Wissenschaft, Religion und moderne Geisteskultur: Die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900 [1 ed.] 9783666310379, 9783525310373


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German Pages [207] Year 2017

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Wissenschaft, Religion und moderne Geisteskultur: Die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900 [1 ed.]
 9783666310379, 9783525310373

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Felix Westrup

Wissenschaft, Religion und moderne Geisteskultur Die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900

Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Miloš Havelka, Friedrich Wilhelm Graf, Przemysław Matusik und Martin Schulze Wessel

Band 12

Vandenhoeck & Ruprecht

Felix Westrup

Wissenschaft, Religion und moderne Geisteskultur Die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: © Felix Westrup Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0955 ISBN 978-3-666-31037-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Das vorliegende Werk wurde im Wintersemester 2015/2016 an der LMU München als Dissertation angenommen. Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Religion und moderne Psychologie um 1900 – Die Auseinandersetzung in ihrem Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Die Vorentwicklungen: Religionspsychologische Topoi in Philosophie und Theologie bis zum späten 19. Jahrhundert . . . . 15 2.2 Die Verschiebung des Psychologiebegriffs im 19. Jahrhundert . . 17 2.3 Der Auftakt zur Debatte: Religion und moderne Fachpsychologie um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . 20 2.4 1905–1908: US -amerikanische Impulse und eine neue publizistische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.5 Um 1910: Die Debatte auf dem Höhepunkt . . . . . . . . . . . . . 45 2.6 Vor dem Ersten Weltkrieg: Erschöpfung, Neuansatz und vorläufiges Ende der Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . 62 3. Die Funktionalismusfrage als Grundproblem der religionspsychologischen Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . 79 3.1 Der funktionalistische Diskurs der modernen Psychologie . . . . 79 3.2 Theologische Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3 Theologische Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.4 Kritik der theologischen Anschlussversuche . . . . . . . . . . . . . 107 4. Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel . . . . 111 4.1 Ansätze theologischer Psychologienutzung . . . . . . . . . . . . . 111 4.2 Theologische Erkenntniserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3 Methodenerneuerung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4 Theologische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.5 Die ungelöste Hierarchiefrage von Psychologie und Theologie . . 133

6 Inhalt 5. Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie . . . . . . . . . . . 143 5.1 Psychologische Nutzungs- und Interventionsbestrebungen . . . . 143 5.2 Praktisch-theologische Nutzungsinteressen . . . . . . . . . . . . . 155 5.3 Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie . . . . . 166 6. Schluss: Die Religionspsychologie um 1900 als Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Religion und moderner Geisteskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

1. Einleitung Im April 1907 erscheint unter dem Titel »Zeitschrift für Religionspsychologie – Grenzfragen der Theologie und Medizin« ein neues Fachjournal auf dem deutsch­sprachigen wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt. Als Herausge­ber treten der protestantische Landpfarrer Gustav Vorbrodt aus Alt-Jeßnitz in Sachsen sowie der im schlesischen Lublinitz praktizierende Psychiater ­Johannes ­Bresler auf.1 Ein Kreis von etwa 30 Mitwirkenden wird außerdem auf dem Titelblatt genannt, darunter weitere Geistliche und Mediziner sowie eine ganze Reihe an Professoren und Privatdozenten der Psychologie, Philosophie und Theologie. Unter diesen Mitwirkenden finden sich bekannte oder später Bekanntheit erlangende Namen, wie etwa der des protestantischen Theologen und späteren Generalsuperintendenten der Kirchenprovinz Schlesien, Martin Schian, der des Psychiaters, Psychologen und in der Weimarer Zeit einflussreichen Politikers, Willy Hellpach, oder der des hier noch als »Nervenarzt« geführten Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud.2 Einem der ersten Ausgabe vorangestellten Geleitwort ist das Ziel der Zeitschrift zu entnehmen: Es soll darin bestehen, so schreiben die Herausgeber, »in gemeinsamer Arbeit an der Urbarmachung eines der schwierigsten, aber interessantesten Gebiete, nämlich der seelisch-körperlichen Prozesse des religiösen Lebens mitzuhelfen«.3 Es wird ein Arbeitsplan angegeben, der »1. Die Religionspsychologie, nämlich Tatsachen der Individual- und Sozialpsychologie, Entwick 1 Graf, Friedrich Wilhelm: Vorbrodt, Gustav Theodor Ferdinand Franz (1860–1929). In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzberg 1998, 74–84. Kreuter, Alma: Bresler, Johannes. In: Dies. (Hg.): Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1996, 181–186. 2 Vgl. zu diesen Angaben jeweils die Artikel in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd.  1–25 Berlin 1953–2013. Weitere bekannte Mitwirkende, die genannt werden, sind: Thomas Achelis, Bremen, Herausgeber der Zeitschrift für Religionswissenschaft; Iwan Bloch, Berlin, Mediziner und Sexualwissenschaftler; August Dorner, Königsberg, protestantischer systematischer Theologe; Friedrich Niebergall, Heidelberg, protestantischer praktischer Theologe; Friedrich Rittelmeyer, Nürnberg, protestantischer Pfarrer und späterer Erzoberlenker der anthroposophischen Christengemeinschaft; Robert Sommer, Gießen, Psychiater und Mitbegründer der Gesellschaft für experimentelle Psychologie; Georg Wobbermin, Breslau, protestantischer systematischer Theologe. 3 Bresler, Johannes/Vorbrodt, Gustav: Zur Einführung. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 1–4, hier 3.

8 Einleitung lung und Verhalten des religiösen Lebens bei beiden Geschlechtern, in verschiedenen Lebensaltern, einzelnen Schichten der Bevölkerung, […]«4 umfasst, »2. Die Anomalien des religiösen Lebens, […]«5 und »3. Die Pflege und Lehrbarkeit der Religion, Ermittlung der Gesetze einer gesunden Religionspflege […]«.6 Dabei soll, so Bresler und Vorbrodt, eine Orientierung an denjenigen »exakten Methoden«7 stattfinden, »die dem Wirklichkeitssinn unserer naturwissenschaftlich orientierten Zeit entsprechen«.8 In Aussicht gestellt wird ein qualitativer Sprung der Religionserkenntnis, ein neues Wissen um religiöse »Tatsachen«,9 welches, so die Herausgeber, mit den bisherigen Methoden der Religionsbetrachtung nicht zu erlangen ist.10 Weiterhin soll von der neuen Zeitschrift ein belebender Impuls für die nach Meinung von Bresler und Vorbrodt am wahren religiösen Leben der Zeit vorbeigehende Theologie und Pfarrpraxis ausgehen.11 Die Zeitschrift für Religionspsychologie institutionalisiert mit ihrem Erscheinen im Jahr 1907 ein Thema, das im deutschsprachigen Religionsdiskurs seit den 1890er Jahren in einer zunehmenden Zahl von Veröffentlichungen entwickelt wird: Die Frage nach der Beziehung von Religion und Religiosität zur modernen, sich seit den 1880er Jahren formierenden wissenschaftlichen Psychologie. Es geht bei dieser Frage darum, ob und mit welchen Konsequenzen die neuen psychologischen Kenntnisse und Forschungsmethoden dieser Zeit auch auf Gegenstände aus dem Bereich der Religion angewandt werden können. Der Begriff Religionspsychologie steht dabei für das dezidierte Vorhaben, eine solche Anwendung zu unternehmen. Im Gesamtbild des Diskurses gibt es allerdings nicht nur Befürworter dieses Vorhabens, wie es die Herausgeber und Autoren der ZfRp sind, sondern auch Skeptiker und ausgesprochene Gegner. So hält etwa der Tübinger protestantische Kirchenhistoriker Otto Scheel der in der Zeitschrift für Religionspsychologie formulierten Programmatik entgegen, dass die Idee einer aus der modernen wissenschaftlichen Psychologie abgeleiteten Religionsforschung zu einem, so Scheel wörtlich, »kritiklosen Verfahren, […] zu einem Spielen mit formalen Analogien und schließlich zu einer den Wahrheitsgehalt des Christentums selbst vernichtenden Auflösung der religiösen Zentralbegriffe«12 führen muss. Der katholische Dogmatikprofessor Constantin Gutberlet wiederum rückt das 4 Ebd. 3 f. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 2. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 1 f. 11 Ebd. 1–3. 12 Scheel, Otto: Die Zeitschrift für Religionspsychologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 17 (1907), 305–307, hier 307.

Einleitung  9

religionspsychologische Projekt in einen Zusammenhang mit antikatholischen Strömungen und dem modernistischen Bestreben, eine artifizielle Ersatzreligion zu etablieren.13 Moderne Psychologie auf Fragen aus dem Bereich der Religion anzuwenden – dieser Gedanke ruft am Anfang des 20. Jahrhunderts ein hohes Maß an Interesse aus ganz verschiedenen fachlichen, weltanschaulichen und konfessionellen Richtungen hervor: Mediziner und Psychologen, Kultur- und Religionswissenschaftler, Philosophen sowie eine große Zahl von Pfarrern und akademischen Theologen beteiligen sich an der Auseinandersetzung und entwerfen in immer schnellerer Folge religionspsychologische Programmatiken, Untersuchungen und Kritiken. Zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkriegs werden in dieser Angelegenheit mehrere hundert Beiträge publiziert, die vom Umfang her von kurzen Zwischenrufen bis hin zu voluminös angelegten Monographien reichen. Es werden Tagungen abgehalten, wissenschaftliche Preisfragen ausgelobt sowie zwei neue religionspsychologische Fachzeitschriften gegründet: die eingangs erwähnte, von 1907 bis 1912 bestehende »Zeitschrift für Religionspsychologie« (ZfRp) und das 1914 in einer ersten Nummer erschienene »Archiv für Religionspsychologie« (AfRp). Im Zusammenhang mit der Gründung des AfRp konstituiert sich 1914 auch eine »Gesellschaft für Religionspsychologie«, die als »Internationale Gesellschaft für Religionspsychologie« bis heute besteht. Die vorliegende Untersuchung stellt die um 1900 geführte Auseinandersetzung um Religion und moderne Psychologie ins Zentrum ihres Interesses. Diese Auseinandersetzung wird hier aus der Perspektive einer an historischen Wissensdynamiken interessierten Diskurs- und Ideengeschichte analysiert. Das bedeutet, es werden im Verlauf der Untersuchung diejenigen im Konflikt stehenden Wahrnehmungen, Zuschreibungen und dahinterliegenden Weltbilder rekonstruiert, die als Determinanten im Hintergrund der Debatte fungieren. Dies geschieht durch die Herausarbeitung sowohl der inneren diskursiven Semantik als auch der äußeren Diskurszusammenhänge der Auseinandersetzung, wobei als Quellenkorpus in erster Linie auf veröffentlichtes Material, also auf die tatsächlich in die Debatte eingebrachten Beiträge, zurückgegriffen wird.14 Konkret kommt dabei kommt eine Hermeneutik zum Zuge, welche die Auseinandersetzung nacheinander auf zwei Achsen erfasst. Die erste Achse besteht 13 Gutberlet, Constantin: Religionspsychologie. In: Philosophisches Jahrbuch 24 (1911), 147–176, hier 165–171. 14 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Überarbeitete Auflage, Frankfurt a. M. 2008, 132–171; Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, 345–359; Lottes, Günther: The State of the Art. Stand und Perspektiven der »intellectual history«. In: Kroll, Frank-Lothar (Hg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn, München u. a. 1996, 27–46, hier 42–45.

10 Einleitung in einem chronologischen Durchgang, also einem Längsschnitt, durch die Debatte, in dem die wichtigsten Themen, Akteure und Ereignisse herausgearbeitet sowie zeitliche Phasen voneinander abgegrenzt werden. Diesem Zugang ist das zweite Kapitel der Arbeit gewidmet. Es soll damit zunächst ein Entwicklungspanorama der religionspsychologischen Aktivitäten um 1900 und ein strukturierter Überblick über den Debattenzusammenhang erreicht werden. Daran anknüpfend besteht die zweite Achse der Analyse in drei systematischen Querschnitten, die die Auseinandersetzung auf ihre zentralen Problemebenen hin strukturieren. Dieser zweite analytische Zugang findet sich in den Kapiteln drei bis fünf der Arbeit. Damit sollen die zentralen Konfliktfelder herausgearbeitet werden, die – querliegend zur Chronologie – im Hintergrund der Auseinandersetzung stehen. In der Summe ergibt sich ein diskursanalytisches Strukturmodell der Debatte, durch das die von den unterschiedlichen Akteursgruppen vorausgesetzten Logiken ersichtlich werden sowie die  – zumeist impliziten  – Hintergrundannahmen, auf denen diese Logiken wiederum beruhen.15 Vor allem in der Herausarbeitung und Kontextualisierung dieser Hintergrundstrukturen, die in den zeitgenössischen Beiträgen selbst nicht unmittelbar ersichtlich sind, kann die analytische Leistung der Arbeit gesehen werden.16 Mit diesem Ansatz einhergehend besteht ein wesentlicher Anspruch der Untersuchung darin, die religionspsychologische Auseinandersetzung um 1900 in der gesamten Breite der an ihr beteiligten Akteure zu erfassen. Es wird also von dem in der traditionellen Ideengeschichte oft praktizierten Verfahren Abstand genommen, die Debattenlage über nur wenige, im Vorhinein ausgewählte Repräsentanten ins Auge zu fassen. Vielmehr sollen hier die einzelnen Akteure entsprechend ihres Gewichts in der Auseinandersetzung berücksichtigt und in Bezug zueinander gesetzt werden. Das Ziel liegt damit in der Abbildung des breiten Debattenzusammenhangs und seiner übergreifenden Tendenzen.17 Dies gilt in gleicher Weise auch für die an der Auseinandersetzung beteiligten Akteursgruppen bzw. für die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, denen sich diese zuordnen lassen. Auch hier soll es darum gehen, nicht bloß die Perspektive einer beteiligten Wissenschaft, also beispielsweise der Psychologie selbst, ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Vielmehr soll gerade die hier vorhandene Berührung verschiedener Fachperspektiven im Hinblick auf die dabei zustande kommenden Übernahmen, Abgrenzungen und Profilierungen herausgearbeitet werden. Die Zielrichtung der Untersuchung ist also interdisziplinär und ihr Interesse gilt in diesem Sinne vor allem der Inter 15 Landwehr: Historische Diskursanalyse 91–131. 16 Barthes, Roland: Die strukturalistische Tätigkeit, In: Kursbuch 5 (1966), 190–196. 17 Rorty, Richard: The Historiography of Philosophy. Four Genres, In: Ders./Schneewind, Jerome B./Skinner, Quentin: Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, 49–75, hier 70–74.

Einleitung  11

aktionsdynamik der beteiligten Fächer, Organisationen und nicht zuletzt auch Konfessionen.18 Als Ertrag der Untersuchung kann in einem engeren Sinne die diskurs- bzw. ideengeschichtliche Aufarbeitung und Erklärung des historischen Gegenstandes »deutschsprachige Religionspsychologie um 1900« gesehen werden. Damit wird eine Forschungslücke geschlossen, denn bisher ist die frühe deutschsprachige Religionspsychologie sowohl in der Geschichtsschreibung der Psychologie als auch der Religion nur unzureichend untersucht worden. So finden die um 1900 entwickelten Ansätze beispielsweise in den einschlägigen Artikeln wichtiger Fachlexika keine Berücksichtigung,19 während sie in den durchaus zahlreichen Einführungen und Überblickswerken zur Religionspsychologie zumeist stark verknappt20 und oft auch verzerrt, als Abgrenzungsfolie aus eigenem programmatischen Interesse heraus,21 dargestellt werden. In internationalen Beiträgen, die sich mit der Geschichte von Psychologie und Religion beschäftigen, wird wiederum die deutsche Debatte oft gar nicht oder ebenfalls nur marginal berücksichtigt.22 Mit die ausführlichsten Informationen finden sich noch in äl 18 Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 38–50; Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 607–636. 19 Dies betrifft vor allem die beiden Artikel von Karl Hoheisel in der Theologischen Realenzyklopädie und im Lexikon für Theologie und Kirche. Vgl. Hoheisel, Karl: Religionspsychologie. In: Krause, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd.  29, Berlin, New York 1998, 1–7; Hoheisel, Karl: Religionspsychologie. In: Kasper, Walter (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 29, Freiburg i. Br. u. a. 1998, 1068–1070. 20 Argyle, Michael: Psychology and Religion, London u. a. 2000; Beit-Hallahmi, Benjamin/Argyle, Michael: The Psychology of Religious Behaviour. Belief and Experience, London, New York 1997; Browning, Don S.: Religious Thought and the Modern Psychologies. A  Critical Conversation in the Theology of Culture, Philadelphia 1987; Grom, Bernhard: Religionspsychologie, München 2007; Heine, Susanne: Grundlagen der Religionspsychologie, Göttingen 2005; Henning, Christian: Die Geschichte der Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum. In: Ders. (Hg.): Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn, München u. a. 2003, 9–90, hier v. a. bis 43; Hemminger, Hansjörg: Grundwissen Religionspsychologie, Freiburg i. Br. 2003; Holm, Nils G.: Einführung in die Religionspsychologie, München u. a. 1990; Lämmermann, Godwin: Einführung in die Religionspsychologie, Neukirchen-Vluyn 2006; Utsch, Michael: Religionspsychologie, Voraussetzungen, Grundlagen, Forschungsüberblick, Stuttgart u. a. 1998; Wulff, David M.: Psychology of Religion. Classic and Contemporary Views, New York u.a 1991. 21 Faber, Heije: Religionspsychologie, Gütersloh 1973; Fraas, Hans-Jürgen: Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriss der Religionspsychologie, Göttingen 1990; Keilbach,­ Wilhelm: Die empirische Religionspsychologie als Zweig der Religionswissenschaft. In: Ders. (Hg.): Religiöses Erleben. Erhellungsversuche in Religionspsychologie, Parapsychologie und Psychopharmakologie, München 1973; Mann, Ulrich: Einführung in die Religionspsychologie, Darmstadt 1973; Müller-Pozzi, Heinz: Psychologie des Glaubens, München u.a 1975. 22 Beit-Hallahmi, Benjamin: Psychology of Religion 1880–1930. In: Journal of the History of the Behavioural Sciences 10 (1974), 84–90; Huxel, Kirsten: Die empirische Psycho-

12 Einleitung teren, während oder kurz nach der Debatte um 1900 erschienenen Arbeiten, die allerdings aufgrund der zeitlichen Nähe ihrerseits als Quellen bewertet werden müssen.23 Hervorzuheben sind demgegenüber als quellenkritische Forschungsarbeiten aus jüngerer Zeit die Untersuchung von Christian Henning zur Beziehung von Religionspsychologie und protestantischer Theologie24 sowie die diversen Beiträge von Jakob van Belzen zu Einzelaspekten der Debatte.25 Mit seinem »100 Jahre Religionspsychologie« hat van Belzen ein Werk vorgelegt, dass den Ertrag seiner Einzelstudien sammelt, mit seinem primär institutionengeschichtlichen Interesse und bis in die Gegenwart gespannten Narrativ jedoch auch keine speziell auf die Debatte um 1900 gerichtete Analyse darstellt.26 Eine umfassende Rekonstruktion und Aufarbeitung der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 ist bis dato ein Desiderat der Forschung,27 das mit der vorliegenden Arbeit behoben werden soll. Über den engeren, direkt auf die beschriebene Forschungslücke zielenden Arbeitsertrag hinaus, kann die Untersuchung außerdem auch als Beitrag in logie des Glaubens, Stuttgart u. a. 2000; Kugelmann, Robert: Psychology and Catholicism, Contested Boundaries, Cambridge u. a. 2011; Richards, Graham: Psychology, Religion and the Nature of the Soul. A Historical Entanglement, New York 2011. 23 Faber, Hermann: Das Wesen der Religionspsychologie und ihre Bedeutung für die Dogmatik. Eine prinzipielle Untersuchung zur systematischen Theologie, Tübingen 1913; Koepp, Wilhelm: Einführung in das Studium der Religionspsychologie, Tübingen 1920; Oester­reich, Traugott Konstantin: Einführung in die Religionspsychologie. Als Grundlage für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, Berlin 1917; Wunderle, Georg: Aufgaben und Methoden der modernen Religionspsychologie. Ein Beitrag zur Einführung, Eichstätt 1915; Ders.: Einführung in die moderne Religionspsychologie, Kempten 1922. Eine Sonderstellung zuweisen kann man: Cremer, Klaas J.: De Duitsche godsdienstpsychologie, Delft 1934. Die Studie ist schon mit einem gewissen zeitlichen und institutionellen Abstand zur Debatte verfasst worden und bietet eine sehr ausführliche Übersicht über diese. Eine deutsche Zusammenfassung findet sich bei: Van Belzen, Jacob A.: Die blühende deutsche Religionspsychologie der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und eine niederländische Quelle zur Geschichte der deutschen Psychologie. In: Gundlach, Horst (Hg.): Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und der Psychotechnik, München u. a. 1996, 75–93. 24 Henning, Christian: Die Funktion der Religionspsychologie in der Protestantischen Theologie um 1900. In: Ders. (Hg.): Religion und Religiosität zwischen Theologie und Psychologie. Bad Boller Beiträge zur Religionspsychologie, Frankfurt a. M. 1998, 27–78. 25 Van Belzen, Jacob A.: Der deutsche Herold der Religionspsychologie. In: Temenos 37–38 (2001–2002), 39–69; Ders.: Debates among German Contemporaries of William James. In: Roelofsma, Peter/Corveleyen, Jozef/Van Saane, Joke (Hg.): One Hundred Years of Psychology and Religion. Issues and Trends in a Century Long Quest, Amsterdam 2003, 33–58; Ders.: Ein Ende, das zum Anfang wurde. Die Zeitschrift für Religionspsychologie, 1907–1913. In: Archive for the Psychology of Religion 35 (2013), 285–319; Ders.: Der Anfang, der ein Ende war. Die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Religionspsychologie. In: Archive for the Psychology of Religion 36 (2014), 141–171. 26 Van Belzen, Jacob A.: Religionspsychologie. Eine historische Analyse im Spiegel der Internationalen Gesellschaft, Berlin und Heidelberg 2015. 27 Zu dieser Einschätzung kommt auch Van Belzen. Vgl. Ders.: Religionspsychologie 13.

Einleitung  13

einem weiter gefassten Sinne gelesen werden: Als exemplarischer – nämlich von der Debatte um Religion und moderne Psychologie ausgehender – Zugang zu wichtigen Aspekten der Diskurs- und Ideengeschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts. Insbesondere spiegeln sich in der Auseinandersetzung die zu dieser Zeit virulenten Fragen des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft sowie des Verhältnisses von Religion und moderner Kulturentwicklung. Die Reli­ gions­psy­cho­logie um 1900 ist in dieser Hinsicht sowohl ein Produkt als auch ein Katalysator für die Tendenz zur Anwendung moderner Wissenschaftsmethodik auf sämtliche Lebens- und Kulturbereiche, einschließlich der Religion. In ihr zeigt sich der Einfluss des zeitgenössischen positivistisch-szientistischen Wissenschaftsdiskurses, ebenso wie der entsprechenden szientismuskritischen Gegendiskurse.28 Weiterhin ist die Religionspsychologie um 1900 vom Diskurs über die veränderte Lebenswelt und Lebensweise in der Moderne geprägt, der zu dieser Zeit ganz wesentlich als ein Krisen- bzw. Krisenüberwindungsdiskurs der modernen Geisteskultur ausgeprägt ist.29 Bezüglich dieser diskursiven Kontexte kann die Arbeit als eine quellenanalytische Fallstudie gelesen werden und damit als Beitrag zu den übergeordneten Forschungsfeldern Religion und Wissenschaft30 sowie Religion und Kultur in der Moderne.31 Mit Blick auf ihre bildungsbürgerlichen Akteure, vor allem aus dem universitären, kirchlichen und ärztlichen Milieu, ist sie außerdem auch ein Beitrag zur Intellektuellengeschichte der Zeit um 1900.32 Zeitlich konzentriert sich die Arbeit auf den Debattenverlauf zwischen ca. 1890 und 1914. Die Auseinandersetzung um Religion und moderne Psychologie stellt zu dieser Zeit einen sich stetig entwickelnden Diskurszusammenhang dar, der mit den ersten Bezugnahmen auf die neu entstehende moderne Fachpsychologie beginnt. Um 1910 kommt es dann, sowohl quantitativ als auch in der inhaltlichen Dynamik, zu einem Höhepunkt, bevor die Debatte mit dem 28 Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983; Ziche, Paul: Wissenschaftslandschaften um 1900, Zürich 2008. 29 Drehsen, Volker/Sparn, Walter: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996. 30 Schröder, Tilman Matthias: Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie, Stuttgart 2008; Clayton, Philip/Simpson, Zachary (Hg.): The Oxford Handbook of Religion and Science, Oxford 2006; Krech, Volkhard: Wissenschaft und Religion: Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland, Tübingen 2002; Barbour, Ian: Religion and Science. Historical and Contemporary Issues, San Francisco 1997; Lindberg, David C./Numbers, Ronald L.: God and Nature. Historical Essays on the Encounter Between Christianity and Science, Berkeley 1986. 31 Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Casanova, José: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch, Deutschland 1870–1919, München 1988. 32 Morat, Daniel: Intellektuelle und Intellektuellenschichte, Version: 1.0, In: DocupediaZeitgeschichte, online unter http://docupedia.de/zg/, abgerufen am 16.10.2015.

14 Einleitung Beginn des Ersten Weltkriegs eine abrupte Unterbrechung erfährt. Zwar wird auch in den 1920er und frühen 1930er Jahren weiterhin Religionspsychologie betrieben und diskutiert. Die Auseinandersetzung findet in diesem späteren Zeitraum jedoch unter stark veränderten Bedingungen statt. Sie wird von großteils anderen Akteuren als zuvor geführt und besitzt nicht mehr den Neuigkeitswert der Debatte um und nach der Jahrhundertwende. Nicht zuletzt steht sie in dem nun neuen, nicht nur politisch, sondern auch geistesgeschichtlich stark veränderten Kontext, der sich als Folge des Ersten Weltkriegs ergibt.33 Die Zeit zwischen 1890 und 1914 erscheint demgegenüber als ein geschlossener Zusammenhang, der sich inhaltlich zur Abgrenzung anbietet. Religion und moderne Psychologie treffen in diesem Zeitraum initial aufeinander und müssen ein Verhältnis zueinander finden. Es handelt sich zu dieser Zeit um einen außerordentlich dynamischen, interdisziplinär geführten Innovationsdiskurs mit hoher Resonanz, durch den bisherige Selbstverständlichkeiten infrage gestellt und neue hybride Positionen hervorgebracht werden. Diese Dynamik nachzuzeichnen und ihre Hintergründe zu klären, ist das Ziel dieser Arbeit.

33 Van Belzen: Religionspsychologie 74–81; Wulff: Psychology of Religion 14–20.

2. Religion und moderne Psychologie um 1900 – Die Auseinandersetzung in ihrem Verlauf 2.1 Die Vorentwicklungen: Religionspsychologische Topoi in Philosophie und Theologie bis zum späten 19. Jahrhundert Der Grundgedanke, Religion psychologisch, also mit Blick auf ihre geistig-seelischen Hintergründe und Begleiterscheinungen, zu betrachten, entsteht nicht erst in der Psychologie um 1900, sondern ist im Nachdenken über Religion bereits sehr viel früher anzutreffen. Schon seit der Antike findet sich dieser Gedanke in vielfältigen inhaltlichen Ausprägungen einerseits im Rahmen der Philosophie sowie andererseits im Rahmen theologischer Seelenlehren und Glaubensreflexionen. In der Philosophie finden sich frühe psychologisierende Betrachtungen von Religion etwa bei Prodikus und Demokrit, die Religion als ein Produkt von Furcht- und Dankbarkeitsaffekten gegenüber den unbegreiflichen Naturgewalten beschreiben, bei Euhemeros, der sie aus einem Prozess der mythologischen Überhöhung von historischen Herrschergestalten hervorgehen sieht, oder bei Kritias, für den sie ein Instrument des herrschaftlichen Seelenzugriffs darstellt. Die tradierten Inhalte der Religion werden schon bei Xenophanes als Projektionen menschlicher Weltwahrnehmung gekennzeichnet, wohingegen Epikur und Lukrez sie auf eine unbemerkte Inspiration durch Traumbilder zurückführen.1 Während die mittelalterliche Philosophie dann stark theologisch bestimmt ist, werden in der Philosophie der Aufklärung die antiken Erklärungsversuche von Religion durch unbewusst ablaufende psychische Mechanismen wieder aufgenommen, so beispielsweise bei Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza2 sowie insbesondere in den 1779 erschienenen Dialogues Concerning Natural Religion von David Hume. Hume greift die antiken Theoreme der Affektbefriedigung durch Religion und der Projektion menschlicher Wahrnehmungen in sie hinein auf und entwickelt daraus eine umfassende skepti 1 Wulff: Psychology of Religion 5 f.; Rohls, Jan: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, 28–34. 2 Dierse, Ulrich: Religion VI, 18. Jh. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 653–673.

16  Religion und moderne Psychologie um 1900 sche R ­ eligionstheorie, die in der Folge breit rezipiert wird.3 Einen neuen psychologisierenden Erklärungsansatz bringt in der Aufklärung außerdem Johann Gottfried Herder ein, indem er Religion als das zentrale Integrations- und Orientierungsprinzip menschlicher Geistes- und Gemütsfunktionen beschreibt.4 Zur Mitte des 19. Jahrhundert findet die philosophische Tradition psychologisierender Religionsbetrachtungen ihren vorläufigen Höhepunkt im Linkshegelianismus, insbesondere bei Ludwig Feuerbach. Dieser vertritt die Ansicht, dass ein gültiges Wissen über Religion nur aus der Analyse des religiösen Bewusstseins gewonnen werden kann, was für ihn eine an den historischen Ursprungsformen ansetzende Kritik bzw. »psychische Pathologie«5 dieses Bewusstseins bedeutet. In der Durchführung einer solche Analyse am Beispiel des Christentums, zeigt sich für Feuerbach die Religion als eine besondere Wahrnehmungs- und Reflexionsform des Menschen über sich selbst. Sie ist, so meint er, ihrem Wesen nach eine unbewusste Anthropologie, d. h. eine Projektion menschlicher Selbstwahrnehmungen in einen imaginierten äußeren Zusammenhang, wodurch sie gleichermaßen Illusions- als auch Erkenntnischarakter besitzt.6 In der Theologie werden Annahmen über psychisch-religiöse Zusammenhänge ebenfalls bereits seit der Antike in den teils differenzierten Seelenlehren formuliert, die in der theologischen Anthropologie eine lange, vielfach ihrerseits auf Theoreme der antiken Philosophie zurückverweisende Tradition besitzen.7 Noch bis ins 19. Jahrhundert finden sich in dieser Hinsicht auch durchaus populäre Versuche, aus der Exegese entsprechender Bibelstellen beispielsweise einen »Umriss der biblischen Seelenlehre«8 oder ein »System der biblischen Psychologie«9 zu gewinnen. Weiterhin finden sich in der Theologie auch früh Ansätze einer auf psychologischer Selbstreflexion basierten Erfassung religiöser Zusammenhänge. Diese können in den vielfältigen Versuchen subjektiver religiöser Innenschau und Glaubensreflexion gesehen werden, wie sie prominent schon von Augustinus, dann in der mittelalterlichen Mystik und schließlich im Innerlichkeitsbezug des Protestantismus unternommen werden.10 3 Ebd. 4 Jaeschke, Walter: Religion VII, Kant, Anhänger und Gegner, Deutscher Idealismus. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  8, Darmstadt 1992, 673–683, hier 673–675. 5 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841, 7.  6 Schmidinger, H. M.: Religion VIII, Vom 19. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. In: Ritter,­ Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 684–701, hier 686 f. 7 Scheerer, Eckart: Art. Seele, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9 (1995), 1–89, hier 1–26. 8 Beck, Johann Tobias: Umriss der biblischen Seelenlehre, Stuttgart 1871. 9 Delitzsch, Franz: System der biblischen Psychologie, Leipzig 1861. 10 Hoheisel: Religionspsychologie in Realenzyklopädie.

Die Verschiebung des Psychologiebegriffs im 19. Jahrhundert  17

Die theologische Tradition kulminiert in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert bei dem protestantischen Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Gegen die ethisch-funktionalistische Religionsbestimmung Immanuel Kants, der Religion als ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft zur Sicherstellung der Moral definiert hatte,11 entwickelt Schleiermacher die These, dass Religion einen eigenen, irreduziblen Bewusstseinsmodus zum Ausdruck bringt, durch den sich der Mensch in seinem Grundverhältnis zur ihn umgebenden Wirklichkeit und zum Sein an sich erfährt. Religion wird damit von Schleiermacher zwar, in Anlehnung an die philosophischen Zugänge, ebenfalls als psychische Funktion beschrieben. Sein Ansatz ist aber insofern dennoch theologische, dass sich diese Funktion seiner Meinung nach gerade nicht auf eine bloß menschliche Wirklichkeit bezieht, sondern auf die höhere Ordnung des Seins, das »Universum«,12 das durch sie subjektiv erfahrbar wird. Dieser Argumentation folgend wird von Schleier­ macher dann als Grundlage der Theologie eine psychologische Hermeneutik gefordert, die sich in erster Linie auf die Analyse der besonderen religiösen Wahrnehmung selbst stützen soll: Theologie und Kirche, so meint er, sind nicht auf einem überlieferten Offenbarungswissen, sondern einzig auf der immer weiter zu führenden Glaubensreflexion aufzubauen.13

2.2 Die Verschiebung des Psychologiebegriffs im 19. Jahrhundert Wird bis hierhin der religionspsychologische Diskurs noch auf selbstverständliche Weise als Thema der Philosophie und Theologie geführt, so kommt es aber der Mitte des 19.  Jahrhunderts zu einer Verschiebung des Psychologiebegriffs, durch die eine neue Theoriedynamik und damit der graduelle Übergang zur Debattenlage um 1900 eingeleitet wird: Traditionell und noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war Psychologie als ein Teilbereich der übergeordneten Allgemeinwissenschaft Philosophie verstanden worden, wobei jedoch ihre genaue Systemstellung und Methodik bereits seit der Aufklärung umstritten waren. Seit den 1820er Jahren kommt es dann, in Opposition gegen die deduktiv geprägte Systemorientierung des deutschen Idealismus, zu Bestrebungen, die Psychologie methodisch von der Philosophie zu lösen und sie als eine eigene, 11 Schlieter, Jens: Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart 2010, 71–73. 12 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 55. 13 Fischer, Hermann: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. In: Krause, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, Berlin, New York 1999, 143–189.

18  Religion und moderne Psychologie um 1900 empirisch-induktive Herangehensweise an die Analyse des menschlichen Bewusstseins- und Erkenntnisvermögens zu etablieren.14 Entsprechende Tendenzen werden prominent etwa von Johann Friedrich Herbart, Eduard Beneke oder Herrmann Rudolf Lotze vertreten.15 Zwar wird die nun behauptete neue empirisch-induktive Herangehensweise in der Praxis noch nicht systematisch um­ gesetzt, so dass es sich von außen betrachtet eher um das Phänomen eines philosophischen Empirismus unter dem Schlagwort der Psychologie handelt. Als neue Auffassung und Betonung von Psychologie, die nun eine, von der herkömmlichen Philosophie zu unterscheidende, in ihrem Erkenntnispotential überlegene Herangehensweise darstellen soll, markiert diese Entwicklung aber dennoch einen bedeutenden Wendepunkt.16 Dies zeigt sich auch an den, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt auftauchenden religionspsychologischen Entwürfen, bei denen es sich vor allem um Aktualisierungen und Syntheseversuche der aus der Philosophie und Theologie überkommenen religionspsychologischen Theoreme handelt, die nun allerdings mit dem besonderen Nachdruck einer vorgeblich eigenständigen psychologischen Methodik, die Ihnen zugrunde liegen soll, vertreten werden. So beschreibt etwa Beneke  – in offensichtlichem Anklang an Feuerbach, Hume und die antiken psychologisierenden Religionstheorien – Religion als ein in seinem Inhalt variables Geistesprodukt, das aus »unerfüllten Urvermögen«17 der menschlichen Psyche hervorgeht. Als notwendiger psychischer Mechanismus dient sie seiner Meinung nach dazu, einerseits mit der Unabschließbarkeit des Erfahrungswissens und andererseits mit der mangelnden Sinnhaftigkeit eines bloß materiellen und diesseitigen Daseins umzugehen.18 Auf diese Weise hat sie ihren Grund, so Beneke, »in der menschlichen Beschränktheit, Bedürftigkeit, Abhängigkeit«.19 In der Theologie vertritt der einflussreiche liberalprotestantische Systematiker Alois Emanuel Biedermann20 einen Ansatz, der die, als empirische-induk­ tive Grundwissenschaft aufgefasste, Psychologie zum Ausgangspunkt des Wissens über Religion macht.21 Worin allerdings die neuartige psychologische 14 Scheerer, Eckart: Psychologie. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, 1599–1653, hier 1613–1626. 15 Ebd. 1613–1617. 16 Ebd. 1615 f. 17 Beneke, Friedrich Eduard: Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, Berlin 1845, 161. 18 Ebd. 160–163. 19 Ebd. 161. 20 Bautz, Friedrich Wilhelm: Biederman, Alois Emanuel. In: Ders. (Hg.): Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm 1990, 583 f. 21 Biedermann, Alois Emanuel: Christliche Dogmatik, Zürich 1869, 22 f.

Die Verschiebung des Psychologiebegriffs im 19. Jahrhundert  19

Herangehensweise genau bestehen soll, wird in seiner kaum auf konkrete empirische Befunde Bezug nehmenden, sondern bereits von Anfang an stark abstrakt und erkenntnistheoretisch angelegten Untersuchung nicht klar.22 Dass Biedermanns Interesse ohnehin nicht primär psychologisch ist wird am Schluss seiner Analyse deutlich, wenn er meint, Gott als den sich selbst verwirklichenden Weltgeist im Sinne Hegels nachgewiesen zu haben.23 Ähnliche Versuche, Psychologie als eine neuartige Herangehensweise in der Religionsbetrachtung zu verwenden, finden sich neben Biedermann unter anderem auch bei den Theologen Otto Pfleiderer24 und Richard Adelbert Lipsius25 sowie dem Philosophen Immanuel Hermann von Fichte.26 In diesen Kontext einer verstärkten psychologisierenden Rhetorik in der Religionsphilosophie und Theologie seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts gehört auch der seinerzeit äußerst populäre, an Hegel und Schopenhauer orientierte Philosoph Eduard von Hartmann. Dieser gibt ebenfalls vor, eine neue psychologische Perspektive auf Religion zu eröffnen, was sich jedoch bei näherem Hinsehen ebenfalls noch kaum in einer tatsächlich neue Vorgehensweise zeigt.27 Für von Hartmann ist Religion das Aufnahmemedium für die Dynamik eines höheren Geistes, der, so meint er, in seiner Entfaltung zu sich selbst zurückkehrt und damit die »Universalerlösung«28 der an ihrem Sein leidenden Welt herbeiführt.29 Von Hartmann wird allerdings insofern zum Pionier, dass er – durch die Einteilung seiner Untersuchung in die drei Abschnitte »Religionspsychologie«, »Religionsmetaphysik« und »Religionsethik«30 als Urheber der Wortbildung »Religionspsychologie« im Deutschen gelten kann.31

22 Ebd. 41–53. 23 Ebd. VIII–IX , 763. 24 Pfleiderer, Otto: Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte. Auf Grund des gegenwärtigen Standes der philosophischen und der historischen Wissenschaft, Leipzig 1869. 25 Lipsius, Richard Adelbert: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 1876. 26 Fichte, Immanuel Hermann: Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen. Eine anthropologische Untersuchung und ein Beitrag zur Religionsphilosophie wie zu einer Philosophie der Geschichte, Leipzig 1867. 27 Hartmann, Eduard von: Die Religion des Geistes, Berlin 1882. 28 Ebd. 265. 29 Ebd. 258–266. 30 Ebd. IX–XII. 31 Im Schwedischen war der Begriff bereits 1837 von dem protestantischen Theologen, Kirchenhistoriker und späteren Erzbischof von Uppsala Henrik Reuterdahl in Bezug auf Schleiermacher gebraucht worden. Vgl. Kemper, Dirk: Religionspsychologie. In: Ritter,­ Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 764–768, hier 764.

20  Religion und moderne Psychologie um 1900

2.3 Der Auftakt zur Debatte: Religion und moderne Fachpsychologie um die Jahrhundertwende Besteht die neue empirische Psychologie seit der Jahrhundertmitte also zunächst nur als Forderung und Behauptung, so gelingt ab den 1880er Jahren dem in Leipzig lehrenden Wilhelm Wundt und seinen Schülern eine glaubhafte Empirieanbindung und Institutionalisierung des Faches. Sie eignen sich, aufbauend auf Vorarbeiten von Helmholtz, Weber und Fechner, Messmethoden der medizinischen Physiologie an und entwickeln daraus den Ansatz einer experimentellen, psychophysisch fundierten Untersuchung psychischer Vorgänge. 1879 gründet Wundt mit diesem Programm in Leipzig das weltweit erste experimentalpsychologische Laboratorium. Wenige Jahre später wird dieses dann zu einem offiziellen Universitätsinstitut und damit zum Vorbild vieler weiterer Einrichtungen, die an deutschen und internationalen Universitäten in den folgenden Jahrzehnten entstehen.32 Um diese neue Fachpsychologie, die institutionell nun zunehmend Eigenständigkeit gewinnt und methodisch nicht mehr an der Philosophie, sondern an den Naturwissenschaften orientiert ist, geht es dann auch in der der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900. Sie stellt die Innovation dar, die nun zu Religion in Bezug gesetzt wird und an der sich damit die Debatte entzündet. Religion im Blick der neuen Fachpsychologie In der neuen Fachpsychologie selbst spielt das Thema Religion in ihren frühen Grundlagenwerken zunächst nur eine Nebenrolle. In den meisten Lehrbüchern der neuen Psychologie, die vor der Jahrhundertwende erscheinen, wird Religion als Gegenstand entweder noch gänzlich ignoriert oder extrem kurz und formelhaft, oft im Anschluss an Kants ethische Religionstheorie, abgehandelt. So findet sich beispielsweise in Hans Cornelius’ »Psychologie als Erfahrungswissenschaft«,33 das immerhin beansprucht, eine »vollständige Aufzählung und Darstellung der Tatsachen des psychischen Lebens und der zur Erklärung derselben aufgestellten Theorien«34 zu sein, keinerlei Referenz auf

32 Scheerer: Psychologie 1621–1623; Ash, Mitchell: Psychology. In: Lindberg, David C. (Hg.): The Cambridge History of Science, Cambridge u. a. 2003, 251–274, hier 255–259; Danziger, Kurt: Constructing the Subject. Historical Origins of Psychological Research, Cambridge 1990; Kim, Alan: Wilhelm Maximilian Wundt. In: Zalta, Edward u. a. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stanford (CA) 2014, online unter http://plato.stanford.edu/ archives/win2014/entries/wilhelm-wundt/ (Datum des Zugriffs: 20.05.2015). 33 Cornelius, Hans: Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897. 34 Ebd. III.

Der Auftakt zur Debatte  21

Religion.35 Gleiches gilt für den »Grundriss der Psychologie«36 des WundtSchülers Oswald Külpe37 sowie für den »Leitfaden der Physiologischen Psychologie«38 von Theodor Ziehen. In dem populären, mehrfach neu aufgelegten und erweiterten »Lehrbuch der Psychologie« von Friedrich Jodl39 findet sich nur eine kurze, über alle Auflagen unverändert beibehaltene Andeutung, in der die Gottesvorstellung zur Gruppe der höheren ethischen Idealbildungen gerechnet wird.40 Auch Theodor Lipps bestimmt in seinem »Leitfaden der Psychologie«41 Religion nur äußerst knapp als eine zur Befestigung der Ethik notwendige Bewusstseinsfunktion.42 Dennoch gibt es einige frühe Psychologen, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Rolle der Religion in Bezug auf die Psychologie behandeln. Als erster ist der bereits erwähnte Wilhelm Wundt zu nennen. Neben seiner experimentalpsychologischen Grundlagenforschung betreibt Wundt auch eine, als historischanthropologisches Vorgehen unter Einbeziehung der neuen psychologischen Einsichten konzipierte, Sozial- bzw. Kulturpsychologie, die er in zeitgenössischer Terminologie als »Völkerpsychologie« tituliert.43 In diesem Rahmen, und zwar konkret in seiner 1886 erschienenen »völkerpsychologischen« Aufarbeitung der Geschichte der Ethik,44 entwickelt Wundt auch eine ausführlich dargestellte religionspsychologische Theorie. Darin beschreibt er Religion als ein kulturabhängiges, affektbasiertes Phantasieerzeugnis, das einerseits bestimmte psychische Bedürfnisse des Menschen erfüllt und andererseits auf spezifische Weise sein jeweiliges zivilisationsabhängiges Lebensideal zum Ausdruck bringt.45 In diesem 35 Dass Religion hier außen vor gelassen wird, dürfte allerdings weniger in Unbedachtheit als vielmehr in der empiriokritizistischen Prämisse des Werkes begründet sein. Vgl. ebd. III–V. 36 Külpe, Oswald: Grundriss der Psychologie, Leipzig 1893. Külpe spielt allerdings später indirekt eine Rolle für die Entwicklung der religionspsychologischen Auseinandersetzung, da er Wilhelm Stählin, den Initiator des »Archivs für Religionspsychologie« in der von ihm begründeten Analysemethode höherer Denkvorgänge ausbildet. Vgl. hierzu den Abschnitt 2.5 weiter unten. 37 Henckmann, Wolfhart: Külpe, Oswald. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, 209 f. 38 Ziehen, Theodor: Leitfaden der Physiologischen Psychologie. In 15 Vorlesungen, Jena 1896. 39 Jodl, Friedrich: Lehrbuch der Psychologie, Stuttgart 1896–1908; Zu Jodl: Brockhard, Hans: Jodl, Friedrich. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, 450 f. 40 Jodl: Lehrbuch 716; ²2. Bd. 383; ³ 2. Bd. 440. 41 Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1903. 42 Ebd. 291. 43 Scheerer: Psychologie 1622 f. 44 Wundt, Wilhelm: Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 1886. 45 Ebd. 40–43.

22  Religion und moderne Psychologie um 1900 Sinne steht Religion bei Wundt in einem engen wechselseitigen Entwicklungszusammenhang mit der Sittlichkeit bzw. Ethik.46 Obwohl Wundt inhaltlich durchaus keine originären Gedanken vorträgt – die Anklänge einerseits an Feuerbach und andererseits an Kants Religionsbestimmung als Funktion der Ethik sind offensichtlich47 –, grenzt er sich methodologisch entschieden von der früheren Religionsphilosophie und philosophischen Reli­gionspsychologie ab. Diese, so sein Vorwurf, kann keine systematische, tatsachenorientierte Methodik für sich geltend machen, sondern beruht einzig auf der argumentativen Umsetzung weltanschaulicher Vorannahmen und Interessen.48 Seine eigene Herangehensweise, die sich demgegenüber auf eine strikte Empirie allgemein feststellbarer Bewusstseinsinhalte stützen soll, indem sie die Religion an ihrem »natürlichen Entstehungsort«49 im »Völkerbewusstsein«50 aufsucht, soll dies nun ändern.51 Die Religion, so hält Wundt fest, gehört »zuvörderst vor das Forum der Psychologie, und dann erst, nachdem sie psychologisch geprüft und beantwortet ist, vor dasjenige der Metaphysik«.52 Eine weitere Bezugnahme auf Religion aus der neuen Fachpsychologie findet sich bei dem viel gelesenen und auch ins Deutsche übersetzten dänischen Psychologen Harald H ­ øffding, der zwar selbst keine experimentalpsychologischen Forschungsarbeiten durchführt, diese aber in seinen Werken synthetisiert.53 In einer kurzen Skizze in seinem 1893 erschienenen Lehrbuch »Psychologie in Umrissen«54 sowie als psychologischer Hauptteil seiner 1901 publizierten »Religionsphilosophie«55 kommt Høffding zu ähnlichen Ergebnissen wie Wundt. Auch für ihn erklärt sich das Religionsphänomen seiner Grundlage nach über ein Funktionsverhältnis zur Ethik.56 In individualpsychologischer Differenzierungsabsicht versucht sich Høffding außerdem noch an einer ausführlichen Erkundung der möglichen Kausalbeziehungen zwischen Persönlichkeits- und Frömmigkeitstypus.57 In methodologischer Hinsicht muss nach seinem Dafürhalten der empirisch-psychologische Zugang zur Religionsfrage bereits aus 46 Ebd. 87. 47 Schlieter: Was ist Religion 71–73 und 91 f. 48 Wundt: Ethik 33. 49 Ebd. 38. 50 Ebd. 51 Ebd. 33–38. 52 Ebd. 38. 53 Rattner, Josef: Dänemark und Norwegen in Europa. Geistesgeschichtliche und literarische Essays, Würzburg 2004, 191–208. Hier findet sich eine biographische Skizze zu H ­ øffding. Eine ausführliche Arbeit liegt trotz seiner großen Resonanz um 1900 bis heute nicht vor. 54 Høffding, Harald: Psychologie. In Umrissen. Auf Grundlage der Erfahrung, Leipzig 1893, 364–367. 55 Ders.: Religionsphilosophie, Leipzig 1901, 85–289. 56 Ebd. 194–200. 57 Ebd. 250–270.

Der Auftakt zur Debatte  23

erkenntnistheoretischen Überlegungen als alternativlos betrachtet werden. Høffding hält es für evident, dass religiösen Vorstellungen ihrem Inhalt nach kein eigentlicher Wahrheitswert zugesprochen werden kann, woraus sich, um keine vollkommene Sinnlosigkeit dieser Vorstellungen konstatieren zu müssen, automatisch die Frage nach ihrem Funktionswert im Bewusstseinszusammenhang ergibt. Beantworten kann diese Frage dann für ihn selbstredend nur die Psychologie auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand.58 Weiterhin positioniert sich um die Jahrhundertwende auch Hugo Münsterberg, der als Gastprofessor in Harvard lehrt und später zum Vordenker der angewandten Wirtschaftspsychologie wird, zunächst aber noch stark erkenntnis- und grundlagentheoretisch arbeitet, zum Thema Religion.59 Münsterberg geht es in seinem Werk »Grundzüge der Psychologie«60 aus dem Jahr 1900 nach­ eigener Aussage darum, im Rahmen eines »ethischen Idealismus«61 die Psychologie als »rücksichtslose konsequente empirische Wissenschaft«62 durchzusetzen, der ausdrücklich die analytische Zuständigkeit für das gesamte geistige Leben zukommen soll.63 Die objektivierende Auffassung der Religion von sich selbst kann dabei auch für Münsterberg wissenschaftlich auf keinen Fall anerkannt werden, sondern es muss seiner Meinung nach vielmehr danach gefragt werden, wie und warum diese überhaupt erst zustande kommt.64 Ziel muss es sein, so Münsterberg, zu verstehen, »warum Religion für den Menschen notwendig ist und wie ihr Auftreten die Illusion des Normativen erzeugen muss.«65 In Abgrenzung zu Wundt räumt Münsterberg einer individualpsychologischen und in diesem Sinne durchaus auch psychophysischen und psychopathologischen Analyse die Vorrangstellung ein.66 Münsterberg versucht sich allerdings selbst noch nicht an einer Antwort, sondern betont zunächst nur die Notwendigkeit der psychologischen Fragestellung. Was der religiöse Mechanismus tatsächlich ist, »ob Glückstreben oder Furcht, ob ein mystisches Gefühl der Abhängigkeit oder ein Gefühl sittlicher Gerechtigkeit, ob ein Drang nach ästhetischer Weltharmonie oder ein Gefühl der Unbefriedigung an logisch Un­ erklärbarem«67 ist für ihn zunächst eine noch offene Forschungsfrage, die aber,

58 Ebd. 83–87. 59 Lück, Helmut: Münsterberg, Hugo. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, 542 f. 60 Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1900. 61 Ebd. VII. 62 Ebd. VI. 63 Ebd. V–VII. 64 Ebd. 168–170. 65 Ebd. 170. 66 Ebd. 169 f. 67 Ebd. 170.

24  Religion und moderne Psychologie um 1900 darauf kommt es Münsterberg an, nur psychologisch und durch keine andere Zugangsweise bearbeitet werden kann.68 Frühe Bezugnahmen auf die neue Fachpsychologie in Theologie und Religionswissenschaft Neben den frühen fachpsychologischen Bezugnahmen auf Religion kommt es umgekehrt auch schon früh zu ersten theologischen und religionswissenschaftlichen Bezugnahmen auf die neue fachliche Dynamik der Psychologie. Dabei tauchen zunächst Stimmen auf, die eine Anwendung neuer fachpsychologischer Ansätze auf religiöse Fragen ausdrücklich begrüßen und damit hohe Innova­ tionserwartungen verbinden. So registriert bereits 1875 der protestantische neutestamentliche Theologe Heinrich Holtzmann, der als bedeutender Vertreter der historisch-kritischen Bibelforschung gilt,69 eine »epochemachende Wendung«70 der Psychologie, die für ihn auf dem Weg ist, »Naturwissenschaft zu werden oder wenigstens auf naturwissenschaftlicher Grundlage sich zu rekonstruieren«.71 Holtzmann leitet daraus die Prognose auf eine neue »gesicherte religiöse Prinzipienlehre, eine schwindelfreie religiöse Erkenntnistheorie«72 ab. Es besteht für ihn die Aussicht, »Schleiermachers Rede von der Berührung des Ich’s mit dem Universum aus der romantischen Verschwommenheit aufs Trockene zu bringen.«73 Auch Ernst Troeltsch, der als protestantischer systematischer Theologe, Kulturphilosoph und politischer Publizist eine prägende intellektuelle Figur des Deutschen Kaiserreichs um 1900 ist,74 erwartet von der neuen Fachpsychologie eine Bestätigung Schleiermachers, konkret von dessen Auffassung der Religion als qualitativ selbstständigem Bewusstseinsaspekt.75 In der sich etablierenden Fachpsychologie sieht Troeltsch eine neue Elementarwissenschaft des Bewusstseins heranwachsen, die seiner Meinung nach in Zusammenarbeit mit der his 68 Ebd. 166–170. Dieser Forderung wird Münsterberg allerdings später selbst untreu, indem er sich in seiner »Philosophie der Werte« gerade nicht psychologisch, sondern philosophisch über Religion äußert. Er fasst sie dort konventionell als Funktion der Ethik auf. Vgl. Münsterberg, Hugo: Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, Leipzig 1908, 412–429. 69 Dinkler, Erich: Holtzmann, Heinrich. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, 560 f. 70 Holtzmann, Heinrich: Die theologische, insonderheit religionsphilosophische Forschung der Gegenwart. In: Jahrbücher für protestantische Theologie (1875), 1–38, hier 23. 71 Ebd. 72 Ebd. 22. 73 Ebd. 24. 74 Wesseling, Klaus-Gunther: Troeltsch, Ernst. In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 12, Herzberg 1997, 497–562, hier 497–512. 75 Troeltsch, Ernst: Die Selbständigkeit der Religion. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5–6 (1895–1896), 361–436, 71–110 und 157–218, hier 369–371.

Der Auftakt zur Debatte  25

torischen Religionsforschung die Möglichkeit bietet, in der Frage nach dem Wesen der Religion endlich über die für ihn in ihrer bisherigen Form zu keinem verlässlichen Ergebnis führende, »theologische Scholastik«76 hinauszugelangen.77 Wilhelm Wiener, ein evangelischer Pfarrer, der pastoraltheologische Fachaufsätze unter anderem zu Fragen der Predigtlehre, der Kasualhandlungen und zum Problem wachsender Unkirchlichkeit publiziert,78 veröffentlicht bereits 1888 einen Artikel, in dem er sich für eine intensivierte psychologische Er­kundung von Religion auch mit den Mitteln der modernen Psychologie ausspricht.79 Zahlreiche theologische Fachfragen, beispielsweise des Schriftverständnisses, der Religions- und Kirchengeschichte, der Apologetik, Predigtlehre, religiösen Pädagogik und speziellen Seelsorge, können damit seiner Meinung nach neu beleuchtet werden, um so dem Anspruch nach Wahrheit und Wissenschaftlichkeit der Theologie Genüge zu tun.80 Ähnlich argumentiert kurz nach der Jahrhundertwende der praktische Theo­ loge und spätere Psychoanalytiker Oskar Pfister,81 für den sich die neue Fachpsychologie als eine geradezu imperative Herausforderung an die Theologie stellt, sofern diese ihrem Anspruch gerecht werden möchte, ihren Gegenstand in wissenschaftlich angemessener Weise zu erfassen und zu behandeln.82 Der dabei in Aussicht stehende Gewinn ist für Pfister eine Entschlackung der überkommenen Glaubensformen durch ihre wissenschaftliche Prüfung, womit diese, seiner Ansicht nach, in ihrem Kern nur gefestigt werden können.83 Der katholische Theologe, Religionshistoriker und Indologe Edmund Hardy, der sich seit den 1880er Jahren für eine neue theologieunabhängige Religionswissenschaft engagiert, greift die neue Fachpsychologie in einem programmatischen Aufsatz zur religionswissenschaftlichen Methodenfrage auf.84 Seiner Meinung nach ist die Religionswissenschaft unbedingt auf die psychologische 76 Ebd. 380. 77 Ebd. 370 und 380 f. 78 Stahlberg, Thomas: Seelsorge im Übergang zur »modernen Welt«. Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten im Kontext der praktischen Theologie um 1900, Göttingen 1998, 85. 79 Wiener, Wilhelm: Die Bedeutung der Psychologie für die theologische Wissenschaft und Praxis. In: Halte was du hast 11 (1888), 241–254. 80 Ebd. 241–254. 81 Nase, Eckart: Pfister, Oskar. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, 337 f. 82 Pfister, Oskar: Die Unterlassungssünden der Theologie gegenüber der modernen Psychologie. In: Protestantische Monatshefte 7 (1903), 125–140, hier 127–132. 83 Ebd. 135–140. 84 Hardy, Edmund: Was ist Religionswissenschaft? In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1898), 9–42. Das »Archiv für Religionswissenschaft«, in dessen erster Ausgabe der Aufsatz erscheint, ist das erste entsprechend ausgerichtete Fachorgan in deutscher Sprache. Vgl. hierzu auch die programmatische Einführung des Herausgebers: Achelis, Thomas: Zur Einführung. In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1898), 1–8.

26  Religion und moderne Psychologie um 1900 Hilfestellung angewiesen, sobald sie dazu übergehen möchte, religiöse Phänomene nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu interpretieren.85 Selbstverständlich, so Hardy, kann dabei angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung der Psychologie nicht mehr eine »sogen. Psychologie des gesunden Menschenverstands«86 ins Auge gefasst werden, sondern nurmehr »die wissenschaftlichempirische allein«.87 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch der als philosophischer Publizist aktive Gymnasiallehrer Emil Koch88 in seinem, als »Grundlegung« untertitelten Buch »Die Psychologie in der Religionswissenschaft«.89 Koch möchte die Psychologie als empirisch-deskriptive Gesetzeswissenschaft verstanden wissen90 und sie aus ihrer bisherigen »Knechtung«91 durch Theologie und Philosophie befreien. Sie muss seiner Meinung nach als Basismethode einer neuen, theologie- und metaphysikfreien Religionswissenschaft eingesetzt werden.92 Besonders engagiert setzt sich von Anfang an der protestantische Pfarrer Gustav Vorbrodt93 für die Anwendung der neuen Fachpsychologie auf religiöse Fragen ein. Vorbrodt veröffentlicht 1893 unter dem Titel »Psychologie in Theologie und Kirche?«94 eine Programmschrift, in der er das Potential einer Anknüpfung an die moderne Psychologie für sämtliche Teilbereiche der Theologie und der religiösen Praxis beschreibt. Vorbrodts Ton ist dabei sehr dringlich. Es geht ihm nicht nur darum, die neuen Möglichkeiten des Erkennens und Handelns aufzuzeigen, die seiner Meinung nach mit der modernen Psychologie entstehen.95 Er ist auch davon überzeugt, dass diese Möglichkeiten Theologie und Kirche geradezu imperativ gegenübertreten und dass sie in ihren erwartbaren Auswirkungen ein Prinzip von »reformatorischer Bedeutung«96 für diese bedeuten.97 Die bisherigen Ansätze einer auf Metaphysik, allgemeiner Lebenserfahrung oder gar der Heiligen Schrift aufbauenden Psychologie hält er demgegenüber nicht einfach nur für weniger leistungsfähig, sondern für vollkommen überholt und nicht mehr weiter verwendbar.98 In zwei weiteren Ver 85 Hardy: Was ist Religionswissenschaft 18–21. 86 Ebd. 41. 87 Ebd. 88 Eisler, Rudolf: Koch, Emil. In: Ders. (Hg.): Philosophen-Lexikon, Berlin 1912, 356. 89 Koch, Emil: Die Psychologie in der Religionswissenschaft. Grundlegung, Freiburg 1896. 90 Ebd. 44–56. 91 Ebd. 5. 92 Ebd. 8. 93 Graf: Vorbrodt 74–84. 94 Vorbrodt, Gustav: Psychologie in Theologie und Kirche?, Dessau 1893. 95 Ebd. 27–37. 96 Ebd. 3. 97 Ebd. 3 f. 98 Ebd. 12–18.

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öffentlichungen, einer »Psychologie des Glaubens«99 und den »Beiträgen zur religiösen Psychologie«100, versucht Vorbrodt seine Programmatik genauer auszuarbeiten, was ihm allerdings, wohl auch bedingt durch seinen unkonventionellen Sprach- und Argumentationsstil, in den Augen seiner Adressaten kaum überzeugend gelingt.101 Neben derartigen Affirmationen und Anknüpfungsbestrebungen werden von theologischer Seite allerdings von Anfang an auch zurückhaltende und ablehnende Stimmen gegenüber der neuen Fachpsychologie laut. So pocht etwa der Erlanger protestantische Theologe Leonhard Rabus102 in einem Artikel in der konservativen »Neuen Kirchlichen Zeitschrift« auf die Einhaltung von Fächergrenzen und die Akzeptanz von »fundamentalen Wahr­heiten der Theologie«.103 Seiner Meinung nach ist es unbestreitbar, dass die moderne Psychologie, indem sie die »Selbständigkeit des Menschwesens ge­ genüber der Natur«104 verwirft, sich selbst eine schwerwiegende Verengung ihres Gesichtsfeldes auferlegt. Dieses Fehlurteil wird sie seiner Meinung nach ent­ weder anerkennen und dann entsprechende Anregungen von der Theologie entgegennehmen müssen, oder sie wird dauerhaft unzulänglich bleiben.105 Für den am theologischen Kantianismus orientierten protestantischen Theologen Max Reischle106 ist dagegen ein empirisch-psychologisches Vorgehen dem Grundgedanken nach durchaus attraktiv. Es kann damit seiner Meinung nach eine Formalanalyse der geschichtlich am weitesten fortgeschrittenen Religion – für Reischle selbstredend das protestantische Christentum – durchgeführt und daraus ein Normbegriff zur allgemeinen Religionsbeurteilung abgeleitet werden.107 Allerdings kommt die Psychologie dabei für Reischle auf keinen Fall im Sinne eines naturwissenschaftlichen Erklärungsansatzes infrage, sondern nur als Methode der Sammlung und begrifflichen Systematisierung von Bewusstseinserscheinungen.108 Auf diese Weise baut sie für ihn auf das Material der his 99 Vorbrodt, Gustav: Psychologie des Glaubens. Zugleich ein Appell an die Verächter des Christentums unter den wissenschaftlich interessierten Gebildeten, Göttingen 1895. 100 Vorbrodt, Gustav: Beiträge zur religiösen Psychologie. Psychobiologie und Gefühl, Leipzig 1904. 101 Eckert, Alfred: Religionspsychologie, Psychologie des Glaubens, Praxis. In: Neue kirchliche Zeitschrift 11 (1910), 893–908 und 963–1002, hier 897–900. 102 Eisler, Rudolf: Rabus, Leonhard. In: Ders. (Hg.): Philosophen-Lexikon, Berlin 1912, 579. 103 Rabus, Leonhard: Anforderungen der Theologie an die psychologische Forschung. In: Neue kirchliche Zeitschrift 8 (1897), 765–805, hier 785. 104 Ebd. 799. 105 Ebd. 798–801. 106 Pautler, Stefan: Reischle, Max Wilhem Theodor. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 21, Berlin 2003, 388. 107 Reischle, Max: Die Frage nach dem Wesen der Religion. Grundlegung zu einer Methodologie der Religionsphilosophie, Freiburg i. Br. 1889, 65–76. 108 Ebd. 32–36.

28  Religion und moderne Psychologie um 1900 torischen Religionsforschung auf und unterscheidet sich letztendlich nur noch durch ihr vergleichsweise höheres Abstraktionsniveau von dieser.109 In ähnlicher Weise sieht auch Julius Kaftan, der theologische Lehrer von Reischle,110 die neue empirische Psychologie an den Materialertrag der religionsgeschichtlichen Forschung und eine Herausarbeitung der »immanenten Logik«111 der empirisch feststellbaren Glaubensvorstellungen gebunden.112 Von Interesse erscheint sie ihm dabei vor allem als Impuls zur Erforschung der »wirklichen Religion«113 im Sinne des tatsächlichen »inneren religiösen Lebens«.114 Dabei muss die Psychologie für Kaftan immer in Rechnung stellen, dass sie es »lediglich mit Bewusstseinsvorgängen«115 zu tun hat, also keine begründeten Aussagen über möglicherweise noch dahinter liegende Zusammenhänge treffen kann.116 Entschieden psychologiekritisch zeigt sich weiterhin der protestantische Theologe Wilhelm Herrmann, der um die Jahrhundertwende mit seinem einerseits ethisch-liberalen, andererseits aber wissenschaftskritischen Standpunkt als ein besonders profilierter Vertreter seines Faches gilt.117 Herrmann bestreitet eine Aussagekompetenz der Psychologie in religiösen Fragen grundsätzlich, da es sich seiner Ansicht nach bei den Inhalten des religiösen Bewusstseins um Qualitätsverhältnisse handelt, die mit dem neuen naturwissenschaftlichen Ansatz der Psychologie nur von ihrer formalen Seite her und somit nur unzureichend erfasst werden können.118 Weiterhin, so Herrmann, ist es nicht zulässig, die notwendigerweise immer begrenzten Befunde aus der psychologischen Empirie einfach zu Allgemeinbegriffen zu erweitern.119 Auch die Frage, ob es sich bei den aufgefundenen Zusammenhängen um die tatsächlichen Ursachen 109 Ebd. 66. 110 Pautler, Stefan: Reischle, Max Wilhem Theodor. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd.  21, Berlin 2003, 388; Zu Kaftan: Göbell, Walter: Kaftan, Julius. In: Historische Kommission bei der­ Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, 16 f. 111 Kaftan, Julius: Die Selbständigkeit des Christentums. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 6 (1896), 373–394, hier 383. 112 Ebd. 382 f. 113 Ebd. 382. 114 Ebd. 115 Kaftan, Julius: Erwiderung. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 8 (1898), 70–96, hier 74. 116 Ebd. 73–75. 117 Ott, Günther: Herrmann, Johann Georg Wilhelm. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd.  8, Berlin 1969, 691 f. 118 Herrmann, Wilhelm: Die Metaphysik in der Theologie, Halle 1876, 4–6. 119 Ders.: Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie, Halle 1879, 417–419.

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oder doch nur um weitere Oberflächenphänomene handelt, lässt sich seiner Meinung nach nicht empirisch lösen.120 Es handelt sich deshalb, so Herrmanns abwertendes Urteil, bei der modernen Psychologie um nicht viel mehr als eine »vergleichende Zoologie«,121 der man einen wesentlichen Erkenntniswert gerade in religiöser Hinsicht nicht zugestehen kann.122 Insgesamt bleiben die Bezugnahmen auf die neue Fachpsychologie im theologischen Diskurs  – ebenso wie die Bezugnahmen auf Religion in der neuen Fachpsychologie – bis um die Jahrhundertwende noch spärlich. Auch zeigt sich sowohl bei den frühen Fürsprechern als auch bei den Kritikern ein noch sehr uneinheitliches und oft nur diffuses Verständnis der neuen fachpsychologischen Methodik. Dies wird etwa deutlich, wenn Wilhelm Wiener zwar einerseits die neue Dynamik der Psychologie begrüßt, andererseits aber betont, dass daneben für die Theologie selbstverständlich auch weiterhin die Freiheit bestehen bleibt, »von einer sog. biblischen Psychologie auszugehen, wie sie uns seinerzeit J. T. Beck vorgeführt hat«;123 wenn Thomas Achelis, der Herausgeber des »Archivs für Religionswissenschaft«, zwar Edmund Hardy in der Herausstellung einer grundsätzlichen Bedeutung der Psychologie für die Religionswissenschaft zustimmt, damit aber in erster Linie den Namen Herbart und ein vermeintliches »Recht der Spekulation«124 verbindet;125 oder wenn Reischle und Kaftan auf die experimentellen Ansätze der neuen Fachpsychologie nicht eingehen, sondern diese bloß als neu betonte Abstraktionstätigkeit auf der Grundlage von religionshistorischen Materialien wahrnehmen.126 Auch weiterhin erscheinen in der Theologie außerdem Arbeiten, die sich in der religionspsychologischen Thematik am bewährten Modus einer vor allem argumentativen philosophisch-theologischen Beweisführung orientieren. Die neue Fachpsychologie wird dabei zum Teil zwar berücksichtigt, es wird von ihr aber gerade nicht eine grundlegende Erneuerung der religionspsychologischen Frage erwartet, sondern eher eine Ergänzung und Klärung im Detail. Ein Beispiel hierfür ist der lutherische Theologe Karl Girgensohn, der sich später deutlich fachpsychologisch orientiert,127 kurz nach der Jahrhundertwende aber in seinem Aufsatz »Die Religion, ihre psychischen Formen und ihre Zentralidee«128 noch mit einem eher traditionellen Ansatz hervortritt. ­Girgensohn 120 Ebd. 104. 121 Ebd. 88. 122 Ebd. 123 Wiener: Bedeutung der Psychologie 241. 124 Achelis: Einführung 3. 125 Ebd. 2–7. 126 Siehe die Schilderung weiter oben. 127 Grönbaek, Villiam: Girgensohn, Karl Gustav. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 6, Berlin 1964, 410. 128 Girgensohn, Karl: Die Religion, ihre psychische Form und ihre Zentralidee. Ein Beitrag zur Lösung der Frage nach dem Wesen der Religion, Leipzig 1903.

30  Religion und moderne Psychologie um 1900 nimmt darin auf die neue Fachpsychologie zwar Bezug, inhaltlich bestimmend bleibt aber der religionsphilosophisch-theologische Diskurs und es werden von ihm als psychologische Analysen deklarierte Passagen sogar vielfach vollkommen frei, ohne Angabe einschlägiger Referenzen, argumentiert.129 In ähnlicher Weise wie Girgensohn versuchen sich auch Erich Kinast in seinen »Beiträgen zur Religions-Psychologie«130 sowie Georg Wobbermin, der in der späteren Auseinandersetzung eine wichtige Rolle als Programmatiker spielt, in seiner Publikation »Theologie und Metaphysik«131 an einer Einpassung der neuen Psychologie in traditionelle Argumentationsstrukturen.132 Deutlich wird in den theologischen Bezugnahmen auf die neue Fachpsycho­ logie, dass sie sehr früh wahrgenommen wird, wobei schon von Anfang ihr Potential zur Polarisierung zwischen hohen Innovationserwartungen und dezidierter Kritik zum Vorschein kommt. Das Verständnis dessen, was genau die neue Fachpsychologie methodisch ausmacht, ist allerdings insgesamt noch diffus und die Verwendungsinteressen erscheinen noch wenig konkret. Auch eine ausdrückliche Debattenwahrnehmung bildet sich bei den Akteuren noch nicht heraus.

2.4 1905–1908: US-amerikanische Impulse und eine neue publizistische Dynamik Die neue US-amerikanische Religionspsychologie Einen entscheidenden Impuls enthält die deutschsprachige Auseinandersetzung um Religion und moderne Psychologie ab ca. 1905 durch die Rezeption von US -amerikanischen Forschungsarbeiten, die bereits seit kurz vor der Jahrhundertwende parallel zur deutschen Debatte entstehen. Der Großteil dieser Arbeiten wird an der Clark-University in Worcester, Massachusetts, unter der Förderung des dortigen Universitätspräsidenten Granville Stanley Hall verfasst. Hall, der zunächst in Deutschland Theologie studiert hatte und sich dann in 129 Ebd. 49–55. Girgensohn behauptet hier eine »psychologische Untersuchung« zu führen, kommt dabei aber mit einer einzigen – philosophischen – Referenz aus. 130 Kinast, Erich: Beiträge zur Religions-Psychologie, Erlangen 1900, insbesondere 76–85. 131 Wobbermin, Georg: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur­ modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Leipzig 1901, hier insbesondere 137–142. 132 Auch Kinast und Wobbermin sind protestantische Theologen, der erste als Pfarrer, der zweite als Privatdozent und späterer Professor für Systematische Theologie. Zu Kinast vgl. Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Ernst Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, II, Berlin 2014, 280; Zu Wobbermin vgl. Wesseling, Klaus-Gunther: Wobbermin, Ernst Gustav Georg. In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 13, Herzberg 1998, 1455–1462.

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einem weiteren Studium der neu entstehenden Fachpsychologie anschloss, ist einer der ersten Vertreter der neuen Disziplin in den USA und dabei unter anderem Gründungsherausgeber des »American Journal of Psychology« und erster Präsident der »American Psychological Association«.133 Zunächst in seinem etablierten »American Journal of Psychology«, ab 1904 dann in dem von ihm neu initiierten »American Journal of Religious Psychology and Education«,134 lässt Hall Arbeiten seiner Schüler veröffentlichen, die tatsächlich eine neue, zuvor noch nicht unternommene Herangehensweise in der Religionsforschung be­ deuten. Die neue Methode basiert auf der standardisierten Erhebung von Selbstauskünften über subjektives religiöses Erleben, die zunächst in großer Zahl gesammelt und dann einer, jeweils unterschiedlich gewichteten Kombination von qualitativer Exploration und statistischer Korrelationsanalyse unterworfen werden. Auf diese Weise soll zu Hinweisen auf psychologische Gesetzmäßigkeiten gelangt werden.135 Die prägendsten Vertreter dieses neuen Ansatzes sind zwei Schüler Halls: Zum einen James Henry Leuba, ab 1898 Psychologieprofessor am Bryn Mawr College in Pennsylvania, zum anderen Edwin Diller Starbuck, ab 1897 Pädagogikprofessor in Stanford, Kalifornien, und Richmond, Virginia, und schließlich ab 1906 Professor für Philosophie an der Universität von Iowa.136 Leuba forscht zur subjektiven Motivationsstruktur in religiösen Konversionsprozessen,137 zur subjektiven Glaubenserfahrung allgemein138 sowie zu bestimmten Erlebnisqualitäten wie beispielsweise Angst und Ehrfurcht im Zusammenhang mit religiösem Glauben.139 Er arbeitet dabei vorwiegend qualitativ-explorativ.140 Starbuck geht es in seiner Forschung ebenfalls um Konversionen141 sowie um Prozesse des inneren Glaubenswachstums, insbesondere auch im Hinblick auf

133 Goodchild, Lester: G. Stanley Hall and the Study of Higher Education. In: The Review of Higher Education 20 (1996), 69–99. 134 Hall, Granville Stanley (Hg.): The American Journal of Religious Psychology and Education, Worcester (Mass.) 1904–1911. 135 Starbuck, Edwin Diller: The Psychology of Religion. An Empirical Study of the Growth of Religious Consciousness, London 1899, 11–17; Leuba, James Henry: Fear, Awe and the Sublime in Religion. In: The American Journal of Religious Psychology and Education 2 (1906–1907), 1–23, hier 2. 136 Huxel: Psychologie des Glaubens 19–23, 188–189, 315–317, 357 und 375. 137 Leuba, James Henry: A Study in the Psychology of Religious Phenomena. In: The American Journal of Psychology 7 (1896), 309–385. 138 Ders.: Faith. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1904–1905), 65–82. 139 Ders.: Fear, Awe and the Sublime 1–23. 140 Ebd. 2. 141 Starbuck, Edwin D.: A Study of Conversion. In: The American Journal of Psychology 8 (1897), 268–308.

32  Religion und moderne Psychologie um 1900 daraus zu ziehende religionspädagogische Schlüsse.142 Seine Arbeit geht stark von statistischen Korrelationsanalysen aus, die er auch in zahlreichen Graphen und Tabellen in seinen Veröffentlichungen visualisiert.143 Mit seiner Studie »The Psychology of Religion« legt Starbuck 1899 die erste wissenschaftliche Monographie der US -amerikanischen Religionspsychologie vor. Weitere Schüler von Hall beschäftigen sich beispielsweise mit den Wirkungsmechanismen vorgeblicher christlicher Glaubensheilungen, den psychologischen Hintergründen religiöser Seelenvorstellungen, mit der Entstehung und Funktionalität von unterschiedlichen Gebetsformen, den Anforderungen an die Predigtgestaltung aus sozialpsychologischer Sicht oder mit der Typologisierung von Grundformen des persönlichen Glaubenserwerbs. Wie bei Leuba und Starbuck basieren auch diese Untersuchungen auf empirischen Erhebungen, zumeist auf der Basis standardisierter Fragebögen. Diese werden statistisch ausgewertet und es wird versucht, daraus psychologische Funktionsmodelle für den jeweils untersuchten Zusammenhang zu ermitteln.144 Obwohl in der amerikanischen – ähnlich wie in der deutschen – Diskussion in programmatischer Hinsicht durchaus hohe Erwartungen an die zukünftigen Erkenntnisleistungen und den praktischen Nutzwert der neuen Religionspsychologie formuliert werden,145 ist für die Vertreter der Clark-Schule insgesamt eine forschungspragmatische Herangehensweise charakteristisch. Es geht hier weniger um die Aufstellung umfassender psychologischer Religionstheorien, sondern vielmehr darum, sich über die Behandlung von empirisch fassbaren Einzelproblemen dem Gesamtphänomen Religion anzunähern. Dies kommt bereits in den einzelnen Themenstellungen zum Ausdruck, so etwa bei Leuba, der seine Untersuchung von Konversionen damit begründet, dass diese nicht nur ein inhaltlich spannendes Phänomen, sondern auch inhaltlich klar abgrenzbar und vergleichsweise einfach in der Materialerhebung sind.146 In 142 Ders.: Contributions to the Psychology of Religion. In: The American Journal of Psychology 9 (1897), 70–124; Ders.: Psychology of Religion, hier zu den religionspädagogischen Schlussfolgerungen insbesondere 409–417. 143 Vgl. hierzu die »List of tables« und »List of figures« in Starbuck: Psychology of Religion xiii–xvii. 144 Goddard, Henry: The Effects of Mind on Body as Evidenced by Faith Cures. In: The American Journal of Psychology 10 (1899), 431–502; Arnett, L. D.: The Soul. A Study of Past and Present Beliefs. In: The American Journal of Psychology 15 (1904), 347–382; Beck, Frank Orman: Prayer. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 2 (1906–1907); Kline, L. W.: The Sermon. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1904–1905), 288–300; Pratt, James Bissett: Types of Religious Belief. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 2 (1906–1907), 76–93. 145 Hall, Granville Stanley: Editorial. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1904–1905), 1–6; Leuba, James Henry: The Field and the Problems of Psychology of Religion. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1905–1906), 155–167. 146 Leuba: Psychology of Religious Phenomena 312.

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ähnlicher Weise stellt Starbuck im Vorwort zu seinem Buch »The Psychology of Religion« klar, dass er keinesfalls, wie es der Titel seiner Arbeit suggeriert, eine groß angelegte psychologische Religionstheorie im Sinn hat, sondern vielmehr den Versuch unternehmen möchte, das für ihn aus pädagogischer Sicht bedeutsame Thema der Wachstumsprozesse persönlicher Religiosität zu erforschen.147 Es soll dabei nicht darum gehen, so Starbuck, »to classify and define the phenomena of religion«, sondern »to see into the laws and processes at work in the spiritual life.«148 Abseits der Clark-Schule ist in der US -amerikanischen Religionspsychologie außerdem der in Harvard lehrende William James von Bedeutung. Als Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus sowie als Autor des viel gelesenen Psychologielehrbuches »Principles of Psychology«149 besitzt er um die Jahrhundertwende große internationale Bekanntheit.150 1902 veröffentlicht er »The Varieties of Religious Experience«,151 das innerhalb weniger Jahre einen hohen Verbreitungsgrad auch über die engeren Fachkreise hinaus erreicht und das retrospektiv als der frühe internationale Klassiker der neuen US -amerikanischen Religionspsychologie gelten kann.152 Ebenso wie die Forscher der Clark-Schule legt James Wert auf eine umfangreiche, offen dargelegte Empirie als Grundlage seiner Analyse. Er stützt sich in seinen »Varieties of Religious Experience« auf eine Zusammenstellung von zeitgenössischen und historischen religiösen Selbstzeugnissen und Biographien, wobei er zum Teil auf die Vorarbeiten von Leuba und Starbuck aufbaut.153 Im Gegensatz zu diesen zielt James jedoch auf einen wesentlich weiter gefassten Interpretationsrahmen. Er versucht sich an einer Gesamtcharakteristik des religiösen Bewusstseins und insofern an einer umfassenden psychologischen Religionstheorie.154 James schlussfolgert aus seinen empirischen Arbeiten, dass Religion einen eigenständigen, im Kern gefühlsmäßig verfassten Aspekt des persönlichen, see 147 Starbuck: Psychology of Religion 10 f. 148 Ebd. 16. Dies bedeutet allerdings nicht, dass dabei implizit nicht doch bestimmte religionstheoretische Vorannahmen und Nachweisinteressen im Hintergrund stehen. Vgl. hierzu Huxel: Psychologie des Glaubens 414–421, die in dieser Hinsicht von einer »empiristischen Selbsttäuschung« (vgl. ebd. 419) der frühen US -amerikanischen Religionspsychologie spricht. 149 James, William: The Principles of Psychology, New York 1890. 150 Goodman, Russell: William James. In: Zalta, Edward u. a. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stanford (CA) 2013, online unter (Datum des Zugriffs: 20.11.2015). 151 James, William: The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature. Being the Gifford-Lectures on Natural Religion Delivered at Edinburgh, in 1901–1902, New York 1902. 152 Wulff: Psychology of Religion 11 f. 153 James: Varieties v–xii. 154 Ebd. 485–519.

34  Religion und moderne Psychologie um 1900 lisch-geistigen Lebens darstellt.155 Die Existenz eines korrespondierenden eigenständigen Wirklichkeitsaspekts erscheint ihm vor diesem Hintergrund, wenn auch nicht letztgültig beweisbar, so doch hochgradig plausibel.156 Weiterhin meint James feststellen zu können, dass sich das innere religiöse Leben in einer nicht einheitlich festschreibbaren Vielfalt persönlicher Form- und Inhaltsausprägungen vollzieht.157 Eine präskriptive Dogmatik und Religions­philosophie wie bisher kann es deshalb seiner Meinung nach nicht mehr geben, sondern nur noch eine deskriptive »science of religion«,158 die er selbst mit seiner Studie zu verwirklichen versucht.159 James fasst das innere religiöse Leben dabei als wesentlich funktional bestimmt auf. Ungeachtet der Frage nach seinem möglicherweise korrespondierenden Wirklichkeitsaspekt, stellt es für ihn eine psychische Kapazität dar, die eine bessere Bewältigung persönlicher Lebensherausforderung ermöglicht. Durch diese Funktion werden die konkreten Vorstellungsinhalte des für sich genommen diffusen religiösen Bewusstseins bestimmt, die sich, so James, letztendlich als »the gods we need and can use, the gods whose demands on us are reinforcements of our demands on ourselves and on one­ another«160 erweisen.161 Mit den Arbeiten aus dem Umfeld der Clark University sowie von William James entsteht in einem Zeitraum von wenigen Jahren eine neue empirische Religionspsychologie in den USA, die insofern innovativ ist, als hier erstmals nicht nur Ergebnisse aus der allgemeinen Psychologie auf Religion übertragen, sondern tatsächlich gezielte empirische Forschungen unternommen werden. Die Impulse, die damit gesetzt werden, beeinflussen die deutsche Auseinandersetzung im weiteren Verlauf entscheidend. Die Rezeption der US-amerikanischen Entwicklung in der deutschen liberalprotestantischen Theologie Derjenige, der die neuen US -amerikanischen Ansätze in Deutschland zuerst einem breiteren Publikum bekannt macht, ist der protestantische Theologe und Kulturwissenschaftler Ernst Troeltsch mit seinem 1905 erschienen Essay »Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft«.162 Troeltsch, der 155 Ebd. 430–433. 156 Ebd. 509–514 und 519–524. Am ehesten, so merkt James hier an, würde sich seine persönliche Vorstellung in dieser Hinsicht mit dem buddhistischen Karma-Konzept decken (vgl. ebd. 522). 157 Ebd. 486–488. 158 Ebd. 456. 159 Ebd. 455–457 und 489. 160 Ebd. 331. 161 Ebd. 48–52, 327–332 und 503. 162 Troeltsch, Ernst: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Reli-

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sich anlässlich einer Vortragsreise in die USA intensiv mit James befasst hatte, beurteilt diesen als das erste Beispiel für eine »wirkliche und echte, rein empirische Religionspsychologie«,163 die sich für ihn durch ihre analytische Frische und vor allem durch ihren beeindruckenden Materialreichtum auszeichnet.164 Gegenüber der seiner Meinung nach von materialistischen Vorurteilen belasteten deutschen Psychologie sieht er James als weit überlegen an.165 Dabei sucht Troeltsch den Anschluss an James weniger inhaltlich, sondern vor allem in methodischer Hinsicht. Er ist der Ansicht, dass mit dessen Ansatz eine stärkere und gegenüber der historischen Forschung auch aktuellere Empirieanbindung der Religionswissenschaft und der von dieser abhängigen Theologie unternommen werden kann als bisher.166 Mit den religionstheoretischen Schlussfolgerungen von James ist Troeltsch allerdings nicht einverstanden, weil er diese als durch den ursprünglichen empirischen Ansatz nicht mehr abgesichert ansieht.167 Er plädiert deshalb für ein zweistufiges Verfahren in der Religionswissenschaft, in dem an eine religionspsychologische Empirie und vorbereitende Analyse nach dem Vorbild von James eine auf allgemeingültige Begriffsbildung zielende erkenntnistheoretische Analyse nach dem Vorbild Kants angeschlossen werden soll.168 1907 übersetzt dann Georg Wobbermin James »Varieties« ins Deutsche.169 In seinem Geleitwort preist er das Werk als »standard work«170 der neuen US amerikanischen Religionspsychologie und unbedingte Bereicherung für die deutsche Diskussion. Wie Troeltsch geht auch Wobbermin davon aus, dass damit die bisherige, seiner Meinung nach vollkommen ungenügende Behandlung von Religion durch die deutsche Psychologie obsolet wird.171 Vor allem aber stellt auch für ihn James’ Ansatz einen wichtigen methodischen Impuls dar, der ihm unmittelbar aus der Theologie heraus verwertbar erscheint. Aus der Sicht von Wobbermin besitzt James’ Vorgehensweise das Potential, Schleiermachers Programm einer Fundierung der Theologie »nur in dem religiösen Erlebnis als gionswissenschaft. Vortrag gehalten auf dem International Congress of Arts and Sciences in St. Louis, M., Tübingen 1905. 163 Ebd. 17. 164 Ebd. 14–17. 165 Ebd. 11–14. 166 Ebd. 5–11. Die theologische Grundfrage nach dem »Wahrheitsgehalt« (ebd. 17) bzw. dem »Geltenden« (ebd. 18) ist für Troeltsch eine Frage, die nur noch religionswissenschaftlich beantwortet werden kann (ebd. 5 f. und 17 f.). 167 Ebd. 17–18. 168 Ebd. 24 f. und 34–36. 169 James, William: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, Leipzig 1907. 170 Wobbermin, Georg: Vorwort des Übersetzers. In:  James: Die Religiöse Erfahrung III–XVIII, hier V. 171 Ebd. V–VII.

36  Religion und moderne Psychologie um 1900 solchem«172 wirkungsvoll in die Tat umzusetzen. Konnte Schleiermacher diesen Anspruch Wobbermins Ansicht nach noch nicht auf überzeugende Weise methodisch befestigen, so soll genau dies nun mit James möglich werden.173­ Wobbermin verspricht sich davon eine neue Fruchtbarmachung und Regulierung des »Grundtriebs der Mystik«,174 auf dem für ihn jede Religion beruht. Als Absicherung soll dabei allerdings nicht wie bei Troeltsch eine Kantianische Erkenntnis-, sondern eine christliche Werttheorie stehen.175 Troeltsch und Wobbermin konkretisieren mit ihren Bezugnahmen auf James die schon vor der Jahrhundertwende in der liberalprotestantischen Theologie formulierte Perspektive, die moderne Psychologie zur systematisch-theologischen Erkenntnisgewinnung heranzuziehen. Dieses Interesse wird bald auch von weiteren Theologen aufgegriffen.176 Auf Troeltsch wird dabei oft insofern Bezug genommen, als man ihm die Begründungsleistung für einen erkenntnistheoretischen Ergänzungsbedarf der modernen Religionspsychologie zurechnet.177 Troeltsch selbst beteiligt sich allerdings nach seiner Veröffentlichung von 1905 kaum mehr an der Auseinandersetzung.178 Wobbermin verschreibt sich­ dagegen im weiteren Verlauf der Debatte ganz der religionspsychologischen Thematik. Er entwickelt eine eigene Spezialmethode der Religionspsychologie, die sich trotz der nominellen Anknüpfung an James weit von ihm entfernt. Diese Methode versucht er sowohl für die Religionspsychologie als auch als theologisches Programm durchzusetzen.179 Ärztlich-therapeutischer und praktisch-theologischer Anschluss in der »Zeitschrift für Religionspsychologie« Den wichtigsten Dynamisierungsfaktor für die deutsche religionspsychologische Auseinandersetzung stellt ab April 1907 die an die US -amerikanische Entwicklung anknüpfende, monatlich erscheinende »Zeitschrift für Religions­ psychologie«180 dar. Initiiert wird diese von Johannes Bresler, einem unter an 172 Ebd. X . 173 Ebd. VII–XI. 174 Ebd. XVII. 175 Ebd. XII–XVII. 176 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 4 dieser Arbeit. 177 Bspw. Traub, Friedrich: Theologie und Philosophie, Tübingen 1910, 170; Faber: Wesen der Religionspsychologie 123. 178 So das weitgehend unveränderte Konzept in Troeltsch, Ernst: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, Erstveröffentlichung. In: Hinneberg, Paul (Hg.): Die Kultur der Gegenwart I,4 1909. In: Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften, Tübingen 1913, 452–499, hier 492–494. 179 Vgl. den folgenden Abschnitt 2.5. 180 Bresler, Johannes/Vorbrodt, Gustav: Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theologie und Medizin, Halle a. S. 1907–1912.

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derem durch seine Tätigkeit als Herausgeber der »Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift«181 fachlich gut vernetzten schlesischen Anstaltspsychiater.182 Zweiter Gründungsherausgeber neben Bresler ist der nach wie vor äußerst engagierte Gustav Vorbrodt, der zwischenzeitlich mit weiteren Publikationen183 sowie mit der Organisation eines mehrtägigen »religionspsychologischen Kursus«184 für interessierte Pfarrer und Pädagogen hervorgetreten war. Bresler und Vorbrodt beabsichtigen mit der »Zeitschrift für Religionspsychologie« eine Aufnahme der neuen US -amerikanischen Ansätze, die sie vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und religiösen Lage in Deutschland für dringend geboten halten. Ihrer Meinung nach droht der deutschen Religionsforschung der wissenschaftliche Anschlussverlust, wenn sie sich die in den USA erfolgreich etablierten neuen Methoden nicht schnellstmöglich aneignet. Noch wichtiger erscheint ihnen die Aneignung aus religionspraktischer Sicht, denn die Systematische und Praktische Theologie vermag ihrer Ansicht nach in der bisherigen Form nicht mehr mit den Herausforderungen umzugehen, die sich aus der beschleunigten Entwicklung der modernen Kultur und Lebensweise ergeben. Dies liegt für Bresler und Vorbrodt vor allem an ihrer wirklichkeitsfernen Ausrichtung, die über einen traditionellen »Doktrinarismus«185 und akademischen Historismus meist nicht hinausgelangt. Eine neue psychologische Umgangsweise soll dieses Problem beheben helfen, indem damit ein neuer Zugang zu den tatsächlichen religiösen Vorgängen »in den Tiefen der Seele«186 ermöglicht wird. Durch eine entsprechende Reform der theologischen Aus­ bildung soll der Seelsorger der Zukunft dann aus Sicht der beiden Herausgeber »nicht mehr stud. theol. et phil. sondern Theo-Mediziner«187 sein. Die Gründung der »Zeitschrift für Religionspsychologie« hat für die deutsche Auseinandersetzung um Religion und moderne Psychologie zur Folge, dass nun monatlich zwei bis drei religionspsychologische bzw. als religionspsychologisch ausgegebene Untersuchungen sowie weitere kleine Meldungen und Literaturdiskussionen erscheinen. Die von Bresler und Vorbrodt gesetzte, 181 Bresler, Johannes: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Halle a. S. 1899–1942. 182 Kreuter, Alma: Bresler, Johannes. In: Dies. (Hg.): Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1996, 181–186; Weygant, Wilhem: Zum 70. Geburtstag von­ Johannes Bresler. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 38 (1936), 49–53. 183 Vorbrodt: Zur Religionspsychologie 269; Ders.: The American Journal of Religious Psychology and Education. In: Theologische Literaturzeitung 31 (1906), 215–218. 184 Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 37–42. Vgl. auch Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus. In: Der Pfarrverein 17 (1906), 156–158 und 166; La Roche, Johannes: Vorbrodts Religionspsychologie. In: Die Studierstube (1906), 515–519. 185 Bresler/Vorbrodt: Zur Einführung 1. 186 Ebd. 187 Ebd. 3.

38  Religion und moderne Psychologie um 1900 stark praxisorientierte Ausrichtung wird dabei durch die Artikel breit abgedeckt. In methodischer Hinsicht wird die Programmatik der Herausgeber in den abgedruckten Artikeln allerdings konterkariert, denn ein nachvollziehbarer Anschluss an die systematischen Methoden der US -Forschung ist in der »Zeitschrift für Religionspsychologie« kaum zu finden. Vielmehr besteht ein nicht unerheblicher Anteil der Beiträge aus konventionellen philosophischen, theologischen oder historisch-kulturanthropologischen Essays, die nur thematisch188  – und dies teilweise auch nur entfernt189  – als religionspsychologisch bezeichnet werden können.190 Als empirische Vorgehensweise setzt sich außerdem, ebenfalls abweichend vom US -Vorbild, eine Perspektive der vergleichenden psychologisch-psychiatrischen Fallanalyse191 sowie der seelsorgerlichen Praxisreflexion192 durch. Für einen Dynamikschub in der Auseinandersetzung sorgt die Zeitschrift nicht nur durch die in ihr erscheinenden Artikel, sondern auch dadurch, dass sie in der Theologie von Anfang an kontrovers diskutiert wird. Sie zieht dadurch große Aufmerksamkeit auf die religionspsychologische Thematik. So finden sich theologische Stellungnahmen zwischen Begeisterung, vorsichtiger Skepsis und kompletter Ablehnung des Projekts: In einer Rezension in der Evangeli-

188 Beispielsweise Runze, Georg: Die psychischen Motive der Opfergebräuche in der Stufenfolge ihrer Entwicklung. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 81–99; Schwellenbach, Robert: Zum psychologischen Verständnis der Religion des Amerikaners. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 211–220; Weidel, Karl: Zur Psychologie des Dogmas. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 1–21. 189 Zum Beispiel Misch, G.: Die religiöse Selbstdarstellung und die Seelengeschichte in der hellenistischen Mystik. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 473–498; Conrady, A.: Die religiöse Anlage der Chinesen als Ausdruck des Volksgeistes. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), S. 199–203; Sperl, Friedrich: Die Konkordienformel und die Psychologie. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1909), 425–450. 190 Dies ist allerdings in der US -Zeitschrift, wenn auch in geringerem Maße, zum Teil der Fall. Vgl. dort beispielsweise Oosterheerrdt A.: Religion as a Matter of Feeling. In: The American Journal of Religious Psychology and Education 2 (1906–1907), 62–75; Whatham, Arthur E.: The Origin of Circumcision. In: The American Journal of Religious Psychology and Education 1 (1904–1905), 301–315; Hill, David Spence: The Education and Problems of the Protestant Ministry. In: The American Journal of Religious Psychology and Education 2 (1906–1907), 204–256. 191 Beispielsweise Hellpach, Willy: Religiöse Wahnbildung bei thyreogener Erregung. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 360–382; Jansen: Die psychische Epidemie in Hessen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 321–337; Bresler, Johannes: Das religiöse Schuldbewusstsein. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), 1–27, 53–78 und 98–112. 192 Zum Beispiel Katzer, E.: Sozial- und Individualseelsorge. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 162–169; Kleeman, E.: Die Religion der Verbrecher. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 498–508; Forck, Daniel: Die Seelsorge an den Paralytikern. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1909), 416–424 und 467–474.

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schen Kirchenzeitung wird etwa der »freie Forschergeist«193 der ZfRp gerühmt und das Urteil ausgesprochen, dass fast alle Aufsätze »von bleibendem Wert«194 sind. In der Theologischen Literaturzeitung äußert sich dagegen der Systematiker Otto Ritschl dagegen abwägend. Für ihn finden sich einerseits wertvolle Anregungen in der ZfRp, andererseits aber auch zu viele »Kuckuckseier«,195 die mangelnde Kenntnisse und Sensibilität der Beiträger gegenüber religiösen Fragen verraten.196 Oft wird zwar der Ansatz des Projekts begrüßt, der damit verbundene Anspruch oder eine als mangelhaft eingeschätzte Umsetzung allerdings kritisiert.197 Der Kirchenhistoriker Otto Scheel greift das Projekt in der »Zeitschrift für Theologie und Kirche« sogar scharf an, was dort über mehrere Nummern der Zeitschrift zu einem aufsehenerregenden Schlagabtausch mit Gustav Vorbrodt führt. Scheel wirft der in der Zeitschrift für Religionspsychologie vertretenen Programmatik und insbesondere auch Gustav Vorbrodt als Herausgeber Konfusität und Scharlatanerie sowie eine Gefährdung theologischer Fundamente vor.198 Vorbrodt bekräftigt dagegen die aus seiner Sicht auch theologische Notwendigkeit, sich an der Psychologie als moderner Grundwissenschaft und mit dieser viel stärker als bisher an der eigentlichen »inneren Lebenswirklichkeit« der Religion zu orientieren.199 Spiegelbildlich zu den teils skeptischen bis negativen Einschätzungen in der Theologie können einige Artikel in der ZfRp gesehen werden, die deutlich religions- oder kirchenkritische Töne anschlagen: So formuliert etwa Joseph­ Neupauer eine antireligiöse Polemik, in der er von »aufgezwungenen«200 religiösen Vorstellungen spricht und die Forderung stellt, im Interesse »der Freiheit und des Volkswohls«201 den Einfluss der Religion zurückzudrängen. ­Theodor Schröder konstatiert die angebliche Erotogenese der Religion, d. h. ihre kultur­

193 Budy: Rezension zur Zeitschrift für Religionspsychologie. In: Evangelische Kirchenzeitung vom 27.12.1908. 194 Ebd. 195 Ritschl, Otto: Rezension zu: Zeitschrift für Religionspsychologie. In: Theologische Literaturzeitung (1908), 521–523, hier 523. 196 Ebd. 521–523. 197 Rittelmeyer, Friedrich: Psychologie und Religionswissenschaft. In: Die Christliche Welt 22 (1908), 122–128 und 146–150, hier 149. 198 Scheel: Die Zeitschrift für Religionspsychologie 310 f. 199 Vorbrodt, Gustav: Religionspsychologie und Dogmatik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 17 (1907), 307–310; Ders.: Noch einmal: Religionspsychologie und Dogmatik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 17 (1907), 387–389; Ders.: Religionspsychologie als Methode und Objekt der Dogmatik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), 60–67. 200 Neupauer, Joseph: Philosophie und Religion. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 441–445, hier 443. 201 Ebd. 445.

40  Religion und moderne Psychologie um 1900 geschichtliche Entstehung aus dem, so Schröder, »Geschlechtsmechanismus«.202 Und auch Bresler tritt zwar nicht mit religions-, aber mit deutlich kirchenkritischen Vorschlägen hervor, indem er unter anderem eine Lehr- und Praxisreform der Theologie nach psychologisch-psychiatrischen Vorgaben und zu diesem Zweck eine Umwandlung der theologischen in religionswissenschaftliche Fakultäten fordert.203 Bereits im ersten Erscheinungsjahr kommt es vor dem Hintergrund dieser Kontroversen zum Rücktritt Vorbrodts von der Herausgeberschaft. Vorbrodt spricht in diesem Zusammenhang später von »bedauerlichen Blamagen, die der medizinische Herausgeber über die Psychologie, speziell die Religionspsychologie gebracht hat«.204 Obwohl die Zeitschrift für Religionspsychologie auf diese Weise von Anfang an in der Kritik steht, ist ihre Gründung für den Verlauf der deutschen Auseinandersetzung ein entscheidender Faktor. Durch ihr nun regelmäßiges Erscheinen bietet sie ein neues Forum für religionspsychologische Interessen. Sie setzt dabei außerdem einen spezifischen Akzent in der deutschen Debatte, indem sie eine medizinische Sichtweise einführt, die sich in dieser Form in der US -Debatte nicht findet. Damit findet über die ZfRP neben der neuen akademischen Fachpsychologie eine zweite Bezugsgröße, nämlich die im Anstaltswesen beheimatete Psychiatrie, Eingang in die religionspsychologische Auseinandersetzung. Parallel zur akademischen Fachpsychologie hatte sich auch diese seit den 1880er Jahren in einem Prozess des institutionellen Ausbaus und der fachlichen Profilierung befunden, in welchem sie ihre Patientenzahl fast verdreifacht, ein eigenes wissenschaftliches Paradigma entwickelt und sich schließlich 1901 als neues medizinische Einzelfach aus der Allgemeinmedizin gelöst hatte, in die sie bis dahin eingegliedert gewesen war.205

202 Schroeder, Theodore: Erotogenese der Religion. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 445–455, hier 455. 203 Bresler, Johannes: Religionshygiene, Halle a. S. 1907, 14; Ders.: Religionswissenschaftliche, nicht theologische Fakultäten. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 9 (1907), 201. 204 Vorbrodt, Gustav: Übersetzungs-Vorwort. In: Starbuck, Edwin Diller: Religionspsychologie. Empirische Entwicklungsstudien religiösen Bewusstseins, Leipzig 1909, V–XXV, hier XVI. 205 Roelcke, Volker: Die Entwicklung der Psychiatrie zwischen 1880 und 1932. Theoriebildung, Institutionen, Interaktion mit zeitgenössischer Wissenschafts- und Sozialpolitik. In: Vom Bruch, Rüdiger (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 109–124, hier 110–121; Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt, Göttingen 2010, 101–110, 131–135, 193–204; Schott, Heinz: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, 285–296.

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Neue Impulse aus der deutschen Fachpsychologie Ein weiterer Faktor der ab 1905 einsetzenden neuen Dynamik der religionspsychologischen Auseinandersetzung besteht in eigenständigen, also unabhängig von der US -Entwicklung formulierten Ansätzen aus der deutschen Fach­ psychologie. Von Wilhelm Wundt erscheinen 1905 und 1906 die ersten beiden von insgesamt drei Bänden zu »Mythos und Religion«206 im Rahmen seiner groß angelegten, bis 1920 in insgesamt zehn Bänden veröffentlichten »Völkerpsychologie«.207 Wundt arbeitet darin seine bereits in der »Ethik«208 skizzierte Religionstheorie an einem umfangreichen historischen Material aus. Weit in die Frühzeit menschlicher Kulturüberlieferung zurückgreifend, beschäftigt er sich dabei mit der frühen Seelen-, Natur- und Dämonenmythologie, die er als Vorgeschichte aller späteren Religionsentstehungen auffasst.209 Seine Religionspsychologie im Rahmen der Völkerpsychologie ordnet er in eine umfassende »Psychologie der Phantasie«210 ein, die er im ersten Band auch aus experimentellen Forschungen entwickelt.211 Der Anspruch, den Wundt erhebt, besteht einerseits in der Berichtigung der bisherigen Mythen- und Religionsgeschichte, die er als populärpsychologisch geprägt bzw. willkürlich und thesenhaft »aus irgendeiner Philosophie«212 entnommen kritisiert. Vor allem aber möchte er, so seine Absichtsbekundung, der Psychologie einen Gegenstandsbereich zugänglich machen, dem er eine große Bedeutung für die Fortführung ihres weiteren Erkenntnisfortschritts zumisst.213 Der Grund, Religion psychologisch zu untersuchen, liegt laut Wundt nicht nur darin, Religion verstehen zu wollen, sondern auch darin, auf diesem Wege der Psychologie »die Quellen einer für das Studium der Phantasievorgänge wie der Gemütsbewegungen unschätzbaren und unersetzbaren Erkenntnis zuzuführen.«214 Neben Wundt positioniert sich mit Hermann Ebbinghaus in den Jahren 1907 und 1908 ein weiterer bekannter deutscher Fachpsychologe zum Thema Religion. Ebbinghaus, der als Begründer der experimentellen Lern- und Gedächt 206 Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie. Zweiter Band: Mythus und Religion. Erster Teil, Leipzig 1905; Ders.: Völkerpsychologie. Zweiter Band: Mythus und Religion. Zweiter Teil, Leipzig 1906. 207 Ders.: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Leipzig 1900–1920. 208 Vgl. oben den Abschnitt 2.3. 209 Wundt: Völkerpsychologie 1905 X–XI; Ders.: Völkerpsychologie 1906, VII. 210 Ders.: Völkerpsychologie 1905 V. 211 Ebd. VII–X . 212 Ebd. IV. 213 Ebd. IV f. 214 Ebd. IV.

42  Religion und moderne Psychologie um 1900 nispsychologie gilt,215 nimmt Religion in seinem Überblick zur modernen Psychologie in der enzyklopädischen Reihe »Kultur der Gegenwart«216 sowie in seinem darauf aufbauenden, allgemeinverständlich angelegten »Abriss der Psychologie«217 in den Blick. Um empirische Forschungsarbeiten handelt es sich zwar in beiden Fällen nicht, wohl aber um die prominent platzierte und auch dementsprechend wahrgenommene218 Religionstheorie eines bekannten Vertreters der neuen Psychologie. In der Herleitung seiner Thesen folgt Ebbinghaus dabei noch am ehesten der historisch-kulturanthropologischen Vorgehensweise Wundts. Der Darlegung von Ebbinghaus zufolge stellt Religion eine »Anpassungserscheinung«219 der Psyche dar, mit deren Hilfe es dem Menschen gelingt, sein existenzielles Unsicherheitsempfinden angesichts der Unbeherrschbarkeit der Natur und der Unvorhersehbarkeit der Zukunft zu überwinden. Die Vorstellungen übermächtiger, aber für den Menschen erreichbarer Wesen, auf denen jegliche Religion aus Ebbinghaus’ Sicht aufbaut, müssen seiner Meinung nach existieren, da der Mensch ansonsten im Bewusstsein seiner Hilflosigkeit gegenüber der Natur versinken würde.220 Sie stellen seiner Meinung nach nichts anderes dar als »ein Mittel in dem großen Erhaltungskampf«.221 In ihren konkreten Inhalten und Praktiken ist Religion für Ebbinghaus wandelbar und kulturbestimmt. Sie hängt seiner Meinung nach wesentlich mit der Entwicklung von Herrschaft, Sittlichkeit und Wissenschaft zusammen, denen sie sich einerseits anpasst, zu denen sie aber andererseits auch immer wieder in Konflikt gerät. Ihren funktionalen Kern verliert sie dabei nicht, sodass sie sich auch nicht beseitigen lässt, sofern nicht zuvor ihre Ursache – die grundlegende existenzielle Furcht des Menschen – beseitigt werden kann.222 Als ein weiterer wichtiger Beitrag aus der deutschen Psychologie wird außerdem die 1908 von Heinrich Maier veröffentlichte »Psychologie des emotionalen Denkens«223 wahrgenommen,224 die eine detailliert ausgearbeitete psycho 215 Mühle, Günther: Ebbinghaus, Hermann. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd.  4, Berlin 1959, 216 f. 216 Ebbinghaus, Hermann: Psychologie. In: Hinneberg, Paul (Hg.): Die Kultur der Gegenwart, Abt. 1, Bd. 6 – Systematische Philosophie, Berlin und Leipzig 1907, 173–246, zu Religion ebd. 228–233. 217 Ebbinghaus, Hermann: Abriss der Psychologie, Leipzig 1908. 218 Vorbrodt, Gustav: Ebbinghaus’ Religionspsychologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), 212–225. 219 Ebbinghaus: Abriss 162. 220 Ebd. 161. 221 Ebd. 168. 222 Ebd. 160–168. 223 Maier, Heinrich: Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908; Zu Religion ebd. 24–26, 32 und 499–555. 224 Mayer, Emil Walter: Heinrich Maier über Religion. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910), 130–140.

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logische Religionstheorie enthält. Maier, der allerdings kein Vertreter der neuen Fachpsychologe im engeren Sinne ist, sondern ein neukantianisch orientierter Erkenntnistheoretiker und Philosophiehistoriker,225 versucht sich darin ebenso wie Wundt und Ebbinghaus an einem historisch-kulturanthropologischen Zugang in der religionspsychologischen Frage.226 In seiner Analyse stellt sich Religion wie bei Ebbinghaus als psychischer Mechanismus zur Bewältigung existentieller Unsicherheit heraus. Sie geht, so formuliert es Maier, auf einen »affektiven Phantasieprozess«227 zurück, in dem das erdrückende »Passivgefühl«228 eigener Macht- und Bedeutungslosigkeit gegenüber den Naturvorgängen in eine Sinn stiftende, vermeintlich beeinflussbare, höhere Kausalität überführt wird.229 Ebenso wie Ebbinghaus sieht auch Maier die jeweils konkreten Ausformungen von Religion als kulturbedingt an230 und ebenso wie für diesen hat sie auch seiner Meinung nach so lange Bestand, wie sich die psychische Grund­ konstitution des Menschen, sein Streben nach »Lebensbehauptung und Lebenssteigerung«,231 nicht ändert.232 Im Zusammenhang mit der Kulturentwicklung ergibt sich für Maier allerdings auch ein kaum lösbares Funktionsdilemma der Religion in der Moderne. Er geht davon aus, dass die Religion, um ihre Inhalte im Rahmen der modernen Wissensentwicklung aufrecht erhalten zu­ können, diese immer stärker rational-abstrakt formulieren muss. Damit geht für ihn eine Entfernung von der ursprünglichen religiösen Phantasieproduktion und damit ein Wirkungsverlust des ursprünglichen »affektiv-suggestiv be­gründeten«233 religiösen Mechanismus einher. Religion ist damit für Maier einerseits stabil, da sie auf einem dauerhaften Bedürfnis beruht, sie ist aber zugleich zunehmend labil, da ihre Funktionalität der modernen Kulturentwicklung nicht standhalten kann.234 Die Äußerungen von Wundt, Ebbinghaus und Maier sind insofern bemerkens­ wert und werden entsprechend breit wahrgenommen, als sich mit den drei genannten mehrere führende Kapazitäten der neuen Psychologie in die Auseinandersetzung einmischen. Die Debatte erhält dadurch außerdem eine weitere inhaltliche Facette, denn die Vorgehensweisen basieren in diesem Fall im Gegensatz zu den US -amerikanischen Ansätzen nicht auf aktuellen empirischen Erhebungen. Vielmehr werden historische Entwicklungsverläufe psychologisch 225 Segreff, Klaus-Werner: Maier, Heinrich. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin 1987, 694–696. 226 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 35–40. 227 Ebd. 512. 228 Ebd. 513. 229 Ebd. 509–516. 230 Ebd. 516–519. 231 Ebd. 547. 232 Ebd. 547 f. 233 Ebd. 547. 234 Ebd. 545–548.

44  Religion und moderne Psychologie um 1900 interpretiert, womit ein kulturhistorisch-anthropologisch orientierter Ansatz als methodische Option in die Debatte eingeht. Frühe Äußerungen zu Religion im Bereich der Psychoanalyse In der frühen Phase der deutschen religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 finden sich außerdem einige wenige Äußerungen zum Thema Religion von Vertretern der zu dieser Zeit langsam Gestalt annehmenden Psychoanalyse. So formuliert Sigmund Freud in seinem »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«235 in einer Randbemerkung die an Feuerbach orientierte These, dass die mythologische Weltauffassung, die seiner Meinung nach »bis in die modernsten Religionen«236 hineinreicht, zu großen Teilen nichts anderes ist, als »in die Außenwelt projizierte Psychologie«.237 Ausführlichere Einlassungen mit einer stärkeren eigenen Note finden sich von Freud dann 1907 in seinem in der Zeitschrift für Religionspsychologie veröffentlichten Beitrag »Zwangshandlungen und Religionsübung«.238 In diesem Artikel äußert Freud die Annahme, dass der Entstehung von Religion eine psychische Unterdrückungsleistung von, so Freud, »eigensüchtigen, sozialschädlichen Trieben«239 zugrunde liegt. Dadurch erklärt sich für ihn dann auch die Ähnlichkeit des religiösen Zeremoniells zu den Zwangshandlungen von Neurotikern, die für ihn in der Praxisbeobachtung evident erscheint. Seiner Meinung nach ist deshalb, so hält er fest, »die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.«240 Bemerkungen zu Religion aus dem Bereich der Psychoanalyse finden sich weiterhin bei dem engen Freud-Vertrauten Otto Rank. In seinem Werk »Der Künstler«241 von 1907 stellt Rank die Theorie auf, dass der Mensch seine unter­ bewussten Triebe in religiöse Ideen projiziert, um sie dadurch vor sich selbst zu rechtfertigen.242 Diese »Sublimierung des Psychischen«243 funktioniert laut Rank außerdem auch als Affektabfuhr, so dass Religion für ihn, ähnlich wie 235 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens 1907 (2. Aufl.). 236 Ebd. 82. 237 Ebd. 238 Freud, Sigmund: Zwangshandlungen und Religionsübung. In: Zeitschrift für Reli­ gionspsychologie 1 (1907), 4–12. 239 Ebd. 10. 240 Ebd. 11. Der Vorgang ist für Freud allerdings kulturell funktional: Ein Verzicht auf bestimmte Triebe ist ihm zufolge für die Kulturentwicklung notwendig und wird zum Teil von der Religion geleistet (ebd. 12). 241 Rank, Otto: Der Künstler, Wien und Leipzig 1907. 242 Ebd. 29. 243 Ebd. 36.

Die Debatte auf dem Höhepunkt  45

Kunst und Philosophie, als »psycho-therapeutische Massenkur« gesehen werden kann.244 Der Priester, so meint Rank, ist deshalb nichts anderes als »der ins Religiöse übersetzte Arzt«.245 Eine ausdrückliche Wahrnehmung oder Diskussion der frühen psychoanalytischen Thesen findet sich in der Auseinandersetzung um Religion und Psychologie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Noch 1908 beschäftigt sich beispielsweise ein Artikel zum Begriff des Unterbewusstseins in Bezug auf Religion ausschließlich mit dessen Konzeptualisierung durch William James.246 Auch Sigmund Freuds Artikel zu »Zwangshandlungen und Religionsübung«,247 der immerhin als erster Aufsatz im ersten Heft der Zeitschrift für Religionspsy­ chologie prominent platziert ist, löst noch keine größeren Reaktionen aus.

2.5 Um 1910: Die Debatte auf dem Höhepunkt Die deutsche religionspsychologische Auseinandersetzung erreicht um 1910 ihren Höhepunkt. Es kommt zu dieser Zeit zu einer großen Zahl programmatischer Veröffentlichungen, in denen eine weitere Ausdifferenzierung des Themas sowie zugleich eine Verfestigung besonders prägender Standpunkte, etwa von Vorbrodt, Wobbermin und Wundt, vollzogen wird. Zu den auf religiöser Seite nach wie vor dominierenden protestantischen Akteuren kommen nun vermehrt auch katholische Stimmen hinzu. Die Auseinandersetzung erreicht außerdem um 1910 eine Öffentlichkeitswirkung über die engeren Fachkreise hinaus, indem sie ins Feuilleton der bürgerlichen Presse und in populärwissenschaftlich orientierte Kulturzeitschriften Eingang findet.248 Die Entwicklung in der Psychologie Der US -amerikanische Einfluss auf die deutsche Debatte besteht auch in ihrer Hochphase fort, erfährt nun aber eine inhaltliche Differenzierung. War die Wahrnehmung der US -amerikanischen Entwicklung zunächst noch hauptsächlich von James’ Arbeiten geprägt, so geraten um 1910 auch die Arbeiten der Clark-Schule stärker in den Blick. Dies zeigen die zahlreichen Literatur­berichte

244 Ebd. 36–39. 245 Ebd. 52. 246 Beßmer, Julius: Die Religion und das sogenannte Unterbewusstsein. In: Stimmen aus Maria-Laach 76 (1908), 60–75. 247 Freud: Zwangshandlungen. 248 Beispielsweise Peters: Der sechste Internationale Psychologenkongress in Genf. In: Frankfurter Zeitung vom 31.08.1909; Goldstein, Julius: Moderne Religionspsychologie. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3 (1909), 7–26.

46  Religion und moderne Psychologie um 1900 und Überblicksskizzen zur Religionspsychologie, in denen die US -amerikanische Entwicklung nun sehr viel differenzierter dargestellt wird als noch wenige Jahre zuvor.249 Einen Beitrag zu dieser Differenzierung leistet nicht zuletzt auch Gustav Vorbrodt, indem er die Übersetzung von Starbucks »Psychology of Religion« initiiert, welche 1909 auf Deutsch unter dem Titel »Religionspsychologie. Empirische Entwicklungsstudien religiösen Bewusstseins«250 erscheint. 1911 erhält die internationale Orientierung der Debatte eine weitere Facette, als – wiederum von Vorbrodt initiiert – eine Übersetzung von religionspsychologischen Arbeiten des Schweizer Psychologieprofessors Théodore Flournoy veröffentlicht wird.251 Auf die Internationalisierung der Auseinandersetzung wirkt sich außerdem der im August 1909 in Genf abgehaltene Sechste Internationale Psychologische Kongress aus. Auf diesem finden sich nicht nur Einzelvorträge zu religionspsychologischen Forschungen, sondern es ist darüber hinaus eine übergreifende Diskussionsveranstaltung angesetzt, deren einleitende Referate von Harald Høffding und James Leuba gehalten werden.252 Diese Veranstaltung wird in der »Schweizerischen Kirchenzeitung« als die große Sensation des Kongresses geschildert, bei der es von Tag zu Tag schwieriger wurde, überhaupt noch einen Stehplatz im Auditorium zu erhalten.253 Auch die Tagespresse berichtet über die Veranstaltung, so beispielsweise die Frankfurter Zeitung, deren Korrespondent ebenfalls festhält, dass von den verschiedenen Diskussionsforen des Kongresses das religionspsychologische »die regste Teilnahme«254 zu verzeichnen hatte. Es wird die lebhafte Beteiligung Vorbrodts sowie ein insgesamt aufgeregter Diskussionsverlauf festgehalten, in dem die Diskutanten oft aus der fachlichen Erörterung »vermittelt oder unvermittelt mitten in die religiöse und antireligiöse Metaphysik hineingeraten.«255 249 Vgl. etwa den Unterschied zwischen Scheel und Rittelmeyer 1908 auf der einen und Lindworsky, Pfennigsdorf und Eckert 1910 auf der anderen Seite. (Vgl. Scheel, Otto: Die moderne Religionspsychologie. Vortrag gehalten am 11.  Oktober 1907 vor der Versammlung der Freunde der christlichen Welt in Marburg. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), 1–38; Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft; Lindworsky, Johannes: Die Religionspsychologie. Ein neuer Zweig der empirischen Psychologie. In: Stimmen aus­ Maria-Laach 78 (1910), 505–519; Pfennigsdorf, Emil: Der religiöse Wille, Leipzig 1910; Eckert: Religionspsychologie.) 250 Starbuck, Edwin Diller: Religionspsychologie. Empirische Entwicklungsstudien religiösen Bewusstseins. Deutsch übersetzt von Friedrich Beta, Leipzig 1909. 251 Flournoy, Théodore: Beiträge zur Religionspsychologie, Leipzig 1911. 252 Runze, Georg: Vom sechsten Internationalen Psychologenkongress in Genf. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), 209–213. 253 Schwander, Gregor: Psychologie und Religion. In: Schweizerische Kirchenzeitung (1909) 363–365, hier 364. 254 Peters: Der sechste Internationale Psychologenkongress. 255 Ebd.

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Neben der auf diese Weise fortgeführten Aufnahme internationaler Ansätze ist weiterhin die deutsche Zeitschrift für Religionspsychologie ein wichtiges Medium der Auseinandersetzung. In ihr erscheinen nach wie vor monatlich zwei bis drei als mehr256 oder weniger257 religionspsychologisch anzusehende Beiträge. Dabei bleibt der dominierende Zugang über psychiatrische und pastoraltheologische Praxisbeobachtungen allerdings erhalten. Entgegen der in der ersten Ausgabe von Bresler und Vorbrodt erhobenen Forderung nach einer engen Orientierung an den US -amerikanischen Forschungsansätzen finden sich weiterhin keine Arbeiten, die dies umsetzen. Im Gegenteil wird nun von Georg Runze, der anstelle von Vorbrodt als theologischer Mitherausgeber in die Redaktion eintritt, das eigene Profil der Zeitschrift auch programmatisch betont258 und gegen die inzwischen bekannter gewordenen statistisch basierten Analysen Starbucks polemisch in Stellung gebracht.259 Es ist, so meint Runze hierzu, sehr viel mehr aus den Beobachtungen zu lernen, die von »wahrhaft urteilsfähigen Geistern« stammen,260 nämlich von Seelsorgern, Ärzten­ sowie von »Dichtern und Denkern mit ihrem natürlichen Wahrheitssinn«,261 als aus der statistischen Auswertung dessen, »was Hinz und Kunz über ihre Erlebnisse fabeln und auf Umfragen antworten«.262 Damit nimmt die Zeitschrift für Religionspsychologie bereits in ihrem zweiten Erscheinungsjahr eine Abgrenzung von denjenigen Ansätzen vor, von denen sie ursprünglich ausgegangen war. In ihrem vierten Erscheinungsjahr vollzieht die Zeitschrift ab 1910 außerdem eine Annäherung an die Wundtsche Völkerpsychologie, da Wundts Assistent Otto Klemm, später der weltweit erste Inhaber eines Lehrstuhls für an­gewandte Psychologie,263 in die Redaktion eintritt.264 Vorausgegangen ist dieser Neuausrichtung der Zeitschrift, so teilen die Herausgeber zum Abschluss des dritten Jahrgangs mit, eine enttäuschende Entwicklung der Abonnentenzahlen. Durch einen Verlagswechsel in Verbindung mit einer breiteren programma 256 Beispielsweise Bresler: Das religiöse Schuldbewusstsein. 257 Zum Beispiel Schmidt, Erich Ludwig: Schopenhauers Beziehungen zur Mystik. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1909), 345–357; Stade, Reinhold: Der Verrat des Judas vom kriminalistischen Gesichtspunkt aus. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), 173–282 und 311–323. 258 Runze, Georg: Ist die Religionspsychologie eine besondere Wissenschaft? In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 185–190, hier 188. 259 Ders.: Vom sechsten Internationalen Psychologenkongress 212 f. 260 Ebd. 212. 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Loosch, Eberhard: Otto Klemm (1884–1939) und das Psychologische Institut in Leipzig, Berlin u. a. 2008, 28–42. 264 Runze, Georg/Bresler, Johannes: Mitteilung an unsere Leser, Mitarbeiter und Freunde! In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 1–12.

48  Religion und moderne Psychologie um 1900 tischen Ausrichtung sollen dieser Entwicklung neue Impulse entgegengesetzt werden.265 Klemm positioniert sich in seinem Einführungsartikel ganz auf der Linie Wundts. Die Psychologie religiöser Erscheinungen, so schreibt er, kann sich von der herkömmlichen »Vulgärpsychologie«266 nur dann erfolgreich absetzen, wenn sie anerkennt, dass ihr das religiöse Individuum nie isoliert, sondern immer schon in der Prägung durch eine bestimmte Religionsform entgegentritt. Ihr vordringliches Problem muss es seiner Meinung nach sein, die ursprüngliche Entstehung der einzelnen Religionsformen zu begreifen, womit sie auf die kulturhistorisch orientierte völkerpsychologische Herangehensweise verwiesen ist.267 Wundts »Völkerpsychologie«, deren abschließender Band zum Thema Religion 1909 erscheint, stellt dann auch – neben der Aufnahme internationaler Einflüsse und der Zeitschrift für Religionspsychologie – die dritte Kontinuität von psychologischer Seite in der Hochphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung dar. Wundt bringt nun seine Religionstheorie im Rahmen der »Völkerpsychologie« zum Abschluss.268 Der bereits in der »Ethik«269 behauptete enge funktionale Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit wird dabei bestätigt, nun allerdings differenziert als eine nicht konstante, sondern kulturgeschichtlich erst entstandene Eigenschaft dargestellt. Der Ursprung der religiösen Vorstellungen liegt für Wundt dagegen in der besonderen Eigenschaft der menschlichen Phantasie zur »belebenden und personifizierenden Apperzeption«,270 d. h. dazu, sich die Gegenstände und Vorgänge der Naturwelt als belebt zu erklären.271 Die Überhöhung dieser Erklärungen zu abstrakten, überweltlichen Mächten geschieht dann aus der Motivation, durch die Beeinflussung der so vorgestellten Mächte die Furcht vor dem unvorhersehbaren Naturverlauf zu überwinden.272 Erst im Verlauf der Kulturgeschichte wird die Religion schließlich zum Substrat der Sittlichkeit und diese wiederum zur nun wichtigsten Stütze der Religion.273 In der Summe ihrer bisherigen Entwicklung, so konstatiert Wundt, ist die Religion daher als eine »metaphysische-ethische Schöpfung«274 zu betrachten. Sie muss dies allerdings nicht bleiben, son 265 Runze, Georg: Zur Jahreswende. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1910), 337–340. 266 Klemm, Otto: Zur Einführung. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 2–9, hier 4. 267 Ebd. 4–7. 268 Wundt: Völkerpsychologie 1909 726–766. 269 Vgl. oben den Abschnitt 2.3. 270 Wundt: Völkerpsychologie 1905 583. 271 Ebd. 577–590. 272 Wundt: Völkerpsychologie 1909 599–601, 625–629 und 643–644. 273 Ebd. 751–753. 274 Ebd. 739.

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dern kann auch weiterhin in Verbindung zur Kulturentwicklung ihre Funktion verändern.275 In seinem 1911 erschienenen Buch »Probleme der Völkerpsychologie«276 positioniert sich Wundt außerdem kritisch gegenüber William James’ Religionspsychologie und ihrer durch Troeltsch und Wobbermin angeregten Rezeption in der deutschen Debatte. Seiner Meinung nach beruht diese Aufnahme auf einem gleich mehrfachen, zum Teil auch gewollten Missverständnis. Denn die als Psychologie wahrgenommene Untersuchung von James kann für Wundt in methodischer Hinsicht keinesfalls als solche anerkannt werden. Sie ist in ihrer Auswahl besonders expressiver Fälle von Anfang an tendenziös. Zudem verhält sich James nach Wundts Auffassung hauptsächlich deskriptiv und nur wenig kritisch gegenüber den aufgegriffenen Materialien. Allerdings ist die Untersuchung, so meint Wundt, von James selbst auch gar nicht als empirisch-­ psychologische Arbeit angelegt, sondern bloß als ein phänomenologischer Unterbau für seine pragmatisch-utilitaristische Religionsphilosophie.277 Troeltsch und Wobbermin wirft Wundt vor, ihrerseits kein tatsächliches Interesse an James’ Religionspsychologie zu hegen, sondern sie in ihrem Sinne religionsphilosophisch beziehungsweise theologisch ausdeuten zu wollen. Wobbermin, so Wundts Vorwurf, verfälscht aus dieser Intention heraus sogar das Werk James’, indem er in seiner Übersetzung kurzerhand das Schlusskapitel des englischsprachigen Originals tilgt.278 Nachdem zuvor die Zeitschrift für Religionspsychologie Kritik aus der Theologie auf sich gezogen hatte, bedeutet Wundts Intervention gegen Troeltsch und Wobbermin eine deutliche Kritik an dem nun stark zunehmenden theologischen Engagement in der Debatte. Es steht damit der Vorwurf im Raum, dass die theologischen Beiträge zur Debatte vor allem apologetischen Interessen folgen. Religionspsychologie in der protestantischen Theologie Besonders im Bereich der protestantischen Theologie expandiert die religionspsychologische Auseinandersetzung um 1910 stark. Es kommt nun zu einer Welle von entsprechenden Programmatiken protestantischer Theologen, die das komplette Spektrum zwischen Innovationseuphorie und Skepsis abdecken.

275 Ebd. 53–766. 276 Wundt, Wilhelm: Probleme der Völkerpsychologie, Gütersloh 1911. 277 Ebd. 102–107. 278 Ebd. 93 f. und 107–111. Die Herausnahme des Schlusskapitels aus der deutschen Übersetzung kritisiert zuvor auch schon Vorbrodt massiv. Vorbrodt geht dabei sogar noch weiter als Wundt und wirft Wobbermin vor, zentrale Begriffe des Werkes, bis hin zu dessen Untertitel, im Sinne seines eigenen Interpretationsinteresses verändert zu haben. Vgl. Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort X–XII.

50  Religion und moderne Psychologie um 1900 Die Anschlussinteressen an die Psychologie sind dabei vor allem praktisch motiviert. So sucht etwa der Pfarrer Rudolf Wielandt, ein Schüler von Ernst Troeltsch,279 in seinem »Programm der Religionspsychologie«280 den engen Anschluss zur neuen psychologischen Religionsforschung, die für ihn ein Gegenmittel zur Lebens- und Gegenwartsferne des dominierenden religionsgeschichtlichen Ansatzes in der Theologie darstellt.281 Seiner Meinung nach könnten religionspsychologische Einsichten in diesem Sinne in zahlreichen theologi­ schen Einzelfächern, mit besonders hohem Gewinn allerdings in der praktischen Theologie, verwertet werden.282 Friedrich Niebergall, ein bekannter Professor für Praktische Theologie,283 versucht sich mit einer ausführlichen Studie daran, die Nutzbarkeit der Religionspsychologie für die Praktische Theologie im Detail aufzuzeigen.284 Er kommt zu dem Schluss, dass sich durch eine bessere Kenntnis der seelischen Verlaufsformen religiöser Entwicklungen Seelsorge, Religionsunterricht, Predigt und andere Aufgaben des Pfarramts erheblich besser bewältigen lassen.285 Auch kann die moderne Psychologie der Praktischen Theologie seiner Meinung nach ein eigenes sicheres Verfahren zur Bestimmung ihrer Arbeitsziele an die Hand geben.286 Ähnliches versucht Emil Pfennigsdorf, ebenfalls Praktischer Universitätstheologe,287 durch eine von ihm vorgelegte »Psychologie des religiösen Willens« zu erreichen, die ein besseres Verständnis der subjektiven Antriebe zur Religion288 und damit ebenfalls eine Verbesserung der religiösen Praxis ermöglichen soll.289 Alfred Eckert, ein weiterer protestantischer Pfarrer, konzentriert sich dagegen auf die Ertragsmöglichkeiten der Religionspsychologie für die religiöse Jugenderziehung, indem er aus den Untersuchungen Starbucks über religiöse Wachstumsprozesse einen verbesserten Aufbau des Religionsunterrichts abzuleiten versucht.290 Bei all diesen Interpretationen wird das Anwendungsinteresse explizit in den Vordergrund gestellt. Man erhofft sich, aus einem besseren Verständnis psychischer 279 Graf, Friedrich Wilhelm: Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin u. a. 2014, 67. 280 Wielandt, Rudolf: Das Programm der Religionspsychologie. Vortrag, gehalten vor dem badischen wiss. Predigerverein zu Karlsruhe am 5. Juli 1910, Tübingen 1910. 281 Ebd. 3–6. 282 Ebd. 10–35. 283 Wesseling, Klaus-Gunther: Niebergall, Friedrich. In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6, Herzberg 1993, 708–717. 284 Niebergall, Friedrich: Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 19 (1909), 411–474. 285 Ebd. 461–474. 286 Ebd. 414 f. 287 Faulenbach, Heiner: Das Album Professorum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1818–1933, Bonn 1995, 228–233. 288 Pfennigsdorf: Der religiöse Wille 1–4. 289 Ebd. 18 f. 290 Eckert: Religionspsychologie 989–1002.

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Vorgänge praktischen Nutzen für die alltäglichen Anforderungen des Pfarramtes ziehen zu können. Andere Akteure, vor allem aus dem systematisch-theologischen Bereich, sorgen sich demgegenüber eher um eine Abgrenzung der Religionspsychologie­ gegenüber der Theologie bzw. um die Aufrechterhaltung theologischer Souveränität gegenüber dieser. So spricht Friedrich Traub der Religionspsychologie zwar ein »gewisses Verdienst«291 bei der »genauen und zuverlässigen Erfassung des Tatbestandes«292 zu. Er erhebt jedoch den Einwand, dass die eigentliche Hauptfrage der Theologie normativer Natur ist und sich an die Tatsachenfrage erst anschließt und keinesfalls einfach durch diese ersetzt werden kann.293 In ähnlicher Weise verweist Adolf Frey auf einen Nutzen der Religionspsychologie bei der Erschließung bisher vernachlässigter Erkenntnisquellen sowie als Hilfswissenschaft in der praktisch-theologischen Ausbildung.294 Eigentliche theologische Erkenntnis gelingt aber auch seiner Meinung nach nicht »irgend einer empirischen Wissenschaft, sondern einem ideellen, der Geist- und Vernunftseite des Menschen entsprießenden und entsprechenden Prozesse.«295 Offener zeigt sich demgegenüber in der protestantischen Systematischen Theologie Emil W. Mayer, nach dessen Ansicht die neue Religionspsychologie nur die methodische Aktualisierung einer eigentlich sehr alten und auch berechtigten Reflexionsform über Religion darstellt.296 Die neuen Zugänge müssten seiner Meinung nach zumindest erprobt werden,297 auch wenn er allzu hohe Erwartungen an den Ertrag für übertrieben hält.298 Gänzlich ablehnend tritt, wie bereits vor der Jahrhundertwende, Julius Kaftan auf. Seiner Meinung nach kann theologisch relevante Erkenntnis nur auf dem Weg historischer Einsicht299 sowie aus der Einsicht in die »der Religion selbst immanenten Gedankenbildung«300 zustande kommen. In den bisherigen religionspsychologischen Veröffentlichungen sieht Kaftan dementsprechend kaum bereichernde Beobachtungen enthalten. Sie stellen für ihn nur das Symptom einer allgemeinen zeittypischen Überschätzung der Psychologie dar.301 291 Traub: Theologie und Philosophie 162. 292 Ebd. 293 Ebd. 177–179. 294 Frey, Adolf: Eine Untersuchung über die Bedeutung der empirischen Religionspsychologie für die Glaubenslehre, Leiden 1911, 80 f. 295 Ebd. 87. 296 Mayer, Emil Walter: Über Religionspsychologie. In: Theologische Rundschau 14 (1911), 445–464, hier 449–456. 297 Ebd. 458. 298 Ebd. 447. 299 Kaftan, Julius: Zur Dogmatik und Glaubenspsychologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 21 (1911), 380–393, hier 391. 300 Ebd. 381. 301 Ebd. 387.

52  Religion und moderne Psychologie um 1900 Auffallend ist in den Bezugnahmen der protestantischen Theologen die Disparatheit methodologischer Äußerungen: Zwar zeigt sich nun allgemein eine relativ breite Orientierung über die unterschiedlichen Ansätze der neuen Religionspsychologie.302 Gerade bei den praktisch orientierten Anschlussversuchen an die Psychologie bleibt die beabsichtigte Methode aber weitgehend unklar. So wird etwa von Wielandt die Religionspsychologie methodisch nicht genauer festgelegt, sondern einfach als vielversprechendes Feld neuer wissenschaftlicher Möglichkeiten betrachtet, das er außerdem für vereinbar mit einer intuitiven »persönlichen« Herangehensweise hält.303 Auch bei Niebergall bleibt die angestrebte Methode unklar. So fordert er in seiner Studie unter anderem eine typologisierende Erfassung von Frömmigkeitsformen, bezieht sich dazu aber nicht auf eigentliche fachpsychologische Ansätze, sondern auf einen Aufsatz des Soziologen Max Weber.304 Emil Pfennigsdorf nimmt auf die moderne Religionspsychologie zwar Bezug, fordert dann aber eine zu dieser tatsächlich genau entgegengesetzte, nämlich »transzendentale«305 Herangehensweise. Seiner Meinung nach unterliegt das Gebiet der Religion einer eigenen, »von dem Naturgeschehen grundverschiedenen Art der Gesetzlichkeit«,306 der man sich vor der Durchführung empirischer Studien immer erst auf dem Weg zergliedernder »psychischer Begriffsanalyse«307 annähern muss.308 Ein besonders prägender Fürsprecher der Religionspsychologie im Rahmen der protestantischen Theologie ist auch um 1910 nach wie vor Gustav Vorbrodt. Dieser setzt sich nun vehement für die Rezeption der Ansätze der Clark-Schule ein und damit für eine seiner Meinung nach dringend notwendige methodologische Klärung in der Debatte. Vorbrodt formuliert in dieser Hinsicht eine ganz ähnliche Kritik an der zunächst die Debatte bestimmenden Rezeption von James’ Werken, wie dies wenig später Wilhelm Wundt tut. Aus Vorbrodts Sicht ist die Fokussierung auf James unangemessen und Starbuck demgegenüber der sehr viel grundlegendere und methodisch konsequentere Autor der US -amerikanischen Religionspsychologie, da seine statistische Herangehensweise exakter und der Zuschnitt der Arbeit nicht schon von einem bestimmten Deutungsinteresse bestimmt ist.309 In methodischer Hinsicht kritisiert Vorbrodt außerdem scharf die seiner Meinung nach Überhand nehmenden Versuche, 302 Beispielsweise in den entsprechenden Skizzen bei Mayer (Mayer: Über Religionspsychologie 1911), Eckert (Eckert: Religionspsychologie) und Pfennigsdorf (Pfennigsdorf, Emil: Religionsstatistik und Religionspsychologie. In: Geisteskampf der Gegenwart (1911)). 303 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 22–26 und 32 f. 304 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 424. 305 Pfennigsdorf: Der religiöse Wille VII. 306 Ebd. VI. 307 Ebd. 6. 308 Ebd. V–VII und 5–18. 309 Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort VI–XV.

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sich ohne ausreichende methodische Orientierung mit »eigenen, mehr oder weniger unvollkommenen Versuchen«310 religionspsychologisch zu betätigen. Wobbermins Methode ist für ihn in diesem Sinne »eine bedauerliche Verquickung von Psychologie und Erkenntnistheorie, die der tüchtige Denker doch recht bald aufgeben möge«.311 und Wundts »Völkerpsychologie« keine eigentliche Psychologie, sondern eine bloße, für sich genommen allerdings nicht uninteressante, Verbindung von Soziologie und Geschichte.312 Durch eine parallel von ihm verfolgte zweite Linie trägt Vorbrodt allerdings selbst gerade nicht zur geforderten Klärung, sondern eher zur anhaltenden Hetero­genität der Debatte bei. Bereits mit seinen Veröffentlichungen kurz nach der Jahrhundertwende möchte er mittels der modernen Psychologie einer neo­v italistisch inspirierten Sichtweise auf Religion zum Durchbruch verhelfen, in der das subjektive religiöse Erleben als Wirkmechanismus einer angeblichen, von ihm als transzendent und eigendynamisch aufgefassten Lebenskraft nachgewiesen werden soll.313 Religion soll in diesem Sinne auf einen »transzendentalen Wert von Vitalismus«314 verweisen bzw. als »psychovitalistischer«315 Vorgang wahrgenommen werden. Die Religionspsychologie soll dabei als »Psychobiologie«316 ausgeführt werden317 und sich in der Theologie in eine »christliche Lebenslehre«318 übersetzen. Dazu legt Vorbrodt außerdem noch das Konzept einer »biblischen Religionspsychologie«319 vor, die darauf beruhen soll, so seine Vorstellung, ein in der Bibel akkumuliertes Kulturwissen über psychologische Zusammenhänge mittels einer auf die moderne Psychologie gestützten Hermeneutik zu extrahieren.320 Wie dies konkret mit dem von ihm beworbenen Ansatz von Starbuck einhergehen soll, wird bei Vorbrodt allerdings ebenso wenig klar, wie es die methodischen Zugänge der von ihm angegriffenen Theologen sind.321 Weiterhin besonders prägend ist um 1910 Georg Wobbermin: Er nimmt zu der nun einsetzenden und insbesondere von Vorbrodt vorangetriebenen Wahr 310 Ders.: Stellung der Religionspsychologie zur Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910), 431–474, hier 435. 311 Ebd. 439. 312 Ebd. 313 Vorbrodt: Beiträge zur religiösen Psychologie 6–18; Ders.: Biblische Religionspsychologie. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 12–33 und 110–125, hier 18–20. 314 Ders.: Beiträge zur religiösen Psychologie 24. 315 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 446. 316 Ders.: Beiträge zur religiösen Psychologie; Ders.: Stellung der Religionspsychologie 445. 317 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 445–455. 318 Ders.: Biblische Religionspsychologie 18. 319 Ebd. 12–33 und 110–125. 320 Ebd. 23–24 und 30–33; Ders.: Stellung der Religionspsychologie 443. 321 Ebd. 434–436.

54  Religion und moderne Psychologie um 1900 nehmung der Arbeiten der Clark-Schule eine Gegenstellung ein und betont weiterhin die, seiner Meinung nach vollkommen berechtigte Anknüpfung an den Ansatz von William James. In genauer Umkehrung der Argumentation Vorbrodts meint Wobbermin, dass nicht schon die statistischen Korrelations­ analysen der Clark-Schule als eigentlicher religionspsychologischer Ansatz gewertet werden können, sondern erst eine darüber hinaus gehende hermeneutisch-kritische Ausdeutung wie sie von James vorgeführt wird. Das statistische Verfahren ist seiner Meinung nach erstens der unumgänglichen Verzerrungsgefahr bei der Übertragung von Quantitäten in Qualitäten ausgesetzt und es kann zweitens über die bloß phänomenale Erfassung der Religion im Psychischen nicht hinausgelangen. An diesem Punkt wird Wobbermins Meinung nach die von ihm als »transzendentalpsychologisches Verfahren«322 bezeichnete, hermeneutisch-kritische Deutungsarbeit nach dem Vorbild von James notwendig, die es ermöglichen soll, »die religiösen Erscheinungen in ihren letzten, treibenden Kräften zu verstehen und so diese selbst zu erklären«.323 Zwar bestätigt Wobbermin mit dieser Positionierung genau das, was ihm Vorbrodt und auch Wundt vorhalten, dass er nämlich, anders als James selbst, den psychologischen und den philosophischen Ansatz von James nicht unterscheidet, sondern beides zusammen als geschlossene psychologische Methode betrachtet. Wobbermin selbst ist jedoch der Ansicht, James sowie die Reli­ gions­psychologie insgesamt damit in die einzig mögliche Perspektive zu rücken, in der sie ihrem Gegenstand gerecht werden kann und einen Mehrwert für die Religionsbetrachtung bedeutet: Da für die Religion gerade ihr transzendentaler Aspekt das Charakteristische ist, muss sich auch die Psychologie methodologisch darauf einstellen und zu einer entsprechenden, transzendental orientierten Vorgehensweise gelangen.324 Im Anschluss an James, so meint­ Wobbermin, lässt sich eine solche Methodik entwickeln, was er selbst ab 1910 in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen darzulegen versucht. Dabei läuft das von W ­ obbermin postulierte Verfahren darauf hinaus, durch eine psychologisch gestützte Hermeneutik der religiösen Erfahrung deren Kernstrukturen herauszuarbeiten, aus deren Kenntnis wiederum der Rückschluss auf das Wesen und den eigentlichen lebensrelevanten Gehalt der Religion gelingen soll.325 322 Wobbermin, Georg: Zur religionspsychologischen Arbeit des Auslandes. In: Religion und Geisteskultur (1910), 233–246, hier 235. 323 Ders.: Rezension zu Starbuck, Religionspsychologie. In: Theologische Literaturzeitung 34 (1909), 660–664, hier 663. 324 Ders.: Aufgabe und Bedeutung der Religionspsychologie (1910). In: Ders.: Zum Streit um die Religionspsychologie, Berlin 1913, 1–27, hier 4; Ders.: Psychologie und Erkenntniskritik der religiösen Erfahrung (1911). In: Ders.: Zum Streit um die Religionspsychologie, Berlin 1913, 28–56, hier 35. 325 Ders.: Aufgabe und Bedeutung 9–13 und 16–21; Ders.: Erkenntniskritik der religiösen Erfahrung 45–47.

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In dieser Form soll die Religionspsychologie – hier ist Wobbermin dann ähnlicher Ansicht wie Vorbrodt – eine grundlegende Bedeutung für die Theologie gewinnen. Letztendlich handelt es sich seiner Meinung nach, wie schon in seinem Vorwort zu James’ »Varities« angemerkt,326 um nichts anderes als um die Einlösung von Schleiermachers Forderung, die Glaubenslehre nicht aus Tradition und Offenbarung, sondern unmittelbar aus dem inneren religiösen Leben abzuleiten.327 Religionspsychologie in der katholischen Theologie Auch in der katholischen Theologie werden um 1910 Anschlussüberlegungen an die Psychologie geäußert, die allerdings zurückhaltender formuliert sind als diejenigen der an der Debatte teilnehmenden protestantischen Theologen. So sieht der Jesuit und spätere Psychologieprofessor Johannes Lindworsky328 in den modernen religionspsychologischen Ansätzen einen »fruchtversprechenden Grundgedanken«.329 Die Religionspsychologie wird zwar seiner Meinung nach nicht »ein mystisches Etwas, einen ›religiöser Sinn‹ oder gar ein religiöses Gehirnzentrum«330 aufdecken, kann aber Auskunft darüber geben, welchen Besonderheiten die psychischen Kapazitäten des Menschen in der Bezugnahme auf religiöse Gegenstände unterliegen.331 Lindworsky geht davon aus, dass die Religionspsychologie einerseits in praktischer Hinsicht für »Erziehung und Seelenleitung«332 aufgegriffen werden kann.333 Andererseits kann sie seiner Meinung nach, eine angemessene »Grenzregulierung«334 vorausgesetzt, auch zu einem besseren Verständnis bestimmter theologischer Sachverhalte beitragen, nämlich insbesondere zur »Hebung der eigenen religionspsychologischen Schätze«,335 die der Katholizismus in Gestalt seiner reichen asketischen Litera­tur besitzt. Am besten geeignet für die religionspsychologische Arbeit sind seiner Meinung nach Geistliche, da diese die Religion sowohl aus der seelsorgerischen Praxis als auch durch ihre theologische Bildung am besten kennen.336

326 Ders.: Vorwort des Übersetzers. 327 Ders.: Der Kampf um die Religionspsychologie (1911). In: Ders.: Zum Streit um die Religionspsychologie, Berlin 1913, 57–78, hier 57–60. 328 Eirich, Hans: Lindworsky, Johannes. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 14, Berlin 1985, 619 f. 329 Lindworsky: Religionspsychologie 505. 330 Ders.: Religionspsychologie und Pädagogik. In: Pharus 2 (1911), 21–34, hier 22. 331 Ebd. 21 f. 332 Ders.: Religionspsychologie 510. 333 Ebd. 510; Ders.: Religionspsychologie und Pädagogik 23–25. 334 Ders.: Religionspsychologie 516. 335 Ebd. 519. 336 Ebd.; Ders.: Religionspsychologie und Pädagogik 34.

56  Religion und moderne Psychologie um 1900 Ähnlich wie Lindworsky positioniert sich der Fundamentaltheologe Arnold Rademacher,337 dem die religionspädagogische Bedeutung sowie auch der apologetische Nutzen der modernen Psychologie offensichtlich erscheinen. Seiner Meinung nach wird sich durch sie zeigen, wie »das religiöse Leben sich harmonisch in die Ordnung des natürlichen einfügen muss«.338 In theologischer Hinsicht kann von ihr vor allem die Erforschung der Asketik, aber auch der Heiligenbiographien profitieren. Sie braucht aber, so schränkt Rademacher ein, eine klare erkenntnistheoretische Begrenzung, ebenso wie eine »gelegentliche negative Orientierung an theologischen Prinzipien«.339 Geradezu begeistert zeigt sich nach dem Besuch des Sechsten Internationalen Psychologenkongresses in Genf der Benediktinerpater Gregor Schwander.340 Vor allem in praktischer H ­ insicht ist die Etablierung einer modernen Religionspsychologie seiner Meinung nach dringend notwendig. Er wünscht sich möglichst schnelle Fortschritte, da dem Geistlichen in der Seelsorge und in der religiösen Erziehung immer wieder psychologische Phänomene begegnen, denen er keinesfalls unkritisch oder gänzlich ahnungslos gegenübertreten kann. »Die Unkenntnis der psychologischen und physiologischen Faktoren«, so schreibt Schwander, »hat da schon viel Unheil gestiftet und zu schweren Irrtümern Anlass gegeben.«341 Schwander registriert erfreut, dass auch viele katholische Geistliche den Kongress besucht haben und möchte gerade die Katholiken zur verstärkten Mitarbeit an der Religionspsychologie auffordern, da die »einzigartige Bedeutung«342 für die Theologie seiner Meinung nach auf der Hand liegt.343 Genauso gibt es in der katholischen Theologie allerdings auch sehr deutliche Vorbehalte: Jakob Margreth rezensiert 1909 James »Varieties« als herausragendes Beispiel neuartiger Religionspsychologie. Er sieht diese im Gegensatz zu der für ihn nach wie vor einzig gültigen Philosophie und Erkenntnistheorie nach den Grundsätzen von Aristoteles. Eine Auseinandersetzung mit den Befunden der neuen Richtung ist deshalb für ihn müßig, weil schon ihre Grundlage nicht stimmt.344 337 Madey, Johannes: Rademacher, Arnold. In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 16, Herzberg 1999, 1310 f. 338 Rademacher, Arnold: Die Religionspsychologie. Ihre Entstehungsgeschichte, Methode und Bewertung. In: Theologie und Glaube 3 (1911), 633–647, hier 646. 339 Ebd. 645. 340 Kolb, Aegidius: Schwander, Gregor. In: Ders. (Hg.): Bibliographie der deutschsprachigen Benediktiner, 1880–1980, Bd. 2, St. Ottilien 1987, 344 und 367. 341 Schwander: Psychologie und Religion 364. 342 Ebd. 343 Ebd. 365, 373 f. 344 Margreth, Jakob: Amerikanische Religionspsychologie, in ihrer Grundlage geprüft. In: Der Katholik (1909), 223–229.

Die Debatte auf dem Höhepunkt  57

Auch der Dogmatikprofessor Constantin Gutberlet345 hält die neuen religionspsychologischen Ansätze für indiskutabel. Es wird dabei seiner Meinung nach in völlig haltloser Weise »Phänomenalismus, Immanentismus, Psychologismus als höchste und letzte Weisheit ausgeboten«.346 Die Ansätze sind für ihn oft »destruktiv«,347 da sie Religion »zu einer rein subjektiv-psychologischen Erscheinung degradieren«.348 Er hält sie für ein Vehikel für Pantheisten, Modernisten und sonstige Feinde des Katholizismus.349 Davon abgesehen, dass die Religionspsychologie offensichtlich nichts außer einem »Chaos von sich widersprechenden Meinungen«350 zutage fördert, ist sie für ihn ohnehin über­f lüssig, da es eine funktionierende und gültige Religionspsychologie in der Kirche schon lange gibt. Gutberlet verweist hierzu insbesondere auf die theoretischen Erörterungen von Augustinus und Thomas von Aquin sowie auf praktische Ansätze zur Glaubensvertiefung, wie sie sich etwa in der Kontemplation und nachvollziehenden Vertiefung in die Heiligenbiographien finden.351 Auffällig ist in der katholischen Rezeption die ungleich größere Skepsis, die sich speziell an James festmacht. Margreth wirft diesem einen fatalen Irrationalismus vor, der erkenntnistheoretisch so dürftig begründet ist, dass es sich verbietet, überhaupt noch einen Blick auf die von James dargebotenen Inhalte zu werfen.352 Für Gutberlet verliert sich James schlicht »ins Nebelhafte«.353 Aber auch die der Religionspsychologie gegenüber prinzipiell offenen Lindworsky und Rademacher sind James gegenüber skeptisch: Lindworsky ist der Ansicht, dass James zwar wertvolle Hinweise durch das von ihm zusammengetragene Material bietet, seine philosophischen Tendenzen aus katholischer Sicht aber scharf abgelehnt werden müssen.354 Ihn stört besonders, dass James mit einer angeblichen Hervorbringung der Religion aus Prozessen des Unterbewusstseins argumentiert, was für ihn nichts anderes darstellt als eine »großartige ›wissenschaftliche‹ Mystifikation«.355 Rademacher hält James ebenfalls das von ihm zutage geförderte Material zugute, kritisiert aber »die Unbefangenheit, um nicht zu sagen Kritiklosigkeit, mit der James die Äußerungen zum Teil sonst unbekannter und unbedeutender Personen, meist weiblichen Geschlechts, über ihre 345 Scheidt, Friedrich: Gutberlet, Constantin. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, 336 f. 346 Gutberlet: Religionspsychologie 147. 347 Ebd. 149. 348 Ebd. 148. 349 Ebd. 152–171. 350 Ebd. 173. 351 Ebd. 173–176. 352 Margreth: Amerikanische Religionspsychologie 225–229. 353 Gutberlet: Religionspsychologie 153. 354 Lindworsky: Religionspsychologie 507. 355 Ebd. 519.

58  Religion und moderne Psychologie um 1900 religiösen Erlebnisse […] hinnimmt und verwertet.«356 Auch James pragmatische Deutung ist für ihn problematisch.357 Weiterhin auffällig ist die oft vorgenommene Auslegung der Religionspsychologie als Produkt und Verkörperung bestimmter, nämlicher rationalistischer und subjektivistischer Tendenzen des Protestantismus. So sieht Lindworsky die moderne Religionspsychologie gleichermaßen von zwei Gruppen ausgehen, nämlich von den neuen empirisch orientierten Fachpsychologen und von protestantischen Theologen, »insoweit sie sich dem Rationalismus überantwortet hatten«.358 Diesen, so schreibt er, sind mit ihrem Anschluss an Kant die traditionellen philosophisch-theologischen Gottesbeweise abhandengekommen, weshalb sie sich zunehmend auf die Betrachtung der subjektiven religiösen Wahrnehmung als einzig noch erreichbarer Gewissheit über Religion verlegen.359 Gutberlet sieht dies ähnlich wie Lindworsky. Aus seiner Sicht ist die Religionspsychologie entstanden, indem sich »kantische Philosophie und protestantische Religiosität freundschaftlich die Hände reichen«.360 Allein dies ist für Gutberlet schon ein Grund größten Misstrauens und bei näherem Hinsehen zeigt sich außerdem, dass sich gerade Gegner des Katholizismus der Religionspsychologie bedienen.361 Auch Schwander, der die Religionspsychologie grundsätzlich positiv wahrnimmt, identifiziert sie mit dem Protestantismus. Er ruft allerdings in diesem Zusammenhang den Topos katholischer Inferiorität auf: Die Katholiken, so meint er, müssten, sofern sie ein Mitspracherecht erhalten wollen, auch ihre Mitarbeit an der neuen Wissenschaft sicherstellen. Davon ist seiner Meinung nach aber noch nicht viel zu bemerken, während die Protestanten durch ihre Mitarbeit an der Zeitschrift für Religionspsychologie bereits massiv Einfluss nehmen.362 Schließlich fällt der zumeist hergestellte Bezug zur mystischen Tradition auf, die als vordringlicher Gegenstand der Religionspsychologie oder gar als überkommene Parallele zu ihr gesehen wird.363 Lindworsky und Rademacher halten die Mystik jeweils für den bedeutendsten Gegenstand der Religionspsychologie, den diese neu vermitteln und in den sie neue Einsichten gewähren soll. So führt Lindworsky aus, dass in der asketischen Literatur bereits reichhaltige­ Beobachtungen über die subjektive religiöse Erfahrung vorliegen, so dass die 356 Rademacher: Religionspsychologie 638. 357 Ebd. 638 f. 358 Lindworsky: Religionspsychologie 505. 359 Ebd. 505 f. 360 Gutberlet: Religionspsychologie 148. 361 Ebd. 164–166. Hier liegt Gutberlet zwar in Bezug auf die antikatholische und subjektivierende Einstellung Herrmanns richtig. Allerdings tritt dieser gerade nicht als Fürsprecher, sondern als erklärter Gegner moderner Religionspsychologie auf. 362 Schwander: Psychologie und Religion 364. 363 Auch Wobbermin betont diese Verbindung. Vgl. Wobbermin: Aufgabe und Bedeutung 26 f.

Die Debatte auf dem Höhepunkt  59

neue Psychologie nun helfen kann, diese neu anzuerkennen und systematisch zu erfassen. Daraus können sich seiner Meinung nach wiederum weiterführende theologische Fragestellungen ergeben.364 Rademacher verspricht sich in ähnlicher Weise »ein ganz neues ansprechendes Aussehen«365 der asketischen Literatur durch die religionspsychologische Betrachtung.366 Margreth stellt der neuen Religionspsychologie die katholische Mystikforschung als unumgängliche »in Jahrhunderte langer Geistesarbeit entwickelte Wissenschaft«367 entgegen, die sie seiner Meinung nach nicht ignorieren darf. Und Gutberlet hält die Mystik sogar nicht nur für einen relevanten Gegenstand, sondern die Auseinandersetzung mit ihr für die, neben dem Anschluss an die scholastischen Seelenlehren, eigentlich geeignete Methode zur Befriedigung religionspsychologischer Interesse.368 Oskar Pfister und die Psychoanalyse Auch der psychoanalytische Diskurs expandiert während der Hochphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung, was vor allem mit dem Einsatz von Oskar Pfister zu tun hat, der nun zum Grenzgänger zwischen protestantischer Theologie und Psychoanalyse wird. Pfister, dessen frühe Äußerungen zur modernen Psychologie bereits in Richtung einer inhaltlichen und praktischen Neubelebung der Theologie durch die Psychologie weisen,369 kommt 1908 in Kontakt mit der Psychoanalyse, als er den ebenfalls in Zürich beheimateten Carl Gustav Jung zu Problemen seiner Seelsorgetätigkeit konsultiert. Unter der Anleitung von Jung versucht sich Pfister an eigenen psychoanalytischen Interventionen in schwierigen Seelsorgefällen, von deren Resultaten er sofort begeistert ist. Er sucht dann brieflich auch zu Sigmund Freud Kontakt, besucht psychoanalytische Kongresse, unterzieht sich einer Lehranalyse bei Franz Riklin und beginnt eine intensive Praxis- und Publikationstätigkeit, die den Versuch darstellt, die Psychoanalyse für Seelsorge und Theologie sowie darüber hinaus auch für die allgemeine Pädagogik fruchtbar zu machen.370 Pfisters seit 1909 erscheinenden psychoanalytisch-theologischen Arbeiten sind auf der einen Seite praktisch orientiert. Pfister berichtet von zunächst aussichtslos erscheinenden Seelsorgefällen, in denen ihm mit dem neu erlernten psy 364 Lindworsky: Religionspsychologie 519. 365 Rademacher: Religionspsychologie 647. 366 Ebd. 645–647. 367 Margreth: Amerikanische Religionspsychologie 228. 368 Gutberlet: Religionspsychologie 173–176. 369 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie. 370 Nase, Eckart: Pfister, Oskar. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, 337 f.; Nase, Eckart: Oskar Pfisters analytische Seelsorge, Berlin u. a. 1993, 566–574.

60  Religion und moderne Psychologie um 1900 choanalytischen Ansatz schnell der Durchbruch gelingt.371 Er bedient sich dabei der von Jung zu Forschungszwecken entwickelten »Assoziationsmethode«,372 bei der Spontanreaktionen auf vorgegebene Reizworte ausgewertet werden. Durch Berichte über begleitende körperliche Reaktionen bei derartigen Experimenten angeregt, versucht Pfister sich daran, die Methode auch therapeutisch zur »Abfuhr«373 und »Reintegration«374 von pathologischen Verdrängungs- und Übertragungsleistungen zum Einsatz zu bringen.375 Die Aufstellung der Reizworte lässt sich, seinem Bericht nach, von Sitzung zu Sitzung verfeinern, so dass nicht nur schnell eine Art »geistiges Röntgenbild«376 des zu Analysierenden, sondern auch die gewünschte Dynamisierung und Ab­reaktion der pathologischen Komplexe gelingt.377 Aus der für ihn offensichtlichen Fruchtbarkeit der neuen Methode leitet Pfister die Forderung einer grundsätzlichen psychoanalytischen Neuorientierung der Seelsorge und Religionspädagogik ab. Nur auf diesem Weg, so meint er, kann ein Pfarrer noch verantwortlich mit den ihm »anvertrauten Seelen«378 umgehen. Auf er anderen Seite versucht sich Pfister auch an der Gewinnung normativer Perspektiven mithilfe der Psychoanalyse, indem er diese zur Religiositäts­ beurteilung heranzieht. Anhand historischer Fallstudien arbeitet Pfister sich dabei insbesondere an schwärmerisch-pietistischen und mystisch-asketischen Religiositätsformen ab. So widmet er sich der pietistischen Religiosität am Beispiel des Stifters der Herrnhuter Brüdergemeinde, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf,379 dessen Leben und Werk für ihn in der psychoanalytischen Durchsicht zur Diagnose einer »riesigen infantilen Sexualverdrängung«380 führen. Pfister stellt außerdem eine sadomasochistische Komponente und eine homosexuelle »libidinöse Übertragung auf Jesus«381 fest, die sich für ihn durch 371 Pfister, Oskar: Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung. In: Evangelische Freiheit  – Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur 9 (1909), 108–114, 139–149 und 175–189; Ders.: Psychanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik. In: Protestantische Monatshefte 13 (1909), 6–42; Ders.: Die Psychanalyse als wissenschaftliches Prinzip und seelsorgerische Methode. In: Evangelische Freiheit – Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur 10 (1910), 66–73, 102–113, 137–146 und 190–200. 372 Ders.: Psychanalytische Seelsorge 15. 373 Ebd. 24. 374 Ebd. 375 Ebd. 15–24. 376 Ebd. 36. 377 Ebd. 32–40. 378 Ebd. 379 Pfister, Oskar: Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus, Wien 1910. 380 Ebd. 104. 381 Ebd. 107.

Die Debatte auf dem Höhepunkt  61

kindliche Traumata des Grafen erklären lassen.382 Zur Untersuchung mystisch-asketischer Religiosität zieht Pfister die spätmittelalterliche Mystikerin Margareta Ebner als Fallbeispiel heran.383 Deren Vita und Schriften entschlüsselt Pfister psychoanalytisch als »Chronik ihrer primär und sublimiert hysterischen Erscheinungen«.384 Auch hier zeigt sich seiner Meinung nach eine fehlgeleitete Sexualsublimation als Ursache.385 Zusammen mit Zinzendorf betrachtet ergibt sich dann, dass die Übertragung des Erotischen ins Religiöse, wie sie den untersuchten Religiositätsformen zugrunde liegt, als pathologisch betrachtet werden muss. Sie nimmt dort pervertierte Ausdrucksformen an, während zugleich der normale, zu »ethisch produktiven, sozialen und kultu­ rellen Leistungen«386 führende Sublimationsvorgang des Sexuellen unterbunden wird.387 Sowohl Pfisters praktische als auch seine normativen Nutzungsversuche der Psychoanalyse rufen jeweils umgehend Widerspruch hervor. So wendet sich der bekannte Philosoph und Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster entschieden gegen den, für ihn »sehr irritierenden«388 Versuch Pfisters, Psychoanalyse und Seelsorge zu verbinden. Seiner Meinung nach ist der vorgeblich wissenschaftliche Ansatz der Psychoanalyse nicht als solcher zu rechtfertigen, sondern beruht auf einer gänzlich der subjektiven Willkür überlassenen Deutungstätigkeit. Darüber hinaus ist die vor diesem Hintergrund immer weiter eskalierende »Freudsche Sexualphilosophie«389 für Foerster schlichtweg »antireligiös«.390 Sie muss seiner Ansicht nach früher oder später die religiöse Lebensanschauung ihrer Anhänger zersetzen, wofür er Pfister selbst als ein deutliches Beispiel sieht.391 In ähnlicher Weise richtet sich Hugo Lehmann, ein regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift für Religionspsychologie, gegen Pfisters Zinzendorf-Deutung, die seiner Meinung nach »einseitig die Frömmigkeit des Grafen sexualisiert«.392 382 Ebd. 104–107. 383 Pfister, Oskar: Hysterie und Mystik bei Margareta Ebner (1291–1351). In: Zentralblatt für Psychoanalyse 1 (1911), 469–485. Auch erschienen in Zeitschrift für Religionspsychologie 5 (1911), 263–271. 384 Ders.: Hysterie und Mystik 468. 385 Ebd. 477–482. 386 Ebd. 483. 387 Ebd. 482–85. 388 Foerster, Friedrich Wilhelm: Nochmals Psychoanalyse und Seelsorge. In: Evangelische Freiheit – Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur 10 (1910), ­263–275, hier 263. 389 Ebd. 273. 390 Ebd. 391 Ebd. 272–273. 392 Lehmann, Hugo: Zinzendorfs Frömmigkeit und ihre Bedeutung. In: Zeitschrift für­ Religionspsychologie 4 (1910), 285–300, hier 300.

62  Religion und moderne Psychologie um 1900 Von Pfister und der direkten Reaktion auf seine Untersuchungen abgesehen bleibt die Psychoanalyse ein Randthema der religionspsychologischen Aus­ einandersetzung. Sie wird zwar von Akteuren und Beobachtern der Debatte gelegentlich erwähnt, dabei jedoch nicht als ein besonders drängender Gegenstand der Auseinandersetzung in Betracht gezogen.393 In umgekehrter Weise spielt auch das Religionsthema, von Pfister abgesehen, im psychoanalytischen Diskurs weiterhin nur eine Nebenrolle. Entsprechende Äußerungen, etwa von Karl Abraham oder Adolf Joseph Storfer, tragen ebenfalls den Charakter von Randbemerkungen und gehen inhaltlich über die zuvor von Freud und Rank formulierten Thesen nicht hinaus.394

2.6 Vor dem Ersten Weltkrieg: Erschöpfung, Neuansatz und vorläufiges Ende der Auseinandersetzung Als Spätphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 können die Jahre 1912 bis 1914 gesehen werden, da hier die Debatte ein ambivalentes Bild zwischen Stagnation und neuen Impulsen zeigt. Zur Stagnation kommt es vor allem hinsichtlich der bisher im Vordergrund stehenden Entwicklungslinien. Andererseits entfalten sich parallel neue Dynamiken, die zum Teil auch als Überwindung der früheren Entwicklungen intendiert sind. Aufgrund des Kriegsausbruchs 1914 kommen diese allerdings nicht mehr zur vollen Entfaltung. Stagnation bisheriger Entwicklungslinien in der Fachpsychologie Zu einer deutlichen Stagnation kommt es ab 1912 vor allem in den bisherigen fachpsychologischen Entwicklungslinien der Auseinandersetzung. So werden von Seiten der deutschen Fachpsychologie nach dem Abschluss von Wilhelm Wundts viel beachteten drei Bänden zu »Mythus und Religion« im Rahmen seiner »Völkerpsychologie« keine weiteren Forschungsarbeiten mehr unternommen. Auch Wundts Assistent Otto Klemm, der seit 1910 immerhin Mitherausgeber der Zeitschrift für Religionspsychologie ist, veröffentlicht keine eigenen religionspsychologischen Studien mehr.

393 Beispielsweise Wielandt: Programm der Religionspsychologie 33; Vorbrodt, Gustav: Einleitung des Herausgebers. In: Flournoy, Théodore: Beiträge zur Religionspsychologie, Leipzig 1911, I–LII, hier XII; Rade, Martin: Rade über Psychoanalyse. In: Die Christliche Welt 25 (1911), 718. 394 Abraham, Karl: Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie, Leipzig und Wien 1909, 69; Storfer, Adolf J.: Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine Rechtsgeschichtliche und Völkerpsychologische Studie, Leipzig und Wien 1911, 4 f.

Erschöpfung, Neuansatz und vorläufiges Ende der Auseinandersetzung  63

Zwar findet die religionspsychologische Thematik nun Eingang in zwei große psychologische Lehrwerke, nämlich in das 1912 von Theodor Elsenhans veröffentlichte »Lehrbuch der Psychologie«395 sowie in den von Ernst Dürr nach dem Tod von Hermann Ebbinghaus weitergeführten und 1913 veröffentlichten zweiten Band der »Grundzüge der Psychologie«.396 Die Behandlung des­ Themas ist dort aber, dem Lehrbuchcharakter entsprechend, in erster Linie synthetisierend. Elsenhans referiert auf nur wenigen Seiten den religionspsychologischen Debattenverlauf, wobei er die US -amerikanischen Autoren, die deutsche Zeitschrift für Religionspsychologie sowie auch eine Reihe theologischer Beiträge berücksichtigt. Wundt, Ebbinghaus und Maier finden bei ihm bemerkenswerterweise keine Erwähnung. Für Elsenhans besteht das Ergebnis der bisherigen religionspsychologischen Debatte darin, dass Religion psychologisch als Gefühlsfunktion bestimmt werden kann. Diese, so hält er fest, dient zugleich der Idealbildung und der Überwindung von Lebenshemmungen des Menschen angesichts der Herausforderung der Außenwelt, wobei sie sich individuell und kulturell weit ausdifferenzieren kann.397 Dürr verarbeitet ebenso wie Elsenhans die vorangegangene Debattenentwicklung, aus der er verschiedene psychische Funktionen, Auswirkungen und Entwicklungsstadien von Religion entnimmt.398 Er stellt diese in den Rahmen einer an der Philosophie H ­ egels orientierten Gesamtdeutung, in der sich das eigentliche Wesen der Religion, ungeachtet ihrer sonstigen psychischen Aspekte, als Erfassen des »Weltgeistes«399 darstellt, zu dem der Mensch durch sie in Beziehung tritt.400 Obwohl der Begriff der Religionspsychologie mit der Aufnahme in die beiden psychologischen Lehrbücher in gewisser Art und Weise kanonisiert wird, bleibt dies weitgehend ohne Konsequenzen. Wahrnehmbare Impulse gehen von beiden Beiträgen für die Auseinandersetzung nicht aus. Zugleich stagnieren auf psychologischer Seite auch die zuvor wichtigen internationalen Impulse. Gustav Vorbrodt versucht zwar, mit der von ihm in Auftrag gegebenen und unter dem Titel »Beiträge zur Religionspsychologie«401 veröffentlichten Zusammenstellung von Arbeiten des Schweizer Psychologen Théodore Flournoy noch einmal eine neue internationale Perspektive in die Auseinandersetzung einzuführen. Die von ihm erhoffte Beachtung findet der neovitalistisch geprägte Ansatz Flournoys jedoch in der deutschen Auseinandersetzung nicht. Vor allem verliert nun die internationale Entwicklung auch selbst an Dynamik. Von dem in der deutschen Debatte zuvor breit ­rezipierten 395 Elsenhans, Theodor: Lehrbuch der Psychologie, Tübingen 1912. 396 Dürr, Ernst: Grundzüge der Psychologie, 2. Bd., Leipzig 1913. 397 Elsenhans: Lehrbuch 295–299. 398 Dürr: Grundzüge 529–590. 399 Ebd. 528. 400 Ebd. 524–538. 401 Flournoy: Beiträge.

64  Religion und moderne Psychologie um 1900 William James, der bereits 1907 verstirbt, sowie von Edwin Starbuck, dem zweiten einflussreichen US -amerikanischen Autor, folgen keine bedeutenden Veröffentlichungen mehr. Das American Journal of Religious Psychology and­ Education erscheint im vierten Jahrgang 1910/11 in deutlich dünnerer Form als zuvor – es sind darin nur noch sieben anstatt der zuvor jeweils 14 bis 15 Artikel enthalten – und wird dann aufgrund des offensichtlichen Mangels an weiteren Beiträgen ganz eingestellt.402 Die internationalen Referenzwerke, von denen in der deutschen Auseinandersetzung ausgegangen wird, sind damit nach wie vor die um die Jahrhundertwende erschienenen Monographien von James und Starbuck beziehungsweise ihre deutschen Übersetzungen aus den Jahren 1907 und 1909. Am schwersten wiegt in der Stagnation der bisherigen psychologischen Entwicklungslinien der Auseinandersetzung, dass auch die deutsche Zeitschrift für Religionspsychologie, wie zuvor schon das amerikanische Journal, in zunehmende Schwierigkeiten gerät und schließlich mit dem Abschluss des sechsten Jahrgangs Anfang 1913 eingestellt wird. Die Geschichte der Zeitschrift ist – wie geschildert  – von Anfang an turbulent. Ernsthafte Komplikationen zeichnen sich bereits in der Hochphase der Auseinandersetzung um 1910 ab, als mit Otto Klemm ein dritter Herausgeber hinzugenommen, der Verlag gewechselt und eine programmatische Öffnung in Richtung völkerpsychologischer Beiträge angekündigt wird.403 Eine wirtschaftliche und inhaltliche Stabilisierung der Zeitschrift scheint in ihrem vierten Jahrgang zunächst zu gelingen. Der fünfte Jahrgang 1911/12 ist aber bereits durch einen Rückgang der Beiträge um etwa ein Viertel im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre geprägt, während die Beitragszahl im sechsten Jahrgang 1912/13 schließlich noch einmal auf etwas weniger als die Hälfte des Vorjahres zurückgeht.404 Auch der inhaltliche Qualitätsverlust ist dabei offensichtlich. Es kommen nun vermehrt Zweitabdrucke, Glossen und Repliken anstelle von Originalarbeiten und programmatischen Schriften vor. Zugleich entfernen sich die Themen zunehmend weiter von der religionspsychologischen Fragestellung im engeren 402 Van Belzen: Religionspsychologie 27. 403 Siehe die Darstellung im vorangegangenen Abschnitt 2.5. 404 Beide Jahrgänge werden nun hauptsächlich von Otto Klemm redigiert, der bis auf zwei Ausgaben (die Hefte 7/8 und 12 des sechsten Jahrgangs) als alleiniger Schriftleiter aufgeführt ist, während Johannes Bresler gar nicht mehr auftaucht. Klemms aktives Interesse scheint von Anfang an nicht besonders hoch gewesen zu sein: Er publiziert selbst nur einen kurzen Programmaufsatz zu seiner Einführung als Mitherausgeber (Klemm: Einführung 2–9.) und zwei Kongressberichte (Ders.: Der vierte Kongress der Gesellschaft für experimentelle Psychologie. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 64–68; Ders.: Der Weltkongress für freies Christentum. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 208–211) in der ­Zeitschrift für Religionspsychologie und tritt auch an anderer Stelle nicht als Religions­ psychologe in Erscheinung.

Erschöpfung, Neuansatz und vorläufiges Ende der Auseinandersetzung  65

Sinne.405 Symptomatisch für diese Entwicklung ist eine längliche Arbeit über die »Genesis der Hegelschen Religionsphilosophie«,406 die – ohne ersichtliche Berührung mit dem Thema der Zeitschrift – über eine Strecke von insgesamt fünf Ausgaben in den letzten beiden Jahrgängen zum Abdruck kommt. Anfang 1913 teilen die Herausgeber schließlich mit, dass die Zeitschrift aufgrund der schlechten Entwicklung der Abonnentenzahl und der Schwierigkeit, neue Beiträge zu gewinnen, eingestellt wird.407 Vor allem das mangelhafte Engagement »von Seiten der führenden Autoritäten auf dem Gebiete unserer Wissenschaft«408 ist aus Sicht der Herausgeber für diese Entwicklung verantwortlich. Die regelmäßigen Anfragen nach einer Mitarbeit, so teilen sie mit, wurden immer wieder zurückgewiesen, oft »unter Geltendmachung bloß äußerer Beweggründe«.409 Obwohl das Projekt aus ihrer Sicht einen vielversprechenden Anfang genommen hatte, sehen sie es unter diesen Bedingungen als nicht mehr fortführbar an.410 Parallel zum Niedergang der Zeitschrift für Religionspsychologie ändert die ebenfalls 1907 gegründete Zeitschrift »Religion und Geisteskultur« ihren Untertitel von »Zeitschrift für religiöse Vertiefung des modernen Geisteslebens«411 in »Zeitschrift zur Förderung der Religionsphilosophie und Religionspsychologie«.412 In ihr waren bereits zuvor einzelne, zumindest der Themenstellung nach religionspsychologisch orientierte Beiträge erschienen.413 Nun findet dort etwa ein umfangreicher Beitrag zu »Ungewöhnlichen Äußerungen religiösen Lebens und geistiger Abnormität«414 des Psychiaters Friedrich Mörchen Auf 405 Beispielsweise Zahlfleisch, Johannes: Ist Kontinuität in der Entwicklung des Denkens der Welt? In: Zeitschrift für Religionspsychologie 5 (1911), 148–161; Kanogoki, K.: Der­ Shintoismus und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1912), 57–70; Lehmann, Hugo: Staatswille und Kirchenwille. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1913), 388–398. 406 Eber, H.: Zur Genesis der Hegelschen Religionsphilosophie. In: Zeitschrift für Reli­ gionspsychologie 5 und 6 (1912), 309–327, 345–367, 1–28, 37–57, 73–90 und 105–129. 407 Runze, Georg/Klemm, Otto/Bresler, Johannes: Mitteilung an unsere Leser, Mitarbeiter und Freunde. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1913), 373 f. 408 Ebd. 373. 409 Ebd. 410 Ebd. 373 f. 411 Steinmann, Theophil (Hg.): Religion und Geisteskultur. Zeitschrift für religiöse Vertiefung des modernen Geisteslebens, 1907–1911. 412 Ders. (Hg.): Religion und Geisteskultur. Zeitschrift zur Förderung der Religionsphilosophie und Religionspsychologie, 1912–1914. 413 Beispielsweise Keßler, Lina: Zur Psychologie und Religion. Versuch einer Auseinandersetzung mit H. Ebbinghaus. In: Religion und Geisteskultur 3 (1909), 216–224; Joel, Karl: Psychologie des Atheismus. In: Religion und Geisteskultur (1909), 272; Wobbermin: Zur religionspsychologischen Arbeit des Auslandes. 414 Mörchen, Friedrich: Ungewöhnliche Äußerungen religiösen Lebens und geistiger Abnormität. In: Religion und Geisteskultur 6 (1912), 211–261.

66  Religion und moderne Psychologie um 1900 nahme, der zuvor mehrfach in der ZfRp veröffentlicht hatte.415 Auch ein Aufsatz des Amerikaners Leuba416 wird veröffentlicht sowie ein Überblicksbeitrag zur Entwicklung der religionspsychologischen Methodenfrage.417 Im Gesamtbild bleibt die Zeitschrift jedoch klar ihrem schon zuvor verfolgten religionsund kulturphilosophischen Ansatz in einer stark neuidealistischen Ausprägung verpflichtet.418 Eine Aufnahme und neue Belebung des zuvor von der ZfRp verfolgten Ansatzes findet dort nicht statt. Dynamikverlust bisheriger Entwicklungslinien in der Theologie Auch auf der Seite der Theologie kommt es in der Spätphase der Auseinandersetzung um Religion und Psychologie zu einem spürbaren Dynamikverlust in den bisherigen Entwicklungslinien. Dieser ist in der Theologie allerdings weniger klar ausgeprägt als im psychologischen Bereich. So werden von Theologen nach wie vor neue religionspsychologische Programmatiken veröffentlicht, die oft sogar umfassender ausgearbeitet sind als in den Jahren zuvor. Allerdings – und das ist hier wesentlich – handelt es sich bei diesen Veröffentlichungen nicht um neue Ansätze in der Debatte. Vielmehr wird versucht, die bereits bekannten Positionen weiter zu festigen. So bietet etwa Hermann Faber in seinem Werk »Das Wesen der Religionspsychologie und ihre Bedeutung für die Dogmatik«419 von 1913 eine umfassende Bestandsaufnahme der Auseinandersetzung, wobei er von philosophischen und theologischen Vorentwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert ausgeht und dann einen breiten Überblick über die deutsche und amerikanische Debattenentwicklung sowie teils auch auf neuere französische Arbeiten gibt. Sein Ziel, das Verhältnis von neuer Religionspsychologie und Systematischer Theologie zu klären,420 versucht er zu erreichen, indem er zunächst eine detaillierte Zergliederung der religionspsychologischen Ansätze in ihre jeweiligen methodischen Aspekte vornimmt und diese jeweils in Bezug zu den aus seiner Sicht spezi 415 Ders.: Die Psychologie der Heiligkeit. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 393–436; Ders.: Die 55. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 273–282; Ders.: Wirklichkeitssinn und Jenseitsglauben. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), 147–168, 192–199, 217–235, 283–295, 323–333 und 403–413. 416 Leuba, James Henry: Theologie und Psychologie. Vortrag, gehalten bei der Jahresversammlung der amerikanischen philosophischen Gesellschaft, New York 1912. In: Religion und Geisteskultur (1914), 109–118. 417 Conrad, Otto: Probleme der Religionspsychologie. In: Religion und Geisteskultur (1912), 280–288. 418 Steinmann, Theophil: Aufgaben und Ziele unserer Zeitschrift. In: Religion und Geisteskultur 1 (1907), 1–7. 419 Faber: Wesen der Religionspsychologie 420 Ebd. 1.

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fischen Anforderung der Systematischen Theologie setzt. Für ihn stellt dies eine integrierte religionspsychologische Methode als Ergebnis des bisherigen Debattenverlaufs dar.421 Ähnlich geht Emil Pfennigsdorf vor, der in seiner Publikation »Religionspsychologie und Apologetik«422 von 1912 den Nutzen einer neuen psychologischen Herangehensweise für die theoretische und praktische Apologetik aufzuzeigen versucht. Dabei nimmt auch Pfennigsdorf den bisherigen Debattenverlauf als Ausgangspunkt seiner Darstellung. Er kontrastiert verschiedene Positionen und untersucht diese im Hinblick auf sein erklärtes Untersuchungsziel.423 Georg Wobbermin, der bis dahin nur Artikel veröffentlicht hatte, legt 1913 eine Ausarbeitung der von ihm vertretenen religionspsychologischen Methode in Form einer mehrere hundert Seiten umfassenden Monographie vor.424 Darin entwickelt Wobbermin seine Methode, die er nach wie vor als ein spezifisches, von der allgemeinen Psychologie abzugrenzendes Verfahren versteht, aus einem breiten wissenschaftstheoretischen und begriffsgeschichtlichen Aufriss. Damit arbeitet er seine bisherigen Theorien zu einer Systematik aus, in der die Religionspsychologie die Grundlage der Theologie darstellt, wie er dies bereits in seinen früheren Veröffentlichungen angedeutet hatte. Die religionspsychologische Thematik erscheint in der Theologie nun außerdem insofern etabliert, als sie sowohl auf protestantischer wie auch auf katholischer Seite in die großen theologischen Enzyklopädien aufgenommen wird. So findet das Stichwort Religionspsychologie 1912 Eingang in das katholische »Kirchliche Handlexikon«425 sowie 1913 in die beiden protestantischen Nachschlagewerke »Die Religion in Geschichte und Gegenwart«426 und »Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche«.427 Im »Kirchlichen Handlexikon« wird Religionspsychologie allerdings äußert begrenzt dargestellt, sie ist hier nur ein knapper Unterpunkt innerhalb des Artikels zur Religionswissenschaft. In »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« und der »Realencyklo 421 Ebd. 101–117. 422 Pfennigsdorf, Emil: Religionspsychologie und Apologetik, Leipzig 1912. 423 Ebd. 7–30. 424 Wobbermin, Georg: Die religionspsychologische Methode in Religionswissenschaft und Theologie. Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode I, Leipzig 1913. 425 Koch, W.: Religionswissenschaft 3. Religionspsychologie. In: Buchberger, Michael (Hg.): Kirchliches Handlexikon. Ein Nachschlagebuch über das Gesamtgebiet der Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 2, München 1907–1912, 1728. 426 Kalweit, Paul: Religionspsychologie. In: Schiele, Friedrich Michael/Zscharnack, Leopold (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, Bd. 4, Tübingen 1913, 2209–2214. 427 Wobbermin, Georg: Religionspsychologie. In: Hauck, Albert (Hg.): Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. In dritter verbesserter und vermehrter Auflage, Bd. 24, Leipzig 1913, 411–418.

68  Religion und moderne Psychologie um 1900 pädie für protestantische Theologie und Kirche« finden sich dagegen umfangreiche Referate, die die US -amerikanische und deutsche Debattenentwicklung nachzeichnen, die unterschiedlichen methodischen Ansätze gegeneinander abgrenzen und theologische Verwendungsperspektiven skizzieren. Auch in der Theologie geht allerdings die Anzahl veröffentlichter Beiträge ab 1912 merklich zurück. Es zeigt sich, dass viele Autoren, die sich um 1910 mit religionspsychologischen Programmentwürfen oder kritischen Beiträgen an der Debatte beteiligt hatten, die Thematik nun nicht mehr aktiv weiterverfolgen. So erscheinen beispielsweise von Niebergall, Frey oder auch Kaftan keine neuen Veröffentlichungen mehr. Wie eingangs erwähnt, kommt es in den bisherigen theologischen Entwicklungslinien aber vor allem zu einer inhaltlichen Stagnation. Es wird nun in erster Linie versucht, die verschiedenen, in der Hochphase der Auseinandersetzung entwickelten Konzepte zur Verbindung neuer psychologischer Herangehensweisen mit Fragestellungen und Methodenanforderungen der Theologie weiter zu befestigen: Zunächst ist in diesem Zusammenhang der, nach wie vor von Georg Wobber­ min verfolgte Ansatz einer spezifischen  – von der allgemeinpsychologischen Methodik unterschiedenen – Religionspsychologie zu nennen, der durch seine »transzendentalpsychologische« Herangehensweise den besonderen Anforde­ run­gen des Gegenstandes Religion gerecht werden soll. Wobbermin setzt sich nach wie vor mit großer Energie für seine Methode ein und unterstreicht ihre grundlegende theologische Relevanz nun auch dadurch, dass er sie in »Die religionspsychologische Methode in Religionswissenschaft und Theologie« als neue Basismethode der Systematischen Theologie darstellt.428 Durch seine im Vergleich immer noch hohe Zahl an Veröffentlichungen, die er in verschiedenen Publikationsmedien unterbringt,429 gelingt es Wobbermin in der Spätphase der Auseinandersetzung auch immer besser, seinem Ansatz Gehör zu verschaffen und als eine führende Stimme in der Auseinandersetzung wahrgenommen zu werden. So ist etwa der Lexikonartikel zu Religionspsychologie in »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« stark auf ihn zugeschnitten. Er wird darin ausdrücklich als Innovator hervorgehoben und auch die disziplinäre Einordnung der neuen Religionspsychologie entspricht darin im Wesentlichen seiner Position.430 Sein Gewicht in der Spätphase der Debatte wird auch dadurch unterstrichen, dass er den Artikel zur Religionspsychologie in der »Realencyklopädie für Protestantische Theologie und Kirche« selbst verfasst. Wobbermin nutzt diese Gelegenheit dazu, die dort von ihm dargestellte Debattenentwicklung kon 428 Wobbermin: Die religionspsychologische Methode. 429 Ebd.; Ders.: Leuba als Religionspsychologe. In: Religion und Geisteskultur (1913), 283–290; Ders.: Zum Streit um die Religionspsychologie, Berlin 1913. 430 Kalweit: Religionspsychologie 2212 f.

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sequent auf seinen eigenen Ansatz zulaufen zu lassen: Er stellt in diesem Artikel zunächst den Debattenverlauf dar und präsentiert daraufhin sein eigenes spezifisches Verfahren als angeblich aktuellen Stand der Methodendiskussion.431 Auch Gustav Vorbrodt ist in der Spätphase der Auseinandersetzung mit seinem zu Wobbermin genau entgegengesetzten Ansatz weiterhin präsent. Sein Anspruch bleibt dabei, Religionspsychologie sowohl als solche, als auch in ihrer theologischen Einbindung vorbehaltlos an die Entwicklung der modernen Fachpsychologie anzuschließen. Sie muss, dies betont Vorbrodt nach wie vor, zum einen als exakte empirische Wissenschaft mit den Forschungsmethoden der modernen Psychologie ausgeführt werden. Sie muss sich andererseits in ihrer Theoriebildung am neovitalistischen Modell orientieren, dass sich seiner Meinung nach in der Psychologie zunehmend durchsetzt.432 Vorbrodt kann sich allerdings deutlich weniger Gehör verschaffen als Wobbermin. Ein Merkmal seiner späten Texte ist noch immer die Klage darüber, dass die Mehrzahl der von Theologen verfassten Beiträge zur Debatte die moderne Psychologie nicht kompetent erfassen und dadurch zu schiefen Methodologien und Verwendungsabsichten führen. »Warum will man nicht lernen, Psychologie zu studieren!«,433 heißt es bei ihm resigniert in einer der kritischen Bezugnahmen auf theologische Ansätze. Neben den Positionen von Vorbrodt und Wobbermin festigt sich außerdem zunehmend eine dritte Position, die in einer relativ eng gefassten hilfswissenschaftlichen Eingliederung von Religionspsychologie in theologische Ziel- und Methodenvorgaben besteht. Auf protestantischer Seite findet sich diese Sicht etwa bei Hermann Faber, auf katholischer Seite bei Georg Wunderle: ­Faber­ entwirft in seiner Programmatik ein enges methodologisches und erkenntnistheoretisches Korsett für die religionspsychologische Forschung,434 die er gleichzeitig als, seiner Ansicht nach, reine »quaestio facti«435 der »quaestio juris«,436 also der Theologie, unterstellt. Auch nach Meinung von Wunderle muss Religionspsychologie von Anfang an klar als »Hilfswissenschaft«437 der Theologie gekennzeichnet werden und hat, so formuliert es Wunderle, »sehr häufig ihre Funktion der Theologie zu überlassen, nämlich immer da, wo es sich um religiöse Vorgänge handelt, die aus der positiven, geoffenbarten Religion entspringen oder überhaupt damit zusammenhängen.438 431 Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie. 432 Vorbrodt, Gustav: Zur theologischen Religionspsychologie, Leipzig 1913, 2–6. 433 Ebd. 9. 434 Faber: Wesen der Religionspsychologie 102–117. 435 Ebd. 155. 436 Ebd. 437 Wunderle, Georg: Aufgaben und Methoden der modernen Religionspsychologie. Vortrag, geh. a.d. Generalversamml. d. Görresges. z. Aschaffenburg 1913, Fulda 1914, 25 f. 438 Ebd. 23.

70  Religion und moderne Psychologie um 1900 Schließlich stagniert die Auseinandersetzung in ihren bisherigen Entwicklungslinien auf theologischer Seite auch hinsichtlich ihres noch immer überwiegend programmatisch geprägten Charakters. So werden etwa die konkreten empirischen Forschungen, die Gustav Vorbrodt so vehement fordert, von ihm selbst gerade nicht unternommen. Vielmehr beschreibt Vorbrodt diese Forschungen nur immer wieder neu als Perspektive und lädt sie mit immer neuen Ergebniserwartungen auf.439 Auch Georg Wobbermin zeigt in keiner einzigen Studie nachvollziehbar auf, wie sich sein Programm im praktischen Einsatz verhält. Vielmehr beschäftigt er sich ausschließlich mit dessen theoretischer Ausarbeitung sowie der Beobachtung und Abwehr konkurrierender Ansätze.440 Das gleiche gilt für weitere Veröffentlichungen, wie beispielsweise diejenigen von Hermann Faber, die auch dem Anspruch nach nur programmatische Klärungen sein sollen.441 Die Erwartungshaltung an die Religionspsychologie ist also weiterhin hoch, allerdings wird das Wagnis, die theoretischen Überlegungen in der Praxis zu überprüfen, zumeist nicht eingegangen. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht die 1913 von Karl Girgensohn veröffentlichte Arbeit »Zur differentiellen Psychologie des religiösen Gedankens«442 dar, in der eine tatsächliche empirische Herangehensweise zumindest im Ansatz erkennbar wird. Girgensohn verfolgt das Ziel, eine Heuristik von typischen Objektbereichen zu erarbeiten, an die sich das innere religiöse Erleben in seiner Umsetzung in konkrete Vorstellungsbilder anlehnt. Die Arbeit ist, wie Girgensohn angibt, dezidiert als empirisch-psychologische Studie durchgeführt worden, indem sie auf systematischen Aussageversuchen aufbaut, die mit einer Probandengruppe durchgeführt wurden. Girgensohn verzichtet allerdings darauf, den Versuchsaufbau und die konkreten empirischen Befunde offenzulegen, sondern geht unmittelbar zur Darstellung seiner Heuristik der religiösen Vorstellungsbildung über.443 Seine Ergebnisse bleiben dabei ebenfalls diffus: Die Bildung religiöser Vorstellungen, so meint er nachgewiesen zu haben, kann sich individuell variabel auf ganz verschiedene Gegenstände der sinnlichen oder geistigen Welt richten. In jeder Form zeigt sich dabei seiner Ansicht nach das Charakteristikum eines »ahnenden intuitiven Erfassen eines verborgenen Gehalts«444

439 Vorbrodt: Zur theologischen Religionspsychologie. 440 Beispielsweise ebd. 441 Faber: Wesen der Religionspsychologie 1 f. 442 Girgensohn, Karl: Zur differentiellen Psychologie des religiösen Gedankens. In: ­Harnack, Adolf u. a. (Hg.): Vorträge über wissenschaftliche und kulturelle Probleme der Gegenwart, Riga 1913. 443 Ebd. 75. 444 Ebd. 83.

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beziehungsweise eines »Suchens und Findens eines verborgenen Sinnes der Welt«,445 das durch die religiöse Vorstellung geleistet wird. Wie hier deutlich wird, verliert die religionspsychologischen Debatte ab 1912 deutlich an Dynamik in den bis dahin etablierten fachpsychologischen und theologischen Diskussionslinien. Die Einstellung der deutschen und amerikanischen Zeitschriftenprojekte ist sowohl ein Symptom als auch ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung. Zuvor an der Debatte beteiligte Autoren kehren dem Thema den Rücken und in den Konzepten der bis dahin etablierten Hauptakteure kommt es zu keinen wesentlichen Weiterentwicklungen mehr. Auch die vielfach geforderte Empirie, auf der die neuartigen Ergebnisse der Religions­ psychologie von Anfang an fußen sollen, wird entweder nur in Ansätzen verwirklicht oder gar nur theoretisiert. Neue Dynamik in der Psychoanalyse Nichtsdestotrotz lassen sich auch nach 1912 noch neue Entwicklungen feststellen. Ein Bereich, der sich in der Spätphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung dynamischer entwickelt als zuvor, ist der psychoanalytische Diskurs. In diesem Zusammenhang ist weiterhin die Aktivität von Oskar Pfister ausschlaggebend, der seinen Ansatz einer seelsorgerlichen Nutzung der Psychoanalyse, den er seit 1910 entwickelt, nun immer mehr zu einer umfassenden Verbindung von Psychoanalyse und Theologie ausbaut. Noch mehr als zuvor sieht Pfister die Psychoanalyse als einen Zugang an, der nicht nur pathologische Einzelfälle in der Seelsorge auf ganz neue Art und Weise handhabbar macht. Sie erscheint ihm nun immer mehr als ein Mittel, mit dem sich auch die, wie er formuliert, »Erziehung normaler Individuen«446 grundlegend erneuern lässt. Noch stärker als zuvor hebt er dabei hervor, dass der psychoanalytische Zugang nicht nur im Sinne seiner praktischen Anwendung ertragreich ist. Für ihn führt die Psychoanalyse auch zu einem so grundlegend neuen Verständnis religiöser Inhalte und Verhaltensweisen, dass sich mit ihr eine ganz neue, zeit­ gemäße Sichtweise auf Religiosität und Religion und damit die Aussicht auf ein in diesem Sinne erneuertes Glaubensleben ergibt.447 Pfister setzt sich für seine Programmatik mit großer Energie im theologischen, psychoanalytischen sowie nun auch im pädagogischen Kontext ein.448 Mit seinem umfangreichen 445 Ebd. 88. 446 Pfister, Oskar: Anwendungen der Psychanalyse in der Pädagogik und Seelsorge. In: Imago 1 (1912), 56–82, hier 58. 447 Ders.: Die psychanalytische Methode. Eine erfahrungswissenschaftlich-systematische Darstellung, Leipzig, Berlin 1913, 482–490. 448 Ders.: Anwendungen der Psychanalyse 56–82; Ders.: Die psychanalytische Methode; Ders.: Psychanalyse und Theologie. In: Theologische Literaturzeitung 39 (1914), 379–382.

72  Religion und moderne Psychologie um 1900 Werk »Die Psychanalytische Methode« von 1913 wird er zum Begründer der, von ihm als »Pädanalyse«449 bezeichneten Einbeziehung der Psychoanalyse in die Pädagogik. Neben Pfister wendet sich auch Sigmund Freud von neuem der Religions­ thematik zu. In der von ihm ab 1912 neu herausgegebenen Zeitschrift »Imago«, die sich, so der Untertitel, als »Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft«450 versteht, veröffentlicht Freud eine Reihe von Artikeln, die schließlich zu einer umfassenden, kulturpsychologischen Religionstheorie hinführen.451 In der Artikelserie, die 1913 als »Totem und Tabu«452 auch selbständig erscheint, nimmt Freud den Themenbereich von Tabu, Animismus, Magie und Totemismus in den Blick. Er deutet Religion hier nun aus den Ambivalenzen des Vater- bzw. »Ödipuskomplexes«,453 der für ihn an ihrer Wurzel sowie auch an derjenigen der Kultur insgesamt steht. Religion entsteht seiner Deutung zufolge zum einen aus der Überhöhung der Vaterfigur, der, so Freud, »Vatersehnsucht«.454 Zum anderen entsteht sie als Verarbeitung der, im Vatermord der »Urhorde«455 gipfelnden, Auflehnung gegen diesen und dem dadurch verursachten Schuldbewusstsein.456 Als Ergebnis hält Freud fest, dass »im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen, in voller Übereinstimmung mit der Feststellung der Psychoanalyse, dass dieser Komplex den Kern aller Neurosen bildet, soweit sie bis jetzt unserem Verständnis nachgegeben haben«.457 Nicht als Kulturdeutung, sondern aus der Therapiepraxis heraus, formuliert außerdem Wilhelm Stekel eine pathologisierende psychoanalytische Perspektive auf Religion. Stekel nimmt an, dass in der Religion »infantile Gefühlsreste«458 vorliegen, woraus sich ihre starke und oftmals eigenartige Ausprägung bei vielen Neurotikern erklärt.459 Um seelisch wirklich frei zu werden, müssen diese Gefühlsreste seiner Meinung nach überwunden werden. Aus der the 449 Ders.: Die psychanalytische Methode VI. 450 Freud, Sigmund (Hg.): Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft, 1912–1937. 451 Ders.: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Imago 1 (1912), 17–33, 213–227 und 301–333; Ders.: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Imago 2 (1913), 1–21 und 357–408. 452 Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Wien 1913. 453 Ebd. 144. 454 Ebd. 137. 455 Ebd. 131. 456 Ebd. 131–145. 457 Ebd. 144 f. 458 Stekel, Wilhelm: Masken der Religiosität. In: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 3 (1913), 584–588, hier 587. 459 Ebd. 584–587.

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rapeutischen Perspektive empfiehlt er allerdings, den Kranken trotzdem nicht unüberlegt zur Überwindung zu drängen. In vielen Fällen kann sich Religiosität auch stabilisierend auswirken oder selbst zum Heilungsfaktor werden. Es ist in solchen Fällen dann seiner Meinung nach therapeutisch betrachtet besser, an ihr festzuhalten und nur den Gottesbegriff zu erhöhen. »Ich trachte nun,« so schildert Stekel sein Vorgehen, »den Kranken den Begriff Gottes größer zu geben, wenn ich sehe, dass sie ohne Religion nicht leben können. Ich führe sie zu einer Art von Pantheismus, wobei ich ihre veralteten Sündenbegriffe durch eine neue freiere Auffassung des Lebens zu ersetzen trachte.«460 Die psychoanalytischen Beiträge werden nun zwar breiter rezipiert als zuvor. Sie stellen allerdings im Gesamtbild der Auseinandersetzung noch immer einen Nebenschauplatz dar. Die wenigen Stimmen, die sich explizit zur Psychoanalyse äußern, sind dabei auch zunehmend kritischer. So spricht etwa Georg Wunderle von der »abstoßenden Form«461 und dem »gemeingefährlichen Treiben der Freudianer«.462 Eine ausführliche Diskussion findet jedoch nicht statt. Bei Beobachtern, die Bestandsaufnahmen der Debatte veröffentlichen, werden die psychoanalytischen Ansätze oft ganz ignoriert.463 Im Lehrbuch von Elsenhans kommt der psychoanalytische Standpunkt zu Religionspsychologie beispielsweise schlichtweg nicht vor.464 Dürr rezipiert immerhin Pfister, allerdings nur in bestimmten inhaltlichen Aspekten, wobei er die Frage seiner psychoanalytischen Methode gänzlich ausklammert.465 Das gleiche Bild ergibt sich für die Artikel in den theologischen Lexika.466 Neue Dynamik durch den Kreis um Wilhelm Stählin Stärker als die Psychoanalyse fällt in der Spätphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung ab 1912 schließlich noch eine neue, fachpsychologisch und praktisch-theologisch motivierte Initiative ins Gewicht, die sich nun aus der bis dahin geführten Debatte heraus und zugleich in Abgrenzung zu dieser entwickelt. Dabei handelt es sich um eine, von dem evangelischen Pfarrer und akademisch ausgebildeten Psychologen Wilhelm Stählin initiierte religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft, die sich 1914 in Nürnberg formell 460 Ebd. 587. 461 Wunderle: Aufgaben und Methoden 1914 7. 462 Ebd. 463 Mayer, Emil Walter: Über den gegenwärtigen Stand der Religionsphilosophie und deren Bedeutung für die Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche (1912), 41–71;­ Conrad: Probleme der Religionspsychologie. 464 Elsenhans: Lehrbuch 295–299. 465 Dürr: Grundzüge 561 und 586. 466 Kalweit: Religionspsychologie; Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie; Koch: Religionspsychologie 1728.

74  Religion und moderne Psychologie um 1900 als »Gesellschaft für Religionspsychologie« konstituiert467 und als neues Zeitschriftenprojekt das »Archiv für Religionspsychologie«468 hervorbringt. Stählin verfolgt als junger, in Ausbildung befindlicher Theologe die religionspsychologische Auseinandersetzung bereits früh mit großem Interesse. Er ist einer der Teilnehmer an dem »Religionspsychologischen Kursus«, den Gustav Vorbrodt 1906 in seinem Pfarrhaus veranstaltet. Während seiner Zeit als Vikar und Hilfsgeistlicher in verschiedenen Gemeinden um Nürnberg steht er in engem Kontakt zu dem ebenfalls religionspsychologisch interessierten und in Nürnberg als Pfarrer tätigen Friedrich Rittelmeyer, mit dem er sich daran versucht, die subjektive Wirkung von Predigtinhalten psychologisch zu analysieren. Von seiner Pfarrtätigkeit lässt er sich 1909 beurlauben und studiert in Würzburg Psychologie bei Oswald Külpe, bei dessen Nachfolger Karl Marbe er 1913 mit einer sprachpsychologischen Arbeit promoviert wird.469 Bereits 1910 regt Stählin in der Zeitschrift für Religionspsychologie eine Tagung an, um über die Bildung einer ständigen religionspsychologischen Arbeitsgemeinschaft zu beraten.470 Diese Tagung kommt im September 1910 in Nürnberg im Anschluss an die süddeutsche Jahresversammlung der liberalprotestantischen »Freunde der Christlichen Welt« zustande.471 Die angestrebte Arbeitsgemeinschaft konstituiert sich dort wie geplant, wählt einen »Ausschuss« und bestimmt zunächst die ZfRp zu ihrem Publikationsorgan.472 Der Austausch wird fortan in der ZfRp im Rahmen einer regelmäßig publizierten Zeitschriftenschau geführt.473 Von ihrer Zielsetzung her steht die Arbeitsgemeinschaft im Gegensatz zu den bisher die Auseinandersetzung prägenden weitreichenden psychologischen Religionstheorien und theologischen Einbindungs- und Modifikationsabsichten von Religionspsychologie. Ebenso positioniert sie sich gegen die freien Interpretationen von Praxisbeobachtungen, die gerade in der Zeitschrift für Religionspsychologie – entgegen ihres ursprünglichen Anspruchs – häufig vorkommen.

467 Van Belzen: Anfang, der ein Ende war 141–171. 468 Stählin, Wilhelm (Hg.): Archiv für Religionspsychologie, 1 (1914) und 2/3 (1921). 469 Schwab, Ulrich: Stählin, Wilhelm. In: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 10, Herzberg 1995, 1115–1120; Van Belzen: Religionspsychologie 57–65. 470 Ohne Autor: Herausgebermitteilungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1910), 1 f. und 41. 471 Ohne Autor: Herausgebermitteilungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1910), 141 und 178. 472 Stählin, Wilhelm: Bericht über die Begründung einer religionspsychologischen Arbeitsgemeinschaft in Nürnberg. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 219–223. 473 Ohne Autor: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 1–6. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 5–6 (1911–1913), 235–241 (5), 336–341 (5), 32–35 (6), 141–143 (6), 302–308 (6) 398–407 (6).

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Demgegenüber soll nun ein neuer Anlauf unternommen werden, Religionspsychologie auf eine systematische, eng an den »exakten« Methoden der modernen Fachpsychologie orientierte Herangehensweise festzulegen.474 Gegenüber den groß angelegten Theorieentwürfen, die von der deutschen Fachpsychologie, aber auch von James bis dahin vorliegen, soll sie außerdem, wie in den frühen Arbeiten der Clark-Schule, als Forschungstätigkeit an eng umgrenzten Einzelproblemen verstanden werden. So werden von Stählin Biographieforschungen, qualitative Interviews und Assoziationsexperimente angeregt.475 In einer ersten »Mitteilung der religionspsychologischen Arbeitsgemeinschaft« wird in diesem Sinne etwa zur Mitarbeit an einer Fragebogenuntersuchung sowie an einem Projekt zur Biographieforschung aufgerufen.476 Mit der Einstellung der Zeitschrift für Religionspsychologie 1912 ist auch die Arbeitsgemeinschaft zunächst heimatlos. 1914 gelingt es dann aber, mit dem Archiv für Religionspsychologie ein neues Zeitschriftenprojekt auf den Weg zu bringen und in diesem Zusammenhang die zuvor noch informell agierende Arbeitsgemeinschaft als »Gesellschaft für Religionspsychologie« zu begründen.477 Die erste Nummer des Archivs für Religionspsychologie, das von Stählin zusammen mit dem Psychologen Kurt Koffka,478 einem früheren Assistenten von Oswald Külpe, herausgegeben wird, bekräftigt in programmatischer Hinsicht noch einmal den bereits von der Arbeitsgemeinschaft eingeschlagenen Weg. Religionspsychologie, so schreiben Stählin und Koffka, bedarf der »genauen psychologischen Durchbildung«.479 Wenn sie den Titel Psychologie zurecht beanspruchen will, so führen sie aus, dann darf sie nicht eine von der modernen Fachpsychologie unabhängige Methodik postulieren, sondern sie muss im Gegenteil von dieser lernen, »wie überhaupt psychologische Deskriptionen zu geben und aus psychologischen Daten psychologische Gesetze zu erschließen sind«.480 Produktiv sein kann sie nach Meinung der Herausgeber nur dann, wenn sie sich auf die Untersuchung von genau umrissenen und somit empirisch handhabbaren Einzelphänomenen konzentriert.481 Die Zeitschrift erscheint damit als Gegenmodell zur bisherigen Zeitschrift für Religionspsychologie, aber auch zu den zeitgenössischen theologischen Programmatiken. 474 Stählin: Bericht über die Begründung. 475 Ebd. 476 Stählin, Wilhelm: Mitteilungen der religionspsychologischen Arbeitsgemeinschaft. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1911), 421–424. 477 Van Belzen: Anfang, der ein Ende war 141–171. 478 Metzger, Wolfgang: Koffka, Kurt. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, 417 f. 479 Stählin, Wilhelm/Koffka, Kurt: Zur Einführung. In: Archiv für Religionspsychologie 1 (1914), 1–9, hier 8. 480 Ebd. 481 Ebd. 1 f.

76  Religion und moderne Psychologie um 1900 Zu einer Entfaltung des im AfRp angelegten Programms kommt es durch den Kriegsausbruch allerdings nicht mehr. So wie die gesamte politische, soziale und diskursive Konstellation der Jahrhundertwende erfährt auch die religionspsychologische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einen jähen Einschnitt und letztendlich einen Abbruch in der bis dahin geführten Form.482 *** Der in den zahlreichen Programmatiken der Jahrhundertwende, den beiden Zeitschriftenprojekten und der neugegründeten Gesellschaft erhoffte religionspsychologische Durchbruch bleibt auch nach dem Ersten Weltkrieg aus. Vom Archiv für Religionspsychologie erscheint erst 1921 ein weiterer Band, der allerdings zum überwiegenden Teil aus bereits vor dem Krieg verfasste Beiträgen besteht. Bis zu einer dritten, ebenfalls nur kurzlebigen Initiative zur Weiterführung der Zeitschrift am Ende der zwanziger Jahre markiert der Band von 1921 vorerst das Ende des Projekts. Herausgegeben wird er noch von Wilhelm­ Stählin, der sich damit jedoch von der Religionspsychologie weitgehend zurückzieht. Beeinflusst von seinen Kriegseindrücken als Feldgeistlicher sowie von der im allgemeinen Diskurs nun erstarkenden Technik- und Wissenschaftskritik, wendet er sich seiner Tätigkeit als Pfarrer und Praktischer Theologe zu. Auch die von Stählin und seinen Mitstreitern ins Leben gerufene religionspsychologische Gesellschaft nimmt die projektierten Aktivitäten nach dem Krieg nicht wieder auf und hält unter ihrem Gründungsvorstand nie eine Mitgliederversammlung ab.483 Ähnlich wie Stählin knüpfen auch viele weitere der bis dahin beteiligen Protagonisten an ihr früheres religionspsychologischen Engagement nicht mehr an. Einige zuvor sehr engagierte Stimmen gehen der Auseinandersetzung aufgrund ihres nun hohen Alters verloren, so z. B. Gustav Vorbrodt, der 1929 stirbt und von dem sich in den zwanziger Jahren nur vereinzelte kleine Beiträge finden.484 Insbesondere aus der deutschen und internationalen Fachpsychologie sind nach dem Ersten Weltkrieg keinerlei nennenswerte religionspsychologische Arbeiten mehr zu verzeichnen. In der Psychoanalyse wirbt zwar nach wie vor Oskar Pfister unermüdlich für deren seelsorgerische und religionswissenschaftliche Anwendung.485 Sein 482 Zur zeitlichen Abgrenzung vgl. den Schluss der Einleitung. 483 Van Belzen: Religionspsychologie 75–81. Als Selbstzeugnis hierzu von Interesse: Stählin, Wilhelm: Via Vitae. Lebenserinnerungen, Kassel 1968. 484 Graf: Vorbrodt 74–84. 485 Als Auswahl: Pfister, Oskar: Analytische Seelsorge. Einführung in die praktische Psychanalyse für Pfarrer und Laien, Göttingen 1927; Ders.: Religionswissenschaft und Psych­ analyse, Gießen 1927; Ders.: Neutestamentliche Seelsorge und psychoanalytische Therapie. In: Imago 20 (1934), S. 425–443.

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Engagement wird aber überlagert von der Frontstellung, die sich in den zwanziger Jahren zwischen der immer weiter zugespitzten und intensivierten Religionskritik der Psychoanalyse und der ebenso intensivierten Psychoanalyseabwehr der Theologien ergibt. Den Gipfelpunkt stellt in dieser Hinsicht Freuds religionspsychologisches Hauptwerk »Die Zukunft einer Illusion«486 von 1927 dar, in dem dieser Religion offensiv als infantile Wunschvorstellung interpretiert, deren Niedergang mit dem weiteren Aufstieg der Wissenschaften absehbar ist.487 Neue religionspsychologische Initiativen sind in den 1920er Jahren hauptsächlich aus theologischer Richtung zu verzeichnen. So widmet sich der an der Universität Dorpat beheimatete Protestantische Theologe Werner Gruehn intensiv religionspsychologischen Studien und lässt am Ende der zwanziger Jahre auch die Gesellschaft und das Archiv für Religionspsychologie wiederaufleben. In Wien begründet zur gleichen Zeit das Ehepaar Karl und Marianne Beth – er protestantischer Theologe, sie Orientalistin und Juristin – mit der »Internationalen Religionspsychologischen Gesellschaft« und einer zugehörigen neuen »Zeitschrift für Religionspsychologie« eine Konkurrenzunternehmung.488 Auf katholischer Seite stellt der in Würzburg lehrende Fundamentaltheologe Georg Wunderle religionspsychologische Untersuchungen an489 und in der 1926 bis 1934 erschienenen Schriftenreihe »Arzt und Seelsorger« wird, ähnlich zu den Ansätzen in Vorbrodts und Breslers ZfRp, der Grenzbereich von Psychiatrie bzw. Psychotherapie und praktischer Theologie ausgelotet.490 Inwiefern in diesen Ansätzen der 1920er Jahre inhaltliches Neuland betreten wird müsste eine Detailuntersuchung ergeben. Folgt man der verfügbaren Literatur, so besteht allerdings Grund zu der Annahme, dass es sich eher um Variationen und weitere Entfaltungen der schon vor dem Krieg entwickelten Topoi handelt. 486 Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Leipzig 1927. 487 Scharfenberg, Joachim: Die Rezeption der Psychoanalyse in der Theologie. In: Cre­ merius, Johannes (Hg.): Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen Raum bis 1940, Frankfurt a. M. 1981, 255–338, hier 256–264. 488 Van Belzen: Religionspsychologie 81–103; Henning, Christian: 100 Jahre Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum. In: Zwingmann, Christian/Moosbrugger, Helfried (Hg.): Religiosität. Messverfahren und Studien zur Gesundheit und Lebensbewältigung, Münster u. a. 2004, 23–40, hier 25–27; Wulff: Psychology of Religion 15 f. 489 Wunderle, Georg: Das religiöse Erleben. Eine bedeutungsgeschichtliche und psychologische Studie, Paderborn 1922; Ders.: Einführung; Ders.: Über das Irrationale im religiösen Erleben. Eine religionspsychologische Betrachtung, Paderborn 1930; Ders.: Glaube und Glaubenszweifel moderner Jugend. Das Ja und Nein katholischer Schüler und Schülerinnen zur Glaubensdarbietung. Eine religionspsychologische Untersuchung. Durchgeführt in den Oberklassen höherer Lehranstalten, Düsseldorf 1932. 490 Schweitzer, Carl (Hg.): Arzt und Seelsorger. Eine Schriftenreihe, Bd.  1–29, Schwerin 1926–1934.

78  Religion und moderne Psychologie um 1900 Eine starke methodische Konkurrenz erscheint den religionspsychologischen Ansätzen in den zwanziger Jahren mit der im Aufschwung befindlichen Phänomenologie. Diese wird bspw. von Rudolf Otto schon 1917 in seinem Werk »Das Heilige«491 und 1918 von Friedrich Heiler in »Das Gebet«492 religionswissenschaftlich umgesetzt. Konträr zum eher abnehmenden Interesse für die moderne Fachpsychologie erfährt die Phänomenologie in den zwanziger Jahren großen Zuspruch in der Religionswissenschaft und Theologie. Dies geht zum Teil soweit, dass nun die phänomenologische Herangehensweise als neueste methodische Errungenschaft und zukünftige Basismethode in der Religionspsychologie empfohlen wird.493 Ein nachhaltiges Ende findet schließlich auch die religionspsychologische Diskussion der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in der Kulturrevolution des Nationalsozialismus. Erst in den sechziger und siebziger Jahren kommt es dann im deutschen Sprachraum zu einer erneuten Anknüpfung an die Thematik.

491 Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 492 Heiler, Friedrich: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 1918. 493 Koepp: Einführung 40–45 und 94–97; Retrospektiv hierzu Wulff: Psychology of Religion 18–20.

3. Die Funktionalismusfrage als Grundproblem der religionspsychologischen Auseinandersetzung 3.1 Der funktionalistische Diskurs der modernen Psychologie Die deutschen und US -amerikanischen Psychologen und Psychiater, die sich um 1900 mit dem Gegenstand Religion beschäftigen, folgen dabei ausnahmslos einer funktionalistischen Zugangsweise. Kurz gesagt bedeutet das, dass Religion als ein Element im Mechanismus der menschlichen Psyche behandelt wird, welches der Bewältigung ganz bestimmter individual- und sozialpsychologischer Funktionsanforderungen dient. Dieser Zusammenhang wird als Ur­sache von Religion und seine Identifikation dementsprechend als Ursachenerklärung angesehen. Dabei bezieht sich eine erste Gruppe von Funktionserklärungen unmittel­ bar auf den inneren Aufbau bzw. die innere Dynamik der menschlichen Psyche. Auf diese Art beschreibt beispielsweise Johannes Bresler Religion als »supple­ mentären«1 Mechanismus des menschlichen Bewusstseins, mit dem dieses einen provisorischen Konsistenzabschluss erreicht, also Erklärungslücken schließt, die sich bei der Integration seiner Wahrnehmungen und Vorstellung zu einem schlüssigen Gesamtbild ergeben. Ohne einen solchen Mechanismus wäre das Bewusstsein seiner Meinung nach von einer gefährlichen Orientierungslosigkeit und ständigen inneren Unruhe bedroht.2 Religion stellt für ihn in diesem Sinne eine wichtige Stütze der seelischen Gesundheit dar, eine, so Bresler, »höchst zweckmäßige und heilsame Einrichtung unseres psychischen Mechanismus, eine Art seelischer Selbsthilfe oder Notwehr, zu welcher der Eine je nach seiner Konstitution eher oder später greift als der Andere«.3 In ähnlicher Weise stellt auch für Willy Hellpach Religion einen Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Bewusstseinskonsistenz dar, wobei Hellpach allerdings annimmt, dass ihr das Problem eines »irrationalen Überschuss unserer Seele«4 zugrunde liegt, 1 Bresler: Religionshygiene 27. 2 Ebd. 13–14 und 27–29. 3 Ebd. 29. 4 Hellpach, Willy: Nervenleben und Weltanschauung. Ihre Wechselbeziehung im deutschen Leben von heute, Wiesbaden 1906, 69.

80  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  also einer andauernden Produktion von Inkonsistenz als unvermeidbarem Nebeneffekt der Bewusstseinstätigkeit selbst. In den religiösen Vorstellungsbildungen wird dieser Überschuss seiner Meinung nach aufgefangen, indem er dort auf ein vermeintlich höherstehendes, affektiv verankertes und damit der rationalen Argumentation entzogenes Sinnsystem übertragen werden kann.5 Auch für die Psychoanalytiker Sigmund Freud und Otto Rank erklärt sich Religion aus der inneren Dynamik der menschlichen Psyche, hier allerdings aufgefasst im Sinne der psychoanalytischen Trieb- und Neurosenlehre. So kommt die Religion für Freud als Ersatzhandeln für unterdrückte egoistische Triebe zustande,6 wobei in ihr letztendlich der Ödipuskomplex als das Urproblem jeglicher Kultur mit bearbeitet wird.7 Sie stellt damit seiner Meinung nach zugleich auch eine Ausdrucksform der Triebproblematik dar und kann insofern als »in die Außenwelt projizierte Psychologie«8 angesehen werden. Aus der Sicht von Rank stellt Religion ebenfalls eine Triebprojektion und Triebbearbeitung dar, wobei Rank noch stärker den Aspekt der stellvertretenden Abreaktion in den Vordergrund stellt.9 Religion ist für ihn funktional betrachtet nichts anderes als eine »psycho-therapeutische Massenkur, die das Volk zu seiner eigenen Heilung erfunden hat«.10 Eine zweite Gruppe von Funktionserklärungen bezieht sich auf die Bewältigung äußerer, das heißt lebensweltlicher, Anforderungen mithilfe von Religion. Für Hermann Ebbinghaus, Heinrich Maier und Wilhelm Wundt geht Religion in diesem Sinne ursächlich auf die Naturwahrnehmung und den Naturumgang des Menschen zurück. Sie basiert initial auf einem Vorstellungsmechanismus, mit dem der Mensch den ihm unerklärlichen Naturvorgängen Subjektcharakter zuschreibt. Ebbinghaus bezeichnet diesen Mechanismus als »analogische Übertragung«11, Maier als »affektiven Phantasieprozess«12 und Wundt als »belebende und personifizierende Apperzeption«.13 Zum eigentlichen religiösen Bewusstsein werden diese Vorstellungen dann in einem weiteren Schritt, indem sie zu transzendenten, dem Menschen wohlgesonnenen Mächten überhöht werden. Auf diese Weise versucht der Mensch, so die Funktionsthese von Ebbinghaus, Maier und Wundt, die existentiellen Ängste zu überwinden, denen er sich angesichts der Unwägbarkeiten des Naturverlaufs und seines persönlichen Lebensschicksals ausgesetzt sieht.14 Die religiösen Vorstellungen, so formuliert Ebbing 5 Ebd. 2. 6 Freud: Zwangshandlungen 10–12. 7 Ders.: Totem und Tabu 135–145. 8 Ders.: Zur Psychopathologie des Alltagslebens 1907 (2. Aufl.), 82. 9 Rank: Der Künstler 36–39. 10 Ebd. 38. 11 Ebbinghaus: Abriss 160. 12 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 512. 13 Wundt: Völkerpsychologie 1905, 583. 14 Ebbinghaus: Abriss 160–163; Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 509–516; Wundt: Völkerpsychologie 1909, 599–601, 625–629 und 643–644.

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haus, »müssen existieren, weil sie aufs notwendigste gebraucht werden; ohne sie wäre überall Ratlosigkeit und Ohnmacht.«15 Religion ist deshalb, so Ebbinghaus weiter, »für den der sie besitzt, […], ein Mittel in dem großen Erhaltungskampf«.16 Maier bezeichnet die Religion vor diesem Hintergrund als »Lebensbedürfnis im umfassendsten Sinn«.17 Eine ähnliche Theorie wie Ebbinghaus, Maier und Wundt vertritt auch Theodor Elsenhans, für den es allerdings nicht nur die Angst vor den Naturgewalten und die Unsicherheit seines Lebensschicksals sind, die den Menschen zur religiösen Vorstellungsbildung treiben, sondern auch seine unstillbare »Sehnsucht nach Glück«.18 Entsprechend beruht der Bewältigungsmechanismus für Elsenhans nicht allein auf dem beruhigenden Glauben an den Einfluss der wohlgesonnenen höheren Mächte, sondern es werden darin auch, auf dem Weg der Imagination eines zukünftigen Idealzustands der Welt, antizipative Glücksgefühle erzeugt.19 Eine Mittelstellung zwischen den ersten beiden Gruppen psychologischfunktionaler Religionserklärung nimmt William James ein. Für ihn funktioniert Religion ebenfalls als Bewältigungsmechanismus existentieller Angstund Hilflosigkeitsgefühle, die sich jedoch aus seiner Sicht nicht einfach nur als Effekt des äußeren Daseinskampfes (»the outward battle«20) erklären lassen. Zwar treten sie auch in James’ Beschreibung im Zusammenhang mit diesem äußeren Kampf auf, aber die Ursache liegt für ihn in der besonderen psychi­ schen Verfasstheit des Menschen, die eine Komponente tiefen, selbstbezogenen Unbehagens (»uneasiness«)21 enthält, einer Empfindung (»a sense«)22, so James, »that there is something wrong about us as we naturally stand«.23 Religion funktioniert James’ Meinung nach als Bewältigung eben dieser charakteristisch menschlichen Selbstwahrnehmung. Sie funktioniert, indem in ihr eine höhere Macht vorgestellt wird, zu der eine Verbindung und dadurch die Errettung aus der wahrgenommenen eigenen Mangelhaftigkeit erreicht werden kann. Religion kann für ihn deshalb durchaus positiv als eine wichtige Ressource der persönlichen Lebensbewältigung angesehen werden.24 In einer dritten Gruppe funktionaler Erklärungsansätze wird Religion schließlich als psychischer Entwicklungsfaktor gewertet, der im Dienst der Ausbildung von höheren individual- und sozialpsychologischen Strukturen steht. So besteht 15 Ebbinghaus: Abriss 161. 16 Ebd. 168. 17 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 510. 18 Elsenhans: Lehrbuch 296. 19 Ebd. 296. 20 James: Varieties 48. 21 Ebd. 508. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 47–52 und 507–508.

82  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  für Wilhelm Wundt die Funktion von Religion zwar ursprünglich in der Angstbewältigung, im Verlauf der Kulturentwicklung wird sie für ihn aber mehr und mehr zum Substrat der Sittlichkeit. Mit dieser tritt sie seiner Analyse zufolge in einem bestimmten Kulturstadium sogar in eine Funktionssymbiose ein und auch in der Gegenwart bildet sie noch immer den notwendigen höchsten Befestigungspunkt der Sittlichkeit.25 Eine konkrete sittliche Funktion von Religion, nämlich die Unterdrückung »böser sozialschädlicher Triebe,«26 beschreibt auch Sigmund Freud. »Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe,« so Freud, »deren Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von der Religion geleistet.«27 Religion muss für Freud deshalb zwar als neurotisch, darin aber zugleich auch als kulturfunktional angesehen werden.28 Bei Edwin Starbuck funktioniert Religion schließlich als wichtiger Faktor der Persönlichkeitsbildung im Sozialisationsprozess. Sie sorgt seiner Meinung nach dafür, dass der ursprüngliche und vor allem in der Jugend gesteigerte »impulse toward self-expression and self-enlargement«29 in eine höhere, gemeinschaftsbezogene Form transformiert wird. Dabei fängt sie auch einen Teil  der unumgänglichen Spannung (»friction«) auf, die dieser Anpassungsprozess des Selbst an das gemeinschaftliche Ganze30 für das Individuum mit sich bringt. Es kann somit ein natürlicher Mechanismus in ihr gesehen werden, so formuliert es Starbuck, »to make the credulous and receptive child over into a full-grown spiritual man or woman«.31 Die von den deutschen und US -amerikanischen Psychologen und Psychiatern vorgebrachten Funktionsthesen über Religion sind im Einzelnen nicht unbedingt neu oder ungebräuchlich. Es handelt sich vielmehr um Aktualisierungen geläufiger funktionalistischer Theoreme, die nun an den neuen fachpsychologischen Diskurs angeschlossen bzw. von diesem aus neu zu plausibilisieren versucht werden. So finden sich Ursachenerklärungen der Religion, die diese auf affektive Vorstellungsbildungen angesichts existentieller Grundängste des Menschen zurückführen, bereits in der antiken Philosophie, so etwa bei Prodikus oder Demokrit.32 Die Annahme, dass Religion eine Funktion der Sittlichkeit darstellt, geht auf Kant zurück und ist im religionsphilosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Auch findet sich bereits bei Herder die These,

25 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 751–753. 26 Freud: Zwangshandlungen 12. 27 Ebd. 28 Ebd. 10–12. 29 Starbuck: Psychology of Religion 394. 30 Ebd. 397. 31 Ebd. 392. 32 Rohls: Philosophie und Theologie 28–34.

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dass Religion als geistiger Wachstumsfaktor bzw. als Prinzip einer geistigen Höherentwicklung des Menschen fungiert.33 Dass sich der Mensch in der Religion unbewusst mit sich selbst auseinandersetzt, also eine projizierte Anthropologie betreibt, wird zwar in der Psychoanalyse im Rahmen der Trieb- und Neurosenlehre neu formuliert, dem Grundgedanken nach aber bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Ludwig Feuerbach vertreten.34 In der Rede vom »Erhaltungskampf«, der mithilfe von Religion geführt wird, kann wiederum eine Spiegelung des im Denken des 19. Jahrhunderts verbreiteten Biologismus und Evolutionismus gesehen werden, dessen Anwendung auf Kulturentwicklungen von Herbert Spencer etabliert wird und der in Bezug auf Religion schon vor der Jahrhundertwende von den britischen Kulturanthropologen E ­ dward Tylor und James Frazer prominent vertreten wird.35 Neu ist um 1900 dagegen der Anspruch, mit dem diese Erklärungen von Religion nun getroffen werden. Sie sollen auf einer neuen fachwissenschaftlichen Kenntnislage und fachwissenschaftlichen Methodik beruhen. Diesen wird gegenüber früheren Ansätzen psychologischer Theoriebildung sowie gegenüber konkurrierenden philosophischen und geisteswissenschaftlichen Zugängen ein gesteigerter Wahrheitswert zugemessen. In dieser Hinsicht verweist beispielsweise Ebbinghaus ausdrücklich auf die neue Orientierung der Psychologie an der Naturwissenschaft, ihre neuartige empirisch-experimentelle Methodik und die damit neu erlangte Einsicht in die elementaren »Grundkräfte«36 und Gesetzmäßigkeiten des psychischen Lebens. Seiner Darstellung nach hat es einen, so Ebbinghaus, »völligen Umschwung in der Arbeitsweise«37 gegeben, der nun eine sehr viel sachlichere und tiefer gehende Behandlung der psychologischen Fragen ermöglicht als zuvor. Erst jetzt, so führt er aus, lassen sich diese Fragen überhaupt in angemessener Art und Weise stellen und erst jetzt werden auch die »tatsächlichen Verwicklungen der Dinge«38 einigermaßen zuverlässig erkennbar.39 Die neuen Einsichten der Psychologie müssen sich seiner Meinung nach vor diesem Hintergrund gegen ein älteres, »dilettantisches Denken«40 durchsetzen, das gerade auch in Bezug auf Religion noch von zahllosen Widersprüchen durchdrungen ist, »verständlich allein darin,« so Ebbinghaus, »dass hier eine kindliche, wunschvolle, zer­ stückelte Betrachtung der Dinge zu uns spricht«.41 33 Jaeschke: Religion VII 673–675. 34 Schmidinger: Religion VIII 686 f. 35 Ebd. 692. 36 Ebbinghaus: Abriss III. 37 Ebd. 14. 38 Ebd. 39 Ebd. 1–16. 40 Ebd. V. 41 Ebd. 191.

84  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  In ähnlicher Weise ist für Heinrich Maier die neue Fachpsychologie »im Reiche der sog. Geisteswissenschaften die fundamentale Gesetzeswissenschaft«.42 Zwar wird seiner Meinung nach für einfachere psychologische Fragen noch immer »die Vulgärpsychologie, die ›praktische‹ Psychologie des Menschenkenners genügen, dieselbe, mit der auch der Dramatiker, der Romandichter arbeitet«.43 Die komplexen Gegenstände wie Sprache, ethisches und ästhetisches Bewusstsein und eben auch Religion sieht Maier allerdings so beschaffen, »dass schon ihre Beschreibung, noch mehr ihre Deutung, einer rationellen und zuverlässigen Psychologie bedarf, einer Psychologie, die auf der ganzen wissenschaftlichen Erfahrung beruht«.44 Die moderne Psychologie ermöglicht es nun seiner Meinung nach erstmals, einen wissenschaftlichen Einblick in das »Wesen des tatsächlichen Denkens«45 zu gewinnen. Vor allem in der Religionswissenschaft und Theologie steht damit seiner Meinung nach ein großer Durchbruch bevor, da in diesen Disziplinen die psychologische Frage eine Grundlagenfrage ist, ohne die viele andere Probleme nicht angemessen bearbeitet werden können.46 Die neue psychologische Methodik bringt, so formuliert Meier, durch ihre »Analyse der logischen Natur des Glaubens Licht in die dunkelsten und umstrittensten Regionen des religiösen Denkens und Lebens«.47 Auch Wilhelm Wundt reklamiert für die moderne Psychologie und dabei i­nsbesondere für seinen völkerpsychologischen Ansatz, das Feld religionswissenschaftlicher Theoriebildung neu und zeitgemäß aufzurollen. Bereits in seiner ersten Bezugnahme auf die Religionsthematik in den 1880er Jahren grenzt er die neue Fachpsychologie ausdrücklich von früheren philosophischen Religionstheorien ab, die sich seiner Meinung nach im Vergleich als methodisch defizitär erweisen und deshalb keine Geltungskraft mehr beanspruchen können. Der entscheidende Punkt ist dabei für ihn die neue empirische Arbeitsweise der Psychologie, die das spekulative und deduktive Vorgehen der früheren philosophisch-psychologischen Theoriebildung durch ihren höheren Wirklichkeitsbezug aus dem Feld schlägt.48 So ist für Wundt angesichts der neueren Entwicklung der Psychologie der bisherige Zustand nicht mehr länger haltbar, in dem die Religionsforscher nach eigenem Gutdünken mit psychologischen T ­ heorien hantieren, »die sie teils geläufigen populären Vorstellungen über das seelische Leben, teils den aus irgendeiner Philosophie aufgenomme­ nen metaphysischen Ideen entlehnen.«49 Hier muss nun seiner Meinung nach 42 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 27. 43 Ebd. 29. 44 Ebd. 45 Ebd. 55. 46 Ebd. 24 f. 47 Ebd. 32. 48 Wundt: Ethik 33–38. 49 Wundt: Völkerpsychologie 1905, IV.

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dringend eine fachpsychologische Bereinigung der Perspektive stattfinden. Denn ob die unterstellten psychologischen Annahmen zulässig sind oder nicht, »darüber wird man«, so Wundt, »aber doch nur der wissenschaftlichen Psychologie ein Urteil zugestehen dürfen, […]«.50 Deutlich wird in diesen Positionierungen, dass die moderne Psychologie um 1900 als Vertreterin eines in seinen Geltungsansprüchen erneuerten psychologischen Funktionalismus in den Religionsdiskurs eintritt. Sie repräsentiert in dieser Hinsicht einerseits den allgemeinen Begriffswandel der Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. In diesem vollzieht sich eine neue Orientierung an empirisch-induktiven Arbeitsweisen und am Leitbild der im Aufschwung befindlichen Naturwissenschaften. In gleichem Maße ist damit eine Abkehr von der älteren Leitwissenschaft Philosophie und des von dieser vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertretenen rationalistisch-deduktiven Methodenansatzes verbunden.51 Andererseits kommt dabei auch das für die moderne Psychologie um 1900 charakteristische Selbstverständnis als neue empirische Basisdisziplin der Geisteswissenschaften zum Ausdruck, die von vielen als Überwindung der bisherigen rationalis­tischen Erkenntnistheorie der Philosophie angesehen wird. Die von der modernen Psychologie um 1900 formulierten funktionalistischen Religionstheorien beanspruchen in diesem Sinne also nicht nur eine Geltung für das eigene Fach und eigene weiterführende Fachforschungen. Sie werden von ihren Vertretern vielmehr als neuer maßgeblicher Ausgangs- und Orientierungspunkt für die religionswissenschaftliche Forschung insgesamt begriffen. Ein wichtiger Unterschied zwischen den einzelnen psychologisch-funktio­ nalen Religionstheorien liegt darin, inwieweit sie darauf abzielen, Religion umfassend psychologisch zu erklären oder inwiefern sie nur den, wenn auch zentralen, psychologischen Teilaspekt des Phänomens behandeln. Ersteres, also die umfassende psychologische Ursachenerklärung von Religion, wird fast ausnahmslos von den deutschen Protagonisten der Debatte angestrebt. Religion gilt bei ihnen als ein reines Funktionsprodukt der menschlichen Psyche und wird in diesem Sinne beispielsweise von Wundt als »metaphysisch-ethische Schöpfung«,52 von Ebbinghaus als »Anpassungserscheinung der Seele«,53 von Maier als »affektiver Phantasieprozess«54 oder von Bresler als »sup-

50 Ebd. 530. 51 Ziche: Wissenschaftslandschaften um 1900 31–61; Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 108–114; Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 1972, 12–20. 52 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 752. 53 Ebbinghaus: Abriss 163. 54 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 512.

86  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  plementärer«55 Mechanismus bezeichnet. Eine darüber hinaus gehende, von ihrer Funktionalität unabhängige Wirklichkeit und ein dementsprechender Erkenntnischarakter wird den religiösen Bewusstseinserscheinungen nicht zugestanden. »Soweit in der Sphäre des gläubigen Vorstellens wirkliche Erkenntnis im Spiel ist«, so formuliert dies Heinrich Maier, »ist dieselbe in Wahrheit ein von der religiösen Phantasie bestimmtes und beherrschtes theoretisches Erkennen«.56 Interpretationsspielraum lassen in dieser Frage dagegen die US -amerikani­ schen Autoren. Sie klammern den Abschluss der Religionserklärung – zumindest vordergründig – aus ihren psychologischen Untersuchungen aus. So hält Starbuck fest, dass seine Befunde zur psychischen Funktionalität von Religion keineswegs schon eine abschließende Erklärung, sondern nur eine erste Annäherung an das Phänomen darstellen sollen. Um Aussagen über dessen Gesamtcharakter treffen zu können, müssen seiner Meinung nach erst noch sehr viel umfassendere Forschungen geleistet werden.57 Für William James bleibt ein letztinstanzliches wissenschaftliches Urteil über Religion sogar ganz ausgeschlossen, weil auch die Psychologie, die in dieser Hinsicht noch am weitesten vordringt, schließlich auf eine Grenzlinie von unbewussten Vorgängen stößt, über die hinaus sie keinen Zugriff mehr besitzt. Da für James jedoch eine verbindliche metaphysisch-theologische Religionsbeurteilung ausgeschlossen ist – aufgrund der psychologisch erlangten Einsicht in die Subjektivität des Phänomens  –, kann für ihn am Ende nur das persönliche Glaubensurteil und eine pragmatische Beurteilung des psychischen Nutzens von Religion stehen.58 Innerhalb der psychologisch-funktionalen Sichtweise auf Religion besteht ein zweiter wichtiger Unterschied in der Frage, ob Religion als anthropologische Konstante oder eher als eine Variable in der kulturellen Entwicklungsgeschichte des Menschen angesehen werden muss. Ersteres, also die Betrachtung von Religion als Kulturkonstante, findet sich etwa bei Maier oder Ebbinghaus, die Religion jeweils mit der conditio humana in Verbindung bringen. So hält Maier fest, dass Religion zwar sehr weitreichend den allgemeinen Kultureinflüssen unterliegt, eine religionslose Kultur aber nur durch eine grundlegende Änderung des menschlichen Wesens oder der Lebensumstände des Menschen vorstellbar wäre. »Solange der lebendige Mensch vor allem anderen nach Lebensbehauptung und Lebenssteigerung verlangt, und auf der anderen Seite in der Betätigung dieses Strebens sich bedingt, beschränkt 55 Zwingmann, Christian/Frank, Dirk/Moosbrugger, Helfried: Religionspsychologie in fachhistorischer Sicht. In: Dies.: Religiosität, Persönlichkeit und Verhalten, Beiträge zur Religionspsychologie, Münster 1996, 9–13, hier 27. 56 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 545. 57 Starbuck: Psychology of Religion 10 f. 58 James: Varieties 509–519.

Der funktionalistische Diskurs der modernen Psychologie  87

und abhängig fühlt«, so konstatiert Maier, »so lange wird es Religion geben.«59 Ähnlich argumentiert Ebbinghaus, für den Religion angesichts der ihr begegnenden äußeren Widrigkeiten längst ausgestorben sein müsste, wenn es sich nicht um einen Grundmechanismus der menschlichen Psyche handeln würde, der sie aus dem anhaltenden Bedürfnis der Angstbewältigung immer wieder neu hervorbringt.60 Zweiteres, also die Auffassung von Religion als Kulturvariable, findet sich insbesondere in Wilhelm Wundts »Völkerpsychologie«, in der Religion als ein auch historisch eingrenzbares Entwicklungsprodukt von Kultur gilt: Für Wundt ist zwar die mythologisierende Phantasie, aus der die religiösen Vorstellungen seiner Meinung nach hervorgehen, eine menschliche Grundeigenschaft. Transzendente und damit im eigentlichen Sinne religiöse Vorstellungen entwickeln sich aber für ihn erst mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit.61 Auch die Funktionalität der Religion ist für ihn nicht stabil, sondern kulturell bedingt. Sie liegt zuerst noch in der Überwindung existenzieller Ängste, wird dann im Verlauf der Kulturentwicklung ethisiert und kann sich potentiell auch weiterhin noch wandeln.62 Eine weitere Möglichkeit, Religion nicht als Konstante, sondern als Kulturvariable anzusehen, findet sich bei Willy Hellpach. Er sieht sie als nur eine unter mehreren Möglichkeiten an, den von ihm als Religions­ursache diagnostizierten »irrationalen Überschuss unserer Seelen«63 aufzufangen. Für Hellpach ist aber auch eine entsprechend gestaltete, nicht-religiöse Weltanschauung denkbar, die diese Funktion genauso gut oder sogar besser ­erfüllen und damit die Religion ablösen könnte, so dass diese als Kulturphänomen wieder verschwindet. Ambivalent ist schließlich die Stellung der Psychoanalytiker zu der Frage, ob Religion als Konstante der menschlichen Kultur anzusehen ist. So ist für Freud Religion zwar einerseits ein notwendiges Element der Kulturentwicklung und er sieht sie als verbunden mit deren Urszene, dem Vater- bzw. Elternkomplex, an.64 Damit ist allerdings auch impliziert, dass sie von der psychoanalytischen Bearbeitung dieses Komplexes mit betroffen ist und letztendlich auch überwunden werden soll.65 Was sich vor dem Hintergrund der funktionalistischen Herangehensweise der um 1900 mit Religion befassten deutschen und US -amerikanischen Psychologen und Psychiater nicht findet, ist eine radikale, das heißt antireligiöse, Religionskritik, die Religion beispielsweise als Illusion, Betrug oder Entfremdung einordnet. Zwar wird der Religion durch die psychologischen Funktionserklä 59 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 547 f. 60 Ebbinghaus: Abriss 163. 61 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 599–601 und 625–629. 62 Ebd. 753–766. 63 Hellpach: Nervenleben 69. 64 Vgl. Kapitel 2.6. dieser Arbeit. 65 Ebd. 80.

88  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  rungen ihre Bewusstseinsunabhängigkeit ebenso abgesprochen wie die Eigentlichkeit ihrer Inhalte. Sie gilt zu großen Teilen oder sogar ausschließlich als das Produkt eines psychischen Funktionsmechanismus und damit als, zudem noch kulturbedingte, »Scheinwirklichkeit«66, wie dies beispielsweise Heinrich Maier formuliert. In ihrer Funktionalität wird sie dabei allerdings als ein – zumindest historisch betrachtet  – notwendiges und überwiegend konstruktives Element der Kulturentwicklung gewertet.67

3.2 Theologische Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie Die psychologischen Ansätze, Religion funktionalistisch zu erklären, sind ganz offensichtlich unvereinbar mit der aus theologischer Sicht grundlegenden und im Grundsatz nicht verhandelbaren substantialistischen Religionsauffassung, das heißt mit der Annahme, dass Religion eine – wie auch immer im Einzelnen zu verstehende – eigenständige, funktionsunabhängige Wirklichkeit und Wahrheit besitzt. Sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Theologie lassen sich dementsprechend energische Abwehrreaktionen beobachten, die eine ausgeprägte Gefahrenwahrnehmung der modernen Psychologie mit dem, auf unterschiedliche Weise begründeten Versuch verbinden, sie grundsätzlich aus dem Religionsdiskurs auszuschließen. Die Gefahrenwahrnehmung der modernen Psychologie durch die Theologie bezieht sich dabei auf eine befürchtete Destabilisierung von Religion. Sie bezieht sich weiterhin auf eine, aus den funktionalistischen Erklärungsansätzen entnommene, religionsfeindliche Intention der modernen Psychologie, die es abzuwehren gilt. Auf protestantischer Seite sind in diesem Sinne etwa für Julius Kaftan die Erklärungsversuche der modernen Psychologie zwar durch ihren unhaltbaren Funktionalismus offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Sie bergen seiner Meinung nach aber dennoch die Gefahr einer Verunsicherung des religiösen Denkens, indem sie dazu führen, »die einfachen großen und klaren Grundlinien, auf die es bei der Erkenntnis der Religion ankommt, weniger deutlich zu machen oder doch die Aufmerksamkeit davon abzulenken«.68 Otto Scheel sieht sogar in unmittelbarer Weise die Sicherheit des Glaubens gefährdet, denn dieser, so meint Scheel, »fordert«69 vom religiösen Denken einen eindeutigen Substan 66 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 25. 67 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 5.1 dieser Arbeit. 68 Kaftan: Dogmatik und Glaubenspsychologie 389. 69 Scheel, Otto: Religionspsychologie neben der Dogmatik! In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 17 (1907), 149–150, hier 149.

Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie   89

tialitätserweis seiner Bezugsobjekte. Die von der modernen Psychologie konstruierten Erklärungen stellen deshalb für ihn ein »kritikloses Verfahren«70 dar. Sie sind nicht einfach nur falsch und oberflächlich, sondern sie drohen auch, die Religion zu destabilisieren, indem sie sich in eine, so Scheel, »den Wahrheitsgehalt des Christentums selbst vernichtende Auflösung der religiösen Zentralbegriffe«71 umsetzen. Auf katholischer Seite bezeichnet Constantin Gutberlet die funktionalistischen Einlassungen der modernen Psychologie zur Religion als »destruktiv«.72 Es wird damit für ihn jeder Ansatz einer »vernünftigen Beweisführung für die objektive Bedeutung der Religion« unmöglich gemacht. Auf eine solche kann aber seiner Meinung nach auf keinen Fall verzichtet werden, da für die »geistige Organisation« des Menschen gerade auch das Element des Zweifels charakteristisch ist. »Wir Katholiken«, so formuliert Gutberlet, »können nur glauben und glauben, [sic!] für dessen Glaubwürdigkeit wir den Beweis erbringen können.«73 Für Gutberlet sind vor diesem Hintergrund die Absichten der modernen Psychologen evident antireligiös: Entweder, so meint er, wollen sie im direkten Vorsatz die Religion aufheben, indem sie sie »zu einer rein subjektiv-psychologischen Erscheinung degradieren«.74 Oder es geht ihnen um einen subjektivistischen Pantheismus, also um eine, seiner Meinung nach schon in sich widersinnige »Religion ohne Gott«.75 In ähnlicher Weise sind auch für Julius Beßmer die Erklärungsversuche der modernen Psychologie der Ausdruck von letztendlich »glaubensfeindlichen«76 Intentionen. Dies gilt für Beßmer nicht nur für die­ direkte Infragestellung religiöser Substantialität durch die psychologisch-funktionalen Ursachenerklärungen. Auch dort, wo in der modernen Psychologie, wie etwa bei William James, die Substantialitätsfrage ausgeklammert und dem persönlichen Glaubensurteil überlassen bleibt, kommt es für Beßmer zu einem fatalen Schaden, da auf diese Weise jegliche Sicherheit der Religionsinhalte verloren gehen muss. »Unter diesen Fittichen«, so meint Beßmer in Bezug auf James, »haben der pantheistische Optimismus Emersons wie die Spekulation des buddhistischen Pessimismus noch Platz.«77 Am Ende steht man dann seiner Meinung nach doch wieder »beim pantheistischen Gott der Monisten und bei der Hingabe des Menschen an das All«.78

70 Ders.: Zeitschrift für Religionspsychologie 307. 71 Ebd. 72 Gutberlet: Religionspsychologie 149. 73 Ebd. 154–156. 74 Ebd. 148. 75 Ebd. 161, das Zitat auf 153. 76 Beßmer: Unterbewusstsein 60. 77 Ebd. 62. 78 Ebd.

90  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  Die in dieser Frage engagierten protestantischen und katholischen Theologen reagieren auf die als Gefahr für die Religion wahrgenommenen psychologischfunktionalen Erklärungsansätze, indem sie versuchen, diese auf dem Weg methodologischer Grundsatzkritik zu entkräften. Sie konfrontieren die moderne Psychologie mit vermeintlichen Gründen für ihre methodische Unzulänglichkeit dem Gegenstand Religion gegenüber und verweisen auf Gegenmodelle, die eine gegenstandsangemessene Betrachtung von Religion ermöglichen sollen. Auf protestantischer Seite machen sich die Einwände dabei erstens am Gegensatz der psychologischen Empirieorientierung zu rationalistischen und historistischen Erkenntnismodellen fest. So weist etwa Otto Scheel den in der modernen Psychologie formulierten Anspruch, eine neue, grundsätzliche Erkenntnis menschlicher Bewusstseinsprozesse zu ermöglichen, entschieden zurück. Er stellt diesem das seiner Meinung nach auch weiterhin gültige Primat einer »begrifflich unabhängigen«79 rationalistischen Erkenntnistheorie gegenüber. Über diese, so Scheel, kann sich die Psychologie nicht einfach nach eigenem Gutdünken hinwegsetzen. Vielmehr verhält es sich für ihn so, dass die Erkenntnistheorie, als Herausarbeitung der »allgemeingültigen, dem Denken einwohnenden Begriffe«,80 jeder empirischen Wissenschaft vorauszugehen hat und am Ende auch wieder über sie hinausreicht. Denn nur durch die Erkenntnistheorie lässt sich seiner Meinung nach Allgemeingültigkeit erreichen, während die empirische Vorgehensweise immer nur begrenzte, an ihr konkretes Untersuchungsmaterial gebundene Schlussfolgerungen erlaubt. Gerade in Bezug auf die »Wahrheitsfrage«81 der Religion ist Allgemeingültigkeit für Scheel das alles entscheidende Kriterium, da es sich dabei für ihn nicht um eine beliebige Sachfrage, sondern um eine Frage von grundlegender normativer Bedeutung handelt. In dieser Hinsicht, so hält er fest, »bleibt dann aber die Psychologie, wie jeder Empirismus die Antwort schuldig«.82 Zwar kann die moderne Psychologie seiner Meinung nach durchaus sekundäre Phänomene des religiösen Lebens bearbeiten und sich mit dessen praktischer Seite beschäftigen, aber auch dabei benötigt sie immer wieder »klärende erkenntniskritische Erwägungen«,83 um sich ihrer Grenzen bewusst zu bleiben. »Die entscheidenden theologischen Fragen zu lösen«, so Scheel, »ist sie überhaupt nicht in der Lage.«84 Ähnlich wie Scheel argumentiert auch Adolf Frey, der in seiner »Untersuchung über die Bedeutung der empirischen Religionspsychologie für die Glaubenslehre«85 versucht, die Unzulänglichkeiten der empirischen Vorgehens 79 Scheel: Zeitschrift für Religionspsychologie 306. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Frey: Untersuchung.

Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie   91

weise gegenüber der seiner Meinung nach auch weiterhin überlegenen rationalistischen Methode im Detail aufzuzeigen. »Hier«, so beschließt Frey seine Untersuchung, »auf dem Felde der tiefsten und reinsten Reflexion, auf dem der rationalen Philosophie, wird in Sachen der Glaubenslehre und ihrer Hauptfragen die Entscheidungsschlacht geschlagen, nicht auf dem des psychologischen Empirismus.«86 Ein Beispiel für die Zurückweisung psychologischer Religionserklärungen mit historistischen Argumenten findet sich wiederum bei Julius Kaftan. Seiner Ansicht nach kann die »innere Logik des Glaubens«87 nur geschichtlich nachvollzogen werden, nämlich als eine »überall in den Religionen wiederkehrende, aus der inneren Situation, in der Frömmigkeit entsteht und besteht, verständliche Gedankenbildung«.88 Es ist, so meint Kaftan, in der Hauptsache die Geschichte, in der sich, auch in religiöser Hinsicht, das »geistige Leben«89 der Menschheit umsetzt. Nur in mittelbarer Weise sieht er das individuelle Bewusstsein eines jeden Menschen dafür verantwortlich. Entsprechend kann das geistige Leben auch nur im Nachvollzug seines geschichtlichen Entwicklungsverlaufs verstanden werden.90 Es muss für ihn in dieser Hinsicht ganz einfach anerkannt werden, »dass wir in allem was wir sind aus der Geschichte herauswachsen«.91 Die geforderte historische Erkenntnis soll dabei allerdings nicht, wie dies etwa Wundt mit seiner »Völkerpsychologie« beabsichtigt, als kulturhistorische Untersuchung auf der Grundlage psychologischer Kenntnisse zustande kommen, sondern als eine unmittelbare, eigenständige und ihrerseits grundlegende Erkenntnis einzig aus der Geschichtsbetrachtung selbst. Es ist, so Kaftan, »die Geschichte und nur die Geschichte, die uns hier bietet was wir brauchen«.92 Der Religionserklärung durch die moderne Psychologie wird auf protestantischer Seite zweitens die Frage der Zugänglichkeit und Abbildbarkeit von reli­ giösem Bewusstsein durch die außerreligiöse Reflexion entgegengehalten. So ist etwa für Kaftan die von ihm postulierte geschichtliche Wesenserfassung von Religion nur dann zuverlässig möglich, wenn zugleich auch eine persönliche Teilhabe an ihr, ein »durch eigenes Erfahren und Erleben zu erwerbendes inneres Verständnis des religiösen Lebens«93 besteht. Ohne diese Teilhabe, die für Kaftan ein »inneres Werden« und »jeder rationalen Erkenntnis dispa­

86 Ebd. 87. 87 Kaftan: Dogmatik und Glaubenspsychologie 381. 88 Ebd. 89 Ebd. 391. 90 Ebd. 91 Ebd. 386. 92 Ebd. 391. 93 Ebd. 389.

92  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  rat«94 ist, muss die Religionserfassung seiner Meinung nach äußerlich bleiben, sie ist dann »keine wirkliche Erkenntnis, sondern höchstens eine Hypothese, eine versuchte Idee«.95 Bei Wilhelm Herrmann wird ein ähnlicher Einwand zur noch radikaleren Zurückweisung nicht nur von Psychologie, sondern von jeglicher profanwissenschaftlicher Aussagemöglichkeit zu Religion. Herrmann zufolge stellt Religion selbst einen Erkenntnismodus dar, und zwar eine »Erkenntnis ganz anderer Art«.96 Während durch die profane Wissenschaft das allgemeingültig Nachweisbare in der Wirklichkeit erfasst und in ordnende Gesetzesbegriffe übertragen werden kann, bringt sich durch die Religion seiner Auffassung zufolge eine darüber hinaus gehende, nur subjektiv als »individuell Lebendiges im Menschen« erfahrbare, höhere Ordnung zur Geltung.97 »Wer Religion als das soll sehen können, was sie selbst sein will«, so bringt Herrmann seine Sichtweise auf den Punkt, »muss selbst in ihr leben.«98 Eine Reflexion hierüber ist für Herrmann dann zwar durchaus möglich, dies jedoch nicht durch eine von außen auf die Religion blickende Wissenschaft, sondern nur durch eine vom religiösen Bewusstsein selbst ausgehende »Gedankenarbeit«, die aufzuzeigen versucht »wie ein Mensch diesen wichtigsten Inhalt seines Lebens erfasst«.99 Und auch diese Umgangsweise steht für Herrmann immer noch unter dem Vorbehalt, »dass es sich um ein Unbeschreibliches handelt, das dem, der es empfangen hat, nur in der Umwandlung seiner Existenz erscheint«.100 Dieser letzte Vorbehalt Herrmanns wird wiederum von Karl Bornhausen ins Zentrum der antipsychologischen Argumentation gestellt: Für Bornhausen ist Religion durch derart individualspezifische subjektive Erlebnisvorgänge charakterisiert, dass jeder Versuch, sie in allgemeine psychologische Gesetzesbegriffe zu übertragen, von vornherein scheitern muss. Die subjektiv begründete Religion, so formuliert Bornhausen, »entschlüpft« durch ihre immer nur individuelle innerliche Entstehungsweise jedem Zugriffsversuch empirischer Wissenschaft. Diese kann zwar äußere Zusammenhänge in den Erscheinungsformen von Religion feststellen, aber dem »eigentlich Religiösen« gegenüber wird sie früher oder später ihre »Hilflosigkeit« eingestehen müssen.101 94 Ebd. 383. 95 Ebd. 382. 96 Herrmann, Wilhelm: Die Lage und Aufgabe der evangelischen Dogmatik in der Gegenwart. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche (1907), 1–33, 172–201 und 315–351, hier 179 f. 97 Ebd. 197–199. 98 Ebd. 184. 99 Ebd. 9. 100 Ebd. 321 f. 101 Bornhausen, Karl: Amerikanische Religionspsychologie in Deutschland. In: Die Christliche Welt (1909), 922–928, hier 924.

Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie   93

Auf katholischer Seite finden sich, wie schon bei den protestantischen Theologen Scheel und Frey, ebenfalls Zurückweisungen der modernen Psychologie aufgrund ihres, als einseitig wahrgenommenen empirischen Forschungsansatzes. Das Gegenmodell ist in diesem Fall allerdings nicht eine rationalistische, historistische oder subjektivistische Erkenntnistheorie, sondern die als integra­ tive Methode zwischen christlicher Offenbarungswahrheit und einer aristotelisch orientierten Universalphilosophie aufgefasste Erkenntnislehre der Neuscholastik. So liegt etwa nach Ansicht von Jakob Margreth der »Grundfehler«102 der modernen Psychologie bereits in ihrer einseitigen Betonung des empirischen Aspekts der Erkenntnis. Sie fügt sich damit, so Margreth, bloß als ein weiterer vergeblicher Versuch in die lange Reihe von entweder empiristisch oder rationalistisch überzeichneten Philosophien ein, die sämtlich aufgrund ihrer Einseitigkeit den »Stempel des Irrtums«103 tragen. Seiner Meinung nach muss demge­ genüber entschieden an der »aristotelisch-scholastischen Erkenntnistheorie«104 festgehalten werden. Denn diese stellt die einzig mögliche, sich auf natürlichem Wege ergebende Ausgleichsmethode zwischen Erfahrungs- und Prinzipienerkenntnis dar, da sie nicht von einer singulär konstruierten Systematik ausgeht, sondern ganz einfach nur jene ewigen »Grundbegriffe«105 festhält, die sich als »wesentliche Überzeugungen des Menschengeschlechts«106 unabhängig von Zeit und Ort herausgebildet haben und sich immer wieder herausbilden müssen. Nur diese Methode gibt somit »von den Tatsachen ausgehend, eine wirkliche Erklärung und durchdringende Erkenntnis der Weltdinge«.107 Nur sie kann für Margreth als »streng wissenschaftlich«108 gelten und den Ansatz zur Lösung der Frage nach dem Wesen der Religion bieten. Für Constantin Gutberlet besteht zusätzlich zur unzweifelhaften Gültigkeit der aristotelisch-scholastischen Methodik auch in inhaltlicher Hinsicht keinerlei Ergänzungsbedarf durch die moderne Psychologie. Seiner Meinung nach lassen sich in der Scholastik, anders als von ihren Gegnern behauptet, durchaus ausgereifte und den Fehlgriffen der modernen Wissenschaft weit überlegene Modelle religiöser Psychologie auffinden.109 Für Gutberlet kommen dabei vor allem die Confessiones des Augustinus und das Buch von der Nachfolge Christi in Betracht. Gerade letzteres, so meint er, »schildert so wahrheitsgetreu das religiöse Seelenleben, kennt so genau alle Fasern des menschlichen Herzens, dass

102 Margreth: Amerikanische Religionspsychologie 228. 103 Ebd. 224. 104 Ebd. 229. 105 Ebd. 224. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 28. 109 Gutberlet: Religionspsychologie 173–176.

94  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  ein jeder Leser glaubt, sich in der einen oder anderen Schilderung wiederzufinden«.110 Auch in der Lehre Thomas von Aquins, des – laut Gutberlet – maßgeblichen »Philosophen der Objektivität«,111 findet sich, entgegen dem populären Vorurteil, eine umfassende Behandlung religionspsychologischer Fragen  – so vor allem in den Erörterungen über den Willen, die Fertigkeiten und insbesondere über die Gefühle und Gemütsbewegungen. Schließlich ist es für Gut­berlet nicht bloß die scholastische »wissenschaftliche Theologie«,112 die eine ausge­ reifte religiöse Psychologie zu bieten hat, sondern eine solche liegt für ihn in vielfältiger Weise auch in den Heiligenviten vor. Mit diesen ist es seiner Meinung nach möglich, sich in das »reichste, vollendetste Seelenleben, das aber zugleich die höchste Stufe der Religiosität darstellt«113 zu vertiefen. »Das«, so Gutberlet, »ist christliche, wahre ersprießliche Religionspsychologie.«114 Der zweite Einwand, der auf katholischer Seite gegen die Religionserklärungen der modernen Psychologie erhoben wird, besteht im Vorwurf eines darin beförderten religiösen Subjektivismus. Dieser Einwand steht genau spiegelbildlich zu dem in der protestantischen Theologie formulierten Argument des nur innerlich-subjektiv möglichen und daher durch die Psychologie nicht adäquat abbildbaren Religionszugangs. Für die katholischen Theologen ist eine solche Sichtweise nicht möglich, da sich in ihrem Verständnis die eigentliche, das heißt christlich-katholische, Religion über ihre objektiv wahren, eindeutigen Lehrinhalte und deren intellektuell vollzogene Erfassung konstituiert. Religion in diesem Sinne bedeutet, so führt es Julius Beßmer aus, die von Gott als »höchstem Gesetzgeber«115 befohlene übernatürliche Ordnung, die ihren Ursprung »im persönlichen Verkehr der ersten Menschen mit Gott, also in gnadenvoller, dem Menschen nicht geschuldeter Offenbarung«116 hat. Der katholische Christ, so Beßmer weiter, »hat religiöse Gefühle, aber sie bauen sich auf über seiner religiösen Erkenntnis; er hat auch religiöse Erfahrungen, aber sie gründen sich schon auf seiner Überzeugung von der religiösen Wahrheit«.117 Entsprechend der Fundierung der Religion im Intellekt ist dann für Beßmer auch allein dieser, also die »klare Vernunfterkenntnis«,118 für die kritische Bearbeitung und Sicherung der Religion zuständig. Der psychologische Versuch, sie von der Emotions- oder Affektseite her zu begreifen, kann für ihn nur scheitern, da er von Anfang an die falschen Zugangsaspekte wählt. Die Folge 110 Ebd. 174. 111 Ebd. 112 Ebd. 175. 113 Ebd. 176. 114 Ebd. 115 Beßmer: Unterbewusstsein 63. 116 Ebd. 74. 117 Ebd. 64. 118 Ebd. 75.

Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie   95

sind dann nicht nur entsprechend fehlgeleitete reduktionistische Funktionserklärungen, sondern auch jene pseudoreligiöse »Phantasterei und Gefühls­ duselei«,119 wie sie für Beßmer exemplarisch bei William James zum Durchbruch kommt.120 In ähnlicher Weise wie Beßmer betont auch Jacob Margreth, dass die Versuche moderner psychologischer Religionserklärung neben ihrem einseitigen Empirismus auch bereits an der Wahl ihrer Zugangsaspekte scheitern müssen. Bei dem Versuch, die Religion aus dem subjektiven Empfinden zu erklären wird, so Margreth, unversehens »die Nebensache zur Hauptsache gemacht«.121 Die moderne Religionspsychologie ist deshalb für ihn als »anti-intellektualistisch«122 abzulehnen. Trotz gegensätzlicher Beteuerungen schaltet sie das »rationale Element«, das »Erkennen, auf dem die Religion ruht« aus dieser aus.123 Constantin Gutberlet sieht in dieser Hinsicht sogar die moderne Psychologie und den ihr von protestantischer Seite entgegen gehaltenen Subjektivitätseinwand als zwei Facetten ein und derselben Problemlage an. Es ist für ihn die von Kant in der Philosophie und von Luther in der Religion »inaugurierte« neuzeitliche Subjektzentrierung, die hier jeweils zum Ausdruck kommt.124 Auf der einen Seite setzt diese sich dabei in antireligiöse Thesen um, während auf der anderen Seite versucht wird, bei einem angeblich nur noch subjektiv zugänglichen, religiösen Erlebnis die letzte Zuflucht zu finden.125 Im Hintergrund der strikten theologischen Psychologieablehnung wird auf katholischer Seite der Zusammenhang des kirchlichen Antimodernismus und der damit in Verbindung stehenden Neuscholastik als verbindlicher kirchlicher Erkenntnislehre sichtbar: Bereits 1864 hatte Pius IX . den »Syllabus errorum« erlassen, in dem 80 grundlegende »Irrtümer« der modernen Kultur verurteilt werden und seit der 1879 von Leo XIII. verfügten Enzyklika »Aeterni Patris« ist die deduktive und traditionalistische Erkenntnisauffassung der Neuscholastik bzw. des Neuthomismus päpstliche Doktrin. Zeitgleich mit der religionspsychologischen Auseinandersetzung spitzt sich dann der unter Pius X. geführte sogenannte »Modernismusstreit« zu. Im päpstlichen Dekret »Lamentabili sane exitu« und der Enzyklika »Pascendi dominici gregis« von 1907 werden erneut moderne Irrlehren aufgeführt und es kommt zu einer Welle von Indizierungen und disziplinarischen Maßnahmen. 1910 wird der Antimodernisteneid eingeführt, der nun von sämtliche Klerikern gegen die modernistischen Irrtümer

119 Ebd. 67. 120 Ebd. 67–75. 121 Margreth: Amerikanische Religionspsychologie 223. 122 Ebd. 229. 123 Ebd. 124 Gutberlet: Religionspsychologie 147 f. 125 Ebd. 165–171.

96  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  ­abgelegt werden muss.126 Die Beteiligung katholischer Theologen steht im Zeichen dieser Polarität und der drohenden lehramtlichen Restriktionen, so dass hier dem Diskurs von vornherein klare Vorgaben gesetzt sind. In diesem Sinne benennt etwa Constantin Gutberlet klar den Kontext moder­ nistischer Irrtümer und religionsschädlicher »antichristlicher«127 Weltanschauungen, in den sich seiner Meinung nach auch die moderne Psychologie nahtlos einfügt. Indem sie die Religion als psychisch-funktional begründetes Geschehen beschreibt, negiert sie für ihn deren eigentliche überweltliche Objektivität und repräsentiert auf diese Weise die modernistischen Irrlehren des »reinen Phänomenalismus, Immanentismus, Psychologismus«.128 Sie steht damit, so meint Gutberlet, in einer Reihe mit vergleichbaren Tendenzen bei zahlreichen neueren Philosophen, aber auch in den neu entstehenden historisch-ethnologischen und soziologischen Kulturwissenschaften sowie nicht zuletzt in Teilen der protestantischen Theologie. Weltanschaulich fügt sie sich für ihn in moderne religionsfeindliche Bewegungen wie den Positivismus, Monismus oder den neu erstarkenden Pantheismus ein.129 Auch für Beßmer stellt die Modernismusproblematik den Hintergrund dar, vor dem die moderne Psychologie gesehen und dementsprechend abgewehrt werden muss. Er sieht sogar bereits den direkten Schulterschluss vollzogen, da sich, so seine Diagnose, der Modernismus die Gedanken der neuen Fachpsychologie angeeignet »und zur Bekämpfung der übernatürlichen Offenbarung in schlauer Weise ausgenützt hat«.130 Auf protestantischer Seite werden dagegen im Hintergrund der strikten Psychologieablehnung zum einen Reflexe der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Debattenlage um 1900 sichtbar. Denn die von der modernen Psychologie repräsentierte neue empirisch-induktive und naturwissenschaftliche Methodenorientierung stellt zwar einerseits einen breiten Trend dar.131 Es ist aber andererseits umstritten, ob diese Orientierung über die einzelfachliche Forschung hinaus auch zur allgemeinen und ausschließlichen Grundlage der Erkenntnisbegründung werden kann, das heißt, ob die Psychologie tatsächlich, wie oft angenommen wird, in der Lage ist, die philosophische Erkenntnistheorie und Logik zu verdrängen und zur neuen Grunddisziplin der Geisteswissenschaften zu werden. Entgegengesetzt wird den grundwissenschaftlichen Ansprüchen 126 Arnold, Claus: Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg i. Br. u. a. 2007, 11–15, 89–137; Neuner, Peter: Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt a. M. 2009, 11–27, 96–107; Schmidinger, H. M.: Neuscholastik. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, 769–774. 127 Gutberlet: Religionspsychologie 170. 128 Ebd. 147. 129 Ebd. 148–171. 130 Beßmer: Unterbewusstsein 60. 131 Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 98 f.; Ziche: Wissenschaftslandschaften um 1900 31–61.

Substantialitätsbehauptung durch Abwehr der modernen Psychologie   97

der Psychologie dabei ein erkenntnistheoretischer Apriorismus, der von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer zunächst erfahrungsunabhängigen Kategorienbegründung ausgeht, auf deren Grundlage empirische Erkenntnis erst möglich werden soll.132 Diese Position findet sich etwa in den Einwänden wieder, mit denen Scheel und Frey die Möglichkeit einer Religionsbestimmung durch die moderne Psychologie bestreiten.133 Daneben steht den Erkenntnisansprüchen der modernen Psychologie außerdem ein nach wie vor aufrecht erhaltener methodologischer Historismus gegenüber, der in der Betrachtung der Geschichte und von geschichtlichen Entwicklungsverläufen den grundlegenden empirischen Zugang zur Wesenserfassung des Menschen sieht.134 Als Gegenposition zur psychologischen Religionserfassung wird diese Sichtweise insbesondere von Julius Kaftan in Stellung gebracht. Weiterhin fällt auf protestantischer Seite auf, dass die als Gegner des psychologischen Zugriffs auf Religion auftretenden Theologen überwiegend einer theologischen Richtung zuzurechnen sind, die auf den Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl zurückgeht. Bei dieser Richtung, die von etwa 1870 bis zur Jahrhundertwende einen großen Einfluss in der protestantischen Theologie besitzt, geht es zentral um eine integrative Verhältnisbestimmung von Religion und allgemeiner Kulturentwicklung. Dabei wird einerseits der Kulturbezug der Religion betont, was, anknüpfend an Kant, durch die Konstatierung ihres ethischen Charakters und ihrer Verbindung mit dem angenommenen Prozess allgemeiner kulturgeschichtlicher Höherentwicklung unternommen wird. Dieser Prozess wird religiös ausgelegt, indem im Kulturfortschritt die allmähliche Verwirklichung des Gottesreichs angenommen wird. Andererseits besteht damit aber auch die Herausforderung, Religion nicht in Kultur aufgehen zu lassen, weshalb hier besonders deutlich ihre Substantialität betont und funktionalistische Deutungsversuche aufmerksam registriert und bekämpft werden.135 Das von Kaftan, Herrmann und Bornhausen vorgebrachte Argument der prinzipiellen Unzugänglichkeit von Religion für Deutungsversuche, die nicht aus ihr selbst heraus unternommen werden, stellt in diesem Zusammenhang einen etablierten Topos und eines der wichtigsten Themen der Ritschl-Schule dar.136 132 Rath, Matthias: Der Psychologismusstreit in der deutschen Philosophie, Freiburg i. Br., München 1994. 133 Siehe die Darstellung oben. 134 Scholtz, Gunter: Geschichte, Historie. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 344–398, hier 368. 135 Graf, Friedrich Wilhelm: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums. In: Vom Bruch, Rüdiger/Graf, Friedrich Wilhelm/­ Hübinger, Gangolf (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft Stuttgart 1989, 103–132, hier 116 f. und 125–127. 136 Lessing, Eckhard: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von­ Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Bd. 1 (1870–1918), Göttingen 2000, 87–92.

98  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  Die strikte Zurückweisung des Zugriffs der modernen Psychologie auf Religion kann bei den Theologen der Ritschl-Schule schließlich auch darauf zurückgeführt werden, dass sie sich inhaltlich selbst psychologisierender Argumentationen bedienen und sich insofern der Verwechslung ausgesetzt sehen, mit der von ihnen abgelehnten Psychologie selbst zu hantieren. So möchte Kaftan zwar streng historisch vorgehen, auf diese Weise aber doch eine »innere Logik des Glaubens«137 freilegen. Teilweise wird er deshalb als Vertreter eines neuen theologischen Trends zur Psychologie wahrgenommen und mit den Ansätzen der modernen Psychologie in Zusammenhang gebracht,138 wogegen er sich selbst wiederum entschieden zur Wehr setzt.139 Das gleiche gilt auch für Wilhelm Herrmann, der zwar den Zugriff der modernen Psychologie auf Religion kategorisch ablehnt, ihre Erfassung aber zugleich selbst auf ein besonderes Bewusstseinsgeschehen zurückführt, dessen Dynamik er ausführlich diskutiert.140 Von Constantin Gutberlet wird Herrmann aus diesem Grund seinerseits als »Religionspsychologe« denunziert, im Sinne jenes modernen »Subjektivismus« in der Religionsbetrachtung, auf den zugleich auch die neue fachwissenschaftliche Psychologie hinarbeitet.141

3.3 Theologische Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie Genauso prägend für die religionspsychologische Auseinandersetzung wie der theologische Widerstand gegen Religionserklärungen auf Grundlage der modernen Psychologie sind die parallel auftretenden und inhaltlich diametral entgegen gesetzten Anschlussversuche von Theologen an die neu etablierte Wissenschaft. Diese Anschlussversuche zielen darauf ab, gerade durch die theologische Integration der modernen Psychologie einen Substantialitätsnachweis von Religion zu erreichen. Gerade indem Religion mit modernen psychologischen Methoden neu untersucht wird, so die hier vertretene Annahme, soll sich nicht bloß ihre Funktionalität im Bewusstseinszusammenhang zeigen, sondern es soll letztendlich auch die dahinterstehende Substantialität deutlich werden. Dieser Ansatz wird vor allem von protestantischen und einigen wenigen katholischen Theologen vertreten. Er ist insofern prägend für die Auseinandersetzung, als sich ihm besonders einflussreiche oder engagierte Protagonisten der 137 Kaftan: Dogmatik und Glaubenspsychologie 381. 138 Kade, Richard: Zum Problem der Dogmatik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910) 489 f. 139 Kaftan: Dogmatik und Glaubenspsychologie 380–387. 140 Herrmann: Aufgabe der evangelischen Dogmatik 317–333. 141 Gutberlet: Religionspsychologie 165 f.

Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie  99

Debatte wie etwa Ernst Troeltsch, Gustav Vorbrodt oder Georg Wobbermin zuordnen lassen. Als eine erste Gruppe von Anschlussversuchen lassen sich in diesem Zusammenhang die Ansätze protestantischer und katholischer Theologen werten, die davon ausgehen, dass die Forschungen der modernen Psychologie mittelfristig zur Selbstwiderlegung ihrer funktionalistischen Thesen führen müssen bzw. dass sich diese schon gegenwärtig entsprechend interpretieren lassen. So liegt etwa für Emil Mayer aufgrund von erkenntnistheoretischen Überlegungen die Substantialitätsfrage der Religion bereits von vornherein außerhalb des Kompetenzbereichs der Psychologie. Mayer schließt sich hier Scheel an und hält mit diesem fest, dass »das transzendentale, das erkenntnistheoretische, das Gültigkeitsproblem«142 etwas ganz Anderes ist, als »das psychologisch-­ genetische Problem«,143 also die Frage, durch welche Bewusstseinsprozesse sich Religion im Einzelnen realisiert. Zugleich geht es Mayer aber zu weit, deshalb die psychologische Erforschung der religiösen Bewusstseinsprozesse von vornherein zurückzuweisen. Denn erstens kann diese für sich genommen durchaus informativ sein,144 und zweitens ist ja, so Mayer, bereits erkenntnistheoretisch sichergestellt, dass die modernen Psychologen mit ihren funktionalen Erklärungsversuchen am Ende scheitern müssen. Gerade vor diesem Hintergrund hält Mayer derartige Unternehmungen, obwohl sie von vornherein paradox erscheinen mögen, für durchaus instruktiv, »weil sich jedesmal genau die Stelle nachweisen lässt, wo in der Demonstration die den Erfolg des Ganzen gefährdende Lücke klafft«.145 Sie aufgrund ihrer Aussichtslosigkeit von vornherein zu verhindern, ist für ihn dagegen unwissenschaftlich. »Im Gegenteil«, so Mayer, »das Experiment muss gemacht werden, wäre es auch nur, damit durch das Scheitern desselben die Probe erbracht werde für die Richtigkeit der Auffassung, dass die Religion auch in ihren Ursprüngen etwas von andern seelischen Erscheinungen qualitativ Verschiedenes sei.«146 Auch Friedrich Rittelmeyer erscheint es von vornherein klar, dass die Substantialität der Religion psychologisch nicht angegriffen werden kann. Rittelmeyer geht allerdings nicht wie Mayer von einem direkten Scheitern der psychologischen Forschungen aus, sondern davon, dass diese, je weiter sie vordringen, sich umso mehr ihrer Erklärungsgrenze und damit auch einem Bewusstsein von dieser Grenze annähern müssen.147 Auf diese Weise wird die Psychologie seiner Meinung nach die Ursachenfrage gerade nicht entscheiden, sondern im 142 Mayer, Emil Walter: Über Religionspsychologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), 293–324, hier 319. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Mayer: Über Religionspsychologie 1911 458 f. 146 Ebd. 458. 147 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 126.

100  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  mer nur weiterschieben können, was jedoch indirekt ein wichtiger Beitrag zur Behandlung dieser Frage ist. »Ist aber die Religion mehr als Illusion«, so hält Rittelmeyer in diesem Sinne fest, »so muss das gerade auf psychologischem Weg klar und am klarsten werden.«148 Die Erklärungsversuche, die sich bisher vor allem in der deutschen Psychologie finden, sind für ihn kein Grund, die moderne Psychologie als solche abzulehnen. Sie zeigen vielmehr nur, dass diese »bisher vollkommen versagt hat«.149 Eine seriösere Forschung, die vor allem auch zum Verständnis einzelner religiöser Phänomene und zu praktischen Fragen etwas beiträgt, erwartet Rittelmeyer dagegen eher von den neuen US -amerikanischen Impulsen.150 Ähnlich wie Rittelmeyer und Mayer argumentiert auch der katholische Theologe Arnold Rademacher. Seiner Meinung nach mag sich zwar manche Annahme übernatürlicher Zusammenhänge durch psychologische Funktionserklärungen auflösen. Dies bedeutet für ihn jedoch noch lange keine Gefährdung der Substantialitätsannahme an sich, sondern zunächst einmal nur die Feststellung, »dass Natur und Gnade eine Strecke Weges zusammengehen können«.151 Darüber hinaus, so Rademacher, »wird wahrscheinlich noch ein un­ aufgeklärter Rest bleiben, der sich psychologisch nicht analysieren lässt: dann ist auch dies schon ein Ergebnis, von dem aus der Theologe zu einer transzendentalen Erklärung aufsteigen kann«.152 Die psychologische Betrachtung, so meint Rademacher, führt keineswegs dazu, dass sich die Religion in der Erklärung auflöst, sondern höchstens dazu, dass die Harmonie religiöser und natürlicher Ordnung auch im Psychischen noch besser sichtbar wird. Wenn dabei nicht länger plausible Vorstellungen abgestoßen werden müssen, so ist dies für ihn kein Schaden, sondern trägt im Gegenteil zur inhaltlichen Bereinigung und erhöhten Glaubwürdigkeit der Religion bei.153 Als eine zweite Gruppe von Integrationsversuchen zwischen Theologie und moderner Psychologie könne diejenigen Ansätze protestantischer Theologen zusammengefasst werden, die ein erfahrungspsychologisch-subjektivierendes Vorgehen im Anschluss an den empirischen Religionsbegriff Friedrich Schleiermachers als ohnehin unverzichtbar für die Religionsbegründung voraussetzen. Die Vertreter dieser theologischen Richtung versprechen sich von der modernen Psychologie eine inhaltliche Vertiefung und methodische Aktualisierung des Schleiermacherschen Ansatzes. Dabei wird allerdings davon ausgegangen, dass dieser Ansatz selbstverständlich im theologischen Rahmen verbleibt und dass er ebenso selbstverständlich die Substantialität des religiösen Innen 148 Ebd. 149 Ebd. 123. 150 Ebd. 151 Rademacher: Religionspsychologie 645. 152 Ebd. 153 Ebd. 646.

Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie  101

lebens nicht infrage stellt, sondern dazu beiträgt, dessen Evidenzcharakter weiter herauszustellen. So ist etwa für Rudolf Wielandt zwar einerseits klar, dass die Wesensbestimmung der Religion eine letztendlich nur erkenntnistheoretisch lösbare Fragestellung bedeutet. Aber diese Fragestellung kann für ihn andererseits nur auf der Grundlage eines soliden »religionspsychologischen Unterbaus«154 in Angriff­ genommen werden. »Denn der Gläubige«, so Wielandt, »beruft sich auf ein religiöses Erlebnis, seine ›Erfahrung‹. Hier hat der Psychologe das erste Wort.«155 Wielandt hält diesen Ansatz der Religionserfassung seit Schleier­macher für eine Selbstverständlichkeit, über die man sich nicht mehr hinwegsetzen kann, »wenn man wissenschaftlich arbeiten will«.156 Die moderne Psychologie bietet für ihn in dieser Hinsicht ganz neue Möglichkeiten, zu einem systematischen und wissenschaftlich geklärten Zugriff zu gelangen. Wielandt geht davon aus, dass die damit zu erwartende analytische Entflechtung der vielfältigen Funktionsverbindungen zwischen religiösem und allgemeinem Bewusstsein letztendlich positiv zur Klärung der Wesensfrage von Religion beitragen wird. Zwar können sich seiner Meinung nach durchaus manche bisher für transzendent gehaltenen Vorgänge als »nur menschliche Erscheinungsform der Religion«157 herausstellen. Dies muss aber andererseits für ihn insofern nicht als Verlust gefürchtet werden, als dann zugleich auch der eigentliche Kernbereich des Religiösen immer deutlicher an Profil gewinnen muss und somit entschiedener als bisher vertreten und anerkannt werden kann.158 Ähnlich wie Wielandt positionieren sich auch Hermann Faber und Friedrich Traub, für die die Wesens- bzw. Wahrheitsfrage der Religion ebenfalls ein am Ende erkenntnistheoretisches, in der Vorbereitung aber evident psychologisches Thema ist. Für Faber stellt die psychologische Vorgehensweise in der Religionsbetrachtung ganz einfach die »Durchführung des evangelischen Begriffs vom Glauben« dar, wie er sie spätestens seit Schleiermacher als selbstverständlich ansieht.159 Traub hält fest, dass erst »der psychologische Tatbestand so scharf und objektiv wie möglich fixiert sein [muss], dann erst ist auch das kritische Problem auf festen Boden gestellt«.160 Auch Faber und Traub erwarten von der modernen Psychologie in diesem Zusammenhang neue Impulse, üben aber – anders als Wielandt, der sie pauschal als methodischen Fortschritt wertet – auch deutliche Methodenkritik. So erscheint Faber sowohl das in der­ deutschen Psychologie verbreitete Verfahren kulturhistorischer Entwicklungs 154 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 22. 155 Ebd. 23. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Ebd. 22–25. 159 Faber: Wesen der Religionspsychologie 164. 160 Traub: Theologie und Philosophie 178.

102  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  analysen als auch die statistisch-experimentelle Methode der US -Amerikaner zu kurz gegriffen, so dass sie seiner Meinung nach nur als »Hilfsmethoden« in Frage kommen.161 Verwendbar erscheint ihm dagegen die Methode einer an der Beschreibung innerer Zustände orientierten Glaubenshermeneutik, die von der allgemeinen Psychologie einerseits die induktiv-empirische und komparative Herangehensweise162 sowie andererseits die dort vorbereiteten »genau bestimmten und scharf geschliffenen psychologischen Begriffe«163 übernimmt. Traub äußert sich ähnlich und kritisiert die seiner Meinung nach zu engen definitorischen Vorentscheidungen der deutschen und internationalen Fach­ psychologie. Ein gewinnbringendes Verfahren muss für ihn in erster Linie auf dem genauen Vergleich, der detaillierten Beschreibung und begrifflichen Systematisierung religiösen Erlebens basieren, das man zu diesem Zweck »zunächst einmal einfach als Tatsache anerkennen«164 sollte.165 Als eine dritte Gruppe, zu der sich ebenfalls Theorien ausschließlich von protestantischen Theologen zuordnen lassen, können schließlich Versuche zusammengefasst werden, das psychologische Element in der Religionsbegründung nicht nur im Rahmen des etablierten Schleiermacherschen Schemas zu aktu­ alisieren, sondern es zu einer ganz neuen, grundlegenden Herangehensweise auszugestalten. Während in den ersten beiden Gruppen der Substantialitätsnachweis zwar als Ergebnis der Psychologieintegration angenommen, inhaltlich aber unbestimmt gelassen wird, sind die Ansätze dieser dritten Gruppe davon geprägt, dass hier versucht wird, den Nachweis auch zu einem inhaltlichen Abschluss zu bringen. So möchte etwa Ernst Troeltsch durch Heranziehung der modernen Psycho­ logie eine ganz neue theologisch-religionswissenschaftliche Erkenntnismethode etablieren. Der modernen Psychologie wird dabei, in der von Troeltsch favorisierten Fassung von William James, die Rolle eines Grundelements zugedacht, das mit einem durch sie neu ausbalancierten kantianischen Rationalismus ineinandergreifen soll. Troeltsch möchte dabei durch die Mittel der Psycholo­ gie  – das heißt für ihn, durch die genaue Beschreibung subjektiver religiöser Erfahrungen  – eine möglichst breite empirische Materialbasis zusammentragen. Diese soll systematisiert und für die weitere Untersuchung vorbereitet werden. Diese Untersuchung soll dann als grundbegriffliche Kritik – am Vorgehen Kants orientiert  – durchgeführt werden. Troeltsch geht davon aus, dass auf diese Weise das Empiriedefizit der früheren rationalistischen Religionsphilosophie ausgeglichen werden kann, während zugleich die Befunde der neuen empi 161 Faber: Wesen der Religionspsychologie 95 und 112. 162 Ebd. 111 und 118 f. 163 Ebd. 160. 164 Traub: Theologie und Philosophie 169. 165 Ebd. 162–169.

Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie  103

risch orientierten Religionspsychologie eine kritische Festigung erfahren. Denn aufgrund ihrer notwendigerweise immer begrenzten empirischen Grundlage, kann die Psychologie seiner Meinung nach nur für sich genommen dieses Ziel nicht erreichen.166 Der gesuchte Substantialitätsnachweis ergibt sich bei Troeltsch dann bereits in einer ersten hypothetischen Durchführung seiner Methode im Anschluss an die von James gelieferten Befunde. Troeltsch versucht dabei aufzuzeigen, dass im religiösen Bewusstsein eine spezifische, auf andere Weise nicht erreichbare Wirklichkeitswahrnehmung und durch diese wiederum eine besondere Entwicklungsqualität des Bewusstseins gegeben ist. Es wird darin, so meint er, die der gesetzlich-rationalen Naturkausalität gegenüberstehende eigen­dyna­mische Entwicklungskraft des Lebens, »die unberechenbare Produktivität, das Irrational-Konkrete des Lebens selbst«,167 in den Bewusstseinszusammenhang aufgenommen, wodurch das menschliche Bewusstsein überhaupt erst im eigentlichen, nicht-mechanischen Sinne entwicklungsfähig wird. Dieser von der Religion vermittelte »Zusammenklang«168 komplementärer Wirklichkeitsprinzipien stellt für Troeltsch das »große unenträtselbare Grundgeheimnis des Lebens«169 dar. Theologisch lässt sich dieses dann als Ausdruck einer nicht mehr näher bestimmbaren »schaffenden Urkraft«170 und in diesem Sinne als »Einwirkung des Göttlichen auf den menschlichen Geist«171 auslegen.172 Das spezifische religiöse Bewusstsein hat dabei aus Troeltsch’ Sicht nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kulturelle Bedeutung. Ebenso wie im Indivi­duum bildet es auch im Kulturzusammenhang das Komplementärprinzip des Dynamisch-­ Lebendigen im Gegensatz zum Gesetzlich-Rationalen der allgemeinen Kulturentwicklung, so dass es auch diese als eine Fort- und Höherentwicklung erst im eigentlichen Sinne ermöglicht.173 Wie Troeltsch möchte auch Georg Wobbermin ausgehend von den Impulsen der modernen Psychologie eine neue Methode der Religionserkenntnis etablieren. Wie für Troeltsch ist es dabei auch für ihn ausschlaggebend, dass diese Methode nicht schon bei den Befunden der psychologischen Empirie stehen bleiben kann, sondern diese erkenntniskritisch in allgemeingültige Begriffe umsetzen muss. Wobbermin begründet dies damit, dass gerade eine solche Ausrichtung auf Allgemeingültigkeit die immer schon gegebene Grundcharakteristik aller religiösen Bewusstseinsvorgänge darstellt, so dass sie sich 166 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 14–28. 167 Ebd. 24. 168 Ebd. 49. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Ebd. 36–50. 173 Ebd. 50–55.

104  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  zwangsläufig auch im analytischen Zugriff widerspiegeln muss.174 Im Unterschied zu ­Troeltsch strebt Wobbermin allerdings kein zweistufiges Modell an, in dem Psychologie und Erkenntniskritik zwar aufeinander bezogen sind, für sich genommen aber getrennte Methoden bleiben. Ihm geht es vielmehr darum, ein integriertes Verfahren zu erreichen, in dem beide Element miteinander verschmelzen, die psychologische Empirie also bereits von Anfang an erkenntniskritisch informiert ist und vice versa.175 Wobbermin bezeichnet dieses Verfahren zunächst als »transzendentalpsychologisch«,176 später dann als religionspsychologischen »Zirkel«.177 Es stellt für ihn ähnlich wie schon bei Troeltsch die Überwindung des Gegensatzes von neuem psychologischem Empirismus und der rationalistischen Herangehensweise früherer Theologie und Religionsphilosophie dar und soll außerdem auch zwischen anthropologisch-kulturhistorischer und gegenwärtiger psychologischer Empirie vermitteln. Aus diesem integrativen Anspruch heraus ist es für ihn dann das einzig mögliche religionspsychologische Verfahren sowie das Verfahren, das für die zukünftige Theologie und Religionswissenschaft auch insgesamt grundlegend werden muss.178 Inhaltlich kommt Wobbermin zu dem Ergebnis, dass sich in den religiösen Bewusstseinsvorgängen die Existenz einer höheren lebensbestimmenden Wahrheit und Wirklichkeit zu erkennen gibt, bei der es sich nicht wie in anderen Bereichen nur um eine relative »sogenannte Wahrheit« handelt, sondern um die »streng und eigentlich objektive Wahrheit, also um die absolute Wahrheit«.179 Religion ist deshalb für ihn die spezifische »Lebenshaltung und Lebensgestaltung«,180 die sich im Bewusstsein der Existenz dieser Wahrheit und im Bemühen um ihre Realisierung vollzieht.181 Denn der eigentliche Kerngehalt, die »immanenten Geltungsgründe«182 der religiösen Wahrheit, sind dem subjektiven religiösen Bewusstsein gerade nicht unmittelbar einsichtig. Dieser Kerngehalt tritt vielmehr nur vermittelt in den vielfältigen »individuell zufälligen Ausprägungsformen«183 und den daraus hervorgegangenen historischen Religionen zutage. Gerade hier liegt für Wobbermin dann auch die weitere Aufgabe der Religionspsychologie: Sie soll das »Notwendige und Allgemeingül 174 Wobbermin: Aufgabe und Bedeutung 6–12. 175 Ders.: Erkenntniskritik der religiösen Erfahrung 45–47. 176 Ebd. 45. 177 Wobbermin: Die religionspsychologische Methode 405. 178 Ders.: Religionspsychologie. In: Ders. (Hg.): Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. In dritter verbesserter und vermehrter Auflage, Bd. 24, Leipzig 1913, 411–418, hier 412–416; Ders.: Die religionspsychologische Methode VII–IX . 179 Ders.: Vorwort des Übersetzers XIII. 180 Ders.: Aufgabe und Bedeutung 21. 181 Ebd. 12–21. 182 Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie 416. 183 Ebd. 417.

Substantialitätsbehauptung durch Anschluss an die moderne Psychologie  105

tige«184 der Religion auch inhaltlich konkretisieren, nämlich den »hinter allen individuell und überhaupt hinter allen empirisch bedingten Ausprägungsformen liegenden ›Glauben an sich‹«185 herausarbeiten.186 Als dritter Vertreter einer neuartigen Integration von Psychologie und Theologie tritt Gustav Vorbrodt auf, der im Gegensatz zu Troeltsch und Wobbermin allerdings den direkten und vorbehaltlosen Anschluss an die moderne Psychologie propagiert. Vorbrodt erwartet von der modernen Psychologie, dass sie ohne weitere Einschränkungen und Hindernisse zum inneren religiösen Leben selbst vordringt und dessen Substantialität aufzuzeigen in der Lage ist.187 Qualifizierte moderne Psychologie findet sich für ihn allerdings nicht in den im deutschsprachigen Raum vertretenen Modellen. So ist beispielsweise Wundts Ansatz aus seiner Sicht im engeren Sinne keine Psychologie, sondern eine in »ungeklärter Sachlage«188 stehende Durchkreuzung von geschichtlichen und soziologischen Interessen. Einen ähnlichen Vorwurf richtet Vorbrodt auch gegen Hermann Ebbinghaus, der für ihn darüber hinaus auch viel zu schematisch vorgeht.189 Vorbrodts Psychologieauffassung beinhaltet dagegen einerseits die von den US -amerikanischen Autoren der Clark-Schule eingebrachten fragebogenbasierten Ansätze. Diese stehen aus seiner Sicht für die von ihm fortwährend betonte »Exaktheit«190 und moderne Wissenschaftlichkeit der neuen fachwissenschaftlichen Psychologie.191 In inhaltlicher Hinsicht greift Vorbrodt außerdem psychologische Theorien des um 1900 expandierenden Neovitalismus auf, die er als im Aufschwung befindliche »Psychobiologie«192 begreift.193 Damit lässt sich seiner Meinung nach eine tiefergehende Erklärung der durch die Psychologie festgestellten Gesetzmäßigkeiten erreichen, indem diese auf immaterielle »psychovitalistische«194 Lebensprozesse zurückgeführt werden.195 Durch den Anschluss an den Neovitalismus ist aus Vorbrodts Sicht auch der Substantialitätserweis der Religion sichergestellt. Religion, dies legt seiner Mei 184 Ebd. 185 Ebd. 186 Ebd. 416 f. 187 Vorbrodt: Psychologie des Glaubens XXVI; Ders.: Beiträge zur religiösen Psychologie 89; Ders.: Biblische Religionspsychologie 115. 188 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 438. 189 Ders.: Ebbinghaus’ Religionspsychologie 216 und 223–225. 190 Ders.: Noch einmal: Religionspsychologie und Dogmatik 388; Ders.: ÜbersetzungsVorwort XXII; Ders.: Stellung der Religionspsychologie 438. 191 Ders.: Übersetzungs-Vorwort V–XXV. 192 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 446. 193 Vorbrodt bezieht sich in dieser Hinsicht auf einschlägige Autoren wie Driesch, Reinke oder v. Hartmann. Vgl. Vorbrodt: Biblische Religionspsychologie 123. 194 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 446. 195 Ders.: Beiträge zur religiösen Psychologie 26; Ders.: Stellung der Religionspsychologie 445–449.

106  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  nung nach der neovitalistische Ansatz nahe, muss als der psychische Umsetzungsmechanismus einer eigentlichen, nicht genau fixierbaren, immateriellen und überzeitlichen Lebenskraft aufgefasst werden. Als »transzendentaler Wert von Vitalismus«,196 stellt sie in diesem Sinne das eigentliche, entwicklungsfähige »Lebendige«197 im Hintergrund der rein mechanisch-biologischen Lebensprozesse dar.198 Die religiösen Vorstellungen sind seiner Meinung nach nur der symbolische Ausdruck und Reflexionszusammenhang dieses Verhältnisses, das in ihnen »unter dem Gottesreichbegriff maskiert ist«.199 Religion, so stellt er fest, »ist ewiges, höheres Leben, dessen Funktion, der Glaube, und dessen Milieu, der Sozialorganismus der Kirche« ist.200 Religion sollte daher, so Vorbrodt weiter, »endlich als Leben verstanden werden, dessen politisierendes Gleichnis das Reich Gottes mit seinen Seelendaten ist«.201 So lassen sich für ihn auch die überkommenen dogmatischen Lehrinhalte sämtlich als »Unter- oder Nebenkategorien des Lebens« neu fassen.202 Die Theologie wiederum kann in diesem Sinne »als Disziplin von Lebenstatsachen«203 anerkannt werden, muss sich dann allerdings auch selbst als eine solche neu begreifen, nämlich als »Lebenslehre, Pneumatik, Psychobiotik oder Biopragmatik«.204 Die Versuche, den Substantialitätserweis der Religion durch Anknüpfung an die moderne Psychologie zu führen, lassen sich, im Vergleich zu den Ansätzen einer konfrontativen theologischen Psychologieabwehr, einerseits als Wahl einer anderen – eben integrativen – apologetischen Strategie interpretieren. Anstatt sich direkt gegen die Psychologie zur Wehr zu setzen, lässt man sie in diesem Fall gewähren, im Vertrauen darauf, dass sich ihr Funktionalismus früher oder später selbst widerlegen muss. Oder aber man greift sie selbst auf, um sie durch eigene Mithilfe und Beeinflussung in die entsprechenden Bahnen zu lenken. Mit der Psychologie soll dann also über die bloße – das heißt funktionalistische – Psychologie hinausgelangt werden. Deutlich wird aus den Versuchen, den Substantialitätserweis von Religion durch Anknüpfung an die moderne Psychologie zu führen aber vor allem auch eine grundlegend andere Problemsicht, als sie den Ansätzen einer konfrontativen Zurückweisung zugrunde liegt. Denn während von deren Vertretern die moderne, empirisch-induktive Wissenschaftsentwicklung aus verschiedenen

196 Ders.: Beiträge zur religiösen Psychologie 24. 197 Ebd. 25. 198 Ebd. 24–26. 199 Ebd. 12. 200 Vorbrodt: Stellung der Religionspsychologie 441. 201 Ebd. 467. 202 Vorbrodt: Beiträge zur religiösen Psychologie 10. 203 Ebd. 45. 204 Ebd. 17.

Kritik der theologischen Anschlussversuche  107

Gegenpositionen heraus kritisch-distanziert betrachtet wird,205 gilt sie hier als maßgeblich – auch für die Frage nach dem Wesen der Religion. Es lässt sich, so formuliert diese Wahrnehmung etwa Ernst Troeltsch, aus moderner wissenschaftlicher Sicht schlicht kein tragfähiger Religionsbegriff mehr aus der bloßen philosophischen Deduktion und schon gar nicht aus Bibel und Kirchentradition gewinnen.206 Diese Vorgehensweisen, so meint er, »sind heute für die eigentliche Wissenschaft dahin«.207 Die Wesensbestimmung von Religion durch »eigentliche Wissenschaft« im modernen Sinne, soll in den unterschiedlichen Entwürfen dann der Anschluss an die Psychologie leisten. Augenfällig ist dabei allerdings, dass dies zumeist nicht ausschließlich auf Grundlage der Psychologie beabsichtigt ist, sondern vielmehr eine Zusammenführung mit ergänzenden, weiterführenden oder das psychologische Vorgehen einrahmenden Methoden angestrebt wird, die schließlich wieder eine Vermittlung mit der erkenntnistheoretischen und theologischen Deduktion herstellen sollen.

3.4 Kritik der theologischen Anschlussversuche Die theologischen Verwendungsabsichten der modernen Psychologie in der Substantialitätsfrage rufen wiederum Kritik von psychologischer Seite hervor. Diese Kritik richtet sich gegen die beabsichtigte Zusammenführung des psychologischen Zugangs mit etablierten oder als weiterführend ausgegeben theologischen und religionsphilosophischen Methoden. Sie richtet sich also gegen den integrativen Charakter dieser Ansätze. Durch diesen, so der Vorwurf, wird die moderne Psychologie im Sinne einer substantialistischen Beweisführung erst verwertbar, sie wird dabei aber im Sinne ihrer eigentlichen Prämissen ins Gegenteil verkehrt und damit effektiv aufgehoben. Es handelt sich also bei den theologischen Integrationsversuchen, so die Kritik, um Versuche, zu einer theologisierten Psychologie zu gelangen, die ihr beabsichtigtes Ergebnis schon im Vorhinein durch entsprechende Methodeneingriffe sicherzustellen versucht. In diesem Sinne greift insbesondere Wilhelm Wundt die theologischen Aneignungsversuche der modernen Psychologie zum Substantialitätserweis der Religion heftig an. Wundt bezieht sich dabei auf Troeltsch und Wobbermin,­ denen er vorwirft, die moderne Psychologie zielgerichtet in ihr Gegenteil zu verkehren, indem genau diejenige unüberprüfbare Epistemologie wieder an sie herangeführt wird, gegen die sie sich ursprünglich und konstitutiv richtet. Beabsichtigt ist damit seiner Meinung nach nichts anderes als eine neue Mas­ 205 Vgl. den vorangegangenen Abschnitt 3.2. 206 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 5 f. 207 Ebd. 5.

108  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  kierung des üblichen zirkulären Verfahrens der Theologie, in dem die aufzuzeigenden Zusammenhänge bereits von Anfang an in den Prämissen der Analyse untergebracht werden.208 Auch aus der Perspektive der Erkenntniskritik Kants, auf die Troeltsch sich dabei stützt, geht der Versuch nach Meinung von Wundt in keiner Weise auf, sondern erscheint im Gegenteil als geradezu unverfroren. Die von Kant herauspräparierten apriorischen Grundbegriffe und die von ihm gewonnene Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft werden dabei leichtfertig aufgehoben, um die Religion, anders als Kant, nicht bloß als Funktion der Sittlichkeit, sondern als dynamisches Grundprinzip der Wirklichkeit begreifen zu können. Religion soll außerdem, obwohl laut Troeltsch wesenhaft irrational, auch noch zu einem Entwicklungsfaktor der Vernunft erhoben werden. Diese von Troeltsch proklamierte »neueste Fortbildung der kritischen Philosophie« gelingt aus Wundts Perspektive nicht, denn sie ist ein allzu durchsichtiges Manöver, welche Kants Theorie »zum vorkritischen Standpunkt zurückbildet, wie ihn Kant noch in seiner Dissertation von 1770 eingenommen hatte«.209 Laut Wundt ist dies ein typischer Versuch, theologische »Konterbande«210 bei Kant unterzubringen, wie es seiner Wahrnehmung nach in »gewissen theologischen Kreisen«211 bereits eine bedenkliche Normalität gewonnen hat.212 Eine ähnliche Kritik wie bei Wundt findet sich in der Spätphase der religionspsychologischen Auseinandersetzung auch bei Wilhelm Stählin und Kurt Koffka im Zusammenhang der Begründung des »Archiv für Religionspsychologie«.213 Auch bei Stählin und Koffka besteht die Kritik darin, dass die theologischen Versuche, mithilfe der modernen Psychologie einen Substantialitätsnachweis der Religion zu führen, nur durch methodische Modifikationen erreichbar sind, die dem empirischen Grundgedanken der modernen Psychologie, und damit dem modernen Wissenschaftsverständnis insgesamt, zuwider laufen.214 Diese Versuche sind für Stählin und Koffka ebenso kontraproduktiv wie die in der Fachpsychologie verbreiteten Ansätze funktionalistischer Kausalerklärung, die über das für die empirische Psychologie Feststellbare weit hinausgehen. Denn die empirische Psychologie, so Stählin und Koffka, kann aufgrund ihres Ansatzes nur als »Phänomenologie«215 und »Nomologie«216 be 208 Wundt: Probleme der Völkerpsychologie 104–111. 209 Ebd. 109. 210 Ebd. 110. 211 Ebd. 110. 212 Ebd. 108–111. 213 Vgl. weiter vorne Kapitel 2.5. 214 Stählin, Wilhelm: Rezension zu Georg Wobbermin: Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, I. Band. In: Archiv für Religionspsychologie 1 (1914), 279–298, hier 283–298. 215 Stählin/Koffka: Einführung 2. 216 Ebd. 3.

Kritik der theologischen Anschlussversuche  109

trieben werden, das heißt sie kann Erscheinungen und Korrelationen beschreiben und versuchen, daraus heuristische Modelle abzuleiten. Diese können dann aber auch nur als solche und nicht als Tatsachen im eigentlichen Sinne aufgefasst werden. »Wer die nomologische Aufgabe der Religionspsychologie so missversteht, als bestände sie darin, die Religion ›kausal zu erklären‹«, so formulieren Stählin und Koffka, »hat einen falschen Begriff sowohl von ›kausaler Erklärung‹ wie von Religion.«217 Um überhaupt eine seriöse und damit sowohl der religionswissenschaftlichen als auch der psychologischen Fachforschung dienliche Religionspsychologie zu erhalten, plädieren Stählin und Koffka vor diesem Hintergrund dafür, die Substantialitätsfrage insgesamt auszuklammern. Ihrer Meinung nach ist es, zumal noch am Ausgangspunkt religionspsychologischer Untersuchungen, zu viel verlangt und in keiner Weise zwingend, die neue Disziplin mit dieser eigentlich philosophischen Frage zu belasten. Vielmehr, so meinen sie, sollte es einer modernen Religionspsychologie darum gehen, »in sorgfältiger Einzelarbeit  – statt in Spekulationen über das ›Wesen der Religion‹ – einiges für das religiöse Leben Wesentliche zu finden; aber ob es überhaupt etwas für alles religiöse Erleben schlechthin Wesentliches gibt, ist zunächst selbst eine offene Frage«.218 *** Die Diskussion um Funktionalismus und Substantialimus kann als wichtige Grundfrage der um 1900 geführten religionspsychologischen Auseinandersetzung angesehen werden. In der sich neu konstituierenden Fachpsychologie stellt die funktionale Betrachtungsweise das gemeinsame Merkmal sämtlicher Theorien von Religion dar, die um die Jahrhundertwende formuliert werden. Religion wird dabei, im Einzelnen durchaus unterschiedlich, auf interne Funktionsanforderungen des Bewusstseins, auf die Bewältigung äußerer, das heißt lebensweltlicher Herausforderungen oder auf Erfordernisse der sozial- bzw. kulturpsychologischen Entwicklung zurückgeführt. In jedem Fall wird sie als ein psychischer Mechanismus beschrieben, der, durch die Erzeugung von Vorstellungen des Überweltlichen, bestimmte notwendige Leistungen für das Individuum oder die Gesellschaft erbringt. Unterschieden werden kann dabei erstens ein psychologischer Zugriff auf Religion, der den funktionalen Aspekt zwar in den Vordergrund stellt, dabei aber offenlässt, inwieweit sich dahinter noch eine Substantialität, also ein tatsächlich existierender Bezugsgegenstand findet. Unterschieden werden kann zweitens ein Zugriff, der die psychische Funktionalität der Religion zu ihrer abschließenden Erklärung macht. Der erste Ansatz findet sich eher bei 217 Ebd. 5. 218 Ebd. 2.

110  Die Funktionalismusfrage als Grundproblem  den US -amerikanischen Autoren, der zweite ist bei den deutschen Psychologen und Psychiatern vorherrschend. Für die theologische Positionierung ist demgegenüber die genau entgegengesetzte Grundannahme der Substantialität von Religion leitend, also die Annahme, dass Religion sich keinesfalls funktional erklären lässt, sondern eine eigene spezifische Wirklichkeit repräsentiert. Treten sich moderne Psychologie und Theologie in der religionspsychologischen Auseinandersetzung in dieser Hinsicht als Gegensätze gegenüber, so gilt dies allerdings nur in einem ersten Schritt und wird in einem zweiten Schritt wieder relativiert. Denn es bestehen zwei ihrerseits gegensätzliche Umgangsweisen der Theologie mit der Funktionalismusfrage: Auf der einen Seite wird an der theologischen Substantialitätsbehauptung von Religion festgehalten, indem der psychologische Zugriff grundsätzlich zurückgewiesen wird. Dies geschieht mit methodologischen Argumenten, die die Geltungsreichweite der neuen empirischen Herangehensweise der Psychologie in Zweifel ziehen, sowie mit dem Argument einer prinzipiellen Spezifik von Religion, die eine adäquate Erfassung ihrer Wirklichkeit von Anfang an nur durch sie selbst erlaubt. Auf der anderen Seite wird die Substantialitätsbehauptung von Religion gerade im Anschluss an die moderne Psychologie bzw. Religionspsychologie zu befestigen versucht, indem sie als deren mittelfristige Erkenntnisperspektive in Aussicht gestellt wird. Den von psychologischer Seite formulierten Funktionserklärungen wird dabei kein anhaltender Bestand zugemessen, da sie als verkürzte Schlussfolgerungen einer noch weltanschaulich befangenen Forschung gelten. Im Gegensatz dazu wird erwartet, dass sich gerade auf dem Weg einer wissenschaftlich seriös und methodisch adäquat weitergeführten Religionspsychologie die Unableitbarkeit der Religion im Psychischen, also ihre Substantialität, herausstellen muss. Aus dieser zweiten theologischen Richtung werden allerdings zum Teil Modelle formuliert, die religionsspezifische psychologische Vorgehensweisen oder eine notwendige philosophisch-theologische Weiterverarbeitung der psychologisch erlangten Befunde fordern. So wie die Theologie der Psychologie eine funktionalistische Reduktion des religiösen Bewusstseins vorwirft, gelten umgekehrt diese theologisch spezifizierten Modelle aus psychologischer Sicht als zirkulär. Eine Übereinkunft gibt es in der Funktionalismus- bzw. Substantialismusfrage letztendlich nicht, sondern nur – im Programm des »Archiv für Religionspsychologie« – den Vorschlag, diese Grundsatzfrage aus pragmatischen Erwägungen aus der Religionspsychologie auszuklammern.

4. Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel Eine Mehrheit der Theologen, die die neuen religionspsychologischen Ansätze befürworten, treten in der Debatte um 1900 nicht nur mit der Intention des Substantialitätsnachweises von Religion für diese Ansätze ein. Vielmehr besteht bei ihnen auch darüber hinaus, im Sinne einer allgemein gefassten religiösen Erkenntnisperspektive, ein großes Interesse an den Möglichkeiten einer neuen psychologischen Religionsforschung. Diese soll, so die Erwartung, nicht bloß nach außen hin den Nachweis der Substantialität der Religion erbringen, sondern auch nach innen genutzt werden, als ein neues Erkenntnismittel der Theologie, mit dem sich zahlreiche theologische Fragen und Probleme – und damit letztendlich die Religion an sich – besser verstehen lassen als zuvor.

4.1 Ansätze theologischer Psychologienutzung Die Absichten, die moderne Psychologie als theologisches Erkenntnismittel neu zu nutzen, basieren auf den gleichen Psychologiemodellen, wie sie parallel auch in der Substantialismusfrage vorausgesetzt werden. Entsprechend wird auch hier je nach Akteur und Intention eine mal mehr, mal weniger weitreichende Integration von Theologie und Psychologie gefordert. Von einigen Akteuren wird ein direkter Anschluss der Theologie an die moderne Psychologie und ihre religionsbezogenen Einzelforschungen in Betracht gezogen. Dabei soll jedoch von den funktionalistischen Ausdeutungen, die von der modernen Psychologie selbst vorgenommen werden, selbstverständlich abgesehen werden. In diesem Sinne sieht etwa Friedrich Rittelmeyer die moderne Grundlagenforschung der Psychologie in ihrer ganzen Breite als verwertbar für die Theologie an. Dabei scheinen ihm allerdings vor allem die Ergebnisse der internationalen, das heißt vor allem der US -amerikanischen Psychologie nutzbar. Denn gerade die ansonsten Pionierarbeit leistende deutsche Psychologie hat seiner Meinung nach in der Behandlung religiöser Fragen bisher »vollständig versagt«.1 Rittelmeyer empfiehlt, dass man sich für einen guten Einstieg in das Thema zunächst in verschiedenen Lehrbüchern der Psychologie informieren und dann 1 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 122–126, Zitat 123.

112  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  William James’ »Varieties of Religious Experience« durcharbeiten soll. Davon ausgehend kann man sich seiner Meinung nach mit den Artikeln des American Journal of Religious Psychology and Education beschäftigen, das er als seriöser empfindet als die deutsche Zeitschrift für Religionspsychologie. Auf Grundlage des so erlangten Kenntnisstandes lassen sich für ihn dann schließlich Perspektiven für eine eigene Untersuchungstätigkeit entwickeln.2 Auch für den katholischen Theologen Arnold Rademacher ist die moderne Psychologie der maßgebliche Orientierungspunkt für jegliches religionspsychologische Interesse der Theologie. Religionspsychologie ist für ihn zunächst »nichts mehr und nichts weniger als ein Zweig der empirischen Psychologie«.3 Zwar besitzt die Theologie seiner Meinung nach einen weitreichenden Spielraum in der Verwendung und vor allem auch in der Begrenzung der psychologischen Ansätze. Aber das psychologische Grundwissen und die Arbeitsmethoden können für ihn nur von der modernen Fachwissenschaft übernommen werden, sie sind, so Rademacher, »im Wesentlichen die gleichen wie bei der Psychologie überhaupt«.4 Einen besonders breiten, an der modernen Fachwissenschaft orientierten Psychologiebegriff vertritt Rudolf Wielandt, für den die moderne Psychologie einen ganzen Fundus neuer Methoden zugänglich macht. Für Wielandt stehen die individual- und sozialpsychologischen, die quantitativ und qualitativ ausgerichteten ebenso wie die medizinisch-naturwissenschaftlichen und eher geisteswissenschaftlich orientierten Ansätze der Psychologie gleichberechtigt nebeneinander und können je nach Forschungsinteresse parallel zum Einsatz gebracht werden. Auch von der Psychoanalyse verspricht er sich weiterführende Einsichten. In sozialpsychologischer Hinsicht wird der Psychologiebegriff von ihm sogar bis auf die kulturhistorische Protestantismusforschung Max Webers ausgedehnt.5 Neben diesen Bezugnahmen auf einen weitgehend unspezifischen Allge­ mein­begriff moderner Psychologie werden gerade von den wichtigsten Fürsprechern einer neuen psychologischen Herangehensweise in der Theologie ganz bestimmte Richtungen der modernen Psychologie und bestimmte selbst konzipierte Modelle ihrer theologischen Verwertung vertreten. Dabei bringen diese Autoren die gleichen Modelle in Stellung, die sie auch in der Substantialismusfrage durchzusetzen versuchen. So sind etwa für Gustav Vorbrodt die »exakten« statistischen Forschungsmethoden maßgeblich, die von den US -amerikanischen Psychologen der ClarkSchule in die religionspsychologische Auseinandersetzung eingebracht werden. 2 Ebd. 149. 3 Rademacher: Religionspsychologie 641. 4 Ebd. 637. 5 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 30–37.

Ansätze theologischer Psychologienutzung  113

Vorbrodt setzt sich für diese Methoden besonders ein, indem er die Übersetzung von Starbucks »Psychology of Religion« veranlasst, die 1909 als »Religions­ psychologie. Empirische Entwicklungsstudien religiösen Bewusstseins«6 auf Deutsch erscheint. Es handelt sich dabei, so bemerkt er in seiner Einleitung, um eine »Pionierarbeit«,7 um die »erste abgeschlossene, eigentliche Arbeit«8 moderner Religionspsychologie, deren Methoden auch für die Theologie weitaus vielversprechender erscheinen als das, was bisher von der deutschen Psychologie »anfechtbar und unzulänglich«9 hervorgebracht wurde. Zugleich betont Vorbrodt aber auch die Bedeutung neovitalistischer Interpretationsmodelle in der Psychologie, wie er sie insbesondere bei dem Schweizer Psychologen Théodore Flournoy entwickelt sieht.10 Im Interesse weiterführender theologischer Erkenntnisabsichten erscheinen ihm gerade derartige Ansätze als besonders hilfreich. Sie geben seiner Meinung nach die Verständnismittel an die Hand, um die in der exakten psychologischen Forschung erhobenen Zusammenhänge »nicht als Mechanismus von Assoziationen zu begreifen, sondern als ein lebendiges Gebilde«.11 Damit wird für ihn ein »geklärter und moderner Seelenbegriff«12 möglich, von dem die theologische Interpretation ihren Ausgang nehmen kann. Auch für Ernst Troeltsch und Georg Wobbermin sind, wie bereits in der Substantialismusfrage, ihre jeweils spezifischen Modelle von Religionspsychologie für die weitergehende theologische Verwendung maßgeblich. Troeltsch geht auch hier von einem zweiseitigen Verfahren aus, in dem die moderne Religionspsychologie nach dem Vorbild von William James mit einer aktualisierten kantianischen Erkenntniskritik ineinandergreift.13 Die moderne Psychologie soll in diesem Verfahren die, so Troeltsch, »Fixierung der Eigenart des Phänomens, seiner Umgebungen, Beziehungen und Folgen«14 leisten. Die Weiterverarbeitung durch die Erkenntnistheorie soll dann dazu führen, dass eine Umsetzung der psychologischen Befunde in »rationale, allgemeine Begriffe«15 erreicht werden kann. Georg Wobbermin beansprucht dagegen die Ausgestaltung der Religionspsychologie zu einer eigenen, an theologischen Bedürfnissen orientierten Spezialmethode, die er im Verlauf der Auseinandersetzung zunehmend komplexer gestaltet.16 Seine »transzendentalpsychologische«17 Religionspsychologie 6 Starbuck: Religionspsychologie. 7 Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort VIII. 8 Ebd. XII. 9 Ebd. XXV. 10 Vorbrodt: Einleitung des Herausgebers. 11 Ders.: Zur theologischen Religionspsychologie 5. 12 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 446. 13 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 14–28. 14 Ebd. 17. 15 Ebd. 21. 16 Siehe unten den Abschnitt 4.4. 17 Wobbermin: Erkenntniskritik der religiösen Erfahrung 46.

114  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  soll im Vergleich zu dem von Troeltsch vorgeschlagenen Vorgehen ein vollständig integriertes Verfahren sein, das es ermöglicht, die Spezifik des Gegenstandes Religion von Anfang an in die Betrachtung einzubeziehen.18 Von Oskar Pfister, der sich zur Substantialismusfrage nur am Rande äußert,19 wird in der Frage der Nutzung von Psychologie als theologisches Erkenntnismittel mit großem Engagement die Freud’sche Psychoanalyse vertreten. Diese stellt für ihn die gegenüber den konkurrierenden Ansätzen moderner Psychologie weit überlegene Methode dar. Sie entwickelt, so formuliert er, »streng wissenschaftlich«20 und eng mit der Praxis verbunden, ein einheitliches Erklärungsprinzip, das sich in vergleichbarer Form in den konkurrierenden Psychologiemodellen nicht finden lässt.21 Mit der Dynamik des Unbewussten macht die Psychoanalyse für ihn eine Ebene des Psychischen zugänglich, der man, so Pfister, »bisher im Besitze der bloßen Bewusstseinspsychologie in absolutem Unverständnis zugesehen hatte«.22 Mit den unterschiedlichen Psychologiemodellen sind auch unterschiedliche Vorstellungen von der Integrationstiefe und dem Auslegungsbedarf der Psychologie durch die Theologie verbunden. So ist etwa für Rittelmeyer und Wielandt der Evidenzwert der Psychologie in der theologischen Verwendung grundsätzlich hoch anzusetzen. Zwar unterliegen die psychologischen Befunde für beide immer noch einem erkenntnistheoretischen und theologischen Auslegungsvorbehalt, aber dieser darf nur sehr begrenzt und gut begründet geltend gemacht werden. Die »Grenzpfähle«, so formuliert es Rittelmeyer, »stehen ein wenig weiter draußen, als man gemeinhin annimmt.«23 Für Wielandt steht fest, dass die Psychologie in der Theologie »von allergrößter, noch unerkannter Bedeutung«24 ist, weshalb sie seiner Meinung nach die zukünftige Theologie und Religionsphilosophie »bis zu allerletzt«25 begleiten muss. Noch weiter gehen Vorbrodt und Pfister, für die es überhaupt keinen theologischen Vorbehalt mehr gegenüber den durch die Psychologie erreichbaren Einsichten geben soll. In der von ihnen vorausgesetzten Gestalt soll die Psychologie für Vorbrodt und Pfister unbedingte Geltungskraft in der Theologie erhalten. So ist Vorbrodt der Ansicht, dass zukünftig nur auf psychologischer Grundlage noch verlässlich theologisch gearbeitet werden kann. Es muss zunächst, so for 18 Ebd. 44–47. 19 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie 135; Ders.: Die psychanalytische Methode. 351–355. 20 Ders.: Die Psychanalyse 70. 21 Ebd. 70–73. 22 Pfister: Psychanalyse und Theologie 380. 23 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 123. 24 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 25. 25 Ebd. 23.

Ansätze theologischer Psychologienutzung  115

muliert er, »die seelische Tatsache psychologisch geklärt sein, ehe sie theologisch behandelt werden kann«.26 Religionspsychologie muss für ihn als »Hauptdisziplin der Religionswissenschaft«27 anerkannt werden, von der wiederum die Theologie nur eine »christliche Sonderform«28 darstellt. Für Pfister erweist sich in ähnlicher Weise die Psychoanalyse als der neue »Schlüssel«29 zur Theologie. Sie eröffnet für ihn »unermesslich große Perspektiven wissenschaftlicher Forschung, die den Kundigen zu ehrfurchtsvoller Bewunderung nötigen und zu rastloser Pionierarbeit einladen«.30 Restriktiver zeigen sich die Katholiken Rademacher und Lindworsky, für die die Psychologie zwar auch in der theologischen Verwendung ihre Methodenhoheit behält, dabei aber klar der Forschungssteuerung und Ergebnisinterpretation durch die Theologie unterliegt. So fordert Lindworsky die eindeutige Festlegung der Psychologie auf die »Lehrsätze des Glaubens«.31 Rademacher schreibt, dass bei ihrer Verwendung »Selbstzucht und Selbstbescheidenheit«32 sowie eine »gelegentliche negative Orientierung an theologischen Prinzipien«33 notwendig sind. Auch die Modelle von Troeltsch und Wobbermin sind, obwohl sie die psycho­ logische Vorgehensweise nominell stark betonen, letztendlich restriktiv, da in ihnen die Psychologie den Verfahrensweisen, die zu ihrer Ergänzung herangezogen werden, untergeordnet oder ganz in diese absorbiert wird. Bei Troeltsch soll das empirisch-psychologische Vorgehen zwar das »Eingangstor zur Erkenntnistheorie«34 bilden, nach welchen Kriterien aber ihre Befunde gewichtet werden sollen, wird von Troeltsch nicht angegeben und bleibt auch in seinem weiteren Vorgehen unklar. Die von Wobbermin angestrebte integrierte Spezialmethode entfernt sich in ihrer Entwicklung mit der Zeit sogar so weit von der allgemeinen Psychologie, dass Wobbermin dazu übergeht, sie zwar noch als deren Weiterentwicklung in Bezug auf das Religionsthema, zugleich aber auch als Überwindungsleistung zu behaupten, durch die der allgemeinpsychologische Zugang hinfällig wird.35

26 Vorbrodt: Beiträge zur religiösen Psychologie 33. 27 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 438. 28 Ebd. 440. 29 Pfister: Die psychanalytische Methode 488. 30 Ders.: Die Psychanalyse 199. 31 Lindworsky: Religionspsychologie 519. 32 Rademacher: Religionspsychologie 645. 33 Ebd. 645. 34 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 34. 35 Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie 412–415.

116  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel 

4.2 Theologische Erkenntniserwartungen Erwartet wird von der Nutzung der Psychologie als theologisches Erkenntnis­ mittel erstens eine Förderung des theologischen Religiositätsverständnisses. Mithilfe der modernen Psychologie soll der Glaube in seinen subjektiven Verlaufsformen und seinen Zusammenhängen mit anderen Bereichen des Psychi­ schen besser verstanden werden. So geht Friedrich Rittelmeyer davon aus, dass durch die moderne Psychologie eine umfassende neue Einsicht in die Funktionszusammenhänge der religiösen Vorstellungsbildung ermöglicht wird. Diese neue Einsicht reicht für ihn bis hin zu einem besseren Verständnis der Gottesidee. »Was ist das für ein merkwürdiger Bewusstseinskomplex«, so formuliert Rittelmeyer, »zu dessen Bezeichnung wir das Wort ›Gott‹ verwenden? […] Auf welchem Wege erreicht diese ganz unsinnliche Idee die oft außerordentliche Stärke, die sie im Leben ausübt?«36 Die moderne Psychologie, so meint er, kann diese und ähnliche Fragen nun klären. Auch die Struktur des religiösen Bewusstseins an sich, seine Zusammensetzung aus Vorstellungs- und Gefühlskomponenten, aus bewussten und unbewussten, geistigen und biologischen Funktionen, soll für Rittelmeyer mithilfe der modernen Psychologie besser nachvollziehbar werden. Mittelfristig steht damit für ihn ein neues empirisches Religionsverständnis in Aussicht, von dem aus sich alte Grundsatzfragen, etwa nach dem Verhältnis der Konfessionen oder des religiösen Einzel- und Gemeinschaftsbewusstseins zueinander, ganz neu darstellen werden.37 Ebenso wie Rittelmeyer ist auch Vorbrodt der Ansicht, dass die Psychologie die Vorgänge und Funktionszusammenhänge der Religiosität im Individuum auf neue Weise offenlegen wird. Die moderne Psychologie lässt sich seiner Meinung nach in eine neue »Psychographie« der Religion umsetzen, das heißt in eine umfassend angelegte neue Erschließung des religiösen Lebens von seinen psychologischen Hintergründen aus. Indem durch die moderne Psychologie die vorbewussten »Psychikfunktionen«38 in ihrer individuellen Varianz neu zugänglich werden, lassen sich, so Vorbrodt, alte, auch für die Religionswissenschaft und Theologie bedeutsame Grundfragen neu klären. Vorbrodt bezieht sich hierbei beispielsweise auf die Fragen nach dem Verhältnis von substantiel­ len und funktionalen Elementen des Psychischen oder nach dem Verhältnis von tatsächlichem Anschauungs- und hinzugefügtem Phantasieanteil in der subjektiven Wahrnehmung. Zugleich können durch die moderne Psychologie seiner Meinung nach auch religionswissenschaftlich-theologische Spezialpro 36 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 125–126. 37 Ebd. 125–127. 38 Vorbrodt: Stellung der Religionspsychologie 442.

Theologische Erkenntniserwartungen  117

bleme neu beleuchtet werden. Derartige Problemstellungen sind für ihn etwa die Frage nach den Voraussetzungen für Prozesse der Glaubenserneuerung bzw. religiösen »Wiedergeburt«39 oder – genau umgekehrt – die Frage nach dem Umgang mit religiösem Zweifel und Glaubensverlust.40 Für Oskar Pfister eröffnet sich mittels der Psychoanalyse der Blick auf »die eigentliche Werkstätte des religiösen Lebens im Unbewussten«.41 Mit der neuen Methode lässt sich seiner Meinung nach ein sehr viel weitergehendes Verständnis gerade von ungewöhnlichen und pathologische Religiositätsformen erreichen, als dies bisher möglich war. Als Beispiele hierfür nennt Pfister »Halluzinationen, Eingebungen, Nötigung zur Mystik, zwanghafte Vorliebe für närrische Glaubens- und Kultusformen, neurotische Privatreligionen (z. B. Windverehrung)«.42 Mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse versucht Pfister sich außerdem auch an historischen Fallanalysen, um einerseits die pietistische,43 andererseits die asketische Frömmigkeit in ihren psychologischen Hintergründen zu verstehen.44 Neben einem verbesserten Religiositätsverständnis wird von einer neuen psychologischen Herangehensweise in der Theologie zweitens eine Förderung der historischen und exegetischen Disziplinen erwartet. Mithilfe der modernen Psychologie sollen sowohl die Entwicklungen der Religions- und Kirchengeschichte als auch die überlieferten Schriften auf neue Art und Weise zugänglich werden. So beschreibt etwa Rudolf Wielandt ausführlich, wie die neue psychologische Herangehensweise dazu genutzt werden soll, die Religions- und Kirchengeschichte überhaupt erst richtig verständlich zu machen. Die Geschichtsforschung hat für ihn, so schreibt er, »gar keinen Sinn und auch keinen Wert für das Verständnis der Religion […], wenn sie nicht zur Religionspsychologie wird«.45 Seiner Meinung nach muss die Religionsgeschichte als Wandlungsgeschichte religiöser Mentalitäten neu durchgearbeitet werden. Erst durch die psychologische Einsicht in diese und in ihre Interaktion mit dem allgemeinen Geistesleben lässt sich dann, so meint Wielandt, der historische Wandel religiöser Vorstellungen und Praktiken richtig verstehen.46 Umgekehrt wird für ihn die Geschichte auf diese Weise zu einem unerschöpflichen Materialfundus für die psychologische Erkenntnis, so dass »mehr als reine Geschichte«, nämlich »psychologische Ausschöpfung der Geschichte« aus ihr möglich 39 Ebd. 449. 40 Ebd. 442–457. 41 Pfister: Psychanalyse und Theologie 380. 42 Ebd. 380. 43 Pfister: Zinzendorf. 44 Ders.: Hysterie und Mystik 45 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 3. 46 Ebd. 3–19.

118  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  wird.47 Was für die Religionsgeschichte gilt, gilt für Wielandt auch für die Exegese. Mithilfe der modernen Psychologie kann diese ihrem eigentlichen Gegenstand – den in der Bibel angesammelten Erfahrungsgehalten »religiös-sittlichen Innenlebens«48 – ein großes Stück nähergebracht werden.49 »Wenn wir nur den rechten psychologischen Schlüssel hätten«, so führt Wielandt aus, »– die verschiedenen ›heiligen Schriften‹ würden uns sehr viel mehr von dem religiösen pulsierenden Innenleben einer vergangenen Zeit sagen, als wir ihnen gegenwärtig zu entnehmen verstehen. Sie sind viel mehr Leben als wir glauben!«50 In ähnlicher Weise sieht auch Friedrich Rittelmeyer im psychologischen Zugang eine neue Verarbeitungsperspektive religionsgeschichtlicher Materialien und Problemstellungen sowie eine neue Zugangsmöglichkeit zum biblischen Schriftbestand. In diesen Bereichen stehen für ihn grundlegende neue Einsichten bevor, da sich seiner Meinung nach mit psychologischer Hilfe ganz neue Möglichkeiten der Textkritik und des Aussageverständnisses ergeben werden, die zu einem neuen Urteil über Gehalt, Authentizität und Autorität der jeweiligen Texte verarbeitet werden können. Rittelmeyer äußert außerdem die Erwartung, dass über die Psychologie auch ein neuer Zugang nicht nur zur vordergründigen Textebene, sondern auch zu den dahinter stehenden Autoren­persön­lichkeiten ermöglicht wird.51 Welche Form derartige Analysen annehmen könnten, versucht er am Beispiel von Paulus zu verdeutlichen, zu dem historisch-psychologische Einzelstudien beispielsweise Titel tragen könnten wie »Das Verhältnis der Affekte und der intellektuellen Prozesse bei­ Paulus«, »Untersuchung über die Energie des paulinischen religiösen Urerlebnisses gegenüber der Gedankenwelt, in der Paulus lebte« oder »Versuch einer Beschreibung des seelischen Geschehens im Apostel Paulus bei Abfassung des Philemonbriefes«.52 Gustav Vorbrodt entwirft mit Blick auf die historisch-exegetischen Erklärungsleistungen der modernen Psychologie das Konzept einer »biblischen Religionspsychologie«.53 Dabei soll es sich um eine neue psychologische Interpretation der biblischen Textbestände handeln, aus der sich zugleich auch neue religionspsychologische Einsichten ergeben. Diese Verwertung erscheint­ Vorbrodt deshalb möglich und aussichtsreich, weil die Bibel für ihn nichts anderes als ein über die Jahrtausende angewachsenes Kondensat von religiösen Erfahrungsdaten darstellt. Wird nun der Bibeltext psychologisch neu erschlossen, dann ergibt sich damit für ihn nicht nur eine neue »gesäuberte biblische 47 Ebd. 3. 48 Ebd. 19. 49 Ebd. 19–21. 50 Ebd. 6. 51 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 125–128. 52 Ebd. 128. 53 Vorbrodt: Biblische Religionspsychologie 23.

Theologische Erkenntniserwartungen  119

Psychologie«,54 sondern es kann seiner Meinung nach auch das in den Texten aufgehobene psychologische Erfahrungsmaterial extrahiert werden. Die so gewonnene Perspektive lässt sich dann wiederum in die von ihm angestrebte neue »Psychographie« der Religion mit einbeziehen. Diese gewinnt damit Vorbrodts Meinung nach eine zusätzliche historische Tiefendimension, sie wird mit dem »Regulativ«55 biblisch-historischer Empirie gegenüber ihrer ansonsten eher gegenwärtig ausgerichteten Erfahrungsbasis erweitert und auf diese Weise zusätzlich abgesichert.56 Die katholischen Theologen Johannes Lindworsky und Arnold Rademacher zeigen sich im Unterschied zu den protestantischen Theologen vor allem an neuen psychologischen Impulsen in der Mystik- und Askeseforschung interessiert. Speziell aus katholischer Perspektive von hohem Interesse erscheint Lindworsky die Aussicht auf ein erneuertes Verständnis der überlieferten asketischen Literatur. Diese enthält seiner Meinung nach einen großen Reichtum religionspsychologisch relevanter Erfahrungen und Beobachtungen, die nun neu erfasst und systematisiert werden können. »Von dieser empirischen Basis aus«, so Lindworsky, »lassen sich dann neue Probleme und Fragestellungen gewinnen«.57 Rademacher sieht ebenfalls die umfangreichen historischen Bestände an asketischer Literatur als lohnendes Ziel religionspsychologischer Untersuchungen an und fügt diesen außerdem noch die Erforschung der Heiligenbiographien als weiteren Interessensbereich hinzu. Zu beiden Materialgruppen werden sich seiner Meinung nach neue, tiefergehende Zugänge ergeben, die bisher noch unerkannte Bedeutungsebenen freilegen könnten.58 Aufbauend auf den ersten beiden Feldern theologischer Erkenntniserwartung an die moderne Psychologie, zum Teil aber auch unabhängig von diesen, werden drittens schließlich grundlegende Einsichten für die systematisch-theologische Arbeit von der modernen Psychologie erwartet. Man verspricht sich also nicht nur eine theoretische, sondern auch eine normative theologische Relevanz von der modernen Psychologie, die zu einer inhaltlichen Weiterentwicklung der von der Theologie zu vertretenden Lehrinhalte führen soll. So ist etwa für Friedrich Rittelmeyer klar, dass die Theologie an den von der Psychologie aufgezeigten Zusammenhängen eine neue »Wirklichkeitsgrundlage«59 beziehungsweise einen neuen »Unterbau«60 erhält. Rittelmeyer schätzt die systematisch-theologische Bedeutung der modernen Psychologie so hoch

54 Ebd. 22. 55 Ebd. 118. 56 Ebd. 22–24 und 117–125. 57 Ebd. 519. 58 Rademacher: Religionspsychologie 645–647. 59 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 125. 60 Ebd. 125.

120  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  ein, dass er von ihrem bevorstehenden »Siegeszug«61 und einem neu anbrechenden »psychologischen Zeitalter der Theologie«62 ausgeht. Ähnlich wie Rittelmeyer äußert sich auch Rudolf Wielandt, der ebenfalls vom neuen »Unterbau«63 spricht, der seiner Meinung nach dazu verhelfen soll, »dass bei allen dogmatischen Begriffen zunächst einmal der wirkliche religiöse Besitz, die religiösen Tatsachen, die Vorgänge in den konkreten Menschen selbst festgestellt und geschildert werden«.64 Für Gustav Vorbrodt soll die Psychologie unter den theologischen Fächern insgesamt eine propädeutische Vorrangstellung einnehmen, ihnen »Grundlage und Richtlinie«65 liefern und dabei zugleich als übergeordnete Integrations­ disziplin fungieren.66 In Bezug auf die Systematische Theologie geht Vorbrodt sogar so weit, deren Abschaffung zugunsten einer rein psychologischen »Lebenslehre« des Christentums zu fordern.67 In ähnlicher Weise meint auch Oskar Pfister schon früh zu wissen, dass sich mithilfe der modernen Psychologie der »Wahrheitsgehalt«68 einzelner religiöser Vorstellungen besser beurteilen lässt, so dass die überkommenen Lehrinhalte durch sie »im Feuer der Prüfung geläutert werden«.69 Mit Pfisters Hinwendung zur Psychoanalyse wird diese für ihn dann zum allein maßgeblichen Ansatz der Systematischen Theologie. Die nur autoritativ befestigten älteren Dogmengebäude halten ihr seiner Meinung nach nicht stand und müssen somit der psychoanalytischen Revision zugeführt werden.70 Die Modelle von Troeltsch und vor allem von Wobbermin sind sogar in erster Linie auf den systematisch-theologischen Ertrag hin angelegt. So möchte Troeltsch mit seiner psychologisch-erkenntnistheoretischen Methode nicht nur die Substantialität der Religion nach außen hin sicherstellen. Die Methode soll auch nach innen, also in der systematischen Theologie, wirksam werden, im Sinne einer »Kritik und Regulierung, Selbstvertiefung und Fortentwicklung des religiösen Lebens«.71 Diese Aufgabe ergibt sich für ihn aus seiner Grundannahme, dass sich im religiösen Bewusstsein die psychische Umsetzung des irrationaldynamischen Komplementärprinzips zur rationalen Naturgesetzlichkeit vollzieht. Als in diesem Sinne »wildwachsendes psychisches Leben«72 wirkt das re 61 Ebd. 125. 62 Ebd. 149. 63 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 22. 64 Ebd. 26. 65 Vorbrodt: Stellung der Religionspsychologie 437. 66 Ebd. 436–441. 67 Vorbrodt: Biblische Religionspsychologie 18. 68 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie 136. 69 Ebd. 140. 70 Pfister: Die Psychanalyse 144–143 und 190–200. 71 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 53. 72 Ebd. 51.

Theologische Erkenntniserwartungen  121

ligiöse Bewusstsein damit für Troeltsch zwar einerseits als produktives Prinzip der Geistesentwicklung. Es ist aber andererseits auch der ständigen Gefahr von Irrtümern, Fehl- und Rückentwicklungen ausgesetzt, so dass sich ein entsprechender Regulierungsbedarf ergibt.73 Diesem kann für Troeltsch nun mit neuer Effektivität durch den psychologisch-erkenntnistheoretischen Zugriff entsprochen werden. In diesem wird einerseits die spezifische innere Entwicklungsdynamik der Religion, ihre »konkrete Lebendigkeit«74 zur Geltung gebracht. Andererseits kann sie dadurch auch »aus ihrem eigenen Apriori heraus«75 rational reguliert und vertieft werden.76 Auch für Georg Wobbermin ist die theologische Psychologieanwendung gezielt auf die Systematische Theologie hin ausgerichtet, soll also zur Wesenseinsicht der Religion nicht nur nach außen, sondern auch nach innen führen.­ Wobbermin sieht ihren Beitrag allerdings anders als Troeltsch nicht darin, dass sie die Verwirklichung eines in der Religion wirksamen Entwicklungsprinzips unterstützt. Vielmehr ist sie für ihn das Mittel, um von den äußeren Hüllen der Religion zu ihrem eigentlichen inhaltlichen Kern vorzudringen, also die in der Religion liegenden »immanenten Geltungsgründe«77 zutage zu fördern. Denn die überlieferten religiösen Lehren und Institutionen sind, so Wobbermin, nur »symbolische Ausdrucksformen eines tieferen Sinnes, nämlich eben eines ursprünglich- und direkt-religiösen Erlebens, religiösen Empfindens und religiösen Vorstellens«.78 In diesem »direkt-religiösen Erleben«, so meint er, macht sich eine Wahrheit geltend, bei der es sich um »streng und eigentlich objektive Wahrheit, also um die absolute Wahrheit«79 handelt. Die von ihm vorgeschlagene religionspsychologische Herangehensweise soll es nun ermöglichen, aus der historischen und gegenwärtigen Vielfalt der subjektiven Erlebnisformen von Religion auf den »Glauben an sich«80 und damit auf das in diesem erfasste »Notwendige und Allgemeingültige«81 der Religion zu schließen. Damit verbunden ist für ihn auch eine Aufhebung aller sekundären, an das eigentliche religiöse Bewusstsein nur angelagerten Zusammenhänge, insbesondere »solche magisch-mytischen Vorstellens, sodann solche rationalen Erkennens und schließlich solche ästhetischen Empfindens«.82 Wobbermin hält die auf diese Weise erreichbare Klärung der Glaubensinhalte für derart bedeut 73 Ebd. 51–55. 74 Ebd. 51. 75 Ebd. 53. 76 Ebd. 51–55. 77 Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie 416. 78 Ders.: Religionspsychologie. In: Die Christliche Welt (1907), 984–986, hier 985. 79 Ders.: Vorwort des Übersetzers XIII. 80 Ders.: Religionspsychologie in Realencyklopädie 417. 81 Ebd. 417. 82 Ebd. 415.

122  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  sam, dass er seine religionspsychologische Herangehensweise nicht nur als eine Hilfsmethode, sondern als die neue Grundmethode der Theologie insgesamt etablieren möchte.83 Vergleichsweise zurückhaltend sind im Gegensatz zu diesen sehr weitreichen­ den systematisch-theologischen Erkenntnisinteressen in der protestantischen Theologie die Katholiken Rademacher und Lindworsky. Für sie kommt eine inhaltliche Entwicklung der kirchlichen Lehren mithilfe der Psychologie nicht infrage, denn diese stehen als geoffenbarte Wahrheiten fest, sodass sich vielmehr genau umgekehrt die Psychologie an ihnen ausrichten muss.84 Für Rademacher hat der psychologische Zugang allerdings insofern doch eine systematisch-theologische Relevanz, als sich mit ihm eine Aktualisierung bestimmter Darstellungs- und Reflexionsformen der Offenbarungswahrheit erreichen lässt. »Die Heiligenbiographien«, so schreibt Rademacher, »gewinnen an Wahrheit und Interesse, wenn sie die psychologische Kritik passiert haben, ebenso wie die religiösen Selbstbekenntnisse großer Seelen.«85 Erklärbar werden die unterschiedlich hohen Erkenntniserwartungen, die hier vor allem in systematisch-theologischer Hinsicht an die moderne Psychologie gerichtet werden, vor dem Hintergrund der spezifischen religionsbegrifflichen Vorannahmen, die von den beteiligten Akteuren getroffen werden. So ist für die katholischen Theologen, die sich in dieser Frage sehr viel weniger und auch deutlich zurückhaltender beteiligen, Religion als eine auf übernatürlicher Offenbarung beruhende verbindliche Lehre festgelegt, die von der Theologie als übereinstimmend mit der Vernunft und den Naturvorgängen zu vermitteln ist.86 Die Untersuchung psychisch-religiöser Vorgänge kann sich für sie deshalb von Anfang an nur in diesem vermittelnden Rahmen bewegen. Die Psychologie in der theologischen Verwendung soll demnach das Zusammenspiel von übernatürlicher und natürlicher Ordnung aufzeigen und bestimmte subjektive Aneignungsformen der religiösen Wahrheit, etwa in der Mystik, besser verständlich machen. Zu einer grundlegenden und normativ relevanten Erkenntnis kann sie jedoch nichts beitragen, da diese axiomatisch als in der Offenbarung feststehend und dementsprechend nicht hinterfragbar erachtet wird.87 Die in der Frage neuer religionspsychologischer Erkenntnisgewinne besonders engagierten protestantischen Theologen bringen dagegen in ihren Erwartungsformulierungen einen historisch-kritischen und zugleich glaubensorientierten Religionsbegriff zum Ausdruck. Das bedeutet, die dogmatisch festgelegten Lehren werden von ihnen als nur äußerliche, historisch entstan 83 Wobbermin: Die religionspsychologische Methode. 84 Lindworsky: Religionspsychologie 515 und 519; Rademacher: Religionspsychologie 645 f. 85 Rademacher: Religionspsychologie 646. 86 Lindworsky: Religionspsychologie 515 und 519; Rademacher: Religionspsychologie 645–646. 87 Siehe die Darstellung weiter oben.

Theologische Erkenntniserwartungen  123

dene Ausdrucksformen angesehen, die auf die eigentliche Religion als unmittelbare innere Erfahrung der einzelnen Gläubigen zurückverweisen. Der Glaube, so drückt dies Gustav Vorbrodt aus, ist die »Grundfunktion«,88 auf der sich das Gesamtphänomen Religion erst aufbaut.89 Der Anknüpfungspunkt zur Psy­cho­ logie ergibt sich dann daraus, dass die innere religiöse Erfahrung als subjektiv und diffus erachtet wird, als »viel komplizierter«, so Friedrich Rittelmeyer, »als bisher irgendjemand durchschaut«.90 Eine erneuerte psychologische Methodik kann deshalb von den protestantischen Theologen ohne weiteres als zentrales theologisches Erkenntnismittel aufgefasst werden. Oskar Pfister zieht in dieser Hinsicht den Vergleich zur allgemeinen Erkenntnistheorie und betont, dass für die Theologie letztendlich die gleiche Vorbedingung gilt, wie auch für die E ­ rkenntnistheorie, dass sie nämlich »ohne genaue Kenntnis der psychologischen Gesetze das Zustandekommen der Bewusstseinsinhalte nicht versteht und ihr Problem nicht lösen kann«.91 Hier wird im Hintergrund die Orientierung der religionspsychologisch interessierten protestantischen Theologen am Vorbild Friedrich Schleiermachers deutlich, der am Anfang des 19.  Jahrhunderts in seiner Glaubenslehre die hier aufgegriffene Forderung aufstellt, die Inhalte der Religion nicht primär aus der Überlieferung, sondern aus dem religiösen Bewusstsein der gläubigen Gemeinde zu entwickeln.92 So lassen sich bei den protestantischen Theologen, die Erkenntniserwartungen an die moderne Psychologie formulieren, fast durchgängig entsprechende Bezugnahmen auf das Religions- und Theo­ logie­verständ­nis Schleiermachers finden. Gustav Vorbrodt etwa geht es, wie er hervorhebt, ausdrücklich um die »religiöse Gemeindeerfahrung«93 im Sinne Schleier­machers, die seiner Meinung nach unweigerlich auf die, »gründliche Analyse des Glaubens als der Grundfunktion der Una Sancta mit allen Mitteln der exakten Psychologie«94 hinführt. Oskar Pfister knüpft ebenfalls an­ Schleiermacher an und fordert, die Glaubenslehre mithilfe der Psychologie beziehungsweise der Psychoanalyse endlich über die bloße »Bearbeitung der Schrift und formelhafter Bekenntnisse«95 hinaus zu entwickeln. Im Sinne Schleiermachers, so meint er, muss die Glaubenslehre »bei der Beobachtung des lebendigen Menschen einsetzen«.96 Diese Beobachtung kann für ihn nun mit 88 Vorbrodt: Religionspsychologie als Methode und Objekt 61. 89 Ebd. 61–64. 90 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 127. 91 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie 136. 92 Ausführlich hierzu Kapitel 2.1 dieser Arbeit. 93 Vorbrodt: Religionspsychologie als Methode und Objekt 60. 94 Ebd. 61. 95 Pfister, Oskar: Das Elend unserer wissenschaftlichen Glaubenslehre. In: Schweizerische theologische Zeitschrift (1905), 209–212, hier 209. 96 Ders.: Die Psychanalyse 199.

124  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  hilfe der Psychologie auf ganz neue Weise, nämlich als echte »Glaubenswissenschaft«,97 geleistet werden. Auch Georg Wobbermin nimmt von Anfang an konsequent auf den glaubensorientierten Religionsbegriff Schleiermachers Bezug. Die von ihm übersetzten »Varieties of Religious Experience« von William James stellt er im Vorwort der deutschen Ausgabe als neuen Impuls für eine »bewusst an Schleiermacher anknüpfende evangelisch-theologische Arbeit« vor.98 Sein eigenes Verfahren möchte er dann als »Kombination und gegenseitige Korrektur der Problemstellungen von Schleiermacher und William James«99 verstanden wissen.

4.3 Methodenerneuerung der Theologie In der protestantischen Theologie wird die Aufnahme der modernen Psychologie in die theologische Arbeit auch mit der Erwartung einer Methodenerneuerung und einer neuen methodischen Sicherung der Theologie verknüpft. Dabei erhofft man sich von der Anwendung des neuen psychologischen Instrumentariums auch die Überwindung einer methodischen Defizitlage, die im bisherigen theologischen Vorgehen diagnostiziert wird. So ist für Friedrich Rittelmeyer klar, dass sich die bisherige philosophisch orientierte Herangehensweise in der Theologie, so wie auch in den Geisteswissenschaften insgesamt, vor dem Hintergrund der modernen Wissenschaftsentwicklung überlebt hat. Es wird immer klarer, so meint er, dass dieses frühere Vorgehen nur zu immer neuen strittigen Positionen und zu einem unsicheren »Hin und Her« und »dilettantischen Für und Wider«100 führt. Beim Durchgang durch die philosophischen Systeme, so berichtet er, stellt sich für ihn keine Erkenntnis ein, sondern nur »ein ungeheurer Kater, ein ganz schimmelgrünes Misstrauen«.101 Gerade in der Systematischen Theologie ist dies für ihn problematisch, da auf diese Weise nicht ausgeschlossen werden kann, dass subjektive Willkür Eingang in die religiöse Normsetzung findet. »Aber wer schützt uns davor«, so fragt Rittelmeyer, »dass nicht als normativ ausgegeben wird, was individuell und subjektiv ist?«102 Die Psychologie stellt sich vor diesem Hintergrund für ihn als neue Grundlagenmethodik dar, mit deren Befolgung sich der alte, spekulative und metaphysische Deduktionismus überwinden lässt. Sie bedeutet, so meint er, die Grundlegung einer neuen, empirisch orientierten »strengen Methode«, mit der sich zwar langsamer und mühsamer als bisher, dafür aber 97 Ebd. 98 Wobbermin: Vorwort des Übersetzers VII. 99 Ders.: Die religionspsychologische Methode VIII. 100 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 123. 101 Ebd. 122. 102 Ebd. 122–125.

Methodenerneuerung der Theologie  125

wesentlich besser abgesichert, forschen lässt. Sie verkörpert in diesem Sinne ein neues »Ideal der Geisteswissenschaften«,103 das nach Rittelmeyers Dafürhalten auch für die Theologie maßgeblich werden muss. Ähnlich wie Rittelmeyer äußert sich Rudolf Wielandt, aus dessen Sicht die Theologie ebenfalls grundlegende, mithilfe der Psychologie nun aber lösbare Methodendefizite aufweist. Seiner Meinung nach geht die Theologie noch zu sehr von einer unsystematischen, subjektivistischen und mit der Philosophie vermengten Zugangsweise aus, die noch viel zu sehr bloß auf die »geniale Intuition des Verfassers«104 vertraut. Dem lässt sich seiner Meinung nach durch Aufnahme der modernen Fachpsychologie entgegenwirken, indem auf diesem Weg eine »systematische, sichere und gediegene psychologische Grundlage«105 zum neuen Ausgangspunkt theologischer Arbeit werden kann. Als zweiten defizitären Bereich, der nun psychologisch neu fundiert werden kann, sieht Wielandt außerdem den religionsgeschichtlichen Ansatz an, der sich für ihn in die Problematik des bloßen Historismus verstrickt hat. Die starke Betonung der Geschichtsforschung in der Theologie leitet seiner Meinung nach insofern fehl, als sie nicht zum Eigentlichen der Geschichte, nämlich dem in ihr aufgehoben religiösen Leben, vordringt. »Wir sehnen uns«, so schreibt Wielandt, »aus der reinen ›Geschichte‹ heraus. Wir haben oft das Gefühl, dass sie für uns etwas Fremdes ist, eine Last.«106 Seiner Meinung nach fehlen der bisherigen Religionsgeschichte zum einen die Mittel, zum anderen aber auch das Bewusstsein, um mehr zu sein als nur eine »lose Sammlung von Daten«.107 Zwar verfügt man über immer breitere geschichtliche Kenntnisse, aber diese, so Wielandt, »sind tot. Sie dringen nicht in die Tiefe des religiösen Lebens der Vergangenheit. Und so entbehren sie des innersten Interesses; sie helfen uns auch nicht, die Zukunft zu gestalten.«108 Auch Ernst Troeltsch unternimmt seinen Versuch, moderne Religionspsychologie und kantianische Erkenntnistheorie zu einer neuen Methode zu verbinden, aus der Motivation, damit an die moderne Wissenschaftsentwicklung anzuschließen. Diese geht seiner Meinung nach zurecht davon aus, ebenso wie von kirchlichen auch von »rationalistischen Dogmen« der älteren Metaphysik abzusehen und sich einzig an das zu halten, »was ohne Zweifel tatsächlich vorliegt und ein Gegenstand wirklicher Erfahrung ist«.109 In Bezug auf Religion kann dies für ihn nur das subjektive religiöse Bewusstsein sein, sodass der moderne wissenschaftliche Ansatz, sofern man diesen auch für die Theologie festhalten 103 Ebd. 122. 104 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 24. 105 Ebd. 106 Ebd. 3. 107 Ebd. 4. 108 Ebd. 15. 109 Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie 6.

126  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  möchte, dazu führen muss, eine Religionspsychologie im modernen Sinne in die Religionsbetrachtung zu integrieren. Bisher arbeiten die meisten Theologen für ihn in dieser Hinsicht noch stark defizitär, da sie zu sehr von philosophischen­ Bestimmungen ausgehen und damit, so Troeltsch, »das Rein-Psychologische allzu sehr mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Wahrheitsfragen verbinden, als dass es zu einer wirklichen Unbefangenheit der Auffassung kommen könnte«.110 Auch Troeltsch strebt mit seiner Methode am Ende zwar die Behandlung erkenntnistheoretischer Wahrheitsfragen an, aber diese, so meint er, können eben nicht schon abstrakt gelöst, sondern nur aus der »bloßen psychologischen Tatsächlichkeit«111 hervorgeholt werden. Die Psychologie ist für ihn deshalb, wie er schreibt, »das Eingangstor zur Erkenntnistheorie.«112 Bei Wobbermin, Vorbrodt und Pfister, die jeweils nicht nur eine Integration psychologischer Methoden in die Theologie fordern, sondern die Theologie insgesamt psychologisch neu fundieren möchten, ist die Debatte um methodische Defizite zu einem Krisendiskurs der Theologie gesteigert. So sieht Georg Wobbermin vor allem die Systematische Theologie in einer akuten Krisenlage, in der sich immer mehr herausstellt, »dass der Mangel einer einheitlichen und eindeutigen Methode das Grundübel im gegenwärtigen Arbeitsbetrieb der theologischen Systematik ist«.113 Sie hat, so meint er, »in den letzten fünfzig Jahren unter nichts so sehr gelitten wie unter der Unsicherheit und Unklarheit ihrer methodischen Prinzipien«.114 Seiner Diagnose nach herrschen in ihr einerseits die »Einseitigkeiten und Übertreibungen des Historismus«115 und darüber hinaus »in methodischer Hinsicht meist vollständige Anarchie«.116 Die Lösung der Methodenfrage ist deshalb für ihn entscheidend, sie stellt aus seiner Sicht geradezu die »Lebensfrage«117 der zukünftigen Theologie dar. Es hängt, wie er formuliert, »in der systematischen Theologie gerade gegenwärtig nicht weniger als alles von der Methodenfrage ab«.118 In der von ihm vorgeschlagenen neuen psychologischen Herangehensweise erblickt Wobbermin die Lösung dieser Problemlage, weil es damit seiner Meinung nach möglich wird, auf das primäre und entscheidende in der Religion, nämlich auf die subjektive religiöse Erfahrung, zurückzugehen.119 Wobbermin möchte sein Ver­fahren deshalb für die Theologie insgesamt zur neuen Grundlage machen. 110 Ebd. 11. 111 Ebd. 34. 112 Ebd. 113 Wobbermin: Die religionspsychologische Methode VII. 114 Ebd. 174. 115 Ebd. 175. 116 Ebd. 117 Ebd. 174. 118 Ebd. VII f. und 174 f.. 119 Wobbermin: Kampf um die Religionspsychologie 57–60.

Methodenerneuerung der Theologie  127

Es geht ihm dabei, so hält er fest, »nicht etwa um die Hinzufügung eines religionspsychologischen Annexes zur sonstigen theologischen Arbeit, also nicht um eine religionspsychologische Sonder- und Nebendisziplin der Theologie, sondern um die Einwirkung der religionspsychologischen Denkweise auf das Ganze der theologischen Arbeit«.120 In besonders drastischen Worten kritisiert Gustav Vorbrodt die etablierte theologische Vorgehensweise, die ihm von der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung her betrachtet als geradezu »banausisch-vorbeischießend«121 erscheint. Vorbrodt bemängelt einerseits die veraltete philosophische Orientierung der Theologie, die immer noch vollkommen bedenkenlos »über die Erfahrung hinweg ins Blaue von Metaphysik und Erkenntnistheorie disputiert«122 und, so Vorbrodt an anderer Stelle, »wie der Schmetterling über den Tatsachen in begrifflichen Kreisen dahinflattert«.123 Anstatt für eine verlässliche Erfahrungsgrundlage Sorge zu tragen, gestaltet sie sich seiner Meinung nach selbst in zentralen Fragen wie dem Glaubensverständnis bloß als »Begriffsgebilde […], an dem dieses und jenes Urteil des Gelehrten herumlichtert«.124 Auch die geschichtliche Vorgehensweise ist für ihn nur »peripherisch, sekundär, nebensächlich, abgeleitet, formell«.125 Vorbrodt hält der geschichtlich orientierten Theologie zwar zugute, dass sie das frühere starre Verständnis religiöser Formen und den damit verbundenen veralteten Dogmatismus aufgebrochen hat. Aber diese »zersetzende, klärende Schuldigkeit«126 sieht er als erfüllt an und das weitere Festhalten daran kommt ihm zunehmend anachronistisch vor. Es besteht seiner Meinung nach die Gefahr, dass das Geschichtsinteresse selbst zu einer Erstarrung führt, dass es zum »archäologischen Selbstzweck«127 und zum »Reliquien- und Knochendienst vor den Mumiengötzen der Geschichte«128 wird. Im Anschluss an die moderne Psychologie, so meint Vorbrodt, können diese Grundlagendefizite nun behoben werden, indem Religion und Theologie neu begriffen werden »von der Struktur, bzw. den Funktionen der modernen Seele aus«.129 Es wird damit seiner Meinung nach eine neue sichere Arbeitsgrundlage verfügbar, mit der nicht nur neue Erkenntnisse erlangt werden können, sondern die auch den Anschluss an die moderne Wissenschaftsentwick 120 Ebd. 57. 121 Vorbrodt, Gustav: Naturwissenschaft und Theologie in puncto Schuld und Zwang. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 75–88, hier 82. 122 Ebd. 125. 123 Vorbrodt: Beiträge zur religiösen Psychologie 51. 124 Ders.: Biblische Religionspsychologie 121. 125 Ders.: Zur Religionspsychologie 241. 126 Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus 1907 38. 127 Ders.: Biblische Religionspsychologie 25. 128 Ders.: Zur Religionspsychologie 240 f. 129 Ders.: Biblische Religionspsychologie 121.

128  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  lung sicherstellt. Die moderne Psychologie fungiert für ihn in diesem Sinne als »System und Postulat empirischer Methode«130 für die Theologie, mit der nun eine neue Erfahrungs- und Wirklichkeitsorientierung anstelle der früheren abstrakten rationalistischen Spekulationen durchgesetzt werden kann.131 Wie Vorbrodt wirft auch Oskar Pfister der Theologie ihr Festhalten an einer veralteten philosophisch und historistisch ausgerichteten Herangehensweise vor. Sie ist seiner Meinung nach »scholastisch«132 und »auf metaphysisch-spekulative Abwege geraten«.133 Unter Ausblendung der allgemeinen wissenschaftlichen Methodenentwicklung wird in der Theologie noch immer in abstrakter und unvermittelter Weise über das Wesen der religiösen Bewusstseinsvorgänge bloß »philosophiert«,134 anstatt diese Vorgänge zunächst einmal gründlich empirisch zu untersuchen. Durch ihre Betonung historischer Untersuchungen stellt sich für Pfister die Theologie außerdem als »antiquarisch«135 dar. Sie nimmt gerade nicht, wie dies seiner Meinung nach sein müsste, den gegenwärtigen Glauben »als etwas lebendiges, heutiges«136 in den Blick, sondern arbeitet sich gegenwartsfern an veralteten dogmatischen Textbeständen ab. Anstatt die Gegenwartsentwicklung zu betrachten, so Pfisters Vorwurf an die historisch orientierten Theologen, »fischen sie, wie der Prosektor die Leichenteile aus dem Behälter zieht, nach Niederschlägen gewesenen Glaubens!«137 Die aus dem defizitären Verfahren gewonnenen Inhalte gestalten sich aus Pfisters Sicht entsprechend, sie wirken für ihn zunehmend »unreif, dilettantisch, konfus«.138 In ihrer bisherigen Form steht die Theologie deshalb für Pfister am Ende, sie ist für ihn in der Summe ihrer Probleme »antiquarisch, abstrakt, scholastisch, unwissenschaftlich desorientiert. Mit einem Worte: Sie ist tot.«139 In psychologischer Hinsicht zeigt sich die Unfruchtbarkeit des bisherigen Vorgehens für ihn besonders deutlich, wenn man die Schilderungen innerer Glaubensvorgänge von namhaften Theologen wie Albrecht Ritschl oder Julius Kaftan in Beziehung zu den Begriffen und Ergebnissen der modernen Fachpsychologie setzt. Erstere erscheinen dann als vollkommen abwegige und veraltete »psychologische Fiktionen«,140 mit deren offensichtlicher Nichtigkeit auch die damit verknüpfte Theologie nicht mehr glaubwürdig auftreten kann.141 Durch die Einführung 130 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 441. 131 Ebd. 432 f. und 441 f. 132 Pfister: Elend unserer wissenschaftlichen Glaubenslehre 211. 133 Ebd. 212. 134 Ebd. 210. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd. 212. 139 Ebd. 140 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie 130. 141 Ebd. 129–132.

Theologische Kritik  129

der modernen Fachpsychologie bzw. Psychoanalyse als neuer Basismethode der Theologie sieht Pfister wie schon Vorbrodt die Möglichkeit, die von ihm diagnostizierte Methodenkrise zu überwinden. Anstelle des bloß philosophischen und historischen Vorgehens, das für ihn, wie geschildert, nicht mehr trägt, wird seiner Meinung nach eine empirische und aktuelle Herangehensweise möglich und damit der Anschluss an die moderne Wissenschaftsentwicklung wiederhergestellt.142 Im Überblick über den Diskurs der Methodenkrise und Methodenerneuerung in der protestantischen Theologie stellt sich dieser als eine Affirmation des modernen, empirisch orientierten Wissenschaftsbegriffs dar. Von diesem Begriff aus wird einerseits die Defizitlage der Theologie in Bezug auf ihr früheres, philosophisch und historisch orientiertes Vorgehen festgestellt. Auf der anderen Seite wird der Anschluss an die Psychologie als Überwindungsmöglichkeit dieser Defizitlage wahrgenommen. Die Psychologie gilt in diesem Zusammenhang als Verkörperung einer der modernen Wissenschaftsentwicklung entsprechenden empirischen Vorgehensweise, als, wie Gustav Vorbrodt dies ausdrückt, »System und Postulat empirischer Methode«.143 Entscheidend ist dabei die offensichtlich zugrunde gelegte Wahrnehmung der Psychologie nicht bloß als Fachwissenschaft, sondern als neuer Basiswissenschaft der geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Sie wird hier mit einer aktualitätsbezogenen empirischen Arbeitsweise weitgehend gleichgesetzt und soll in dieser Form den früheren Historismus und philosophischen Deduktionismus ablösen oder zumindest als Gegenpol ausbalancieren helfen.

4.4 Theologische Kritik Die Nutzungsabsichten der Psychologie als theologisches Erkenntnismittel und neuer Basismethode der Theologie sind sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Theologie nicht unumstritten. Kritik daran wird einerseits als grundsätzliche Methodenkritik laut, wie sie sich in vergleichbarer Weise auch schon in der Abwehr des psychologischen Funktionalismus findet. Andererseits wird die Befürchtung geäußert, dass es durch die Aufnahme neuer psychologischer Methoden in die Theologie zu einer unbeherrschbaren Psychologisierung kommt, falls sich diese Methoden nicht wie beabsichtigt von ihren funktionalistischen Thesen trennen lassen. So ist etwa auf katholischer Seite Constantin Gutberlet der Ansicht, dass sich die Psychologie aufgrund ihrer funktionalistisch begrenzten Perspektive auch im Gebrauch durch die Theologie in unauflösliche Widersprüche verstricken 142 Ebd. 137; Pfister: Die Psychanalyse 70–73. 143 Vorbrodt: Stellung der Religionspsychologie 441.

130  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  wird. Sie muss für ihn deshalb nicht nur für die Religionserklärung grundsätzlich abgelehnt werden, sondern darf auch in der Theologie selbst keine Verwendung finden.144 Gutberlet empfiehlt demgegenüber auch für den internen Theologiegebrauch die Besinnung auf die »christliche, wahre, ersprießliche Religionspsychologie«,145 die es seiner Meinung nach in der Kirche immer schon gegeben hat. Die neue Erforschung der Heiligenviten, die etwa Rademacher mithilfe der modernen Psychologie unternehmen möchte, hat seiner Meinung nach dem in der Kirche bewährten Verfahren nichts voraus. Denn auch bisher, so Gutberlet, muss zur Feststellung der »heroischen Tugenden«146 im Zuge des Heiligsprechungsverfahrens bereits »das Seelenleben nach allen Richtungen erforscht werden, auch die geheimsten Winkel, in die sich das menschliche Herz verstecken kann, müssen durchleuchtet werden«.147 Ein neuer Ansatz, wenn er denn funktionieren würde, ist damit seiner Meinung nach in dieser Hinsicht nicht notwendig, da die Kirche, dort wo es möglich ist, bereits »ernste religionspsychologische Arbeit«148 leistet. Ähnlich wie Gutberlet richtet auch Jakob Margreth seine Kritik an der modernen Psychologie sowohl gegen deren Erklärungsansprüche gegenüber Religion als auch gegen ihre Verwendung in der Theologie. Denn solange die Methode derart offensichtliche Defizite aufweist, wie dies bei der modernen Psychologie der Fall ist, braucht seiner Meinung nach über die Ergebnisse nicht weiter gesprochen zu werden.149 »Erst eine Einigung über die Grundlage!«, proklamiert Margreth, »mit ihr fällt das System.«150 Wie für Gutberlet ist auch für Margreth die Notwendigkeit des angeblichen neuen Erkenntnismittels höchst fragwürdig. Mit Blick auf die von James in seinen »Varieties« vorgelegten Mystikinterpretationen führt Margreth aus, dass diese nicht nur falsch sind, sondern auch mit der kirchlichen Mystikforschung einer »ausgebildeten, in Jahrhunderte langer feinster Geistesarbeit entwickelten Wissenschaft gegenüberstehen, deren Verständnis Theorie und vor allem auch Praxis eines ganzen Menschenlebens verlangt«.151 Auf protestantischer Seite erklärt Julius Kaftan, dass religionspsychologische Analysen, sofern sie die Religion nicht ursächlich erklären sollen, zwar im Prinzip möglich sind. Da diese aber nicht zur »Religion als solcher«152 vordringen können, sondern nur periphere psychische Verlaufsformen beschreiben, ist für 144 Gutberlet: Religionspsychologie 171–173. 145 Ebd. 176. 146 Ebd. 175. 147 Ebd. 148 Ebd. 176. 149 Margreth: Amerikanische Religionspsychologie 228. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Kaftan: Dogmatik und Glaubenspsychologie 388.

Theologische Kritik  131

ihn nicht ersichtlich, welcher Mehrwert sich aus theologischer Sicht ergeben sollte. »Was durch sie befriedigt wird«, so Kaftan, »ist das Interesse des Psychologen als solchem, nicht das des Religionsforschers.«153 Höchstens eine indirekte Bedeutung lässt sich der modernen Psychologie seiner Meinung nach zusprechen, so wie sie diese auf selbstverständliche Weise für alle Geisteswissenschaften, einschließlich der für die Theologie maßgeblichen Geschichte, besitzt. Diese Bedeutung erlangt sie aber für Kaftan nur dadurch, »was sie im allgemeinen über die Zusammenhänge des bewussten Leben lehrt, nicht durch detaillierte Analyse der religiösen Vorgänge«.154 Kaftan sieht das theologische Interesse an einer neuen psychologischen Herangehensweise als Symptom eines der Nachahmung der Naturwissenschaften verfallenen Zeitgeistes an.155 Dass es sich dabei um eine heillose Überschätzung handelt, wird für ihn aber bereits an den ersten Versuchen einer Anwendung deutlich, wie sie sich exemplarisch in den Veröffentlichungen von Gustav Vorbrodt darstellen. »Ich kann nur jedem, der in diesem Spital krank ist«, so urteilt Kaftan hierüber, »die Lektüre des Vorbrodt’schen Aufsatzes als heilsame homöopathische Medizin empfehlen.«156 Auch Karl Bornhausen bestreitet ähnlich wie Kaftan zwar nicht die grundsätzliche Möglichkeit, psychologische Religionsforschungen mithilfe moderner psychologischer Methoden zu betreiben, sieht diese aber ebenfalls als vergebliche Mühe an, da sie seiner Meinung nach keinen Zugriff auf das »eigentlich Religiöse«157 vermitteln können. Für die Theologie ergibt sich aus sein Sicht kein Mehrwert aus einer derartigen Herangehensweise, die, so Bornhausen, »nur die naturalistische Entstehung des religiösen Bewusstseins in ihrer Differenziertheit festzustellen und in großen Gruppen mit äußerlichen Merkmalen zu ordnen vermag«.158 »Ebenso wenig wird der idealistische Philosoph«, so Bornhausen weiter, »in seiner Annahme der absoluten Freiheit des menschlichen Denkens tangiert, wie der Theolog [sic!] durch diese religiöse Naturwissenschaft oder naturwissenschaftliche Religionsbehandlung.«159 Dem religiösen Menschen hat die psychologische Untersuchung der Glaubensvorgänge seiner Meinung nach ohnehin nichts mitzuteilen, da für ihn von Anfang an klar ersichtlich ist, »dass diese wissenschaftliche Religionsbearbeitung nur den kleinsten Teil des religiösen Moments erfasst«.160 Otto Scheel befürchtet dagegen eine Destabilisierung der Systematischen Theologie, sofern neue psychologische Methoden direkt in sie aufgenommen 153 Ebd. 389. 154 Ebd. 155 Ebd. 391–393. 156 Ebd. 387. 157 Bornhausen: Amerikanische Religionspsychologie 924. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd.

132  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  werden. Zwar sind auch für ihn psychologische Religionsuntersuchungen prinzipiell möglich, sofern sie als Untersuchungen sekundärer religiöser Phänomene und nicht als Versuch der Ursachenerklärung von Religion betrieben werden. Scheel gesteht derartigen Analysen sogar einen eigentlichen »heuristischen Wert«161 für die Systematische Theologie zu, die seiner Meinung nach undenkbar wäre ohne Rücksichtnahme auf die »empirisch feststellbare religiöse Psychologie«.162 Entscheidend ist für ihn aber, dass keinesfalls die religionspsychologische Methodik direkt in die Systematische Theologie übernommen werden darf. Da die Psychologie »empirisch-analytisch«, die Theologie jedoch »erkenntniskritisch-synthetisch«163 angelegt ist, droht damit aus seiner Sicht ein Konflikt zweier vollkommen gegensätzlicher Herangehensweisen, der sich nicht vermitteln lässt. Es muss dann seiner Meinung nach unausweichlich dazu kommen, dass die Herangehensweise eine stärkere Tendenz in die eine oder andere Richtung entwickelt und schließlich ganz in diese Richtung kippt. Der Versuch, die Psychologie direkt in die Theologie einzubeziehen bedeutet früher oder später, so hält er fest, »entweder eine Belastung der Religionspsychologie mit überempirischen Elementen und also eine Auflösung der Religionspsychologie, oder den Verzicht auf ausreichende Beantwortung der Wahrheitsfrage und der normativen Darstellung der religiösen Inhalte. Tertium non datur«.164 Die Kritik, die auf diese Weise an der Psychologieverwendung in der Theologie geübt wird, überschneidet sich sowohl hinsichtlich ihrer Vertreter als auch der Argumente weitgehend mit der in der Funktionalismusfrage direkt gegen die moderne Psychologie gerichteten Kritik. Auch eine theologische Verwendung neuer psychologischer Herangehensweisen wird hier aufgrund ihrer angeblich unzulänglichen Methodik abgelehnt und es werden dabei die gleichen Gegenmodelle exklusiver theologischer Religionserfassung vorausgesetzt wie auch schon in der Funktionalismusfrage. Zum Teil – bei Kaftan und Born­ hausen  – sind die Einwände allerdings insofern abgemildert, als der psychologische Zugang in der Verwendung durch die Theologie nicht als grundsätzlich unmöglich abgewehrt wird. Er gilt aber dennoch als peripher und damit letztendlich als bedeutungslos für die eigentlichen, das heißt normativen theologischen Fragen. Scheel macht dagegen mit seinem Einwand einer zwangsläufigen Tendenzentwicklung, sofern Religionspsychologie direkt in den Betrieb der Theologie einzugliedern versucht wird, auf ein Problem aufmerksam, das sich im Verlauf der Debatte tatsächlich immer mehr bestätigt.

161 Scheel: Die moderne Religionspsychologie 37. 162 Ebd. 34. 163 Ebd. 37. 164 Ebd. 38.

Die ungelöste Hierarchiefrage von Psychologie und Theologie  133

4.5 Die ungelöste Hierarchiefrage von Psychologie und Theologie Als entscheidendes und am Ende ungelöstes Problem der theologischen Integrationsversuche von neuen psychologischen Methoden stellt sich im Verlauf der Auseinandersetzung die Hierarchiefrage zwischen Psychologie und Systematischer Theologie heraus. Dabei tritt der bereits von Anfang an latente Konflikt zwischen dem Grundlagenanspruch der modernen Psychologie und den an sie herangetragenen normativen und epistemologischen Ansprüchen der Systematischen Theologie zunehmend deutlicher hervor. Es kommt zu einer Polarisierung, in der sich immer mehr die Alternative zwischen einer die Theologie bestimmenden und einer bereits im Vorhinein theologisch bestimmten Religionspsychologie verfestigt. Auf der einen Seite hält insbesondere Gustav Vorbrodt konsequent an dem von ihm bereits in seinen frühen Veröffentlichungen vertretenen Modell einer weitreichend psychologisierten Theologie fest. Für ihn ist dies insofern legitim, als seiner Meinung nach nur so die Wissenschaftlichkeit und Wahrheit der Theologie weiterhin erhalten werden kann. Die von der Psychologie für die Geisteswissenschaften vertretene empirische Herangehensweise, so argumentiert er gegen die Kritik von Scheel, ist nicht einfach nur eine beliebige neue Methode, neben der sich aus einzelfachlichen Sonderbedürfnissen noch andere Vorgehensweisen behaupten ließen. Vielmehr repräsentiert sie für ihn die wissenschaftliche Gesamtentwicklung, ist also »heute die Grundlage aller wirklichen Wissenschaft«.165 Die moderne Psychologie muss deshalb seiner Meinung nach ohne weiteren Vorbehalt auch zur Grundlage der Theologie werden, »wenn wir nicht mit der empirisch gerichteten Wissenschaft der Neuzeit Zusammenhang und bei Derselben Ansehen verlieren wollen«.166 Von dieser Meinung rückt Vorbrodt im Verlauf der Auseinandersetzung nicht mehr ab. Vielmehr polemisiert er immer stärker gegen die »bisherigen, noch so geistreichen Einfälle der Kathederdogmatiker«,167 die Belastung der Theologie mit »biblophilologischem Kleinkram«168 oder »die luftigen ›Normen‹, das begriffliche ›Dogma‹, die ›spekulativ‹-phantasive [sic!] ›Erkenntnis‹ der heutigen, schon durch den Namen als unempirisch dokumentierten ›Dogmatik‹«.169 »Was ich will«, so bekennt er in einem Text aus der Spätphase der Auseinandersetzung,

165 Vorbrodt: Religionspsychologie und Dogmatik 309. 166 Ebd. 167 Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort XIII. 168 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 433. 169 Ders.: Zur theologischen Religionspsychologie 18.

134  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  »ist der Empirismus, der unserer Gegenwartskirche so bitter Not tut als ein wirklich brauchbarer Maßstab für die Wirrungen und Irrungen unserer Tage.«170 Bei Oskar Pfister tritt eine Festlegung auf das Primat der Psychologie mit seiner Hinwendung zur Psychoanalyse um 1910 ein. Bereits in seinem ersten Beitrag zur Debatte von 1903 fordert Pfister zwar, dass die Systematische Theologie psychologisch »geläutert«171 werden soll, er sieht sie aber weiterhin noch als normativ unabhängig an.172 Der aus Pfisters Sicht überwältigenden Evidenz der Psychoanalyse hält sie dann aber nicht mehr stand: »Der Katholik mag vor dem Dogma halt machen«, stellt Pfister 1910 fest, »die Psychoanalyse aber geht ruhig ihren eigenen Wege, auch wo sie Behauptungen ›klassischer Seelenkenner‹ eventuell umstoßen muss. Sie ›schöpft‹ nur aus eigener Beobachtung.«173 Einen Konflikt stellt dies aus Pfisters Sicht durchaus mit bestimmten überkommenen Lehrinhalten, nicht jedoch mit der Religion an sich dar, die für ihn »im Lichte der neuen Psychologie nur zu gewinnen hat«.174 Wohl wird sich seiner Meinung nach durch den psychoanalytischen Zugang manche religiöse Erlebnisform als das erwiesen, was sie tatsächlich ist, nämlich »als illusorische Komplexfunktion«.175 Aber dies ist für ihn kein Verlust, sondern insofern ein großer Gewinn, als auf diese Weise ein zunehmendes Verständnis des eigentlichen, sich psychisch realisierenden Prinzips der Religion und damit auch dessen neue Anerkennung und praktische Förderung herbeigeführt werden kann.176 Auch bei Friedrich Rittelmeyer führt der Anschluss an die Psychologie dazu, dass die Systematische Theologie schließlich klar hinter diese zurückgestellt wird. Steht für ihn in seinem ersten Beitrag von 1908 zunächst nur ein neuer­ Lebensbezug und ein Objektivitätsgewinn der Systematischen Theologie in Aussicht, indem sie durch die Einsichten der modernen Psychologie in die religiöse Vorstellungsbildung eine neue »Wirklichkeitsgrundlage«177 gewinnt, so erhebt Rittelmeyer in der Spätphase der Auseinandersetzung noch weiter reichende Forderungen: Im Gegensatz zu seiner früheren Position sieht er nun vom psychologischen Standpunkt den Ansatz einer objektivierenden Dogmatik als ganz grundlegend problematisch an. Es soll nun, so meint er, in der Systematischen Theologie überhaupt nicht mehr um die Festlegung einheitlicher Glaubensnormen gehen, sondern nur noch um eine, möglichst perspektiv­

170 Ebd. 49. 171 Pfister: Unterlassungssünden der Theologie 140. 172 Ebd. 137. 173 Ebd. 191. 174 Pfister: Psychanalyse und Theologie 381. 175 Ders.: Die psychanalytische Methode 355. 176 Ebd. 354–357 und 483. 177 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 125.

Die ungelöste Hierarchiefrage von Psychologie und Theologie  135

reiche, psychologische Hermeneutik des besonderen »Grunderlebnisses«178 beziehungsweise des »Welt- und Selbstgefühls«179 in der Religion.180 Auf der anderen Seite – also bei denjenigen Autoren, die zwar neue psychologische Ansätze aufnehmen, diesen gegenüber aber die volle normative und epistemologische Souveränität der Systematischen Theologie erhalten möchten – kommt es im Verlauf der Auseinandersetzung zu einer immer deutlicheren Artikulation des systematisch-theologischen Vorbehalts, dem die Psychologieverwendung unterstellt werden soll. So hält etwa Friedrich Traub die Einbeziehung der modernen Psychologie in die Systematische Theologie einerseits für prinzipiell notwendig. Der religiöse Glaube, so schreibt er, »ist ein seelischer Vorgang und die richtige Auffassung sei­ nes Inhaltes an die richtige Vorstellung von dem seelischen Vorgang geknüpft«.181 Andererseits ist es für ihn aber von ebenso großer Bedeutung, an der normativen Souveränität der Theologie und ihrer im Grundsatz eigenen und nicht von der Psychologie berührten, Erkenntnisgrundlage festzuhalten. Es muss jederzeit klar bleiben, so Traub »dass das theologische Problem selbst nicht ein psychologisches ist. Die Wahrheitsfrage und die Tatsachenfrage sind streng voneinander zu scheiden. Nur letztere ist psychologischer Art; für die erstere kann die Psychologie wohl wertvolle Dienste tun; aber die Frage selbst liegt jenseits ihrer Kompetenz.«182 Weil die Psychologie auf diese Weise von Anfang an nur als Hilfsmethode der Systematischen Theologie in Frage kommt, sind für Traub auch die Ansprüche einer psychologischen Grundlagenerneuerung der Theologie nicht haltbar und die daran geknüpften Hoffnungen vergeblich. Der Psychologie kann seiner Meinung nach auch weiterhin nur die hilfswissenschaftliche Stellung zukommen, die sie auch in ihren früheren Entwicklungsstadien schon innehatte. Es kann sich immer nur, so hält Traub fest, »um eine bessere oder schlechtere Psychologie handeln, nicht um eine prinzipielle Neugestaltung.«183 Eine ähnlich deutliche Abgrenzung wie Traub nimmt auch Hermann Faber in seiner in der Spätphase der Auseinandersetzung veröffentlichten theologischreligionspsychologischen Programmatik vor. Faber erhebt dort den Anspruch, bisherigen »Grenzüberschreitungen«184 Einhalt zu gebieten, indem durch eine »genaue Untersuchung des Wesens der beiden Disziplinen«185 diese in ihr rechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Dieses rechte Verhältnis besteht dann 178 Ders.: Die Liebe bei Plato und Paulus. In: Archiv für Religionspsychologie 1 (1914), 10–44, hier 43. 179 Ebd. 43. 180 Ebd. 38–44. 181 Traub: Theologie und Philosophie 177. 182 Ebd. 169 f. 183 Ebd. 179. 184 Faber: Wesen der Religionspsychologie 1. 185 Ebd.

136  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  wie bei Traub einerseits in der Anerkennung des hilfswissenschaftlichen Nutzens der modernen Psychologie. Sie kann aus Fabers Sicht insofern nützlich sein, als mit den von ihr »scharf geschliffenen«186 Begriffen auch eine präzisere theologische Arbeit möglich wird. Außerdem kann sie als »methodische Erweiterung der persönlichen Erfahrung«,187 die für Faber eine wichtige Arbeitsgrundlage der Theologie ist, diese besser beherrschbar machen. Allerdings muss dabei immer der, so Faber, »prinzipielle Gegensatz« im Auge behalten werden, der zwischen Psychologie und Systematischer Theologie herrscht. Denn die Psychologie hat für ihn in theologischer Hinsicht »in sich selbst keine Kriterien der Bewertung und Beurteilung«.188 Sie ist, so Faber, reine »quaestio facti«, der immer die »quaestio juris« der »normativen Wissenschaft«189 Theologie über­geord­net bleiben muss. Wie Traub sieht auch Faber mit der modernen Psychologie keine Grundlagenerneuerung der Theologie bevorstehen, sondern nur die Aktualisierung einer, seiner Meinung nach ohnehin schon seit langem anerkannten Ergänzungsmethode.190 Einen besonderen Fall stellt schließlich auch in diesem Zusammenhang Georg Wobbermin dar, der zwar nominell den Anspruch erhebt, eine die Impulse der modernen Psychologie aufnehmende Religionspsychologie zu betreiben, seine eigene »transzendentalpsychologische« Methode aber tatsächlich immer mehr als Konkurrenzunternehmen zur modernen Psychologie positioniert. So geht Wobbermin in seinen ersten Beiträgen noch von einer weitgehend unproblematischen direkten Aufnahme der neuen religionspsychologischen Forschungen durch die Theologie aus. Die neuen Ansätze, so schreibt er 1907, können »mit hoffnungsvollem Zuspruch«191 begrüßt werden. Sie weisen zwar seiner Meinung nach über ihre direkten Ergebnisse hinaus, nämlich in Richtung einer Ergänzung durch eine theologische »umfassende Werttheorie«192 der Religion. Dies erscheint ihm aber leicht vermittelbar.193 Auch mit seiner sodann entwickelten »transzendentalpsychologischen« Methode erhält Wobbermin den Anknüpfungsanspruch an James aufrecht, behauptet nun aber zugleich ein spezifisches, von der Allgemeinpsychologie strikt zu trennendes Verfahren, das »gegen empiristische und psychologistische Ausdeutungen möglichst sicherzustellen«194 ist.195 Indem er sein Verfahren zur neuen Grundmethode der Sys 186 Ebd. 160. 187 Ebd. 162. 188 Ebd. 155. 189 Ebd. 190 Ebd. 163 f. 191 Wobbermin: Religionspsychologie 1907 984. 192 Ders.: Vorwort des Übersetzers XVI. 193 Ebd. VII–XVII. 194 Wobbermin: Streit um die Religionspsychologie IX . 195 Ebd. VII–XIII.

Die ungelöste Hierarchiefrage von Psychologie und Theologie  137

tematischen Theologie machen möchte, reklamiert er es außerdem auch exklusiv für diese. Es muss anerkannt werden, so proklamiert er schließlich, »dass die religionspsychologische Arbeit erst auf dem Gebiet der systematischen Theologie zu ihrer bedeutsamsten Entfaltung gelangen kann, wie denn auch – historisch gesehen – der Begriff des Religionspsychologischen auf diesem Gebiet zu Hause ist«.196 Der Lexikonartikel über Religionspsychologie, den Wobbermin für die »Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche« verfasst, verleiht diesem Anspruch ebenfalls Ausdruck, da Wobbermin dort sein eigenes Vorgehen als angebliche Synthese und aktuellen Stand der vorangegangenen religionspsychologischen Methodendebatte präsentiert.197 Der Anspruch, eine neue psychologische Herangehensweise zu integrieren, von der aber die normative Souveränität der Theologie nicht berührt werden soll, wird im Verlauf der Auseinandersetzung nicht nur immer deutlicher artikuliert. Es wird auch versucht, diesen Anspruch durch immer kompliziertere, mehrfach an die Theologie rückgebundene Methodenentwürfe möglichst fest zu verankern. So unterscheidet etwa Hermann Faber in seinem Entwurf drei Verarbeitungs­ ebenen der psychologischen Religionsuntersuchung: Diese soll zunächst als eigentliche psychologische Untersuchung durchgeführt, dann einer erkenntnistheoretischen Weiterverarbeitung unterzogen und zum Abschluss noch durch die unabhängige »Normwissenschaft« Theologie nach eigener Maßgabe verwertet werden.198 Zu dieser doppelten Interventionsmöglichkeit im Nachhinein kommt hinzu, dass auch schon die eigentliche psychologische Methode von Faber nicht freigestellt, sondern durch zahlreiche kritische Vorbehalte eingeschränkt wird. So kommen die von der US -Religionspsychologie eingebrachten Ansätze statistischer Fragebogenauswertungen für Faber nur als nachgeordnete Hilfsmethoden infrage,199 während kulturanthropologische Interpretationen, wie sie in der deutschen Fachpsychologie verbreitet sind, für ihn als methodisch mangelhaft ausgeschlossen werden müssen.200 Als Hauptmethode spricht sich Faber dagegen für eine auf subjektiver Introspektion und dem »intuitiven Nachbilden«201 fremder religiöser Bewusstseinszustände aufbauende Religiositätshermeneutik aus.202 Auch Wobbermins Ansatz wird im Debattenfortgang zunehmend kompli­ zierter. Zunächst fasst er die seiner Meinung nach in religiösen Fragen anzu­

196 Ebd. V f. 197 Wobbermin: Religionspsychologie in Realencyklopädie. 198 Faber: Wesen der Religionspsychologie 123–126 und 154–155. 199 Ebd. 112–117. 200 Ebd. 55–58. 201 Ebd. 108. 202 Ebd. 102–112.

138  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  wendende Psychologie noch als ein konventionelles geisteswissenschaftliches Interpretationsverfahren auf.203 Seine frühen Vorschläge einer speziellen »transzendentalpsychologischen« Methode beinhalten dann bereits die Elemente einer subjektiven und geschichtlichen Hermeneutik religiöser Erfahrung sowie von deren erkenntniskritischer Verarbeitung, die auf das spezifisch religiöse Moment der »Wahrheitsgeltung« hin ausgerichtet sein soll.204 In seiner späten Fassung beschreibt Wobbermin seine religionspsychologische Methode dann als ein Zirkelverfahren, das die Reflexion subjektiven religiösen Erlebens, die Analyse geschichtlicher Frömmigkeitsformen und die Erkenntniskritik religiöser Erfahrung wechselseitig aufeinander bezieht und immer wieder von neuem durchläuft. Die theologische Anbindung seines Modells versucht er dabei zusätzlich dadurch sicherzustellen, dass er für den christlichen Kontext der Heiligen Schrift eine privilegierte Stellung unter den historischen Frömmigkeitsdokumenten einräumt.205 Einen Versuch, die Polarisierung zu überwinden, die sich zwischen den zunehmend stärker entweder zur psychologischen oder theologischen Seite hin orientierten Verwendungsmodellen ergibt, stellt in der späteren Phase der Auseinandersetzung der Ansatz Wilhelm Stählins und des Archivs für Religionspsychologie dar. Hier soll eine wechselseitige Förderung zwischen neuer, dezidiert fachwissenschaftlich orientierter Religionspsychologie und den theologischen Einzeldisziplinen dadurch erreicht werden, dass die Systematische Theologie aus dieser Beziehung vollständig ausgeklammert wird. Denn eben von dieser, so schreiben Wilhelm Stählin und Kurt Koffka im Einführungsartikel des AfRp, entsteht »die größte Gefahr, welcher die Religionspsychologie ausgesetzt ist«.206 Zwar gehören ihrer Meinung nach durchaus auch die religiösen Lehrinhalte, um die es der Systematischen Theologie geht, zum Untersuchungsmaterial wissenschaftlicher Religionspsychologie, »eben weil und soweit sie zu dem Tatbestand des religiösen Erlebens selbst gehören«.207 Sich jedoch auf Diskussionen um deren inhaltliche Wahrheit oder Unwahrheit, also auf eine systematisch-theologische Ausrichtung der religionspsychologischen Untersuchungen einzulassen, ist aus ihrer Sicht weder mit dem Wissenschaftlichkeitsanspruch der Psychologie vereinbar, noch kann dies in der Folge dem dogmatischen Interesse genügen.208 Für Stählin ist in dieser Hinsicht gerade das von Wobbermin vertretene Modell ein Negativbeispiel, das seiner Ansicht nach nur auf der Grundlage von zirkulären Voraussetzungen und terminologischen 203 Wobbermin: Rezension Starbuck 662 f. 204 Ders.: Erkenntniskritik der religiösen Erfahrung 35–37 und 45–47. 205 Ders.: Religionspsychologie in Realencyklopädie 415–418. 206 Stählin/Koffka: Einführung 6. 207 Ebd. 6. 208 Ebd. 5–9.

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Verschleierung funktioniert209 und, so Stählin, »mit seinem eigentlichen Interesse auf eine Fragestellung drängt, die mit Psychologie überhaupt nichts mehr zu tun hat«.210 Eine seriöse Religionspsychologie, so halten Stählin und Koffka deshalb als Richtlinie für das AfRp fest, kann nur in enger Orientierung an der Fachpsychologie und unter der Prämisse, dass systematisch-theologische Interessen nicht berücksichtigt werden, durchgeführt werden. Nur so kann sie dann auf einzelne Fragen beispielsweise der Religionsgeschichte, der Exegese oder nicht zuletzt auch der kirchlichen Praxis befruchtend wirken.211 Dass eine solche Trennung der psychologischen Religionsforschung von systematisch-theologischen Fragen allerdings leichter gefordert als eingehalten ist, zeigt sich bei Stählin selbst, der mit seinem Interesse an der Religionspsychologie durchaus auch eine spezifische religionsbegriffliche  – und damit systematisch-theologische  – Positionierung verbindet. Denn Stählin geht von einem Religionsverständnis aus, in dem die individuelle Vielfalt des Glaubenslebens seine dogmatische Normierung nur als sehr eingeschränkt möglich erscheinen lässt.212 Diesen Religionsbegriff versucht Stählin dann auch seinerseits mit psychologischen Mitteln zu befestigen. Er unternimmt eine Analyse religiöser Bewusstseinsformen, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass die auf Normerkenntnis ausgerichtete Systematische Theologie selbst nur eine bestimmte, nämlich intellektualistische Ausprägungsform des religiösen Bewusstseins darstellt. Daneben, so meint Stählin psychologisch feststellen zu können, gibt es eine sehr viel weiter verbreitete Alltagsreligiosität, für die diese Frage gerade nicht zentral ist, sondern in der sie hinter der praktischen und affektiven Seite des Glaubens zurücksteht.213 *** Die Frage einer Nutzung der modernen Psychologie als theologisches Erkenntnismittel ist für die religionspsychologische Auseinandersetzung um 1900 insofern zentral, als darin ein wichtiger Grund für das starke theologische Interesse und die dementsprechende theologische Prägung der Debatte liegt. Die Erkenntniserwartungen, die sich von theologischer Seite an die moderne Psychologie richten, sind dabei zum Teil  sehr weitreichend. So wird etwa er­ wartet, dass sich mithilfe neuer psychologischer Methoden die Religions- und

209 Stählin: Rezension zu Wobbermin: 286–289. 210 Ebd. 292. 211 Stählin/Koffka: Einführung 5–9. 212 Stählin, Wilhelm: Religionspsychologie. In: Bayerische Jahrbücher für protestantische Kultur (1911), 46–49. 213 Ders.: Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. In: Christliche Welt 28 (1914), 698–702, 725–729 und 747–750, hier 725–729 und 747–750.

140  Neue Religionspsychologie als theologisches Erkenntnismittel  Kirchengeschichte neu verstehen lässt, da die Empfindungen, Motive und Intentionen der geschichtlichen Akteure nun in ihrem eigentlichen Sinn zugänglich werden. Die gleiche Erwartung besteht für die Exegese, in der nun die überlieferten Schriften aus psychologischer Sicht neu verständlich und dabei die Autoren hinter diesen Schriften in ihrer Persönlichkeit fassbar werden sollen. Auf protestantischer Seite zeigt sich im Anschluss an den subjektorientierten Ansatz Schleiermachers außerdem das Interesse, ein neuartiges psychologisches Vorgehen in direkter Weise auch für die Systematische Theologie produktiv werden zu lassen oder dieses sogar zu deren neuem Ausgangspunkt zu machen. Religionspsychologie wird hier als neue Möglichkeit der Einsichtnahme in die eigentliche Glaubenswirklichkeit im religiösen Subjekt wahrgenommen, die für eine primär glaubensorientierte Theologie somit von grundsätzlicher Relevanz erscheinen muss. Über die Erkenntniserwartungen hinaus werden mit der modernen Psychologie außerdem Erwartungen einer methodologischen Erneuerung und einer – damit zu erlangenden – neuen Erkenntnissicherheit der Theologie verbunden. Dabei wird von einem Wissenschaftlichkeitsdefizit und einer dementsprechenden Ergebniskrise der Theologie ausgegangen, bedingt durch ihr Festhalten an einer veralteten, philosophisch und historisch orientierten Methodik. Die Psychologie gilt demgegenüber als eine Zugangsweise, die durch ihre Orientierung am Paradigma der neuen, empirisch basierten und methodisch strengen Forschungswissenschaft auch der Theologie eine entsprechende Ausrichtung vermitteln kann. Kritisiert werden die theologischen Erwartungen einer neuen Erkenntnistiefe und Erkenntnissicherheit im Anschluss an die moderne Psychologie in erster Linie in der Theologie selbst und dabei in ähnlicher Weise wie schon in der Funktionalismus- bzw. Substantialismusfrage. Es gibt von theologischer Seite zum einen Vorbehalte hinsichtlich des Überbietungsanspruchs der neuen psychologischen Methodik gegenüber den etablierten Vorgehensweisen. Zum anderen taucht auch hier wieder der grundsätzliche Vorbehalt gegen die Erfassbarkeit von Religion durch profane Wissenschaft auf. Darüber hinaus findet sich schließlich auch die Kritik, dass das theologische und das psychologische Erkenntnisverfahren strukturell unvereinbar sind, sich also nicht gleichgewichtig vermitteln lassen. In den Verbindungsversuchen muss sich früher oder später, so die Kritik, eine der beiden Herangehensweisen als strukturbestimmend durchsetzen und die andere damit in ihrer Eigenart aufheben. Es muss also entweder zu einer Psychologisierung der Theologie oder einer Theologisierung der Psychologie kommen. Diese Kritik wird letztendlich durch den Debattenverlauf bestätigt, in dem sich die entsprechenden Tendenzen tatsächlich immer deutlicher abzeichnen. Der Lösungsvorschlag, der am Ende der Debatte im Programm des Archivs für Religionspsychologie formuliert wird, besteht darin, Religionspsychologie

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als hypothesenbildende Erforschung begrenzter empirischer Fragestellungen zu betreiben und systematisch-theologische Interessen komplett aus ihr auszuschließen. Bereits vom Initiator des AfRp Stählin wird diese Forderung allerdings nicht eingehalten, da er selbst psychologisch für einen bestimmten, nämlich dezidiert praxisorientierten Religionsbegriff argumentiert.

5. Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie In den bis hierhin betrachteten Aspekten der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 ging es jeweils um die Nutzung der modernen Psychologie als neuartiges Erkenntnismittel gegenüber Religion. Es ging um eine Steigerung oder gar eine völlig neue Grundlegung des Wissens um die Funktionen, Inhalte und – je nach Sichtweise – Wahrheiten, die mit Religion und Glauben verbunden sind. Von diesen Erkenntniserwartungen ausgehend findet sich in der Auseinandersetzung zugleich auch eine starke religionspraktische Komponente. Diese wird von Psychologen und Theologen gleichermaßen vertreten. Es wird vor allem eine Nutzung psychologischer Techniken zur neuen Praxisgestaltung von Religion angestrebt, von vielen Akteuren aber zugleich auch eine neue Betonung der religiösen Praxis vor dem Hintergrund ihres psychologisch erkannten Nutzens.

5.1 Psychologische Nutzungs- und Interventionsbestrebungen Von der modernen Psychologie gehen um 1900 nicht nur neue Erklärungsansprüche gegenüber Religion aus. Es entsteht auch ein ausgeprägter Diskurs über den praktischen psychologischen Umgang mit Religion, in dem diese einerseits als eine psychische oder psychisch-kulturelle Ressource und andererseits als ein entsprechendes Problemfeld in den Blick genommen wird. Die Betrachtung von Religion als einer psychischen Ressource geht in der Regel direkt mit der Anlage der jeweiligen psychologischen Funktionserklärungen von Religion einher und wird mit diesen Erklärungen zusammen festgehalten. Beispiele hierfür sind etwa Wilhelm Wundt, der Religion in ihrer kulturell höher entwickelten Form als Befestigungspunkt der Sittlichkeit im Sinne Kants auffasst,1 Hermann Ebbinghaus, der sie als ein notwendiges Mittel zur Bewältigung der existentiellen Ängste im »Erhaltungskampf«2 des Menschen ansieht,3 oder Willy Hellpach, für den sie zur Erhaltung der Konsistenz 1 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 751–753. 2 Ebbinghaus: Abriss 168. 3 Ebd. 162 f.

144  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie des menschlichen Bewusstseins dient, indem sie den »irrationalen Überschuss«4 der Bewusstseins­tätigkeit auffängt. Paradigmatisch für diese Sichtweise von Religion als psychischer Ressource ist vor allem William James. In seinen »Varieties of Religious Experience« geht er von der funktionalen Annahme aus, wonach Religion einen Mechanismus darstellt, der das im Menschen angelegte Gefühl existentieller Hilflosigkeit und Mangelhaftigkeit kompensiert.5 Diese Erklärung lässt James nicht einfach als solche stehen, sondern er entwickelt aus ihr ein engagiertes Plädoyer für den persönlichen Nutzen von Religion und in diesem Sinne für ihre Unverzichtbarkeit als psychische Ressource der persönlichen Lebensbewältigung. Der religiöse Mechanismus ist für ihn in der beschriebenen Funktionserbringung einzigartig und auf diese Weise, so James, »an absolute addition to the subject’s range of life«.6 Zwar bewegt sich seiner Meinung nach eine ethisch orientierte Lebensführung in eine ähnliche Richtung wie die religiöse, sie erreicht aber nicht das gleiche Resultat, da sie von der ständigen Willensanspannung des Indi­v iduums, seiner »athletic attitude«7 in geistiger Hinsicht, abhängt, womit sie ihrerseits zur Belastung wird und das Auftreten der existentiellen Machtund Hilflosigkeitsgefühle gerade nicht zuverlässig auffangen kann. So erweist sich Religion für James als die bessere Alternative. »If it be the only agency that can accomplish this result«, so formuliert er, »its vital importance as a human faculty stands vindicated beyond dispute. It becomes an essential organ of our life, performing a function, which no other portion of our nature can so successfully fulfill«.8 In der deutschen Psychologie findet sich eine ähnliche Sichtweise beispielsweise bei Johannes Bresler, dem Initiator und Mitherausgeber der Zeitschrift für Religionspsychologie. Bei Bresler impliziert schon seine grundlegende Funktionserklärung von Religion ihre unbedingte Notwendigkeit. Denn wenn Religion, wie er annimmt, zur Konsistenzgewährleistung des Bewusstseins besteht, indem sie dessen Inhalt zu einem festen Horizont abschließt, an den sich »der schwindelnde Blick unseres geistigen Auges heften kann«,9 dann ist sie per definitionem unverzichtbar. Darüber hinaus schreibt Bresler ihr auch eine Reihe weiterer positiver psychischer Wirkungen zu: So spendet sie Trost in schwierigen Lebenslagen, trägt zum allgemeinen seelischen Wohlbefinden und zur Erlangung von »Glückseligkeit«10 bei, beugt als Faktor der psychischen Sta-

4 Hellpach: Nervenleben 69. 5 James: Varieties 47–52 und 507–508. 6 Ebd. 48. 7 Ebd. 46. 8 Ebd. 52. 9 Bresler: Religionshygiene 28. 10 Ebd. 14.

Psychologische Nutzungs- und Interventionsbestrebungen  145

bilität geistigen Krankheiten vor und kann überdies im Falle geistiger und körperlicher Erkrankungen auch einen wichtigen heilenden Faktor darstellen.11 Insbesondere in schweren Krankheits- und Schicksalsfällen ist sie Breslers Meinung nach eine wichtige Stütze, da sie »durch Ergebung die schwersten Situationen mit Gleichmut tragen lässt«.12 Dieser besondere Nutzen wird für ihn unter anderem daran deutlich, dass sich oft beobachten lässt, wie gerade in solchen Fällen nicht nur Zuflucht bei der Religion gesucht wird, sondern es auch zu spontanen religiösen Vorstellungsbildungen kommt.13 Im Hinblick auf ihren psychischen Nutzen sollte deshalb für Bresler ebenso wie für James grundsätzlich an Religion festgehalten werden. »Denn die irdischen Lebensbedingungen sind so harte« konstatiert Bresler, »dass wir nicht hoffen können, die Waffen der kleinen und großen Daseinskämpfe aus der Hand zu legen.«14 In dem von­ Bresler mitverfassten Programm der Zeitschrift für Religionspsychologie findet sich in dieser Hinsicht sogar die Perspektive einer zukünftigen engen Verknüpfung von religiöser und ärztlich-psychotherapeutischer Praxis, der zufolge zukünftige Seelsorger weniger theologisch, sondern stärker als neuartige »TheoMediziner« ausgebildet werden sollten.15 Ein ähnlicher Ansatz, der allerdings insofern noch weiter geht, als er Religion klar dem therapeutischen Verwendungsinteresse unterordnet, findet sich bei Jaroslaw Marcinowski, der eine dezidierte ärztlich-therapeutische Nutzungsperspektive gegenüber Religion anstrebt. Marcinowski möchte eine neuartige »Weltanschauungs-Therapie«16 etablieren, die vor allem bei zwei Krankheitsbildern zum Einsatz kommen soll: Erstens, so argumentiert er, gibt es oft Krankheitsverläufe, denen ärztlich nicht mehr abzuhelfen ist. Es kann in diesen Fällen seiner Erfahrung nach nur noch darum gehen, das subjektive »Darunterleiden«17 zu mindern. Um dieses Ziel zu erreichen, kann seiner Meinung nach Religion wertvolle Dienste leisten. Zweitens gibt es für ihn auch das neue Krankheitsbild der »ideell Gestrandeten«,18 bei denen die Weltanschauungsfrage selbst zur Ursache seelischen Leidens wird, indem sie »in dem Kampf um eine Weltanschauung, um einen festen Grund für ihre sittliche Persönlichkeit zu Boden sanken«.19 Oft gehören solche Menschen nach Marcinowskis Schil 11 Ebd. 15–20. 12 Ebd. 20. 13 Ebd. 28. 14 Ebd. 11. 15 Bresler/Vorbrodt: Zur Einführung 3. 16 Marcinowski, Jaroslaw: Über Weltanschauung als Heilfaktor. In: Die Christliche Welt 22 (1908), 434–438, hier 436. 17 Ebd. 434. 18 Marcinowski, Jaroslaw: Nervosität und Weltanschauung. Studien zur seelischen Behandlung Nervöser. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage, Berlin 1910, 133. 19 Ebd.

146  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie derung zu einer bestimmten Art von »nervösen Patienten«, die, ohne sich selbst darüber klar zu sein, durch ihren modernen Hang zum Skeptizismus und Materialismus ihre positive Lebenshaltung und Gefühlsfähigkeit verloren haben.20 Ihnen kann seiner Meinung nach durch die »Weltanschauungs-Therapie« auch ursächlich geholfen werden, indem sie zu einer religiös-idealistischen Weltsicht zurückgeführt werden. Allerdings stellen sie dann eine ganz besondere ärztliche Herausforderung dar, weil eine, nur mit geschicktem Vorgehen zu bewerkstelligende »organische«21 Entwicklung eingeleitet werden muss, in der die religiösidealistische Weltsicht wieder von selbst im Bewusstsein der Patienten entsteht. Der Priester dagegen, der es mit direkten Verkündigungen versucht, wird hier nicht erfolgreich sein. Er kann nur, so Marcinowski, »umsonst und tauben Ohren predigen.«22 Mit der Perspektive auf Religion als psychischer Ressource verbinden sich zum Teil stark ausgeprägte psychologische Aktualisierungs- und Rationalisierungsansprüche ihr gegenüber. So steht etwa für Wilhelm Wundt fest, dass sich die Religion sowohl in ihren Inhalten als auch in ihrem Selbstverständnis der allgemeinen Wissensentwicklung anpassen muss, wenn sie ihre psychische Funktionalität weiter aufrechterhalten möchte. Es müssen seiner Meinung nach alle Inhalte aus ihr ausgeschlossen werden, die der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten. Darüber hinaus sollte sie ein kritisches Selbstverständnis im Sinne ihres eigentlichen Charakters als symbolische Kulturpraxis des Sittlichen entwickeln und damit auch ihre tatsächliche »psychologische Entwicklungsgeschichte«23 anerkennen.24 Wundt meint, dass dies für sie selbst am Ende einen Gewinn darstellt, da sie auf diese Weise an »allgemein menschlicher Bedeutung«25 ungleich mehr für sich festhalten kann, als wenn sie weiterhin versucht, sich auf unglaubwürdige Weise als außerhalb der allgemeinen Kulturentwicklung stehende übernatürliche Instanz auszugeben.26 Wie Wundt fordert auch Johannes Bresler eine inhaltliche Aktualisierung und Rationalisierung von Religion, um ihre Funktionalität weiterhin zu erhalten. Dies beinhaltet auch für Bresler eine vorbehaltlose Anerkennung der modernen Wissenschaftsergebnisse. Von der Wissenschaft bewiesene Tatsachen, so Bresler, dürfen in der Religion nicht mehr länger hinter »uralte, uns fremd gewordene Auffassungen«27 zurückgestellt werden. Aus seiner Sicht muss von 20 Ebd. 21 Marcinowski: Weltanschauung als Heilfaktor 436. 22 Ebd. 23 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 758. 24 Ebd. 755–766. 25 Ebd. VIII. 26 Ebd. 27 Bresler: Religionshygiene 50.

Psychologische Nutzungs- und Interventionsbestrebungen  147

der modernen Wissenschaft her eine Restauration der »Einheit von Wissen und Glauben«28 erreicht werden, deren Trennung ein unnatürliches und schädliches Nebenprodukt des kulturellen Differenzierungsprozesses darstellt. Wird dies nicht unternommen, dann drohen für ihn aus psychologischer Sicht zunehmende geistig-seelische Schädigungen im Zusammenhang mit dem religiösen Bewusstseinsmechanismus.29 Denn die Widersprüche zwischen Glauben und Wissen können seiner Meinung nach nicht auf Dauer kompensiert werden, sie müssen zur »inneren Zerrissenheit«,30 zu einer »allgemeinen Unsicherheit des Seelenlebens«31 führen. Damit würden sie dann dem eigentlichen Zweck des religiösen Mechanismus zuwiderlaufen, der für Bresler ja gerade darin besteht, den Konsistenzabschluss des Bewusstseins sicherzustellen. Zur Umsetzung dieser Forderungen entwickelt Bresler das Konzept einer psychologisch-psychiatrisch angeleiteten »Religionshygiene«,32 die darüber hi­ naus auch noch die religiöse Praxis rationalisieren soll. An diese wissenschaftliche »Religionshygiene« muss sich seiner Meinung nach in Zukunft die Frage richten, ob das, was in der Religion gelehrt wird und die Art wie es gelehrt wird, dem Funktionszweck der Religion entspricht. »Unter welchen Bedingungen«, so lautet für Bresler die zu stellende Frage, »muss sich Form und Inhalt der Religion ändern, damit sie ihrem Zwecke recht dient?«33 Ähnlich der körperlichen und allgemeinen geistigen Hygiene, muss es seiner Ansicht nach in Zukunft auch darum gehen, gegenüber der Religion »ihre Betätigung und Pflege vom seelisch-hygienischen Standpunkt zu prüfen«.34 Die Religion, so meint er, muss »unter ärztlich-psychologischen Auspizien neu erstehen und gepflegt werden«.35 In diesem Zusammenhang fordert Bresler auch eine Universitätsreform als Strukturmaßnahme, in der die bisherigen theologischen Fakultäten durch staatlich kontrollierte religionswissenschaftliche Institute ersetzt werden sollen. Zukünftige Pfarrer sollen dann seiner Meinung nach nur noch in kirchlichen Seminaren ausgebildet werden, für deren Besuch allerdings der vorherige Abschluss des staatlichen religionswissenschaftlichen Studiums die Voraussetzung bilden soll.36 Ein Umsetzungsbeispiel für einen derartigen Ansatz der von Seiten der Psychologie aus angeleiteten Modernisierung religiöser Inhalte stellt die in der Zeitschrift für Religionspsychologie veröffentlichte Arbeit zur »Psychologie der 28 Ebd. 51. 29 Ebd. 27–29. 30 Ebd. 51. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 9. 34 Ebd. 48. 35 Ebd. 12. 36 Bresler: Religionswissenschaftliche Fakultäten 201.

148  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie Heiligkeit«37 von Friedrich Mörchen dar. Mörchen unternimmt eine psychologisch-psychiatrische Evaluierung des Phänomens religiöser Heiligkeitsvorstellungen nach dem Maßstab der »Vernünftigkeit, Zweckmäßigkeit und dem sozialen Nutzeffekt«.38 Für die von ihm untersuchten Beispiele christlicher Heiliger fällt Mörchens Urteil weitgehend negativ aus. Er identifiziert in den Heiligenbiographien vor allem Extremfälle individueller Religiosität, für die er in der Summe festhält, dass »viele hysterische und schwachsinnige Individuen mit religiös-expansiver Betätigung zu Heiligen kreiert wurden«.39 Dies ist für ihn insofern problematisch, als damit das »im Interesse der individuellen und sozialen Hygiene«40 zu fordernde Ideal einer möglichst ausgewogenen individuellen Religiositätsentwicklung konterkariert wird und entsprechend disponierte Personen möglicherweise zur direkten Nachahmung angeregt werden. Zwar bietet das Heiligkeitskonzept für Mörchen auch den Vorzug, damit bestimmte positive Einstellungen, vor allem im karitativen und sittlichen Bereich, unterstützen zu können. Dies lässt sich seiner Meinung nach jedoch ebenso gut durch die F ­ örderung eines allgemeinen »ethischen und sozialen Idealismus«41 erreichen.42 Die Forderung einer psychologischen Rationalisierung von Religion, wie sie Wundt, Bresler und Mörchen vertreten, ist zwar bestimmend für die Sichtweise der Psychologen um 1900, sie wird aber von einigen Fachvertretern auch problematisiert. Ein Beispiel hierfür ist Heinrich Maier, der aus psychologischer Sicht ein Dilemma zwischen der an sich notwendigen Rationalisierung und dem Funktionserhalt des religiösen Bewusstseinsmechanismus sieht. Auf der einen Seite ist für ihn die Umwandlung der ursprünglichen religiösen Phantasievorstellungen in zunehmend abstrakter gefasste religionsphilosophische Begrifflichkeiten unbedingt notwendig, um den Anschluss zur immer weiter fortschreitenden Wissensentwicklung nicht zu verlieren. Nur im Anschluss an die allgemeine Wissensentwicklung können die religiösen Vorstellungen seiner Meinung nach weiterhin dem »kognitiven Interesse«43 der Menschen vermittelt werden. Andererseits greift für ihn die dann notwendige philosophische Abstraktion der religiösen Vorstellungen zugleich ihre Funktionalität als psychischer Mechanismus der Angstbewältigung an. Denn diese Funktionalität, so Maier, ist an den affektiven Gehalt der ursprünglichen Vorstellungsbildungen gebunden und geht in gleichem Maße verloren wie die Abstraktion voranschreitet. So muss für Maier vom psychologischen Standpunkt letztendlich ein 37 Mörchen: Psychologie der Heiligkeit 393–436. 38 Ebd. 424. 39 Ebd. 423–427, das Zitat auf 426 f. 40 Ebd. 436. 41 Ebd. 433 f. 42 Ebd. 433–436. 43 Maier: Psychologie des emotionalen Denkens 546.

Psychologische Nutzungs- und Interventionsbestrebungen  149

Funktionsdilemma der Religion konstatiert werden: Die zur Erhaltung von Religion unausweichliche Rationalisierung im Einklang mit der allgemeinen Wissensentwicklung führt zugleich zum Verlust an ursprünglicher Effektivität des religiösen Mechanismus.44 Neben diesen Nutzungs- und Modernisierungsperspektiven wird Religion von Psychologen und Psychiatern um 1900 zweitens auch als ein psychisch-­ kulturelles Problemfeld betrachtet, woraus entsprechende psychologische Interventionsbestrebungen abgeleitet werden. So veröffentlicht etwa Willy Hellpach in der Zeitschrift für Religionspsychologie mehrere Artikel, in denen er sich mit krankhaften Ausbildungen individueller Religiosität beschäftigt sowie mit den Möglichkeiten, ärztlich dagegen vorzugehen. Eine bestimmte Form religiöser »Wahnbildung« wird von ihm beispielsweise auf krankhafte Veränderungen der Schilddrüse zurückgeführt. Hellpach stellt dies anhand einer Fallanalyse dar, in der er detailliert den Krankheitsverlauf nachzeichnet und neben der Schilddrüsenerkrankung als organischem Auslöser auch die begünstigende individuelle Dispositionen und im Hintergrund wirksame Milieufaktoren herausarbeitet.45 In einem anderen Artikel versucht er sich an einer »Formenkunde der Beziehungen zwischen Religiosität und Abnormität«.46 Hellpach stellt dort eine Heuristik mit entsprechenden Diagnose- und Behandlungshinweisen für die psychotherapeutische Arbeit im Bereich von religiös induzierten oder ausgeformten Geisteskrankheiten zusammen. Er grenzt dabei sechs seiner Ansicht nach besonders häufige Krankheitsbilder voneinander ab und beschreibt diese im Detail, nämlich »1. Sinnestäuschungen religiösen Inhalts; 2.  religiöse Wahnbildung; 3.  krankhafte Frömmelei; 4. Religiosität, krankhaft nach Art oder Maß; 5. Frömmigkeit aus geistiger Schwäche; 6.  Religiositätseinbuße durch seelische Krankheit«.47 Seiner Meinung nach ist eine solche Heuristik, zu deren weiterer Diskussion er anregen möchte, nicht nur für die therapeutische Praxis bedeutsam, sondern eröffnet auch der Kulturwissenschaft insgesamt eine bedeutende neue Perspektive.48 Hellpach stellt vor dem Hintergrund einer problemzentrierten Sicht auf Religion außerdem die Möglichkeit ihrer weltanschaulichen Substitution in Aussicht, da seiner Meinung nach Religion und der von ihr bediente Bedarfszusammenhang nicht alternativlos verkoppelt sind. Anstelle eines weiteren »Herumprobierens in Religiosis«,49 so meint er, könnten auch die Bemü-

44 Ebd. 545–548. 45 Hellpach: Religiöse Wahnbildung. 46 Ders.: Zur »Formenkunde« der Beziehung zwischen Religiosität und Abnormalität. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 97–110, hier 98. 47 Ebd. 99. 48 Ebd. 109. 49 Hellpach: Nervenleben 80.

150  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie hungen um die Erarbeitung einer neuen idealistischen Weltanschauung als entsprechende Funktionsalternative forciert werden.50 Auch Johannes Bresler sieht es als eine Aufgabe der von ihm konzipierten »Religionshygiene« an, nicht nur die Religion in ihren Lehrinhalten und ihrer Praxis psychologisch zu verbessern, sondern zugleich auch pathologische Erscheinungen des religiösen Lebens zu beobachten und gegen diese vorzugehen. Bresler denkt dabei nicht bloß an individuelle psychische Pathologien in Verbindung mit Religion. Er hat vor allem auch »Religionskrankheiten«51 in sozialpsychologischer Hinsicht im Sinn. Diese definiert er als unkontrolliertes und infektiöses »Emporschießen und Gedeihen verschiedener, vom religiösen wie vom ärztlichen Standpunkt aus sehr bedenklich erscheinender Sekten und Sonderbestrebungen«52 sowie als »Hineinwachsen religiöser Elemente in Lebenssphären, in welche sie der Natur nach nicht hineingehören und in welchen sie […] Störung und Verwicklung erzeugen«.53 Wie die Medizin gelernt hat, mit den großen Epidemien in körperlicher Hinsicht umzugehen, so muss nun seiner Meinung nach die neue psychologisch-psychiatrische »Religionshygiene« lernen, die religiösen Epidemien einzudämmen, bevor sie größeres Unheil anrichten können.54 Komplementär dazu steht für ihn das Phänomen der »Reli­gions­pfuscherei«,55 eine aus seiner Sicht viel zu weit verbreitete Form der Scharlatanerie, bei der religiöse Praktiken als Heilmittel für organische Erkrankungen ausgegeben werden, um damit »Ruhmsucht, Gewinnsucht und das Verlangen nach der Gewalt über die Volksmassen«56 zu befriedigen. Auch hiergegen muss seiner Meinung nach die »Religionshygiene« vorgehen und sich für strengere Gesetze und Beobachtungsmaßnahmen einsetzen, die es bisher, aus einem vermeintlichen »Schutz des religiösen Empfindens«57 heraus, noch nicht in der erforderlichen Weise gibt. Ein Umsetzungsbeispiel für diese beiden Interventionsaufgaben der »Religi­ onshygiene«, also für die Bekämpfung von »Religionspfuscherei« und »Religionskrankheiten«, findet sich ebenfalls in der Zeitschrift für Religionspsychologie, in mehreren Artikeln, die eine religiöse Erweckungsbewegung in Nordhessen um 1907 beobachten.58 Der Kasseler Nervenarzt Jansen analysiert diese Bewegung als »religiöse Epidemie« im Breslerschen Sinne,59 mit für ihn 50 Ebd. 51 Bresler: Religionshygiene 14. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 52. 56 Ebd. 53. 57 Ebd. 53. 58 Ohne Autor: Meldungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 230–232, 332 und 472. 59 Jansen: Epidemie 321–337.

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eindeutigen Symptomen geistiger Krankheit wie Zungenreden, ekstatischem Massengebet, Geistestaufen, Gesundbeten sowie Weissagungen und Exorzismen.60 Dabei soll es, so schildert Jansen die Vorgänge, zu Versammlungen von bis zu 1000 Personen gekommen sein, die aufgrund nächtlicher Ruhestörungen von der Polizei aufgelöst werden mussten.61 Jansen beschreibt die Vorgänge in seiner Analyse als psychische »Masseninfektion« bzw. »geistige Epidemie«,62 deren Wirkmechanismen sich am besten mit den Erkenntnissen der Sugges­ tionspsychologie verstehen lassen. Das Ausbreitungsmuster der Epidemie wird dabei seiner Meinung nach durch die Kenntnis individueller Dispositionen sowie damit korrelierender Milieufaktoren verständlich. Als Lehre aus dem beschriebenen Fall diagnostiziert Jansen die Problematik, dass allem Anschein nach für derartige Phänomen nicht mehr nur das ungebildete »niedere Volk« empfänglich ist, sondern, aufgrund der zunehmenden Sterilität der naturwissenschaftlich-materialistischen Weltsicht, auch die vielen »sensitiven und anlehnungsbedürftigen Naturen« des bürgerlichen Milieus.63 In der Gesamtschau lassen sich die Rationalisierungs- und Interventionsansprüche gegenüber Religion, die von den Psychologen und Psychiatern um 1900 formuliert werden, in den übergreifenden Prozess der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«64 einordnen, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt seit der Jahrhundertwende in Deutschland vollzieht. Dieser Prozess ist durch den zunehmenden Anspruch gekennzeichnet, individuelles Verhalten und soziale Strukturen nach rationalen, wissenschaftlich erlangten Einsichten zu gestalten. Dabei treten zunehmend neue humanwissenschaftliche Experten auf, deren Bedarfsdiagnosen und Gestaltungsvorschlägen ein immer höheres Gewicht zugemessen wird. Im Hintergrund dieser Entwicklung stehen der beschleunigte Wissenschaftsausbau und die Fächerdifferenzierung der Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, aus der neue Disziplinen wie die Psychologie und Soziologie und mit ihnen die entsprechenden Felder neuer spezialisierter Expertise hervorgehen. Es steht dabei weiterhin das hohe Wissenschafts- und Rationalitätsvertrauen im Hintergrund, dass für die zweite Hälfte des 19.  und das frühe 20.  Jahrhundert insgesamt kennzeichnend ist. Schließlich ist auch die Wahrnehmung eines gesteigerten Anpassungsbedarfs grundlegend, der sich aus dem Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen im Übergang zur industrialisierten Moderne ergibt. Gerade die Medizin ist in diesem Zusammenhang eine Vorreiterdisziplin, von der früh entsprechende Im 60 Ebd. 321–328. 61 Ohne Autor: Kleine Mitteilungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 232. 62 Jansen: Epidemie 332. 63 Ebd. 336. 64 Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 165–193.

152  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie pulse ausgehen.65 In der religionspsychologischen Auseinandersetzung wird dieser Diskurs nun von der Psychologie und Psychiatrie her auch auf die Religion übertragen. Es geht nun darum, wie es Johannes Bresler ausdrückt, Religion von der Psychologie her zwar einerseits in ihrer Funktionalität anzuerkennen, sie andererseits aber auch »zu prüfen und als maßgebend dafür zu gelten, ob die Art, wie die Religion gelehrt und gepflegt wird, den Anforderungen der Gesundheit, besonders der seelischen, entspricht«.66 Weiterhin lassen sich die psychologischen und psychiatrischen Rationalisierungs- und Interventionsansprüche sowie vor allem das damit verbundene Erneuerungsinteresse an Religion in den Zusammenhang einer kulturellen Krisenwahrnehmung einordnen, die um 1900 Konjunktur hat.67 Bezüglich des Erneuerungsinteresses an Religion besteht diese Wahrnehmung in der Annahme einer allgemeinen Weltanschauungskrise, in deren Zusammenhang Religion nun mit psychologischer Unterstützung als kulturelle Ressource reaktiviert werden soll. So beklagt etwa Johannes Bresler, dass dem Menschen in der, so Bresler, »rapiden Umgestaltung des Weltbildes in den letzten 100 Jahren«68 seine geistige Orientierung abhandengekommen ist. »Vor ihm«, so führt Bresler aus, »liegt als einziges Beständige in der Erscheinungen Flucht, mahnend, drohend, der Wechsel, die Vergänglichkeit der Dinge«.69 Die neu effektivierte Nutzung der Religion, die Bresler mit seiner »Religionshygiene« erreichen möchte, soll auch dazu dienen, dieser Problemlage entgegenzuwirken, indem der abhanden gekommene, geistige und kulturelle »Ruhepunkt«70 wiederhergestellt wird. Eine ähnliche Intention liegt der von Jaroslaw Marcinowski beabsichtigen »Weltanschauungstherapie«71 zugrunde, die ebenfalls  – schon dem Namen nach – eine Reaktion auf den aus der modernen Weltsicht hervorgehenden Orientierungsverlust des geistigen Lebens darstellen soll.72 65 Ebd. 167–176; Hübinger, Gangolf: Wissenschaften, Zeitdiagnosen und politisches Ordnungsdenken. Zur Einführung. In: Ders. (Hg.): Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne, München 2014, 1–28, hier 8 f.; Etzemüller, Thomas: Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze. In: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne, Bielefeld 2009, 11–40, hier 20–31. Als Literaturüberblick: Raphael, Lutz: Embedding the Human and Social Sciences in Western Society, 1880–1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research. In: Brückweh, Kerstin (Hg.): Engineering Society, Basingstoke u. a. 2012, 41–59. 66 Bresler: Religionshygiene 30. 67 Drehsen, Volker/Sparn, Walter: Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist. In: Dies. (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, 11–30. 68 Bresler: Religionshygiene 13. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Marcinowski: Weltanschauung als Heilfaktor 436. 72 Ebd.

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Willy Hellpach sieht in diesem Zusammenhang sogar einen »nervösen Kollaps«73 des modernen Geisteslebens bevorstehen. Seiner Meinung nach kann das Geistesleben von der Religion mit ihren bisherigen veralteten Inhalten nicht mehr angemessen reguliert werden. Ebenso wenig kann es aber in dem »neuen Glauben«,74 das heißt dem modernen Materialismus und Rationalismus, Halt finden. Denn dieser geht für ihn insofern fehl, als er den von Hellpach als Religionsursache angenommenen »irrationalen Überschuss« des menschlichen Geisteslebens bekämpft, anstatt ihn integrativ zu bearbeiten.75 Hellpach ist allerdings, anders als Bresler und Marcinowski, skeptisch, ob in diesem Zusammenhang tatsächlich eine Erneuerung von Religion oder nicht doch ihre Ablösung durch einen neu zu gestaltenden »skeptischen Idealismus«76 den Ausweg bietet. Neben der Wahrnehmung einer allgemeinen Krise der modernen Geisteskultur, zu der die psychologisch erneuerte Religion ein Gegenmittel bieten soll, besteht weiterhin auch die Wahrnehmung einer besonderen und akuten Krisen­ situation speziell im religiösen Bereich. Die religiöse »Epidemie«, die in der ZfRp beobachtet wird, und die »Religionskrankheiten«, vor denen Bresler warnt, werden nicht als Einzelerscheinungen gesehen, sondern gelten als Bestandteil eines breiteren Trends. Sie werden in den Zusammenhang neuer Erweckungsbewegungen eingeordnet, die um 1900 im deutschen Protestantismus expandieren.77 Vor diesem Hintergrund wird eine weitere Ausdehnung derartiger Erscheinungen und damit ein entsprechend um sich greifender Rationalitätsverlust der Religion für plausibel gehalten, sofern nicht die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden. So spricht etwa Jansen in seiner Untersuchung der Kasseler Erweckungsvorgänge die deutliche Warnung aus, dass sich in Zukunft ähnliche »religiöse Epidemien« schnell auch zur »Pandemie« ausweiten könnten.78 Er fordert deshalb für zukünftige Fälle ein Präventivkonzept, nämlich ein frühzeitig abgestimmtes Vorgehen von Seelsorgern und Seelenärzten, das auf »rückhaltlose Aufklärung des Volkes und die frühzeitige Entfernung des Infektionsherdes« ausgerichtet werden soll.79 Dass dabei auf die Verantwortung der Kirchen nicht zu zählen ist, haben seiner Meinung nach die Kasseler Ereignisse deutlich gezeigt. Diese wurden, seinem Bericht zufolge, von der örtlichen Geistlichkeit eher gefördert und von der Landeskirche nur abwartend beobachtet.80 73 Hellpach: Nervenleben 47. 74 Ebd. 63. 75 Ebd. 63–69. 76 Ebd. 80. 77 Ribbat, Christoph: Religiöse Erregung. Protestantische Schwärmer im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1996. 78 Jansen: Epidemie 332–337, Zitat 336. 79 Ebd. 337. 80 Ebd. 328 f.

154  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie Auch für Johannes Bresler stellt seine »Religionshygiene« in diesem Zusammenhang nicht einfach nur einen mittelfristigen Verbesserungsvorschlag der Religion dar. Vielmehr sieht er sie zugleich als akute Notmaßnahme angesichts einer tiefen Strukturkrise der bestehenden »Religionspflege«, die in den Symptomen von »Religionskrankheiten« und »Religionspfuscherei« bloß ihren Ausdruck findet. Diese Strukturkrise erklärt sich für ihn als Überforderung der Religion mit den durch die moderne Kulturdynamik gestellten Adaptionsherausforderungen. Dafür ist seiner Meinung nach wiederum die Distanz der Religion zur modernen Wissenschaft die Ursache.81 Dass sich die so eng mit der Seelengesundheit verbundene Religion der psychologischen Expertise zu entziehen versucht, ist für ihn vor diesem Hintergrund nicht akzeptabel und letztendlich nur durch ihre dogmatische Haltung und eine von Machtinteressen geleitete »selbstherrliche Monopolisierung der Weltanschauung«82 erklärbar. In der Theologie wird der psychologisch-psychiatrische Diskurs des Praxisumgangs mit Religion nur am Rande kommentiert. Dies erklärt sich daraus, dass die Frage einerseits hinter den breit geführten Grundlagendebatten um den psychologischen Funktionalismus und die Psychologieverwendung in der Theologie zurücksteht sowie andererseits hinter einem in der Theologie selbst stark vertretenen Praxisdiskurs.83 Sofern sich dennoch entsprechende Kom­ mentare finden, beziehen sich diese vor allem auf die im Umfeld der Zeitschrift für Religionspsychologie veröffentlichten Beiträge der Autoren mit ärztlichem oder psychiatrischem Hintergrund. Thematisiert wird dabei einerseits die Fachkompetenz der Verfasser in Bezug auf Religion sowie andererseits ihre spezifische, von Berufswegen her pathologisierend geprägte Perspektive. So meint etwa Emil Mayer, dass den entsprechenden Arbeiten ihr fachfremder Hintergrund in Bezug auf Religion oft anzusehen ist. »Der theologisch oder philosophisch geschulte Leser«, so schreibt er, »wird sich durch die eine oder andere nur seufzend hindurchringen.«84 Für ihn zeigt sich außerdem die bedenkliche Tendenz, dass die Betrachtungen insgesamt zu sehr an pathologischen Verirrungen und Sonderformen des religiösen Lebens ausgerichtet werden. Angesichts der »Kasseler Vorgänge«85 erscheint ihm ein solcher Zugang zwar einerseits notwendig und berechtigt, dieser darf aber für ihn andererseits nicht über Einzelfälle hinausgreifen und muss immer auch in Beziehung zum normalen – das heißt für ihn zum gesunden – religiösen Leben gesehen werden. »Wo nicht eine fortwährende Kompensation erfolgt durch gleich intensives Studium des religiösen Lebens in der gesunden Psyche«, so hält Mayer fest, »da sind al 81 Bresler: Religionshygiene 10–13. 82 Ebd. 37. 83 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt 5.2. 84 Mayer: Über Religionspsychologie 1908 307. 85 Ebd. 324.

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lerhand Irrungen und Wirrungen unvermeidlich.«86 Für Constantin Gutberlet ebenso wie für Alfred Eckert hat sich die in der Zeitschrift für Religionspsychologie vertretene Richtung aufgrund ihrer dortigen inkompetenten und einseitigen Beiträge sogar vollkommen diskreditiert. Gutberlet beurteilt sie schlichtweg als »destruktiv«.87 Eckert urteilt, dass sich die Zeitschrift »unter ihrer medizinischen Leitung durch Aufnahme minderwertiger Zusammenschriften einzelner Ärzte solche Blöße gegeben [hat], dass sie als wissenschaftliches Organ nur noch vereinzelt in Betracht kommt.«88 Auch Otto Ritschl kritisiert in einer Rezension die ZfRp dahingehend, dass sich in ihr tendenziöse und methodisch fragwürdige »Kuckuckseier«89 unter den zum Teil  auch interessanten Beiträgen finden. Er ist allerdings im Gesamturteil milder gestimmt, da er es für zumindest anerkennenswert hält, »wie sich manche der Nerven- und Irrenärzte bemüht haben, der Religion auch direkt eine positive Bedeutung und positiven Wert abzugewinnen!«90

5.2 Praktisch-theologische Nutzungsinteressen Parallel zum praktischen Interesse der Psychologen und Psychiater an Religion entwickelt sich um 1900 auch in den Theologien ein ausgeprägtes praxisbezogenes Interesse an der modernen Psychologie. In diesem Zusammenhang erscheint die moderne Psychologie in ihrer Anwendungsdimension attraktiv, also nicht so sehr als Hilfsmittel zur Klärung des Wesens der Religion, sondern als alltagsrelevantes Werkzeug, mit dem sich, so die Hoffnung, vielfältige Verbesserungen in der Bewältigung der Pfarramtsaufgaben erreichen lassen. Umfassende Bestandsaufahmen einer derartigen praktisch-theologischen Nut­ zungsperspektive moderner Psychologie stellen um 1910 Friedrich Niebergall und Rudolf Wielandt zusammen. Niebergall geht davon aus, dass die moderne Psychologie sowohl für die pfarramtliche Leitung der Gemeinde als auch für die Seelsorge am Einzelnen zu einer großen Bereicherung führen wird, da sie ein besseres Verständnis der individuellen Frömmigkeitsformen und der damit verbundenen religiösen Eigenarten und Bedürfnisse der einzelnen Gläubigen ermöglicht. Seine Erwartung ist, dass sich mithilfe der modernen Psychologie eine differenzierte Typenlehre erarbeiten lässt, die das Spektrum individuell variierender Religiositäten ausmessen und in ihrem Verhältnis zu den allgemeinen psychischen Eigenschaften 86 Ebd. 87 Gutberlet: Religionspsychologie 149. 88 Eckert: Religionspsychologie 903. 89 Ritschl: Rezension 523. 90 Ebd. 522.

156  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie erkunden soll. Als Aspekte stehen ihm dabei Differenzierungen beispielsweise nach Geschlecht und Altersstufe, nach verschiedenen Begabungs-, Gemütsund Wahrnehmungstypen, nach bestimmten individuellen Charaktermerkmalen sowie nach möglichen psychischen Defekten vor Augen. Der mit diesen Kenntnissen ausgerüstete Pfarrer besitzt dann Niebergalls Meinung nach ein sehr viel besseres Wissen darüber, wie er im individuellen Fall die seelsorgerliche Ansprache führen muss, um erwünschte Entwicklungen zu fördern oder unerwünschte Hemmnisse zu beseitigen.91 »Es handelt sich in diesem Teil der Religionspsychologie«, so führt Niebergall aus, »um gewisse Vorgänge, die einzuleiten, zu beobachten und zu leiten sind. Ich denke an solche entscheidenden Erlebnisse und Aufgaben wie etwa Bekehrung, Erweckung des Glaubens, Wiedergeburt, und vor allem die Erbauung.«92 Wie für die Seelsorge und Gemeindeleitung verspricht sich Niebergall auch für die kirchliche Vermittlungsarbeit, insbesondere im Gottesdienst und Unterricht, einen hohen Ertrag von der Anknüpfung an die moderne Psychologie. So erwartet er für die Liturgik psychologische Untersuchungen über die erbauliche Wirkung einzelner Liturgieelemente und schlägt vor, die Liturgie insgesamt als zeremonielles Kunstwerk zu betrachten und sie in diesem Sinne unter die Gesichtspunkte einer wissenschaftlichen Kunstpsychologie zu stellen. In der Predigtlehre soll die moderne Psychologie zum einen dabei helfen, eine subtilere und dadurch effektivere Art der Ansprache zu entwickeln als bisher.93 »Also Glaube, Bekehrung, Wiedergeburt, Erlösung, Trost und Mut«, so führt er aus, »– das alles sollen wir herbeizuführen lehren, auch ohne die Worte selbst zu gebrauchen.«94 Zum anderen soll sie zu einer Aktualisierung und dadurch zu einer neuen Wirksamkeit der Predigtsprache führen, die für Niebergall unbedingt der »Kulturhöhe einer Zeit«95 entsprechen muss. Durch psychologische Untersuchungen zur Funktionsweise sprachlicher Bilder soll diese Anforderung nun besser erfüllt und der Sinngehalt der biblischen Sprachbilder besser verstanden und neu umgesetzt werden können.96 »Die Hauptfrage«, so ­Niebergall, »lautet dann also so: Ich will Eindrücke christlicher Art auf Menschen machen, die in der heutigen Kulturumgebung stehen; welche Ausrücke muss ich dazu wählen?«97 Gleiches gilt für ihn auch für den Religionsunterricht, in dem seiner Meinung nach alles davon abhängt, die richtigen, auf die Gefühls- und Gedankenwelt der verschiedenen Altersstufen zugeschnittenen Ausdrücke und Bil-

91 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 423–437. 92 Ebd. 436. 93 Ebd. 468–470. 94 Ebd. 470. 95 Ebd. 459. 96 Ebd. 457–459. 97 Ebd.

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der zu finden.98 Auch außerhalb von Gottesdienst und Unterricht erwartet sich Nieber­gall eine verbesserte religiöse Kommunikation auf Grundlage der modernen Psychologie: Er fordert, die Arbeit an einer »religiösen Massenpsychologie«99 aufzunehmen, die sich der Entwicklungsgesetze religiöser Stimmungen und Vorstellungen in großen Gruppen bis hin zu ganzen Gesellschaften annimmt. Insbesondere eine Psychologie des Massenmediums Presse sowie der als »stumme Prediger«100 wirkenden Sakralbauten hält er in diesem Zusammenhang für aussichtsreich, um, so Niebergall, »Stimmungswerte zu schaffen, die wie Luft überall hindringen und bestimmen helfen«.101 Schließlich hält Niebergall die moderne Psychologie auch für ein wichtiges Reflexionsmittel für den Pfarrer selbst, das diesem hilft, sich in seiner Persönlichkeit und persönlichen Religiosität zu entwickeln. Er sieht die Pfarrer in dieser Hinsicht in einer besonderen Verantwortung, da sie über ihre jeweils individuelle Art der Ansprache tiefgreifende Wirkungen auf einzelne Gläubige und die Gemeinde als Ganze ausüben. Die moderne Psychologie soll in dieser Hinsicht einerseits als Mittel der persönlichen Entwicklung, andererseits aber auch zur Überwindungen persönlicher Krisen genutzt werden, »wenn man«, wie­ Niebergall formuliert, »matt ist in seinem religiösen Leben und in seiner Lust zu wirken«.102 Rudolf Wielandt schließt sich den von Niebergall aufgezeigten Perspektiven ausdrücklich an. Auch für ihn stellt die moderne Psychologie eine Bereicherung in sämtlichen Feldern der praktischen Theologie dar, da sie eine differenziertere Auffassung individueller Frömmigkeiten und dadurch eine bessere Ansprache als bisher möglich macht. Wie schon Niebergall nennt auch Wielandt als aussichtsreiche Anwendungsfelder Seelsorge, Predigt, Unterricht und Gottesdienst. Er ergänzt außerdem noch den Bereich der Mission, für den seiner Meinung nach durch kulturpsychologische Untersuchungen ganz neue Grundlagen gelegt werden können.103 Ergänzend zu Niebergall führt Wielandt aus, dass in der Erarbeitung der religionspsychologischen Typenlehre neben der individualpsychologischen auch eine sozialpsychologische Perspektive Berücksichtigung finden sollte, da, wie er meint, gerade die Prägung durch Beruf und Milieu einen entscheidenden Faktor in der Differenzierung von Religiosität darstellt.104 Die verschiedenen Berufe und Stände, so schreibt er, »sie alle haben zumeist ihre besondere geistige

98 Ebd. 465–467. 99 Ebd. 472. 100 Ebd. 101 Ebd. 473. 102 Ebd. 462. 103 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 30–35. 104 Ebd. 30–32.

158  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie Struktur und so auch ihren besonderen typischen religiös-sittlichen Habitus. Welch eine Basis für eine erfolgreiche Seelsorge, wenn man mit solchen psychologischen Vorkenntnissen ausgerüstet in das Amt hinaustritt anstatt sie sich erst ganz mühsam erwerben zu müssen.«105 Neben der von Niebergall und Wielandt eingenommenen Überblicksperspektive konzentrieren sich andere Autoren besonders auf einzelne Aspekte der Psychologieanwendung in der Praktischen Theologie. So setzt sich etwa Friedrich Rittelmeyer, der sich insgesamt die »allerbedeutsamsten Anregungen«106 von der modernen Psychologie für die religiöse Praxis erhofft, besonders ausführlich mit deren Nutzungsperspektive für die Predigt auseinander. Rittelmeyer ist der Ansicht, dass die bisherige Predigt vor allem unter einem weit verbreiteten übertriebenen Intellektualismus leidet, also unter einem zwar oft hohen inhaltlichen Niveau, das aber aufgrund des Unvermögens der meisten Prediger, die Gefühle der Zuhörer anzusprechen, keine Wirksamkeit zeigt. »Wenn ich ehrlich sein will«, so schreibt er, »muss ich gestehen, dass ich seit Jahrzehnten selten aus einer Predigt anders hinweggehe als mit einem physischen Unwohlsein. Warum? Der Inhalt war oft recht gut, aber der Prediger hatte meine arme Seele, ohne es zu wissen und zu wollen, psychologisch auf eine Folter nach der anderen gespannt.«107 Seiner Meinung nach steht durch die moderne Psychologie nun eine Möglichkeit zur Verfügung, dieses Problem anzugehen. Bereits durch das Studium ihrer Grundlagenforschungen lässt sich für ihn ein neues psychologisches »Feingefühl«108 erwerben und in der Predigtgestaltung umsetzen. Wenn man, so erläutert er, etwa die Unterschiede zwischen einem reflektierenden und einem intuitiven oder zwischen einem visualisierenden und einem auditiven Zuhörertypus kennt, dann können diese durch eine entsprechende Ausdruckswahl auch jeweils spezifisch angesprochen werden. Weiterhin müssen seiner Meinung nach aber auch gezielte psychologische Forschungen zur Predigt angestellt werden. Für wünschenswert hält er unter anderem psychologische Studien über Aufmerksamkeitsgesetze, über die Funktionsweise bildlicher Sprache oder über die gezielte Erzeugung von Assoziationen und Handlungsimpulsen. Rittelmeyer berichtet in diesem Zusammenhang von seiner Teilnahme an einem Arbeitskreis unter Nürnberger Pfarrern, in dem Versuche unternommen wurden, Predigtanalysen auf der Grundlage von bei den Zuhörern ausgegebenen Assoziationsfragebögen zu erstellen und so zu ersten Anhaltspunkten über die Gesetzmäßigkeiten einer psychologisch wirksamen Predigtgestaltung zu gelangen.109 »Wir haben die überraschendsten 105 Ebd. 31. 106 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 148. 107 Ebd. 147. 108 Ebd. 148. 109 Ebd. 146–149.

Praktisch-theologische Nutzungsinteressen  159

Blicke getan in ganz neue Länder, die zu erobern sind«, so sein Resümee, »und haben das Gefühle gehabt, dass wir ›Besserungstechniker‹, […], noch ganz unmögliche Stümper sind.«110 Mit der religionspädagogischen Nutzung der modernen Psychologie beschäftigt sich der katholischer Theologe Johannes Lindworsky intensiv. Für Lindworsky stellt sich die moderne Psychologie gerade in der religiösen Pädagogik als besonders aussichtsreiches Hilfsmittel dar, weil sie, wie er meint, ganz besondere Herausforderungen stellt, die zwar zum Teil auch intuitiv, mit psychologischer Hilfe aber sehr viel sicherer bewältigt werden können. Aus seiner Sicht sind gerade in religiösen Fragen bei Kindern vielfältige Eigenarten und zugleich oft eine besondere Unzugänglichkeit des Charakters zu beobachten, wie es sie bei Erwachsenen in dieser Ausprägung nicht mehr gibt. »Sehr oft ist es in einem Pensionat allein der Beichtvater«, so Lindworsky, »der den Schlüssel zu dem innersten, wohlbehüteten Gemach der Kindesseele in Händen hat und darum aber auch das ganze Tun und Treiben des Kindes anders versteht als alle Lehrer und Präfekten.«111 Die moderne Psychologie verspricht für ihn in dieser Hinsicht nun einen äquivalenten Zugang, da sie durch ihre systematisch vergleichende Herangehensweise »manche bis jetzt unzugängliche Schlupfwinkel des Kindesherzens«112 erschließt. Weiterhin stellt sie für ihn eine neue Hilfe für das grundlegende Differenzierungsproblem der Pädagogik – das heißt für die Abgrenzung, Beurteilung und jeweils spezifische Ansprache der unterschiedlichen Entwicklungsstufen  – in Aussicht. Sie ermöglicht neue Einblicke, so schreibt er, »in das Keimen und Wachsen, in die günstigsten Bedingungen und Hindernisse, in Stillstand und Entartung der Religion nach ihrer natürlichen Seite hin«.113 Damit kann seiner Meinung nach, als Voraussetzung für die religiöse Erziehung, ein neues Verständnis davon erlangt werden, welche Ausdrücke und Motive für die unterschiedlichen Altersstufen »zugkräftig«114 sind. Nicht zuletzt kann für Lindworsky mit der modernen Psychologie eine wissenschaftliche Vergewisserung über die besondere Wirksamkeit der katholischen Erziehung erlangt werden, indem sie die besondere Funktion der kirchlichen »Gnadenmittel«115 in diesem Zusammenhang aufzeigt. So wird für ihn beispielsweise die Beichte in einem technischen Sinne in ihrer Bedeutung bestätigt und neu beleuchtet, da sich, wie er meint, die Psychoanalyse in abgewandelter Form ein und derselben Prinzipien bedient.116

110 Ebd. 111 Lindworsky: Religionspsychologie und Pädagogik 23. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd. 28. 115 Ebd. 30. 116 Ebd. 31.

160  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie In methodischer Hinsicht sind nach Lindworskys Dafürhalten ganz unterschiedliche Verfahren denkbar, die ihr Vorbild vor allem in der neuen angewandten und pädagogischen Psychologie finden, wie sie vor allem von Wilhelm Stern und Ernst Meumann vertreten wird. So können etwa Fragebogenuntersuchungen, »Aussageversuche« oder »Erinnerungsexperimente« mit Kindern angestellt werden, wobei Lindworsky allerdings zu bedenken gibt, dass zumeist, aufgrund der kompromittierenden Direktheit dieser Methoden, wohl der »diskrete« freie Aufsatz das am besten geeignete Mittel darstellen dürfte.117 Vor allem in den Dienst der praktischen Apologetik möchte Emil Pfennigsdorf die moderne Psychologie stellen.118 Aus seiner Sicht darf sich eine moderne Apologie im Interesse ihrer praktischen Wirksamkeit nicht mehr nur auf intellektuelle Argumente stützen, sondern sie muss auch, so Pfennigsdorf, »das willensmotorische Moment«119 mit einbeziehen. Hierzu benötigt sie Techniken, die, wie er schreibt, »in das Getriebe des Seelenlebens wirklich eingreifen«120 und die ihr seiner Meinung nach die moderne Psychologie vermitteln kann. »Die wissenschaftliche Apologetik«, so formuliert Pfennigsdorf, »muss praktisch werden. Dazu gebrauchen wir Psychologie, Religionspsychologie«.121 Als entsprechend aus der Psychologie abgeleitete Vorgehensweise empfiehlt er eine gezielt auf das intuitive Wertempfinden der »fühlend-wollenden Persönlichkeit«122 gerichtete Ansprache, da er den Glaubensprozess psychologisch eng mit diesem psychischen »Lebensnerv der Persönlichkeit«123 verbunden sieht. Hierbei kommt dann seiner Meinung nach die psychologische Typenlehre zum Zuge, um so einen auf das jeweilige Gegenüber zugeschnittenen Ansatz wählen zu können. Pfennigsdorf unternimmt einen Versuch in diese Richtung, indem er einen intellektuellen, einen praktischen und einen ästhetischen Typus unterscheidet und für diese Typen jeweils unterschiedliche Strategien der apologetischen Ansprache entwickelt.124 Auch in sozialpsychologischer Hinsicht sieht Pfennigsdorf die Notwendigkeit einer differenzierten Herangehensweise. So kann beispielsweise der Bauer seiner Meinung nach eher über sein enges Verhältnis zur Natur und seinen Traditionalismus angesprochen werden, während dem Arbeiter vor allem die Verankerung von Gerechtigkeitswerten im Evangelium aufzuzeigen ist. Der Akademiker kann dagegen Pfennigsdorfs Ansicht nach am besten erreicht werden, indem ihm die Glaubensfrage als eine persön-

117 Ebd. 26–32. 118 Pfennigsdorf: Religionspsychologie und Apologetik 3 f. 119 Ebd. 48. 120 Ebd. 92. 121 Ebd. 93. 122 Ebd. 52. 123 Ebd. 54. 124 Ebd. 59–65.

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liche »Lebensfrage«125 angesichts der intellektuellen und sinnlichen Überfrachtung des modernen Lebens vermittelt wird.126 Eine spezifische und zugleich besonders ausgeprägte praktische Nutzungsperspektive findet sich schließlich bei Oskar Pfister. Als Anhänger der Psychoanalyse ist Pfister der Überzeugung, dass diese der Seelsorge ganz neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet und ihr damit eine neue, zuvor nicht gekannte Wirksamkeit und Relevanz beschert. Mit der Psychoanalyse steht seiner Meinung nach eine Einsicht in Ursachenzusammenhänge und eine entsprechende ursächliche Behandlungstechnik zur Verfügung, mit der sich zahlreiche komplizierte Seelsorgefälle sicher lösen lassen.127 Dies betrifft für ihn auf der einen Seite die zahlreichen allgemeinen Devianzen, mit denen sich der Seelsorger in sei­ner Tätigkeit immer wieder konfrontiert sieht. Pfister berichtet aus seiner Praxis etwa von »Kleptomanie«, »Tierquälerei und Zerstörungswut«, »Symptomhandlungen«, »verschrobenen Allüren«, »Motiven des Hasses« sowie von verschiedenen Eheproblemen, die sich psychoanalytische für ihn leicht auflösen ließen.128 Auf der anderen Seite betrifft dies die vielfältigen Formen von spezifisch religiöser Devianz, denen die Seelsorge ganz besondere Aufmerksamkeit schenken muss. Hierzu führt Pfister aus seiner Tätigkeit Beispiele wie »Engels- und Teufelsvisionen«, »Gebetszwänge«, »Lachen bei religiöser Ergriffenheit«, »Madonnenkultus«, »obsedierende Bibelsprüche« oder »krankhaften Sabbatismus« an.129 Auch mit unsicheren und irrenden Individuen sieht Pfister auf psychoanalytischer Grundlage einen neuen sicheren Umgang ermöglicht. »Wo man sich früher«, so führt er aus, »mit ärmlichen Erfolgen auf theologische Erörterungen mit Katholiken, religiös abnormen Leuten, introvertierten Mystikern, Pantheisten, vom Vaterkomplex beherrschten Gottesleugnern einließ, da erreicht man heute viel bessere Erfolge mit Hilfe der ins Unbewusste einsteigenden Psychanalyse [sic!]«.130 Der Erfolg der neuen Methode ist seiner Schilderung nach so offensichtlich, dass sie ihm, so Pfister, »eine seelsorgerische Tätigkeit großen Stils eingetragen hat«.131 Stellt ihr Gebrauch in schwierigen Seelsorgefällen für Pfister die zunächst eindrücklichste Anwendungsmöglichkeit der Psychoanalyse für die Praktische Theologie dar, so sieht er sie insgesamt keinesfalls nur darauf beschränkt. Vielmehr lässt sich ihr Potential seiner Meinung nach gerade in der alltäglichen Seelsorge sowie in der religiösen Pädagogik ganz besonders wirkungsvoll ausschöpfen. »Während mir anfangs«, so führt Pfister aus, »die analytisch-seel 125 Ebd. 92. 126 Ebd. 77–92. 127 Pfister: Anwendungen der Psychanalyse 56–59. 128 Ebd. 59–74. 129 Pfister: Psychanalyse und Theologie 381. 130 Ebd. 131 Pfister: Anwendungen der Psychanalyse 81.

162  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie sorgerliche Behandlung kranker Klienten, […], als das wichtigste Geschenk der Psychanalyse [sic!] erschien, so lernte ich allmählich einsehen, dass die Erziehung normaler Individuen durch Freuds Technik eine Bereicherung erfährt, welche der Therapie im engeren Sinne an Bedeutung mindestens ebenbürtig ist.«132 In seinem mehrere hundert Seiten umfassenden Einführungswerk »Die psychanalytische [sic!] Methode«, das sich speziell an Interessenten aus den pädagogischen Berufen richtet, bildet die psychoanalytische Perspektive auf die religiöse Erziehung dementsprechend den Abschluss. Pfister stellt die Psychoanalyse dort als eine einerseits wissenschaftlich bereits weit fortgeschrittene Herangehensweise an die religiöse Erziehung dar, die andererseits frappierende Parallelen zu der schon durch Jesus ausgeübten pädagogischen Technik aufweist und sich so auf ihn als ihren »Kronzeugen«133 berufen kann.134 Wie schon in der Frage der Nutzung von Psychologie als theologisches Erkenntnismittel findet sich auch in der praktisch-theologischen Debatte nicht nur ein Interesse am direkten Anwendungsnutzen der modernen Psychologie, sondern zugleich auch an einer grundlegenden Methodenerneuerung des eigenen Fachs. Auch in der praktisch-theologischen Debatte ist dieses Interesse dabei mit der Wahrnehmung einer akuten Defizitlage der bisherigen Methodik verbunden. Die Praktische Theologie soll also durch den Anschluss an die moderne Psychologie nicht nur um neue Anwendungstechniken bereichert, sondern insgesamt methodisch neu fundiert werden. In diesem Sinne geht es etwa für Friedrich Niebergall ausdrücklich auch darum, der Praktischen Theologie durch den Anschluss an die moderne Psychologie ihren »vollen Wert«135 als wissenschaftliche Disziplin im Rahmen der theologischen Fächer zu sichern. Sie soll nicht mehr nur wie bisher in einer Zusammenstellung von nützlichem Erfahrungswissen aus der Praxis bestehen, sondern zu einer Wissenschaft werden, die dieses Wissen auch systematisch als »notwendige Erkenntnisse«136 begründen und vermitteln kann. »Auf diese Weise«, so formuliert Niebergall, »kommt wirklich das heraus, worum es sich für die Praktische Theologie handelt: eine Erkenntnis rein wissenschaftlicher, rein allgemeiner theoretischer Natur, die aber doch eine sehr starke Wendung nach dem praktischen hin besitzt.«137 Diese Erkenntnis zu erlangen, so Niebergall weiter, ist für die Praktische Theologie unbedingt notwendig, da sie sonst weiterhin wie bisher bloß eine »bessere Technik«138 darstellt. Auch der noch immer verbreiteten Ansicht, dass es in der Praxis ohnehin nicht auf systematische 132 Ebd. 58. 133 Pfister: Die psychanalytische Methode 486. 134 Ebd. 482–490. 135 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 411. 136 Ebd. 137 Ebd. 446. 138 Ebd.

Praktisch-theologische Nutzungsinteressen  163

Anleitung, sondern auf einen intuitiven Zugang ankommt, kann dann seiner Meinung nach besser entgegengewirkt werden. Es mag wohl manchem »gequält« erscheinen, so schreibt er, »wenn auch nur so etwas wie eine Methodik der Pflege des religiösen Lebens geboten wird«.139 Aber diese Haltung ist für ihn zugleich bequem und überheblich und eine fundierte Praxiswissenschaft tatsächlich unverzichtbar. Wem an der Effektivität und Glaubwürdigkeit der praktischen Theologie gelegen ist, dem muss dringend auch an deren systematischer Reflexion gelegen sein und damit, so Niebergalls Forderung, an der letztendlich unausweichlichen »Psychologisierung der Praktischen Theologie«.140 Während Niebergall die Forderung einer methodischen Neufundierung der Praktischen Theologie mithilfe der modernen Psychologie in seine Skizze von Nutzungsperspektiven mit einfließen lässt, ergibt sich diese Forderung bei Paul Drews direkt aus einer Bestandsaufnahme des von ihm ebenfalls diagnostizierten Methodendefizits. In seiner Publikation »Das Problem der Praktischen Theologie« führt Drews detailliert die seiner Meinung nach schwerwiegenden Defizite in der Fundierung des Fachs aus.141 Demnach leidet die bisherige Praktische Theologie unter einem lebensfernen Schematismus, Biblizismus und Historizismus und bringt dadurch oft ein reines »Banausentum«142 in der Praxis hervor. Die Ursache dieser Symptome sieht Drews wie Niebergall darin, dass sie als theologisches Fach wissenschaftlich nicht geklärt ist.143 Soll diese Lage verbessert werden, so muss sie aus seiner Sicht zu einer von der Praxis ausgehenden »Evangelischen Kirchenkunde«144 umgestaltet werden. »Nur wenn sie als wirkliche Wissenschaft an dem theologischen Bildungsziele mitarbeiten kann«, so fordert Drews, »hat sie ihre Daseinsberechtigung erwiesen.«145 Die neue psychologische Herangehensweise, für deren Aufnahme sich Drews auch zuvor schon ausspricht,146 soll für ihn nun dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Anders als für Niebergall soll sie allerdings für Drews nur ein – wenn auch bedeutsames – Mittel unter mehreren sein. Zu einer »Psychologisierung«, wie dies Niebergall fordert, soll es für Drews also nicht kommen.147 Die mit Abstand schärfste Formulierung eines Methodendefizits der Praktischen Theologie sowie von dessen Überwindung mithilfe der Psychologie findet sich schließlich bei Gustav Vorbrodt. Vorbrodt hält die Praktische Theologie 139 Ebd. 473. 140 Ebd. 474. 141 Drews, Paul: Das Problem der praktischen Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Reform des theologischen Studiums, Tübingen 1910. 142 Ebd. 7. 143 Ebd. 6 f. 144 Ebd. 55. 145 Ebd. 16. 146 Ders.: Dogmatik oder religiöse Psychologie? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 8 (1898), 134–151, hier 146–149. 147 Drews: Problem der praktischen Theologie 65–68.

164  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie in ihrer bestehenden Form für eine »blasse Kasuistik«,148 da sie, so sein Vorwurf, auf einer vollkommen unwissenschaftlichen »selbstgedachten, ungeklärten, unbewussten, genieartigen und vorübergehenden Psychologie«149 basiert. Es gelingt ihr, so sein Vorwurf, mit dem bisherigen Ansatz in keiner Weise, »den zukünftigen Seelsorger und Lehrer mit psychologischem Rüstzeug zu versehen«,150 obwohl dies, so Vorbrodt, eine »Lebensfrage der gesamten Kirche«151 ist, ohne deren Bearbeitung die gesamte Praktische Theologie bloß »Stückwerk und Gelegenheitsmache«152 bleiben muss. Behoben werden kann dieses Defizit seiner Meinung nach nicht einfach dadurch, dass von der modernen Psychologie einzelne Techniken übernommen werden, sondern nur, indem die Praktische Theologie von der Psychologie aus grundlegend neu organisiert und ihre einzelnen Bereiche systematisch auf einen »gemeinsamen psychologischen Boden«153 gestellt werden.154 Sie soll, so seine Formulierung, zur »Psychagogik« werden, die sodann, als zweiter Hauptteil der Theologie, neben den zur »Psychographie« zusammengefassten geschichtlichen, exegetischen und systematischen Fragestellungen ihren Platz einnimmt.155 »Wie ganz anders wird die Praktische Theologie aussehen, erfreuen, fördern […]«, so skizziert Vorbrodt deren Perspektive, »wenn wir erst endlich einmal aus allem geschichtlichen, biblischen, moralischen Hinundherreden herausgewachsen sind zu einem umfassenden Grundriss von Psychagogik, der neben geschichtlicher Orientierung und neben theologischer Systematik die Hauptmasse der Praktischen Theologie ausmachen muss.«156 Ebenso wie die von Psychologen und Psychiatern formulierten Nutzungsund Gestaltungskonzepte gegenüber Religion, lässt sich auch das von den Praktischen Theologen an der modernen Psychologie gezeigte Interesse in den umfassenden Kontext der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«157 um die Wende zum 20. Jahrhundert einordnen. Dieser Prozess wird hier allerdings nicht von neuen humanwissenschaftlichen Experten von außen an die Religion herangetragen, sondern er wird aus dem religiösen Feld selbst heraus formuliert: als Aneignungsinteresse von neu verfügbar gewordenen Praxistechniken auf der einen Seite sowie als Interesse an einer insgesamt neuen wissenschaftlichen Fundierung der religiösen Praxis auf der anderen Seite. Die moderne Psychologie wird 148 Vorbrodt: Zur theologischen Religionspsychologie 11. 149 Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus 1907 38. 150 Ders.: Übersetzungs-Vorwort XX . 151 Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus 1907 38. 152 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 473. 153 Ebd. 154 Ebd. 471–474. 155 Ebd. 442. 156 Ebd. 474. 157 Vgl. den vorherigen Abschnitt 5.1.

Praktisch-theologische Nutzungsinteressen  165

hier also einerseits in einem technischen Sinne als angewandte und auch problemlos verwertbare Wissenschaft aufgefasst, mit der sich eine Effektivierung des bisherigen Praxiszugangs sowie dessen Erweiterung um neue Gegenstände und Zugriffsmöglichkeiten erreichen lässt. Andererseits wird sie als Möglichkeit aufgefasst, eine neue konsistente und dem modernen Wissenschaftsverständnis entsprechende Grundlage der Praktischen Theologie herzustellen. Damit steht die moderne Psychologie, wie schon in der apologetischen und systematisch-theologischen Aneignungsfrage, auch in der Praxisfrage im Zusammenhang einer Affirmation der modernen Wissenschaftsentwicklung und einer gleichzeitigen Problematisierung bisheriger Herangehensweisen.158 Speziell für den Kontext der protestantischen Theologie kann das Praxis­ interesse an der modernen Psychologie – vor allem in seiner grundlegenden Variante – schließlich auch als ein Element des fachlichen Profilierungsprozesses angesehen werden, in dem sich die Praktische Theologie um die Jahrhundertwende befindet. Das in diesem Prozess verfolgte Interesse an einer stärkeren fachlichen Eigenständigkeit und unabhängigen Grundlegung spiegelt sich im Umgang mit der modernen Psychologie. Es lässt sich sogar sagen, dass dieses Interesse gerade auch im Verhältnis zur modernen Psychologie mit herausgebildet und im beabsichtigten praktisch-theologischen Methodenanschluss an sie mit durchzusetzen versucht wird.159 Im religionspsychologischen Debattenzusammenhang insgesamt stellt die Frage der praktisch-theologischen Nutzung der modernen Psychologie den am wenigsten umstrittenen Gegenstandsbereich dar. So geht beispielsweise Emil Mayer in einem frühen Überblicksartikel zur Debatte zwar vergleichsweise ausführlich auf die Verwendungsmöglichkeiten der modernen Psychologie für die Systematische Theologie und die Religionsgeschichte ein. Die Praxisfrage lässt sich für ihn jedoch in einer knappen Bemerkung erledigen: »Inwiefern sie des Weiteren für die Praktische Theologie Nutzen abzuwerfen vermag«, so schreibt er, »das darzustellen würde zu Trivialitäten führen.«160 Ähnlich knapp äußern sich im Einleitungsartikel des Archivs für Religionspsychologie auch Stählin und Koffka, denen zur praktisch-theologischen Nutzungsperspektive ebenfalls ein einziger Satz genügt: »Dass zunächst die Praktische Theologie aus einer fortgeschrittenen Religionspsychologie wesentliche Vorteile ziehen würde«, so heißt es dort, »leuchtet ein und braucht als eine allgemein anerkannte Wahrheit nicht bewiesen zu werden.«161 Auch Otto Scheel, der zwar einerseits den Erklärungsversuchen von Religion durch die moderne Psychologie ebenso entschieden ge 158 Vgl. hierzu auch die Kapitel 3.3 und 4.3 dieser Arbeit. 159 Schröer, Henning: Praktische Theologie. In: Krause, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27, Berlin, New York (1997), 190–220, hier 194–205; Drehsen, Volker: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen praktischer Theologie 1988, 497–513. 160 Mayer: Über Religionspsychologie 1908 323. 161 Stählin/Koffka: Einführung 5.

166  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie genübertritt wie einer Aneignung neuer psychologischer ­Methoden durch die Systematische Theologie, sieht andererseits in ihrer rein praktischen Verwendung keine Schwierigkeiten. »Dem Pädagogen und Seelsorger«, so schreibt er, »mag die Erkenntnis der religiösen Psychologie in ihren mannigfachen Gestaltungen wertvolle Dienste leisten«.162

5.3 Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie Über die jeweiligen konkreten Nutzungs- und Gestaltungsinteressen hinaus, die in der religionspsychologischen Debatte thematisiert werden, finden sich schließlich auf beiden Seiten – also sowohl in der Psychologie als auch in den Theologien – noch weitergehende Erwartungen, die sich auf eine prinzipielle religiöse Erneuerung durch die moderne Psychologie beziehen. Dabei geht es zunächst um eine neue Freisetzung der unmittelbaren Lebenswirklichkeit von Religion mithilfe der modernen Psychologie. Dies soll erreicht werden, indem mit psychologischer Hilfe die als mangelhaft diagnostizierte Praxis- bzw. Lebensanbindung überwunden wird, unter der die bisherige Theologie und somit auch die von ihr vorgenommene Normierung des religiösen Lebens leidet. So möchten etwa Rittelmeyer, Wielandt und Niebergall mithilfe der modernen Psychologie jeweils ein neues Verhältnis von Systematischer und Praktischer Theologie in Kraft setzen und darin das eigentliche religiöse Leben wieder stärker zur Geltung bringen. Rittelmeyer formuliert die Hoffnung, dass sich durch die Einbeziehung der modernen Psychologie der »Wirklichkeitssinn unserer Theologen gewaltig stärken«163 und sich »ein neues engeres Verhältnis zwischen theologischer Theorie und Praxis«164 ergeben wird. Für ihn steht damit insbesondere die Überwindung des »einseitigen Intellektualismus«165 in Aussicht, der sich mit dem etablierten Betrieb der systematischen Theologie verbindet. Damit soll dann der Zugang dazu, worum es für ihn in der Religion eigentlich geht, nämlich zu einem unmittelbaren »Erleben und Schaffen religiöser Wirklichkeiten«166 wieder neu ermöglicht werden. In ähnlicher Weise fasst auch Wielandt die moderne Psychologie unter der Perspektive eines mit ihr verfügbar gewordenen neuen Zugangs zum wirklichen religiösen Leben auf: Sie liefert für ihn den »psychologischen Schlüssel«167 zum religiösen Innenleben, er 162 Scheel: Zeitschrift für Religionspsychologie 307. 163 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 150. 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Wielandt: Programm der Religionspsychologie 6.

Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie  167

laubt neue Einblicke »in das innerste religiöse Empfinden, Denken, Wollen«168 und lässt »in ganzes, volles Menschentum«169 blicken. Dieses neue psychologische Greifbarmachen des religiösen Lebens muss sich für Wielandt zwangsläufig in die systematisch-theologische Normbildung umsetzen, die für ihn nur in dem Maße legitim ist, wie sie sich im religiösen Leben gründet. Damit wird die moderne Psychologie, so skizziert er, »uns freier machen gegenüber dem Schema; wir werden anders akzentuieren; wir werden mehr es wagen, unseren eigenen religiösen Besitz in begriffliche Formen zu gießen und veraltete Formen ruhiger aufzugeben«.170 Die Rolle der Praktischen Theologen wird damit für ihn aufgewertet, denn sie stehen aus seiner Sicht dem religiösen Leben am nächsten und sind damit seine »gegebenen wissenschaftlichen Bearbeiter«.171 Niebergall setzt die Absicht, mithilfe der modernen Psychologie das Verhältnis von Theorie und Praxis der Religion neu zu gewichten, sogar in das Konzept eines eigenen Verfahrens zur Richtlinienbestimmung für die praktischtheologische Tätigkeit um, durch das sich diese aus der bisherigen normativen Abhängigkeit zur Systematischen Theologie herauslösen soll. Dies soll möglich werden, indem das Glaubensleben herausragender Persönlichkeiten der Religionsgeschichte psychologisch erschlossen wird, sodass sich daraus ein Ideal ergibt, welches der praktisch-theologischen Arbeit als Leitlinie dienen soll.172 »So erst machen wir vollen Ernst mit dem alten Satz«, so bekräftigt Niebergall seinen Vorschlag, »dass es nicht auf die Lehre, sondern auf das Leben, nicht auf die Schrift, sondern auf die Persönlichkeit ankommt.«173 Auch die radikalen Ansätze einer psychologischen Neufundierung der Systematischen Theologie, wie sie sich auf je eigene Weise bei Gustav Vorbrodt und Oskar Pfister finden, stehen dort nicht nur im Kontext einer Kritik an der Unwissenschaftlichkeit der bisherigen systematisch-theologischen Methoden, sondern ebenso an deren Praxis- bzw. Lebensferne. Die Theologie, so fordern auch Vorbrodt und Pfister vehement, muss vom tatsächlichen religiösen Leben her erneuert werden, was nun mit der modernen Psychologie als neu verfügbar gewordener und mit Abstand bestmöglicher Hilfestellung in Angriff genommen werden kann. Aus Vorbrodts Sicht, für den sich im religiösen Leben die Umsetzung einer ursprünglichen, immateriellen Lebenskraft vollzieht,174 ergibt sich diese Forderung einerseits daraus, dass er die bisherigen theologischen Reflexionsmittel 168 Ebd. 20. 169 Ebd. 21. 170 Ebd. 27. 171 Ebd. 1. 172 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 412. 173 Ebd. 456. 174 Vorbrodt: Beiträge zur religiösen Psychologie 5–26; Ders.: Stellung der Religionspsychologie 445–449.

168  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie für schlichtweg ungeeignet hält, das eigentliche religiöse Leben angemessen zu erfassen. Sie verfügen seiner Meinung nach nicht über das Potential, wirklich zum religiösen Leben durchzudringen, wie es mit der modernen Psychologie nun in Aussicht steht. Dadurch sind sie für ihn aber eher schädlich als hilfreich, weil sie in ihrem Betrieb nur dazu führen, dass sich die theologischen Lehrsysteme immer mehr »versteifen und versteinern«175 und dem religiösen Leben immer weniger gerecht werden.176 Dazu kommt für ihn außerdem noch das Problem eines in der bisherigen »anempirischen«177 Anlage der Systematischen Theologie verankerten Autoritarismus, der eher von außen über das religiöse Leben verfügt, als es in seiner tatsächlichen Entwicklung aufzunehmen und zu reflektieren.178 Mit der modernen Psychologie, auf deren Grundlage die Systematische Theologie nach Vorbrodts Dafürhalten in eine »Lebenslehre«179 der Religion umgewidmet werden soll, können nun seiner Meinung nach beide Probleme behoben werden, indem durch sie endlich, so Vorbrodt, die »Psychik-­ Tatsachengruppe der Gemeinde und nicht eine individuelle oder pseudo-überindividuelle Glaubenserkenntnis oder -wahrheit«180 zur Geltung gebracht wird. In den »Aussagewerten«, die die moderne Psychologie zutage fördert, wird dann schließlich, so meint er, »ein menschheitlicher Fortschritt des Protestantismus liegen, der sich leider genug ausgeschwiegen hat unter dem Druck der Predigtund Fürstenkirche«.181 Dass die psychologische Neufassung der Theologie im Sinne ihrer Neufundierung aus der Praxis heraus dringend notwendig ist, zeigt sich für ihn in den Krisensymptomen der »in Spiritismus, Selbst- oder Unwissenheit u. dgl. zerfahren Zeit«,182 die aus seiner Sicht eindeutig auf die »Gärung einer neuen Kirchenbildung«183 hindeuten. »Die mannigfaltig nuancierte ›Gemeinschaftsbewegung‹«, so hält er fest, »deren Theologie, so unklar und schief sie auch sei, auf psychologische Vertiefung und Fundamentierung hinausläuft, duldet nicht länger, dass wir in den wichtigsten Religionsfragen nur auf der Peripherie der Religionsgeschichte und Erkenntnistheorie (Logik) herumirren.«184 Für Oskar Pfister ist ebenfalls die Lebensferne der bisherigen Theologie ein zentraler Kritikpunkt, den er ihr neben ihrer Unwissenschaftlichkeit vorhält. Ebenso wie Vorbrodt ist er der Ansicht, dass der Theologie aufgrund ihrer mangelhaften, bloß scholastischen und historischen Methodik der Zugang 175 Ders.: Religionspsychologie und Dogmatik 309. 176 Ebd. 308–310; Vorbrodt: Religionspsychologie als Methode und Objekt 61–64; Ders.: Übersetzungs-Vorwort XII–XIV. 177 Ders.: Biblische Religionspsychologie 15. 178 Ebd.; Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort XIV. 179 Ders.: Biblische Religionspsychologie 18. 180 Ders.: Religionspsychologie als Methode und Objekt 64. 181 Ders.: Unser religionspsychologischer Kursus 1907 41. 182 Ders.: Stellung der Religionspsychologie 447. 183 Ebd. 458. 184 Vorbrodt: Übersetzungs-Vorwort XIV.

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zum tatsächlichen religiösen Leben fehlt und dass sie diesen zumeist auch nicht sucht, sondern sich vor allem in den Dienst des kirchlichen Autoritätserhalts stellt.185 Mit der Psychoanalyse meint Pfister, nicht nur ein Mittel zur Erneuerung der Seelsorge und religiösen Pädagogik gefunden zu haben, sondern auch ein Mittel, das es ermöglicht, die Theologie insgesamt neu von der Praxis her zu begründen, nämlich als »Glaubenswissenschaft«,186 die, so Pfister, »bei der Beobachtung des lebendigen Menschen«187 einsetzt. Bei Pfister erhält dieses Anliegen – im Unterschied zu den anderen Praktischen Theologen, die es in ähnlicher Weise formulieren  – durch den psychoanalytischen Hintergrund eine spezifische Ausrichtung: Für ihn ist die Geltendmachung des tatsächlichen religiösen Lebens, sowohl in Seelsorge als auch in der Glaubenslehre, weitgehend gleichbedeutend mit der Aufdeckung und Überwindung von neurotischen Religionsformen. Diese sind für ihn nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kollektives Phänomen, das die Religionsgeschichte in weiten Teilen prägt, so etwa in Form der jüdischen Gesetzesreligion, im Gesamtphänomen des Katholizismus oder in der protestantischen Orthodoxie.188 Diese kollektiven »religiösen Zwangsneurosen«,189 werden nun für Pfister mithilfe der Psychoanalyse aufgebrochen. Zugleich wird für ihn durch die Psychoanalyse auch das Gegenmodell einer nicht-neurotischen christlichen Glaubenspraxis sichtbar, die­ Pfisters Auffassung zufolge nicht nur religiöse Lehre, sondern religiöses Erleben ist, die sich zugleich vor Antiintellektualismus und übermäßiger Rationalisierung hütet, sich als Suchen eigener Lebensideale und zugleich als Sinn für die Lebenspflicht versteht und die sich schließlich ganz auf das spezifisch christliche Ideal der »maximalen Liebesbetätigung«190 besinnt.191 Auf diese Weise, so meint Pfister, kann das Christentum mithilfe der Psychoanalyse zum eigentlichen religiösen Leben zurückfinden, es kann wieder zu einem »Sichausleben im höchsten Sinne des Wortes«192 werden. Auf Seiten der Psychologen und Psychiater findet sich  – in Spannung zu den dort gleichzeitig formulierten rationalen Gestaltungs- und Interventionsansprüchen – ebenfalls die Intention, Religion als unmittelbares religiöses Leben neu zur Geltung zu bringen. Diese Intention formulieren etwa Wilhelm Wundt und insbesondere William James vor dem Hintergrund einer ausgeprägten pluralistischen Religiositätsauffassung.193 Von Hermann Ebbinghaus 185 Pfister: Elend unserer wissenschaftlichen Glaubenslehre 210 f. 186 Ders.: Die Psychanalyse 199. 187 Ebd. 188 Pfister: Die psychanalytische Methode 487 f. 189 Ebd. 487. 190 Ebd. 483. 191 Ebd. 482–490. 192 Ebd. 484. 193 Siehe dazu ausführlich weiter unten.

170  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie wird diese Intention, ähnlich wie auch bei Vorbrodt und Pfister, als Kritik an der Verbindung von Theologie und Herrschaft angebracht.194 Als Betonung einer besonderen Eigendynamik und eigenständigen Potenz des religiösen Lebens findet sich die Absicht, das unmittelbare religiöse Leben als solches neu freizusetzen, außerdem besonders ausgeprägt bei Johannes Bresler: Für ­Bresler ist Religion zwar grundsätzlich als Funktionsmechanismus zum Konsis­tenz­erhalt des Bewusstseins erklärbar,195 allerdings handelt es sich für ihn bei diesem Mechanismus um eine eigenständige, aus sich heraus wirksame Grundkraft des psychischen Lebens. Religion ist in diesem Sinne, wie er in Anknüpfung an den – auch von Vorbrodt favorisierten – Théodore Flournoy formuliert, »ein innerer Prozess des organischen und psychischen Wesens, eine Art spontaner Veränderung oder instinktiven Drängens, das aus den tiefsten Gründen der Individualität kommt«.196 Die in seiner »Religionshygiene« formulierten psychologischen Rationalisierungs- und Interventionsansprüche versteht Bresler deshalb von der Zielsetzung her gerade nicht als neue psychologische Reglementierung des religiösen Lebens, sondern vielmehr als Maßnahmen zu dessen neuer Frei- und Inkraftsetzung: Der von der bisherigen theologischen »Monopolisierung der Weltanschauung«197 gehemmte religiöse Mechanismus soll sich wieder aus seiner eigenen Kraft heraus entwickeln können und damit seine ursprüngliche Wirksamkeit zurückgewinnen.198 »Nicht von dogmatischer Rechthaberei«, so Bresler, »darf die Religionspflege geleitet werden, sondern aus dem natürlichen, ewig frischen Quell des Lebens muss sie neue Kräfte schöpfen.«199 Mit der grundsätzlichen Erwartung einer neuen Freisetzung der religiösen Lebenswirklichkeit durch die moderne Psychologie verbindet sich oft die noch weitergehende Erwartung, dass es sich dabei zugleich auch um eine neue Freisetzung der individuellen Vielfalt des religiösen Lebens handeln soll. Diese soll dadurch zustande kommen, dass im Anschluss an die moderne Psychologie die unangemessene normative Enge aufgebrochen wird, unter der die bisherige Systematische Theologie – wie hier unterstellt wird – als zweitem Defizit neben ihrer mangelhaften Praxisanbindung leidet. Für diese Perspektive ist auf psychologischer Seite insbesondere William James paradigmatisch, der in seinen »Varieties of Religious Experience« mit einer psychologischen Betrachtung von Religion argumentiert, die seiner Meinung nach unvermeidlich die Abkehr von der bisherigen vereinheitlichenden Normierung des religiösen Lebens durch die Systematische Theologie nahelegt, 194 Ebbinghaus: Abriss 162–163 und 168. 195 Bresler: Religionshygiene 27–29. 196 Ebd. 41. 197 Ebd. 37. 198 Ebd. 53–55. 199 Ebd. 14.

Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie  171

sowie die Hinwendung zum Konzept einer normfreien persönlichen Religiosität: Für James zeigt der psychologische Blick auf Religion zunächst, dass diese primär als ein gefühlsmäßiges Erleben zustande kommt und damit intellektuell immer nur sekundär und annäherungsweise erfasst werden kann. Eine allgemeingültige A-priori-Erkenntnis von Religion ist für ihn deshalb von Anfang an ausgeschlossen und wird seiner Meinung nach auch empirisch durch die Vielfältigkeit theologischer und philosophischer Behauptungen widerlegt.200 Dass auch das primäre religiöse Erleben selbst schon einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt unterliegt, zeigt sich für James dann in der Bestandsaufnahme besonderer religiöser Erlebnisformen, die im Zentrum seines Werkes steht. Durch seine Funktionsbestimmung von Religion als psychischer Ressource der persönlichen Lebensbewältigung wird diese Vielfältigkeit für ihn außerdem zu einem nicht bloß zufälligen, sondern notwendigen Charakteristikum von Religion.201 »The pivot«, so hält James fest, »round which the religious life […] revolves, is the interest of the individual in his private personal destiny. Religion, in short, is a monumental chapter in the history of human egotism.«202 Inhaltlich deutet für ihn zwar der Transzendenzbezug allen religiösen Erlebens durchaus darauf hin, dass hinter diesem auch eine spezifische Facette der Wirklichkeit steht, eine, so James, »unseen region«,203 die über die Religion wahrnehmbar wird. Aber hierüber können seiner Meinung nach keine weiteren Aussagen, sondern nur persönliche Hypothesen getroffen werden. Eine neue Inkraftsetzung des religiösen Lebens, wie James sie anstrebt, kann für ihn deshalb nur auf dem Weg der vorbehaltlosen Anerkennung seines individuellen Charakters zustande kommen.204 »We must frankly recognize the fact«, so seine Forderung, »that we live in partial systems, and that parts are not inter­ changeable in the spiritual life.«205 Auch Wilhelm Wundt, der sich mit seiner »Völkerpsychologie« methodologisch ausdrücklich gegen James abgrenzt, gelangt im Ergebnis zu einer ähnlichen Individualisierungsforderung wie dieser. Die Freistellung des individuellen Glaubenszugangs ist für ihn ebenfalls die einzig mögliche Perspektive, in der sich das religiöse Leben in seiner Wirksamkeit als psychisch-kulturelle Funktion erhalten bzw. weiterhin entwickeln kann. Im Interesse der Religion selbst, aber auch vor dem Hintergrund des allgemeinen Kulturinteresses an ihr, muss für ihn anerkannt werden, dass »nicht Uniformierung, sondern zunehmende Differenzierung der Weg aller religiösen Entwicklung ist«.206 Im Un 200 James: Varieties 430–436. 201 Ebd. 333 f. und 486–488. 202 Ebd. 491. 203 Ebd. 516. 204 Ebd. 512–527. 205 Ebd. 487. 206 Wundt: Völkerpsychologie 1909, 760.

172  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie terschied zu James ergibt sich die Begründung dieser Forderung für Wundt ­a llerdings nicht aus einer Bestandsaufnahme individueller Religiositäten, sondern aus der von der »Völkerpsychologie« zugrunde gelegten Prozessbetrachtung des kulturhistorischen Entwicklungsverlaufs von Religion. Hier zeigt sich für ihn in der Neuzeit ein immer weitergehender religiöser Differenzierungsprozess, der sich als, so Wundt, »notwendiges Ergebnis einerseits der wachsenden Mannigfaltigkeit der Kulturgüter, andererseits der zunehmenden Individualisierung der menschlichen Persönlichkeit«207 darstellt. Weitere Plausibilität gewinnt der religiöse Differenzierungsprozess für ihn als »notwendige Folge des jeder geschichtlichen Entwicklung immanenten Triebes, die in ihr verborgenen Anlagen nach verschiedenen und immer mehr auseinandergehenden Richtungen zu entfalten.«208 In Anbetracht dieser grundlegenden Tendenz zur religiösen Differenzierung erscheinen für Wundt sowohl die vereinheitlichende kirchliche Dogmatik als auch die philosophisch orientierte Hoffnung, in einer zukünftigen »Vernunftreligion«209 alle Glaubensunterschiede aufheben zu können, als wirklichkeitsfremd. Institutionell aufrechterhalten beziehungsweise neu in Kraft setzen lässt sich die Religion für ihn vor diesem Hintergrund nur, indem eine bekenntnisfreie Kirche angestrebt wird, die sich nur noch über die symbolischen Aspekte ihres Kultus definiert. Nur eine solche Kirche kann sich für ihn auch weiterhin entwicklungsfähig halten, da nur der symbolische Religionszugang, im Gegensatz zum Zugang über Bekenntnissätze, in der Lage ist, die Vielfalt und beständige Dynamik der individuellen Glaubenszugänge zu integrieren.210 Auf theologischer Seite richten sich die mit der modernen Psychologie verbundenen Erneuerungserwartungen des religiösen Lebens ebenfalls nicht nur auf eine neue Freisetzung der Lebenswirklichkeit von Religion an sich, sondern auch auf die Freisetzung der darin gesehenen individuellen Vielfalt. So ist es etwa für Friedrich Niebergall auf der einen Seite zwar unzweifelhaft, dass in der christlichen Religion immer das »geistig-persönliche, sittliche Wesen«211 im Zentrum stehen muss, das sich am »Geist von Jesus Christus«212 als höchstem Wert des Christentums bemisst. Auf der anderen Seite muss aber für ihn vor dem Hintergrund der modernen Religionspsychologie sehr viel klarer als bisher von Beurteilungen und Beeinflussungsversuchen des persönlichen Glaubenszugangs Abstand genommen werden. Die Kenntnisnahme der neuen religionspsychologischen Forschungen muss zwangsläufig dazu führen, »auch in einer fremden Form«, so Niebergall, »den gleichen religiösen Gehalt 207 Ebd. 755. 208 Ebd. 56. 209 Ebd. 755. 210 Ebd. 761–766. 211 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 448. 212 Ebd. 452.

Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie  173

heraus­zu­f inden«.213 Da die moderne Religionspsychologie seiner Auffassung nach außerdem bestätigt, dass sich der Glaube zwar seelsorgerisch anregen und begleiten, dabei aber keineswegs erzwingen lässt,214 kann es aus Niebergalls Sicht sowohl in der Praktischen als auch in der Systematischen Theologie nur noch darum gehen, ein »persönliches Christentum«215 zu fördern, das darin bestehen soll, »dass sich ein jeder selbst in christlichem Sinn und Geist erfasst und zwar in seiner eigenen Art«.216 Noch entschiedener als bei Niebergall kommt die Erwartung einer neuen Individualisierung des religiösen Lebens mithilfe der modernen Psychologie bei Friedrich Rittelmeyer zum Ausdruck. Für Rittelmeyer geht mit dem Aufschwung der modernen Psychologie ein grundlegender Bewusstseinswandel einher, in dem die frühere Ansicht einer »Massengebundenheit der Seele«217 immer mehr in eine »persönlichere Erfassung des gesamten Lebens«218 übergeht. Damit muss für ihn aber auch in der Theologie ein Umdenken einsetzen, das nicht nur dazu führen muss, die unmittelbare religiöse Lebenswirklichkeit als solche stärker zu gewichten, sondern diese auch ganz auf eine Verwirklichung der je individuellen Formen des Glaubenszugangs hin auszurichten. Das bisherige Paradigma der »Massenbekenntnisse«219 und der »Normaldogmatiken«220 kann für Rittelmeyer angesichts des von der Psychologie beförderten Bewusstseinswandel nicht mehr länger Bestand haben. »›Dogmatik‹«, so hält er fest, »kann nur noch geschrieben werden in dem Sinn, dass hervorragende einzelne Geister bekennen und begründen, was vom Weltgeheimnis, vom Welthintergrund in ihrer Seele Aufnahme gefunden hat.«221 Auch Wilhelm Stählin bezieht in der Frage der Individualisierung des religiösen Lebens eine eindeutige Position. Für ihn erscheint die moderne Psychologie theologisch betrachtet vor allem deshalb attraktiv, weil sie es seiner Ansicht nach gegenüber der in dieser Hinsicht wenig ergiebigen Systematischen Theologie ermöglicht, die Religion neu in ihrer Lebenswirklichkeit kennenzulernen, so wie sie »in den Herzen der Menschen ist«.222 Dies impliziert für ihn unbedingt auch eine Relativierung bisheriger Theorien über angebliche Normalformen des Glaubenslebens und eine Hinwendung zu dessen individueller Formenvielfalt. »Das Leben«, so formuliert Stählin, »ist nicht immer so, wie es 213 Ebd. 453. 214 Ebd. 451. 215 Ebd. 464. 216 Ebd. 217 Rittelmeyer: Psychologie und Religionswissenschaft 139. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Stählin: Religionspsychologie 49.

174  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie sein müsste! Aber wenn der Biolog [sic!] mit hingebendster Treue sich versenkt in die Bedingungen und Gesetze des niedersten Lebens, verdient nicht noch größere Ehrfurcht die unendliche Fülle des höchsten seelischen Lebens!«223 Gegenüber der Systematischen Theologie ergibt sich für Stählin aus der psychologischen Perspektive nicht einfach nur die Forderung einer stärkeren Berücksichtigung der persönlichen Glaubenszugänge. Sie verliert für ihn auch grundsätzlich einen Großteil ihrer bisherigen normativen Autorität, weil sich psychologisch zeigt, dass sie selbst nur die Ausdrucksform einer ganz bestimmten, nämlich intellektualistischen, Religiosität darstellt. Der von ihr als grundlegend vorausgesetzte und als ihr Zuständigkeitsbereich reklamierte »Wahrheitsanspruch«,224 erweist sich für Stählin in der psychologischen Betrachtung bloß als das spezifische Strukturmerkmal der intellektualistisch bestimmten Religiosität. Aus psychologischer Sicht stehen diesem ebenso gewichtige andere Strukturierungsformen des religiösen Bewusstseins gegenüber  – etwa in der Mystik oder der praktisch orientierten Alltagsreligiosität –, für die das Element eindeutiger religiöser Wahrheit gerade keine besondere Bedeutung hat oder sogar ganz in den Hintergrund tritt.225 »Es ist also ein vollkommener Irrtum zu meinen«, so schreibt Stählin, »dass der Anspruch auf Allgemeingültigkeit zum Wesensbestand der religiösen Überzeugung gehöre. Hier ist Religion und Wissenschaft verwechselt worden!«226 Auf eine spezifische Art ist schließlich auch die von Oskar Pfister verfolgte psychoanalytische Herangehensweise auf eine neue Freisetzung des individuellen religiösen Lebens hin ausgerichtet: Einerseits soll sie zunächst ebenfalls dazu führen, dass das religiöse Leben in seiner individuellen Vielfältigkeit neu verstanden und anerkannt wird. »Die neue Methode lehrt uns«, so hält Pfister fest, »[…] manche als ungeheuerlich perhorreszierte oder als lächerlich verspottete Form lebendiger Frömmigkeit verstehen, in ihrer Notwendigkeit kausal er­ fassen, in ihrem tieferen Sinn würdigen.«227 Andererseits geht die Psychoanalyse für ihn dann aber noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie von der bloßen Anerkennung der individuell vielfältigen Glaubensformen zur Auflösung der neurotischen Komplexzusammenhänge fortschreitet, denen diese Formen, zum Teil individuell, vor allem aber auch kollektiv, unterliegen. Nicht nur, indem die individuelle Religiosität aus den äußeren Zwängen der schematisch vereinheitlichenden, lebensfernen Dogmatik befreit wird, soll sie also für Pfister neu in Kraft gesetzt werden. Bei ihm geht es aus dem psychoanalytischen Verständnis heraus auch darum, die Religiosität aus den inneren Zwängen zu 223 Ebd. 224 Stählin: Die Wahrheitsfrage 728. 225 Ebd. 725–729 und 747–750. 226 Ebd. 750. 227 Pfister: Die psychanalytische Methode 355.

Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie  175

lösen, denen sie im Rahmen des neurotischen Charakters der bestehenden Kirchenstrukturen unterliegt.228 Die Absichten, mithilfe der modernen Psychologie einen religiösen Erneuerungsprozess einzuleiten  – als Freisetzung einerseits der Lebenswirklichkeit von Religion sowie andererseits der in ihr liegenden individuellen Formenvielfalt  –, können im Kontext der übergreifenden religiösen Umbruchs- und Erneuerungsdiskurse gesehen werden, die vor allem im bildungsbürgerlichen und liberalprotestantischen Milieu um 1900 verbreitet sind. In diesen Diskursen geht es darum, Religion unmittelbarer, dynamischer und damit insgesamt wirkungsvoller zu gestalten, als sie es in ihrer bisherigen Form ist. Es soll ein neues Leben und Erleben von Religion, eine neue Aktivierung ihrer ursprünglichen Vitalität und Potenz herbeigeführt werden. Diese Erneuerungsabsicht wird zum einen als Kritik an den bisherigen Zugängen und Organisationsformen for­muliert, denen vorgeworfen wird, das eigentliche religiöse Leben nicht in der ihm angemessenen Weise zu fördern, sondern sich ihm als restriktives Hemmnis in den Weg zu stellen. Zum anderen wird die Erneuerungsabsicht aus der Wahrnehmung einer neuen Bedarfslage der Zeit heraus formuliert, das heißt eines allgemeinen Kulturwandels, der die Erneuerung des religiösen Lebens auch von seinen Rahmenbedingungen her als immer dringender notwendig erscheinen lässt. Die entsprechenden Erwartungen in der religionspsychologischen Auseinandersetzung sind ein direkter Ausdruck dieses allgemeinen religiösen Erneuerungsdiskurses. Die moderne Psychologie wird in dieser Hinsicht als ein Zugang aufgefasst, der den Erneuerungsforderungen diagnostisch weiteren Nachdruck verleiht und sie auch praktisch in ihrer Umsetzung fördern soll.229 Die religionspsychologische Auseinandersetzung berührt sich in diesem Aspekt mit einer lebensreformerischen, neuidealistischen, teils auch okkultistischen, »vagierenden Religiosität«230 außerhalb der etablierten Kirchen, die um 1900 als Publikationsgenre, in Vereinen und Diskussionszirkeln und nicht zuletzt in neuen religiös-weltanschaulichen Bewegungen wie dem Monistenbund oder der Anthroposophie expandiert.231 In den Erneuerungsprogrammatiken beispielsweise von Vorbrodt, Bresler oder Rittelmeyer werden bekannte Protagonisten dieses Feldes wie Johannes Müller,232 Wilhelm Ostwald233 oder 228 Ders.: Die Psychanalyse 190–200; Ders.: Die psychanalytische Methode 482–490. 229 Der Begriff wurde geprägt von Thomas Nipperdey. Vgl. Nipperdey, Thomas: Religion und Gesellschaft. Deutschland um 1900, München 1988, 19–23. 230 Ders.: Religion im Umbruch 143–153; Graf, Friedrich Wilhelm: Das religiöse Laboratorium der Moderne. In: Hübinger, Gangolf (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen-Diederichs.Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, 243–298. 231 Nipperdey: Religion im Umbruch 143–153; Graf: Das religiöse Laboratorium 243–298. 232 Rittelmeyer: Liebe bei Plato und Paulus 10–11. 233 Bresler: Religionshygiene 29.

176  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie Eduard von Hartmann234 als Stichwortgeber zitiert, um die jeweiligen Defizit- und Bedarfsdiagnosen der religiösen Gegenwartslage zu untermauern, auf die nun mithilfe der psychologisch eingeleiteten religiösen Erneuerung reagiert werden soll. Speziell auf theologischer Seite ist die »vagierende Religiosität« zugleich auch als Problemgegenstand präsent, auf den mit der beabsichtigten Religionserneuerung integrierend eingewirkt werden soll. Nicht nur, weil sie für sich genommen als notwendig erscheint, soll die religiöse Erneuerung in dieser Perspektive eingeleitet werden, sondern auch um der weiteren Erosion der Kirche in Richtung der neuen Glaubensangebote entgegenzutreten. Die »Gemeinschaftsleute, die ›Grünen Blätter‹ des persönlichen Lebens, das ›Suchen der Zeit‹, die Spiritisten, Scientisten, Buddhisten«,235 wie etwa Vorbrodt beispielhaft aufzählt, sollen im angestrebten Erneuerungsprozess der christlichen Religion wieder neu erreicht und von der weiteren Entfernung von der Kirche abgehalten oder möglichst ganz für sie zurückgewonnen werden. Im Bereich der theologischen Kritik, die sich gegen die Anwendung moderner Psychologie auf Religion richtet, zeigt sich bezüglich der geschilderten religiösen Erneuerungserwartungen ein ambivalentes Bild. So finden sich bei einigen Kritikern neuer Religionspsychologie gerade in dieser Hinsicht auffallende parallele Intentionen: Dies ist etwa bei Adolf Frey der Fall, der von der Theologie verlangt, sich stärker dem »Strom der religiösen Erfahrung«236 zu öffnen, um auf der Höhe der religiösen Lebensentwicklung zu bleiben. Seiner Meinung nach muss sie dies aber aus eigener Kraft leisten, da die moderne Psychologie in dieser Hinsicht keine tragfähige Grundlage darstellt.237 Auch Wilhelm Herrmann, der die Psychologieverwendung zu theologischen Zwecken kategorisch ablehnt, steht zugleich den an sie geknüpften religiösen Erneuerungserwartungen besonders nah, da er ebenfalls eine neue, antidogmatische und antiinstitutionelle Hinwendung zur unmittelbaren und nur im subjektiven Erlebnis fassbaren Lebenswirklichkeit der Religion fordert. Einzig in der individuellen »Wahrhaftigkeit des eigenen inneren Lebens«238 kann für ihn tatsächliche Religion zustande kommen. Seiner Ansicht nach muss jede Art von Theologie entschieden abgelehnt werden die, so formuliert Herrmann, »die Menschen in den Gedanken ihres Glaubens zusammenzwingen will, in denen jeder seine eigene Weise haben muss, wenn er religiös lebendig wird«.239 Bei anderen theologischen Kritikern moderner Religionspsychologie sind dagegen gerade die mit ihr verbundenen religiösen Erneuerungserwartungen ein wesentlicher Grund für ihre Ablehnung. Den entsprechenden Programma 234 Vorbrodt: Biblische Religionspsychologie 19 f. 235 Ders.: Zur Religionspsychologie 241. 236 Frey: Untersuchung 85. 237 Ebd. 83–86. 238 Herrmann: Aufgabe der evangelischen Dogmatik 196. 239 Ebd. 352.

Religiöse Erneuerung mithilfe der modernen Psychologie  177

tiken wird dabei vorgeworfen, dass sie geradewegs aus der legitimen kirchengebundenen Religiosität hinausführen oder darauf aus sind, eigene konkurrierende Glaubensangebote zu unterbreiten: So wirft etwa auf protestantischer Seite Otto Scheel in seiner Auseinandersetzung mit Gustav Vorbrodt diesem vor, dass er mithilfe der modernen Psychologie versucht einen »theologisch-­reli­ giösen Neubau«240 zu errichten und dabei die, für Scheel unbedingt einzufordernde, systematisch-theologische Auseinandersetzung illegitim zu unterlaufen.241 In die gleiche Richtung gehen auf katholischer Seite die von Constantin Gutberlet gegenüber der modernen Religionspsychologie und ihren theologischen Befürwortern erhobenen Vorwürfe. Für Gutberlet stellen sich die mit der modernen Psychologie verbundenen religiösen Erneuerungserwartungen als ein Gebiet dar, auf dem sich theologische und außertheologische Pantheisten und Subjektivisten zu verwirklichen versuchen. Diesen scheint es darum zu gehen, so Gutberlet, die »objektive Jenseitsreligion«242 zu negieren und sie mittels der modernen Psychologie ganz der Diesseitigkeit und der Verfügungsgewalt durch das Subjekt einzuverleiben.243 *** Die Bestrebungen einer praktischen Anwendung von moderner Psychologie auf Religion stellen sowohl auf psychologischer als auch auf theologischer Seite eine wichtige Determinante der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 dar. Von psychologischer Seite zeigt sich hier, dass das Interesse an Religion nicht nur theoretischer Art ist, sondern sich auch darin begründet, dass Religion als eine wichtige psychische und psychisch-kulturelle Ressource und zugleich als ein ebensolches und ebenso wichtiges Problemfeld wahrgenommen wird. Ausgehend von dieser Wahrnehmung soll sie auf der einen Seite als Ressource neu nutzbar gemacht werden, indem sie psychologisch aufgegriffen und im Sinne ihrer möglichst effektiven Funktionsentfaltung modernisiert wird. Auf der anderen Seite soll sie als Problemfeld psychologisch bearbeitet werden, indem individual- und sozialpsychologische Pathologien des religiösen Lebens klassifiziert und entsprechende Interventionsmaßnahmen zu deren Behebung entwickelt werden. Die psychologische Praxisperspektive auf Religion beinhaltet also einen sozial- bzw. psychotechnischen Nutzungs-, Gestaltungsund Interventionsanspruch. Dieser findet sich bei einigen Autoren auch parallel in allen drei Aspekten. Befördert wird diese Perspektive vor allem bei den 240 Scheel: Zeitschrift für Religionspsychologie 306. 241 Ebd. 242 Gutberlet: Religionspsychologie 153. 243 Ebd. 152–171.

178  Praxisperspektiven moderner Religionspsychologie deutschen Autoren – und zwar insbesondere bei denjenigen mit einem ärztlichpsychiatrischen Hintergrund  – durch die Wahrnehmung einer Krisenhaftigkeit sowohl der allgemeinen als auch der religiösen Kultur der Moderne. Diese Wahrnehmung lässt den psychologischen Zugriff nicht bloß als Erwägungssache erscheinen, sondern verleiht den Vorschlägen den Nachdruck von dringend gebotenen Kriseninterventionen. Von theologischer Seite ist in ähnlicher Weise das Interesse an Psychologie ebenfalls nicht nur theoretisch und apologetisch, sondern geht wesentlich auch von der religiösen Praxis aus. Es wird zum einen erwartet, die pfarramtliche Tätigkeit, beispielsweise in Seelsorge, Gottesdienst und Unterricht, psychologisch effektivieren zu können. Die Psychologie soll hierzu die entsprechenden Zugriffstechniken zur Verfügung stellen. Zum anderen wird von der Psychologie eine moderne wissenschaftliche Grundlegung der Praktischen Theologie erhofft. Sie soll, wie schon in der Nutzungsperspektive als theologisches Erkenntnismittel, einen Zugang vermitteln, der ein neues, tiefergehendes Verständnis des religiösen Lebens ermöglicht und dieses Verständnis zugleich auf neue Weise methodisch absichert. Dadurch soll eine fachliche Profilierung und Verwissenschaftlichung der Praktischen Theologie gelingen und damit die Überwindung einer fachlichen Krisensituation, die von einigen protestantischen Theologen scharf als sich zuspitzendes Methoden- und Ergebnisdefizit des Fachs herausgestellt wird. Die psychologische und die theologische Praxisperspektive konvergieren schließlich bei einer Reihe von Autoren in der hoch gespannten Erwartung einer Erneuerung beziehungsweise Revitalisierung der Religion, die mit psychologischer Hilfe von der religiösen Praxis aus erreicht werden soll. Die Psychologie soll in dieser Hinsicht ermöglichen, dass das unmittelbare Glaubensleben als primäre Wirklichkeit der Religion wieder neu gewichtet, seine notwendige individuelle Dynamik anerkannt und sein Bedarf an entsprechenden Entfaltungsspielräumen neu verstanden wird. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der rationalisierende und normative Ansatz der Systematischen Theologie gegenüber der Praxis eingeschränkt oder zum Teil  sogar ganz zugunsten einer rein empirischen, pluralistischen Glaubenslehre auf Grundlage der Glaubenspraxis aufgehoben werden soll. Während die psychologischen Gestaltungs- und Interventionsansprüche im Schatten der Funktionalismus- bzw. Substantialismusdebatte nur wenig konkrete Beachtung erfahren und die theologischen Nutzungsinteressen als weitgehend selbstverständlich und unproblematisch gelten, kommt es in Bezug auf die Erneuerungserwartungen zu deutlichen theologischen Abwehrreaktionen. Die Erneuerungserwartungen werden als Angriffe auf das etablierte Disziplinengefüge und als Destabilisierung der Religion gewertet, die, so die hier vertretene Annahme, nach wie vor auf eine sichere und praxisunabhängige Normierungsinstanz des religiösen Lebens angewiesen ist und damit gerade nicht

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auf dessen psychologische Entfesselung und Individualisierung. Zugleich werden jedoch entsprechende Erwartungen von erklärten Gegnern der neuen Religionspsychologie ebenfalls vertreten, so dass hier eine religiöse Suchbewegung sichtbar wird, die nur auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt: auf der einen Seite im Vertrauen auf ein externes dynamisierendes Prinzip, das in der modernen Psychologie gesehen wird, auf der anderen Seite in dessen Ablehnung und der gleichzeitigen Forderung, die als notwendig erachtete religiöse Erneuerung aus der Religion selbst heraus einzuleiten.

6. Schluss: Die Religionspsychologie um 1900 als Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Religion und moderner Geisteskultur Die religionspsychologische Auseinandersetzung um 1900 stellt sich im Überblick als ein ausgesprochen vielfältiges, dynamisches und heterogenes Kapitel der Geschichte von Religion und Wissenschaft in der Moderne dar. Geführt wird sie primär von Vertretern der psychologischen Disziplinen sowie der christlichen Theologien, wobei sie aus beiden Bereichen gleichermaßen starke Impulse erhält. Zwar bezieht sich die Auseinandersetzung in ihrem Kern auf die psychologischen Methodeninnovationen seit dem späten 19. Jahrhundert sowie auf die neuen psychologischen Religionsforschungen, die um 1900 vor allem von der US -Psychologie angeregt werden. Die Mehrzahl ihrer Beiträger und Rezipienten sind allerdings Theologen – vor allem protestantischer Konfession –, die sich in der Auseinandersetzung keinesfalls nur beobachtend zu den psychologischen Entwicklungen verhalten. Sie treten vielmehr von Anfang an mit eigenen Initiativen hervor und nehmen damit entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Debatte. Gerade die institutionelle Entwicklung in Form der beiden religionspsychologischen Zeitschriftenprojekte und der 1914 gegründeten Gesellschaft für Religionspsychologie geht zu großen Teilen auf Akteure aus dem theologischen Bereich zurück. Dabei zeigen sich in der Auseinandersetzung keine eindeutigen Frontstellungen, die sich auf einen Gegensatz von Psychologie und Theologie reduzieren ließen. Zwar sind vor allem in der grundlegenden Frage der Substantialität von Religion die Verhältnisse relativ klar, da hier die meisten Psychologen geschlossene Funktionserklärungen von Religion formulieren, die wiederum von theologischer Seite durchgehend zurückgewiesen werden. Aber schon in der Frage, ob diese Zurückweisung als prinzipielle Abwehr einer psychologischen Beschäftigung mit Religion erreicht werden soll oder gerade dadurch, dass die moderne Psychologie theologisch aufgegriffen wird, gehen die Meinungen auseinander. In den weitergehenden Fragen der Möglichkeiten und Ziele einer Anwendung neuer psychologischer Herangehensweisen auf Religion liegen die Konfliktlinien dann quer zu den beteiligten Fächern. Sowohl von der Psychologie als auch von den Theologien gehen ganz unterschiedliche und unterschiedlich weit gefasste Intentionen aus, Religion auf neue Art und Weise psychologisch zu betrachten und in der Folge auch praktisch neu mit ihr umzugehen. Dabei bringt die Auseinandersetzung in ihrem Verlauf von der theologischen Seite

182  Schluss: Die Religionspsychologie um 1900 her einige echte Grenzgänger hervor: So bleibt Oskar Pfister Zeit seines Lebens Pfarrer, lässt sich aber im Verlauf der religionspsychologischen Auseinandersetzung zum Psychoanalytiker ausbilden und entwickelt in diesem Bereich eine rege, durch die von ihm angeregte Verbindung von Psychoanalyse und Pädagogik auch innovative, Tätigkeit. Wilhelm Stählin, der ebenfalls Pfarrer ist und in seiner späteren Vita sogar Bischof wird, studiert Psychologie und erlangt in diesem Fach mit einer sprachpsychologischen Arbeit auch den Doktorgrad. Der Jesuit Johannes Lindworsky, der sich im katholischen Bereich offen für neue psychologische Ansätze zeigt, wird später zum Psychologieprofessor, zuerst in Köln, dann an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag. Parallel zu den vielfältigen und fachlich heterogenen Perspektiven auf die religionspsychologische Frage ist die Auseinandersetzung auch von einer großen Heterogenität an methodischen Konzeptionen geprägt, die hier miteinander konkurrieren. Einigkeit herrscht grundsätzlich darüber, dass eine neue Art von psychologischer Religionsforschung zur Debatte steht, die sich – orientiert am empirischen Vorgehen der modernen Fachpsychologie – von der früheren philosophischen Psychologie grundsätzlich unterscheidet. Bereits in der für die Debatte prägenden US -amerikanischen Forschung konkurrieren dann aber ein eher quantitativer Ansatz, für den Edwin Starbuck steht, und ein eher qualitativ ausgerichteter Ansatz, der paradigmatisch von William James vertreten wird. Aus der deutschen Fachpsychologie heraus findet, insbesondere durch Wilhelm Wundts »Völkerpsychologie«, eine anthropologisch-kulturhistorische Heran­ gehensweise Eingang in die Debatte. Dazu kommen außerdem Einflüsse aus der psychiatrischen Praxisbeobachtung sowie am Rande aus der Psychoanalyse. Besonders komplex wird die Lage schließlich dadurch, dass von theologischer Seite verschiedene Synthesemodelle in die Auseinandersetzung eingebracht werden. Dabei werden Verfahrensweisen der modernen Psychologie beispielsweise mit einer neukantianischen Erkenntnistheorie (bei Ernst Troeltsch) oder einem neovitalistischen Deutungsmodell (bei Gustav Vorbrodt) zusammengeschlossen oder sie sollen zu einer ganz eigenen, spezifisch religionspsychologischen Methode (bei Georg Wobbermin) weiterentwickelt werden. Die fächerspezifischen Entwicklungslinien, die in der Auseinandersetzung miteinander verschränkt sind, lassen sich im Überblick wie folgt nachzeichnen: In der modernen Fachpsychologie, die sich seit den 1880er Jahren institutionell etabliert, gerät Religion um die Jahrhundertwende als Thema neu in den Blick. Es werden nun von Psychologen, Psychiatern und Psychoanalytikern neue psychologische Religionserklärungen formuliert, die darauf abzielen, Religion als Funktionsmechanismus in psychischen Zusammenhängen zu beschreiben. Diese Entwicklung geht einerseits von den USA aus. Im Zeitraum unmittelbar um die Jahrhundertwende entstehen dort an der Clark-­University in Worcester, Massachusetts, erstmals empirisch-psychologische Forschungen zu religiösen Themen. Zur gleichen Zeit verfasst außerdem William James mit

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seinem »Varieties of Religious Experience« ein wichtiges Referenzwerk für die Debatte. In Deutschland zeigt sich ebenfalls ein neues psychologisches Interesse an Religion, das von prominenten Vertretern der neuen Fachpsychologie, wie etwa von Wilhelm Wundt oder Herrmann Ebbinghaus, von Psy­chiatern, wie Johannes Bresler oder Willy Hellpach, sowie, etwas zeitversetzt, auch aus der Psychoanalyse heraus verfolgt wird. Während die US -Amerikaner den Geltungsanspruch ihrer Forschungen zurückhaltender formulieren und ihre psychologischen Funktionsmodelle von Religion oder religiösen Einzelphäno­ menen zumeist deutungsoffen darstellen, sind im deutschen Diskurs abgeschlossene Modelle vorherrschend, die die Religion jeweils umfassend aus ihren psychischen Funktionen zu erklären beanspruchen. Über die reine Forschung und Theoriebildung hinaus verfolgen die US -amerikanischen und deutschen Psychologen um 1900 oft ein Gestaltungsinteresse gegenüber Religion. An ihre jeweiligen Religionstheorien anknüpfend, formulieren sie Empfehlungen eines neuen Religionsumgangs oder beanspruchen sogar, unmittelbar gestaltend auf die weitere Entwicklung religiöser Lehren und Praktiken Einfluss zu nehmen. Dabei kommt zum Teil eine pathologisierende Perspektive zum Tragen, in welcher Religion als ein individual- und sozialpsy­ chologischer Problemgegenstand gilt, der nun – etwa in Bezug auf vermeintliche religiöse »Epidemien«  – durch neuartige psychologische Interventions- und Präventionsmaßnahmen effektiver beherrscht werden soll als zuvor. Überwiegend wird allerdings eine Sichtweise vertreten, die zunächst von positiven psychischen Funktionen von Religion ausgeht, die nun neu oder besser als zuvor aktiviert werden sollen. Diese Perspektive wird zumeist im zweiten Schritt ebenfalls zur Problemperspektive, wenn angenommen wird, dass die psychische Funktionalität der Religion in den bestehenden Institutionen und Lehren nicht mehr angemessen zur Entfaltung gelangen kann. Dies stellt eine psychologische Institutionenkritik dar, die auf eine inhalts- und strukturreformerische Funktionserneuerung von Religion – zumeist in den Aspekten von Rationalisierung, Liberalisierung und Individualisierung gedacht – abzielt. Auf theologischer Seite und dabei insbesondere im Protestantismus zeigt sich von Anfang an ein ambivalentes und hochgradig komplexes Verhältnis aus Abgrenzung und Aneignung gegenüber der modernen Psychologie: Zunächst geht es den beteiligten Theologen darum, den vor allem in der deutschen Psychologie vorherrschenden psychologischen Funktionalismus abzuwehren und anstelle dessen die, für sie unverzichtbare Annahme der Substantialität von Religion aufrecht zu erhalten. Dieses Abwehrinteresse setzt sich zum Teil in eine grundsätzliche Abweisung der modernen Psychologie um. Ihre methodische Kompetenz in religiösen Fragen wird bezweifelt oder es wird die Behauptung vorgebracht, dass Religion grundsätzlich der allgemeinwissenschaftlichen Betrachtung entzogen und nur durch sich selbst, beziehungsweise durch die Theologie, erfassbar ist. Zum Teil setzt sich das Abwehrinteresse aber auch

184  Schluss: Die Religionspsychologie um 1900 genau gegenteilig in die Intention um, die moderne Psychologie theologisch aufzugreifen, um gerade durch sie, so die Erwartung, die Substantialität der Religion mit neuer Sicherheit nachweisen zu können. Die Befürworter eines solchen Vorgehens setzen allerdings oft eine Modifikation der modernen psychologischen Theorien und Methoden voraus. Sie versuchen, diese theologisch einzubinden oder zu spezifischen Modellen zu gestalten, die den vermeintlich besonderen Anforderungen der religiösen Untersuchungsgegenstände erst gerecht werden sollen. Über die Funktionalismusfrage hinaus ist die theologische Beteiligung an der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 weiterhin von ausgeprägten theoretischen und praktischen Verwendungsinteressen motiviert: Diese Verwendungsinteressen sind zum einen instrumenteller Art. Die moderne Psychologie soll in dieser Hinsicht als ein Erkenntnismittel der Theologie dienen, indem sie neue Einblicke in die subjektiven Abläufe im religiösen Individuum ermöglicht. Sie soll damit auch mittelbar neue Perspektiven, beispielsweise für die Religionsgeschichte oder die Exegese, eröffnen. Neue Erkenntnisperspektiven sowie ein konkreter Anwendungsnutzen werden von der Psychologie außerdem auch im praktisch-theologischen Bereich erwartet. Ihre Aneignung soll etwa in der Seelsorge, der Predigtgestaltung oder der religiösen Pädagogik zu einem effektiveren Vorgehen als bisher führen. Weiterhin soll sie neue Handlungsfelder – wie etwa bei Oskar Pfister eine in die Seelsorge eingebundene Psychotherapie – eröffnen. Zum anderen sind die theologischen Verwendungsinteressen gegenüber der modernen Psychologie prinzipieller Art. In dieser Hinsicht geht es darum, über die neuen Erkenntnisperspektiven hinaus auch eine neue Erkenntnissicherheit mithilfe der modernen Psychologie zu erreichen. Dass diese Möglichkeit mit ihr verbunden wird, ergibt sich aufgrund ihrer Wahrnehmung als »System und Postulat empirischer Methode«,1 wie dies Gustav Vorbrodt paradigmatisch formuliert. Sie gilt als Verwirklichung einer neuen exakten empirischen Methodik im Bereich der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften und durch die von ihr behandelten Grundfragen als deren neue Basisdisziplin. Diese Sichtweise geht bei einigen Akteuren, so etwa bei Gustav Vorbrodt, Oskar Pfister oder auf spezifische Art auch bei Georg Wobbermin, bis hin zur Forderung einer konsequenten psychologischen Neufundierung der Theologie. Auch im praktischtheologischen Bereich soll die moderne Psychologie in diesem Sinne nicht nur neue Zugriffsperspektiven eröffnen, sondern es werden auch darüber hinaus gehende prinzipielle Erwartungen mit ihr verbunden. Ihre Aneignung soll den praktischen Aspekt der Religion als solchen neu verständlich machen und ihn dadurch neu zur Geltung bringen. Es wird eine, von einigen Akteuren ebenfalls sehr weit gefasste, Dynamisierung und Intensivierung des religiösen Lebens er 1 Vorbrodt: Stellung der Religionspsychologie 441.

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wartet, indem dieses als unmittelbares subjektives Religionserleben neu betont und mit psychologischer Hilfe neu in Kraft gesetzt werden soll. An dieser Stelle berühren sich die theologischen Erwartungen mit den Erwartungen religiöser Erneuerung, die auf ganz ähnliche Weise auch bei Psychologen wie William James oder Johannes Bresler anzutreffen sind. Im theologischen Fachdiskurs gilt die instrumentelle Psychologieverwendung, vor allem in praktischer Hinsicht, als weitgehend unproblematisch, wenn auch zum Teil bezweifelt wird, ob sie tatsächlich die hohe Wirksamkeit entfalten kann, die sich ihre besonders engagierten Befürworter von ihr erhoffen. Die prinzipiellen Verwendungsabsichten führen dagegen zu ähnlichen Abwehrreaktionen, wie sie sich zugleich auch gegen die Erklärungs- und Gestaltungsintentionen aus der Fachpsychologie selbst richten. Sowohl inhaltlich, aber gerade auch durch ihre Verbindung mit der Psychologie, rufen die prinzipiellen Verwendungsabsichten Kritik hervor, weil die empirische Herangehensweise als Gegensatz zu den normativen Aufgaben und Voraussetzungen der Theologie aufgefasst wird, die aus Sicht der Kritiker als unverzichtbar gelten. Es findet sich allerdings, etwa bei Wilhelm Herrmann, auch eine erstaunliche Parallele von entschiedener Psychologiekritik auf der einen und ganz ähnlichen Erneuerungserwartungen auf der anderen Seite, wie sie von den Befürwortern einer theologischen Psychologieverwendung zum Teil angestrebt werden. Im Hintergrund der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 werden damit in der Übersicht zwei Diskurse erkennbar, die zu dieser Zeit sowohl für die psychologische als auch für die theologische Perspektive auf das Verhältnis von Religion und moderner Psychologie maßgeblich sind: Dies ist erstens der moderne Wissenschaftsdiskurs mit seiner Betonung von Fachwissenschaftlichkeit, systematischer empirischer Forschung und neuer naturwissenschaftlicher Orientierung. Mit diesem Diskurs ist die moderne Psychologie in ihrer Entstehungsgeschichte eng verbunden und aus diesem leitet sie ihr Selbstverständnis als neue Grunddisziplin der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften ab. In der religionspsychologischen Auseinandersetzung setzt sich dieser Diskurs auf fachpsychologischer Seite in die weitreichenden Erklärungsansprüche um, die gegenüber der Religion als einem psychischen Phänomen formuliert werden. In der Theologie kommt der moderne Wissenschaftsdiskurs einerseits ebenfalls in der Zuschreibung weitreichender Erkenntnisperspektiven gegenüber der modernen Psychologie zum Ausdruck. Andererseits wird er in den Diagnosen eines methodischen Reformbedarfs der Theologie wirksam, dem nun durch die Aneignung psychologischer Herangehensweisen entsprochen werden soll. Die theologische Kritik an der Anwendung der modernen Psychologie auf religiöse Fragen ist dagegen wesentlich auch eine Kritik an Elementen des modernen Wissenschaftsdiskurses, insbesondere an dem mit ihm verbundenen naturwissenschaftlichen Empirismus und seinem Überbietungsanspruch gegenüber apriorisch oder historisch orientierten Erkenntnismodellen.

186  Schluss: Die Religionspsychologie um 1900 In seiner Anwendungsperspektive setzt sich der moderne Wissenschaftsdiskurs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den Trend zur Verwissenschaftlichung des Sozialen beziehungsweise in das damit neu entstehende social engineering um; das heißt in einen Diskurs der rationalen Expertenbeobachtung und Expertensteuerung von sozialen bzw. kulturellen Entwicklungen. Auch in der religionspsychologischen Auseinandersetzung wirkt sich dieser Diskurs in dieser praktischen Umsetzung aus. Er findet sich einerseits in den Gestaltungsund Interventionsansprüchen gegenüber Religion, die auf psychologischer Seite, insbesondere von den Akteuren mit einem ärztlich-psychiatrischen Hintergrund, formuliert werden. Auf theologischer Seite findet er sich in den Bestrebungen, mit der modernen Psychologie neue Möglichkeiten des Praxiszugriffs zu erschließen sowie die Praktische Theologie von einer bloßen, wie dies Friedrich Niebergall ausdrückt, »besseren Technik«2 zu einer modernen, psychologisch fundierten Praxiswissenschaft zu professionalisieren. Der zweite maßgebliche Diskurs im Hintergrund der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 ist der zu dieser Zeit virulente Krisendiskurs moderner Kultur, sowohl in allgemeiner als auch in religiöser Hinsicht. Dieser Diskurs zeigt sich in der Auseinandersetzung in einer doppelten, in sich ambivalenten Ausprägung: Er tritt einerseits, in Bezug auf die allgemeine Kulturentwicklung, als Annahme einer desintegrierenden Dynamik auf, die durch den beschleunigten Wandel und die freigesetzte, nicht mehr kontrollierbare Eigenlogik des modernen Wissens sowie der modernen Arbeits-, Kultur- und Lebenswelt bewirkt wird. Es wird hier ein Orientierungsverlust des Individuums in der modernen Welt angenommen, zu dem nun allerdings in der psychologischen Betrachtung Religion als wirksames Gegenprinzip erkennbar wird, das neue Integrativkräfte aktivieren und somit eine Bewältigung der Negativfolgen der modernen Kultur ermöglichen kann. Diese Sichtweise steht vor allem hinter dem von psychologischer Seite formulierten Nutzungsinteresse an Religion, wird aber auch von einigen Theologen, wie beispielsweise von Gustav Vorbrodt, geäußert. Im direkten Bezug auf Religion tritt der Krisendiskurs andererseits genau umgekehrt als Annahme eines sich hier aufbauenden und das religiöse Leben lähmenden Dynamikdefizits auf. In diesem Sinne wird von einer strukturellen Hemmung des eigentlichen religiösen Lebens durch die ihm bisher auferlegten Organisations- und Reflexionsformen ausgegangen. Erwartet wird in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Lösung mithilfe der modernen Psychologie, indem sich diese Problemlage in der psychologischen Betrachtung zweifelsfrei erkennen und mit psychologischer Hilfe überwinden lassen soll: Das religiöse Leben soll als solches neu freigesetzt werden und auf diese Weise wieder, so die Vorstellung, die ihm eigene ursprüngliche Dynamik und Unmittelbarkeit 2 Niebergall: Bedeutung der Religionspsychologie 446.

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entfalten können. Wo beide Absichten zusammentreffen, wie etwa bei Johannes Bresler oder Gustav Vorbrodt, ergibt sich die Ambivalenz – oder anders betrachtet gerade auch die Pointe –, dass die als bedrohlich empfundene Dynamik des modernen Lebens nun durch eine neu eingeleitete Dynamisierung der Religion bearbeitet werden soll. Insgesamt erscheinen damit sowohl die Religion als auch die moderne Psychologie in der religionspsychologischen Auseinandersetzung um 1900 als Projektionsflächen, die mit ganz unterschiedlichen Überwindungs- und Erneuerungshoffnungen aufgeladen – oder, wie die Aporien der Debatte zeigen, schnell auch überladen  – werden können. Die Auseinandersetzung kann in diesem Sinne als ein Feld der besonders intensiven Begegnung von Religion und moderner Wissenschaft angesehen werden, in dem sich sowohl Analogien als auch Widersprüche und Konfliktpunkte der beiden Felder zueinander exemplarisch zeigen. Dass sich gerade in Bezug auf die moderne Psychologie die beschriebenen Erwartungen in besonders intensiver Form entwickeln, kann dabei erstens der hohen inhaltlichen und methodischen Dynamik des neu entstehenden Fachs und damit seiner Empfänglichkeit für ganz unterschiedliche Ausdeutungs- und Aneignungsinteressen zugerechnet werden. Zweitens steht damit die verbreitete Auffassung in Verbindung, es bei der Psychologie mit einer neuen Grundlagendisziplin zu tun zu haben. Und drittens ist die Kulturnähe und spezifische Subjektorientierung im Protestantismus für das hohe, die Debatte prägende Interesse gerade aus dieser Richtung ausschlaggebend. Der systematische Ertrag der Auseinandersetzung wird, angesichts der in ihr vielfach postulierten aber noch kaum tatsächlich geleisteten psychologischen Religionsforschung, wohl am ehesten darin zu sehen sein, das Verhältnis von Religion und moderner Psychologie programmatisch durchdekliniert und dabei die, im Prinzip auch weiterhin gültigen Berührungsflächen aufgezeigt zu haben. Deutlich werden dabei auch die beiden Grundprobleme, einerseits der funktionalistischen Aneignung von Religion und andererseits der apologetischen Aneignung von Psychologie, denen jede Religionspsychologie ausgesetzt bleibt. Ob in dieser Hinsicht eine Ausklammerung gelingen kann, wie sie im Archiv für Religionspsychologie kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs angeregt wird, kann als offene Frage festgehalten werden. Aus ideengeschichtlicher Perspektive zeigt sich die religionspsychologische Auseinandersetzung um 1900 schließlich als ein außerordentlich ertragreicher Gegenstand. Sie erscheint als ein Kreuzungspunkt vielfältiger Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen, die sich um 1900 sowohl auf die moderne Wissenschaft als auch auf die Religion richten. Von ihrer spezifischen Problemstellung aus – der Frage nach dem Verhältnis von Religion und moderner Psychologie – eröffnet sie damit einen Ausblick auf das Panorama der intensiven wissenschaftlichen und weltanschaulich-religiösen Suchbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Dank Danken möchte ich: Manina Ott, die in diese Arbeit viel investiert und mich auch in den schwierigen Phasen vorbehaltlos unterstützt hat. Heiner Grunert, der an einem kritischen Punkt und auch sonst engagiert geholfen hat. Den beiden Betreuern meiner Arbeit Friedrich Wilhelm Graf und Martin Schulze Wessel für die geduldige und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Markus Krumm, Bianca Hoenig, Johannes Dafinger und Mirjam Voerkelius, die die Arbeit von Anfang an begleitet und mir immer wieder wichtige Anregungen gegeben haben. In gleicher Weise auch den KollegiatInnen und DozentInnen des Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19.  und 20. Jahrhunderts« der Universitäten München und Prag. Für die vielfache organisatorische und nicht zuletzt auch moralische Unterstützung außerdem den Koordinatorinnen des Graduiertenkollegs Laura Hölzlwimmer, Kateryna­ Kudin und noch einmal Manina Ott. Anna Bischof für das Lektorat und die damit verbundenen Anregungen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mit ihrem Stipendium das Projekt finanziert hat. Schließlich meinen Eltern, Geschwistern und allen weiteren Freunden für ihre Teilnahme und Unterstützung im Hintergrund.

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194  Quellen- und Literaturverzeichnis Lehmann, Hugo: Zinzendorfs Frömmigkeit und ihre Bedeutung. In: Zeitschrift für Reli­ gionspsychologie 4 (1910), 285–300. Ders.: Staatswille und Kirchenwille. Ein Wort zur Trennung des Staates von der Kirche. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1913), 388–398. Leuba, James Henry: Theologie und Psychologie. Vortrag, gehalten bei der Jahresversammlung der amerikanischen philosophischen Gesellschaft, New York 1912. In: Religion und Geisteskultur (1914), 109–118. Ders.: A Study in the Psychology of Religious Phenomena. In: The American Journal of Psychology 7 (1896), 309–385. Ders.: Faith. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1904–1905), 65–82. Ders.: The Field and the Problems of Psychology of Religion. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 1 (1905–1906), 155–167. Ders.: Fear, Awe and the Sublime in Religion. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 2 (1906–1907), 1–23. Lindworsky, Johannes: Die Religionspsychologie. Ein neuer Zweig der empirischen Psychologie. In: Stimmen aus Maria-Laach 78 (1910), 505–519. Ders.: Religionspsychologie und Pädagogik. In: Pharus 2 (1911), 21–34. Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1903. Lipsius, Richard Adelbert: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 1876. Maier, Heinrich: Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908. Marcinowski, Jaroslaw: Über Weltanschauung als Heilfaktor. In: Die Christliche Welt 22 (1908), 434–438. Ders.: Nervosität und Weltanschauung. Studien zur seelischen Behandlung Nervöser. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage, Berlin 1910. Margreth, Jakob: Amerikanische Religionspsychologie, in ihrer Grundlage geprüft. In: Der Katholik (1909), 223–229. Mayer, Emil Walter: Über Religionspsychologie. Vortrag gehalten vor dem theologischen Verein elsaß-lothringischer Pfarrer. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), 293–324. Ders.: Heinrich Maier über Religion. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910), 130–140. Ders.: Über Religionspsychologie. In: Theologische Rundschau 14 (1911), 445–464. Ders.: Über den gegenwärtigen Stand der Religionsphilosophie und deren Bedeutung für die Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche (1912), 41–71. Misch, G.: Die religiöse Selbstdarstellung und die Seelengeschichte in der hellenistischen Mystik. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 473–498. Mörchen, Friedrich: Die 55. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 2 (1908), 273–282. Ders.: Die Psychologie der Heiligkeit. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 393–436. Ders.: Wirklichkeitssinn und Jenseitsglauben. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1909), 147–168, 192–199, 217–235, 283–295, 323–333, 403–413. Ders.: Ungewöhnliche Äußerungen religiösen Lebens und geistiger Abnormität. In: Religion und Geisteskultur 6 (1912), 211–261. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1900. Ders.: Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, Leipzig 1908. Neupauer, Joseph: Philosophie und Religion. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1908), 441–445. Niebergall, Friedrich: Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 19 (1909), 411–474.

Quellen- und Literaturverzeichnis  195 o. A.: Meldungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 230–232, 232, 472. o. A.: Kleine Mitteilungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 1 (1907), 232. o. A.: Herausgebermitteilungen. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 3 (1910), 1 f., 41, 141, 178 o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 1. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 5 (1911), 235–241. o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 2. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 5 (1912), 336–341. o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 3. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1912), 32–35. o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 4. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1912), 141–143. o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 5. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1912), 302–308. o. A.: Religionspsychologische Arbeitsgemeinschaft: Zeitschriftenschau Nr. 6. In: Zeitschrift für Religionspsychologie 6 (1913), 398–407. Oesterreich, Traugott Konstantin: Einführung in die Religionspsychologie. Als Grundlage für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, Berlin 1917. Oosterheerrdt, A.: Religion as a Matter of Feeling. A Criticism. In: The American Journal of Psychology and Religious Education 2 (1906–1907), 62–75. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. Peters: Der sechste Internationale Psychologenkongress in Genf. In: Frankfurter Zeitung (31.08.1909). Pfennigsdorf, Emil: Der religiöse Wille, Leipzig 1910. Ders.: Religionsstatistik und Religionspsychologie. In: Geisteskampf der Gegenwart (1911). Ders.: Religionspsychologie und Apologetik, Leipzig 1912. Pfister, Oskar: Die Unterlassungssünden der Theologie gegenüber der modernen Psychologie. In: Protestantische Monatshefte 7 (1903), 125–140. Ders.: Das Elend unserer wissenschaftlichen Glaubenslehre. In: Schweizerische theologische Zeitschrift (1905), 209–212. Ders.: Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung. In: Evangelische Freiheit. Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur 9 (1909), 108–114, 139–149, 175–189. Ders.: Psychanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik. In: Protestantische Monatshefte 13 (1909), 6–42. Ders.: Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Ein psychanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus, Wien 1910. Ders.: Die Psychanalyse als wissenschaftliches Prinzip und seelsorgerische Methode. In: Evangelische Freiheit. Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur 10 (1910), 66–73, 102–113, 137–146, 190–200. Ders.: Hysterie und Mystik bei Margaretha Ebner (1291–1351). In: Zentralblatt für Psychoanalyse 1 (1911), 469–485. Ders.: Anwendungen der Psychanalyse in der Pädagogik und Seelsorge. In: Imago 1 (1912), 56–82. Ders.: Die psychanalytische Methode. Eine erfahrungswissenschaftlich-systematische Darstellung, Leipzig, Berlin 1913. Ders.: Psychanalyse und Theologie. In: Theologische Literaturzeitung 39 (1914), 379–382. Ders.: Analytische Seelsorge. Einführung in die praktische Psychanalyse für Pfarrer und Laien, Göttingen 1927. Ders.: Religionswissenschaft und Psychanalyse, Gießen 1927.

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Personenregister Abraham, Karl  62 Achelis, Thomas  7, 29 Aristoteles 56 Augustinus von Hippo  16, 57, 93 Beck, Johann Tobias  16, 29 Beneke, Friedrich Eduard  18 Beßmer, Julius  89, 94–96 Biedermann, Alois Emanuel  18 f. Bornhausen, Karl  92, 97, 131 f. Bresler, Johannes  7 f., 36–38, 40, 64 f., 79 f., 85 f., 144–154, 170, 175, 183, 185, 187 Conrad, Otto  66, 73 Cornelius, Hans  20 f. Demokrit  15, 82 Drews, Paul  163 Dürr, Ernst  63, 73 Ebbinghaus, Herrmann  41–44, 63, 80–87, 105, 143, 169 f., 183 Eckert, Alfred  27, 46, 50–52, 155 Elsenhans, Theodor  63, 73, 81 Emerson, Ralph Waldo  89 Epikur 15 Euhemeros 15

Gutberlet, Constantin  8 f., 57–59, 89, ­93–98, 129 f., 155, 177 Hall, Granville Stanley  30–32 Hardy, Edmund  25 f. Hartmann, Eduard von  19, 105, 175 f. Hegel  19, 63 Heiler, Friedrich  78 Hellpach, Willy  7, 38, 79 f., 87, 143 f., 149 f., 153, 183 Helmholtz, Hermann von  20 Herbart, Johann Friedrich  18, 29 Herder, Johann Gottfried  16, 80 f. Herrmann, Wilhelm  28 f., 58, 92, 97 f., 176, 185 Hobbes, Thomas  15 Høffding, Harald  22 f., 46 Holtzmann, Heinrich  24 Hume, David  15, 18 James, William  33–36, 45, 49, 52–58, 63 f., 75, 81, 86, 89, 95, 102 f., 111–113, 124, 130, 136, 144 f., 169–172, 182, 185 Jansen  150 f., 153 Jesus von Nazaret  162 Jodl, Friedrich  21

Faber, Hermann  36, 66 f., 69 f., 101 f., 135–137 Feuerbach, Ludwig  16, 18, 22, 44, 83 Fechner, Gustav Theodor  20 Fichte, Immanuel Hermann  19 Flournoy, Théodore  46, 63, 113, 170 Foerster, Friedrich Wilhelm  61 Frazer, James  83 Freud, Sigmund  7, 44 f., 59, 61, 72 f., 77, ­80–82, 87 Frey, Adolf  51, 68, 90 f., 97, 176

Kaftan, Julius  28 f., 51, 68, 88, 91, 97 f., 128, 130–132 Kalweit, Paul  67 f., 73 Kant, Immanuel  17, 20, 22, 35, 58, 82, 95, 97, 102, 108, 143 Kinast, Erich  30 Klemm, Otto  47 f., 62, 64 f. Koch, Emil  26 Koepp, Wilhelm  78 Koffka, Kurt  75, 108 f., 138 f., 165 Kritias 15 Külpe, Oswald  21, 74 f.

Girgensohn, Karl  29 f., 70 f. Goddard, Henry  32 Goldstein, Julius  45

Lehmann, Hugo  61, 64 f. Leo XIII. 95 Leuba, James Henry  31–33, 46, 66

206 Personenregister Lindworsky, Johannes  46, 55–59, 115, 119, 122, 159 f., 182 Lipps, Theodor  21 Lipsisus, Richard Adelbert  19 Lotze, Herrmann Rudolf  18 Lukrez 15 Luther, Martin  95 Maier, Heinrich  42–44, 63, 80 f., 84–88, 148 f. Marcinowski, Jaroslaw  145 f., 152 f. Margreth, Jakob  56–59, 93, 95, 130 Mayer, Emil Walter  51 f., 73, 99, 154 f., 165 Meumann, Ernst  160 Mörchen, Friedrich  65 f., 148 Müller, Johannes  175 f. Münsterberg, Hugo  23 f., Neupauer, Joseph  39 Niebergall Friedrich  7, 50, 52, 68, 155–158, 162 f., 166 f., 172 f., 186 Ostwald, Wilhelm  175 f. Otto, Rudolf  78 Paulus von Tarsus  118 Pfennigsdorf, Emil  46, 50–52, 67, 160 f. Pfister, Oskar  25, 59–62, 71–73, 76 f., ­114–117, 120, 123, 128 f., 134, 161 f., ­167–169, 174, 182, 184 Pfleiderer, Otto  19 Pius X.  95 Pius IX . 95 Prodikus von Keos  15, 82 Rabus, Leonhard  27 Rade, Martin  62 Rademacher, Arnold  56–59, 100, 112, 115, 119, 122, 130 Rank, Otto  44 f., 80 Reischle, Max  27–29 Ritschl, Albrecht  97 f., 128 Ritschl, Otto  39, 155 Rittelmeyer, Friedrich  7, 46, 74, 99 f., 111 f., 114, 116, 118–120, 123–126, 134 f., 158 f., 166, 173, 175 f.

Runze, Georg  38, 47 Scheel, Otto  8, 39, 88–90, 97, 131–133, 165 f., 177 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  17, 24, 35 f., 55, 100–102, 123 f., 140 Schopenhauer, Arthur  19 Schwander, Gregor  56, 58 Spencer, Herbert  83 Spinoza, Baruch de  15 Stählin, Wilhelm  21, 73–76, 108 f., 138 f., 141, 165, 173 f., 182 Starbuck, Edwin Diller  31–33, 46 f., 50, 52, 64, 82, 86, 113, 182 Steinmann, Theophil  65 f. Stekel, Wilhelm  72 f. Stern, Wilhelm  160 Storfer, Adolf J.  62 Thomas von Aquin  57, 94 Traub, Friedrich  36, 51, 101 f., 135 f. Troeltsch, Ernst  24 f., 34–36, 49, 102 f., ­106–108, 113, 115, 120 f.  125 f., 182 Tylor, Edward  83 Vorbrodt, Gustav  7 f., 26 f., 37–40, 46, 49, 52 f., 63, 69 f., 74, 76 f., 105 f., 112–120, 123, 126–129, 131, 133, 163 f., 167 f., ­175–177, 182, 184, 186 f. Weber, Ernst Heinrich  20 Weber, Max  52, 112 Wielandt, Rudolf  50, 52, 101, 112, 114, 117 f., 120, 125, 157 f., 166 f. Wiener, Wilhelm  25, 29 Wobbermin, Georg  7, 30, 35 f., 49, ­52–55, 58, 67–70, 103–105, 107 f., 113–115, ­120–122, 124, 126 f., 136–139, 182, 184 Wunderle, Georg  69, 73, 77 Wundt, Wilhelm  20–23, 41–44, 47–49, 53 f., 63, 80–87, 105, 107 f., 143, 146, 169, 171 f., 182 f. Xenophanes 15 Ziehen, Theodor  21