erlebende, Bewusstsein besitzende Wesen. Auch Luft, Wasser und Staub seien »Glieder eines Organismus« und die Erde »eine geschlossene, sich erhaltende und seine Harmonie steigernde Einheit« (Bd. 1, S. 179 und S. 289). Darüber hinaus verkörpert Willes Naturphilosophie ein Grundprinzip der Tiefenökologie von Arne Naess, indem sie der Natur Eigenwert und Subjektivität zuschreibt und ihrem bedenkenlosen Verbrauch so einen Riegel vorschiebt. Schließlich klingt in seinen Vorstellungen der Natur als lebender »Umleib« oder »erweiterter Leib« des Menschen, anhand dessen er kommuniziert und wahrnimmt (Bd. 2, S. 16, 18), und des Alls als »unermessliches Geflecht von Mitteilungen« (Bd. 2, S. 115) Jakob von Uexkülls Umwelttheorie an, die heute wieder Interesse im Rahmen der Biosemiotik erweckt. Die Handlung im Geheimnis des Wachholderbaums ist unverkennbar als Vehikel zur Artikulierung und Veranschaulichung von Willes Philosophie konstruiert. 16 | Fick weist den Niederschlag monistischen Gedankenguts in so unterschiedlichen Werken nach wie den Romanen Robert Musils und Ricarda Huchs, den Essays Richard Dehmels und Julius Harts, den Dramen Gerhart Hauptmanns und der Lyrik von Hugo von Hofmannsthal und Arno Holz. Im Kinderbuch der Zeit ist er auch in Waldemar Bonsels’ Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912) anzutreffen. Den Monismus beschreibt sie als zugleich Voraussetzung, Kernelement und gelegentlich Objekt der Kritik der (neuromantischen) literarischen Hauptströmung um 1900, die sich »Moderne« nannte (Fick: Sinnenwelt, S. 354-365). 17 | Mathews, Freya: For Love of Matter. Contemporary Panpsychism, Albany, NY: SUNY Press 2003; dies.: Reinhabiting Reality. Towards a Recovery of Culture, Albany, NY: SUNY Press 2005.
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Ganze Kapitel stellen kaum verkleidete philosophische Argumente des Erzählers Bruno dar, gelegentlich in der Form von imaginierten »Gesprächen« (mit und über Haeckel, Goethe und Sokrates), aber vor allem in Dialogen mit Oswald, einem befreundeten Arzt, der Brunos poetischem Weltbild ein naturwissenschaftlich-rationales entgegensetzt. Die allmähliche Klärung der Gründe für den mysteriösen Selbstmord einer unbekannten Frau geht mit Brunos wachsender Einsicht in die kosmische Einheit einher: In beiden Fällen geht es um Aufdeckung des Geheimnisses der verkannten und geschundenen Natur. Die Stationen auf dem Weg zu diesem Wissen finden in einer Reihe von Stimmungsgedichten weiteren Ausdruck. Die Geschichte fängt mit der Heimkehr Brunos nach dem märkischen Gut Krampendorf an. Die Jahre seiner Abwesenheit sind eine Folge des frühen Todes seiner Mutter gewesen, seiner angespannten Beziehung zum Stiefvater und nicht zuletzt einer unglücklich ausgegangenen Jugendliebe. Da er damals zu feige gewesen war, bei seinem Vater um Erlaubnis zu kämpfen, das einfache Mädchen aus dem Volk zu heiraten, ist sie eines Tages verschwunden. Erst nach dem Tod des strengen Vaters sucht er die Kindesheimat wieder auf. Hier kommt er nach Jahren der Unruhe zur Besinnung und zur Erkenntnis seiner Auslieferung von Seele, Körper, Gefühl und Natur an die Tyrannei der Vernunft. Für sein jugendliches Vergehen wird er aber bestraft: Es stellt sich heraus, dass die Selbstmörderin seine einst verschmähte Geliebte Maria ist, die wegen Schwangerschaft in die Stadt gezogen war und das Kind unter großen Schwierigkeiten in die Welt gebracht und erzogen hatte. Am Ende war sie in Verzweiflung nach Krampendorf zurückgekehrt, um das Mädchen bei einer alten Bekannten unterzubringen, ehe sie sich das Leben nahm. Schuldbewusst, aber überglücklich über die Entdeckung seiner Tochter Marleneken, rettet Bruno sie vor dem Ertrinken im Mühlgraben, erleidet aber selbst dabei eine tödliche Verletzung. Er sieht dem Tode schließlich friedlich, sogar mit Freude entgegen. Die Zweifel am Sinn des Lebens, die ihn am Anfang der Geschichte plagten, werden von der Überzeugung überwunden, dass die ganze Natur von einer ordnenden Kraft durchwaltet ist. Die Wiederfindung der irdischen Heimat ist eine Vorstufe zum Übergang zur Insel der Seligen und zum Eingehen ins All. Eine Verbindung zwischen Brunos persönlichem Schicksal und der Geschichte des deutschen Volkes wird angedeutet in der Nacherzählung einer »Sage« von der historischen Verschuldung der deutschen Kreuzritter, die die naturliebenden Ureinwohner der Gegend einst eroberten (Bd. 1, S. 29-34). Nachdem sie die wendischen Männer niedergemetzelt hatten, haben sie mit deren Frauen und Töchtern gespielt, diesen aber dann, vom päpstlichen Legat an ihre Sendung und Pflicht gemahnt, ihre Unterstützung verweigert. Die betrogenen Frauen sprachen einen Fluch aus und suchten im See den Tod. Seit jenem Vergehen sind die Nachfahren der Ritter vom Fluch der Traurigkeit befallen: Alljährlich zur Sommersonnenwende erliegt eine melancholische deutsche Seele der Verlockung der Nixen und ertrinkt.
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Diese Geschichte, in der das zeittypische Motiv der Wasserleiche als Opfer der Moderne mitschwingt, lässt sich auf mehreren Ebenen deuten. Die Kreuzritter können als Vertreter der Kolonialmacht, der Modernität und der instrumentellen Vernunft verstanden werden; die wendischen Frauen als ausgebeutete Natur und zugleich unterdrückte Teile der menschlichen Psyche. Wille drückt nicht nur die Untragbarkeit der Standes- und Geschlechterbeziehungen der Zeit aus, sondern auch die Notwendigkeit, dass diejenigen, die »am See ein Eigen haben« (Bd. 1, S. 33), die Heimat mit Fremden (die auch Anwohnerrechte geltend machen können) teilen und im weiteren Sinne auf andere Art in der Welt leben, indem sie sich in Verschwisterung mit der inneren und äußeren Natur üben. Der Grundton der Offenbarungen des Wachholderbaums ist Trauer und Klage über den verschuldeten Verlust der Naturnähe. Die Einbettung von philosophischen Ausführungen in die Handlung ist oft kursorisch und die Geschichte klischeehaft-sentimental. Was Wille im Roman, der, von Hugo Höppener (Fidus) illustriert, wiederholte Auflagen erfuhr, am ehesten gelingt, ist, seinen Ahnungen der selbstzerstörerischen Tendenzen der Moderne und einer alternativen Lebensführung in poetischen Gleichnissen, märchenhaften Anspielungen und stimmungshaften Landschaftsbeschreibungen Ausdruck zu geben. Als neuzeitlicher Merlin (der Seher aus der Artussage, der die Sprache der Bäume und Waldwesen verstand – siehe Bd. 1, S. 74-75), erstrebt Bruno eine Aufhebung der Dualismen von Vernunft und Gefühl und von naturwissenschaftlichem Wissen und den intuitiven Erkenntnissen des Glaubens und der Poesie: »Wo erblüht jenes einige Schauen, das zugleich Wissenschaft ist, Andacht und Schönheit?« (Bd. 1, S. 6). »Sprache« der Natur versteht Wille nicht bloß als poetisches Bild, sondern auch als ein mitfühlendes Nachbilden in sich: »Die Landschaftsseele ragt in meine Seele herein«, heißt es. »Alles Verstehen kommt von solchem Hereinragen – vom Mitteilen des eigenen Wesens« (Bd. 1, S. 326). An solchen Stellen wird man an die Wiederaufnahme der Idee der Natursprache durch Gernot und Hartmut Böhme erinnert, die eine ökologische Ästhetik und Philosophie der (landschaftlichen) Atmosphären in den 1990er Jahren entwickelten.18 In Offenbarungen des Wachholderbaums nimmt Wille also manche Ideen der grünen Bewegung und der ökologischen Wende im Heimatverständnis vorweg. Gleichzeitig vertritt er eine Auffassung der Aufgabe des Schriftstellers, die heute relevant bleibt, wenn man von seiner religiösen Wendung absieht. Es gehe dar18 | Siehe etwa Gernot Böhmes Vortrag »Ästhethische Naturerkenntnis«, in: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 177-190. Im Werk Jacob Böhmes finde man die Vorstellung, führt Gernot Böhme aus, dass es ein Grundzug von Natur sei, auf Wahrnehmung hin angelegt zu sein: »Diese Idee von Natur, die uns schwer fasslich und eingebettet in einen theosophischen Zusammenhang überkommen ist, hat für uns heute nicht mehr so viel Befremdliches und schickt sich an, aus der Kryptotradition in die herrschende Auffassung von Natur einzugehen: Natur als Kommunikationszusammenhang« (S. 183).
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um, das Wissen in Erinnerung zu halten von der gegenseitigen Abhängigkeit von Mensch und Natur, das in den Ahnungen von Kindern, in Träumen und Mythen zum Ausdruck kommt: Jede Blume, jedes Kräutlein, auch Stein, Wolke und Welle – das alles sind Schriftzeichen, Geberden und Laute, die danach schmachten, verstanden zu werden. Lasset sie euch deuten von euren feinsten Gespürseelen, den Dichtern und Malern. Kunst is ja kein holder Trug, kein Getändel, kein bloß egoistischer Genuss – Kunst ist Erkenntnis, heilige Philosophie, erlösende Religion (Bd. 1, S. 310).
Trotz der Unterfütterung seiner Vision eines alternativen Umgangs mit der Natur und einer anderen Form der Bewohnung von Heimat durch naturwissenschaftliche Fakten und philosophische Argumente kommt Wille jedoch selten über den Appell an das Schuldbewusstsein seiner Leser und die Aufforderung zum Glaubensbekenntnis hinaus, die in der süßlich-schmerzlichen Neuromantik eines Bildes von Fidus Ausdruck findet, in dem die Jugend aufgerufen wird, den großen Pan anzubeten und den heiligen Urquell zu umtanzen.
»Am strahlenden Quell«. Frontspiz in Bruno Willes Offenbarungen des Wachholderbaums (1903), nach der Originalzeichnung von Fidus
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H ERMANN H ESSE , P ETER C AMENZIND Die Ideen einer sprechenden Natur und der Artikulation ihrer stummen Klage in der Dichtung spielen ebenfalls in Hermann Hesses erstem Roman Peter Camenzind eine wichtige Rolle. Über seine Kindheit schreibt der autobiographische Erzähler Camenzind: Ich hörte den Wind vieltönig in den Kronen der Bäume klingen, hörte Bäche durch Schluchten brausen und leise stille Ströme durch die Ebene ziehen, und ich wusste, dass diese Töne Gottes Sprache waren, und dass es wie ein Wiederfinden des Paradieses wäre, diese dunkle, urschöne Sprache zu verstehen. Die Bücher wissen davon wenig, nur in der Bibel steht das wunderbare Wort vom »unaussprechlichen Seufzen« der Kreatur.19
Als junger Mann kämpft er gegen Depression an, indem er der Natur lauscht »wie einem Kameraden und Reisegefährten, der eine fremde Sprache redet« (S. 103). Sein heißester Wunsch ist es: in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen, und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen, und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, dass wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind (S. 121).
Auch bei Hesse standen die Romantiker (Novalis und Eichendorff), Goethe und Jacob Böhme Pate, mit dessen hieroglyphischer Sprache der Dinge er im pietistischen Elternhaus Bekanntschaft gemacht hatte. Und hier ist ebenso der Sinn des Verstehens der Sprache der Natur in einer Nähe zu und Geborgenheit in ihr zu suchen, die vom Pantheismus und von Rousseaus Gesellschaftskritik und Hinwendung zum einfachen Leben beeinflusst war. Hesses Darstellung von Natur und Heimat als Orte der Verehrung, der Andacht und der Erhebung ist bisher überwiegend als Kompensation für die wachsende gesellschaftliche Entfremdung des Einzelnen um die Jahrhundertwende gedeutet worden. Diese Einschätzung übersieht jedoch die Tatsache, dass er in der liebevollen Hinwendung zur Natur und zur Schweizer Landschaft ein ganz anderes Heimatverständnis umreißt als das von anderen Heimatautoren wie Sohnrey, von Polenz, Rosegger, Bartels, Löns oder Frenssen. Außerdem dient zwar Natur in der ersten Hälfte von Peter Camenzind als Zuflucht vor der Moderne und der Gesellschaft, aber in der zweiten Romanhälfte lernt 19 | Hesse, Hermann: Peter Camenzind. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 101 (zuerst erschienen in verkürzter Form in der Neuen Deutschen Rundschau, in Folgen zwischen Oktober und Dezember 1903). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit einfacher Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert.
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Camenzind, gesellschaftliche Verpflichtungen anzunehmen und sich dadurch mit zu verwirklichen. Der Rückzug von Hesses Protagonisten am Ende des Buchs ins Dorf, wo er geboren wurde, hat Kritiker wie Peter Zimmermann und Reinhild Schwede dazu geführt, die Geschichte als regressive Utopie einzustufen und zu den agrarisch-konservativen Romanen der Heimatkunst zu zählen.20 Sie ist aber keineswegs so resignativ und solipsistisch, wie solche Urteile aus den 1980er Jahren nahelegen. Hesse verbindet vielmehr die protoökologische Ausrichtung des Natur- und Heimatverständnisses, die wir bei Wille gesehen haben (beispielsweise an der Stelle, wo Camenzind von einem »Gefühl der Verantwortung« gegenüber der Natur schreibt [S. 59]), mit weiteren zukunftsweisenden Elementen.21 Peter Camenzind wurde zwischen August 1900 und Mai 1903 geschrieben, in einer Zeit, in der Hesse in Basel als Buchhändler arbeitete, aber auch Erholungsaufenthalte in seiner Heimatstadt Calw und in Vitznau am Vierwaldstätter See machte und mehrere Reisen in Italien unternahm. Das Bergseedorf Vitznau, Basel und die Städte Norditaliens spielen alle eine Rolle im Roman als zeitweilige Wohnsitze und mögliche Heimaten des autobiographisch gefärbten Ich-Erzählers. Dieser beschreibt zunächst seine Kindheit als Bauernsohn im Schweizer Seedorf Nimikon (in dessen anschaulicher Schilderung Erfahrungen des Autors in Calw und Vitznau einfließen). Mit den heimischen Pflanzen und Bäumen wird er vertraut, bald auch mit den umliegenden Bergen. Jedoch finden wir keine einfache Idealisierung der dörflichen Heimat. Die innige Verbundenheit des Kindes mit der Natur ist nicht zuletzt eine Folge seiner rohen Erziehung und der Einsamkeit des begabten, sensiblen Jungen. Die Dorfbewohner werden zwar als zäh und urwüchsig beschrieben in ihrem kargen Leben und ewigen Kampf mit den Naturmächten,
20 | Siehe Zimmermann, Peter: »Heimatkunst«, in: Tromler, Frank: Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus. 1880-1918 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hg. von Horst Albert Glaser, Bd. 8), Reinbek: rowohlt 1982, S. 154-168, hier S. 162; auch Schwede, Reinhild: Wilhelminische Neuromantik. Flucht oder Zuflucht? Ästhetizistischer, exotischer und provinzialistischer Eskapismus im Werk Hauptmanns, Hesses und der Brüder Mann um 1900, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 120-142. 21 | Es besteht beispielsweise eine Parallele zwischen der Idee einer sprechenden Natur in Peter Camenzind und den Offenbarungen des Wachholderbaums und der mit ähnlichen ethischen Konsequenzen verbundenen Aufhebung des Dualismus von passiver Natur und aktiver menschlicher Kultur, die in Donna Haraways Auffassung von Diskursen als materiell-semiotischen Praktiken zutage tritt, bei denen beobachtete Objekte sowie von ihnen wissende Subjekte konstituiert werden. Ebenso lehnt die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours eine einfache Unterscheidung zwischen Dingen bzw. Strukturen und menschlichen Akteuren ab und betrachtet sie als gleichermaßen an Handlungszusammenhängen beteiligte Aktanten. Siehe Haraway, Donna: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, London: Free Association Books 1991; Latour, Bruno: We Have Never Been Modern, London: Harvester Wheatsheaf 1993.
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der Ort wird aber gleichzeitig als eng, dumpf, und von der Welt abgetrennt geschildert. Als Oberländer und »Naturbursche« bleibt der junge Camenzind auch später Außenseiter im Züricher Internat und in der städtischen Welt Basels, wo er im Alkohol einen Ausweg sucht. Sich von der Gesellschaft abkehrend, vertieft er sich in die Literatur des Spätmittelalters. Er fühlt sich vom Leben des Heiligen Franz von Assisi stark angezogen. Am Sinn des Lebens zweifelnd, findet er Trost bei einsamen Wanderungen in der Umgebung der Stadt und auf Reisen nach Italien. Die Stadt Florenz wird ihm zu einer Art Wahlheimat: Hier wird er bald »heimischer«, als er je zu Hause gewesen war (S. 81): »Hier konnte ich mit den Menschen verkehren, hier erfreute mich auf Schritt und Tritt eine freimütige Natürlichkeit des Lebens« (S. 83). Auffallend an Camenzinds positiver Wertbesetzung Italiens, der Stadt Florenz und später auch Perugias ist die völlige Abwesenheit einer Verbindung zwischen Heimat und der Nation. Aber auch die extrem negative Auffassung der Stadt in den meisten Heimatromanen der Zeit ist hier relativiert. Hesse schildert zwar Zürich als Ort, wo Camenzind an Heimweh und Einsamkeit leidet. Später in Basel degeneriert er auch zum Berufsliterat und zum Säufer. Paris, wo er dann eine Zeitlang als Redakteur einer deutschen Zeitung arbeitet, wird auch als »verfluchtes Nest« mit Schmutz und Gestank geschildert, in dem der Erzähler sich beinahe verloren hätte (S. 86-87). In Hesses Beschreibung der italienischen Städte und seiner Schilderung von Camenzinds zweitem Aufenthalt in Basel sind aber Spuren der differenzierteren Einschätzung städtischer Lebensformen und der Mobilität zu beobachten, die der Soziologe Georg Simmel im selben Jahrzehnt zu entwickeln begann.22 In Basel beschließt Camenzind, »die wärmende Nähe menschlichen Lebens nicht mehr in der Gesellschaft, sondern unter dem schlichten Volke« zu suchen (S. 112). In einem weiteren Sinne weitet sich damit sein Heimatverständnis zu einem sozial inklusiven: Durch Nächstenliebe zu den Armen, Sterbenden und Behinderten findet er Gemeinschaft. Basel wird nicht als Ort der Entfremdung beschrieben, sondern als Umwelt, in der man sich engagieren und verwirklichen kann, und die er sich als Heimat möglicherweise hätte aneignen können, wenn die Umstände anders gewesen wären. Wenn er sich am Ende in seine Geburtsheimat zurückzieht, unterstützt er dort seinen alten Vater. Er bietet der Gemeinde seine Hilfe an bei einem Gesuch um Unterstützung bei den regionalen Behörden nach einer Unwetterkatastrophe und nimmt sich vor, die Dorfkneipe nach dem Tod des
22 | Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (= Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hg. von Thomas Petermann, Bd. 9), Dresden 1903, S. 185-206, hier S. 197; und »Exkurs über den Fremden«, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker und Humblot 1908, S. 509-512.
Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor
Vaters zu übernehmen. Das ist also keine Regression in die Utopie eines einfachen Lebens, sondern eine aktive Lebensform, eine tätige Aneignung von Heimat. Camenzind findet seine Identität und Lebensaufgabe im Dienst an der natürlichen und sozialen Umwelt. Zudem könnte man in seinem Lebensstil des wiederholten Ortswechsels eine Vorwegnahme der Mobilität und der mehrfachen Heimaten sehen, die unsere Gegenwart kennzeichnen. Er lernt, sich in seiner Umgebung heimisch zu machen, d.h. sich die Heimat vertraut zu machen, sie lieb zu gewinnen – durch die Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen, durch ausgedehnte Wanderungen (die er wohlgemerkt nicht als fröhliches Vereinsmitglied, sondern allein unternimmt) und nicht zuletzt durch die Schilderung der Schönheit der Landschaft in seinen Schriften. Schon früh hatte sich Camenzind nämlich entschlossen, seine künftige Heimat »im Reich des Geistes« zu suchen, d.h. im Studium der Geschichte, in der geistigen Gemeinschaft mit Vorbildern und beim Schreiben (S. 42, S. 53). Der Roman stellt also fiktionale Versuche an mit Beheimatungsprojekten, die von Nimikon über Florenz und Perugia nach Basel und schließlich nach Nimikon zurück reichen. Dieser Aspekt des Heimatverständnisses ist auch im Roman Siebenquellen von Josef Ponten zu finden.
J OSEF P ONTEN , S IEBENQUELLEN Josef Ponten mag heute weitgehend vergessen sein, er war aber in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein über die Grenzen seiner Region hinaus vielgelesener Schriftsteller, der von Kollegen wie Thomas Mann und Hermann Hesse geschätzt wurde. Sein Beitrag zur Heimatliteratur ist einerseits bedenklicher, weil ideologisch gefärbt, andererseits gerade durch seine Ambivalenzen und Widersprüche interessant und nicht untypisch für das wenig präzis gefasste populäre Denken der Zeit über Heimat. Im »Selbstbildnis«, das dem Roman in der Ausgabe von 1926 vorausgestellt ist, schreibt er beispielsweise von einer deutschen Wesensart, die sich in den Landschaften Deutschlands niederschlage, die ihrerseits auf die dort Aufwachsenden prägend einwirkten. Aber er distanziert sich ausdrücklich vom militanten Nationalismus. Seine Liebe zur Heimat drückt er zwar in einer Sprache des biologischen Determinismus aus, in der eine Hierarchie der Rassen mitschwingt: »Ungemischtes Blut der menschenalterlang in rassereinem Lande sitzenden Ahnen weckten Schwarm und Liebe für alles Edelnationale.«23 Und an anderer Stelle: »Man kann gar nicht anders als aus seinem Volke fühlen. Ohne Volk sein, schlägt um in: ohne Karakter sein. Denn das Volk und seine Blutsdränge sind die unbewusste Hälfte unseres Karakters und der größte Teil des Unterbe23 | Ponten, Josef: Siebenquellen. Landschaftsroman. Mit einem Nachwort von Hanns Martin Elster, Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft 1926, S. 14 (Erstaufgabe des Romans: Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1909). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit einfacher Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert.
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wussten unserer Seele.« Kurz darauf versichert er allerdings: »Spreche ich für Nationalismus? Meinem Herzen liegt Pazifismus näher. […] Der an der Völkergrenze Erwachsene ist behütet vor nationalen wie übernationalen Überschwenglichkeiten« (S. 21-22). Heimat steht im Mittelpunkt des Romans Siebenquellen, und die Menschen werden daran gemessen, inwieweit sie ihr Tun zum Wohl der Heimat ausrichten. Aber die Heimat wird nicht idyllisch überhöht, sondern immer wieder durch die Borniertheit und den Geiz der Bewohner charakterisiert. Ein weiteres Paradoxon ist Pontens Ansicht, dass der in seine Heimat hineingeborene und gewissermaßen von ihr determinierte Mensch sich dennoch um die Heimat verdient machen muss. Schließlich finde man auch weniger zu sich in der Heimat als in der Fremde: Man werde sich seiner Identität vor allem durch Begegnung mit dem anderen im Ausland und durch den Blick von außen bewusst. Bei Ponten steht also traditionelle regionalistische Landschaftsverbundenheit in einem nicht ausgetragenen Spannungsverhältnis zu neuen kosmopolitischen Denkstrukturen.24 Schließlich ist Siebenquellen auch der Form nach ein ungewöhnlich hybrides Werk, in dem Ponten Elemente der traditionellen Dorfgeschichte (Bilder des bäuerlichen Lebens, Porträts stereotyper Figuren und schwankhafte Anekdoten) mit stimmungshaften Landschaftsbeschreibungen und philosophischen Spekulationen verknüpft. Die Komplexität von Pontens Ansichten zum Thema Heimat kann man zum Teil aus seiner Biographie erklären. Er stammte aus dem Eifel/Ardennen Dreiländergebiet zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden, d.h. aus einer Region, deren Geschichte als Abfolge von Grenzverletzungen und -verschiebungen beschrieben werden kann. Sein Geburtsort, ein Dorf in der Nähe von Eupen, gehörte seit dem deutsch-französischen Krieg von 1871 zu Deutschland, wurde jedoch 1919 im Versailler Vertrag Belgien wieder zugesprochen. Als Bewohner einer solchen Grenzregion, sensibilisiert für das Erlebnis des Heimatverlustes, ist es vielleicht verständlich, dass er sein Deutschtum betonte, aber gleichzeitig ungewöhnliche Weltoffenheit zeigte. In dem um die Mitte der 1920er Jahre verfassten »Selbstbildnis« schreibt er von seiner Verwurzelung in der Landschaft südlich von Aachen und seinen bäuerlichen Ahnen, aber ebenso von Arbeit im Ausland und zwölf Jahren des Reisens, die er auf den »ungebändigten Freiheitsdrang« und das »fernselige« Blut zurückführt, die er mit anderen Familienmitgliedern teile (S. 12-13). Dies deutet auf einen Aspekt von Pontens Heimatverständnis, der Deleuzes Begriff des »Nomadismus«25 nahekommt: Heimatbezug ist für ihn nicht nur der24 | Siehe Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Entwürfe von ›Heimat‹ bei Autoren des Rheinlandes«, in: Brenner, Sabine et al. (Hg.): »Beiden Rheinufern angehörig«. Hermann Hesse und das Rheinland (= Ausstellungskataloge des Heinrich-Heine-Instituts), Düsseldorf 2002, S. 23-33, hier S. 30. 25 | Siehe Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: »Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine«, in: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 481-585.
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jenige der sesshaften Besitzerschicht, sondern auch der der Durchreisenden, eine sowohl durch Familientradition als auch durch persönliche Vertrautheit mit der Landschaft erworbene Zugehörigkeit. Die heimatliche Natur habe er auf ausgedehnten jugendlichen Wanderungen kennen und lieben gelernt, erklärt Ponten. Die »Naturleidenschaft«, die ihn zu diesen einsamen Wanderungen bewogen hat, leitet er aber auch vom mütterlichen Großvater, Fuhrmann auf der Straße von Aachen nach Monschau, sowie vom Vater und vom väterlichen Großvater ab, die in Belgien als Handwerksgesellen wanderten. »Der Väter und eigene Arbeit im Auslande […], die steinwurfnahe Grenze der Kindheit führten den Blick aus nationalistischer Kurzsichtigkeit in die Weite allmenschlicher Zusammenhänge«, sinniert er (S. 13-14). Trotz seiner Befangenheit in der Sprache des völkischen Nationalismus scheint Ponten also einer eher transnationalen Heimatbezogenheit das Wort zu reden: Im Roman drückt er seinen Stolz auf eine Region aus, deren Eigenart stellenweise an die Hybridität von Bhabhas und Sojas Thirdspace erinnert.26 Die Aktivitäten der Grenzschmuggler deuten die Willkürlichkeit der Grenzziehung an, und die einst verbindende Funktion der Region zwischen Deutschland und Frankreich kommt in historischen Hinweisen zu Wort. Er denkt beispielsweise an die Zeit, in der Franken unter Karl dem Großen am Herzen eines vereinten Europas stand (S. 246-247). Die Erwähnung der »Napoleonsbahn« (S. 182-186), einer in den Westen führenden Römerstraße, die von Napoleon wiederhergestellt wurde, erinnert an die Zeit im frühen 19. Jahrhundert, als die Gegend in den französischen Staat als Roerdepartement integriert wurde und eine wirtschaftliche Blüte erlebte. Im »Selbstbildnis« leitet Ponten seinen Familiennamen von der Brücke ab, die die Römer hier einst über den Grenzfluss bauten (S. 23), und beschreibt es als seine dichterische Sendung, nicht nur das deutsche Heimatgefühl zu stärken (»mit[zu] schaffen an dem, was den Deutschen am meisten fehlt: Bewusstsein ihrer Selbst, Volksbewusstsein und Überlieferung«, S. 17), sondern auch Brücken zwischen den Völkern zu bauen (S. 23) und deutsche Innigkeit mit französischem Formtalent zusammenzuführen (S. 22-23). Ebenso exemplifiziert Siebenquellen die Vorstellung einer zwar nationalen, aber noch mehr auf eine bestimmte Landschaft bezogenen und sich aus Begegnung mit und Absetzung von dem anderen ergebenden Identität. Es ist kein Zufall, dass die Hauptfigur Bernhard Menniken das Wesen der eigenen Heimat und Leute auf einer Reise in den Niederlanden erkennt. In dessen Bestimmung von Landschaft als das »geklärte[.] und verklärte[.] Abbild einer irdischen Lebensversammlung in unserm Geiste« und »die seelische Einheitswelt, in der wir am gründlichsten Sin-
26 | Siehe Bhabha, Homi: »The Third Space. Interview with Homi K. Bhabha«, in: Rutherford, Jonathan (Hg): Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence und Wishart 1990, S. 207-221; Soja, Edward W.: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford: Blackwell 1996.
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ne heimisch sind« (S. 252) sehen wir außerdem ein Verständnis von Heimat als vor allem menschliche Gemeinschaft. Die Ansicht, dass Heimatzugehörigkeit durch soziales Engagement erworben werden muss, bildet die Basis für die Romanhandlung. Menniken stammt aus einem Geschlecht von Töpfern, die vor Jahrhunderten aus Flandern hergezogen sind und eine zeitweise berühmte Töpfereimanufaktur betrieben haben. Nach Abschluss eines ausländischen Studiums der Kunstgeschichte kehrt er am Anfang des Romans nach Hause. Voller guter Absichten, sein Leben in den Dienst der Heimat zu stellen, geht er daran, die alte Töpferei wieder ins Leben zu rufen. Trotz einigen Erfolgs muss er den Betrieb aber bald einstellen: Einerseits missbilligt die Kirche die sinnlichen Motive auf seinen Waren, andererseits wird er von den angestellten Künstlern im Stich gelassen. Die Töpferei ist das erste von mehreren Projekten, die Heimat wieder zu beleben, die an der Borniertheit, dem Materialismus und den menschlichen Schwächen der Ortsbewohner scheitern. Als sein Betrieb geschlossen wird, widmet sich Menniken dem Studium der lokalen Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Er gräbt eine Römervilla aus und richtet ein Museum ein – typische Tätigkeiten von Mitgliedern der Heimatvereine um diese Zeit. Aber ihn drängt es, wie es heißt, »nach unmittelbarer Arbeit an seinem Volke« (S. 198). Um die jungen Menschen ins Land zurückzuholen, die gezwungen sind, die Woche über in der Schwerindustrie an der Ruhr oder in den Steinbrüchen der Ardennen zu arbeiten, versucht er als Nächstes die heimischen Steinbrüche wieder in Betrieb zu nehmen. Das Unternehmen, das er zusammen mit anderen Geschäftsleuten aus dem Ort betreibt, läuft gut an, und Menniken will eine Erbbaupacht einführen mit staatlich geliehenem Kapital, um Arbeiterhäuser für die wieder zunehmenden Einwohner zu bauen. Da wird er aber aus dem Vorstand gedrängt, weil er das Wohl der Arbeiter vor den Gewinn der Direktoren stellen wollte. Schließlich richtet Menniken eine Schule ein, um seinem Sohn eine bessere Erziehung zu geben, als in den staatlichen Schulen geboten wird. Eine Zeit lang zieht diese – durch ihr ganzheitliches, den Ideen der Reformpädagogik verpflichtetes und mit übernationalen Vorzeichen versehenes Programm zur Erziehung freier Individuen führende – Schule andere begabte Kinder aus der Gegend an. Aber nach der Abreise seines Sohnes, den er am Ende auf zweijährige Wanderung nach Frankreich schickt, um sich selbst, wie der Vater, im Ausland zu finden, wird auch diese aufgegeben. Der Schluss, den Menniken auf den letzten Seiten aus dem Schicksal seiner vielen Heimatförderungsprojekte zieht, ist, dass es nicht unbedingt notwendig sei, einen »sozialen Beruf« zu ergreifen. Jetzt empfiehlt Ponten seinen Lesern eine »aristokratische« Zurückgezogenheit von der Gesellschaft, denn man ist auch dann »sozial, für die anderen, wenn [man] echt, für sich ist« (S. 298).
Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor
S CHLUSS Die Auffassung von Heimat, die in den drei behandelten Romanen zu Wort kommt, erscheint in der Tat komplexer als der gemeinhin angenommene Heimatbegriff der Zeit um 1900. Eine tendenziell konservative Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen ist zwar bei Wille, Hesse und Ponten im gemeinsamen Motiv des Rückzugs ihrer Protagonisten am Ende der Geschichte ersichtlich: im Rückzug in den Tod bei Wille, ins Dorf bei Hesse und in eine soziale Aristokratie bei Ponten. Doch würde man ihnen nicht gerecht, wenn man das Nachdenken über Heimat in ihren Büchern auf diesen regressiven Zug verkürzte. Eine Bilanz der Merkmale des heutigen Verständnisses von Heimat, die in den drei Romanen zum Ausdruck kommen, müsste Folgendes bedenken: • Heimatgefühl ist vor allem eine emotionale Bindung an einen lokalen Ort bzw. eine regionale Landschaft. Es geht nur in sehr beschränktem Maße um die Nation. • Mit Heimat wird zwar in der Regel ein Landgut, eine Dorfgemeinschaft oder eine Region gemeint, aber sie ist nicht ausschließlich als ländlich vorstellbar, sondern (bei Hesse) auch in der Stadt zu suchen. Gleichzeitig erscheint ländliche Heimat kaum mehr als idealisierter, utopischer Raum, sondern als Ort der Austragung von Konflikten. • Heimat soll sozial inklusiv und ethnisch divers sein: Bei allen drei Autoren werden die kleinen Leute, Arbeiter und Außenseiter explizit einbezogen. Bei Ponten beobachtet man allerdings trotz seiner weitgehenden Akteptanz der Belgier und Franzosen als Gleichberechtigte Spuren des Antisemitismus. • Die Möglichkeit mehrfacher Heimatsbezüge scheint Hesse implizit zu befürworten. Bei Wille und Ponten findet man allerdings nichts Entsprechendes. • Der Tatsache, dass Heimat kein bleibender Besitz ist, sondern sich mit der Zeit verändert und zur Fremde werden kann, wird von Hesse und zum Teil von Ponten Rechnung getragen. • Das Bedürfnis nach örtlicher Verbundenheit steht in einem Spannungsverhältnis zum Wunsch, die Fremde zu erfahren: erste, allerdings eher zaghafte Ansätze zu einer kosmopolitischen Heimatauffassung sieht man bei Hesse und Ponten. • Heimat ist nichts Gegebenes, sondern zu Erwerbendes, bzw. zu Schaffendes. Auch wenn sie am Primat der Geburtsheimat festhalten, vertreten damit Wille, Hesse und Ponten allesamt ein aktives Heimatverständnis. • Bei Hesse, und in Ansätzen bei Ponten, finden wir, dass Heimat nicht nur als geographischer Ort verstanden wird, sondern auch als soziale Gemeinschaft und als Identitätsraum, in dem sich der Einzelne verwirklichen kann. Bei allen drei Autoren ist Heimatliebe mit Einsatz für soziale Gerechtigkeit verbunden. Hesse und Ponten fordern politisches Engagement für die Mitmenschen in der Heimat. Obwohl Wille Querverbindungen mit ökosozialen Reformbestrebun-
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gen (Landauer und der Siedlungsbewegung) besaß, kommen diese in seinem Roman nicht zum Ausdruck. • In den behandelten Romanen führt Heimatliebe zwar nicht zu Natur- oder Umweltschutzaktionen. Aber in der Bildlichkeit von Kommunikation mit einem verschwisterten Wesen (bei Wille und Hesse) bietet Einfühlung in die heimatliche Natur eine Grundlage für schonenden (umweltfreundlichen) Umgang mit ihr. Wenn Heimat auf diese Weise als »territoriales Imperativ« und Objekt einer »intentionale[n] und von existentiellen Bedürfnissen ausgehende[n] Orientierung auf ein Satisfaktionsterritorium […], das Identifikation, Schutz und Aktion gewährt«, wie es Greverus ausdrückt,27 wenigstens ansatzweise im Roman um 1900 präsent ist, scheint dies zu bestätigen, dass literarische Werke als Archiv alternativer Vorstellungen zu den leitenden Heimatauffassungen der Zeit dienen können. In den drei behandelten Romanen finden wir zwar nicht das kritische Eingreifen in den Heimatdiskurs, das in manchen neueren Werken zu beobachten ist – weder die Parodie des ideologischen Heimatdiskurses, den Friederike Eigler bei Elfriede Jelinek vorfindet, noch die poetisch-imaginäre Deterritorialisierung, die sie bei Peter Handke identifiziert, noch Jenny Erpenbecks Konfrontation der Suche nach Heimat mit den gesellschaftlichen Faktoren, die sie für so viele im 20. Jahrhundert unerreichbar machten.28 Aber Wille, Hesse und Ponten scheinen, ebenso wie diese, an der Erweiterung des Heimatverständnisses der Zeit in Richtung soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Kosmopolitismus zu arbeiten. Auch wenn ihr eigenes Verständnis von Heimat durch Widersprüche zwischen ängstlich-rückwärtsgewandten und fortschrittlich-liberalen Elementen gekennzeichnet ist, können ihre Bücher als Beispiele eines fiktionalen Durchspielens von Haltungen, Ideen und Verhaltensweisen aufgefasst werden, die über die engen Begriffe damaliger politischer Diskurse hinausgingen.
27 | Greverus: Auf der Suche, S. 23-24. 28 | Eigler: Critical Approaches, S. 43-48.
Zyklischer Vitalismus Die Dialektik von Tod und Leben in der deutschen Lyrik 1890-1905 Sven Halse
Quer durch die Stilrichtungen, die die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert charakterisieren, macht sich ein erhöhtes Interesse für das Phänomen »Leben« bemerkbar. Überall ruft dem Literaturhistoriker das Signalwort »Leben« aus Buchund Gedichttiteln entgegen: Triumph des Lebens,1 Es lebe das Leben,2 Lobgesang des Lebens,3 Der Ruf des Lebens,4 Hymnen an das Leben,5 Der Sieg des Lebens.6 Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden.7 Nicht nur die Literatur, sondern auch die Philosophie und die bildende Kunst der Epoche setzen sich mit der Lebensfrage intensiv auseinander; und auch die Naturwissenschaft bzw. die Naturphilosophie sucht in diesen Jahren nach einer Antwort auf die große Frage vom »Wesen« des Lebens: Ist das Leben als eine chemische Funktion der Materie selbst zu verstehen, wie es die sogenannten Mechanisten meinen, oder kann man die anscheinend auf ein Ziel hinstrebende Evolution der Naturformen einer eigenständigen »Lebenskraft« zuschreiben, wie es
1 | Hart, Julius: Triumph des Lebens, Florenz und Leipzig: Eugen Diederichs 1898, Buchschmuck von Fidus. 2 | Sudermann, Hermann: Es Lebe das Leben. Drama in fünf Akten, Stuttgart/Berlin: Cotta 1902. 3 | Schmidtbonn,Wilhelm: Lobgesang des Lebens. Rhapsodien, Berlin: Egon Fleischel 1911. 4 | Schnitzler, Arthur: Der Ruf des Lebens. Drama in 5 Akten, Berlin: Fischer 1906. 5 | Verhaeren, Emile: Hymnen an das Leben, Übersetzung von Stefan Zweig, Leipzig: InselVerlag 1912. 6 | Bölsche Wilhelm: Der Sieg des Lebens, Stuttgart: Kosmos 1905. 7 | Gunter Martens (siehe Anm. 10) erwähnt außerdem u.a. Richard Dehmels Lebensblätter, Isolde Kurz’ Novellen Lebensfluten, Ernst Hardts Novellen Bunt ist das Leben, O. E. Hartlebens Gedichte Gesang des Lebens, Rene Schickeles Roman Der Ritt ins Leben.
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die »Neovitalisten« um den Kölner Professor der Naturphilosophie Hans Driesch vermuten? Die Idee von der Lebenskraft hatte – so wenig wissenschaftlich nachweisbar sie auch war – auf das Denken der Zeit ungeheuren Einfluss. Oder – um keine einseitige Kausalität zu behaupten – die Idee von der Lebenskraft stand mit der Denkweise der Zeit in bester Übereinstimmung, die einerseits von der romantischen Weltauffassung noch stark durchsetzt war, laut der ein immaterieller »Zusammenhang« hinter der Materie vorauszusetzten sei, die aber andererseits von der nietzscheanischen Anbetung des Lebens inspiriert war. Durch diese Inspiration erhielt das Wort »Leben« seine moderne Bedeutung: »Leben« hieß seit Nietzsche das ungeschminkte, das natürliche, das biologische, gefährliche, tierische, instinkthafte Leben: »Das Leben selbst«. Dies waren Lebensaspekte, die qua ihrer biologischen Unmittelbarkeit und dank neuer evolutionärer Einsichten das Eigenbild des westlichen Menschen prägten und seine kulturellen Diskurse entsprechend überformten. Das Leben durch die Kunst zu besingen hieß somit nicht zuletzt, den biologischen Charakter des Menschen anzuerkennen und zu würdigen; ein modernes Bekenntnis also: Das besingen, was den Menschen mit seiner ursprünglichen »Natur« verband, den nackten Körper, das Leben in der freien Natur und das Aufsuchen der Quellen der Lebenskraft, die Sonne, das Meer, den Sturm; das alles zu verherrlichen machte ein modernes Lebensbekenntnis aus, obwohl oft auf vergangene, vorindustrielle Zeiten zurückgegriffen wurde, um adäquate Kultur- und Lebensformen als Leitbilder für den Menschen der Zukunft zu suchen. So erhielt eine Kulturströmung, die eine Formel für den modernen »biologischen« Menschen suchte, im Äußerlichen oft rückwärts gewandte Formen und Idealbilder und wurde folglich von anderen Schulen der Avantgarde als antimodern abgestempelt. Mithilfe des Begriffes »Vitalismus« haben Forscher aus den verschiedensten Zweigen der Literatur- und Kulturwissenschaft die Thematisierung des »Lebensproblems« in Kunst, Philosophie und Alltagskultur am Anfang des 20. Jahrhunderts einzukreisen versucht. Da »Vitalismus« als kulturhistoriographischer Begriff keine eindeutige Definition gefunden hat, wurde er in erster Linie als breiter Orientierungsrahmen eingesetzt und hat sich in dieser Funktion als recht produktiv erwiesen. Eine Fülle von Aufsätzen, Magisterarbeiten, Themenbänden, Dissertationen und Ausstellungen zum Thema Vitalismus in Kultur, Literatur und Kunst war in den vergangenen zehn Jahren in Skandinavien zu verzeichnen. Eine ansehnliche Anzahl Forscher haben es fertiggebracht, mithilfe der vitalistischen Optik ihre Objekte in ein neues Licht zu rücken. Der voluminöse Sammelband Livslyst8 kann hierfür als gutes Beispiel dienen.
8 | Hvidberg-Hansen, Gertrud/Oertner, Gertrud (Hg.): Livslyst. Sundhed, skønhed, styrke i dansk kunst 1890-1940, Fuglsang Kunstmuseum & Odense Bys Museum, 2008 (Englische Ausgabe: The Spirit of Vitalism. Health, Beauty and Strength in Danish Art 1890-1940, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2011).
Zyklischer Vitalismus
V ON » POSITIVEM « ZU »Z YKLISCHEM « V ITALISMUS Dieser Beitrag versteht sich als Weiterführung der soeben erwähnten, relativ jungen skandinavischen Forschungstradition, die natürlich wiederum auf frühere Arbeiten von insbesondere Gunter Martens9 und Wolfdietrich Rasch10 zurückgeht. Die jüngere Tradition verwendet den Vitalismus-Begriff als Gesamtbezeichnung für lebensthematisierende Kunst- und Kulturformen verschiedenster Art und deckt dabei in ihren Analysen eine Reihe gemeinsamer Motive, Themen und Werte auf, die quer durch herkömmliche Gattungen, Strömungen und Periodisierungen hindurch sichtbar werden und somit ganz neuartige Zusammenhänge zum Vorschein kommen lassen. In früheren begriffstheoretischen Aufsätzen11 wurden verschiedene Varianten vitalistischer Diskursformen typologisch identifiziert, indem zwischen künstlerischem, philosophischem, naturwissenschaftlichem und pragmatischem (oder alltagskulturellem) Vitalismus unterschieden wurde. Ein wesentlicher Gesichtspunkt hinter dieser heuristischen Vierteilung der vitalistischen Diskursivität war, dass nicht jeder Diskursbereich für sich seine kulturbildende Wirkung hätte, sondern dass die häufigen gegenseitigen Verweise der Bereiche aufeinander einwirkten und die dadurch entstehende »diskursive Synergie« und kulturelle Stabilisierung die eigentliche Stärke und Breitenwirkung des vitalistischen Impulses ausmachten. So lässt sich z.B. Lebensphilosophie nicht ohne dichterischen Ausdruck, vitalistische Dichtung nicht ohne lebensphilosophischen Inhalt und die breite Gesundheits- und Reformbewegung nicht ohne künstlerischen, dichterischen und musikalischen Ausdruck denken. In ihrer Beschäftigung mit dem vitalistischen Boom um 1900 hat die Forschung aus leicht verständlichen Gründen ihr Augenmerk auf die »positive« Seite der Lebensthematisierung gerichtet: Gesundheit und »enthusiastische Lebensbejahung«12, Jugend und Lebensmut sind die hervorgehobenen Charakteristika. Vor allem als Korrektiv zum herkömmlichen Bild der dekadenten, lebensmüden Epoche des Fin de Siècle ermöglichte der Vitalismus als neue Betrachtungsweise die bisher weniger beachteten lebensfreudigen, zukunftsgerichteten Aspekte der Zeitspanne 1890-1930 ans Licht zu heben. Dieses eindimensional positive Verständnis des Vitalismus ist natürlich von dem Bestreben getragen, einen literaturhistoriographisch neuen Terminus so prägnant wie möglich hervortreten zu lassen und damit seine Berechtigung als Alternative zur tradierten Begrifflichkeit 9 | Martens, Gunter: Vitalismus und Expressionismus, Stuttgart etc.: W. Kohlhammer 1971. 10 | Wolfdietrich Rasch: »Aspekte der deutschen Literatur um 1900«, in: ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende, Stuttgart: Metzler 1967, S. 1-48. 11 | Halse, Sven: »Vitalisme – fænomen og begreb«, in: KRITIK 171, 2004, S. 1-7; »Den vidtfavnende Vitalisme«, in: Hvidberg-Hansen et al. (Hg.): Livslyst, S. 46-57; »Vitalismus als literatur- und kulturhistorischer Begriff«, in: Jung, Merle/Tarvas, Mari (Hg.): Akten der Tagung »Tradition und Zukunft der Germanistik«, Tallinn 2008, S. 69-82. 12 | Martens, Gunter: Vitalismus und Expressionismus, Op. cit., S. 16.
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polemisch festzuschlagen. Durch eine solche einseitige Betonung lebensbejahender Aspekte läuft man aber Gefahr, das Vitalismusverständnis ins rein Plakative zu verschieben und die sehr zentrale, künstlerisch inszenierte Dialektik von Lebensund Todesthematik unverstanden oder gar unbeachtet zu lassen. Durch den Begriff des »zyklischen Vitalismus« soll ein Versuch gemacht werden, ein in diesem Sinne nuancenreicheres Vitalismusverständnis herbeizuführen. Schon Wolfdietrich Rasch machte auf den eindeutig »zyklischen« oder dialektischen Charakter des Vitalismus energisch aufmerksam. Auch Walter Muschg13 und vor allem Gunter Martens14 betonen den dialektischen Charakter des Begriffes. Zwar bezeichnet Gunter Martens mit seinem Vitalismus-Begriff zunächst sehr allgemein die »Zentralstellung des Phänomens ›Leben‹ […] und die daraus resultierende Verherrlichung vitaler Kräfte und Vorgänge« schlechthin.15 Im Zuge seiner Gedichtanalysen nuanciert er jedoch seinen Vitalismusbegriff dahingehend, dass auch dialektisch entgegengesetzte Bedeutungsfelder unter ihn subsumiert werden. Auch der dänische Vitalismusexperte Henrik Wivel betont die Verknüpfung von »positiven« und »negativen« Lebenselementen im vitalistischen Gesamtkomplex: »[…] radically inward-looking […] decadence is a precondition of Vitalism. Indeed, the experience of decadence is actually the dynamo that will make Vitalism accelerate.«16 Das gegenseitige Verhältnis der Pole ist bei Wivel das einer kausalen Voraussetzung: Dekadenz gehe dem Vitalismus voraus. In dem hier zu erarbeitenden Begriff des »zyklischen Vitalismus« soll aber eher von einer gegenseitigen Kausalität, also von einer dialektischen Verknüpfung der Gegensätze die Rede sein. Hierauf werden wir in den folgenden Analysen noch zurückkommen. Anders Ehlers Dam17 erwähnt in seiner Dissertation über Vitalismus in der dänischen Literatur um 1900 durchgängig den ambivalenten Charakter des Vitalismus: Bei Ehlers Dam umfasst der Vitalismus sowohl Leben als auch Tod. Ehlers Dam spricht dabei von einem »positiven« und einem »negativen« Vitalismus, je nachdem ob der Text im Bereich des Todes oder des Lebens seine Lösung der Lebensfrage findet. In seiner weiteren Kategorisierung teilt Ehlers Dam den Vitalismus in eine dualistische und eine monistische Tendenz auf. Daraus entstehen insgesamt vier sogenannte vitalistische »Hauptströmungen«, für die Ehlers Dam jeweils eine exemplarische Textanalyse präsentiert. Ehlers Dams Typologie ist aufschlussreich und lässt wesentliche Merkmale vitalistischer Dichtung hervortreten. Nur ist zu fragen, inwieweit der hier angesprochene Dualismus wirklich ein vita13 | Muschg, Walter: Von Trakl bis Brecht. Dichter des Expressionismus, München: Reclam 1961. 14 | Martens: Vitalismus und Expressionismus. 15 | Ebd., S. 15. 16 | Wivel, Henrik: »Decadent Barbarism«, in: Hvidtfeldt Hansen et al. (Hg.): The Spirit of Vitalism, S. 134-157, hier S. 136. 17 | Dam, Anders Ehlers: Den vitalistiske strømning i dansk litteratur omkring år 1900, Aarhus: Aarhus Universitetsforlag 2010.
Zyklischer Vitalismus
listischer Wesenszug ist, oder ob der Vitalismus sich hier nicht eher mit anderen, vor allem christlichen Denk- und Diskursformen vermischt. Von Dualismus im eigentlichen Sinne des Wortes wird im Falle des Vitalismus kaum die Rede sein. Der Vitalismus ist insofern grundsätzlich monistisch, als er die Lebenskraft als eine diesseitige, dem Stoff innewohnende Qualität auffasst. Die Lebenskraft hat für die Vitalisten dieselbe Qualität wie etwa die Schwerkraft, die Elektrizität oder der Magnetismus für den Naturwissenschaftler. Die Lebenskraft ist mit anderen Worten ein physisch gebundenes, wenn auch selbständiges und unteilbares Phänomen. Solange man zumindest vom Eigenverständnis der Vitalisten um 1900 ausgeht, muss der Vitalismus als monistisch verstanden werden. Die dualistischen Elemente, die in vitalistischen Texten festzustellen sind, rühren nicht vom vitalistischen Impuls her, sondern verdanken ihren Einfluss anderen Traditionen, vor allem der christlichen, bei einigen Dichtern aber auch orientalischer Mystik. Was die Bezeichnungen »positiv« und »negativ« bei Ehlers Dam betrifft, so sind sie vor allem deshalb nicht ganz glücklich, weil sie eine Wertung implizieren, die dem Vitalismus nicht angemessen ist. Eben weil der Vitalismus – wie Ehlers Dam ganz richtig darstellt – das Leben als Totalität, als »den absoluten Fluss« oder den »Wirbel des Seins« (zwei von Nietzsche herrührende Metaphern), verstehen will, muss auch das sogenannte Negative dazugezählt werden: der Kampf, das Leiden, der Tod. Es ginge aber am Kern des Vitalismus vorbei, würde man die todesbezogenen Aspekte als »negativ« hinstellen und würde man erst beim lebensbegeisterten, positiv gefärbten Lebensoptimismus vom »eigentlichen« Vitalismus reden, so wie es bei Ehlers Dam der Fall ist. Mit dem Terminus »zyklischer Vitalismus« soll der Tatbestand betont werden, dass in der vitalistischen Dichtung das Leben nicht nur als Kraft, Stärke, Gesundheit, Jugend, Sonne und Wachstum, sondern auch als dessen zyklischer Gegensatz – Stillstand, Erstarrung, Niedergang, Tod, Auflösung usf. – motivisch dargestellt wird. Aus der Perspektive des einzelnen Individuums lässt sich das Leben als »Lebenstotalität« nur schwer erfassen und kann somit nicht das Thema eines jeden vitalistischen Texts sein. Vielmehr löst sich die Totalität in individuelles anschauliches Leben und individuelles anschauliches Sterben auf. Der vitalistische Text akzentuiert den einen oder anderen Aspekt des Lebenszyklus. Im Text kristallisieren sich Lebensmomente und Lebensausschnitte aus, die für die Totalität gelten und auf sie verweisen. Manchmal ist im Text aber auch das volle Totalitätserlebnis vermittelt; der Akzent ist somit genau in die Mitte des zyklischen »Rings« gelegt mit der Intention, »Momente eines Innewerdens des großen Zusammenhangs« an den Leser zu bringen, wie Wolfdietrich Rasch es formuliert.18 Zu einem in diesem Sinne kosmischen Seher der Totalität entwickelte sich Johannes Schlaf nach seiner naturalistischen Jugendphase. Sein Prosawerk Frühling19 trägt den für die orientalisch-mystisch inspirierte Strömung der 1890er Jahre charakteristischen philosophisch-pathetischen Ton: 18 | Rasch: Aspekte, S. 22. 19 | Schlaf, Johannes: Frühling, Leipzig: Verlag Kreisende Ringe 1896.
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Sven Halse Leben! Urbeginn! Hinauf, hinauf mit sehnendem, allmächtigem Drange in Milliarden von verschlungenen Lebenswellen, die ansteigen und verrinnen, und mit immer neu verjüngter Inbrunst mächtiger und mächtiger dem Licht entgegen, dem Licht […]. Es faltete sich auseinander in die Unendlichkeit der Formen und Farben, in immer mächtiger, sehnender kreisenden Schwingungen, durch die Zeitmillionen unbegreiflichen und ungeahnten Klarheiten entgegen, im Auf und Nieder, im Hin und Wider, im Werden und Vergehen […]. 20
In dieser Apostrophe an das Leben selbst sind vor allem die letzten Worte wichtig, die das Leben als Einheit von Werden und Vergehen festhalten, davor aber auch die Sätze, die das Leben als eine Bewegung auf ein mächtigeres Ziel hin beschreiben und somit eine entelechisch-vitalistische Variante der Evolutionslehre heraufbeschwören: »Es faltete sich auseinander in die Unendlichkeit der Formen und Farben […] mächtiger und mächtiger dem Licht entgegen.« Zentralsymbol ist das Licht, dem sich das Leben entgegenbewegt – und von dem es ja auch kommt. Die Entwicklung führt mit anderen Worten das Leben zu seinem eigenen Ursprung zurück. Der große Kreis schließt sich. Johannes Schlaf landet mit diesem emphatischen Ausruf direkt in die Mitte des vitalistischen Lebenskreises. Julie Virginie Scheuermann (Pseudonym: Julia Virginia) (1878-nach 1936) ist heute kaum noch bekannt. In ihrer Jugend gab sie zwei Bände eigener Gedichte heraus und edierte zudem zwei weitere: eine Sammlung von Droste-Hülshoffs Gedichten (1910) und einen Band Frauenlyrik unserer Zeit (1907). In der von Hans Benzmann edierten Sammlung Moderne deutsche Lyrik (Reclam 1907)21 ist sie mit dem Gedicht »Leben!« aus ihrem ersten Gedichtband Primitien (1903) vertreten. Hier sollen nur die erste und die letzte der vier Strophen zitiert werden: Leben, du purpurner, quellender Sprudel, ich möchte mit beiden Händen dich fassen, möchte mich stürmisch umtosen lassen von deiner Brandung bacchantischem Strudel! Möchte mich stürzen in deinen Schlund Jauchzend, mit gierig geöffnetem Mund! – Möcht sie entlodern lassen die Gluten, die scheu mich durchziehen, die der Erden entstammen, in deines Taumels Champagnerfluten zu blühenden, glühenden Flammen! […]
20 | Ebd., S. 26. 21 | Diese Anthologie umfasst rund 650 Gedichte und stellt eine Fundgrube der zeitgenössischen Dichtung da.
Zyklischer Vitalismus Und so stürz ich denn tollkühn, mit lachenden Lippen, mit all meiner Jugend entfesselten Gluten, Leben! In deinen purpurnen Fluten durchstarrt von tausend zackigen Klippen, in deines Malstroms Wirbelgetos, in seiner Fluten hölltiefen Schoß; ob er zum Lichte mich möge erheben, ob ich im Strudel werde versinken – Ihr Götter! nur leben, nur leben, Nur trinken!
Die Anrufung des Lebens in der Form eines alles verschlingenden Malstroms ist die zentrale rhetorische Figur dieses Gedichts. Sich ohne Rücksicht auf Konsequenzen dem Lebensstrudel völlig zu ergeben ist ihr Wunsch – ob dies sie nun in die höchste Seligkeit – »zum Licht« – oder in den Tod führen mag. Die Hingabe an das Leben bedeutet einmal, dass das Ich sich zum Objekt macht (»mich umtosen lassen«); gleichzeitig aber ist das Ich ein alles verzehrendes Subjekt (»mit gierig geöffnetem Mund«), und die umgebende Welt sein zu verschlingendes Objekt. Das lyrische Ich, eine blutjunge Frau vertretend, will das Leben unaufhörlich als Getränk in sich aufnehmen: »Nur trinken« heißt es als Fortsetzung des zweimal wiederholten »nur leben«, was so viel heißt wie »Leben gleich trinken«. Dabei ist die ganze Subjekt-Objekt-Verschmelzung als erotische Begegnung inszeniert: Das Ich fasst mit beiden Händen das Leben, lässt sich vom bacchantischen Strudel umtosen, und zwar mit gierig geöffnetem Mund. Die scheuen Gluten sollen zu glühenden Flammen werden, und fernerhin ist noch von Jugendglut, Lippen und sogar einem hölltiefen Schoß die Rede. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf die »Gluten« in ihrem Körper (Strophe 1, Vers 7-8), ein weiteres Lebenssymbol. Die Lebensglut entstammt »der Erden«, was uns sagt, dass das in ihr tobende Leben ein universales, ein kosmisches ist: das, was im vitalistischen Diskurs schlechthin als die Lebenskraft bezeichnet wird. Das Ich schreibt sich als Teil dieser Lebenskraft in die universale Gemeinschaft des Lebendigen ein. Wonach das Ich sich sehnt, ist die (erneute) Verschmelzung mit dem schrankenlosen Universalleben, dem es in seiner Eigenschaft als biologischerotisches Lebewesen entstammt. In Bezug auf den vitalistischen Lebenszyklus legt Scheuermanns Gedicht den stärksten Akzent auf die helle, lebensbejahende Note, lässt aber den Kontrapunkt des Todes keineswegs außer Acht. Die zyklische Note ihres Vitalismus liegt vor allem an der Gleichstellung von Leben und Tod als zwei gleich möglichen Konsequenzen ihres lebensstürmerischen Draufgängertums: »Ob er zum Lichte mich stolz mag erheben/ob ich im Strudel werde versinken«. Beides mag ihr gleich gut sein, denn beides heißt »leben, nur leben«. Ein ganz andersartiger Text ist Julius Harts Gedicht »In den Frostverglasten Scheiben« aus seiner vitalistisch-programmatischen Gedichtsammlung Triumph
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des Lebens (1898), von der ein Teil – unter dem Titel Todestanz – den Themen Tod und Verfall gewidmet ist. Dass ein »Todestanz« inmitten eines »Lebenstriumphs« Platz findet, dürfte wohl als Hinweis auf die in diesem Beitrag betonte dialektische Verknüpfung von Leben und Tod im Denken dieser Epoche gelten. Julius Hart (1859-1930) gehörte zusammen mit seinem Bruder Heinrich (18551906) zur Kerngruppe des sogenannten Friedrichshagener Dichterkreises,22 der sich in den 1890er Jahren im südöstlichen Berliner Vorort niederließ und zum Inspirationszentrum für eine neue Dichtung im Zeichen des Monismus, Vitalismus, Darwinismus und orientalischen Mystizismus wurde, ein philosophisches, künstlerisches und reformerisches Experiment, bei dem unter anderem alljährliche Volksfeste veranstaltet wurden, die von Berliner Bürgern zu Zehntausenden besucht wurden. Das Gedicht »In den frostverglasten Scheiben« ist eine Sterbevision. Das lyrische Ich liegt auf dem Sterbebett, der Mond und die Sterne schauen kalt durch das Fenster hinein, das Weltall spricht zu ihm von der Unsterblichkeit: »Deine Flügel sind entfaltet über Raum und alle Zeiten, Tod und Leben sind nur Formen, Träume dumpfer Sinnlichkeiten.« […] Alle Räume, alle Tiefen sind von meinem Blut durchflossen, über allen Welten lieg ich zeugend, keimend ausgegossen. Und ich trinke, und ich trinke alles Sein und alles Scheinen aus der Welten grünen Schalen, duftend von gewürzten Weinen. Alles Sein fließt in mich nieder, und ich selber bin nur Fließen, bin Erzeuger und Erzeugtes, ewig Schaffen und Genießen. Still im Mondeslichte schwebend trink ich und entström in Gluten, 22 | Zum Kern des Friedrichshagener Dichterkreises zählten vor allem auch Wilhelm Bölsche und Bruno Wille. Viele bekannte Dichter und Literaten lebten für kürzere oder längere Zeit in Friedrichshagen.
Zyklischer Vitalismus überall spürst du den Atem meiner Silberregenfluten.
Wie bei Scheuermann ist auch hier das zentrale Thema die Auflösung des Ichs ins All. Bei Scheuermann war es die Auflösung im Übergang zum (wahren) Leben; hier ist es die Auflösung in den Tod. Aber auch im Sterben bleibt das Ich aktives Subjekt, Vollzieher eines Vorgangs: »Bin Erzeuger und Erzeugtes«. Das kausale Subjekt-Objekt-Verhältnis löst sich auch hier auf: Einerseits breitet sich das Ich über das Weltall hinaus, andererseits lässt es das All in sich hineinströmen: »Und ich trinke und ich trinke«, »Alles Sein fließt in mich nieder«. Das gleichzeitige Entströmen und Hineinströmenlassen ist Julius Harts Vision der Totalität von Ich und Weltall, genau wie es auch Scheuermanns Totalitätsvision war. In Bezug auf den vitalistischen Zyklus befindet sich Harts Sterbegedicht im Ansatz auf der »dunklen« Seite. Sein Ausgangspunkt und Grundthema ist der Tod, die ganze Szene ist eine Sterbeszene. Um diese Situation herum baut es aber dann einen zyklischen, kosmischen Verständnisrahmen auf, innerhalb dessen es das Sterben mit dem Leben in eins gehen lässt. Mit Hedwig Dransfelds (1871-1925) Gedicht »Kirchhofsommer« soll ein Beispiel einer viel konkreteren Spielart des zyklischen Vitalismus gegeben werden. Auch Hedwig Dransfeld gehört – wie Julia Virginia – zu den heute vergessenen Dichtern. Das hier zitierte Gedicht stammt aus ihrer einzigen Gedichtsammlung Erwachen aus dem Jahre 1903. Schon im Gedichttitel »Kirchhofsommer« paart sich das Todesmotiv des Kirchhofs mit dem Lebensmotiv des Sommers. In den beiden ersten Strophen wird in grellen Farben dieser Kontrast noch vertieft. In der ersten Strophe kommt zunächst ein Wundern auf: So hoch das Gras, die Luft so golden … Ich träume in den Sommerwind, warum so üppig hier die Dolden, So honigschwer die Blüten sind. Die Knospen bergen kaum den Segen, Die Rose Schwillt im Sonnenkuß … Ein stürmisch Wachen an den Wegen, Ein wilder Lebensüberfluß!
Thematisiert wird hier die paradoxale Üppigkeit des Lebens an diesem Todesort. Die Motive des Lebens reihen sich: Gras, Dolden, Blüten, Knospen, Rosen; Gewächse, deren Qualität durch Adjektive wie üppig, honigschwer und das Verb schwellen gekennzeichnet ist. Alles in allem: »ein wilder Lebensüberfluß«. Die zweite Strophe lässt kontrastiv den Motivkreis des Todes in den Vordergrund treten: Und in der Tiefe ruhn die Stillen So kühl und starr im dunkeln Grab,
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Sven Halse Und weiche Sommerregen quillen als Gruß in ihr Verlies hinab. Sie ruhn im Schoß der braunen Wände Und fragen nicht nach Lust und Schmerz, Und tausend feine Wurzelhände umklammern jetzt ihr totes Herz
Hier sind die Tiefe der Erde, die Leichen (»die Stillen«) und das Grab durch völlig entgegengesetzte Qualitäten gekennzeichnet: ruhen, kühl, starr, dunkel, tot. Das zentrale Thema des Gedichts ist aber nicht dieser Kontrast, sondern das, was sich schon in der zweiten Strophe kundtut. Das Wasser – ein Lebenssymbol – sickert langsam durch die Erde zu den toten Körpern hinab. Der Sommerregen ist eine milde, vermittelnde Instanz zwischen oben und unten, zwischen Lebens- und Todessphäre; er ist »weich« und kommt »als Gruß« von oben herab. Aber auch andere Brücken werden geschlagen zwischen den beiden Sphären. Die Gewächse haben schon ihre »feinen« Boten hinabgeschickt: »Und tausend feine Wurzelhände/ Umklammern jetzt ihr totes Herz«. Diese erste Verbindung der beiden Sphären wird in der dritten Strophe als rein biologischer Prozess weitergeführt: Sie ruhn in blauer Nacht verloren, Ermattet nach dem heißen Lauf – und in die keimgeschwellten Poren saugt sie die durst’ge Erde auf. Sie trinkt der Kinder rinnend Leben, sie schlürft die letzte Faser ein, um aus der toten Kraft zu weben In ihrem Schoß ein neues Sein.
Beschrieben wird hier mit fast schockierender Konkretheit, wie die Leichen zerfallen und von der Erde als Nahrung aufgenommen werden. Der Kreislaufgedanke wird hier in konzentriertester Form zum Ausdruck gebracht, und zwar in einer biologischen Konkretion, die Gottfried Benns zehn Jahre jüngeren »Morgue«-Gedichte in einigem vorwegnehmen. Von Körpersaft und Muskelfasern ist jedenfalls schon hier die Rede; das Motiv des toten Fleisches wird jedoch hier bei Hedwig Dransfeld in den beiden letzten Strophen in echt vitalistischer Weise zu autonomer Lebenskraft abstrahiert. Zunächst kehrt sie aber zur üppigen Blüte aus der ersten Strophe zurück, für die wir jetzt eine Erklärung haben: Das Geißblatt klettert am Gemäuer mit wehrendem Gelock empor, die roten Nelken stehn im Feuer, der Flieder webt den blassen Flor. Es neigen sich die goldnen Ruten,
Zyklischer Vitalismus vom braunen Safte schwillt der Zweig… Ein durstig Blühn und rasch Vergluten, ein Schwelgen durch das stille Reich! Das ist die wilde Kraft der Toten, die Licht und Dunkel überbrückt und ihre scheuen Blumenboten mit tausend heißen Farben schmückt! Die in den schwanken Stielen schauert und lodernd aus den Kelchen bricht – die selbst das Sterben überdauert und in der Tiefe weint nach Licht.
Die Vorstellung von einer Lebenskraft (»die wilde Kraft der Toten«), die die toten Körper gleichsam an die aufkeimende Natur weiterreichen, stellt die Konklusion des Gedichts dar; eine Kraft, die Leben und Tod verbindet: oder, wie es heißt, »Licht und Dunkel überbrückt«, die überall in den Lebewesen vorhanden ist (»in den schwanken Stielen schauert/und lodernd aus den Kelchen bricht«), »die selbst das Sterben überdauert und in der Tiefe weint nach Licht« und somit den großen Zyklus schließt und in Bewegung hält. Es ist schwer zu sagen, ob in diesem Gedicht der Hauptakzent auf dem Leben oder auf dem Tod liegt. Die beiden Sphären halten sich hier gewissermaßen das Gleichgewicht. Wir befinden uns genau in der Mitte des zyklischen Systems. Das Gedicht ist ein Paradebeispiel für das vitalistische, wertneutrale Gleichgewicht von Leben und Tod. Es inszeniert mittels der Kirchhofmetapher den Gedanken vom dialektischen Zusammenhang von Leben und Tod, und zwar tut es dies durch ein auffallendes Gemisch von Stiltönen. Die vielen preziösen Ausdrücke und das Gartenmotiv sind an sich typisch für den Ästhetizismus des Jugendstils und des Symbolismus; romantisch und altmodisch hingegen kommt der etwas überschwängliche Ton an einigen Stellen vor (»im dunkeln Grab«, »in der Tiefe ruhn die Stillen«, »nach Licht weinen«); daneben treten aber auffallend nüchterne Ausdrücke wie »die keimgeschwellten Poren«, »der Kinder rinnend Leben«, und »sie schlürft die letzte Faser«, die etwas fast zu Konkretes an sich haben, vor allem das Wort »schlürfen«, das vampiristische Obertöne hinzufügt. Aufgrund dieser konkreten biologischen Inszenierung der Lebenskraft ist Hedwig Dransfelds Gedicht als paradigmatisches Beispiel für den zyklischen Vitalismus zu betrachten. Auch Julius Hart thematisierte im oben zitierten Gedicht »In den frostverglasten Scheiben« die universale Lebenskraft, aber die Kraft hatte bei ihm einen anderen, viel abstrakteren Status. Bei Dransfeld ist Lebenskraft mit dem Stoff, mit der Materie eng verbunden, so wie auch die naturwissenschaftlichen Neovitalisten sich die Lebenskraft vorstellten. Gottfried Benns (1886-1956) Name ist in Verbindung mit Dransfeld schon einmal gefallen und soll hier nochmals erwähnt werden, denn Dransfelds und Benns
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lyrische Arbeiten verbinden sich gewissermaßen auf dem gemeinsamen Nenner des zyklischen Vitalismus. In Benns Gedichtzyklus Morgue (1911) geht es bekanntlich um kranke und tote Menschen, oder vielmehr um Menschenkörper. Im Gedicht »Requiem« schildert Benn tote, kreuzweise gestapelte Körper: Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiberkreuzweis. Nah, nackt, und dennoch ohne Qual. Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber gebären nun ihr allerletztes Mal. Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden. Und Gottes Tempel und des Teufels Stall nun Brust an Brust auf eines Kübels Boden begrinsen Golgatha und Sündenfall. Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten: Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib. Ich sah, von zweien, die dereinst sich hurten, lag es da, wie aus einem Mutterleib.
Das Herausnehmen von Eingeweiden wird als »letzte Geburt« benannt. Die toten Körper begrinsen, machen sich lustig über die üblichen religiösen Vorstellungen: Jesu Leiden auf Golgatha, Sündenfall, des Teufels Verlockungen usf. Benns Projekt ist hier das Einschreiben des Menschen in einen biologischen Rahmen: Wir sind nur Materie, Fleisch. Von Wiedergeburt der Seele ist hier keine Rede, nur von einer Neugestaltung des Fleisches. Was hier als »Neugeburten« hervortritt, sind lauter Einzelteile von zerteilten Körpern, Eingeweide, einmal ein Embryo »wie aus einem Mutterleib«, aber nicht wie es sonst verschönernd heißt eine »Liebesfrucht«, sondern das Ergebnis »von zweien, die dereinst sich hurten«. Zynismus, Perspektiv- und Sinnlosigkeit herrschen in diesem Gedicht vor. Nur das Wort »Neugeburten« lässt an ein neues Beginnen denken. Man muss weiter suchen, um zyklisches Denken zu finden. Denn auch bei Benn scheint der biologische Tod, das Zerlegen und die Auflösung von Körpern punktuell sinnvoll zu werden. In »Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke« liest man: Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.
Durch verschiedene personifizierte Bewegungen wird ein Zusammenhang von einerseits Fleisch/Glut/Saft, andererseits Acker/Land/Erde zustande gebracht. Der Körper gleitet aus eigenem Wunsch und innerer Gesetzmäßigkeit (»Fleisch ebnet sich«, »Glut gibt sich fort«) sowie als Folge eines Rufs der umgebenden Natur (»Erde ruft«) in die Erde zurück. Die empfangende Erde spielt dabei eine aktive Rolle: Sie bereitet sich auf die Aufnahme vor: »Der Acker schwillt um jedes
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Bett«, so wie auch die Materie auf die Wiedervereinigung mit der Erde vorbereitet: »Saft schickt sich an zu rinnen«. Wir haben es hier mit zwei Elementen zu tun: Menschenkörper und Erde, die sich aktiv begegnen, die eine ersehnte Vereinigung vollstrecken, genau wie wir es auch in Dransfelds Kirchhofgedicht sahen. Biologisch-sinnlich ist auch Marie-Madeleines (1881-1944) Erlebnisgedicht »Im Park«. Der volle Name dieser Dichterin war Marie Madeleine Baronin von Puttkamer, und ihre Jugendgedichte machten wegen ihres sadomasochistischen Inhalts Furore. Nichtsdestotrotz ist sie in Hans Benzmanns Moderne deutsche Lyrik (1907) mit zwei Gedichten vertreten, von denen das andere den vielsagenden Titel »Der Sklave« trägt. Hier soll »Im Park« zunächst in extenso zitiert werden: Es sind des Nachts in meinem Park die Teiche wie tote Augen. Oder wie Opale. Hoch über ihnen aber droht das fahle Himmelsgewölb, das sterndurchflammte, bleiche. Es sind des Nachts in meinem Park die Rosen wie weiche, junge Lippen. Und sie können gerad so kühl und so verzehrend brennen wie solche jungen Lippen, wenn sie kosen. Die dunklen Pflanzen hängen wild hernieder, und zärtlich ziehe ich die hohen, schwanken, die wildverflochtnen, dunkelgrünen Ranken wie einen Königsmantel um die Glieder. Und schauernd liege ich im feuchten Gras, den jugendheißen Körper ganz umgeben von dem geheimnisvollen, stummen Leben, von all den Ranken, schwer von Tau und naß. Da senk ich tief mein Haupt zur Mutter Erde Und denk verzweifelt an den Tag vor allen, an jenen Tag, da ich zu Staub zerfallen, den wilden Pflanzen Nahrung geben werde.
Teiche und Himmel sind zwar bedrohlich, tot und bleich. Aber dort unten, wo das Ich, die junge Frau, das heißt ihr Körper sich befindet, im Gras, ist die Natur üppig, feucht, zart, und die Rosen sind verzehrend und brennend wie junge Lippen. Ihr Körper erstrebt eine Vereinigung mit den Pflanzen: »Zärtlich ziehe ich die Ranken um die Glieder« (Strophe 3). Das klingt wie eine genuine Selbstinszenierung im Jugendstil: Körper und Rosenranken gehen in eins. Das Ich ist vom geheimnisvollen, üppigen und feuchten Leben der Pflanzen umgeben, sein Körper selbst
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auch »jugendheiß«, »schwer« und »naß«. Das Erlebnis von Einheit mit der Natur, mit »Mutter Erde«, leitet im Gedicht zum selben biologischen Kreislaufgedanken über, den wir auch bei Dransfeld und Benn ausgedrückt sahen: Das Ich denkt an seinen eigenen Tod, in dem es »den wilden Pflanzen Nahrung geben« wird, wie es im abschließenden Vers heißt. Aus der subjektiven Innenperspektive der noch blutjungen Dichterin kann ein solcher Gedanke jedoch nicht wertneutral sein. Er muss »mit Verzweiflung« gedacht werden. Was in der zyklisch-kosmischen Perspektive einer Hedwig Dransfeld eher verheißungsvoll und trostreich ist, was in der zynischen Perspektive eines Gottfried Benn eher wertneutral schien, das wird aus der Sicht eines jungen Mädchens als traurig und voller Verzweiflung dargestellt: Ich muss einmal sterben und zu Pflanzennahrung werden. Dieser Gedanke wird im Gedicht nicht in zyklische Lebenstotalität abstrahiert, nicht als Lebensanschauung herauskristallisiert. Was hier noch vom vitalistischen Denken übrig bleibt, ist das Bewusstsein vom rein biologischen Wesen des Menschenkörpers und des Menschenlebens, ein Memento mori auf biologischer Formel.
D IE OSZILLIERENDE O BERFL ÄCHE DES V ITALISMUS Der Vitalismus kann als ein Versuch verstanden werden, die erlebte Demütigung und Entwürdigung des Menschen mittels einer neuen Vision für den zukünftigen Menschen zu überwinden, eine Vision, die das Leben als Sinnsystem einsetzt und zum neuen »Gott« macht. Die Naturwissenschaft ließ im Laufe des 19. Jahrhunderts den westlichen Menschen verstehen, dass er im Prinzip ein Tier unter Tieren sei. Zwar sei er durch seine Intelligenz den anderen Tieren etwas voraus, aber im Prinzip seien alle Lebewesen denselben evolutionären und biologischen Gesetzen unterworfen und von daher könne der Mensch nicht als Gottes Ebenbild aufgefasst werden, sondern nur noch als hoch entwickelter Affe. Darwins Maxime vom »Survival of the Fittest« wurde von einigen als eine Lehre vom Recht des Stärkeren und von daher als eine Drohung gegen die christliche und aufgeklärte Ethik verstanden. Obwohl Darwin nicht der »Stärkere«, sondern der »Geeignetere« meinte, wurde jene Deutung die populärwissenschaftliche und vulgärpolitische Botschaft, die oft auf den Markt gebracht wurde, wenn es in den rassenpolitischen Rahmen bestimmter Ideologen der Zeit hineinpasste. Das Durchsetzungsvermögen des neuen darwinistischen Natur- und Menschenverständnisses wurde durch die gesellschaftliche Entwicklung der westlichen Länder beschleunigt. Die verschlechterten sozialen Lebensbedingen ausgesetzter Teile der Bevölkerung infolge der industriellen Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts und die Konzentration von Krankheit und sonstiger menschlicher Schwäche vor allem in den Großstädten waren historische Neuerfahrungen, die zu verdeutlichen schienen, dass das Überleben in der modernen Industriegesellschaft
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für die Menschenrasse ein Problem werden könnte. Manche zweifelten – im Lichte der Darwin’schen Theorie – daran, dass der Mensch in evolutionärem Sinne überhaupt für das Überleben fit sei. In dieser bedrohten Situation wurde der Ruf nach neuen Zukunftsvisionen für die Menschheit wach, Visionen, die auf andere und »natürlichere« Grundlagen bauen konnten. Auf diesem Hintergrund ist die um 1900 hervorbrechende Welle des Lebenskultus, aber auch des Todes- und Niedergangskultus, zu verstehen. Das überwältigende Interesse für Gesundheit jeder Art, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht, war eine Antwort hierauf. Die Lebensreformbewegung mit ihren vielen Verzweigungen ist ein breiter kultureller Ausdruck hierfür. Der Vitalismus, der die Vorstellung von einer autonomen Lebenskraft verfocht, setzte sich als naturwissenschaftlicher Sonderstandpunkt und als allgemeines ideologisches Sinnsystem durch. In diesem Beitrag wurden unter dem Begriff »Vitalismus« die holistischen Lebensvorstellungen gefasst, die in den ausgewählten Gedichten beobachtet werden konnten; Lebensvorstellungen, die zwar in der Regel in individuell und subjektiv erlebten Situationen ihren Ausgangspunkt nehmen und ihr Augenmerk von daher auf konkrete Lebens- oder Sterbenssituationen richten, die aber mit verschiedenen Mitteln danach streben, die Leben-Tod-Einheit in ein universales und dialektisches (oder zyklisches) Lebensverständnis einzuschreiben. Wir erkennen in dieser Literatur der Epoche eine Suche nach neuen sprachlichen Formeln; ein neuer Diskurs für ein neues Lebensverständnis muss erst gefunden werden. In einem derartigen Prozess kreuzen sich neugefundene Stilmittel mit denen vergangener Zeiten und anderer ideologischer Bereiche. Betrachten wir z.B. die Vorstellungen vom Diesseitigen und Jenseitigen, die seit Jahrhunderten durch den christlichen und wohl auch durch den platonischen Dualismus überformt wurden. Sie erleben in dieser Epoche einen Wandel im Lichte des monistischen Denkens, das eine neue Sprache für das simultane Dasein des ganzen Weltalls im Diesseitigen, im Hier und Jetzt, zu schaffen versucht. Das ist ein gedanklicher und sprachlicher Kraftakt, der nur den begabtesten Künstlern gelingt. Bei anderen fällt der Versuch oft leer-pathetisch und klischeehaft aus. Das monistisch-vitalistische Denken muss aber nicht nur das althergebrachte dualistische Weltbild überwinden. Auch andere Paradoxe wollen überbrückt werden: Die Naturwissenschaft hat eine andere und wahrere Geschichte der Weltschöpfung und damit das tierische Wesen des Menschen nachgewiesen und dadurch den Menschen in eine Krise der Selbstwürdigung versetzt. Bei der Findung einer Vision für den neuen und würdigen Menschen kann dieselbe Naturwissenschaft mit ihren Erkenntnissen aber nicht ignoriert werden, sonst wäre die neue Formel ja gar keine Zukunftsvision, sondern nur ein neues wirklichkeitsverleugnendes Postulat. Die Vision des modernen Menschen muss die Naturwissenschaft, den Demütiger, den Gottesbezweifler, in sich aufnehmen, um erst dadurch neuen Zukunftsglauben und neue Menschenwürde zu ermöglichen. Das fordert viel Anstrengung, viel Pathos, aber auch eine neue »biologische« Sprache der Dichtung, die manchmal entfremdet: »Saft«, »Faser«, »Nahrungsaufnahme«!
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Damit erhebt sich aber in der Zeit eine weitere Frage: Ist durch die Akzeptanz der wissenschaftlichen Modernität das aufklärerisch-humanistische Erbe bedroht? Wie reimt sich »Survival of the Fittest« auf Altruismus, Nächstenliebe, auf ethische und ästhetische Erziehung der Menschheit, auf vernünftige und gerechte Einrichtung der Gesellschaft usf. Wird nicht durch diese Akzeptanz einem Aristokratismus der Raubtiere, einer Prinzipienlosigkeit der Instinkte jenseits von Gut und Böse freier Lauf gegeben? Wird dadurch nicht alles, was die deutsche und westliche Kultur seit dem frühen 18. Jahrhundert, ja seit der Renaissance an Kultur erkämpft hat, rückgängig gemacht? Auch diese Fragen werden im Kielwasser der Auseinandersetzungen mit der großen Lebensfrage, die sich in der Zeit erhebt, aufgeworfen; eine Auseinandersetzung, die sehr bald auch politisch wird: Denn in welchen Situationen soll gewissen Teilen der Menschenrasse – i.e. den besser geeigneten – zugunsten der weniger geeigneten die Möglichkeit zum Überleben gegeben werden, wo die Wissenschaft eine solche Wahl hat? Das Wort »Menschenrasse«, das zunächst »Menschheit« überhaupt bedeutete, spezialisiert sich und erhält auch eine Mehrzahlform, »Menschenrassen«, die je nach vermeintlicher »fitness« hierarchisiert werden können. Das ist aber in diesem Zusammenhang eher ein Exkurs. In den analysierten Gedichten geht es um das Leben und den Tod für den einzelnen Menschen, und zwar in unterschiedlicher Gewichtung und Beleuchtung, aber durchgehend im dialektischen, zyklischen Zusammenhang. Die hier analysierte Dichtung bewegt sich auf einem Leben-Tod-Kontinuum, bedient sich aber dabei sowohl konkret-biologischer als auch abstrakt-kosmischer Metaphorik. Es wäre daher analytisch produktiv, die beiden Unterbegriffe »kosmischer« und »biologischer Vitalismus« einzuführen. Bei Dichtern von esoterischer Orientierung wie Johannes Schlaf und Julius Hart hat die Leben-Tod-Dialektik einen ganz abstrakten Charakter. Die Verschmelzung von Leben und Tod vollzieht sich als kosmischer Vorgang im Weltall. Julia v. Scheuermann spricht wenig vom Tod, sieht aber das Leben als allgegenwärtige Kraft in und um sich herum. Der Vitalismus dieser drei Dichter ist kosmischer Art. Für Hedwig Dransfeld und Marie-Madeleine scheinen die Lebensprozesse in ganz anderer Weise an die Erde gebunden zu sein. Bei ihnen vollzieht sich die dialektische Verbindung sozusagen unter der Erdoberfläche, unter Wurzeln und Pflanzen. Gottfried Benn bewegt sich auf derselben konkret-biologischen Ebene: Saft und Erde sind bei ihm Schlüsselwörter. Für diese Dichter bzw. Texte wäre die Kategorie des »biologischen Vitalismus« die bessere Wahl. Diese – und ähnliche – Differenzierungen der Kategorisierungen können unsere Analysen den recht facettenreichen Gedankenformen der vitalistischen Dichtung näherbringen. Genauso wenig wie bei anderen Strömungen und Tendenzen in der Kulturgeschichte können wir uns im Falle des Vitalismus mit dem einen Zentralbegriff »Vitalismus« begnügen, wenn wir uns nuancenreich und qualifiziert über dieses Phänomen ausdrücken und nicht Gefahr laufen wollen, ein Gedicht oder ein anders Kulturphänomen als entweder »vitalistisch« oder »nichtvitalistisch« abzutun.
Schrecken der »Naturwahrheit« Ansätze einer Modernitätskritik bei Franz Kafka Moritz Schramm
1. In Franz Kafkas zweitem Romanfragment, Der Proceß, wird der Prozess der Gerichtsbehörden gegen Josef K. als allumfassend charakterisiert: »Es gehört ja alles zum Gericht«, so drückt es beispielsweise der Maler Titorelli »halb im Scherz« und »halb zur Erklärung« aus.1 Selbst die Mädchen, die Josef K. auf dem Weg zum Atelier des Malers auf der Treppe trifft, gehören offenbar zum Gericht, nichts scheint sich dem Gerichtsverfahren zu entziehen, alles ihm zuzuarbeiten. Tatsächlich gibt es im Romanfragment jedoch auch Stellen, in denen die Macht des Gerichtsverfahrens zumindest partiell eingegrenzt wird. Eine solche Begrenzung deutet sich u.a. im Gespräch mit dem Onkel an, der Josef K. in der Stadt besucht, um sich mit ihm über den Prozess zu unterhalten. Beide diskutieren dabei das Wesen des Prozesses und die Möglichkeit einer angemessenen Reaktion auf den Prozess, bei dem es sich, so heißt es dort, offenbar »gar nicht um einen Proceß vor dem gewöhnlichen Gericht« handelt (KKAP 125). Wenig später, im Laufe des Dialogs, der auf der Straße stattfindet – »der lebhafte Straßenverkehr nahm sie auf« (KKAP 126) –, unterbreitet der Onkel seinem Neffen einen Vorschlag, wie der Prozess abzumildern sei: Am besten wäre es jedenfalls, wenn Du Dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst Du Dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen Dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst Du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendiger Weise, automatischer Weise auch Dir 1 | Kafkas Werke werden nach der Kritischen Ausgabe zitiert (Schriften, Tagebücher, Briefe, Frankfurt a.M.: Fischer 1982ff.), hier: Kafka, Franz: Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift, hg. von Malcom Pasley, New York/Frankfurt a.M. 1990, S. 203 (im Folgenden im Text zitiert als: KKAP).
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Moritz Schramm gegenüber anwenden; auf das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich telegraphisch telephonisch auf Dich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit Dich zwar nicht, aber läßt Dich aufatmen (KKAP 126f.).
Das Motiv des Aufatmens, die Hoffnung, ungehindert und frei atmen zu können, hat eine lange Tradition: Es taucht beispielsweise bei Jean Jacques Rousseau als Gegenpol gegen den Zwang der Gesellschaft auf und wird bei Fjodor Dostojewski, den Kafka ausführlich gelesen hat, explizit als Vorstellung einer Befreiung von externen Festschreibungen angeführt.2 Und auch in Kafkas Romanfragment taucht das Motiv an verschiedenen Stellen auf. So beschwert sich Josef K. in der Dachkammer Titorellis über »die dumpfe, das Atmen fast behindernde Luft« (KKAP 200) und muss sich auch in der Szene in den Gerichtskanzleien mit der warmen, bedrückenden Luft auseinandersetzen: An Tagen »großen Parteienverkehrs«, und das sei fast jeder Tag, sei die Luft in den Gerichtskanzleien nämlich »kaum mehr atembar« (KKAP 100) – mit der Folge, dass Josef K. förmlich in Ohnmacht fällt und aus den Gerichtskanzleien herausgeführt werden muss. Auch hier sehnt er sich nach frischer Luft, nach einem Ausweg aus der klaustrophobischen, jedes freie Atmen verhindernden Enge des Prozesses und der Gerichtswelt: »Da kam endlich, als wäre die Wand vor ihm durchrissen ein frischer Luftzug ihm entgegen«, heißt es beispielsweise am Ende seiner Odyssee durch die Gerichtskanzleien, die mit dem Erreichen der Tür, die wieder aus den Kanzleien herausführt, beendet wird (KKAP 107). Der klaustrophobischen Enge der Gerichte, die dem Einzelnen den Raum zum Atmen nehmen, steht in Kafkas Werken zugleich immer wieder eine isolierende Kälte gegenüber, die sich häufig mit Schnee- und Winterlandschaften verbindet. So entspricht der unterdrückenden Wärme der Gerichte in Der Proceß die Kälte und Einsamkeit in Das Schloß: Hier sind es die warmen Öfen der Bauern, die der Held des Romans, K., – im kalten Schnee stehend – durch die Fenster beobachtet und die auf ihn eine faszinierende Attraktivität ausüben. Die klaustrophobische Wärme, die dem Einzelnen die Luft zum Atmen nimmt, und die vernichtende Kälte, die den Einzelnen in seiner Isolation vereinsamen lässt, bilden offenbar ein antagonistisches Gegensatzpaar in Kafkas Werken, die eine harmonische Entfaltung des Einzelnen in einer sozialen Gemeinschaft auf jeweils gegensätzliche Weise verhindern.3 2 | Siehe dazu Holm, Isak Winkel: »Das Recht zu Atmen. Existenzberechtigung und Anerkennung bei Dostojewskij und Hegel«, in: IASL, 37/2 (2012), S. 344-359; zu Kafka und Dostojewski auch: Dodd, William J.: Kafka and Dostojevski. The Shaping of Influence, London: Macmillan 1992. 3 | Vgl. Kobs, Jörgen: Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Sprache seiner Gestalten, Bad Homburg: Athenäum 1970, S. 516ff.; sowie aus einer anerkennungstheoretischen Sichtweise meinen Aufsatz: »›… das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit‹. Anerkennungsutopien bei Franz Kafka«, in: IASL, 37/2 (2012), S. 360-382.
Schrecken der »Naturwahrheit«
In der Aussage des Onkels verbindet sich die Hoffnung auf eine Begrenzung oder zumindest partielle Abschwächung der klaustrophobischen Enge des Prozesses jedoch vor allem mit einem anderen Aspekt, der für die in diesem Aufsatz diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Modernität bei Kafka von zentraler Bedeutung ist: nämlich die Vision eines – vorübergehenden – Umzugs auf das Land. Zwar existiert der Prozess auch dort, zwar ist man auch dort keineswegs frei, das Gerichtswesen scheint aber, so zumindest die Aussage des Onkels, auf dem Land in seiner Wirkung abgeschwächt zu sein. Die Gerichte verlieren offenbar jenseits der Stadt an Macht: Das Gerichtsverfahren, dem Josef K. ausgesetzt ist, scheint ein städtisches Phänomen zu sein, es scheint dort sein Zentrum zu haben, dort ansässig zu sein. Mit Blick auf das Gesamtwerk ist diese Gegenüberstellung von Stadt und Land, die hier impliziert ist, nicht überraschend. Im Proceß-Roman taucht der Gegensatz auch in der berühmten Parabel Vor dem Gesetz auf, die bekanntlich von einem Mann vom Lande handelt, der in die Stadt kommt, um zum Gesetz vorzudringen.4 Und auch die Parabel Die kaiserliche Botschaft beruht auf einer vergleichbaren, aber genau gegenläufigen Raumstruktur: Während der Mann in Vor dem Gesetz vom Land zur Stadt kommt, muss der Bote, der die kaiserliche Botschaft weitergeben soll, sich aus dem Palast durch die »Residenzstadt« und über das Land bewegen, ehe er – möglicherweise – sein Ziel wird erreichen können.5 Und der Affe Rotpeter, um ein weiteres Beispiel anzuführen, wird in Ein Bericht für eine Akademie aus der unzivilisierten Natur des Waldes in die Stadt gebracht, in der er Erfolge als Künstler aufzuweisen hat – freilich nur, wenn er, wie es im Text heißt, seine »Affennatur« (KKAD 310) unterdrückt. Land und Stadt, Natur und Zivilisation, bilden offenbar zentrale Gegensatzpaare bei Kafka. In der Forschung hat man die Opposition zwischen Stadt und Land bei Kafka unter anderem aus einer existentialistischen Perspektive als »zwei entgegengesetzte moralische Haltungen, zwei entgegengesetzte Lebenseinstellungen vor der Idee des Todes« gedeutet.6 Demnach komme in diesem Gegensatz auch das Verhältnis von Ost- und Westjuden zum Ausdruck, wobei die Ostjuden mit ihrem Zug zum Landleben bei Kafka, so Gerhard Kurz, »das Land der Einsamkeit, der Entscheidung, der Demut und der Geduld« verkörperten.7 Darüber hinaus könnte man den Gegensatz zwischen Stadt und Land bei Kafka auch in Verlängerung der 4 | Vgl. dazu ausführlich: Hermsdorf, Klaus: »Land und Stadt. Soziotopographische Aspekte in Franz Kafkas ›Vor dem Gesetz‹«, in: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas »Vor dem Gesetz«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 83-93. 5 | Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler u.a., Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 283 (im Folgenden im Text zitiert als: KKAD). 6 | Kurz, Gerhard: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart: Metzler 1980, S. 67. 7 | Ebd.
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biographischen, realhistorischen Lebensumstände Kafkas lesen. Dabei würde sich ein Blick auf den zentralistischen Staatsaufbau der Österreich-ungarischen Monarchie, in der Kafka aufwuchs, anbieten; zudem ließe sich auf Kafkas Arbeit verweisen, die ihn täglich mit den Konsequenzen einer umfassenden Industrialisierung in Böhmen konfrontierte.8 Und auch Kafkas immer wieder belegtes Interesse an der Reformpädagogik und seine Sehnsucht nach dem Landleben, die er zumindest 1917 in Zürau auch teilweise ausgelebt hat, ließe sich aus einer autobiographischen Sichtweise anschließen.9 Ergiebiger als solche Ansätze ist es jedoch, die semantische Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation, Land und Stadt inhaltlich näher zu bestimmen und historisch einzuordnen. Dabei geht es im Folgenden nicht um eine aufzählende Analyse der Naturbilder in Kafkas Werken, die an anderen Stellen in der Forschung schon vorgenommen wurde,10 sondern vielmehr um die Frage, welche Funktion der Natur und dem Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation, beziehungsweise Stadt und Land, bei Kafka zukommt. Neben der zumindest potentiellen Möglichkeit, dass sich auf dem Land ein Freiraum von dem Einfluss des Gesetzes anbieten würde, wie der Onkel im Gespräch mit Josef K. anführt, zeigt sich dabei auch die Funktion einer Störung und Bedrohung der modernen Erfahrungswelt sowie die Funktion einer kompensatorischen Sinnressource, die gegen den Zusammenbruch jedes stabilen Sinngefüges in der Moderne angeführt werden kann. Bei Kafka zeigt sich so eine Modernitätskritik, die mit der Annahme einer der modernen Erfahrungswelt entgegenstehenden Unmittelbarkeit der Natur operiert.
2. Eine erste Vertiefung des Verhältnisses von Stadt und Land bzw. Natur und Zivilisation lässt sich anhand einer der unterhaltsamsten Stellen in Kafkas Werken vornehmen, der Aktenverteilungsszene in Das Schloß. K. hält sich hier nachts im Her8 | Siehe zu den biographischen Hintergründen unter anderem Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München: Beck 2005; Stach, Rainer: Kafka – Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, und ders.: Kafka – Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Fischer 2008; sowie: Neumann, Bernd: Franz Kafka. Gesellschaftskrieger. Eine Biographie, München: Fink 2008. 9 | Siehe zu Kafkas Aufenthalt in Zürau ausführlich: R. Stach, Kafka. Jahre der Erkenntnis, S. 223ff. Die primitiven Lebensumstände in Zürau beschreibt Stach anschaulich: »Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine befestigten Straßen. Kein Kaffeehaus, kein Kino, keine Buchhandlung, keine Zeitungskiosk. Kein Postamt, kein Telefon im Dorf, die Bahnstation Michelon (Mêcholupy) nur mit dem Pferdekarren zu erreichen. […] [Z]wei- oder dreimal während des Sommers hatte er seine Schwester in Zürau besucht, und danach hatte er alles in den schönsten Farben gemalt« (ebd., S. 224). 10 | Vgl. beispielsweise: Bezzel, Christoph: Natur bei Kafka. Studien zur Ästhetik des poetischen Zeichens, Nürnberg: Carl 1964.
Schrecken der »Naturwahrheit«
renhof auf und beobachtet, wie ein Diener mit einer, wie es heißt, imponierenden »Unnachgiebigkeit« den im Herrenhof übernachtenden Herren aus dem Schloss, den Beamten, Akten zukommen lässt.11 Bei der geschäftigen Verteilung der Akten geschehen freilich Fehler, so dass sich an grotesken Zügen kaum zu überbietende Konfliktsituationen ergeben: So werden die falschen Akten an Beamten geliefert, die dann von den anderen Beamten eingefordert werden, während zugleich die Beamten, die in den Besitz von vermeintlich falschen Akten gekommen sind, nun andere einfordern, dann aber plötzlich doch die ihnen fälschlich zugestellten Akten behalten, zugleich neue einfordern, früher zugestellte nicht mehr herausrücken wollen usw. Es entwickeln sich jetzt mit anderen Worten Kämpfe, Konflikte und Missverständnisse, die der Diener mit einer fast schon ironisch überhöhten Hartnäckigkeit und unter Anwendung der verschiedensten Tricks und Täuschungsmanöver zu lösen versucht: So geht er beispielsweise scheinbar desinteressiert von einem Zimmer weg, um die Neugierde der Beamten, die ihm die Tür nicht öffnen wollen, anzuregen und dann schnell, wenn sie die Tür aus Neugierde einen Spalt weit geöffnet haben, in das Zimmer einzudringen. Oder er versucht mit kleinen Tricks, den Beamten bestimmte Akten abzunehmen, die diese nicht hergeben wollen. In dieser stark unterhaltsamen Szene gibt Kafka so die Absurdität der modernen Bürokratie und des modernen Verwaltungswesens wieder, mit der er selbst über seine Arbeit in Kontakt stand. Und man kann in diesem Zusammenhang wohl auch davon ausgehen, dass Kafka, wie in der Forschung gut belegt ist, mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die Folgen der modernen Bürokratie gut vertraut war. Nicht zuletzt die kritischen Arbeiten seines akademischen Lehrers Alfred Weber, der die neue Rolle des Beamten mit dem Untergang der individuellen Persönlichkeit gleichsetzte, wird Kafka gekannt haben.12 In dem hier diskutierten Zusammenhang ist jedoch vor allem die Rolle, die K. bei der Aktenverteilungsszene zukommt, von Bedeutung. So hatte der Diener schon während der »härtesten Arbeit« immer wieder Zeit gefunden, »um böse oder ungeduldig, mit nervösem Kopfzucken nach K. hinzusehn« (KKAS 439). Später, in den frühen Morgenstunden, beginnen dann vor allem die Zimmerherrn sich gegen K. zu wehren: wild und panisch beginnen diese an einer Glocke zu läuten und rufen, von Schreien begleitet, den Wirt und die Wirtin des Herrenhofes herbei, die K. dann heftige Vorwürfe machen. Die Schuld K.s besteht dabei darin, so die Wirtin des Herrenhofs, dass er die Verteilung der Akten gestört habe, indem er den Herren in den Zimmern bis zur »Unerträglichkeit« seine Existenz entgegengehalten habe. Allein die Gegenwart K.s scheint bei den Zimmerherrn
11 | Kafka, Franz: Das Schloß, hg. von Malcom Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 437 (im Folgenden im Text zitiert als: KKAS). 12 | Vgl. dazu detailliert Lange-Kirchheim, Astrid: »Franz Kafka: ›In der Strafkolonie‹ und Alfred Weber: ›Der Beamte‹«, in: Germanistisch-romanische Monatsschrift 27 (1977), S. 202-221.
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ein Gefühl der Scham ausgelöst zu haben. In einer entscheidenden Stelle wird der Vorwurf der Wirtin an K. zusammengefasst: Es ist ja schwer zu sagen, weshalb sie sich schämen, vielleicht schämen sie sich, diese ewigen Arbeiter, nur deshalb weil sie geschlafen haben. Aber vielleicht noch mehr als sich zu zeigen, schämen sie sich fremde Leute zu sehn; was sie glücklich mit Hilfe der Nachtverhöre überwunden haben, den Anblick der ihnen so schwer erträglichen Parteien, wollen sie nicht jetzt am Morgen, plötzlich, unvermittelt, in aller Naturwahrheit von neuem auf sich eindringen lassen. Dem sind sie eben nicht gewachsen. Was für ein Mensch muß das sein, der das nicht respektiert! Nun, es muß ein Mensch wie K. sein. Einer, der sich über alles, über das Gesetz so wie über die allergewöhnlichste menschliche Rücksichtnahme mit dieser stumpfen Gleichgültigkeit und Verschlafenheit hinwegsetzt, dem nichts daran liegt, daß er die Aktenverteilung fast unmöglich macht und den Ruf des Hauses schädigt und der das noch nie Geschehene zustandebringt, daß sich die zur Verzweiflung gebrachten Herren selbst zu wehren anfangen, nach einer für gewöhnliche Menschen unausdenkbaren Selbstüberwindung zur Glocke greifen und Hilfe herbeirufen, um den auf andere Weise nicht zu erschütternden K. zu vertreiben (KKAS 446f.).
In der Forschung wird die Aktenverteilungsszene und die dort zum Ausdruck kommende Kritik an dem modernen Verwaltungswesen meist als Beispiel für die Bürokratie in Österreich-Ungarn, bzw. als »Modell der ›bürokratischen Herrschaft‹, der verwalteten Welt als dem Weltzustand« erkannt.13 Auffällig ist freilich, dass die Störung der Büroarbeit, der K. sich offensichtlich alleine durch seine Anwesenheit schuldig macht, mit dem Begriff der »Naturwahrheit« verbunden wird – mit einem Begriff also, der in diesem Kontext überrascht und aufhorchen lässt. Aus einer historischen Perspektive legt dieser Begriff eine Spur zu den ästhetischen Diskussionen zum Verhältnis von Kunstwahrheit und Naturwahrheit, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in verschiedenen Formen auftauchen. Der Begriff der Naturwahrheit verbindet sich dabei meist mit der Vorstellung einer gegen die ästhetische Ausschmückung stehenden Natürlichkeit und Unmittelbarkeit. Wichtig für Kafka ist jedoch vor allem der Gebrauch dieses Begriffs bei Nietzsche, dessen Werke Kafka bekanntlich ausgiebig gelesen hat.14 Die »Naturwahrheit« wird dabei gerade in seinem Frühwerk explizit als Gegenpol gegen eine »sich als einzige Realität gebärdende Kulturlüge« angeführt: Dieser Gegensatz sei vergleichbar mit dem zwischen dem »ewigen Kern aller Dinge, dem Ding an sich« und der 13 | Hermsdorf: »Land und Stadt«, S. 90. Vgl. zu dieser Stelle auch: Gray, Ronald D.: Kafka’s Castle, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 74f. 14 | Auf den Einfluss von Nietzsche auf Kafka wurde in der Forschung schon früh aufmerksam gemacht: Vgl. u.a. schon Ries, Wiebrecht: »Kafka und Nietzsche«, in: Nietzsche Studien 2 (1973), S. 258-275; Bridgwater, Patrick: Kafka and Nietzsche, Bonn 1974, und Grimm, Reinhold: »Comparing Kafka and Nietzsche«, in: The German Quaterly (1979), S. 339-350. Kürzlich: Alt: Franz Kafka, S. 92-94 u.a.m.
Schrecken der »Naturwahrheit«
gesamten »Erscheinungswelt«, so Nietzsche.15 In Kafkas Romanfragment verbindet sich diese Traditionslinie mit einer deutlich modernitätskritischen Position: Stehen auf der einen Seite die »Bureauarbeit« (KKAS 440), das Gesetz und die allgemeinen Regeln, zu denen nach der Aussage der Wirtin auch »die allergewöhnlichste menschliche Rücksichtnahme« gehört, so stehen auf der anderen Seite die »Naturwahrheit«, die individuelle Existenz und die stumpfe »Gleichgültigkeit und Verschlafenheit«, mit der sich K., so der Vorwurf der Wirtin, nicht nur über alle Regeln und Gesetze hinwegsetzen würde, sondern auch den reibungslosen Ablauf der Aktenverteilung stört. Im Manuskript hatte Kafka diese Störung vorübergehend sogar noch schärfer gefasst. So wählte Kafka an dieser Stelle zwar zunächst den Begriff der »Naturwahrheit«, ersetzte diesen dann jedoch mit dem Ausdruck der »Schrecklichkeit«, ehe er diese Möglichkeit wieder verwarf und erneut »Naturwahrheit« einsetzte.16 Zumindest assoziativ verbindet sich auf diese Weise die Naturwahrheit mit dem Gefühl einer Bedrohung und einer Gefährdung der Welt der Beamten. Die Natur verweigert sich daher nicht nur den Grundzügen der Moderne, sie steht diesen auch unmittelbar entgegen und fordert diese, so zumindest die Sichtweise der Wirtin, auch unmittelbar heraus. Dabei verwendet Kafka auch an dieser Stelle Metaphern, die auf den Gegensatz zwischen Land und Stadt anspielen. So wird die Geschäftigkeit, die sich jetzt, im Zusammenhang mit dem Aufbegehren der Herren gegen K., entwickelt, als ein »Verkehr« bezeichnet, der wie in einem »lebhaften engen Gäßchen« sich vollzieht (KKAS 442). K.s Position wird dagegen mit einem ländlichen Motiv beschrieben, steht dieser doch, wie wir erfahren, inmitten dieses Verkehrs »wie ein Tier auf der Weide« (KKAS 444). Wie schon in Der Proceß, in dem der »Straßenverkehr« den Onkel und Josef K. während ihres Gesprächs über das Landleben aufnahm (KKAP 125), wird also auch hier der modernen Erfahrungswelt eine ländliche Welt entgegengestellt. Zugleich bekommt die Natur hier aus der Perspektive der Wirtin die Funktion einer geradezu subversiven Bedrohung, eines umfassenden Schreckens zugewiesen: Nicht nur erscheint die Natur und das Leben auf dem Land als potentieller Fluchtweg aus dem Einflussbereich des Gesetzes, wie dies in Der Proceß der Fall war, sondern sie wird hier als Verfehlung, als Schrecken auslösende Gefährdung und als individuelles Aufbegehren gegen die Bürokratie und gegen die Allgemeinheit mit ihren ethischen Normen und überindividuellen Verhaltensweisen charakterisiert: Die Natur erscheint als Gegenpol, als Hort des Widerstandes gegen die Macht des Gesetzes.
15 | Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München: Hanser 1966, Bd. 1, S. 50. 16 | Kafka, Franz: Das Schloß. Kommentarband, hg. von Malcom Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 453.
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3. Es ist unschwer zu sehen, dass Kafka damit zentrale Motive der Literatur der Jahrhundertwende aufnimmt und in seinen Werken zitiert. Gerade die Tendenz einer neuen Hinwendung zur Natur, die in den um die Jahrhundertwende verbreiteten Beschreibungen einer »Flucht aus der Großstadt«, in dem »neuen Naturgefühl« und dem »neuen Rousseauismus« sich widerspiegeln, deutet sich auch bei Kafka an. In Kafkas Werken taucht dieser Motivkomplex in geradezu exemplarischer Deutlichkeit unter anderem in den frühen Erzählfragmenten zum kleinen Ruinenbewohner auf, die Kafka 1910 in seinem Tagebuch festhielt. Die fünf Textfragmente, die alle als Variationen einer Grundszene zu lesen sind, gehören zu den vielen Texten, in denen Kafka eine Kritik der zeitgenössischen Erziehung vorlegt. So steht in allen fünf Textfragmenten der Vorwurf des fiktiven Erzählers im Zentrum, »daß mir meine Erziehung in mancher Hinsicht sehr geschadet hat«17. Auch dabei spielt freilich der Gegensatz zwischen Stadt und Land eine entscheidende Rolle. So heißt es deutlich abwertend in der dritten Erzählvariante: »[M]itten in der Stadt bin ich erzogen worden mitten in der Stadt« (KKAT 19), ehe das Gegenmodell angeführt wird, die Utopie einer Erziehung »in einer Ruine in den Bergen oder am See«. Kafka schreibt: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften die mit der Kraft des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen (KKAT 19f.).
Bei allen Ambivalenzen der Naturbilder, die eine genaue Lektüre dieser Textstelle aufzeigen könnte, wird doch deutlich, dass wir es hier mit einem Gegenentwurf zur städtischen Sozialität zu tun haben.18 Gegen den schädlichen Einfluss der städtischen Umwelt auf das moderne Individuum wird in dieser Textstelle der utopische Gegenentwurf einer freien Entfaltung des Individuums in der Natur angeführt, in der sich seine »guten Eigenschaften« hätten frei entfalten können. In der Forschung hat man daher zu Recht davon gesprochen, dass die Texte »ein erfülltes 17 | Kafka, Franz: Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch u.a., Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 17 (im Folgenden im Text zitiert als: KKAT). 18 | Vgl. zu diesen Erzählfragmenten u.a.: Guntermann, Georg: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 282ff.; Neumann, Gerhard: »›Eine höhere Art der Beobachtung‹. Wahrnehmung und Medialität in Kafkas Tagebüchern«, in: Franz Kafka. Zur ethischen und ästhetischen Rechtfertigung, hg. von Beatrice Sandberg und Jakob Lothe, Freiburg: Rombach 2002, S. 33-58; Bezzel: »Natur bei Kafka«, S. 98ff.
Schrecken der »Naturwahrheit«
Leben völlig unter der Wirkung der Natur, fern jeder Gesellschaft, jeder Zivilisation« entwerfen würden;19 bzw. in ihnen »die literarische Phantasie einer utopischrousseauistischen Evasion« erkannt, die gegen die Sozialisationserfahrung in der Stadt gestellt sei.20 Entscheidend für die Diskussion des Verhältnisses von Natur und Zivilisation bei Kafka ist jedoch vor allem, dass sich der Gegensatz in den Erzählfragmenten mit einer substantialistischen Individualitätssemantik verbindet. So geht die Hoffnung auf eine freie Entfaltung aller Anlagen und Eigenschaften des Individuums in der Natur in den Erzählfragmenten mit dem Hinweis auf einen präreflexiven inneren »Schwerpunkt« einher, der jedem Menschen von Geburt gegeben sei und der, so Kafka, auch durch die »närrischeste Erziehung« nicht verändert werden könne.21 Dabei verbindet der Erzähler die Schäden, die der Einzelne durch die Erziehung in der Stadt erhalten habe, mit dem Ausdruck einer »innern Unvollkommenheit«: Diese Unvollkommenheit ist nicht angeboren und darum desto schmerzlicher zu tragen. Denn wie jeder habe ich auch von Geburt aus meinen Schwerpunkt in mir, den auch die närrischeste Erziehung nicht verrücken konnte. Diesen guten Schwerpunkt habe ich noch aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper (KKAT 23f.).
Was sich unmittelbar als eine psychologische Entfremdung lesen ließe, gewinnt gerade durch die Aussage, dieser Schwerpunkt sei trotz der Erziehung noch wirksam, an Gewicht. So kann der Erzähler den Vorwurf, seine Erziehung habe ihm geschadet, konkretisieren, indem er anführt, dass »meine Erziehung einen anderen Menschen aus mir machen wollte, als den der ich geworden bin« (KKAT 22). Die Ausprägung einer individuellen Anlage kann daher auch durch den negativen Einfluss der Sozialisation nicht endgültig verrückt werden, so dass als Ergebnis eine Entfremdung zwischen der inneren Anlage des Menschen und dem äußeren Erscheinungsbild, dem Körper, zu verzeichnen ist. Erst ein Leben im Einklang mit der Natur, so das hier gezeichnete Bild, würde eine freie Entfaltung aller »guten Eigenschaften« des Individuums ermöglichen. Wenn man in der Forschung
19 | Ebd., S. 100. 20 | Neumann: »›Eine höhere Art der Beobachtung‹, S. 45. 21 | Vgl. zum Motiv des »Schwerpunkts« in diesen Textstellen und den möglichen Hintergründen bei Kleist: Bennhold-Thomsen, Anke: »Schreiben statt Leben. Zu Kafkas Tagebüchern«, in: Haller-Nevermann, Marie/Rehwinkel, Dieter (Hg.): Franz Kafka. Visionär der Moderne. Göttingen: Wallstein 2008, S. 15-37, vor allem S. 26f.; zur substantialistischen Individualitätskonzeption bei Kafka auch meinen Aufsatz: »Individualitet og socialitet. Om kampen for anerkendelse i Franz Kafkas forfatterskab«, in: Stampe Lund, Hendrik/Petersen, Anders/Schramm, Moritz/Willig, Rasmus (Hg.): Fordringen på anerkendelse, Århus: Klim 2006, S. 167-196, besonders S. 169ff.
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meint, Kafkas Sicht auf das Land sei »antiidyllisch und unsentimental«22, greift das wohl zu kurz: Dem Motivkomplex von Land und Natur kommt durchaus die Funktion einer utopischen Gegenwelt zu. Zugleich zeigen Kafkas Texte aber auch, wie sich der Gegensatz von Natur und Zivilisation, der in den Textstücken am Beispiel der Erziehungskritik angeführt wird, in den Menschen verlagert. Denn in den Erzählfragmenten sehen wir – wie auch in vielen anderen autobiographischen Texten und Selbstzeugnissen Kafkas –, wie der schädliche Einfluss der städtischen Sozialisation einen inneren Kampf gegen den im Individuum angelegten, unaufhebbaren Schwerpunkt, gegen die »Eigentümlichkeit« oder gegen das »Selbst« des Einzelnen, mit sich führt.23 Die Internalisierung einer externen Aburteilung wird so zu einem Grundzug der Werke.24 Dem modernen Individuum, das, wie der zum Menschen gewordene Affe Rotpeter in Ein Bericht für eine Akademie, seine Affennatur unterdrückt, wird also zugemutet, mit Luhmanns Worten, »Natur und Zivilisation zugleich zu sein bzw. die Differenz auszuhalten«25. Natur und Gesetz, Natur und Allgemeinheit stehen bei Kafka nicht nur in einem äußeren Spannungsverhältnis zueinander, sondern stehen sich vielmehr auch als zwei Seiten in der Person gegenüber, der von der Gesellschaft ein innerer Kampf gegen seine eigentliche Natur und Anlage aufgedrängt wird. Für eine Lektüre von Kafkas Werken ergeben sich daraus weitergehende Konsequenzen. So zieht die Konzeption einer unaufhebbaren »Naturwahrheit« im Individuum, die sich dem allgemeinen Gesetz entzieht, unter anderem ein Kommunikationsproblem nach sich. Denn wenn sich diese Naturwahrheit dadurch auszeichnet, dass sie im Individuum als präreflexiver Kern angelegt ist, bedeutet das auch, dass sich diese innere Wahrheit fast zwangsläufig einer Kommunikation durch Sprache oder Schrift entzieht. Kafka hat dies in seinen erkenntniskritischen Betrachtungen und Aphorismen immer wieder hervorgehoben. In einem der Aphorismen von 1917 heißt es beispielsweise: »Die Wahrheit ist unteilbar, kann sich also nicht selbst erkennen. Wer sie erkennen will muß Lüge sein« (KKAN2 69). In einem anderen Aphorismus kommt ein vergleichbarer Konflikt unter Hinweis auf »das Gute« zum Ausdruck: »Das Böse weiß vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht« (KKAN2 48). Weder die »Wahrheit« noch das »Gute« lässt sich offenbar rational erkennen. Vernunft impliziert vielmehr eine Trennung des erkennenden Subjekts von der Wahrheit. Ritchie Robertson fasst diese Dichotomie 22 | Hermsdorf: »Land und Stadt«, S. 90. 23 | Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 7 und S. 12 (im Folgenden im Text zitiert als: KKAN2). 24 | Vgl. zur Internalisierung bei Kafka auch Hiebel, Hans: Franz Kafka. Form und Bedeutung, Würzburg: Könighausen und Neumann 1999, S. 196ff.; sowie Schramm: Individualitet og socialitet, S. 173ff. 25 | Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 149-258, hier S. 195.
Schrecken der »Naturwahrheit«
prägnant zusammen: »Auf der einen Seite«, so Robertson mit Bezug auf die Aphorismen Kafkas, »gibt es eine Wirklichkeit, die in sich geschlossen ist, sich selbst genügend und deshalb unfähig zur Erkenntnis ihrer selbst ist, denn Selbsterkenntnis setzt eine Trennung von Subjekt und Objekt voraus«26. Auf der anderen Seite haben wir bei Kafka jedoch, so Robertson weiter, »Bewußtsein; das Bewußtsein ist per definition von seinem Gegenstand getrennt. Sich des Guten bewußt zu sein, heißt demnach, vom Guten und Wahren getrennt und damit böse und lügnerisch zu sein.«27 Etwas vereinfacht formuliert kann man sagen: Wenn man das Gute sieht, lebt man es nicht; wenn man es lebt, sieht man es nicht. Der schon beim frühen Nietzsche angelegte Gegensatz zwischen einer selbstgenügsamen Naturwahrheit, die der Lüge der Kultur und der Rationalität entgegensteht, wird so zu einer grundlegenden Dichotomie in Kafkas Werken. In Kafkas Worten: »Selbsterkenntnis hat nur das Böse« (KKAN2 48). Für die Ästhetik von Kafkas Werken bedeutet dies, dass die Möglichkeit einer unmittelbaren Wiedergabe einer realen Wirklichkeit oder einer inneren Wahrheit von vorneherein angezweifelt wird. Das in seinen Werken verbreitete Motiv einer sich bis ins Unendliche streckenden Annäherung, einer stets abgleitenden und daher nie erfolgreichen Suche nach einer sich dem Einzelnen stets entziehenden Wahrheit, ist somit erkenntniskritisch fundiert: Durch eine zielgerichtete Bewegung oder durch eine auf ein Objekt sich beziehende rationale Erkenntnis lässt sich die Wahrheit bei Kafka nie wirklich fassbar machen. Dennoch wäre es zu einfach, von dem erkenntnistheoretischen Dualismus, mit dem Kafka operiert, auf die Abwesenheit einer inneren Wahrheit zu schließen. Auch wäre es falsch, von einer strengen und notwendigen Trennung zwischen Sprache und »Wahrheit« in Kafkas Denken auszugehen. Kafka versucht vielmehr trotz der stets mitlaufenden Kritik an der Möglichkeit einer rationalen Erkenntnis, sich dieser inneren Wahrheit anzunähern und sie sprachlich zu fixieren. Dabei geht Kafka zum einen davon aus, dass das, was er aus sich heraus aufschreibt, tatsächlich einen Bezug zur Wahrheit darstellt; zum anderen kann ein Ankommen bei der Wahrheit in der Tat nie gänzlich gelingen, da er sich dazu der Sprache bedienen müsse, die wiederum eine Trennung von der Wahrheit impliziert.28 26 | Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur, Stuttgart: Metzler 1988, S. 266. 27 | Ebd. 28 | Beide Dimensionen reflektiert Kafka unter anderem in einem Brief an Milena Jesenská, in dem er sich über das Verhältnis seiner Briefe zur Wahrheit äußert. Er schreibt dort geradezu programmatisch: »Nun sind aber meine Briefe wahr oder wenigstens auf dem Weg zur Wahrheit« (Kafka, Franz: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe, hg. von Jürgen Born u.a., Frankfurt a.M. 1986, S. 296). Auch wenn seine Briefe, in denen er gerade versucht hat, seine eigene Persönlichkeit zu erklären, die Wahrheit nicht unmittelbar wiedergeben können, so kommen sie also doch der Wahrheit nahe. In dem Sinne liegt in seinen Briefen keine Lüge vor: »was täte ich erst vor Deinen Antworten wenn meine Briefe erlogen wären.
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Kafkas Naturbild scheint dabei in Einklang mit seinen erkenntnistheoretischen Ansichten zu stehen. Denn ebenso, wie sich die »innere Welt laut Kafka »nur leben, nicht beschreiben« lässt (KKAN2 32), wird eine theoretische Erkenntnis der äußeren Natur abgelehnt. Nicht nur die Wissenschaft von der Seele, die Psychoanalyse, wird daher von Kafka äußerst kritisch betrachtet und ihr Erkenntnispotential von ihm abgewertet, sondern auch der Wahrheitsanspruch der Naturtheorien: »Die Naturtheorien haben«, wie Kafka in einem Brief an Felix Weltsch schreibt, »Unrecht, so wie ihre psychologischen Schwestern«.29 Auch diese können, so macht Kafka deutlich, die Wahrheit der Welt nicht erfassen, sondern stellen nur, wie auch die Psychoanalyse, hilflose Versuche dar, diese von Außen zu beschreiben: Letztlich handelt es sich in beiden Fällen um rationale Erkenntnisversuche, die Kafka grundsätzlich der »Lüge« bezichtigt. Und auch Kafkas Einstellungen zu sozialen Problemstellungen gehen mit solchen erkenntniskritischen Auffassungen einher. Beispielsweise lehnt Kafka den aus seiner Sicht unfruchtbaren Zionismus des Bar Kochba Kreises in Prag eben deshalb ab, weil er versucht, ein ehemals natürlich gegebenes Verhältnis, das heute verloren ist, künstlich von Außen wieder herzustellen.30 Zugleich finden wir bei Kafka durchaus Vorstellungen einer organisch gewachsenen Gemeinschaft, in der das Individuum in einem natürlichen Verhältnis zu seinem Volk stehen würde. So taucht bei Kafka beispielsweise mehrfach die Annahme auf, dass das zwischenmenschliche Verhältnis gerade innerhalb einer Volksgemeinschaft, die auf eine innere Übereinstimmung aufbaut, durch eine umfassende Wärme und »Nähe« bestimmt sei. Und der »ungeheure Vorteil der Christen« gegenüber den Juden bestehe eben darin, so Kafka, dass diese »im allgemeinen Verkehr die gleichen Gefühle der Nähe immerfort haben und genießen« (KKAT 563). Prägnant tritt diese Dimension von Kafkas Denken unter anderem in einem Brief an seine Schwester Ottla hervor, in dem sich Kafka verLeichte Antwort: ich würde verrückt werden« (ebd.). Zugleich ist diese Annäherung an eine nicht sprachliche Wahrheit stets begrenzt. Im selben Brief schreibt er: »Dieses Wahrreden ist also kein sehr großes Verdienst, es ist ja auch so wenig, ich suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärliches zu erklären, von etwas zu erzählen, was ich in den Knochen habe und was nur in diesen Knochen erlebt werden kann« (ebd.). Kafka strebt in seinem Schreiben nach einer Wahrheit, die sich dem Schreiben zugleich stets entzieht. 29 | Kafka, Franz: Briefe 1902-1924, hg. von Max Brod, Frankfurt a.M.: Fischer 1975, S. 187. 30 | Vgl. zum Bar Kochba Kreis: Robertson: Kafka, S. 28; zu Kafkas Verhältnis zum Zionismus schon Stölzl, Christoph: Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden, München: edition text & kritik 1975 u.a. S. 135; sowie: Binder, Hartmut: »Franz Kafka und die Wochenschrift ›Selbstwehr‹«, in: DVjs 41 (1967), S. 283-304. Wenig überzeugen kann dagegen der Versuch von Grözinger, die Werke auf eine kabbalistische Tradition festzulegen, vgl.: Grözinger, Karl Erich: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, Frankfurt a.M.: Fischer 1994.
Schrecken der »Naturwahrheit«
ständnisvoll auf die Situation seines Schwagers Josef Davids bezieht, der ein überzeugter tschechischer Nationalist war. Davids habe, so Kafka, ein ungleich tieferes Verhältnis zu seinem Volk, als es Kafka von sich selbst behaupten könne. Davids sei daher »mit Recht mit sich zufrieden«, denn er lebt »unter seinem Volk«, wie Kafka ohne jede Ironie in Anlehnung an eine organologische Metapher schreibt, »wie eben ein Baum auch mit Recht in seinem Boden steht«.31 Die gerade in der poststrukturalistischen Forschung verbreitete und heute kaum noch hinterfragte Annahme, dass es bei Kafka keine »regressiven Utopien«32 gäbe, scheint daher etwas voreilig zu sein: bei Kafka gibt es vielmehr einen Motivkomplex der Wahrheit, Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, der zum einen erkenntniskritisch fundiert ist, zum anderen aber auch soziale Utopien einer natürlichen »Volksgemeinschaft« umfassen kann.33 Der Blick auf das Landleben verdeutlicht dies. So charakterisiert Kafka die Bauern, die er während seines Aufenthalts in Zürau 1917 trifft und beobachtet, in seinem Tagebuch mit dem Begriff der »Erdenbürger«: Allgemeiner Eindruck der Bauern: Edelmänner, die sich in die Landwirtschaft gerettet haben, wo sie ihre Arbeit so weise und demütig eingerichtet haben, daß sie sich lückenlos ins Ganze fügt und sie vor jeder Schwankung und Seekrankheit bewahrt werden bis zu ihrem seligen Sterben. Wirkliche Erdenbürger (KKAT 841).
Im Gegensatz zu den Stadtbewohnern stehen die Bauern offenbar mit beiden Beinen auf der Erde, die sie umgibt, und bleiben somit von den Herausforderungen der modernen Erfahrungswelt verschont. Und auch wenn die Vorstellung einer natürlichen Stabilität, einer auf dem Land gegebenen Sicherheit, die dem Stadtbewohner offenbar abgeht, bei Kafka kritisch hinterfragt wird, stellt sie dennoch einen zentralen Bezugspunkt seines Denkens dar: immer wieder sehen wir bei ihm die Sehnsucht nach einer Fundierung des Einzelnen in einer natürlich definierten Gemeinschaft, die teilweise direkt mit organologischen Metaphern beschrieben wird.
31 | Kafka, Franz: Briefe an Ottla und die Familie, hg. von Hartmut Binder et.al., Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 82. Vgl. zu Kafkas Verhältnis zum tschechischen Nationalisten Josef David: Binder, Hartmut: »Kafkas Briefscherze. Sein Verhältnis zu Josef David«, in: JSG, Heft 13 (1969), S. 536-559. 32 | Vogl, Joseph: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 201. 33 | Kafka: Briefe 1902-1924, S. 195.
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4. In der Forschungsliteratur hat man schon vor einigen Jahren verschiedene Tendenzen, mit denen die Autoren und Autorinnen der Jahrhundertwende auf die gesellschaftlichen Umstände mit »gesellschaftskritischen oder utopischen Gegenkonzepten« reagieren, unterschieden.34 Neben der Suche nach einer Rückkehr zu vorindustriellen Zuständen liegt dabei eine Akzeptanz der Technik vor, die mit der Hoffnung einhergeht, dass gerade die Fortschritte der Technik eine Befreiung des Einzelnen von der negativen Erfahrung der Zeit mit sich führen würde und so zu einer »Überwindung der gegenwärtigen Misere« beitragen könnte.35 Zudem lassen sich in der Literatur der Jahrhundertwende Tendenzen einer gesellschaftspolitischen Überwindung der zeitgenössischen Krisenerfahrung finden. Gerade diese spielen für Kafka, bei aller belegten Sympathie für die »Arbeiterschaft«,36 allerdings keine wichtige Rolle. Und auch eine Überwindung der krisenhaften Zeiterfahrung durch den zivilisatorischen und technischen Fortschritt kommt in Kafkas Werken, trotz der überlieferten Faszination für Technik und trotz der mehrfach auftauchenden Hoffnung auf eine Harmonie zwischen »Menschen und Tieren und Apparaten« (KKAD 343), kaum zum Tragen. Wesentlich interessanter ist dagegen die Frage, ob sich die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einer ehemals gegebenen Natürlichkeit, nach dem Wiedereinsetzen von vorindustriellen Zuständen, der als ein zentraler Topos der Literatur der Jahrundertwende vorliegt, auch in Kafkas Werken als Grundtendenz verorten lässt. Ganz abzuweisen ist dies nicht. Denn auch wenn viele Aussagen in den literarischen Werken perspektivisch gebrochen sind, also in die Nähe bestimmter Personen gerückt werden und daher keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, sehen wir in Kafkas Werken doch Ansätze einer Modernitätskritik, die mit der Vorstellung einer natürlichen, sich jeder rationalen Erkenntnis entziehenden Unmittelbarkeit arbeiten. Immer wieder werden solche Vorstellungen angeführt und immer wieder kommt der Natur dabei die Funktion eines störenden und gleichsam befreienden Gegenpols gegen die Erfahrungen der Moderne zu. Entscheidend ist jedoch, dass sich ein solcher Naturzustand für Kafka nicht mehr künstlich wiederbeleben lässt. Auch wenn bei Kafka die Vorstellung einer vorrationalen Natürlichkeit, einer Wahrheit, die jeder rationalen Erkenntnis sich entzieht, häufig auftaucht und von Kafka unmittelbar positiv belegt ist und dabei
34 | So beispielsweise Hermand, Jost: »Ganze Tage unter Bäumen. Ökologisches Bewusstsein in den Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts«, in: ders.: Im Wettlauf mit der Zeit. Anstöße zu einer ökologiebewussten Ästhetik, Berlin: Ed. Sigma Bohn 1991, S. 93-122, hier S. 93. 35 | Ebd. 36 | Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente 1, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Pasley, New York/Frankfurt a.M. 1993, S 180.
Schrecken der »Naturwahrheit«
als »Chiffre für einen Rückzug« dienen kann,37 wird in den Werken zugleich der unwiederbringliche Verlust dieser natürlichen Unmittelbarkeit aufgerufen. In Kafkas Werken deuten sich zum einen Elemente einer romantischen Natürlichkeit an, die als Gegenpol gegen die verbreiteten Modernitätserfahrungen angeführt und zitiert werden, zum anderen wird der Verlust einer solchen romantischen Natürlichkeit als unumkehrbar angesehen. In Kafkas Werken wird so eine zu Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete Rationalitäts- und Modernitätskritik aktiviert und zitiert, die sich partiell auch mit organologischen Metaphern und Sprachbildern verbindet, zugleich liegt in Kafkas Werken kein Weg vor, über den sich eine solche Naturwahrheit nachträglich realisieren ließe. Die Naturwahrheit wird als substantielle Wahrheit hinter aller Vorstellungswelt angenommen und daher auch immer wieder angestrebt, sie wird aber nie erreicht. Es gibt sogar Stellen in Kafkas Werk, in denen er über die Notwendigkeit der Konstruktion von solchen stabilen Sinnressourcen reflektiert. Denn würde er nicht an eine übergeordnete Instanz im Individuum glauben, die die Ausprägung der Persönlichkeit prägt, würde er, so Kafka in einem Brief an Felice Bauer, in einer »fürchterlichen Leere« zurückbleiben.38 Die Vorstellung einer Naturwahrheit des Einzelnen entlarvt sich so als eine letztlich arbiträre Sinnkonstruktion, mit der auf die negativen Modernitätserfahrungen reagiert wird. Bei Kafka wird auf diese Weise die Funktion einer historisch gewachsenen Natursemantik sichtbar, die als gegenstrukturelle Sinnstiftung Halt gegenüber den Entfremdungserfahrungen der Moderne geben soll. Angesichts der Erfahrungen eines umfassenden Sinnverlustes in der Moderne und angesichts der sozialen Erfahrung, in seiner individuellen Einzigartigkeit sich nicht entfalten zu können, aktiviert Kafka die Vorstellung einer inneren Wahrheit, einer natürlichen Unmittelbarkeit, die als letzte Sinnressource angenommen, aber nie erreicht werden kann.
37 | Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge, S. 283. 38 | Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. von Erich Heller u.a., Frankfurt a.M.: Fischer 1967, S. 66.
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III. Diskurse und Medien der Moderne
Natur und Natürlichkeit Eine Lektüre von Friedrich Nietzsches »Wir Künstler!« (Fröhliche Wissenschaft 59 ) Christian Benne
Die Begriffe »Natur« und »Moderne« sind in der Perspektive dieses Beitrags keine gegebenen Größen, aufgrund deren analytischen Kraft man sich ohne weiteres inhaltlichen Fragen oder historischen Kontextualisierungen zuwenden könnte. Sie sind selber Gegenstand der Untersuchung. In der kulturhistorischen Forschung gibt es die unheilvolle Tendenz, literarische und philosophische Texte als Quellenmaterial zur Illustration historischer Thesen auszuschlachten, die sich dem in diesen Texten offensichtlichen oder verborgenen Problempotential nicht mehr stellen können oder wollen. Die Rezeptionsgeschichte der Texte wird zur Einhegung ihrer Aussagekraft missbraucht. Selbst wenn man sich mit dieser Art der Historisierung zufrieden gäbe: Sie sind dann ja, das ist ein oft übersehener Denkfehler, nur ansatzweise historisiert. Eine radikalere Variante würde zumindest nach den historischen Möglichkeiten ihrer Ausdeutbarkeit fragen, um die sich die empirisch feststellbare Rezeptionsgeschichte keinen Deut geschert haben muss, die aber mindestens genauso viel über die untersuchte Epoche verrät wie jene. Das wiederum setzt die minutiöse philologische Arbeit, verstanden als Edition und Lektüre, voraus, die nicht sogleich von der historischen Thesenbildung ausgeht – und die sowohl persönliches Engagement wie auch Zeit, viel Zeit, in Anspruch nimmt. Es schmerzt jeden Kenner, der um die Schwierigkeit von Nietzsches Texten weiß, wie wohlfeil Zitate aus seinem Werk und seinem Nachlass geworden sind, um diese oder jene Ansicht über »die« Entwicklung »der« Moderne zu vertreten. Es käme nun im Gegenteil darauf an, am Beispiel von Lektüren (auf die Edition von Nietzsches publiziertem Werk muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden) auf die Abgründe, aber auch die Bedingtheiten von Nietzsches Texten hinzuweisen, die ja mit Recht als zentraler Ausdruck der Jahrhundertwende gelten. So gelingt es dann womöglich auch, Perspektiven jenseits der historischen Verortung »um 1900« zu gewinnen. Als auf das Thema bezogener exemplarischer Fall bietet sich hier Nietzsches Aphorismus »Wir Künstler!« an, der schon allein wegen seines
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Titels ganze Generationen von Autoren und Künstlern elektrisierte, die Nietzsche verfallen waren. Ihre z.T. sehr ausführliche Aneignung dieses Aphorismus – sie reicht etwa bis zu Thomas Manns Felix Krull – soll mich aber über die Tatsache ihrer Existenz hinaus gerade nicht interessieren. Vielmehr soll erkundet werden, was und wie am Ende des 19. Jahrhunderts über Natur und Moderne gedacht und geschrieben werden konnte. Um die anschließende Lektüre überhaupt nachvollziehbar zu machen, sei der fragliche Aphorismus, Nr. 59 aus Die fröhliche Wissenschaft, zunächst wiedergegeben. Das Buch erschien in der Erstausgabe schon 1882, eine breitere Wirkung setzte allerdings erst seit ca. Mitte der 1890er Jahre ein: Wir Künstler! — Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin: — wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit den ungereimtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich insgeheim »ich will davon, dass der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser Seele und Form, Nichts hören!« »Der Mensch unter der Haut« ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. — Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner »heiligen Allmacht«: bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff, — und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden! Das »Naturgesetz« klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens- und Willküracte zurückgeführt gesehn: — aber weil ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! — und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden, — sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern — wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!1
1 | Nietzsche wird im Folgenden nach der Kritischen Studienausgabe (KSA) zitiert: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988; hier KSA 3, S. 422ff.
Natur und Natürlichkeit
»Wir Künstler!« Wer sich an die Lektüre dieses Aphorismus macht in der Hoffnung, eine Kurzfassung von Nietzsches Kunsttheorie präsentiert zu bekommen, sieht sich schnell enttäuscht. Von Kunst im traditionellen, gar kunstreligiös aufgeladenen Sinne ist hier nicht die Rede, auch von keiner der großen Kunstgattungen – stattdessen von Geologie und Physiologie, von Medizin und Mechanik. Der Künstler ist ein Träumer und »Nachtwandler des Tages«, der auf Inhalt und Gestalt seiner Kunst ebenso wenig bewussten Einfluss zu nehmen vermag wie wir alle auf unsere Träume. Nietzsche richtet sich, dazu später mehr, an Leser, die mit dem Ohr, nicht dem Auge lesen. Das Ausrufezeichen im Titel, das eine Vielzahl prosodischer Möglichkeiten eröffnet, schließt jedenfalls sogleich aus, dass wir den darauf folgenden Text als nüchterne Aussage lesen können. Es kündigt eben keine Beschreibung dessen an, was es heißen mag, ein Künstler zu sein. »Wir Künstler!« – Mein Ziel ist es, den sublimen Sarkasmus aufzudecken, den Nietzsche in diese Überschrift gelegt hat – und der, schöner, oder besser: objektiver, wie die Surrealisten gesagt hätten, könnte ein Zufall nicht sein, am Ende dem Thema gilt, das hier untersucht werden soll, nämlich der sogenannten Natur in der sogenannten Moderne. An dieser Stelle sei ein kleiner begriffshistorischer Rückblick gestattet, der schon mit Blick auf den Zusammenhang von Natur und Moderne konzipiert ist.2 Der Begriff der Natur kommt ja in der Tat selten allein. Immer schon ist er vor allem durch sein vermeintliches Gegenteil bestimmt worden, durch den Geist, durch die Kultur, durch Freiheit, Sittlichkeit oder Gesetz. Was Natur ist, wissen wir nur aus der Perspektive der Nicht-Natur. In »Wir Künstler!« greift der Altphilologe Nietzsche den allerältesten dieser Gegensätze auf, der bereits in der Antike zur Grundlage der Denkens über die Natur wurde: den Gegensatz nämlich von physis und techné. Der Begriff der physis ist von Beginn an mit der Vorstellung von Wachstum verbunden, davon abgeleitet auch mit der Eigengesetzlichkeit, dem Wesen der Dinge, ihrem wahren Sein – Letzteres insbesondere in den platonischen Dialogen. Bei Aristoteles enthält die physis hingegen bereits das formende Element, besser: Sie ist Formprinzip und Zweckursache der Materie selbst und deshalb nicht einfach identisch mit dieser. Als innere Quelle aller Bewegung verbindet sie Stoff und Form. Erst was darüber hinausgeht, ist techné. Der kunstgemäßen Veränderung der Natur gelingt es aber nie, die Natur als solche auszuschalten. Den gleichsam natürlichen Umgestaltungsprozessen, die sich aus dem entelechetischen Wachstum von selbst ergeben, werden lediglich künstliche, vom Menschen erzeugte, an die Seite gestellt. Zunehmend gilt es, die Natur durch und in der Kunst zu bändigen, aber erst in Genieästhetik und Rousseauismus des 18. Jahrhunderts bricht sich ein normativer Naturbegriff Bahn, der wieder die Trennung von Kunst und Natur proklamiert und ostentativ für letztere Partei ergreift. Allerdings geschieht 2 | Einen guten Überblick bieten die einschlägigen begriffsgeschichtlichen Lexika, namentlich das Historische Wörterbuch der Philosophie (HWP).
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im Zuge dieser Entwicklung eine immer stärkere Verschränkung der seit der Scholastik getrennten natura mundi und natura humana. Das ist ein Grund unter anderen, warum um 1800 der Naturbegriff zu einem der umstrittensten Begriffe überhaupt wird. Wo Goethe, angeregt nicht zuletzt vom spätaufklärerischen Monismus und Spinozas Substanzbegriff, zu einer Vorstellung von Natur zurückfindet, die der antiken nicht unähnlich ist, trennt die kantische Tradition das Reich der Natur wieder streng vom Reich der Freiheit, zu dem auch die menschliche Wahlfreiheit moralischer Selbstgesetzgebung gehört. Als Natur gilt somit nur, was der Kategorie der Kausalität unterliegt und naturwissenschaftlichen Gesetzen gehorcht. Sie wird zum Inbegriff der Erfahrung, die aber nun nicht mehr von einem göttlichen Verstand, sondern vom menschlichen Subjekt abhängt und von diesem verändert werden kann. Durch seine Erkenntnis und seine bewussten Willensentscheidungen macht der Mensch sich die an sich hilflose Natur untertan. Die nachkantische Identitätsphilosophie schließlich versucht den hier entstandenen Riss durch die Gleichsetzung von Vernunft und Natur zu heilen. Die Natur entspricht der Vernunft nicht nur der Idee nach, sondern ist ihr tatsächlich deckungsgleich als das eigentliche Sein, das wiederum seinen höchsten Ausdruck in der Kunst findet. Im Zuge dieser gewaltigen Konvergenz kann diese freilich nicht mehr bloße techné sein, sondern wird selbst zum Metaphysikum schlechthin. Nietzsche steht nun am Anfang eines Neuansatzes, der erneut dergleichen Reflexionen aufnimmt, diesmal aber vor dem Hintergrund eines exponentiell gewachsenen naturwissenschaftlichen Erkenntniszugewinns, der sich an metaphysischen Fragen denkbar uninteressiert gezeigt hatte, ohne zunächst sichtbaren Schaden davonzutragen. Daran, dass der Mensch Teil der Natur war, konnte jedenfalls – und nicht erst seit Darwin – kein Zweifel mehr bestehen. Im wissenschaftlichen Zeitalter gab es die Hoffnung auf ein Zurück nicht mehr, an die sich wenige Jahrzehnte zuvor die tapfersten Rousseauisten noch geklammert hatten. Nietzsches Denken, geprägt von der Engführung positivistischer Wissenschaft mit der Philosophie des Idealismus und der historisch-philologischen Methodik, setzt sich, von seinen lebensphilosophischen Jüngern häufig unbemerkt, besonders kritisch mit dem Erbe des Rousseauismus auseinander. Zurück zum Aphorismus. Vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten beginnt er scheinbar mit einem Paradox. Der hier geschilderte »Hass auf die Natur« entstammt einem Bereich, der üblicherweise selbst der »Natur« des Menschen zugeschlagen wird, nämlich dem Bereich der sinnlichen Liebe und Triebe. Eine ganze Reihe von Aphorismen im Umfeld von Nr. 59 kreisen zudem um das Thema Frau, der ja nach traditioneller Vorstellung eine höhere Affinität zur Natur als dem logos-gesteuerten Mann zugesprochen wird. Geschildert wird die festgefügte Welt, in der die Frau zum Besitz des Mannes gehört. Der Besitz – in der vollen Bedeutung des Wortes – wird ihm nun periodisch verweigert. Wo Macht zu Ohnmacht wird, ist der Nährboden für das Ressentiment. Aus Mangel an alternativen Ventilen äußert es sich in seiner subtilsten Form, der Interpretation, die durch Umwertung und Umbewertung am Ende doch den Sieg gegen zunächst scheinbar übermächti-
Natur und Natürlichkeit
ge Gegner davonträgt – eine zentrale Erkenntnis Nietzsches in dieser Periode. Der Aphorismus führt uns die Erfindung der Seele und des cartesianischen Dualismus als das Resultat einer solchen Interpretation vor Augen. »Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe« heißt es in einer der Reden Zarathustras. Sie trägt den Titel: »Von den Verächtern des Leibes«3. Weil der volle Besitz des anderen Leibes nicht möglich ist, macht mein eigener Leib den Leib an sich verächtlich. Nur »Seele und Form« zu sein ist die Formel, die den Menschen mit einer Situation versöhnt, in der sein Leib nicht zu seinem Recht zu kommen vermag. Nietzsche sagt nicht, dass es die Seele nicht gibt oder dass sie, in der Begrifflichkeit der Philosophy of Mind, lediglich ein Epiphänomen des Geistes sei. Der Begriff der Liebe selbst, seiner »Natürlichkeiten« entkleidet, wird vielmehr zum Instrument der Umdeutung. Liebe, die sich auf den Menschen »unter der Haut« bezieht, ist eine »Gottes- und Liebeslästerung«, d.h. ein Vergehen gegen die sprachliche Zurechtlegung und Kategorisierung unserer Welt. Die »Natur« ist ein durch ihre Entgegensetzungen bestimmter Begriff, weil sie in erster Linie vom Leib her interpretiert ist. Im Grunde ist es ein umgekehrter Kant, der uns hier begegnet. Nicht die Allmacht des Verstandes wird von der Natur bedroht, sondern die Allmacht des Leibes, die sich nun kompensatorisch betätigt. Die »Natürlichkeiten« sind jene natürlichen Prozesse, die dazu führen, dass wir uns um unserer eigenen Natur willen von der Natur absetzen. Die Interessen des Leibes als Agens der Interpretation lassen sich bis in die Liebessemantik hinein verfolgen. Der Ausdruck »Gottes- und Liebeslästerung« zeigt sie fest in einem Wertesystem verankert, das von der christlichen Moral zusammengehalten wird. Aus Nietzsches Perspektive ist die christliche Moral selbst jene subtile Interpretationskunst des Ressentiments, der es gelungen ist, unsere Begriffe und damit unsere gesamte Lebensauffassung umzuwerten. Der Aphorismus besteht aus drei Hauptteilen, die diese Argumentation strukturell nachvollziehen. Auf die Schilderung des aus dem Ressentiment geborenen Liebesbegriffs folgt die historische Analogie zur religiösen Einstellung, auf die der erste Abschnitt bereits verweist, ehe wir am Ende wieder in die Gegenwart zurückkehren und erkennen müssen, dass wir, aufgeklärt und wissenschaftlich wie wir uns selber sehen, in Wahrheit keinen Schritt weitergekommen sind. Sogar und gerade in unserer persönlichsten Beziehung, in der Liebe zwischen zwei Menschen, sind wir auf eine Weise konfiguriert, die uns die Akzeptanz der Natürlichkeit gar nicht erlaubt, selbst wenn wir wollten. Vielmehr sehen wir uns um unserer Natur willen zur Absetzung von der Natur gezwungen. Der zweite Abschnitt führt zurück in eine Zeit, in der das Christentum noch bewusstes Regulativ unseres Denkens, d.h. nicht nur ethischer Default-Fall, sondern auch Grundlage der Epistemologie war. Der Mensch identifizierte sich mit der Allmacht Gottes, als dessen verlängerte Willensäußerung er sich begriff. Das Possessivpronomen »seinen«, das sich auf den Besitz bezieht, kann sowohl Gottes Besitz, aber auch jenen seines Verehrers bezeichnen. Die Eigengesetzlichkeit der 3 | KSA 4, S. 39ff.
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Natur greift in die Gottesvorstellung ein, weil die Naturgesetze offensichtlich unabhängig von einer göttlichen, aber eben auch einer menschlichen Willensstruktur erscheinen. Dass die »Menschen von ehedem« träumten, beschreibt den Versuch, zwei einander ausschließende kosmische Modelle, das religiöse und das wissenschaftliche, miteinander zu vereinen, etwa durch Anthropomorphisierung Gottes oder Vergöttlichung der Natur. Nur im Traum gehen die Widersprüche in einer Einheit auf. Entscheidend ist auch hier, dass nach wie vor die Empfindungen des Menschen den Verstand übertrumpfen. Sie machen ein konsistentes Weltbild auf der Grundlage vieler einzelner Beobachtungen der Natur überhaupt erst möglich, des Makrokosmos und der natura mundi wie bei den Geologen, des Mikrokosmos und der natura humana wie den bei den Ärzten und jener Zwischendisziplin, der Physiologie, die natura mundi und natura humana, Makro- und Mikrokosmos unter gemeinsame Gesetzmäßigkeiten subsumiert. Der Kampf der Teile im Organismus4 bildet den kosmischen Kampf ab. Der Leib ist die Ursache der von uns wahrgenommenen – und das heißt auch: der von uns für wahr genommenen – Welt. Der Unterschied zwischen Wachsein und Schlaf ist, eine schon bei den Griechen verbreitete Vorstellung, kein absoluter, sondern ein gradueller. Die »Menschen von ehedem« hatten noch nicht einmal einen Begriff der natürlichen Welt, sondern kannten sie nur als bereits unter dem Begriff der Natur interpretierte. Im dritten Abschnitt sind wir wieder in der Gegenwart – und zwar nicht nur temporal, sondern auch historisch: Der Ausdruck »wir Menschen von heute« entspricht an zahlreichen anderen Stellen in Nietzsches Werk seinem liebsten Synonym dazu, nämlich »wir Modernen«. Die Modernen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer grundlegenden Einstellung zur Natürlichkeit nun aber kaum grundlegend von jener der »Menschen von ehedem«. Die Willenskräfte, die ihre Macht aus der Liebe, dem Hass, dem Begehren und schlechthin allen Empfindungen beziehen, übertreffen jederzeit mit Leichtigkeit den bloßen »guten Willen zum Wachsein«. Weder die Erzeugung einer Traumwelt noch die fiktionalisierende Zurechtmachung der Umwelt lässt sich zur Differenzierung einsetzen. Sie allein, abgeleitet von den leiblichen Konstellationen, sichert überhaupt das Überleben der Gattung Mensch als Teil einer spezifischen Umwelt und der in ihr waltenden Kräfte. Lediglich der Umfang des Naturbegriffs hat sich verändert bzw. die Grenze hat sich verschoben, ab welcher die Modernen es für angezeigt halten, sich wieder von ihm abzusetzen. Die Erkenntnisse von Geologen und Astronomen können die »Menschen von heute« nicht mehr erschüttern, aber zum Eingriff in ihre ureigenste Sphäre durch die Physiologen sind sie noch nicht bereit. Was im ersten Abschnitt als konkreter Einzelfall eingeführt wurde, die Liebe zu einer Frau, wird nun auf alle Bereiche ausgedehnt, in denen die Willensstruktur eine Rolle spielt. Auch das ästhetische Urteil – etwa der Ekel gegenüber den »widerlichen Natürlich4 | Wichtig war für Nietzsche das heute vergessene, aber einst einflussreiche Werk von Roux, Wilhelm: Der Kampf der Theile im Organismus, Leipzig: Engelmann 1881; eine Ausgabe befindet sich auch in Nietzsches nachgelassener Bibliothek.
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keiten« gehört dazu; es ist, kontra Kant, keineswegs interesselos. Selbst der »Wille zum Wachsein« gehört dazu, da auch die wissenschaftliche Erkenntnis letztlich als Instrument des Leibes dient. Im bereits zitierten Abschnitt aus dem Zarathustra wird dies ins Bild der »kleinen Vernunft« gekleidet, die der »grossen Vernunft« des Leibes dient.5 Der Aphorismus suggeriert somit zunächst die Schlussfolgerung, dass das Künstlertum zur anthropologischen Grundausstattung gehöre. Empfindungen und Willensregungen führen zur Umformung und Interpretation der Welt im Interesse dieser Empfindungen und Willensregungen, die der Bearbeitung durch einen Künstler entsprechen. Weil kein Mensch frei davon ist, sind alle Menschen Künstler. Nun fangen die Schwierigkeiten freilich erst an. Erstens geht es in dem Aphorismus nicht um die neutrale Schilderung eines nüchternen Sachverhalts. »Oh diese Menschen von ehedem« – irgendetwas an der Qualität ihrer Träume ist den heutigen offensichtlich verloren gegangen. Auch das Wörtchen »noch« in »wir verstehen es noch viel zu gut« legt ein gewisses Bedauern nahe, das voraussetzt, es gäbe eine Alternative zum Träumen, etwa die Rücknahme der Ausgrenzung. Ist dies unter der Bedingung der Traumkünstlerschaft aller überhaupt möglich? Zweite Frage: Wenn denn tatsächlich alle Künstler sind, wozu gibt es dann überhaupt noch das differenzierende Sprachspiel, auch bei Nietzsche selbst, nur einen bestimmten Typus Mensch als Künstler zu bezeichnen? Gibt es womöglich jenseits des inklusiven »Wir« noch einen Typus Künstler, der über den hier dargestellten Begriff von Kunst hinauszugehen vermag? Drittens schließlich wüsste man doch gar zu gern etwas mehr über den privilegierten Standort des Verfassers des Aphorismus. Woher weiß dieser das alles? Wie gelingt es ihm, den Traum gleichsam von außen zu beobachten und zu kommentieren? Kann der Leser überhaupt darauf vertrauen, sich beispielsweie nicht selber gerade im Traum des Autors zu befinden? Die Antworten auf alle drei Fragen verdichten sich in einer einzigen. Um sie auch richtig einordnen zu können, muss zunächst nach dem Wesen des Traums gefragt werden, der hier als das Resultat des universalen Künstlertums erscheint. Gewöhnlich wird er als Abfolge von Bildern vorgestellt; der Künstler des Traums ist in erster Linie ein Bildkünstler, der mit dem Gesichtssinn arbeitet. Die »Seele« – als Begriff bereits Resultat eines Interpretationsprozesses – »blickt« verächtlich nach der »Natur« hin, und in diesem Blick scheidet sie diese von sich. Die Ohren werden hingegen verschlossen – wörtlich würde dies keinen Sinn ergeben: Ausgerechnet für die Menstruation die Ohren zu öffnen wäre eine bizarre Vorstellung. Der Gehörsinn steht offensichtlich, darin steckt noch die Schopenhauer’sche Vorstellung der Affinität von Musik und Willen, insgesamt der »Physiologie« am nächsten. Die Ohren zu verschließen heißt, sich der Physiologie zu verschließen. Der Gegensatz zu den verschlossenen Ohren, nämlich die offenen Augen, sind ein sprechendes Beispiel – die offenen Augen des Schlafwandlers sehen zwar, aber sie 5 | Wie Anm. 3.
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»sehen« nur im Sinne des Registrierens des Allernötigsten, Lebensnotwendigsten, das den Schlafwandler vor dem tödlichen Fehltritt bewahrt. Der Gehörsinn ist die Alternative zum Traum; so wie der Anruf den Schlafwandler weckt, bringt uns erst der Gehörsinn aus der reinen Traumwelt heraus. Die Ohren zu öffnen hieße demzufolge, offen zu sein für die Natürlichkeit und dergestalt ohne das Bedürfnis auszukommen, die Natur im Namen der Seele und reinen Form zu verachten. Daraus ergibt sich die Antwort auf die zweite Frage: Der Traumkünstler ist offensichtlich nicht der einzige Typus des Künstlers. Es lassen sich mindestens zwei weitere Typen denken, die die Natürlichkeit nicht länger verhehlen: ein Künstler des Gehörsinnes und ein Künstler, der sich sowohl der Bilder wie der Laute bedient. Die Dichotomie von Gesichtssinn und Gehörsinn wird weitergesponnen durch temporale und räumliche Motive, etwa durch den Gegensatz von der Oberfläche der Haut und allem, was darunter liegt. »Offenen Auges« und d.h. mit verschlossenen Ohren kommt der Schlafwandler zwar hoch hinaus, doch sind die »Dächer« und »Thürme« nur jene der »Phantasterei«, nicht wert, sie zu erklimmen. »Bleibt der Erde treu«, heißt es im Zarathustra:6 Der Traumkünstler strebt dem Mond zu, im Irrglauben, dieser sei die Quelle des Lichts. Der aus dem Traum Erwachte dagegen erfasst die Nacht als Nacht und den Mond als Gegenteil der Sonne. Dieses Erwachen und das Bild der morgendlichen und mittäglichen Sonne werden zum leitenden Motiv des Zarathustra. In den »Verächtern des Leibes« ist der »Erwachte« zugleich der »Wissende«, der verkündet: »Leib bin ich ganz und gar«. Rezeptionshistorisch hat sich aus diesem Motivkomplex von Erwachen, Sonne und Leib eine ganze Ikonographie und Bildergalerie entwickelt, deren berühmtestes Beispiel Fidus’ Gemälde Lichtgebet darstellt. Der Künstler, der ein erwachender oder Erwachter ist und folglich ein neues Verhältnis zur Natürlichkeit hat, muss nun nicht mehr auf die umdeutende Interpretation zurückgreifen, um sich gegen die Natur zur Wehr zu setzen. Die Präsenz der umdeutenden Wahrnehmung ist zwar auch noch interpretativ, steht aber im Dienst der Natürlichkeiten. Aus dem »Nachtwandler des Tages« wird gleichsam ein Tagwandler der Nacht, der sich in der Finsternis, die keine Orientierung mithilfe der Augen zulässt, auf seinen Gehörsinn verlassen kann. »Wir Künstler!« scheint, und damit zur Beantwortung der dritten Frage, keine Aussage darüber zu machen, ob es diesen Typus Künstler schon gibt. Doch die gesamte Struktur des Aphorismus und der Sarkasmus, der sich über das mondsüchtige Künstlertum ergießt, können ja nur von einem Autor kommen, der sich bereits darüber hinaus wähnt. Sein Autor muss ein Erwachter sein, der deshalb die noch im Traum Befangenen vorführen kann – im Namen einer anderen Art des Träumens. Der allerletzte Abschnitt, nach dem letzten Halbgeviertstrich – über die Interpunktion dieses Aphorismus wäre einiges zu sagen, das ich mir hier aus Platzgründen versagen muss – unterscheidet sich wesentlich von den vorangegangenen. Im Unterschied zu den syntaktisch hochkomplexen Sätzen der vergange6 | KSA 4, S. 15.
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nen Abschnitte handelt es sich hier nicht einmal mehr um Sätze im streng grammatischen Sinn, sondern nur um elliptische Ausrufe, denen zudem, wiederum im Unterschied zu vorher, jede konjunktionale, semantische Verknüpfung fehlt, wo zuvor Kausal-, Konditional- und Konsekutivsätze in schöner Abwechslung den Eindruck logischer Folgerichtigkeit erzeugten. Ab »Oh diese Menschen« wird die neue Ausdrucksweise der Koda fließend eingeführt, noch einmal kurz von der Grammatik übertrumpft und schließlich im Kulminationspunkt der Interjektionen endend, in denen auch die Bildhaftigkeit der Rede auf einen Höhepunkt kommt. Deren Beschwörung der Höhen und Ebenen erinnert an uns allen vertraute Traumlandschaften. Handelte es sich aber an dieser Stelle lediglich um eine ironische Steigerung des Traummotivs der modernen Menschen, befänden wir uns in einem unendlichen mise en abyme, aus dem es kein Entrinnen gibt. Doch macht sich in diesem letzten Abschnitt ein weiteres Prinzip geltend, das gegen diese Deutung spricht. Die Ausrufe als Rufe sind nur ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass wir das Reich des reinen Gesichtssinns verlassen. Wer seine Ohren nicht länger verschließt, wird deutlich eine rhythmische, daktylisch geprägte Struktur vernehmen. Die Höhen und Ebenen verweisen auch auf die Hebungen und Senkungen der zur metrischen Bindung strebenden Rede. Der rhythmische Eindruck wird durch Wiederholungen auf verschiedenen grammatischen Ebenen (Wörter, Satztyp) verstärkt. Nietzsche führt uns eine Kunst des gerade Erwachten vor Augen, die sich sowohl an die Augen und die Welt der bildlichen Vorstellung als auch an die Ohren richtet. Damit ist diese Kunst nicht mehr die gleichsam unfreiwillige, der alle Menschen unterliegen und die wir in jedem Moment erzeugen, sondern eine bewusst mit Effekten arbeitende und auf alle Sinne einwirkende. Nietzsches Bezeichnung dafür in seinem Spätwerk lautet: Artistik. Sie ist vom metaphysischen Kunstbegriff durch ihre Nähe zur Natürlichkeit und ihre Ferne von kunstreligiöser Einbettung unterschieden. Sie ist nicht einfach »dionysisch« im Sinne der Tragödienschrift. Schon in Nietzsches Frühwerk gehörte der Rhythmus in die Sphäre des Apollinischen. Er ist bauend, konstruiert, zugleich aber weit entfernt von der Bilderwelt des eidos und deshalb nicht darauf angewiesen, den Umweg über die Vorstellung zu nehmen. »Kalt gegen alle Gefahr« zu sein ist keine Kunst, wenn man ein Schlafwandler ist, aber es ist bewundernswert in wachem Zustand, wie es der Artist und Seiltänzer aus der Vorrede des Zarathustra beweist. »Totenstill« ist der Schlafwandler auch in seinem Nihilismus; wer die Ohren zusperrt, hat sich nicht allein dem Tod verschrieben, sondern auch nichts mehr zu sagen. Nietzsches Aphorismus endet also mit einer Gegendemonstration von Artistik, die Natürlichkeit in Kunst umwandelt. Diese Kunstauffassung ist nicht minder paradox als der Ausdruck vom »Nachtwandler des Tages« – Nietzsches Artist ist gleichsam jener, der im Dunkeln die Sonne sieht, weil er sich mithilfe seines Gehörs orientiert – »Nacht ist auch eine Sonne«, heißt es wortwörtlich im »Nachtwandler-Lied« aus dem vierten Teil des Zarathustra.7 7 | KSA 4, S. 402.
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Rousseau war zum größten Revolutionär des Naturbegriffs der Neuzeit geworden, indem er Natürlichkeit und Künstlichkeit einander unversöhnlich entgegengestellt und die Natur als verloren gegangenen Anfang und Ursprung mythisch überhöht hatte. Der Anspruch, sie wiederzugewinnen, war unter den Bedingungen der Moderne nur schwer einzulösen. Rousseaus Naturemphase wurde dergestalt zur Inspiration aller modernen revolutionären Bewegungen jeglicher (politischer und ästhetischer) Couleur, die den Menschen aus der Moderne wieder befreien wollen. Das Revolutionäre bei Nietzsche besteht nun hingegen darin, dass Kunst und Moderne nicht länger als Gegensatz zur Natur begriffen werden, sondern als einziger Weg, um zu ihr vorzudringen (in einem berühmten Aufsatz konnte Robert Spaemann übrigens zeigen, wie dies selbstwidersprüchlich auch bei Rousseau schon angelegt war)8 . Rousseau wird wie Kant vom Kopf auf die Füße gestellt – aus den Höhen werden Ebenen. Dabei hat allein die Kunst die Kraft, gegen die Interpretation des Ressentiments eine Gegeninterpretation zu setzen, die das Natürliche wieder lebbar und erlebbar macht. Erst das Künstlichste ist auch wieder das Natürlichste. Das ist der Auftrag der »Moderne«. Die wahren Modernen sind deshalb nicht die Menschen von heute, sondern von morgen. Sie schaffen die Natur ab, weil sie auch die Seele abschaffen werden. War bei Rousseau die Natur das eigentliche moralische Wertprinzip und Korrektiv, das von der Künstlichkeit des Zeitalters nur fehlgeleitet wurde, kann bei Nietzsche folgerichtig nur die Künstlichkeit eine neue Moral erzeugen. Sie aber kann am Ende ebenso folgerichtig auf Kunst selber verzichten. Nur solange wir Natur und Moderne noch trennen, sind »wir« noch »Künstler«!
8 | Spaemann, Robert: »Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts«, in: Archiv für Begriffsgeschichte (1967), S. 59-67.
»Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis« Zur Naturauffassung in Ernst Haeckels Kunstformen der Natur Mirjam Gebauer
Die Pariser Weltausstellung von 1900 betrat der Besucher durch ein riesiges Portal, welches der Architekt René Binet nach dem Vorbild eines im Meer lebenden Einzellers, einer Radiolarie, gebaut hatte. Man könnte also sagen: »Das Tor zur Moderne war eine Radiolarie.«1 Bei dem Nachbau dieses Strahlentierchens stützte Binet sich auf Zeichnungen des Zoologen und Radiolarien-Experten Ernst Haeckel. Schon 1862 hatte Haeckel einen Bilderatlas über die 1834 erstmals beschriebenen Einzeller veröffentlicht. Bei der »Challenger-Expedition« von 1872 bis 1876, einer ersten systematischen Erforschung der Tiefsee, überließ man ihm die Auswertung der Proben von Tiefseeschlamm hinsichtlich der Radiolarien, wobei er ca. 3500 neue Arten entdeckte. Die ins Riesenhafte ausgedehnte, in ihrer Form nur unter dem Mikroskop erkennbare Radiolarie als Eingang der Pariser Weltausstellung symbolisiert somit eine neue Phase des technischen Fortschritts und der Naturbeherrschung sowie den Siegeszug der »Biologie als Leitdiskurs der Moderne«2 . In diesem komplexen Symbol verzahnen sich Begriffskomplexe – Natur und Moderne –, die oft als Gegensätze aufgefasst werden. Die um die Jahrhundertwende florierende Naturverehrung, das Lebenspathos und die Technikbegeisterung werden gleichsam zusammengeschmolzen in der kunstvollen Architektur des Art Nouveau. Diese künstlerische Ebene war insofern in Binets Vorlage, Haeckels Zeichnungen, angelegt, als es sich dabei schon um artistisch überformte Darstellungen der natür1 | Hepper, Eva: »Die Natur als der größte Künstler«, Rezension von Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur – Kunstformen aus dem Meer, München/London/New York: Prestel Verlag 2012, online: www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1726840/, letzter Zugriff am 10. August 2012. 2 | Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft, 3. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 63.
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lichen Gegenstände handelte. Der Radiolarien-Eingang erscheint also ebenso als Beispiel für eine enge kulturelle Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft um 1900, wo »sich kurzfristig ein Miteinander von Kunstkultur und Wissenschaftskultur zu verdichten«3 scheint. Dieses Miteinander zeigt sich besonders eindrucksvoll auch in Haeckels berühmtem biologischen Bilderatlas Kunstformen der Natur, dessen Faszinationskraft bis in die heutige Zeit reicht, wovon beispielsweise regelmäßige Neuauflagen zeugen. Eine Betrachtung dieses Werkes soll im Folgenden einige kulturelle und epistemologische Aspekte der Verknüpfung von Kunst- und Wissenschaftskultur um 1900 erhellen.4 Die Kunstformen der Natur erschienen in den Jahren 1899-1904. Durch sie gelang es Haeckel, die Schönheit der Radiolarien und vieler anderer, vor allem maritimer Lebensformen einem breiten Publikum und insbesondere der Verwertung durch die bildende Kunst zugänglich zu machen. Binets Tafelwerk Esquisses decoratives von 1901 erscheint als erste, direkte Rezeption der Kunstformen der Natur. Sie wirkten auch auf Zeitgenossen wie den Bildhauer Hermann Obrist, den Photographen Karl Blossfeldt oder den Glaskünstler und Keramiker Émile Gallé, um nur einige zu nennen.5 Im Folgenden soll es unter anderem darum gehen, die bildlichen Darstellungen in den Kunstformen der Natur als eigenständige diskursive Praxis über die Natur zu würdigen. Den Bildtafeln waren ursprünglich kurze beschreibende Texte beigegeben, und 1904 reichte Haeckel ein »Supplement-Heft« mit einer längeren Abhandlung nach. Die Ausgabe von 2012 zeigt nur noch die Bildtafeln, so dass die kleinen Ziffern an vielen Abbildungen gleichsam ins Leere laufen.6 Diese Wahl der Herausgeber unterstreicht die Autonomie der bildlichen Darstellungen gegen3 | Breidbach, Olaf: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch« (1998), in: Haeckel: Kunstformen der Natur, S. 103-115, hier S. 115. 4 | Die folgenden Überlegungen fußen insbesondere auf den Einleitungen zu neueren Ausgaben der Kunstformen der Natur des Naturwissenschaftshistorikers Olaf Breidbach, dem Direktor des Ernst-Haeckel-Hauses in Jena, sowie den Arbeiten Christoph Kockerbecks zur Naturästhetik Haeckels. Vgl. Breidbach, Olaf: »Vorwort«, »Die allerreizendsten Tierchen«, »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch« (1998), in: Haeckel: Kunstformen der Natur – Kunstformen aus dem Meer, S. 7-10, S. 15-29, S. 103-115; Kockerbeck, Christoph: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur« und ihr Einfluss auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1986, und: Die Schönheit des Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19. Jahrhundert, Wien: Böhlau 1997. 5 | In der Regie des Ernst-Haeckel-Hauses werden regelmäßig neue Bildbände aufgelegt, zuletzt 2012 ein Bildband mit den Kunstformen der Natur und Kunstformen aus dem Meer, Letztere basierend auf Haeckels Atlas von 1862, in einem Band. Außerdem ist die Gesamtausgabe der Kunstformen der Natur von 1904 im Internet frei zugänglich. 6 | 1998 war eine Ausgabe mit allen ursprünglichen Texten erschienen, vgl.: Haeckel, Ernst: Kunstformen der Natur, München/London/New York: Prestel Verlag 1998. In der
»Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis«
über den Textbeschreibungen, die schon von Haeckel selbst so angelegt war. Denn die brillante bildliche Ausführung und die Beigabe von vergleichsweise knappen Texten lassen keinen Zweifel darüber, dass Haeckel in den Kunstformen der Natur das Gewicht auf den ikonographischen Aspekt legen wollte. In seiner an Goethe orientierten morphologischen Methode kam der Anschauung der Natur eine herausgehobene Rolle als eigentlicher Naturerkenntnis zu. In den Kunstformen der Natur brachte er das empirische Material zur überaus ästhetischen Anschauung, um unter anderem seine monistische Weltanschauung zu untermauern, die Vorstellung einer Einheit sowie Beseelung und Belebtheit aller organischen und anorganischen Natur. Haeckel gilt als bedeutendster deutscher Verfechter der Evolutionstheorie von Charles Darwin, die er zu einer Abstammungstheorie ausbaute. Darwins Theorie besagt, dass alle Lebewesen letztlich von einer Art abstammen. Zur Darstellung des Evolutionsverlaufs führte Haeckel Stammbäume in die Biologie ein und entwarf auch einen phylogenetischen Stammbaum des Menschen. Haeckel formulierte das »biogenetische Grundgesetz«, nach welchem sich die Phylogenese in gedrängter Form in der Ontogenese wiederholt. Seine Beschäftigung mit den Radiolarien, die eine ornamentale, kristallähnliche Struktur aufweisen, beförderte seine Idee einer »organischen Kristallographie« oder »organischen Stereometrie«,7 entsprechend seiner Vorstellung einer grundlegenden Einheit von organischer und anorganischer Natur. Diese Stereometrie-Gesetze des Organischen und Anorganischen reißt er ebenfalls in seiner den Kunstformen der Natur beigegebenen Abhandlung an. In populärwissenschaftlichen Schriften wie den Welträthseln (1899) und den Lebenswundern (1904) deutete Haeckel seine naturwissenschaftlichen Resultate naturphilosophisch aus. Sein Monismus sollte die durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ausgelöste Sinnkrise beenden. Haeckel, der 1906 den Monistenbund gründete, steht somit quer zu den herkömmlichen Grenzziehungen zwischen empirischer Naturwissenschaft auf der einen und einem ganzheitlichen, spekulativen Naturdenken auf der anderen Seite. Für ihn galt nicht nur die Einheit der Natur, sondern folgerichtig auch die der Wissenschaft: »Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist Naturphilosophie.«8 Diese ganzheitliche Wissenschaftsauffassung und die an Goethe orientierte Betonung des Anschaulichen war zum einen unter Haeckels Fachkollegen umstritten, weil sie mit »dem positivistischen Selbstverständnis einer sich als induktive Naturwissenschaft begreifenden Biologie«9 kollidierte. Zum anAusgabe von 2012 sind den Tafeln nur noch äußerst verknappte Beschreibungen sowie die Tier- bzw. Pflanzenbezeichnung auf Deutsch, Englisch und Französisch beigegeben. 7 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 103. 8 | Haeckel, Ernst: Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen (1866), Berlin 1906, S. 433. 9 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 85.
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deren aber begründete sie Haeckels breiten Erfolg über die naturwissenschaftlichen Fachgrenzen hinaus bei einem durch die Vorstellungen der Lebensphilosophie beeinflussten Publikum. Heute erscheint angesichts neuerlicher vielfältiger Versuche von Grenzüberschreitungen zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften eine Rückbesinnung auf Haeckels Werk als lehrreich.10 Haeckels künstlerische Begabung fügt seinem Schaffen eine wesentliche Dimension hinzu und kam seiner morphologischen Methodik entgegen. In seinen jüngeren Jahren trug er sich sogar mit dem Gedanken, Landschaftsmaler zu werden.11 Das Zeichnen und Malen sah Haeckel als integralen Bestandteil seiner naturwissenschaftlichen Arbeit an.12 Er hat tausende Darstellungen von Tier- und Pflanzenarten hinterlassen, deren Aussagekraft in der Fachwelt heute noch wegen ihrer Plastizität hoch geschätzt wird und welche durch ihre elegante Ästhetik beeindrucken. Die Kunstformen der Natur sind das bekannteste Beispiel dafür.
1. B IOLOGIE ALS W ELTANSCHAUUNG UND ALS Ä STHE TIK Die Verwandlung einer Radiolarie in Architektur bezeugt die Kulturfähigkeit einer hochspezialisierten, empirischen Wissenschaft. Der Siegeszug dieser Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist aber nicht ohne die zahlreichen populärwissenschaftlichen Autoren denkbar, die ebenfalls zwischen Expertenkultur und Massenpublikum vermittelten. Neben Haeckel sind hier unter anderem Gustav Theodor Fechner, Bruno Wille sowie Wilhelm Bölsche zu nennen, Letzterer ein Romanautor, der sein schriftstellerisches Talent unter anderem in den Dienst der Verbreitung von Darwins und Haeckels Ideen stellte und zahlreiche populärwissenschaftliche und unterhaltsam zu lesende Schriften zu naturwissenschaftlichen Themen verfasste. Die Veröffentlichungen der genannten Autoren prägten in besonderer Weise das »kulturelle Klima«13 dieser Zeit. Die Popularisierung des biologischen Wissens geschah dabei im Wesentlichen durch zwei Mittel: durch seine Ästhetisierung und seine Verweltanschaulichung. Der Siegeszug der Naturwissenschaften und der Biologie bedeutete den Sieg eines neuen Denkstils, der auf empirisch-induktiv gewonnenem Wissen beruhte. Dieser neue Denkstil ließ die bisher vorherrschende deduktiv-spekulative Naturphilosophie an Terrain verlieren. Die in empirische Daten zerfallende Welt hinter10 | Vgl. beispielsweise Kockerbeck, der in seiner Untersuchung zur Naturästhetik in den Darstellungen von Meereslebewesen noch 1997 von einer »aus heutiger Sicht befremdende[n] Grenzenverschiebung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften« spricht (5). 11 | Vgl. Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 85. 12 | Vgl. Haeckels Worte in der Einleitung zu den Kunstformen der Natur (Leipzig/Wien 1904), wonach er in seiner Arbeit »zeichnend und malend tiefer in das Geheimnis« der »Formenreize der lebendigen Wesen« eindringen wollte. 13 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 16.
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ließ ein Sinnvakuum, dem durch eine neue Art der Naturphilosophie begegnet wurde, welche für sich beanspruchte, auf der Basis der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und insbesondere von Darwins Entwicklungstheorie zu stehen.14 Dieser Weltanschauungsliteratur ging es also in einer doppelten Bewegung darum, die Akzeptanz der Naturwissenschaften in der Gesellschaft zu erreichen und zugleich die von diesen Wissenschaften ausgelöste Weltanschauungskrise in den Griff zu bekommen – eben durch die und um den Preis der Verweltanschaulichung der Naturwissenschaft. Während die Weltanschauungsliteratur sich selbst als streng wissenschaftlich apostrophierte, schuf sie in Wirklichkeit auch einen Naturglauben, der die nach dem Rückgang des christlichen Glaubens vakante Stelle des Religiösen einnehmen konnte. Über die metaphysische Tendenz des »BölscheHaeckel-Materialismus« spottete Ernst Bloch: »Das Leben war zwar nur ein Spiel von Kohlenstoffverbindungen, doch es phosphoreszierte wie Sumpf und leuchtete ans schmale Land gehend – mit Sonne im Herzen, neuheidnisch, oft hurrapantheistisch.«15 Für Ernst Cassirer war Haeckel trotz dem entgegenlautenden Selbstverständnis dem Anthropomorphismus nie entkommen, da er die »Bedingtheit des Psychischen durch das Physische«16 im Grunde nicht erklärt hatte. Vielmehr sei seine Methode dadurch charakterisiert, dass »diese Erscheinungen statt aus der Materie abgeleitet zu werden, vielmehr fertig in sie hineingelegt werden.«17 Unberührt von solchen erkenntnistheoretischen Einwänden ging es den Wissenschaftspopularisatoren darum, dem Laienpublikum zu vermitteln, »dass den Naturwissenschaften eine fruchtbare und fortschrittliche zivilisatorische Funktion beizumessen sei«18. Tatsächlich drang zu dieser Zeit die Natur in den Bildungskanon, konkret z.B. auch in die Lehrpläne der Bildungseinrichtungen, ein. Naturerleben und Naturbetrachtung wurden damit in den Rang einer kulturellen Praxis erhoben, die mit einem Opern- oder Museumsbesuch vergleichbar ist und somit 14 | Wolfgang Riedel (»Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin/New York:Königshausen & Neumann 1996/2011, XIV) hat der gängigen Vorstellung, dass Kunst und Kultur des Zeitalters von naturwissenschaftlichem Wissen durchdrungen war und sich dies z.B. in der lebhaften Rezeption der Naturwissenschaft in der Dichtung niedergeschlagen habe, entgegengehalten, dass die Dichtung die Naturwissenschaft weithin nicht als Empirie, sondern als Naturphilosophie rezipiert habe, auf einer Ebene also, wo Ganzheitsaussagen angeschlossen werden konnten. Allerdings, so könnte man einwenden, kam der neuen Naturphilosophie durchaus eine neuartige Qualität zu, insofern als sie sozusagen schon gesättigt durch das neue Wissen der Einzelwissenschaften war. 15 | Bloch, Ernst: »Über Naturbilder seit Ausgang des 19. Jahrhunderts«, in: ders.: Literarische Aufsätze, Gesamtausgabe in 16 Bde., Bd. IX, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 456. 16 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 88. 17 | Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 170. 18 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 11.
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der aufklärerischen und pädagogischen Hilfestellung bedurfte. In diesem Sinne formulierte Haeckel auch das Ziel der Herausgabe seiner Kunstformen der Natur in der Einleitung: »Die Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis, die überall in der Natur verborgen sind, sollen mehr und mehr erschlossen und Gemeingut weitester Bildungskreise werden.« Entgegen einer Vorstellung von einem unmittelbaren, die Grenzen von Kultur und Konvention sprengenden Naturerleben, wie es die künstlerischen All-Einheits-Phantasien der Jahrhundertwende nahelegen,19 war der Naturgenuss der Allgemeinheit somit kulturell gerahmt und reglementiert. Eine All-Einheit oder »Alleinheit« mit der Natur war in diesem Zusammenhang also nicht vorgesehen. Die Ästhetisierung des biologischen Spezialwissens war eine wichtige Strategie, um die Natur an die Kultur anschlussfähig zu machen. Viele Naturwissenschaftler, darunter Haeckel, haben ihre Forschungsgegenstände und -ergebnisse denn auch mehr oder weniger ästhetisch aufbereitet.20 Dabei erwies die bildliche im Vergleich zur sprachlichen Darstellung ihre besonderen Vorzüge bei dem Unterfangen, empirische Daten über die Grenzen zwischen Experten- und Massenkultur zu schleusen. Hochspezialisiertes Wissen wurde so als Evolutionsdesign modern. So wie die Pariser Radiolarie konnten durch die Umsetzung in Architektur, Design und Kunsthandwerk Teile der neuen Wissenschaft in den kulturellen Mainstream eindringen, ohne dass die empirische Grundlage in allen Einzelheiten rezipiert werden musste.
2. H AECKELS R ADIOL ARIE : EIN NEUER N ATURBEGRIFF Über Haeckels Radiolarie dringt ein neuartiger Naturbegriff in die Kultur ein, der auf der Vorstellung einer fernen, exotischen Natur fußt. Exemplarisch für diesen Naturbegriff erscheinen die Kunstformen der Natur, wo die Landbewohner unter den dargestellten Lebewesen nur marginal vertreten sind und Quallen, Schnecken, Seeanemonen und andere weithin unbekannte, teils mikroskopisch kleine oder zumindest unscheinbare Tiere die Szenerie dominieren. Ausgerechnet durch die niederen Meereswesen soll die kulturelle Verfeinerung der Massen vorangetrieben werden. Aus dieser Perspektive präsentieren sich die Kunstströmungen der Periode, die kosmische Naturästhetik als Ausdruck der Naturverehrung auf der einen und der Ästhetizismus mit seinem Natur-Überdruss auf der anderen Seite, nur als scheinbare Gegensätze. Denn das Naturbild, welches Haeckel in den Kunstformen entwirft, hat wenig mit der nahen, grünen Natur zu tun, von der sich der Protagonist in Joris-Karl Huysmans berühmtem Dekadenz-Roman À Rebours (1884)
19 | Vgl. das dritte Kapitel bei Riedel, a.a.O.: »›Eines zu sein mit Allem‹. Zur Literaturgeschichte des ozeanischen Gefühls«, wo dieser literarische Diskurs eingehend untersucht wird. 20 | Vgl. Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen.
»Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis«
demonstrativ abgewendet hatte und die ebenso wie die »Landschafterei« in der bildenden Kunst eine Zeit lang aus der Mode gekommen war.21 Neu ist also nicht die normative Rolle der Natur, die sie ebenfalls in anderen Perioden einnahm, neu sind aber die Ausgestaltung und die Verortung des Normativen. Das Meer, der Lebensort der bevorzugten, neuen Forschungsgegenstände, war kulturell doppelt kodiert: Zum einen war es der Ort der neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen. Die Meeresbiologie war noch eine sehr junge Wissenschaft, denn das »offene Meer, seine geographischen, geologischen, physikalischen und ökologischen Verhältnisse sowie seine Fauna und Flora waren im Gegensatz zu den landbewohnenden Tieren und Pflanzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gut wie unerforscht«22 . Entsprechend den damals neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen galt es zum anderen aber als Ort des Lebens schlechthin und wurde so auch mehr denn je Fluchtpunkt für Ursprungs- und Regressionsphantasien. Daher erscheint es nicht zufällig, wenn Romain Rolland Ende der 1920er Jahre in der Korrespondenz mit Sigmund Freud die Meeresmetapher zu Hilfe nimmt, um gegenüber dem Religionskritiker ein mystisches Gefühl als Grundbedingung menschlicher Existenz geltend zu machen und ein »Gefühl wie von etwas […] gleichsam ›Ozeanischem‹« beschreibt. Diese Formulierung griff Freud auf und fasste sie mit dem Ausdruck des »ozeanischen Gefühls«.23 Konkret waren Welle und Meer beliebte Motive in Texten und Bildern des Jugendstils »als Chiffre für den Doppelcharakter des Lebens als bewegte und strömende Einheit und individuelle Form in einem«24. Fließende Linien evozieren dieses endlose Fließen des Lebens in Bildern, die wie Ausschnitte des großen Zusammenhangs wirken, wobei die jeweiligen Bildränder nur willkürliche Begrenzungen setzen.25 Diese Ästhetisierungen des Lebensbegriffes hatten in den Verästelungen der Lebensphilosophie und auch des Vitalismus ihre philosophischen Entsprechungen. Haeckel war sich durchaus dessen bewusst, dass er eine dem Laien zunächst einmal besonders fernstehende Natur präsentierte, der allerdings ein Faszinationspotential zukam. Über die in den Kunstformen eindrucksvoll vertretenen Staatsquallen äußerte sich der Zoologe Wilhelm Breitenbach in einer von Haeckel veröffentlichten Publikation: »Dem Laien und Binnenländer erscheinen diese Ozeantöchter geheimnisvoll und phantastisch, und er weiß nichts Rechtes mit 21 | Die Entwicklung und die Konjunkturen »der Landschafterei« führt z.B. Rainer Maria Rilke in der Einleitung von »Worpswede. Monographie einer Landschaft und ihrer Maler« (1902) besonders eindrücklich vor Augen. Sämtliche Werke. Bd. 1-6, Bd. 5, Wiesbaden/ Frankfurt a.M.: Insel 1955-1966, S. 9-35, hier S. 23. 22 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 41. 23 | Vgl. Riedel: »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900, S. 100. 24 | Schlinkmann, Albert: »Einheit« und »Entwicklung«. Die Bildwelt des literarischen Jugendstils und die Kunsttheorien der Jahrhundertwende, Bamberg: Freiburg (in Br.) Univ. Diss. 1974, S. 468f. 25 | Vgl. Schlinkmann: »Einheit« und »Entwicklung«, S. 469.
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ihnen anzufangen.«26 Die Mystik der Meereslebewesen und das neue Wissen über das Meer als Herkunftsort des Menschen ließ es umso wichtiger erscheinen, die Lebewesen des Meeres kulturell anzueignen und im Weltanschauungsgebäude des Monismus zu verorten.
3. N ATURFORMEN ALS K UNSTFORMEN Die Kunstformen der Natur erschienen zunächst in zehn einzelnen Heften und 1904 in Gesamtausgabe einschließlich einer kleineren Abhandlung. Das Werk enthält 100 Bildtafeln, vorwiegend Lithographien, wobei jede einer bestimmten Tier- oder Pflanzenklasse gewidmet ist. Haeckel berücksichtigte dabei insbesondere »Radiolarien, Medusen, Siphonoren und Korallen«27. Die Tafeln präsentieren jeweils einzelne Arten einer Klasse und meist verschiedene Ansichten und auch einzelne Körperteile der Lebewesen. Dem Betrachter begegnen so »fortwährende Komplizierungen […] einer sich fortlaufend auffächernden Strukturvielfalt der Lebensformen«28 . Durch eine symmetrische Anordnung der dargestellten Lebewesen auf den Tafeln werden Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen verschiedenen Arten einer Klasse hervorgehoben, so dass die einzelnen Naturphänomene als Metamorphosen des Lebendigen erscheinen und gleichsam hinter der dargestellten Vielfalt der Erscheinungen ein Grundmuster aufscheint. Die Kunstformen der Natur beeindruckten ihr zeitgenössisches Publikum zunächst einmal durch die erstklassige Qualität der technischen Ausführung und die Intensität der Farbgestaltung. Wilhelm Bölsche notiert in einer Rezension: Der erste Anblick ist prachtvoll, ja ersten Ranges ausgeführte Tafeln mit ihrer fabelhaften Leuchtkraft der Farben weckt die Vorstellung eines neuen, mit neuer Technik versuchten Bilderatlas der Tierkunde. Aber die Auswahl, die Anordnung ist unerhört. Ein Stockzoologe alten Schlages würde seinen Zorn auslassen über solche Allotria. Tiere, Pflanzen aus allerlei Gruppen scheinbar regellos herausgegriffen, das ganze systematische Museum verkehrt. 29
Der Eindruck entsteht, als hätte die wissenschaftlich fundierte Systematik vor der mit Blick auf ein Laienpublikum ästhetisch motivierten Anordnung der Darstellungsgegenstände zurückstehen müssen. Allerdings hatte Haeckel durchaus auch 26 | Zit. nach Eibl-Eibesfeldt/Breitenbach, in: Haeckel, Ernst: Die Natur als Künstlerin, Berlin 1913, S. 62. 27 | Haeckel: Kunstformen der Natur, Nachwort. 28 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 103f. 29 | Bölsche, Wilhelm: »Zwei Naturgeschichten für das Volk«, in: Deutsche Welt, Jahrgang 3, Nr. 12, 1900, S. 180-183, hier S. 182, zit.n. Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 88.
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fachliche Argumente gegen die herkömmliche Systematik einzuwenden, die mit seiner Sicht auf die Naturformen als »Kunstformen« zusammenhängen: Der »Wert« einer Naturform als Kunstform ist abhängig von dem Differenzierungsgrad der promorphologischen Struktur der Naturform innerhalb seiner Tier- oder Pflanzenklasse und nicht von der phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Stellung der Naturform im Gesamtsystem der Organismen. 30
Das bedeutet, dass Einzeller durchaus differenziertere und ästhetisch ansprechendere Formen ausbilden können als die phylogenetisch gesehen höherstehenden Mehrzeller. Die Kunstformen sind demnach nicht eindeutig als ein populärwissenschaftliches Werk ohne wissenschaftlichen Anspruch aufzufassen. Dagegen spricht z.B. auch, dass Haeckel bislang noch nicht beschriebene Tiere in sein Werk aufnahm. Überhaupt erscheint es fraglich, ob in Haeckels Auffassung wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Textsorten streng getrennt waren. Vielmehr können die Kunstformen der Natur als »Summa seiner Naturauffassung« gelten,31 wobei sich wissenschaftliche und ästhetische Betrachtung der Natur im Grunde nicht voneinander trennen lassen: Haeckels Naturwissenschaft ist immer auch als Kunst zu verstehen und umgekehrt, weil die »Gesetzmäßigkeiten des Naturalen« mit seiner Ästhetik zusammenfallen, so dass die »Kunstformen der Natur […] auch deren eigentliche Natur« sind.32 Die Formulierung des Titels »Kunstformen der Natur« ist also durchaus wörtlich und nicht nur metaphorisch zu verstehen. Sie tendiert zu einer Nivellierung des Unterschiedes zwischen Natur und Kunst. Die damit einhergehenden Widersprüche deuten sich schon in Haeckels Wortwahl in der Einleitung an, wo er von der »künstlerischen Gestaltung« der Naturformen spricht. Diese Wortwahl verweist nämlich auf die gängige ästhetische Konzeption in der Tradition Kants, nach welcher das Kunstwerk auf einem bewussten, sich der Natur aufdrängenden Kunstwillen beruht. Anders verhält es sich in der monistischen Naturästhetik, welche den Willen des Kunstsubjektes aus der Natur ableitet: »Das Schaffen wird abgelehnt, es gibt nur noch Werden. Die Kunst wird zurückgeführt auf die Natur, auf das Leben.«33 Allerdings läuft diese Auffassung letztendlich auf eine Abschaffung der Kategorien selbst hinaus, weil es keinen Sinn mehr ergäbe, von »Kunstformen der Natur« zu sprechen, wenn »die qualitative Differenz zwischen der Naturgesetzen gehorchenden Formbildung der Organismen und dem phantasiegebundenen Kunstschaffen der Menschen« geleugnet wird.34 30 | Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 79. 31 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 108. 32 | Breidbach: »Vorwort«, S. 10. 33 | Schlinkmann: »Einheit« und »Entwicklung«, S. 87. 34 | Vgl. Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 90.
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Auf den Bildtafeln werden dem Betrachter die Regeln der natürlichen Bauformen vor Augen geführt. Alles in der Natur scheint den gleichen Gesetzen der Symmetrie unterworfen zu sein. Am kugelförmigen, mit Stacheln versehenen Skelett einer Radiolarien-Art beobachtet Haeckel beispielsweise »geometrische Stellungsgesetze«, welche »die Spitzen der zwanzig radialen Stacheln in fünf Parallelkreise« aufteilen, »die nach ihrer Lage dem Äquator, den beiden Wendekreisen und den beiden Polarkreisen der Erdkugel entsprechen«.35 Die Symmetriegesetze korrespondieren mit dem ebenfalls auf Symmetrie ausgerichteten menschlichen Schönheitsempfinden, welches selbst Teil der Natur ist, weil es vom Menschen im evolutionären Prozess angeeignet wurde. Eine auf dem christlichen Glauben fußende Argumentation hätte diese erstaunlichen Entsprechungen noch der Allgegenwart Gottes in der Natur zuschreiben können. Bei Haeckel erscheint die Regelmäßigkeit und Schönheit selbst auch in den für das Auge normalerweise nicht sichtbaren kleinsten Naturformen und in den Meeresformen als schlagender Beweis für die monistische Weltsicht. Dementsprechend heißt es in Bölsches Rezension im lebenspathetischen Duktus: Die Natur ist schön. […] schön bis in die schwarzen Schlünde des Ozeans hinab, schön und immer schöner, je tiefer das Mikroskop den Innenbau des Lebendigen auch oben im Lichte enthüllt, schön selbst […] im Wurm, in der Qualle, im Seestern. Und wir Menschen mit all unserem Schönheitssinn, genießendem und schaffendem, hängen in dieser großen Kette. 36
Im Unterschied zu einschlägig bekannten Darstellungen von Flora und Fauna präsentiert sich in den Kunstformen allerdings eine Natur, die dem Laien als Natur oft nicht erkennbar ist. Haeckel hat zwar den Begriff der Ökologie in die Biologie eingeführt, doch in den Kunstformen der Natur werden Tiere und Pflanzen mit wenigen Ausnahmen gerade nicht als Lebewesen in ihrer Umgebung gezeigt. Vielmehr konzentriert sich die Darstellung auf die Ornamentik der Lebewesen. Bei den Radiolarien stellt Haeckel beispielsweise nur die formschönen, vielfältigen Skelette nach der Entfernung der eher unförmigen Körperhülle dar.37 Bei den ohnehin nur spärlich dargestellten Säugetieren, z.B. Antilopen (Tafel 100), interessieren ihn vor allem bestimmte ornamental interessante Körperteile, wie das Gehörn, welches »an die schon vorher dargestellten Schnecken und Ammonshörner gemahnt«38. Auch durch die überaus dekorative Anordnung auf der jeweiligen Tafel entfernt sich die Darstellung von der natürlichen Vorlage. Jede Tafel bildet künstlerisch ge35 | Vgl. Text zu Tafel 21, Haeckel, Ernst: Kunstformen der Natur, Leipzig/Wien 1904. 36 | Bölsche, Wilhelm: »Zwei Naturgeschichten für das Volk«, in: Deutsche Welt, Jahrgang 3, Nr. 12, 1900, S. 180-183, hier S. 183, zit.n.: Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 109. 37 | Vgl. auch Haeckels Erklärung dieses Verfahrens im Text zu Tafel 22 (Haeckel 1904). 38 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 106.
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sehen ein abgeschlossenes Ganzes – ein Bildkunstwerk in eigenem Recht. Haeckel provoziert somit durch vielfältige Mittel der Darstellung einen Wiedererkennungseffekt des Natürlichen als Kunstform: Die Symmetrien dieser Teilstrukturen sind das, was er uns vor Augen führt. Diese Formierungseigenheiten, die er in seinen Darstellungen durch Farbwahl, Art und Form der Zeichnung und nicht zuletzt auch auf Grund der Gruppierung der Einzelwesen in seinen Tafeln besonders akzentuiert, und nicht die Physiologie oder Ökologie der Lebewesen scheinen ihm das Wesen der von ihm untersuchten Lebensformen zu sein. 39
In Haeckels morphologischer Methodik gewinnt die Anschauung einen eigenen heuristischen Wert. Wenn Haeckel beispielsweise auf mehreren Tafeln Naturformen von rezenten und fossilen Lebewesen nebeneinanderstellt, ist für ihn ein weiterer Beweis für die Gültigkeit seines Biogenetischen Grundgesetzes erbracht: Die Anschauung, die Möglichkeit eine entsprechende Zuordnung vornehmen zu können, ist ihm selbst schon Beleg dafür, dass eine entsprechende Zuordnung Gültigkeit besitzt. Es gelte eben, die Wahrheiten zu sehen. Das Sehen, die Darstellung der Formen scheint ihm die wahre Art der Naturerkenntnis. 40
Die Abbildung in den Kunstformen geht damit epistemologisch gesehen über eine bloße Illustration der Erkenntnis hinaus und wird zum Mittel der Erkenntnis selbst. Die besondere Präsentation und Anordnung des Gesehenen verweist auf eine wesentliche Überzeugung Haeckels, nämlich dass äußere Ähnlichkeit auf reale Entwicklung hindeutet: »Ähnlichkeitsreihen bezeichnen […] reale, in der Evolution durchlaufene Entwicklungslinien.«41 Indem die Evidenz der äußeren Form zum Argument für Haeckels Thesen wird, erscheint jede Bildtafel als weiteres Argument für Haeckels wissenschaftliche Thesen. Diese Argumentation über die Bildgebung zeigt sich beispielsweise in der Verdeutlichung bestimmter Strukturen durch die Kolorierung. Die besondere Funktion des Bildlichen scheint einer der Gründe dafür zu sein, dass Haeckel, wie schon dem Rezensenten Bölsche auffiel, sich auf »Bildertafeln, mit ein paar kurzen Textworten bloß«42 beschränken konnte.43 39 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 106. 40 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 109. 41 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 104. 42 | Bölsche, ebd. 43 | Haeckels Beweisführung über die Bildgebung war 1870 Anlass einer Kontroverse geworden. In seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) hatte er Embryonenstadien von Huhn, Schildkröte und Hund nebeneinandergestellt, »die in seinen Abbildungen bis ins Detail der im schematisierten Bild dargestellten Morphologie identisch« erschienen (Breidbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Darstellung,
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Tafel 22 (»Elaphospyris«) in Haeckels Kunstformen der Natur (1904)
München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 123). Die Ähnlichkeiten sollten Indiz für sein biogenetisches Grundgesetz sein. Man warf Haeckel vor, »er habe in einer stark vereinfachenden Weise diese Abbildungen einander angeglichen«, und fand schließlich sogar heraus, dass er »dreimal dieselbe Druckplatte benutzt hatte, er also dreimal dieselbe Zeichnung nebeneinanderstellte« (Breidbach, ebd.).
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Um die Beweiskraft des Dargestellten zu stärken, muss es sich bei dessen Inhalten um die realen Gegenstände handeln. Deshalb betont Haeckel im Vorwort zu den Kunstformen, dass er sich in seiner Darstellung »auf die naturgetreue Wiedergabe der wirklich vorhandenen Naturerzeugnisse beschränkt, dagegen von einer stilistischen Modellierung und dekorativen Verwertung abgesehen« hat. Wie aus dem Bisherigen deutlich geworden ist, verwechselt Haeckel damit die Natur mit seinen »Kunstformen« der Natur, insofern als die dargestellten Tiere und Pflanzen ein Ergebnis von vielfältigen stilistischen Eingriffen sind. Allerdings ist Haeckels Behauptung auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen, insofern als er den Naturformen nichts Neues hinzufügt, sondern vielmehr »die Momente des Dekorativen, die den Naturdingen zu Eigen sind, besonders herausstellt«44 . Doch dem heutigen Betrachter präsentieren sich mit den Kunstformen der Natur nicht einfach nur ästhetisch überaus ansprechend »verpackte« Naturformen, sondern auch ein bestimmter kontextgebundener, historischer Stil. Den Zeitgenossen allerdings wird Haeckels kongeniale Anverwandlung von Natur- und Kunstformen entsprechend seiner Überzeugungen von der Einheit von Natur und Kultur weit mehr überzeugt haben: »Die Natur erscheint modisch.«45 Dabei ist es vor allem der sensiblen stilistischen Wahrnehmung und künstlerischen Meisterschaft Haeckels zu danken, welche den Tiefseeorganismen die Ästhetik des Jugendstils verleiht und sie damit für ein breites Publikum seiner Zeit aneignenbar macht: Die vielfältigen Formen der Tier- und Pflanzenwelt erschienen dem betrachtenden Auge ästhetisch als isolierte Objekte. Der Hang zur Abstraktion und zur dekorativen Stilisierung, besonders in der bildenden Kunst, stellt den konzeptionellen Rahmen dar, innerhalb dessen Motive aus dem Katalog monistischer Naturbetrachtung zwanglos ihren Platz fanden. 46
Gerade die Modifizierungen bei besonders beliebten Bildmotiven des Jugendstils wie den Quallen, welche den natürlichen Gegenstand in eine gefällige, elegante Erscheinung überführen, verdeutlichen Haeckels Strategie, über das Ornamentelle eine »Verstehens- und Genussmatrix« für sonst unzugängliche Organismen bereitzustellen.47 Der ästhetisierende Naturforscher sah sich sicherlich »in der Rolle eines Anwalts der Natur«, welcher »ihre Herausdrängung aus der Ästhetik«48 verhindern wollte, und der Gedanke eines Kontinuums des Lebendigen oder gar allen Seienden ist ebenso auch als Angriff auf die bis heute geltende speziestische Sichtweise, 44 | Breidbach: »Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 112. 45 | Breidbach: »Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 113. 46 | ŽmegaĀ, Viktor: »Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900)«, in: ders. (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Hanstein: Athenäum 1981, S. IX-LI, hier S. XXXIX. 47 | Vgl. Breidbach: »Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 110. 48 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 10.
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die Klassifizierung und Hierarchisierung der Lebewesen, verstehbar. Allerdings setzt Haeckel an die Stelle der alten Hierarchien eine neue, die vom ästhetischen Prinzip bestimmt wird. In einer seiner Abhandlung zu den Kunstformen der Natur nachgestellten Tabelle entwirft er eine »Stufenleiter der Wertigkeit der Naturformen als Kunstformen«49, wobei er zwischen »bedeutungslosen« und »unbedeutenden« sowie »bedeutenden«, weil »mannigfaltigen«, »reichhaltigen« und »schönen« Kunstformen der Natur unterscheidet.50 Diese Stufenleiter zeigt, wie sehr Haeckel auch dem, scheinbar gegensätzlichen, Epochenideal des Ästhetizismus verpflichtet ist. Die Anwendung der ästhetischen Stufenleiter auf Lebewesen erinnert entfernt an die Schildkröte in Huysmans À Rebours. Am traurigen Schicksal dieses Lebewesens wird in dem Roman die Dekadenz des Protagonisten Des Esseintes vorgeführt: Er hatte sich das Tier als Verzierung seiner Teppiche angeschafft. Den Versuch, ihren ästhetischen Wert zu erhöhen, indem er ihren Panzer mit Gold und Edelsteinen überziehen lässt, überlebt die Schildkröte nicht. Was bei Huysmans auf die Spitze getrieben und somit kritisch vorgeführt wird, ist in Haeckels Naturästhetik tendenziell angelegt: die Zurichtung des Natürlichen unter dem Primat einer im Grunde wohl noch dem Kunstschönen verpflichteten Ästhetik. Die Kunstformen der Natur sind also kein im heutigen Sinne naturschützerisches Unterfangen, wo es darum geht, die Natur als Leben in eigenem Recht zu entwerfen und zu bewahren. Wenn Haeckel, wie er in Vor- und Nachwort der Kunstformen der Natur betont, Vorbehalte gegenüber der Natur abbauen und damit einem breiten Publikum den Zugang zu ihr ermöglichen will, bedeutet dies auch, weitere Bereiche der Natur einer kulturellen Dominanz auszuliefern. Bölsche formuliert diese Zielstellung an anderer Stelle direkter als eine »Eroberung der Natur für den Fortschritt und die Schönheit«51. Sowohl Haeckel als auch Bölsche haben ebenso wie die Mehrzahl der Naturwissenschaftler ihrer Zeit eine »grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der zunehmenden Naturbeherrschung in ihrem Zeitalter«52 . Angesichts der fortschreitenden, die Lebens- und Naturwelt stetig umformenden und zerstörenden Industrialisierung wirkte der Naturwissenschaftler, welcher zu dieser Zeit noch die Schönheit und Einheit der Natur beschwor, schon beinahe wie ein weltfremder Künstler. Darauf deutet schon die Wahl des Buchtitels »Kunstformen der Natur«, der »durchaus der Feder von Goethe oder Novalis ent-
49 | Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 80f. 50 | Haeckel, Ernst: »Supplement-Heft. Allgemeine Erläuterung und systematische Übersicht«, in: ders.: Kunstformen der Natur, 50f. 51 | Bölsche, Wilhelm: »Zwei Naturgeschichten für das Volk«, in: Deutsche Welt, Jahrgang 3, Nr. 12, 23.12.1900, S. 180-183, hier S. 180, zit.n. Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 116. 52 | Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 115.
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stammen«53 könnte. Ein wesentlicher Zug der »biologischen Romantik« (Robert Schmutzler) des Jugendstils besteht allerdings darin, diesen kulturellen Kontext unreflektiert zu lassen bzw. diesen, wo er ins Bild drängt, zu camouflieren. So besteht ein Teil des Zaubers von Haeckels Kunstformen der Natur ja gerade darin, dass die technischen Voraussetzungen ihrer Präsentation, ihre künstlichen, stilisierenden Aspekte, in den Hintergrund gedrängt werden. Die Kunstformen der Natur stehen im Zeichen einer neuen Phase der Rezeption von Darwins Evolutionstheorie. Dabei tritt deren brutalere Seite, der Kampf ums Dasein, in den Hintergrund, während die harmonisierende Auslegung, der Gedanke einer kosmischen Einheit dominiert. Dies entspricht dem »Übergang vom ›empirischen‹ Naturalismus zu der ›metaphysischen‹ ästhetischen Theorie des Jugendstils der Jahrhundertwende«54. Während im Naturalismus noch die Zuchtwahl und damit die Unterscheidung von Krankem und Gesunden eine zentrale Rolle spielt, tritt im Jugendstil der dazu entgegengesetzte Gedanke der Einheit in den Vordergrund, die von Haeckel verfochtene »prinzipielle Einheit der organischen und anorganischen Natur«55. Die überwältigende Diversität der Formen erscheint in den Kunstformen der Natur weniger als Evolutionsvorteil gegenüber anderen Konkurrenten um die natürlichen Ressourcen und eher im Sinne Kants als funktionsloses Spiel des Schönen, als pure Lust der Natur an der Verwandlung. Somit stehen die Kunstformen der Natur im Dienst des Jugendstils und seinem Projekt einer »Neuverzauberung der bisher entzauberten Natur«56. Diesem Zweck ebenfalls dienlich erscheint, dass dabei eine exotische Natur dargestellt wird, deren Fremdheit gerade auf ein erträgliches Maß reduziert wurde, die aber als für den Menschen weiterhin relativ unerreichbare Lebensform die Aura des Mystischen behält. Diese friedliche Natur wird zur Verehrung bereitgestellt.57
4. PA ZIFISCHE P HILOSOPHIE : J ENSEITS DES » ANTHROPISCHEN P RINZIPS DER M ODERNE« Aus heutiger Sicht präsentieren sich Haeckels Kunstformen der Natur nicht nur als ein eindrucksvolles Beispiel für die von Naturwissenschaftlern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende praktizierte Ästhetisierung der Natur, sondern auch als eine auch heute wieder vorbildhafte Naturalisierung der zeitgenössischen Ästhetik.58 Haeckels Versuch, »in der Perspektive seiner Kultur
53 | Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 64. 54 | Kockerbeck: Die Schönheit des Lebendigen, S. 16. 55 | Haeckel, Ernst: Die Welthrätsel, Leipzig/Berlin 1899, S. 262. 56 | Kockerbeck: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur«, S. 103. 57 | Vgl. Kockerbeck, ebd. 58 | Breidbach: »Vorwort«, S. 8.
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aus dieser Kultur heraus zu schauen«59, erscheint in unserer von einer grundlegenden Kritik am Anthropozentrismus menschlicher Denk- und Lebensweise geprägten Zeit höchst aktuell. Diese Kritik stellt überkommene Grenzziehungen zwischen Kultur und Natur sowie disziplinäre Grenzen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften in Frage. Dabei erlebt die Evolutionstheorie eine neuerliche intensive Rezeption in den Kulturwissenschaften und in der Philosophie. Als einer der bedeutendsten Ansätze in diesem Zusammenhang kann Wolfgang Welschs in mehreren Monographien vorgetragene Kritik am »anthropischen Prinzip der Moderne« angeführt werden.60 Welsch, der bislang vor allem als bedeutender Philosoph der Postmoderne hervorgetreten ist und das einflussreiche Konzept der »Transkulturalität« in die kulturwissenschaftliche Debatte einführte, geht es darum, die reflexiven Spiegelungen der Moderne zu überwinden und »den Kokon der anthropischen Selbstverhausung zu durchstoßen«61. Welschs Ansatz weist eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit der vom Meer faszinierten Naturästhetik und dem »ozeanischen Gefühl« um 1900 auf: Als wesentliche Quelle der Inspiration für seine epistemologischen Reflexionen nennt Welsch sein Erlebnis des pazifischen Ozeans, des weitaus größten und dabei ruhigsten Ozeans der Erde.62 Auch für Welsch wird also die Auffassung einer gewaltigen, jedoch friedfertigen Natur bestimmend. In seiner Argumentation geht Welsch von einem in der Tat bemerkenswerten Grundwiderspruch modernen Denkens aus: Auf der einen Seite agiert der Mensch äußerst erfolgreich in seiner natürlichen Umwelt und hat diese seinen Bedürfnissen entsprechend grundlegend verändert. Auf der anderen Seite hat sich jedoch als epistemologische Grundannahme bis in die Gegenwart die Vorstellung gehalten, dass der Mensch gerade aufgrund seiner angeblich nichtwelthaften Kognition ein »Weltfremdling« sei,63 der dementsprechend kein gesichertes Wissen über die Welt erlangen könne. Das »innerste Axiom« der Moderne sei der 1755 von Diderot im Zusammenhang mit der Herausgabe der Enzyklopädie formulierte Satz: »Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.« Dieser wurde durch Kants theoretische Philosophie epistemologisch untermauert, nach welcher der Mensch nicht nur das sinngebende, sondern auch das gegenstandskonstituierende Prinzip der Welt ist, so dass wir, ob wir wollen oder nicht, immer nur »anthropomorphisieren« können. Für Welsch 59 | Breidbach: »Kurze Anleitung zum Bildgebrauch«, S. 114. 60 | Vgl. Welsch, Wolfgang: Der Mensch und immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag 2011; ders.: Homo Mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist: Velbrück 2012; ders.: Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, München: Beck 2012. 61 | Welsch, Wolfgang: Blickwechsel. Neue Wege zur Ästhetik, Stuttgart: Philipp Reclam 2012, S. 8. 62 | Vgl. das achte Kapitel in: Welsch: Der Mensch und immer nur der Mensch?. 63 | Welsch: Der Mensch und immer nur der Mensch?, S. 15.
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bedeutet dieses Denken 250 Jahre nach der »kosmischen Dezentrierung« durch Kopernikus eine »epistemischen Rezentrierung« des Menschen.64 Welsch schlägt dagegen eine Neukonzipierung des Denkens vor, die sich von der Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung abwendet und Momente des Partizipatorischen und Welt-Rezeptiven herausstellt. Das Denken erscheint so nicht als Gegenbegriff zum Natürlichen, sondern als eine Erscheinungsform des Natürlichen. Auf der Basis der Evolutionstheorie argumentiert Welsch, dass Kognition sich schon bei einfachsten Lebewesen findet und »von Haus aus« ontologisch und nicht epistemisch basiert sei: »Kognition ist nicht der Müßiggang von ansonsten beschäftigungslosen Weltbetrachtern, sondern eine notwendige Grundleistung eines jeden Organismus.«65 In seinem Versuch, Kognition nicht vom »Kognoszenten«, sondern von der Welt her zu denken, kommt er zu dem Schluss, dass die Welt, indem sie Formen der Kognition hervorgetrieben, ihre eigene »Selbsterfassung hervorgebracht«66 habe. Im Erkennen erkenne sich die Welt. Im Lichte dieser Auffassung zeichnen sich ebenso Verschiebungen auf dem Feld der Ästhetik ab. So wird die Kunst nicht mehr als autonomes, selbstbezügliches System entworfen, vielmehr wird sie zum »Instrument der Selbstverwirklichung des Natürlichen«67. In dieser Konzeption erscheint die Malerei als die »bessere Philosophie«, man könnte auch sagen: die welt-kompatiblere, weil sie besser als philosophische Begriffe der natürlichen Diversität gerecht werden kann. Sie zeigt »Oberflächen, Farben und Formen einer jeglichen von der Natur hervorgebrachten Sache«68. Für diese »bessere Philosophie« sind die Kunstformen der Natur bei aller Widersprüchlichkeit ein beeindruckendes und bedenkenswertes Beispiel.
64 | Vgl. das sechste Kapitel »Epistemischer Anthropozentrismus«, in: Welsch: Der Mensch und immer nur der Mensch?, S. 171-185. 65 | Welsch: Mensch und Welt, S. 137. 66 | Welsch: Mensch und Welt, S. 149. 67 | Welsch: Der Mensch und immer nur der Mensch?, S. 31. 68 | Welsch: Der Mensch und immer nur der Mensch?, S. 32.
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Als der international bekannte Literaturkritiker und grand doyen der dänischen Kulturradikalen Georg Brandes 1924 in einem Interview nach seiner Meinung zum Film befragt wurde, antwortete er: »Sie wollen wissen, was ich vom Film halte? […] Der Film muss wohl als ein Fortschritt betrachtet werden, was das rein Aufklärerische angeht. Wenn ich mich z.B. an meine eigene Schulzeit erinnere – wie wir da saßen und von fernen Ländern lasen und hörten, aber selten etwas sahen, dann kann ich den Film nicht anders als für gut erachten.« »Aber der Film als Kunstart?« »Nein« – Brandes’ ungemein lebendige Physiognomie wechselt erneut den Ausdruck. »Nein – sobald die Herren und Damen Filmer werden, mit falschem Bart und Parücke, verliert das Ganze […] seinen Wert. […] Aber lassen Sie mich festhalten: Ich glaube an die aufklärerische Bedeutung des Films; wo dieser ehrlich und ohne künstlerische Aspirationen arbeitet, ist er ein Segen. Gerade soll ein ausgezeichneter grönländischer Film laufen.«1
Brandes’ Einlassung ist durchaus typisch für einen Intellektuellen in der Stummfilmzeit, denn sie ist Ausdruck eines bifurkalen Diskurses über das Medium Film: 1 | »›De vil vide, hvad jeg mener om Film? […] Filmen maa vel nok betragtes som et Fremskridt, hvad det rent oplysende angaar. Naar jeg mindes min egen Skoletid,f.eks. – hvorledes vi sad dér og læste og hørte om fjerne Lande, men sjældent saa noget, kan jeg ikke se andet, end at Filmen er af det gode.‹/›Men Filmen som Kunstart?‹/›Nej‹ – Brandes’ uhyre levende Fysiognomi skifter atter Udtryk./›Nej – saasnart d’Herrer og Damer blivere Filmere, med forlorent Skæg og Paryk, mister det hele […] sin Værdi. […] Men lad mig fastholde: Jeg tror paa Filmens oplysende Betydning, hvor den arbejder ærligt og uden kunstneriske Aspirationer er den af det gode. Der skal gaa en udmærket grønlandsk Film for Tiden.‹« Nygaard, Fredrik: »Georg Brandes om Filmen«, in: Det ny Magasin 68 (1924), S. 2-4, hier S. 3. – Alle Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen sind vom Autor dieses Aufsatzes vorgenommen worden.
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Einer lobenswerten, bildenden Aufzeichnungsfunktion steht hier eine verdammenswerte Fiktionsfunktion gegenüber.2 Die Kritik an der Fiktionsfunktion kann dabei auf die Filme selbst zielen, also ästhetisch begründet sein, oder aber dem Verdacht geschuldet sein, die Mehrheit der Zuschauer sei angesichts der Illusionsmaschinerie des Kinos nicht in der Lage, die ontologische Differenz zwischen dem kinematographischen Schein und der Wirklichkeit zu reflektieren – ein solcher Verdacht lag z.B. den zeittypischen Interferenzen zwischen Kino und Hypnosediskursen zugrunde.3 Jedenfalls besteht im bifurkalen Diskurs die eigentliche Aufgabe des Films in der Repräsentation eines vom Akt der Aufnahme unberührten Raumes. Wie Brandes’ abschließendes Filmbeispiel erkennen lässt (Den store Grønlandsfilm [Der große Grönlandfilm], der den Anfang der fünften Thule-Expedition von Knud Rasmussen dokumentierte), ist dieser Raum bevorzugt ein als natürlich verstandener: Natur und Film werden so normativ miteinander verknüpft. Eine solche Koppelung mag auf den ersten Blick erstaunen, gilt der Film doch als Produkt wie Signum der metropolitan-industriellen Moderne, als prototypischer Ausdruck einer großstadtinduzierten und großstadtadäquaten Modernisierung des Sehens sowie einer Hypertrophie und Industrialisierung des Visuellen – nicht nur in Kultur- und Filmtheorie Benjaminscher Couleur, sondern auch schon im Diskurs der Zeit: Für Emma Gad z.B., Autorin, Journalistin sowie Mutter des Filmemachers Urban Gad und damit auch Schwiegermutter Asta Nielsens, war der Film »dem Geist der Zeit selbst entsprungen«4; für den Autor und Journalisten Christian Gulmann hatte das Kino »moderne Eigenschaften, die ihm mit Automobilen, Heftchen und Automatenkaffees Berührungspunkte gaben«5; und der Autor und Drehbuchschreiber Palle Rosenkrantz dekretierte bündig: »Der Film ist
2 | Vgl. zur Entstehung und Verbreitung dieses bifurkalen Diskurses nicht nur in Skandinavien: Schröder, Stephan Michael: Ideale Kommunikation, reale Filmproduktion. Zur Interaktion von Kino und dänischer Literatur 1909-1918 (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik, 18), Berlin, Nordeuropa-Institut 2011, S. 643-657. 3 | Vgl. Killen, Andreas: »The Scene of the Crime: Psychiatric Discourses on the Film Audience in Early Twentieth Century Germany«, in: Ligensa, Annemone/Kreimeier, Klaus (Hg.): Film 1900: Technology, Perception, Culture, New Barnet: John Libbey 2009, S. 99-111; Andriopoulos, Stefan: »Antitheatralität und Kinofeindlichkeit um 1900«, in: Diekmann, Stefanie/Wild, Christopher/Brandstetter, Gabriele (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München: Fink 2012, S. 113-123; sowie dessen Studie: Besessene Körper: Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000. 4 | »udsprungen af selve Tidens Aand«. Gad, Emma: »Film-Eventyret« [»Kronik«], in: Politiken, 06.03.1913. 5 | »moderne Egenskaber, der giver det Berøringspunkter med Automobiler, Smaablade og Automatkaféer«. Gulmann, Christian: Beitrag zur Enquête »Den stumme Kunst«, in: Teatret 11 (Januar 1912), S. 56-57, hier S. 56.
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modern«6, nicht zuletzt wegen dessen Nervosität. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren und auch aus den Kinodebatten anderer Länder aus den 1910er Jahren ergänzen. Neben dieser ostentativen und entsprechend gut erforschten diskursiven Verknüpfung von Film und Moderne in technologischer, milieudependenter, wahrnehmungssensorischer und thematischer Hinsicht (die sog. Modernitätsthese)7 gab es aber im intellektuellen Diskurs auch eine vor dem Hintergrund der Modernitätsthese auf den ersten Blick paradox anmutende normative Verschränkung von Film und Natur. Dieser Verschränkung soll hier bis zum Aufkommen des Dokumentarfilms gegen Ende des Ersten Weltkrieges nachgegangen werden,8 um eine Dezentrierung zu leisten: Die Schwerpunktsetzung auf nichtfiktionale Filme statt auf die üblicherweise in der Forschung bevorzugten fiktionalen Filme kann dazu beitragen, die zum Dogma erstarrte Modernitätsthese zu problematisieren,9 aber auch ein allzu monolithisches Verständnis von Moderne, nicht zuletzt in Hinblick auf ihre Relation zur Natur, in Frage zu stellen.
6 | »Filmen er moderne«. Rosenkrantz, Palle: »Guldhornene. Et historisk-romantisk Sagn«, in: Masken 3:48 (31.08.1913), S. 283-284, hier S. 283. 7 | Vgl. zu den Dimensionen der Modernitätsthese Singer, Bernd: »The Ambimodernity of Early Cinema: Problems and Paradoxes in the Film-and-Modernity Discourse«, in: Ligensa, Annemone/Kreimeier, Klaus (Hg.): Film 1900: Technology, Perception, Culture, New Barnet: John Libbey 2009, S. 37-51, hier S. 39-43. 8 | Diese zeitliche Grenzziehung ist zwar traditionell wohlbegründet, mittlerweile aber nicht mehr unumstritten, denn ob und inwiefern der in den Weltkriegsjahren entstandene Dokumentarfilm tatsächlich etwas qualitativ Neues darstellt, ist in den letzten Jahren kontrovers diskutiert worden. Gunning will an dieser traditionellen Grenzziehung festhalten, denn es gebe »grundlegende Unterschiede […] zwischen der frühen non-fiction und der späteren Dokumentarfilm-Produktion« (S. 112), selbst wenn auch die frühen Bilder nicht frei von diskursiven Strategien und damit der Einbettung der Bilder in Narrationen und Argumentationen gewesen seien. (»Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der ›Ansicht‹«, in: Kintop 4: Anfänge des dokumentarischen Films (1995), S. 111121, hier S. 118). Garncarz hält dem entgegen, dass Gunning von den einzelnen Filmen statt vom für die Zuschauer weit relevanteren Aufführungsformat ausgehe. Wenn man die Programme statt der einzelnen Filme in den Vordergrund rücke, könne man durchaus schon vor dem ersten Weltkrieg von Argumentationsstrukturen sprechen (Garncarz, Joseph: Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896-1914, Frankfurt a.M./ Basel: Stroemfeld 2010, S. 46f.). 9 | Auch Singer betont die Heterogenität der Diskurse über das Kino, die allzu häufig durch die Dominanz der Modernitätsthese verdeckt worden sei (»The Ambimodernity of Early Cinema«, S. 47).
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I. R ÄUMLICHE D OMESTIZIERUNG UND G EGENWÄRTIGKEIT DER N ATUR IM FRÜHESTEN F ILM In den ersten Jahren des projizierten Films, also in den 1890ern, wurde die möglichst realistische Wiedergabe von Natur als eigentliche Aufgabe des neuen Mediums angesehen. Ein früher Beleg hierfür findet sich in History of the Kinetograph, Kinetoscope and Kinetophonograph, ein kleines Büchlein, das der bei Edison mit der Entwicklung des Filmes betraute Dickson 1895 mit seiner Frau veröffentlichte. Zu diesem Zeitpunkt waren in Edisons erstem Studio, der Black Maria, schon zahlreiche Szenen mit Varietékünstlern, Boxern usw. aufgenommen worden. In der Zukunft des Kinematographen jedoch, die das Ehepaar Dickson abschließend poetisch den Lesern ausmalt, spielen Naturaufnahmen eine erstaunlich prominente Rolle: The curtain will rise, exposing […] some soft English pastoral […], some fastness in the Alps or Himalayas, some tempestuous ocean scene, quickened with the turbulent anguish of the unresting sea, some exquisite landscape, steeped in the jeweled light of sunset or the roseate sheen of morn.10
Dass die Dicksons derart topographische Naturaufnahmen ins zukünftige Zentrum des entstehenden Mediums rücken, lässt sich einerseits unschwer dadurch erklären, dass solche Aufnahmen in der Black Maria eben noch nicht möglich waren. Andererseits ist bemerkenswert, dass »tempestuous ocean scenes, quickened with the turbulent anguish of the unresting sea« tatsächlich nach 1896 schnell zu den beliebtesten Filmen überhaupt gehörten, auch wenn sie in der Filmhistoriographie im Schatten der Filme mit einfahrenden Zügen stehen, die häufig im selben Programm liefen – so auch 1896 bei der Erstpräsentation des Kinematographen in Kopenhagen.11 Diese sogenannten Wellen-Filme waren im Regelfall einminütige Filme, die ohne Kamerabewegung nichts als brandende Wellen zeigten. Palle Bøgelund Petterson listet elf Wellen-Filme zwischen 1896 und 1912 auf,12 die allerdings wohl nur eine Auswahl der vor allem im Zeitraum bis 1900 de facto produzierten darstellen.13 Noch 1919 preist der Regisseur Urban Gad in einem der ersten Sachbücher über den Film, Filmen. Dens Midler og Maal (dt. 1920 als Der Film, seine Mittel, seine Ziele), Wellenbrandung als ein besonders filmisches
10 | Dickson, W.K.L./Dickson, Antonia: History of the Kinetograph, Kinetoscope and Kineto-Phonograph (1895), Facsimile Edition, New York: The Museum of Modern Art 2000, S. 50f. 11 | Vgl. z.B. die Berichterstattung von »Narcissus«: »Kinoptikon«, in: Politiken, 07.06.1896. 12 | Petterson, Palle B.: Cameras into the Wild. A History of Early Wildlife and Expedition Filmmaking, 1895-1928, Jefferson, NC/London: McFarland & Company 2011, S. 32. 13 | So fehlt z.B. bei Petterson ein Titel wie Rough Sea (Haggar & Sons, ca. 1900).
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Motiv.14 Woraus speist sich dieses heute nicht mehr unmittelbar nachvollziehbare Interesse an den Wellen-Filmen, und warum wurden sie, wie aus ihrer Beliebtheit implizit ableitbar ist, als ein besonders filmadäquates Sujet betrachtet? Evidenterweise war die grundlegende Innovation der Kinematographie (wörtl.: »Bewegungsaufzeichnung«), Bewegung zu zeigen, nur an Sujets demonstrierbar, die auch Bewegung aufwiesen. In Zeiten einer statischen Kamera und der Beschränkung auf eine einzige Einstellung unterscheidet sich eine kinematographische Landschaftsaufnahme nicht grundlegend von einer Skioptikon-Projektion des entsprechenden Motivs. Die frühesten Naturaufnahmen mussten also selbst Bewegung im kadrierten Ausschnitt aufweisen, weswegen neben den Wellenfilmen insbesondere Wasserfälle, aber auch Geysire ein beliebtes Motiv waren.15 Schaut man sich Rezeptionsdokumente spezifisch zu den Wellenfilmen an, sind es vor allem zwei Aspekte, die immer wieder betont werden. Zunächst – vorhersehbar – der realistische Effekt: Another scene showed a stormy day at the seaside. The waves dashed against the breakwater, the spray seemed to start out of the picture and those who stood near the screen appeared to be in imminent danger of being wetted. A few people were observed dodging the flying foam.16
Ähnlich wie bei den Lokomotiven-Filmen, die mit der Wandermythe von der Publikumspanik korreliert wurden, ist der Wirklichkeitseffekt angeblich so stark, dass das Bild den Zuschauerraum invadiert. Dies ist indes nicht nur der Bewegung des Bildes allein, z.B. in Differenz zu den Wellengemälden der Zeit, geschuldet, sondern auch dem Umstand, dass hier vermeintlich Natur in Innenräume gebracht wurde. Petterson argumentiert, die Faszination der Wellenfilme im Gegensatz z.B. zu Edisons Varieté-Szenen sei darauf zurückzuführen, dass sie etwas komplett Neues geboten hätten: The success of the early nature films may be explained by the fact that theater had been part of peoples’ lifes for centuries, and thus watching drama on the screen did not really represent any profound change. Yet the power of nature – e.g. moving waves or waterfalls – had never previously been reproduced photographically.17
Indes ist noch ein zweiter Aspekt in den Rezeptionsdokumenten erkennbar, der verstehen hilft, warum die Wellenfilme als genuin »filmisch« galten, und der obendrein stark zu ihrem bereits thematisierten Wirklichkeitseffekt beigetragen hat: ihre 14 | Gad, Urban: Filmen. Dens Midler og Maal, København/Kristiania: Gyldendal 1919, S. 213. 15 | Petterson: Cameras into the Wild, S. 35-37. 16 | The Morning, February 29, 1896, 1. Zit. nach: Ebd., S. 32. 17 | Ebd., S. 47.
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vermeintliche Unbestimmtheit und Zweckfreiheit in semiotischer Hinsicht. Die sich selbst auf der Emulsion des Films zeichnende und nicht von einem Maler gezeichnete Natur repräsentiere nicht einmal sich selbst, sie sei sie selbst. Die Aisthesis der Wellen wird so wie bei der direkten, unmedialisierten Wahrnehmung von Natur keine, die nach der Intentionalität eines menschlichen Zeichenproduzenten fragen muss. Stattdessen scheint der Film es zu ermöglichen, jenseits einer irgendwie gearteten Indienstnahme Natur als Natur in ihrer reinen Gegenwärtigkeit und Zweckfreiheit wahrzunehmen. Selbst eine Fokussierung des Zuschauerblicks findet nicht statt, was in Verlängerung älterer ästhetischer Traditionen die Möglichkeit eines kontemplativen Schauens eröffnet, wie dies in einer Berichterstattung über die Erstvorführung des Kinematographen in Kopenhagen 1896 erkennbar ist: Ein anderes Bild. Die Küste einer englischen Landschaft. Die Wellen schlagen ans Land. Keine Menschen oder Schiffe sind zu sehen; man sieht nur die Wellen näher heranrollen, sich in Schaum auflösen, der sich in feinen Perlen über die Wasserkante hinaus verliert. Das ist hübsch und poetisch. Das Bild ist genauso einfach und großartig, genauso abwechslungsreich in seiner Eintönigkeit wie der Ozean selbst.18
Den kinematographischen Bildern eine asemiotische Präsenz der Natur zu attestieren stellt eine Kontinuität zu photographischen Bildern her, war es doch der wahrscheinlich prominenteste Diskurs über die Photographie im 19. Jahrhundert, dass diese – so der Photopionier William Henry Fox Talbot 1844 – vom »pencil of nature« selbst hervorgebracht werde und rein chemisch »impressed by Nature’s hand« sei.19 Analog wurde auch der früheste Film als ein Medium des Natürlichen diskursiviert, das in Natur-Sujets seinen eigentlichen (wenn auch nicht ausschließlichen) Gegenstand finde. Der Berliner Filmpionier Eduard Messter schreibt 1898 in seinem Verkaufskatalog Lebende Photographie: 18 | »Et andet Billede. Kysten af et engelsk Landskab. Bølgerne slaar mod Land. Der ses ingen Mennesker eller Skibe; man ser kun Bølgerne rulle nærmere, opløse sig i Skum, der i fine Perler taber sig ind over Strandkanten. Det er nydeligt og poetisk. Billedet er akkurat lige saa enkelt og storslaaet, lige saa afvekslende i sin Enstonighed som selve Oceanet.« »Narcissus«: »Kinoptikon«. 19 | »It may suffice, then, to say, that the plates of this work have been obtained by the mere action of Light upon sensitive paper. They have been formed or depicted by optical and chemical means alone, and without the aid of any one acquainted with the art of drawing. It is needless, therefore, to say that they differ in all respects, and as widely as possible, in their origin, from plates of the ordinary kind, which owe their existence to the united skill of the Artist and the Engraver./They are impressed by Nature’s hand« (Talbott, William Henry Fox: »Introductory Remarks«, in: ders.: The Pencil of Nature, London: Longman, Brown, Green & Longmans 1844, S. 1-2, hier S. 1). Vgl. zu dieser hegemonialen Metaphorik im Photographiediskurs des 19. Jahrhunderts Batchen, Geoffrey: Burning with Desire. The Conception of Photography, Cambridge, MA et al.: MIT Press 1997, S. 57-69.
Die Ambimodernität der »Naturbilder« Alles, was in der Natur lebt und sich bewegt, […] die Wogen des Weltmeeres, die sich thürmen und übereinanderwelzen: alles das sehen wir vor uns, greifbar nahe, in unnachahmlicher Natürlichkeit. Da ist nichts vorbereitete, auf den Effect berechnete Stellung, sondern alles ungeschminkte Wirklichkeit, auf der photographischen Platte in jedem Stadium der Bewegung aufgefangen und ebenso getreu wiedergegeben. […] Elementare Ereignisse und Naturwunder, wie Niagarafall, Rheinfall, Giessbach etc. werden uns naturgetreu veranschaulicht und ebenso das Leben und Treiben der entferntesten Kulturvölker und der wilden Völkerstämme. 20
II. D IE K ULTUR ALISIERUNG
DER KINEMATOGR APHISCHEN
N ATURDARSTELLUNG
Messters Erwähnung der Niagarafälle 1898 reflektiert bereits die nächste Stufe der Naturdarstellung im Kinematographen, nachdem das initiale Interesse an dem wunderbaren Vermögen der neuen Technologie als solcher abgeflaut war. Bis zur Etablierung sedentärer Kinos um die Mitte der nuller Jahre wurden Filme in Jahrmarkt-, Vaudeville- und Variété-Milieus vorgeführt.21 Hier mussten sie innerhalb der Attraktionskultur dieser Milieus konkurrieren, mit deren »Chocs« im Benjamin’schen Sinne – entsprechend hat sich in der Forschung für diese Phase der Begriff des »Kinos der Attraktionen« eingebürgert.22 Filme mit Naturszenen machten zwar weiterhin einen gewichtigen Teil der Produktion aus, veränderten ihren Charakter aber grundlegend: Sie wurden einer Ästhetik der »Ansicht« (vue) unterworfen, wie der Filmhistoriker Tom Gunning dies genannt hat.23 Im Gegensatz zu Wellenfilmen wird jetzt nicht mehr »reine«, asemiotisch vergegenwärtigte Natur gezeigt, sondern sehenswerte. Ihre Sehenswürdigkeit ist bereits im existierenden Medienverbund verbürgt, in dem sich der Kinematograph etabliert und dessen visuelle Traditionen er zunächst fortschreibt. Während Wellen signifikanterweise selten als Postkartenmotiv o.Ä. zu sehen gewesen sind, greift der Kinematograph nach seiner Anfangsphase sehr schnell geographisch-topographische Motive auf, deren Mediierung und Medialisierung in Kaiserpanoramen, Stereoskopbildern, Skioptikonvorstellungen, Großpanoramen, Guckkästen und
20 | SpecialCatalog No. 32 von Ed. Messter, Berlin 1898, Reprint hg. von Martin Loiperdinger (= KINtop Schriften, 3), Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1995, S. 4, S. 5f. 21 | Für eine an den Filmaufführungsformen und -orten orientierte Kinogeschichtsschreibung für Deutschland siehe unlängst Garncarz: Maßlose Unterhaltung. 22 | Der Begriff wurde geprägt von Tom Gunning und André Gaudreault, vgl. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Wide Angle. Film Quarterly of Theory, Criticism and Practice 8 (1986: 3/4), S. 63-71. 23 | Gunning: »Vor dem Dokumentarfilm«, S. 114.
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Postkarten vertraut und zugleich vorgezeichnet waren.24 Die Sehenswürdigkeit des Gezeigten wird auch in den Filmen selbst unterstrichen, die unter anderem durch die jetzt im Bild erscheinenden Personen als »Mimesis des Betrachtens« (Gunning)25 fungieren oder die Performativität des Zuschauerblicks reflektieren: Wie die Filmzuschauer schauen die diegetischen Personen z.B. in Lumières Niagara (1897) die Wasserfälle an, was zu einer metareflexiven Verdoppelung des Blicke(n)s führt (vgl. Abb. 1). Abbildung 1
Screenshot aus dem Film Niagara (Lumière 1897)
Der »leere«, unfokussierte, zweckfreie Blick auf die Natur in den allerfrühesten Filmen wird so innerhalb weniger Jahre zu einem interessierten, fokussierten Blick, der seinen Gegenstand im Rückgriff auf bereits existierende motivische Traditionen überhaupt erst konstituiert. Zumeist ist es der Blick des Touristen, der bald in Form von sogenannten phantom rides, bei denen die Kamera z.B. auf einem sich bewegenden Boot oder auf einem Zug aufgestellt wird, mobilisiert wird. Produziert wurden so Filme, über die der schwedische Zensor und Filmproduzent Gustaf Berg 1919 festhielt, dass die Filmkamera »auf der Jagd nach schwedischen Motiven ziemlich genau den gewöhnlichen Anweisungen für Touristen gefolgt ist. […]
24 | Snickars, Pelle: Svensk film och visuell masskultur, Stockholm: Aura 2001, S. 48ff., S. 71. 25 | Ebd.
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Es ist überwiegend eine Sammlung von Ansichtskarten geworden – sehr schöner Ansichtskarten«26. Zur Perfektion gebracht wurde diese Simulation des touristischen Blickes auf die Natur in Form des armchair travelling in den sogenannten Hale’s Tours: Kinos in Form eines Eisenbahnwagens, wo man anstatt aus dem Frontfester auf eine Landschaftsprojektion blickte.27 Auch in Kopenhagen eröffnete 1908 ein Kino namens I Luxustog gennem Verden [Im Luxuszug durch die Welt], in dem eine Eisenbahnfahrt simuliert wurde und Eisenbahnfahrten vorgeführt wurden.28 In der Presse ist anlässlich der Eröffnung zu lesen, dass die »Idee unterhaltsam und sehr gelungen ausgeführt« worden sei,29 doch nach zwei Jahren stellte das Kino wegen finanzieller Probleme sein Programm auf »normale« Filme um und wurde in Løvebiografen [Das Löwenkino] umgetauft. Der Blick des Touristen wird in manchen Filmen substituiert durch den Blick eines Entdeckers wie Amundsens, durch den Blick des Naturforschers, aber auch durch den Blick des Jägers – die Darstellung einer Jagd erlaubte es früh, längere Filme zu drehen, indem zahlreiche Einstellungen nicht einfach addiert, sondern in Form einer einfachen Erzählung im Aristotelischen Sinn aneinandergereiht wurden und in einem folgerichtigen Schluss kulminierten.30 Gemeinsam ist all diesen Filmen jedoch, dass Natur im Kinematographen wegen der schnell vollzogenen Übernahme von Motivik und Darstellungskonventionen aus dem existierenden Medienverbund zunehmend als konventionell kulturalisiert erscheint. In der Begrifflichkeit um 1900 müsste man folglich nachgerade von »Kultur« statt von »Natur« sprechen: Heinrich Rickert argumentiert in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft von 1898 z.B., dass Natur wert- und sinnfrei, Kultur hingegen »sinn- und wertbehaftete Wirklichkeit« sei,31 und Max Weber schreibt 1904 in »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, Kultur sei »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit
26 | »på jakt efter svenska motiv tämligen noga följt de vanligare turistdirektiven. […] Det har övervägande blivit en kollektion vykort – mycket vackra vykort.« Berg, Gustaf: »Svensk bygd på film«, in: Filmjournalen 1:1 (1919), S. 3. 27 | Vgl. zu den Hale’s Tours Fielding: Raymond: »Hale’s Tours: Ultrarealism in the Pre1910 Motion Picture«, in: Fell, John L. (Hg.): Film Before Griffith, Berkeley, CA: University of California Press 1983, S. 116-130. 28 | Sandfeld, Gunnar: Den stumme Scene. Dansk biografteater indtil lydfilmens gennembrud, København: Nyt nordisk forlag/Arnold Busck 1966, S. 43. 29 | »Ideen er morsom, og den er meget fikst udført«, zit.n.: Ebd. 30 | Ebd., S. 58. 31 | Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (= RUB, 8356), Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1986 [der Text dieser Ausgabe folgt der 7., durchges. Aufl. 1926], S. 103.
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des Weltgeschehens«32 . Dies trifft nun zweifellos ebenso auf die »Natur« in ihrer Funktionalisierung im frühen (und auch späteren) Naturfilm zu: Mal ist sie touristischer Raum (mit all den damit verbundenen Implikationen z.B. postkolonialistischer Art), mal Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung oder auch nur Erkundung – und häufig nicht zuletzt eine Topographie, deren Ansicht dazu beitragen soll, nationale Gemeinschaft zu stiften, so dass, wie es der dänische Autor Laurids Skands prägnant ausdrückte, Jensen vom Hinterhof in der Møllegade in einem Kino auf Nørrebro einen Blick von der jütländischen Heide, von der Steilküste bei Gilleleje, von Nordschleswig, von der Jammerbucht, von den Dreschmaschinen auf den Höfen Fünens, von Seelands Molkereien, vom Malersaal der Königlichen Porzellanfabrik erhascht. – So etwas wird Jensen nämlich freuen, und er braucht mehr Freude, als seine Zeitungen ihm geben können. Er braucht das Gefühl, dass er Teilhaber an etwas ist, das Dänemark heißt […]. 33
III. D IE D IFFERENZIERUNG Z WISCHEN F IK TIONSFILM UND N ICHTFIK TIONSFILM Eine Zeitungsanzeige wie in Abb. 2 sollte nach 1908 bald zu einer Seltenheit werden: Eines der wichtigsten Kinos Kopenhagens wirbt mit einem Film über das »Privatleben der Vögel« als Hauptattraktion. Der Status quo der dänischen Kinoprogramme wurde Ende 1908 hingegen so beschrieben: Es wimmele dort von grauenerweckenden Morddramen, naiv-sentimentalen »Idyllen« und burlesken Clownereien, die [die Filmprogramme] dominieren, während man Landschafts- und Volkslebensdarstellungen und Szenerien aus fremden Städten und Gegenden nur wie spärliche Oasen in der Wüste findet. 34 32 | Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Gesammelte Aufsätze, 7 = utb, 1492), hg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 146-214, hier S. 180. 33 | »Jensen fra Baggaarden i Møllegade, i en nørrebrosk Kino, fik et Glimt af den jydske Hede, af Gilleleje Skrænterne, af Sønderjylland, af Jammerbugten, af de fynske Gaardes Tærskeværker, af Sjællands Mejerier, af den kgl. Porcelænsfabriks Malersal at se. –/ Noget saadant vil nemlig glæde Jensen, og han trænger til mere Glæde end hans Aviser kan give ham. Han trænger til at føle, at han er Interessent i noget, som hedder Danmark […].« Skands, Laurids: »Film og Presse. Nogle Betragtninger III.«, in: Journalisten 17:25, 14.12.1921, S. 1-2, hier S. 1. 34 | »gruopvækkende Morddramaer, naivt-sentimentale ›Idyller‹ og burleske Klownerier, der dominerer, medens man kun som sparsomme Oaser i Ørkenen finder Fremstillinger af
Die Ambimodernität der »Naturbilder«
Abbildung 2
Anzeige in der dänischen Tageszeitung Politiken, 15.01.1908
Mit einigen Jahren Verspätung im Vergleich zum Ausland, wo der Prozess schon ab ca. 1903 einsetzte,35 verdrängte auch in Dänemark der Fiktionsfilm den Nichtfiktionsfilm36 (zunächst in den Wanderkinos, dann auch in den anderen Spielstätten); für die 1910er Jahre kann man davon ausgehen, dass über 90 Prozent der Landskaber, af Folkeliv og Scenerier i fremmede Byer og Egne«. »En misbrugt Opfindelse. Levende Billeder, som de burde være«, in: Berlingske Tidende (Abendausgabe), 21.11.1908. 35 | Vgl. Musser, Charles: The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907 (= History of the American Cinema, 1), Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1994, S. 338. Vgl. spezifisch zu diesem Übergang in Deutschland Garncarz, Joseph: »Der nicht-fiktionale Film im Programm der Wanderkinos«, in: Jung, Uli/Loiperdinger, Martin (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films, Bd. 1: Kaiserreich 1895-1918, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2005, S. 108-119; Loiperdinger, Martin: »Das nicht-fiktionale Filmangebot für die Nummernprogramme«, in: Ebd., S. 179-190, hier S. 179; Garncarz: Maßlose Unterhaltung, S. 64, S. 108ff. Generell ist in der Forschung der letzten Jahre betont worden, dass es sich bei diesem Übergang um einen vielgestaltigen Prozess handelt, der stark abhängig war von der jeweiligen Aufführungsform. – Zum Übergang in Dänemark liegt leider bislang keine Forschung vor. 36 | Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass die Differenzierung zwischen diesen Kategorien ontologisch wie historisch nicht immer problemlos ist. So betont Garncarz, dass diese Kategorien ja nicht den Filmen selbst eigen sind, sondern im Zuge eines Publikumsvertrages ausgehandelt wurden, der die Rezeption eines Filmes bestimmte (Maßlose Unterhaltung, S. 63). Snickars hat darauf hingewiesen, dass nichtfiktionale Aufnahmen im Zuge einer Bricolage auch gerne in Fiktionsfilme eingeschnitten wurden (Snickars: Svensk film och visuell masskultur 1900, S. 193ff.; ders.: »Im Zeichen der Bricolage. Produktions- und Programmstrategien der schwedischen Filmkultur um 1910«, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 11: Kinematographen-Programme [2002], S. 85-99).
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verkauften und gezeigten Filme in Dänemark und im Deutschen Reich Fiktionsfilme waren.37 Zwei Thesen sind in der Filmgeschichtsschreibung diskutiert worden, um diesen rapiden Übergang zum Fiktionsfilm zu erklären.38 Nach der ersten These habe das Gros des Publikums die fiktiven Filme bevorzugt. So notiert Emilie Altenloh 1913 in ihrer Dissertation Zur Soziologie des Kinos, dass die Naturfilme im Programm »im Grunde für die Mehrzahl der Kinobesucher ein langweiliger Übergang zu den folgenden Nummern sind. Sobald die Handlung aus dem Film verschwindet, wird die Unterhaltung im Saale lebhafter und die Aufmerksamkeit läßt nach.«39 Und der bereits zitierte Gustaf Berg hält 1919 fest: »Sind die Wasserfälle endlich vorbei«, kann man im Kinovorraum fragen hören, »so dass man hineingehen und das Drama sehen kann?« Jene, die sich direkt von den Naturbildern gestört fühlen, sind wohl Ausnahmen, aber sicherlich betrachten die allermeisten Kinobesucher diese als etwas, dem man sich unterwerfen muss, um etwas Anderes zu bekommen, das man haben will. 40
Solche Stellungnahmen geben indes den Diskurs der 1910er Jahre wieder und haben einen geringen Quellenwert für die kritischen Übergangsjahre von 1904-1908. De facto gibt es durchaus Indikatoren dafür, dass zumindest topographische Aufnahmen in diesem Übergangszeitraum noch sehr populär waren – nicht nur bei Intellektuellen und dem gehobenen Bürgertum, das auch später solche Aufnahmen noch schätzte. Die meisten Forscher präferieren daher auch eher die zweite These, wonach der Übergang zum Fiktionsfilm weniger durch den Publikumsgeschmack motiviert wurde, sondern vor allem im Interesse der Filmindustrie lag. Unstrittig ist nämlich, dass die Produktion von Fiktionsfilmen zwar teurer war, sich aber dafür leichter industriellen Effizienznormen unterwerfen ließ. Die Umstellung auf Fiktionsfilme 37 | Altenloh berechnet (auf einer allerdings unklaren Datengrundlage) für sechs Einzelmonate 1912 einen Prozentsatz von unter 10 Prozent (Zur Soziologie des Kinos, S. 24), was im Großen und Ganzen auch dem Eindruck entspricht, den die veröffentlichten Kinoprogramme und die Produktionsstatistiken z.B. von Firmen wie der dänischen Nordisk Filmskompagni vermitteln. 38 | Vgl. Petterson: Cameras into the Wild, S. 60f., für eine Zusammenfassung der wichtigsten Argumente. 39 | Altenloh: Zur Soziologie des Kinos, S. 37. 40 | »›Är det slut ännu på vattenfallen‹, kan man få höra frågas i biografvestibulerna, ›så att man kan gå in och få se dramat?‹ De, som direkt känna sig besvärade av naturbilderna, höra väl till undantagsfallen, men säkert är, att de allra flesta biobesökerna betrakta dessa som något, man måste underkasta sig för att nå fram till ett annat, som man eftertraktar.« Berg: »Svensk bygd på film«.
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erlaubte einen effizienteren Einsatz von Apparaten und Menschen sowie eine genauere Kontrolle der Produktionskosten und unterlag zudem nicht in gleicher Weise dem Aktualitätszwang, wie dies den »Aktualitäten«, die den wesentlichen Teil der Nichtfiktionsfilme stellten, per definitionem eingeschrieben war. Entsprechend basierten die Profite von Produktionsfirmen schon ab Ende 1904, als Fiktionsfilme noch nicht zum dominierenden Produkt geworden waren, auf dem Verkauf eben dieser Filme.41 Und 1913 hält Emilie Altenloh zu den Nichtfiktionsfilmen fest: Man bringt derartige Sujets, weil man das dem Renommee der Firma schuldig zu sein glaubt, und nur die Größten können sich einen derartigen Luxus erlauben. Während ein Drama, sofern es zugkräftig ist, bis zu 150 Auflagen erlebt, wird selbst der beste Naturfilm selten in mehr als 50-60 Exemplaren verkauft. Die Unkosten stehen dazu oft in keinem Verhältnis. 42
Die beiden angeführten Thesen sind indes durch eine dritte zu ergänzen. Nichtfiktionsfilme hatten aus Sicht der expandierenden internationalistischen Filmindustrie nämlich einen weiteren Nachteil: Sie waren urheberrechtlich kaum zu schützen. Als die Kinematographie 1908 in die Berliner Revision der Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst von 1886 aufgenommen wurde, hieß es in Kapitel 14: Den gleichen Schutz wie Werke der Literatur oder Kunst genießen selbständige kinematographische Erzeugnisse, sofern der Urheber durch die Anordnung des Bühnenvorganges oder die Verbindung der dargestellten Begebenheiten dem Werk die Eigenschaft eines persönlichen Originalwerkes gegeben hat. 43
Diese Bestimmung zielt eindeutig allein auf Fiktionsfilme, sofern diese Werkcharakter beanspruchen konnten, und schloss Nichtfiktionsfilme effektiv aus. Umgekehrt ermöglichte es erst der 1908 weitgehend vollzogene Übergang zum Nichtfiktionsfilm, das Urheberrecht auf kinematographische Produkte auszudehnen. Der Zusammenhang zwischen dem Übergang zum Fiktionsfilm und der Etablierung des kinematographischen Urheberrechtes harrt noch der näheren Erforschung. Aber selbst wenn nicht bestritten werden kann, dass Fiktionsfilme seit Mitte der nuller Jahre zum Schwerpunkt der Filmproduktion avancierten, ist es doch problematisch, schlichtweg von einem »Sieg« des Fiktionsfilms zu sprechen. 41 | Musser, Charles: »The Nickelodeon Era Begins: Establishing the Framework for Hollywood’s Mode of Representation«, in: Elsaesser, Thomas (Hg.): Early Cinema: Space – Frame – Narrative, London: BFI 1990, S. 256-273, hier S. 256. 42 | Altenloh: Zur Soziologie des Kinos, S. 34f. 43 | Zit. nach dem Abdruck der Revidierten Berner Übereinkunft, in: Bockius, Fritz: Die strafrechtliche Bedeutung der internationalen Verträge über das Urheberrecht an Werken der Literatur und Kunst [Diss. Gießen], Berlin: Carl Heymann, S. 64.
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Denn erstens war die Differenzierung zwischen Fiktion und Nichtfiktion weder von Produktions- wie Rezeptionsseite eindeutig, zweitens wurden die fiktionalen wie nichtfiktionalen Filme im Regelfall zusammen vorgeführt und drittens wurde der Fiktionsfilm im Zuge eines Differenzierungsprozesses hervorgebracht, aus dem auch erst der Nichtfiktionsfilm kategorial hervorging: • Ad 1: Der schwedische Medienhistoriker Pelle Snickars hat gezeigt, wie z.B. fiktionale Filme der 1910er im Zuge eines Bricolage-Verfahrens durch nichtfiktionale Aufnahmen »angereichert« wurden – der dänische Film Atlantis von 1913 mit seinen eingeschnittenen Aufnahmen aus den USA ist hierfür ein prägnantes Beispiel.44 • Ad 2: Dass Fiktionsfilme und Nichtfiktionsfilme als ein funktionales Ganzes aufzufassen waren, betonen nicht zuletzt die zeitgenössischen Überlegungen zur Programmgestaltung in den Kinos. De facto bestanden Kinovorstellungen ja bis Anfang der 1910er Jahre, z.T. auch noch sehr viel länger, nicht aus der Vorführung eines Films, sondern aus (Nummern-)Programmen, deren Filmabfolge sorgfältig komponiert war.45 In Filmprogrammabläufen wurden die Nichtfiktionsfilme – vor allem die »Naturbilder« – als unabdingbar angesehen, denn sie erfüllten klare Funktionen: Zum einen sollten sie den Zensor milde stimmen, zum anderen eine Art Ruhezone im Programmablauf bilden.46 • Ad 3: Von einem »Sieg« des Fiktionsfilms sollte auch deswegen nicht gesprochen werden, weil die Opposition zwischen Fiktionsfilm und Nichtfiktionsfilm erst im Zuge eines Differenzierungsprozesses ab Mitte der nuller Jahre diskursiv konstruiert wurde: Der Fiktionsfilm bedingt den Nichtfiktionsfilm. Um 1900 stellte das Publikum noch keine Authentizitätserwartungen in unserem heutigen Verständnis an die lebenden Bilder, sondern es ging in erster Linie darum, Ereignisse wie Kriegsgeschehen oder Vulkanausbrüche illustriert zu sehen,47 sich selbst »ein Bild machen« zu dürfen – und sei es durch nachgestellte Szenen oder Trickaufnahmen. 44 | Snickars: Svensk film och visuell masskultur 1900, S. 212f. Eine deutschsprachige Bearbeitung dieses Abschnittes aus Snickars Dissertation erschien auch selbständig unter dem bereits zitierten Titel »Im Zeichen der Bricolage. Produktions- und Programmstrategien der schwedischen Filmkultur um 1910«. 45 | Vgl. zur Programmierung im frühen Kino den Band 11 von Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films (2002) mit dem Thema »Kinematographen-Programme«, insbesondere den Beitrag von Jost, François: »Die Programmierung des Zuschauers«, S. 35-47. 46 | Bottomore, Stephen: »Nichtfiktionale Filme in den Nummernprogrammen der 1910er Jahre«, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 11 (2002), S. 81-83, hier S. 81; vgl. auch zur Programmierung im Kino Snickars: Svensk film och visuell masskultur 1900, S. 204. 47 | Zu diesem Problemkomplex siehe Kessler, Frank: »›Fake‹ in Early Non-Fiction«, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 14/15: Quellen und Perspektiven/Sources and Perspectives (2006), S. 87-93; Garncarz: Maßlose Unterhaltung, S. 31f.
Die Ambimodernität der »Naturbilder«
IV. D IE N ATUR DER »N ATURBILDER « ALS ATECHNÍA Bezeichnenderweise entsteht auch erst im Kontext des Übergangs zum Fiktionsfilm als dominantem Genre der Begriff des »Naturfilms« oder (üblicher) der »Naturbilder« – indes mit einer erstaunlichen Semantik. Wenn Natur alltagssprachlich laut Mittelstraß zu definieren ist als »derjenige Teil der Welt, dessen Zustandekommen […], Erscheinungsformen und Wirken unabhängig von Eingriffen der Menschen sind bzw. gedacht werden können«48, so müsste ein Naturfilm entsprechend ein Film sein, der Natur in diesem Sinne, also gewissermaßen unkultiviert, präsentiert – wie in der Anzeige aus dem deutschen Branchenblatt Der Komet von 1908 in Abb. 3. Abbildung 3, 4 und 5
Anzeige in Der Komet, 11.04.1908
Anzeige in Der Komet, 23.05.1908
Der Begriff des Naturfilms oder der Naturbilder war indes viel umfassender, wie an anderen Anzeigen aus der gleichen Zeitschrift zu erkennen ist (vgl. Abb. 4 u. 5): Wie kann aber z.B. ein Film über Nürnberg ein »reizender Naturfilm« sein? 48 | Mittelstraß, Jürgen: »Natur«, in: ders. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2: H-O, unveränd. Sonderausgabe, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 961-964, hier S. 961.
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Anzeige in Der Komet, 12.12.1908
Natur wird hier offensichtlich, um die Mittelstraß’sche Definition zu variieren, als derjenige Teil der Welt verstanden, dessen Zustandekommen, Erscheinungsform und Wirken unabhängig von dem Akt der Filmaufnahme ist bzw. gedacht werden kann. Ein »Naturbild« war also schlicht ein Film, bei dem man (durchaus mit einer gewissen Naivität) davon ausging, dass das Gezeigte – sei es Natur als physis, eine Kulturlandschaft oder auch eine Aktualität wie ein Truppenmanöver oder der Besuch Königlicher Hoheiten – unabhängig vom Akt der Aufnahme war. Natur wurde so nicht gegenständlich, sondern primär als Vermittlungskategorie begriffen: Konstitutiv war das traditionelle Kriterium der Unberührtheit, verstanden als Unberührtheit durch das technisch-industrielle Filmmedium. Die Natur des sogenannten Naturfilms bezieht sich so nicht auf das Wahrgenommene selbst, sondern auf eine atechnía-Relation zum aufgenommenen Objekt, also dass es für die Kamera weder ein- noch zugerichtet worden ist.49 So können fast alle Nichtfiktionsfilme begrifflich zu Naturfilmen mutieren. Natur dergestalt als atechnía zu verstehen hat zwei Folgen: Zunächst einmal fehlt ein Begriff für Filme, die Natur in der Bedeutung von physis ins Bild setzen, also für jene Filme, die man heute gemeinhin als Naturfilme klassifizieren würde – Emilie Altenloh, die 1913 kategorisch zwischen Stücken, »die Handlungen enthalten und zum Zweck kinematographischer Aufnahme gestellt werden«,50 und »Naturaufnahmen« unterscheidet, behilft sich deshalb mit einer Unterkategorie der »eigentlichen Naturaufnahmen«51. Zweitens wurden Naturfilme mitunter auch explizit unter »Kulturfilme« rubriziert, so z.B. 1915 in Norwegen in der sozialdemokratischen Presse,52 aber auch in den 1920ern in Deutschland.53 Naturfilme konnten insbesondere dann terminologisch problemlos unter Kulturfilme subsumiert werden, wenn sie obendrein eine menschliche Kultur zeigten, die noch nicht von den Zwängen einer industriellen Moderne überformt war: Es 49 | Vgl. auch Gunning: »Vor dem Dokumentarfilm«, S. 114; Garncarz: Maßlose Unterhaltung, S. 108. 50 | Altenloh: Zur Soziologie des Kinos, S. 23. 51 | Ebd., S. 36. 52 | Vgl. Nissen, Fernanda: »Fru Nissen om filmcensuren«, in: Social-Demokraten, Nr. 23 (1915) – mit einem herzlichen Dank an Christian Berrenberg für den Hinweis auf diesen Text! 53 | Vgl. die Begrifflichkeit in Beyfuss, E., u. A. Kossowsky (Hg.): Das Kulturfilmbuch, Berlin: Carl P. Chryselius’scher Verlag 1924.
Die Ambimodernität der »Naturbilder«
ist kaum ein Zufall, dass die »alte historische Stadt« Nürnberg in Abb. 5 explizit als Gegenstand des beworbenen »Naturfilms« figuriert. Naturfilme wurden schlicht als Gegensatz von Fiktionsfilmen verstanden, die eher der Sphäre einer technologisch-ökonomistischen Zivilisation zugerechnet wurden.
V. D IE F UNK TION DER »N ATURBILDER « IM BIFURK ALEN F ILMDISKURS Im Gefolge der diskursiven Unterscheidung zwischen Fiktionsfilm und Naturbildern entstand ab ca. 1906 unter Intellektuellen, aber auch Pädagogen und Teilen der Presse der bereits erwähnte bifurkale Diskurs, wonach einer unterstützenswerten Dokumentations- und Aufzeichnungsfunktion des Films eine verurteilungswürdige Fiktionsfunktion entgegenstehe – die Homologie zum Diskurs des 19. Jahrhunderts über die Photographie, die sich auf eine Funktion als »la servante des sciences et des arts, mais la très-humble servante« (so Charles Baudelaire 1859)54 zu beschränken habe, liegt auf der Hand. Organisationen wie die 1907 in Deutschland gegründete Kinematographische Reformvereinigung, häufig eng mit Lehrerverbänden verquickt, träumten von einem Reformkino, dessen Programm statt aus den vielbeklagten unsäglichen Farcen, Melodramen und zur Nachahmung motivierenden Kriminalstücken aus »Naturbildern« bestünde. Es bietet sich an, eine Analogie zwischen dem intellektuellen Diskurs über die Naturbilder ab Mitte der nuller Jahre und den gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingerichteten Nationalparks oder einer Institution wie Hazelius’ Freilichtmuseum Skansen mit der dazugehörigen Fauna in Stockholm zu ziehen: In allen Fällen ging es darum, Reservate eines vermeintlich Natürlichen vor der vordringenden Zivilisation zu schaffen, als Rekreationsraum und damit letzten Endes kompensatorisch funktionalisiert. Diese Analogie wird plausibel, wenn man die Frage stellt, warum denn die Naturbilder eigentlich so positiv zu bewerten seien? Was erwartet man von der Ansicht von Natur in kinematographischer Form? 54 | Für Baudelaire war die Photographie »le refuge de tous les peintres manqués, trop mal doués ou trop paresseux pour achever leurs études« und sollte auf eine schlichte Dokumentarfunktion beschränkt bleiben: »Qu’elle enrichisse rapidement l’album du voyageur et rende à ses yeux la précision qui manquerait à sa mémoire, qu’elle orne la bibliothèque du naturaliste, exagère les animaux microscopiques, fortifie même de quelques renseignements les hypothèses de l’astronome; qu’elle soit enfin le secrétaire et le garde-note de quiconque a besoin dans sa profession d’une absolue exactitude materiélle, jusque-là rien de mieux. Qu’elle sauve de l’oubli les ruines pendantes, les livres, les estampes et les manuscrits que le temps dévore, les choses précieuses dont la forme va disparaître et qui demandent une place dans les archives de notre mémoire, elle sera remerciée et applaudie.« Baudelaire, Charles: »Le Public moderne et la Photographie«, in: ders.: Œuvres complètes (= Bibliothèque de la pléiade), Nice: Librairie Gallimard 1959, S. 767-772, hier S. 770f.
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Die Ansicht von Natur ist im intellektuellen Diskurs, der das real existierende Fiktionskino kritisiert, zumeist strikt funktionalen Zwecken unterworfen. Entweder dreht es sich schlichtweg um die visuelle Konstruktion eines nationalen Erfahrungsraums – erinnert sei an das Zitat von Laurids Skands. Oder aber es geht um naturwissenschaftliche, biologische oder geographisch-topographische Bildung im Sinne von Schulwissen – erinnert sei an Brandes’ einleitend zitierte Einlassung: das lebende Bild als wirkmächtiger Anschauungsunterricht und mediales Simulakrum eines kulturell institutionalisierten Erfahrungsraums. Mitunter ist indes auch der Rückgriff auf die Tradition der ästhetischen Anschauung zu beobachten, so z.B. in der programmatischen Schrift Nöjeskultur [Unterhaltungskultur] (1914) der schwedischen Reformpädagogin und Sozialreformerin Ellen Key. Vor dem Hintergrund einer Differenzierung zwischen einem »aktiven Anschauen« (im Schwedischen »åskådande«), das an die Tradition der erbaulichen Kontemplation anknüpft und dabei die panoptischen Möglichkeiten des neuen Mediums nutzt, und einem »schlappen Gucken« (im Schwedischen: »tittande«) kritisiert Key vehement das Fiktionskino der 1910er Jahre mit seiner ausgeprägten Effektökonomie und seinem Sensationalismus: Durch Massen einander jagender Eindrücke wird die Wahrnehmung nämlich getrübt; man gewöhnt sich an flüchtige und unverschmolzene Eindrücke, an ein schlaffes Empfangen und schnelles Vergessen von einem Stoff, von dem man ohne persönliche Mitarbeit vollgestopft wird, ohne Vertiefung im Seelenleben, ja, ohne dass man danach klare Erinnerungsbilder übrig hat – und wie viel weniger dann Gedanken oder Gefühle!55
Vorhersehbar folgt diesen Einlassungen die übliche Lobpreisung der Naturbilder: Es ist empörend, an all das Wertlose zu denken, das auf diese Weise Tag für Tag durch unsere Gehirne strömt, aber das Kino könnte ein so großartiger Bildungsfaktor sein. Es kann getreue Stimmungs- und Zeitbilder vermitteln, lebende Landschafts- und Stadtgemälde mit echten Lokalfarben, naturwissenschaftliche Gegenstände und Verläufe, wie sie das Mikroskop und Experiment enthüllen, vertrauliche Einblicke ins Tier- und Pflanzenreich. 56 55 | »Genom massor av varandra jagande intryck grumlas nämligen iakttagelsen; man vänjer sig vid flyktiga och osmälta intryck; vid slappt mottagande och snabb glömska av ett stoff, som man fullstoppas av utan personligt medarbete, utan fördjupande av själslivet, ja, utan att ens ha i behåll några klara minnesbilder – så mycket mindre då tankar eller känslor!« Key, Ellen: Nöjeskultur (= D.Y.G.-Laboremus skriftserie, 8), Malmö, Fremtidens bokförlag, 1914, S. 9. 56 | »Det är upprörande att tänka på allt det värdelösa, som sålunda dag efter dag strömmar igenom hjärnorna, medan biografen kunde vara en så storartad bildningsfaktor. Den kan ge trogna stämnings· och tidsbilder; levande landskaps· och stadstavlor med äkta lokalfärg; naturvetenskapliga föremål och förlopp, sådana mikroskop och experiment uppenbara dem; förtroliga inblickar i djur· och växtvärlden.« Ebd., S. 9f.
Die Ambimodernität der »Naturbilder«
Keys bevorzugt die Naturbilder nicht nur, weil sie geographisch-ethnologische Informationen visuell vermitteln oder als »extensions of man« (und wieder in Kontinuität zu entsprechenden Photographiediskursen des 19. Jahrhunderts)57 Einblicke in das dem menschlichen Auge bislang Unsichtbare zu geben vermögen. Key scheint die Naturbilder auch deshalb zu präferieren, weil sie nicht aus den für die Moderne typischen flüchtigen, einander jagenden Eindrücken im Zeichen einer sich längst verselbständigten Tachokratie bestünden. Damit wird aber nicht so sehr auf den angeblich bildenden Inhalt dieser Filme rekurriert, sondern auf ihren Stil: Denn im Gegensatz zum Fiktionsfilm, der in diesen Jahren stilistisch eine rapide Entwicklung durchlief und in Parametern einer großstadtaffinen Wahrnehmung reflektiert wurde, geprägt durch Chocs, Hektik und Distraktion, veränderte sich der Nichtfiktionsfilm stilistisch kaum bis zum Aufkommen des Dokumentarfilms gegen Ende des Ersten Weltkrieges, weil die bestehenden Stilformen offensichtlich effizient genug waren.58 Dieser konservative Stil lässt ein freieres Schweifen des Blicks als in Fiktionsfilmen zu, denen eine weit striktere Blickökonomie und -steuerung (z.B. durch Schnitt, Einsatz von Blenden etc.) unterstellt wird. Während Keys Zeitgenossen wie der dänisch-norwegische Autor Thomas Krag im Vorgriff auf Benjamin in diesen Jahren apologetisch argumentierten, dass die Reizstruktur des Fiktionsfilms eine notwendige Korrespondenz zur metropolitanen Hyperstimulation sei,59 ist für Ellen Key (und viele andere) gerade die Reizlosigkeit der Naturbilder ihr größter Vorzug, da diese so ganz im Gegensatz zur metropolitanindustriellen Moderne mit ihrem Hyperstimulus60 und ihrer Nervosität stünden. Um die Relation der Naturbilder zur Moderne zu resümieren, liegt ein Rückgriff auf Singers Neologismus der Ambimodernität nahe:61 Die Naturbilder bieten, gleich einem Besuch auf Skansen, ihren Zuschauern ein Reservat, das sich zwar ostentativ in Opposition zur Moderne definiert, aber technologisch von eben dieser hervorgebracht worden ist, erst in dieser ausdifferenziert und als Bildungs-, Rekreations- und/oder Kompensationsraum funktionalisiert wurde. Die Naturbilder sind so nicht antimodern, sondern ambimodern.
57 | Vgl. Keller, Corey (Hg.): Brought to Light: Photography and the Invisible 1840-1900, New Haven/London: Yale University Press 2008. 58 | Gunning: »Vor dem Dokumentarfilm«, S. 113; Garncarz: »Der nicht-fiktionale Film im Programm der Wanderkinos«, S. 117; Jung, Uli/Loiperdinger, Martin: »Programmtext und Verkaufsstrategien von nicht-fiktionalen Kurzfilmen«, in: dies. (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films, Bd. 1, S. 161-178, hier S. 164. 59 | Vgl. Schröder: Ideale Kommunikation, reale Filmproduktion, S. 190 u. S. 680-690. 60 | Der Begriff des Hyperstimulus wurde schon 1911 geprägt und ist hier Ben Singer entlehnt: »Modernity, Hyperstimulus, and the Rise of Popular Sensationalism«, in: Charney, Leo/Schwartz, Vanessa R. (Hg.): Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley: University of California Press 1995, S. 72-99. 61 | Vgl. Singer: »The Ambimodernity of Early Cinema«, S. 39.
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Kartierung der Welt Das Luftbild in der Weimarer Republik Detlef Siegfried
Der Blick von oben hat ästhetische und politische Wahrnehmungen verändert. Vermittelt vor allem durch das Flugzeug, jene »Sehmaschine« (Paul Virilio), die im 20. Jahrhundert die Sicht auf die Welt entscheidend bestimmt hat. Es durchbrach das »Monopol der Vertikale« – wie Walter Benjamin die gewohnte Betrachtungsweise bezeichnete: die Dominanz jener Achse, »aus der sich der Mensch auf der Erde umsah«, und beeinflusste die moderne Malerei und Literatur.1 Im »Neuen Sehen« der 1920er Jahre, jener vom Bauhaus beeinflussten, dynamische Kompositionen anstrebenden Stilrichtung in der Photographie der 1920er Jahre, die durch den Blick von oben bestimmt wurde, bedienten Künstler wie Lászlò Moholy-Nagy sich der durch die Luftfahrt konstituierten Perspektive. Die moderne Technik wurde hier nicht nur gefeiert, sondern auch skeptisch betrachtet: Die Sicht von oben ermöglichte eine umfassendere Erkenntnis der Wirklichkeit und diente dazu, sie bewusster zu gestalten.2 Das Luftbild erlebte in den 1920er Jahren seinen Durchbruch im Sinne einer massenhaften Verwendung und ideologischen Instrumentalisierung. Es wurde vielfach genutzt, wobei zwei grundlegende Perspektiven zu unterscheiden sind: Erstens die subjektive Interpretation in Malerei und Photographie und zweitens die Vermessungstechnik mit einem Anspruch auf Objektivität. Im Gegensatz 1 | Benjamin, Walter: »Rezension: Encyclopédie Française«, Bd. 16 u. 17 (1939), in: Tiedemann-Bartels, Hella (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 583. 2 | Haus, Andreas: »Luftbild – Raumbild – Neues Sehen«, in: Fotogeschichte, 45/46 (1992), S. 75-89; Frizot, Michel: »Eine andere Fotografie. Neue Perspektiven des Blicks«, in: ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln: Könemann 1998, S. 387-474; Fuhs, Burkhard: »Bilder aus der Luft. Anmerkungen zur Konstruktion einer Perspektive«, in: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), S. 233-250. Grundlegend: Asendorf, Christoph: SuperConstellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien/New York: Springer 1996.
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Detlef Siegfried
zur Zentralperspektive, die in der künstlerischen Gestaltung immer einer subjektiven Deutung folgt, strebt die auf die Erstellung von Messbildern gerichtete technisch-industrielle Luftbildphotographie die Kartierung einer als objektiv gegeben betrachteten Oberflächenstruktur der Welt an und postuliert damit einen wissenschaftlichen Blick – ganz ähnlich bildlichen Dokumentationsverfahren in den Naturwissenschaften.3 Beide Perspektiven, subjektiver Fokus und »objektive« Fläche, spielten im Diskurs um die Deutung der Moderne eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll es nicht in erster Linie um die explizit künstlerischen Sichtweisen jenseits der Vertikale gehen, sondern um Landschaftsvermessung und photographische Dokumentation topographischen und gesellschaftlichen Wandels durch die industrialisierte Wahrnehmungstechnik des maschinenvermittelten Blickes von oben.
1. Z UR E NT WICKLUNG DER P HOTOGR AMME TRIE SEIT DEM E RSTEN W ELTKRIEG Bemühungen, die Verhältnisse auf der Erde aus der Luft zu erfassen, hatte es schon vor dem Flugzeug gegeben – vom Ballon oder dem Zeppelin aus –, in der Regel als Einzelaufnahmen, wofür diese Transportmittel aufgrund ihrer relativ ruhigen Lage besser geeignet waren als die frühen Flugzeuge.4 1858 fertigte Félix Nadar in Frankreich die ersten Landschaftsaufnahmen aus einem Ballon an, 1895 stellte Aimé Laussedat die erste speziell auf den Zweck der Luftmessung ausgerichtete Kamera her. 1909 setzte Wilbur Wright erstmals eine Kamera von einem Flugzeug aus ein. Sieht man einmal von derartigen Einzelaufnahmen ab, so wurde es mit dem Flugzeug nach der Erfindung von Oskar Meßter außerdem möglich, größere Erdflächen durch die Anfertigung von Reihenbildern systematisch zu kartieren – anfangs auf Photoplatten, später auf Filmmaterial.5 Dafür wurde die Arbeitsgeschwindigkeit der im Flugzeugboden montierten Kamera so an das Flugtempo angepasst, dass die Erdoberfläche in sich überlappenden Einzelaufnahmen dokumentiert wurde. Auf diese Weise wurde der Flugzeugführer gleichzeitig zum 3 | Daston, Lorraine/Galison, Peter: »Das Bild der Objektivität«, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 29-99. Vgl. auch die Überlegungen von Bracht, Christian: »Das Marburger Luftbildarchiv deutscher Innenstädte«, in: Fuhrmeister, Christian u.a. (Hg.): »Führerauftrag Monumentalmalerei«. Eine Fotokampagne 1943-1945, Köln u.a.: Böhlau 2006, S. 163172, hier S. 165. 4 | Trotz, Heribert: Spektakuläre Luftbild-, Flieger- und Ballonfahrer-Aufnahmen. Aus der Frühzeit des Flugwesens 1890-1918, München: Nusser 1976. 5 | Zu den technischen Details vgl. als frühe Arbeit: Dock, Hans: Photogrammetrie und Stereophotogrammetrie, Berlin/Leipzig: de Gruyter 1913. Als neuere Darstellung: Mikhail, Edward M. et al.: Introduction to Modern Photogrammetry, New York: Wiley 2001.
Kartierung der Welt
Photographen. Bei systematischem Überfliegen des fraglichen Gebietes entsteht so eine flächendeckende Landschaftsaufnahme, wobei eventuelle Höhen- oder Horizontalschwankungen durch Entzerrer ausgeglichen werden. Stereophotographie ermöglicht außerdem die Erfassung von Höhenunterschieden, so dass nicht nur Flächen, sondern dreidimensionale Strukturen sichtbar werden. Diese ebenso schnelle wie systematische Kartierung per Flugzeug revolutionierte die bisherigen Vermessungsverfahren, die auf langwierige terrestrische Arbeiten angewiesen waren. Nun war es nicht nur möglich geworden, Veränderungen der europäischen Landschaften – etwa durch Naturkatastrophen oder Urbanisierung – schnell zu erfassen, sondern auch, jene Teile der Welt zu kartieren, die noch nicht verzeichnet waren – 90 Prozent der Erdoberfläche, wie Richard Blunck, ein enger Mitarbeiter Hugo Junkers’, festhielt.6 Betrachtet man die Entwicklung der Photogrammetrie aus wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive, so fällt auf, dass ihre Überlegenheit gegenüber herkömmlichem Kartenmaterial in einer Kombination aus Strukturtreue und Anschaulichkeit gesehen wurde, während sich herkömmliche Karten allein auf die Struktur konzentrierten und auch nicht topographisch erkennbare Linien wie Ländergrenzen verzeichneten.7 Landschaftsaufnahmen aus der Luft wirken naturalistisch, weil sie nicht nur Straßen, Flussläufe und Siedlungen dokumentierten, sondern auch den jeweiligen Zustand der Landschaft – Anbau und Reifegrad der Feldfrüchte, Blattwerk der Bäume, Schnee. Demgegenüber wurden in den zu kartographischen Zwecken aufgenommenen Bildern situative Elemente wie jahreszeitlicher Bewuchs eliminiert zugunsten einer möglichst abstrakten und als objektiv wahrgenommenen Struktur. Aber auch die Landschaftsphotographie, ganz zu schweigen von der Kunstphotographie des »Neuen Sehens«, ordnete die »Natur« nicht selten so, dass durch die Hervorhebung abstrakter Muster eine neue Wahrnehmungsebene konstituiert wurde, die auf Allgemeineres verwies. Im Ersten Weltkrieg wurde deutlich, dass die Photographie die Wahrnehmung der Welt auf zweifache, gegenläufige Weise verändern würde: indem sie Entferntes sichtbar machte und zugleich Nahes in die Ferne rückte. Die Privatphotographie der Soldaten-”Knipser«, die hier erstmals massenhaft in Erscheinung trat, hielt das Kriegsgeschehen im Detail fest, während die Luftphotographie aus Aufklärungsflugzeugen erst aus der Distanz heraus Überblick schaffte über die Strukturen hinter den feindlichen Linien – Stellungen, Truppenbewegungen, Geländever6 | Blunck, Richard: Hugo Junkers. Ein Leben für Technik und Luftfahrt, Düsseldorf: Econ 1951, S. 203. Vgl. insgesamt: Schneider, Ute: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006; Dipper, Christof/Schneider, Ute (Hg.): Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 7 | Siemer, Stefan: »Bildgelehrte Geotechniker: Luftbild und Kartographie um 1900«, in: Alexander Gall (Hg.): Konstruieren, Kommunizieren, Präsentieren. Bilder von Wissenschaft und Technik, Göttingen: Wallstein 2007, S. 69-108. Das folgende Zitat nach ebd., S. 84.
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hältnisse etc. Die Eigenschaft der Photographie als Medium zur Konstruktion von Wahrnehmung, zwischen dem Gegenstand der Betrachtung und dem Rezipienten zu vermitteln und dadurch Teilhabe und Entfremdung zugleich zu ermöglichen, hat Susan Sontag folgendermaßen illustriert: »Wie ein Fernglas, durch das man von beiden Seiten gleichermaßen hindurchschauen kann, rückt die fremde Kamera Dinge heran, macht sie vertraut, während sie vertraute Dinge verkleinert, abstrahiert, fremd macht, auf Distanz bringt.«8 Während des Krieges war das Flugzeug als »Auge der Armee« eingesetzt worden, um durch möglichst lückenlose photographische Dokumentation der Veränderungen an der Front die Aufklärung zu optimieren, was einen grundlegenden Wandel des modernen Krieges zur Folge hatte: die Verlagerung der entscheidenden Ebene des Kampfes vom Schlachtfeld zu den Kommandostellen, die aufgrund dieser Aufnahmen taktische Entscheidungen trafen.9 Dabei waren es immer besser qualifizierte Entschlüsselungsfachleute – »Beobachter« oder »Luftbildner« –, die das photographisch abgebildete Gewirr von Details deutend ordneten – Linien interpretierten, getarnte Truppenstellungen erkannten, Ziele identifizierten.10 Gleichzeitig konstruierte die Wahrnehmungstechnik Luftphotographie den Krieg als abstrakte Wirklichkeit – ein, wie Bernd Hüppauf hervorgehoben hat, »von Erfahrungswirklichkeit und moralischem Gehalt entleert[er]« Raum, der heroische Projektionen zuließ, weil er keine Opfer kannte.11 Der distanzierte, »kalte« Blick von oben auf die geographischen und sozialen Strukturen der Erdoberfläche blieb auch nach dem Krieg eine wesentliche Voraussetzung für Eingriffe in Natur und Gesellschaft. Der Popularisierung, institutionellen Verankerung und fachlichen Diskussion dieser technischen Innovation diente ein Fachverband auf nationaler und internationaler Ebene. Der erste Verband für Photogrammetrie wurde 1907 in Österreich gegründet, es folgte 1909 die deutsche Sektion einer Internationalen Gesellschaft für Photogrammetrie, die 1913 ihren ersten Kongress abhielt.12 Erst seit 1927 bilde8 | Sontag, Susan: »Die Bilderwelt«, in: dies.: Über Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer 1980, S. 159f., zit.n. Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn: Schöningh/W. Fink 2004, S. 83. 9 | Vgl. Paul: Bilder, S. 115. Das Zitat aus: Arndt, Hans: »Die Fliegertruppe im Weltkriege«, in: Deutsche Luftfahrt, zusammengestellt u. bearb. v. Bruno Wentscher, Berlin: Verlag Deutscher Wille 1925, S. 31-59, hier S. 34. 10 | Zit. aus Angelroth, H.: »Der Luftbildbeobachter«, in: Bildvermessung und Luftbildwesen (BuL), 1 (1926), S. 26-28. 11 | Hüppauf, Bernd: »Kriegsfotografie«, in: Michalka, Wolfgang (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München u.a.: Piper 1994, S. 875-909, hier S. 896. Vgl. Siegert, Bernhard: »Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 19111921«, in: Fotogeschichte, 45/46 (1992), S. 41-54. 12 | O. Verf.: »Aus der Entwicklung der Internationalen Gesellschaft für Photogrammetrie«, in: BuL, 3 (1930), S. 117-120.
Kartierung der Welt
ten sich nationale Gesellschaften in anderen europäischen Ländern (in den USA 1934), wobei Deutschland mit Abstand den größten nationalen Verband stellte – ihm gehörten mehr als ein Drittel aller Mitglieder an –, wohl auch, weil hier die meisten der auf diesem Gebiet tätigen Firmen ihren Sitz hatten. 1930 nahm Deutschland auf dem Gebiet der Luftphotographie, wie es aus den eigenen Reihen hieß, »eine überragende Stellung ein«.13 Hier arbeiteten sechs Gesellschaften – u.a. konkurrierte die Junkers-Luftbildzentrale mit der 1925 gegründeten Hansa Luftbild in Berlin, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Lufthansa, dem Aerokartographischen Institut in Breslau und der Photogrammetrie GmbH, München. Auf die Produktion der komplizierten Aufnahme- und Entzerrungsgerätschaften hatten sich vier deutsche Firmen spezialisiert, darunter Carl Zeiss in Jena, wo seit 1909 der Stereoautograph produziert wurde. 1885 hatte Albrecht Meydenbauer mit der Königlichen Preußischen Messbildanstalt die erste photogrammetrisch arbeitende Behörde gegründet, die sich anfangs auf die terrestrische Vermessung von Denkmälern konzentrierte.14 Die nach der durch den Krieg und das im Versailler Vertrag festgelegte Flugverbot in ihrer Tätigkeit eingeschränkte, aber 1925 wiederbelebte Deutsche Gesellschaft für Photogrammetrie umfasste neben Professoren der Technischen Hochschulen und weiteren Einzelmitgliedern alle auf dem Gebiet der Luftphotographie tätigen Behörden und Firmen, publizierte seit 1926 eine eigene Zeitschrift – Bildmessung und Luftbildwesen – und organisierte eine Reihe von Tagungen und öffentlichen Veranstaltungen. Wie Junkers erkannten auch andere Firmen seit Mitte der 1920er Jahre die finanziell lukrativen Einsatzmöglichkeiten von Luftbildaufnahmen für Werbezwecke.15 Besonders nach dem Ende der Inflation, mit dem Aufschwung des Verkehrswegebaus und der Stadterweiterungen, boomte das Luftbildwesen. Industriebetriebe warben mit Luftaufnahmen für sich, Touristikunternehmen mit Photographien der Zielorte. Sehr bald wurden Luftbilder auch im Unterricht eingesetzt – zunächst an Fachschulen, dann auch zunehmend im Geographie- und Heimatkundeunterricht der allgemeinbildenden Schulen. 1925 wurde im preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe ein »Luftbildreferat« eingerichtet, das ein Bildarchiv verwaltete und die Luftphotographie für Unterrichtszwecke popularisieren sollte.
13 | Ewald, Erich: »Luftbildwesen«, in: Interessengemeinschaft der deutschen Luftfahrt (Hg.): Aviaticus. Jahrbuch der deutschen Luftfahrt 1931, Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1931, S. 143-158, hier S. 157. 14 | Dazu Siedler, Gunnar/Sacher, Gisbert: »Photogrammetrische Auswertung historischer Fotografien und Messbilder«, in: Fuhrmeister u.a. (Hg.): »Führerauftrag Monumentalmalerei«, S. 189-198. 15 | Vgl. die Werbeprospekte: Junkers Luftbild. Filmaufnahmen aus dem Flugzeug, Dessau o.J.; Junkers Luftbild, Leipzig o.J. [1928].
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Anzeige für Junkers-Luftbild, ca. 1929
Seit Ende 1921 wurde bei Junkers eine Abteilung »Luftbild« aufgebaut, die in der Konjunktur der Stadt- und Raumplanung eine wichtige Rolle spielte, 1932 im Zuge der Verschlankung des Konzerns verkauft wurde und 1936 im Zuge der Zwangsvereinigung der deutschen Luftbildgesellschaften in der Hansa-Luftbild-GmbH aufging.16 Junkers-Luftbild dokumentierte in Deutschland eine Reihe von Städten »für Landesplanungs- und Siedlungszwecke, Forsten und Güter, Moore an der Ems, Braunkohlenlager bei Köln, ein Teil der Ems für Flussregulierungen und der Elbe bei Magdeburg für Bearbeitung der Trasse des Mittellandkanals«17. Andere Firmen erstellten Aufnahmen für Flussregulierungen etwa an der Oder, den Küstenschutz oder den geplanten Bau von Wasserkraftwerken. Wie auf anderen Teilgebieten des Flugwesens – dem Luftverkehr oder dem Flugzeugbau – waren 16 | Siegfried, Detlef: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers, Bonn: J.H.W. Dietz 2001, S. 81ff. u. S. 248. Zum Kontext vgl. Scheiffele, Walter: Bauhaus, Junkers, Sozialdemokratie. Ein Kraftfeld der Moderne, Berlin: Form+Zweck 2003. 17 | Ewald: »Luftbildwesen«, S. 154.
Kartierung der Welt
es auch auf dem Gebiet der Luftphotographie insbesondere frühere Militärs, die, wegen der Demilitarisierung auf der Suche nach zivilen Aufgabengebieten, Führungsaufgaben übernahmen. Bei Junkers, dem wichtigsten deutschen Flugzeugfabrikanten, spielten die ehemaligen Fliegerasse eine herausragende Rolle, die Leitung der Luftbildabteilung hatte der frühere Hauptmann Max Josef Ungewitter inne. Herbert Angelroth, selbst Fliegeroffizier im Ersten Weltkrieg, seit 1923 Finanzchef der Junkers-Luftbildzentrale und späterer Stahlhelm-Führer, hielt fest: »So wenig die Verkehrsfliegerei ohne die alten Kriegsflieger auskommen kann, so wenig die Luftbildnerei ohne die alten Beobachter mit ihren Erfahrungen aus dem Anfangsstadium der Flugzeug-Photographie.«18 Wobei sie, wie sich dann herausstellte, nicht immer den Anforderungen der zivilen Photogrammetrie gerecht wurden, bei der es auch auf theoretische Schulung, Wirtschaftlichkeit und zivile Umgangsformen im Kundenkontakt ankam.19 An die Stelle ehemaliger Kriegsflugzeuge, die für andere Zwecke konstruiert waren, ungünstige Platzverhältnisse aufwiesen, unruhig und unwirtschaftlich flogen, traten Verkehrsmaschinen von Junkers, Heinkel und Rumpler, die für diesen Spezialzweck umgerüstet wurden.
2. V ON DER N ATUR - ZUR M ASCHINENL ANDSCHAF T. D AS L UF TBILD ALS M EDIUM DER G ESELLSCHAF TSANALYSE Zwar war Deutschland schon mit den traditionellen Methoden kartographisch nahezu vollständig erschlossen worden, doch riefen Industrialisierung und Urbanisierung permanent Veränderungen hervor, die aus kulturkonservativer Perspektive mit Besorgnis wahrgenommen wurden und dokumentiert werden sollten – um den Verfall der Natur und der traditionellen Siedlungsstrukturen zu registrieren und ggf. eingreifen zu können. Wie im Krieg ging es also auch hier nicht so sehr um eine Dokumentation des Status quo, sondern um eine Dokumentation des Wandels. 1922, gleich nach der Aufhebung des Flugverbots, gaben die Behörden die Kartierung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets in Auftrag, die 1925 durchgeführt wurde. Zur Begründung verwies die dabei federführende Emschergenossenschaft auf den immer rasanter vorangehenden Wandel der modernen Gesellschaft: In unserem Industriegebiet ist es sehr schwierig, Kartenwerke und Pläne auf dem Laufenden zu halten. Die rastlose Arbeit und die dadurch bedingte ständige Vergrößerung und Veränderung der bestehenden Werksanlagen und Wohnungssiedlungen, der Bau neuer Straßen, Eisenbahnen, Kanäle, Wasserläufe verändern das Bild der Erdoberfläche fortwäh-
18 | Angelroth: »Luftbildbeobachter«, S. 26. 19 | Ungewitter, M.J.: »Aus der Praxis des Luftbildtechnikers« (1927), in: BuL, 2 (1928), S. 49-66, hier S. 58f.
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Detlef Siegfried rend, so dass Karten und Planwerke sehr rasch veralten, manchmal schon beim Erscheinen nicht mehr zutreffen. 20
Auch Architektur und Stadtplanung stellte die Sicht aus der Höhe auf die Fläche vor neue Herausforderungen und eröffnete gleichzeitig neue Möglichkeiten. Architekten regte er dazu an, wie Walter Gropius formulierte, »das bild der bauten aus der vogelschau, das die menschen in früheren zeiten nicht zu gesicht bekamen, bewusst zu gestalten«21. Mit Hilfe des Luftbildes konnten Neuplanungen passgenau vorgenommen werden. Landschafts- und Städteplaner kopierten ihre neuen Projekte direkt in die Luftbildpläne ein, es wurde, wie ein Fachmann notierte, »der Entwurf gleichsam in der im verkleinerten Maßstabe in die Arbeitsstube getragenen Landschaft vorgenommen«22 . Städteplaner und Architekten nutzten derartige Tableaus aber auch, um die mehr oder weniger zufällig gewachsenen Wohngebiete nach rationalen Kriterien formativ umzugestalten. Als Le Corbusier im Kontext seiner Planungen für die Umgestaltung Rio de Janeiros 1929/1930 sich kritisch mit dem Wildwuchs der Städte beschäftigte, da lobte er die aufklärerische Funktion des Flugzeugs: Wir wussten es; doch wir hatten keine Ahnung, wie ungeheuerlich, wie hassenswert diese Unsauberkeit, diese Unaufrichtigkeit der Stadt gegenüber ihren Einwohnern gewesen ist. Das Flugzeug hat uns zur Einsicht verholfen. Das Flugzeug hat den Blick dafür. Das Flugzeug klagt an. 23
Diese Anklage richtete sich gegen die historisch gewachsene Unübersichtlichkeit der vorfindlichen Stadtstrukturen, die nun beseitigt und durch planmäßige Konstruktion ersetzt werden sollten. Die Städte des 20. Jahrhunderts sollten die nach rationalistischen Kriterien gestalteten modernen Wohnstätten des Neuen Menschen beherbergen. Auch Richard Blunck, Hugo Junkers’ Sprachrohr, sah darin eines der bedeutendsten Einsatzfelder der Luftphotographie: Aufnahmen von oben könnten zeigen, »was in dieser städtebaulichen Entwicklung planlos und für die heutigen Bedürfnisse zweckwidrig geworden ist und wie man diesen Schäden im Interesse des Verkehrs und unserer heutigen Ansprüche an städtebauliche Schönheit abhelfen kann«24. 20 | Hellwieg: »Luftbildaufnahmen im Rhein.-Westf. Industriegebiet«, in: BuL, 1, 1926, S. 19-25, hier S. 19. 21 | Gropius, Walter: Bauhausbauten Dessau, Bauhausbücher 12, München: Langen 1930, S. 16. 22 | Ewald: »Luftbildwesen«, S. 144. 23 | Zit. nach Ingold, Felix Philipp: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 19091927, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 321. 24 | Blunck: Junkers, S. 201. Vgl. auch Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
Kartierung der Welt
Während die Protagonisten des »Neuen Bauens« die Luftphotographie benutzten, um einen Neuansatz des zukünftigen Städtebaus zu legitimieren, dokumentierte sie aus einer konservativen Sicht den Verfall der deutschen »Kultur«. So sah es Erich Ewald, der bedeutendste Propagandist der Photogrammetrie in Deutschland, ein 1884 geborener Ingenieur, der 1921 mit einer Dissertation zum Thema »Das Luftbild im Dienste des Städtebaus und Siedlungswesens« promoviert wurde und anfangs als Leiter der Bildstelle im Preußischen Handelsministerium, nach 1933 als Oberregierungsrat im Reichsluftfahrtministerium, ihre Popularisierung und Institutionalisierung betrieb und gleichzeitig bei der staatlichen Regulierung der Bilderflut durch den Luftbilderlass von 1929 eine wichtige Rolle spielte.25 Seit 1925 war er Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Photogrammetrie und richtete in ihrem Namen zahlreiche Ausstellungen aus, die das komplizierte Thema für die Öffentlichkeit aufbereiteten – so etwa auf der Internationalen Luftfahrtausstellung 1928 in Berlin, bei der Grünen Woche in Berlin 1930, den internationalen Kongressen für Photogrammetrie in Charlottenburg 1926 und Zürich 1930. Vor allem aber war Ewald der fleißigste photogrammetrische Schriftsteller, der seine Arbeiten in zahlreichen Fachzeitschriften publizierte, aber auch durch populäre Artikel und Buchpublikationen in die breitere Öffentlichkeit wirkte.26 Er betrachtete Luftbildaufnahmen als vorzügliches Hilfsmittel, eine historisch gewachsene Siedlungsstruktur nachzuweisen, die einer spezifisch deutschen Mentalität entsprungen sei. Und gleichzeitig ging es um die Vermessung des räumlichen Wandels – allerdings in gesellschaftsdiagnostischer Absicht, mit Blick auf die durch Industrialisierung und Verstädterung veränderten Landschaftsstrukturen. Luftbilder zeigten, wie Ewald 1925 hervorhob, die unwillkommenen Folgen der »Maschine«: Unter der Einwirkung dieser neuen Kräfte entstehen die Massensiedlungen der Großstädte, die erkennen lassen, wie der einzelne zur Nummer, die Gesamtheit zur Masse heruntergedrückt worden ist. In den neuesten Formen der Kleinsiedlungen endlich regt sich ein anderes Leben. Vielfach sind sie noch in ihrer Anlage durch übergeordnete Kräfte bestimmt, aber doch klingt in ihnen die Sehnsucht nach der Verbindung mit dem Heimatboden und der Wunsch nach persönlicher Gestaltung heraus. 27 25 | Koerner, O.: »25 Jahre Deutsche Gesellschaft für Photogrammetrie«, in: BuL, 3 (1934), S. 110-115, hier S. 112; Ewald, Erich: »Das Luftbild im Dienste der Neugestaltung des deutschen Lebensraumes«, in: Zeitschrift für Vermessungswesen, 1936, S. 145-153. 26 | Ewald, Erich: Deutschland aus der Vogelschau. Landschaft und Siedlung im Luftbild, Berlin: Stolberg 1925. 27 | Ewald, Erich: »Deutschland im Luftbilde«, in: Aeronauticus (Hg.): Luftfahrt ist not! Die deutsche Luftfahrt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Berlin: Kyffhäuser Verlag [1925], S. 61. Dass dies keine Einzelposition war, zeigt auch Brunner, Karl H.: Weisungen aus der Vogelschau. Flugbilder aus Deutschland und Österreich und ihre Lehren für Kultur, Siedlung und Städtebau, München: Callwey 1928. Im »Dritten Reich« erweiterte Ewald
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Derartige Sichtweisen waren weit verbreitet, wurden aber gegen Ende der Weimarer Republik auch modifiziert. Ein wichtiger Stichwortgeber war der technikbegeisterte konservative Revolutionär Ernst Jünger, der »im Landschaftsbilde« eine »Auflösung« der bürgerlichen Gesellschaft wahrnahm, ohne dies als Verlust zu verstehen: »Zerstörungen dieser Art sind zu tief und zu begründet, als dass man ihnen Einhalt gebieten könnte, und dass man zu neuen Harmonien nicht durchdringen kann, ohne durch diese Zerstörungen hindurchgegangen zu sein.«28 Analog zum wissenschaftlichen Anspruch im Messbild galt das Luftbild auch hier als quasiwissenschaftliches, objektiv dokumentierendes Medium – und hob sich damit von subjektiven künstlerischen Darstellungen ab.29 1928 nahm sich ein Autor sogar vor, »aus dem Flugbild Weisungen für unser Dasein und dessen Gestaltung, für unser Wirken in Kultur, Siedlung und Wirtschaft zu holen«30. Dass man »bei der Betrachtung von Luftbildern« »entscheiden« konnte, »wo ein neuer und andersartiger Wille seine Linien in die Landschaft einzuzeichnen beginnt«, der »ein höheres Maß an Kälte, an Mathematik, an Bestimmung« aufwies, dokumentierte ein Jahr nach Jüngers vielgelesenen Thesen von 1930 der von Eugen Diesel herausgegebene populäre Bildband Das Land der Deutschen, der »Naturlandschaft«, »Kulturlandschaft« und »Maschinenlandschaft« voneinander schied, wobei die erste im geringsten, die letzte im stärksten Umfang dokumentiert wurde. Im Gegensatz zur Kriegsphotographie, die durch Aufnahmen der Mondlandschaften von Verdun und anderen Schlachtfeldern den industrialisierten Krieg als Naturkatastrophe herausgestellt hatte, war es nun der zivile technische Fortschritt, der die Natur zurückdrängte. Diesel konstatierte eine Verdrängung von »Natur-« und »Kulturlandschaften« durch die »Maschinenlandschaft«, ohne dies zu beklagen: Die vollkommene Auslöschung von Raum und Zeit im alten Sinne, diese Allgegenwart und Allerreichbarkeit schafft nicht nur einen über die Erde gespannten übernationalen Lebensbereich, es werden auch die Bedingungen des Daseins, werden Völker und Familien mehr und mehr von den Bedingungen sowohl der Natur- wie der Kulturlandschaft abgelöst. Diese beiden sind in vielen Hinsichten nicht mehr unser wesentlicher Schicksalsgrund, vielmehr den Kanon dessen, was er als »mechanische[s] Hineinstellen der Anlagen übergeordneter Mächte in die Landschaft« bezeichnete, auf mittelalterliche Klöster, Schlossanlagen und »die völlige Beziehungslosigkeit zwischen Landschaft und Bauanlagen des 19. Jahrhunderts unter der Einwirkung des Liberalismus und Kapitalismus« (Ewald, Erich: »Der Einsatz des Luftbildes für die Neuordnung des deutschen Wirtschaftsraumes«, in: BuL, 4 (1936), S. 165-172, hier S. 171.). Vgl. dazu auch Siemer, Stefan: »Höhenblicke. Luftbilder der 20er Jahre«, in: Gaertringen, Hans Georg Hillert von (Hg.): Junkers Dessau. Fotografie und Werbegrafik 1892-1933, Göttingen: Steidl 2010, S. 71-94, hier S. 73f. 28 | Jünger, Ernst: »Der Arbeiter«, in: ders.: Werke, Bd. 6, Stuttgart: Klett 1964, S. 234. 29 | Beckmann, Angelika: »Abstraktion von oben. Die Geometrisierung der Landschaft im Luftbild«, in: Fotogeschichte, 45/46 (1992), S. 105-115. 30 | Brunner: Weisungen, S. 7.
Kartierung der Welt ist es eine Landschaft, die in Fahrpläne, Fluglinien, asphaltierte Straßen eingesponnen ist und ein ganz neuartiges Gesicht in unserer Seele macht. 31
Wasserkraftwerk am Oberlauf der Zwickauer Mulde in Sachsen, um 1930. Die Aufnahme repräsentiert die »Maschinenzeit« in Eugen Diesels Land der Deutschen. Sichtbar ist die Stauung eines Teils des Flusses zur Stromgewinnung sowie der Kahlschlag für die Überlandleitungsmasten im anliegenden Waldgebiet
Wie sehr diese Deutung mit dem »reactionary modernism« (Jeffrey Herf) der Nationalsozialisten zu vereinbaren war, zeigt das Vorwort zur »Volksausgabe« des Buches vom Oktober 1933, wo Diesel ganz den neuen politischen Verhältnissen Rechnung trug, ohne am Buch selbst ein Jota ändern zu müssen. Hier heißt es: Zu den alten Formen des Vaterlandes, der Heimatliebe und des nationalen Gefühles haben sich neue Erlebniszustände und Willensrichtungen hinzugesellt. Deutlich zeichnet sich bereits etwas ab, das wir zugleich als national und als sachlich, als ideal und als real bezeichnen können. Das Buch ist anzusehen als ein Bekenntnis zu einer idealen und nationalen Sachlichkeit. 32
31 | Diesel, Eugen: Das Land der Deutschen, Leipzig: Bibliographisches Institut 1933, S. 14. 32 | Zum zeitgenössischen Kontext vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
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Seit Mitte der 1920er Jahre bestimmten Luftbilder stärker als zuvor das retrospektive Bild des Ersten Weltkrieges, der erst jetzt kollektiv bearbeitet und zur Bewährungsprobe überhöht wurde. Der Rekurs auf Flugzeuge und Luftphotographie bekräftigte die Überzeugung von einer technologischen Überlegenheit Deutschlands und rückte zugleich die Wirklichkeit des Krieges in die Ferne.33 Ernst Jünger war immer wieder auf das Fliegen und die Flieger zu sprechen gekommen,34 wenn es darum ging, seine technizistische Anthropologie des 20. Jahrhunderts zu entfalten, nach der die modernen Technologien nicht – wie die traditionelle konservative Kulturkritik meinte – Entindividualisierung und allgemeinen Werteverfall bewirkten. Vielmehr ermöglichten sie gerade eine Entlastung des Individuums, die zur Herausbildung neuer Eliten führen würde. Nach Jünger war der Flieger der eigentliche Autonom des Krieges, weil er allen Beschränkungen des traditionellen Landkrieges enthoben war und sich ganz auf den technikvermittelten Kampf konzentrieren konnte. Autonome Stellung und Durchschlagkraft prädestinierten den Flieger zu einer maskulinen Leitfigur, die auch in Friedenszeiten Vorbildwirkung hatte.35 Neben einer Anthropologie der Stahlgestalt materialisierte sich im Fliegen auch ein »kultischer« Bereich, eine nationale Mission. Wenn Jünger forderte, der rein »technische[n] Meisterschaft« des Fliegens sei als »entscheidende Triebkraft des Menschenfluges […] das Fliegerherz« an die Seite zu stellen, dann war damit jene innere Komponente gemeint, die die Gemeinschaftsbildung des deutschen Volkes befördern sollte.36 Für Jünger war das Fliegen nicht in erster Linie eine technische Leistung, sondern eine »sittliche Anstrengung«, hinter der Nützlichkeits- oder Wirtschaftlichkeitsaspekte zurückstanden. »Denn sicherer als durch metallische Flügel wird das Heer der wunderbaren Maschinen emporgehoben durch den Glauben der Nation, der ihren Flug für mehr als nützlich, nämlich für notwendig hält.« Junkers-Pressechef Friedrich-Andreas Fischer von Poturzyn reflektierte die politischen Umsetzungsmöglichkeiten des von Jünger angedeuteten Konzepts der nationalen Wiederauferstehung durch die Mobilisierungskraft des Fliegens – die
33 | Vgl. Paul: Bilder, S. 142ff. 34 | Vgl. dazu auch: Ingold: Literatur, S. 214ff.; Fritzsche, Peter: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge/London: Harvard University Press 1992, S. 62ff.; Wege, Carl: Buchstabe und Maschine. Beschreibung einer Allianz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 112; Wohl, Robert: The Spectacle of Flight. Aviation and the Western Imagination, 1920-1950, New Haven/London: Yale University Press 2005, S. 277ff. 35 | Der »fliegende Mensch«, so Jünger, »ist vielleicht die schärfste Ausprägung einer neuen Männlichkeit. Er stellt einen Typus dar, der sich bereits im Kriege angedeutet hat.« Einleitung zu Jünger, Ernst (Hg. unter dem Protektorat des Deutschen Luftfahrtverbandes e.V.): Luftfahrt ist not!, Leipzig/Nürnberg: Andermann [1929], S. 11f. 36 | Dies und das folgende ebd., S. 9f.
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»dreidimensionale Politik«.37 Mit der Erfindung des Flugzeugs war ein Verkehrsmittel entstanden, das auf nahezu unbegrenzten Wegen schneller als je zuvor auch in entferntesten Regionen der Erde operieren konnte. Damit wurde die »Raumrevolution«, wie Carl Schmitt die technische Emanzipation von der Erdbindung pointiert bezeichnete, zu einem eminent politischen Faktor.38 Die Eroberung der dritten Dimension bot Deutschland die Chance, hier jene Weltgeltung zu erreichen, die ihm auf dem Lande und zur See durch andere Weltmächte versperrt war. Fischer ging davon aus, dass der Luftraum auch unter Friedensbedingungen schon bald zum Austragungsort nationaler Machtkämpfe werden würde. Es hatte sich gezeigt, dass der technische und wirtschaftliche Vorsprung Deutschlands auf diesem Gebiet durch die Auflagen der Friedensregelung erreicht worden war, während die auf den Kriegsflugzeugbau fixierten Siegermächte ins Hintertreffen gerieten. Die entscheidende Frage war, wer im friedlichen Wettbewerb um die »Luftgeltung« die Oberhand behalten würde.
3. K OLONIALVERMESSUNG UND DAS NEUE »L UF TREICH « Während der distanzierte Blick der Luftbildmessung in Deutschland, dem »bestvermessene[n] Land«39, mit dem landschaftlichen den gesellschaftlichen Wandel dokumentieren sollte, diente sie außerhalb Europas zur ebenso schnellen wie zuverlässigen Ersterschließung von Regionen, deren natürliche Gegebenheiten besonders widrig erschienen. Das Luftbild war nicht zuletzt ein probates Mittel zur Machtsicherung, administrativen Erschließung und ökonomischen Ausbeutung in den Kolonien, wie sich etwa an der Tätigkeit des französischen Service Géographique de l’Armée sowie privaten französischen Luftbildunternehmen studieren lässt, die in Nordafrika und Indochina aktiv waren.40 In der Weimarer Republik kam der Aufschwung der neuen Technologie in dieser Hinsicht schon zu spät, denn Deutschland besaß keine Kolonien mehr.41 Andererseits öffnete sich dadurch 37 | Fischer von Poturzyn, Friedrich-Andreas: »Luftpolitik«, in: Jünger (Hg.): Luftfahrt, S. 366-375. Zum diesbezüglichen Engagement bei Junkers vgl. auch den Aufsatz von Sachsenberg, Gotthard: »Luftverkehrspolitik und -ökonomie. Politische Grundlagen des Luftverkehrs«, in: Jahrbuch für Luftverkehr, 1 (1924), S. 119-127. 38 | Adam, Armin: »Raumrevolution. Ein Beitrag zur Theorie des totalen Krieges«, in: Stingelin, Martin u/Scherer, Wolfgang (Hg.): HardWar/SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945, München: Fink 1991, S. 145-158. 39 | Ewald: »Luftbildwesen«, S. 143. 40 | Ewald, Erich: »Die 4. Internationale Ausstellung für Photogrammetrie in Paris«, BuL, 2 (1935), S. 74-82, hier S. 80. 41 | Scheimpflug, Theodor: Die technischen und wirtschaftlichen Chancen einer ausgedehnten Kolonialvermessung. Denkschrift der ersten internationalen Luftfahrtausstellung (Ila), Frankfurt a.M. 1907, Bd. 1, S. 177-202; Günther, L.W.: »Die Verwendung der Photo-
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der Aktionsrahmen für die großen, nichtkolonial beherrschten Teile der außereuropäischen Welt, so dass, wie Hugo Junkers es tat, der Export der Luftfahrt in diese Gegenden als »Kulturfortschritt ersten Ranges« betrachtet werden konnte, der »naturgemäß das Ansehen des den Luftverkehr einrichtenden Landes fördert«: »Die Errichtung des internationalen Luftverkehrs sichert die Beherrschung fremden Landes auf friedlicher Basis.«42 Vor dem Krieg war die Vermessung der Kolonien per Luftschiff als probates Mittel der Landnahme in unerschlossenen und von feindlichen Untertanen besiedelten Gebieten betrachtet worden. Als »Instrumente eines technischen Bewusstseins«, wie Ernst Jünger Photographien charakterisierte,43 dienten die Bilder von oben auch dazu, die als undurchdringlich betrachtete Natur zu beherrschen und ihre Inbesitznahme vorzubereiten. Oberleutnant Paul Graetz, der 1909 und 1911 schon zu Lande und zu Wasser den afrikanischen Kontinent motorisiert vermessen hatte, griff 1911 auf die dritte Dimension über, als er den Reichsbehörden vorschlug, eine »photographische Landkarte« Neu-Guineas »aus der Vogelschau aufzunehmen«. Geplant war dieses Vorhaben als deutsch-englisches Gemeinschaftsunternehmen mit holländischer Unterstützung – und bezog damit alle auf der Insel vertretenen Kolonialmächte ein. Man wollte »den letzten verschlossenen Teil des Erdballs« kartieren. Luftaufnahmen boten sich besonders an wegen des »schier undurchdringlichen Urwalds, der Zerrissenheit des Geländes und den zwischen 4 und 5000 m hohen Gebirgen«, häufiger Erdbeben, heftiger Regenfälle, der »Plage der Landblutegel« und der »außerordentlichen Anforderungen des Klimas an die Gesundheit des Europäers«.44 Verbunden mit einer Landexpedition, sollte die »Kulturaufgabe« der Erschließung der größten Südseeinsel nicht zuletzt wirtschaftlichen Zwecken dienen – der Ausbeutung vermuteter Goldvorkommen und der Rekrutierung von Arbeitskräften für die Plantagenwirtschaft. Erst das Luftschiff und dann sehr viel mehr noch das Flugzeug ermöglichten die Erschließung unzugänglicher Regionen der Erde und damit eine »Raumbeherrschung von Pol zu Pol«45. Die daraus entstehenden Dokumentationen lieferten – anders als die bis dahin üblichen Schätzungen oder, wie Blunck anmerkte, grammetrie im Dienste der kolonialen Kartographie«, in: Reimers Mitteilungen für Ansiedler, Farmer usw., 1 (1911), S. 1-15; Hugershoff, R.: »Kolonialtopographie und Luftbildmessung«, in: BuL, 1938, S. 50-66. 42 | Ausführungen von Prof. Junkers zu der Frage der Verwendungsmöglichkeiten des Flugzeugs in der Welt, 05.04.1930, Deutsches Museum, München, 0301 T 27. 43 | Jünger, Ernst: »Krieg und Lichtbild«, in: ders.: Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin: Neufeld & Henius 1930, S. 10, zit.n. Paul: Bilder, S. 107. 44 | Graetz, Paul: Die Deutsch-Englische Luftschiff-Expedition zur Erforschung von NeuGuinea, o.D., Bundesarchiv Berlin, R 1001/2365. Ich danke Daniel Midena für den Hinweis auf diese Quelle. Zum Luftschiff als nationalem Symbol vgl. Syon, Guillaume de: Zeppelin! Germany and the Airship, 1900-1939, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2002. 45 | Jünger: Arbeiter, S. 239.
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die »unzureichende[n] Angaben der Indianer« – ein »wahrheitsgetreues« Abbild der Strukturen.46 Überhaupt fällt in diesem Kontext die Rhetorik von Aufklärung, Rationalität und Sachlichkeit auf: Ein Autor gab seinem Band mit den »schönsten und interessantesten Luftbilder[n]« aus aller Welt den Titel »Entschleierte Erde«.47 Nach der Kriegsniederlage änderten sich die Voraussetzungen für deutsche Auslandsaktivitäten beträchtlich. Nicht nur waren die früheren Kolonien unter die Verwaltung des Völkerbunds gestellt worden, auch war die Seeflotte, die das wilhelminische Selbstbewusstsein in den entferntesten Regionen der Erde zum Ausdruck gebracht hatte, erheblich reduziert worden. Unter diesen Bedingungen ergaben sich für das Flugzeug neue Einsatzmöglichkeiten. Bei Junkers sah man sie unter anderem in der Unterstützung der Auslandsdeutschen, denen mit den zahlreichen, schon Anfang der 1920er Jahre durchgeführten Expeditionen und sogenannten Werbeflügen nach Persien, dem Kaukasus, die Karibik und Südamerika – später kamen China, Südafrika und Nordamerika hinzu – der Stolz auf das Heimatland zurückgebracht werden sollte, denn das Flugzeug konnte davon künden, »dass Deutschland zwar besiegt und arm, aber unbesiegt in seinem Geiste und in seiner Arbeit dasteht« und von »ungebrochene[r] Leistungsfähigkeit« war.48 Unter der Prämisse, dass der deutsche »Wiederaufstieg mehr noch als vor dem Kriege im Ausbau seiner überseeischen Wirtschaftsbeziehungen beruht«49, entwickelte von den deutschen Luftbildunternehmen allen voran Junkers-Luftbild größere Aktivitäten im Ausland und führte Vermessungsarbeiten in Schweden, Brasilien, Peru und Bolivien durch. 1930 sprach sie sich für die Gründung einer »deutschen Luftbildunion« aus, die bei größeren Auslandsaufträgen in der Lage sein würde, Geräte und Fachpersonal in ausreichender Menge aufzubieten. Eine Zusammenfassung sei notwendig, auch um »den internationalen Beziehungen und der Weltgeltung Deutschlands« zu nutzen.50
46 | Das erste Zitat: Blunck: Junkers, S. 206; das zweite: Ewald: »Luftbildwesen«, S. 143. Vgl. Ewald, Erich: »Die Flugzeugphotographie und ihre wirtschaftliche Bedeutung«, in: Aeronauticus (Hg.): Luftfahrt, S. 51f.; Geßner, Wilhelm: »Das Luftbild in der Wirtschaft«, in: Deutsche Luftfahrt, S. 98-102. 47 | Bley, Wulf: Entschleierte Erde. Die schönsten und interessantesten Luftbilder aus allen Ländern der Erde, Leipzig: Hesse & Becker [1937]. 48 | O. Verf.: »Luftverkehr und Auslandsdeutschtum«, in: Junkers-Nachrichten 1923, S. 71-73; o. Verf.: »Luftfahrt-Werbung«, in: Junkers-Nachrichten, 1, 1932, S. 23-27. Vgl. Forster, Ralf: »Bildreklame für den Fortschritt. Fotografie und Film in der Junkers-Werbung«, in: Hillert von Gaertringen (Hg.): Junkers, S. 95-105, hier S. 99ff. 49 | O. Verf.: »Ostasien-Expedition«, in: Junkers-Nachrichten 1926, S. 29-35, hier S. 31. 50 | Angelroth, Herbert A.: »Deutsche Luftbild-Auslandsarbeit«, in: BuL, 3 (1930), S. 166.
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1921: Junkers F 13-Flugzeuge auf dem Rio Magdalena, Kolumbien
Deutsche Unternehmen waren an zahlreichen Orten jenseits Europas aktiv, etwa in einem Konsortium, das Vermessungsarbeiten für den Bahnbau in Nordpersien im Auftrag der dortigen Regierung vornahm.51 Zu den wichtigsten ausländischen Unternehmungen auf dem Gebiet des Luftverkehrs gehörte die Sociedad ColomboAllemana de Transportes Aereos, also die Deutsch-Kolumbianische Luftverkehrsgesellschaft in Bogotá – mit Sitz in Berlin. Die SCADTA war ein 1921 gegründeter und »im wesentlichen deutsch finanzierter und deutsch geleiteter Luftverkehrskonzern«, der im Norden Südamerikas eine »führende Stellung« einnahm und »wie kaum ein zweites deutschgeleitetes Unternehmen nach dem Kriege zur Wiederbelebung des deutschen Ansehens im Auslande beigetragen hat«.52 Die Aktivitäten deutscher Konzerne in Südamerika dienten auch dem Aufbau eines weltweiten Abnehmerkreises für deutsche Technik – vor allem für Flugzeuge –, aber auch der Erprobung der Apparate, die »unter den extremen tropischen Verhältnissen zu funktionieren hatten« und immer weiter zu verbessern und »an die außerordentlich anormalen Verhältnisse« anzupassen waren, wie in einem Bericht aus Bogotá, doch aus sichtbar eurozentrischer Perspektive formuliert wurde. 1923 begann die SCADTA mit der Aufnahme des Grenzgebietes zwischen Kolumbien und Venezuela, das nicht nur von dichtem Urwald bedeckt, sondern auch von »wilden« Indianerstämmen bevölkert war, »die verschiedenen terrestrischen Expeditionen, welche versucht hatten, in das Gelände einzudringen, den allerhartnäckigsten bewaffneten Widerstand entgegengesetzt hatten«. Aufgrund der Unzugänglichkeit 51 | Eine Reihe von Beispielen beschreibt ausführlich Blunck: Junkers, S. 203ff. 52 | »Bericht über die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Abteilung der SCADTA, Sociedad Colombo – Allemana de Transportes Aereos, Baranquilla-Bogotá, Kolumbien, Süd-Amerika, Oktober 1926«, in: BuL, 2 (1926), S. 67-71 (dort auch die nachfolgenden Zitate); vgl. außerdem Ewald: Luftbildwesen, S. 155f.
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der Region waren Streitigkeiten um den Verlauf des Grenzflusses aufgekommen, und dieser Auftrag der SCADTA erregte auch deshalb internationale Aufmerksamkeit, weil hier erstmals die Photogrammetrie zur Grenzregulierung herangezogen wurde. In den »Tropen« kam es den Auftraggebern, wie von der Wissenschaftlichen Abteilung der Gesellschaft mit Bedauern festgehalten wurde, anders als in Europa nicht so sehr auf Genauigkeit an, sondern darauf, ein bestimmtes Gebiet überhaupt erst einmal »in großen Zügen« kennenzulernen. Seine erste Frage ist: »Welches ist der allgemeine geographische Charakter meines Geländes, welches sind die wichtigsten Flüsse, wo gibt es Hügel oder Gebirgszüge, auf denen ich Kaffee bauen kann, wo Savannen und Weideflecken, auf denen ich Vieh halten kann, wo befinden sich offenbar Antiklinalen [Gesteinsformation], die einer weiteren terrestrischen Erforschung würdig erscheinen bzw. sonstige Formationen, die zu detaillierten geologischen Forschungen anreizen.«
In der Berichterstattung der Junkers-Nachrichten spielten regelmäßige Reportagen über weite expeditionsartige Reisen eine wichtige Rolle, die »Jemen-Expedition« (5/1927), China, Südamerika, »Deutsche Fliegerpioniere in Bolivien« (1/1928), »Junkers-Flugzeuge in der Südsee« (3/1928) etc., wobei die Reaktionen der indigenen Bevölkerung die technischen Leistungen des Flugzeugs bekräftigten. So hieß es in einem Bericht über einen Flug von Moskau nach Taschkent: »Wer den überwältigenden Eindruck eines solchen plötzlich heranbrausenden Riesenvogels auf Naturvölker gesehen hat, wer ihre schier abergläubische Scheu vor dem Flugzeug kennt, der weiß, welches Machtmittel darin steckt.«53
4. F A ZIT Wenn Gerhard Paul aus der Photographie eine »Industrialisierung der Wahrnehmung« ableitet, so hat das Luftbild daran einen großen Anteil gehabt – wenn es vermessungstechnisch eingesetzt wurde, aber auch darüber hinaus.54 Generell ging es im Luftbild nicht um Details, sondern in erster Linie um übergeordnete Strukturen. Es handelt sich um eine Distanztechnik, die den Diskurs der Zwischenkriegszeit um das Verhältnis von Authentizität und Entfremdung, Gemeinschaft und Gesellschaft mitbestimmte und vermittelte. Dabei erhebt die Photogrammetrie, anders als der Gebrauch der Kamera auf der Erde, der immer selektiv ist und den Blick der Rezipienten nach dem Willen des Photographen lenkt, einen Anspruch auf Objektivität. Auch die Wahrnehmungskonstruktionen des »Neuen Sehens« profitierten vom Nimbus des Objektiven, obwohl sie zweifellos subjektiv kreiert waren. 53 | Junkers-Luftverkehr Nachrichtenblatt, 16.06.1923. 54 | Paul: Bilder, S. 108.
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Versucht man, die Wahrnehmung der Landschaft gesellschaftsgeschichtlich zu verorten, so kann man vielleicht pointiert sagen, dass die fordistische Produktion im Reihenbildner das Objektivitätspostulat der Wissenschaftsphotographie legitimierte, während das reproduzierte Photokunstwerk des Industriekapitalismus diesen Anspruch verlor. Ursprünglich hatte die bildproduzierende Maschine für Authentizität gestanden: »Sie war Beobachterin und Künstlerin in einem und wunderbarerweise frei von den inneren Versuchungen, die Natur zu theoretisieren, zu anthropomorphisieren, zu verschönern oder anderweitig zu interpretieren.«55 Die Vorstellung einer »›nichtintervenierenden‹ oder ›mechanischen‹ Objektivität«56 verlor sich im Laufe der 1920er Jahre, als die scheinbare Unmittelbarkeit der Photographie vom »Neuen Sehen« in Frage gestellt wurde, das durch die bewusste Gestaltung gleichermaßen kunst- wie ideologiefähig wurde. Nicht verloren hat sich der Objektivitätsanspruch insbesondere des Reihenbildes, das als am stärksten industrialisierte Form der Bildherstellung den Wissenschaftsanspruch besonders lange aufrechterhalten hat. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass auch die Photogrammetrie in hohem Maße interessengeleitet war und von ihren Auftraggebern und Betreibern genutzt wurde, um kommerziellen und nicht zuletzt nationalen Interessen weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Gelegentlich wurde aus dem allenthalben spürbaren Bedürfnis nach Überblick in der zunehmend arbeitsteilig zergliederten Gesellschaft sogar ein »Geist der Totalität« destilliert, den das Luftbild ideal bediente.57 Dass Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gezwungen war, von der Kriegsfliegerei auf die zivile Luftfahrt umzusteigen und dort nach Arbeitsfeldern zu suchen, hat dem Land auf diesem Gebiet für einige Jahre einen weiten Vorsprung vor allen Konkurrenten verschafft und zur nationalen Mobilisierung am Ende der Weimarer Republik beigetragen.
55 | Daston/Galison: Bild, S. 93. 56 | Ebd., S. 31. 57 | Brunner: Weisungen, S. 9.
Abbildungsverzeichnis
Gustav Schönleber: Blick auf Laufenburg am Rhein mit den Stromschnellen (1908), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe [Inv. Nr. 1112]: S. 64 Kinzler, Sonia/Tillmann, Doris: Nordlandreise. Die Geschichte einer touristischen Entdeckung, Ausstellungskatalog, Kiel o.J. [2010], S. 107: S. 75 Baedekers Rheinlande. Die Rheinlande, Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, Leipzig: Karl Baedeker 1912, 32. Aufl., S. 445: S. 94 Baedekers Schweiz. Die Schweiz nebst den angrenzenden Teilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende, Leipzig: Karl Baedeker 1905, 31. Aufl., S. 120: S. 98 Wille, Bruno: Offenbarungen des Wachholderbaums. Roman eines Allsehers, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig: Eugen Diederichs 1903: S. 193 Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, 1899-1904, vollständige elektronische Faksimile-Ausgabe 1999, herausgegeben von Kurt Stüber: www.biolib.de: S. 258 Gaertringen, Hans Georg Hillert von (Hg.): Junkers Dessau. Fotografie und Werbegrafik 1892-1933, Göttingen: Steidl 2010: S. 290 u. 300 Diesel, Eugen: Das Land der Deutschen, Leipzig: Bibliographisches Institut 1933: S. 295
Autorinnen und Autoren
Vera Alexander, PhD, lehrt an der Universität Kopenhagen. Forschungsfelder: englische und postkoloniale Literatur, Diasporaliteratur, Lifewriting, Ökokritik, Transkulturalität und Migrationskultur. Buchveröffentlichungen u.a.: Transcultural Representations of Migration and Education in South Asian Anglophone Novels (2006), Romantik (2000; mit Monika Fludernik). In Kürze erscheint eine Monografie mit dem Titel Living Spaces. Garden Literature and Life-Writing Christian Benne, Associate Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Süddänischen Universität Odense, Mitherausgeber von Orbis Litterarum, zahlreiche Arbeiten zur deutschen und europäischen Literatur-, Wissenschafts- und Geistesgeschichte besonders des 18.-20. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen u.a.: Nietzsche und die historisch-kritische Philologie (2005) Heinrich Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Derzeitige Forschungsschwerpunkte u.a.: Kunst-Religion-Kunstreligion, amerikanische Populärkultur, dänische und deutsche Dichtung in Schleswig-Holstein, Literaturgeographie. Buchveröffentlichungen u.a.: »Juden, Frauen und Literaten«. Eine Denkfigur beim jungen Thomas Mann (2005); Bertolt Brecht und Laotse (2008); Bob Dylan (3., erw. Aufl. 2009); Der Antichrist und der Gekreuzigte: Nietzsches letzte Texte (3. Aufl. 2010); Hans Christian Andersen (2011); Thomas Manns amerikanische Religion (2012) Mirjam Gebauer, Associate Professor für deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Aalborg. Forschungsschwerpunkte: Kultur/Literatur und Ökologie, kulturelle Hybridität und Migration und Post-DDR-Literatur. Jüngste Buchpublikationen: Migration and Literature in Contemporary Europe (2010; mit Pia Schwarz Lausten) und Klima og Litteratur. Klima, miljø og landskab i litteraturen (Anglo Files Sonderheft 2009; mit Birgitte S. Ivertsen) Axel Goodbody, Professor für German Studies and European Culture an der University of Bath, Großbritannien. Mitherausgeber der Zeitschrift Ecozon@, Journal for European Ecocriticism, sowie der Buchreihe Nature, Culture and Literature
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Natur und Moderne um 1900
(Rodopi). Veröffentlichungen zur Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur des Exils, DDR-Literatur und Erinnerungskultur, vor allem aber zur literarischen Repräsentation von Natur und Umwelt. Derzeitige Forschungsprojekte: Heimat im Zeitalter der Postmoderne und der Globalisierung, Romane über den Klimawandel Sven Halse, Associate Professor für neuere deutsche Literatur und Ausbildungsleiter für Fremdsprachen am Institut für Ästhetik und Kommunikation, Aarhus Universität. Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen zu: Autobiographie, Adalbert Stifter, Deutsche Kolonialliteratur, Vitalismus in der deutschen und skandinavischen Literatur und Kultur Annegret Heitmann, Professorin für Nordische Philologie an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: skandinavische Literatur der Moderne, Gender Studien, Intermedialität, Autobiographik, Aphorismen und Anfangskonstellationen. Buchpublikationen u.a.: Am Rand. Zur Poetik des skandinavischen Aphorismus (2012; mit K. Yngborn u. A. E. Doll); Landnahme. Anfangserzählungen in der skandinavischen Literatur um 1900, (2010; mit H. Eglinger); Intermedialität im Durchbruch. Bildkunstreferenzen in der skandinavischen Literatur der frühen Moderne (2003) Karin Hoff, Professorin am Skandinavischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Skandinavische Literaturen vom 18. bis 20. Jahrhundert, deutsch-skandinavischer Kulturkontakt, Drama und Theater. Buchveröffentlichungen u.a.: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland (2003); Die Gegenwart der Bühne. Aktuelles skandinavisches Drama und Theater (2012) Kathrin Maurer, Associate Professor an der Süddänischen Universität Odense. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Literatur des Realismus, Historismuskonzeptionen, Geschichte der optischen Medien, Reiseliteratur, Theorien der Moderne. Publikationen u.a.: Discursive Interaction: Literary Realism and Academic Historiography in NineteenthCentury Germany (2006); Visualizing History: The Power of the Visual in NineteenthCentury German Historicism (erscheint 2013) Michael Ott, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ludwig-MaximiliansUniversität München und Koordinator der DFG-Forschergruppe »Anfänge (in) der Moderne«. Arbeitsschwerpunkte von der Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwartsliteratur, insb. Kleist und Büchner, Dramatik, Literatur- und Kulturtheorie, Literatur und Sport, Alpinismus. Neuere Publikationen: SportsGeist. Dichter in Bewegung (2005; mit Elisabeth Tworek) und Urworte. Zu Geschichte und Funktion erstbegründender Begriffe (2012; mit Tobias Döring)
Autorinnen und Autoren
Adam Paulsen, PhD, Postdoc, lehrt deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Süddänischen Universität Odense. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur-, Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 18.-20. Jahrhunderts (u.a. zu Herder, Canetti, Ernst Jünger und Th. Mann sowie zur Geschichte des Historismus, Epochenschwelle 1900 und zum deutschen Roman der Moderne) Anna Sandberg, PhD, assistant professor an der Universität Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-skandinavische Kulturbeziehungen um 1800 und 1900, transnationale Literatur, Romantik. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur deutschen Gegenwartsliteratur sowie zum dänisch-deutschen Grenzgänger Jens Baggesen, Friedrich Schlegel-Kierkegaard, Henrik Steffens und Herman Bang Moritz Schramm, Associate Professor an der Süddänischen Universität Odense. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Literatur und Anerkennung, deutsche Kulturgeschichte seit 1989, postmigrantische Kunst und Kultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zu u.a. Kafka, Benn und zur deutschen und dänischen Gegenwartsliteratur Stephan Michael Schröder, Professor für Skandinavistik am Institut für Skandinavistik/Fennistik an der Universität zu Köln. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Skandinavische Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts, literarische Praktiken um 1900, skandinavisches Stummfilmkino, kulturelle Identitätskonstruktionen in Skandinavien, Geschichte der skandinavischen Populärkultur. Letzte Buchpublikation: Ideale Kommunikation, reale Filmproduktion. Zur Interaktion von dänischer Literatur und Kino 1909-1919 (2011) Detlef Siegfried, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Bundesrepublik und Europas nach 1945, Geschichte der Massenkultur, linksradikale Bewegungen im 20. Jahrhundert, Kulturgeschichte der Technik. Publikationen u.a.: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers (2001); Time Is on My Side. Konsum und Politik in der Bundesrepublik der 60er Jahre (22008); Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik 1945 bis zur Gegenwart (2009; mit Axel Schildt)
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Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Juli 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls Juni 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne März 2013, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen 2012, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen Februar 2013, 350 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne
2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis
März 2013, 462 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9
2012, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
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