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German Pages 326 Year 2017
Anke von Kügelgen (Hg.) Wissenschaft, Philosophie und Religion – Religionskritische Positionen um 1900
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PHILOSOPHIE IN DER NAHÖSTLICHEN MODERNE PHILOSOPHY IN THE MODERN MIDDLE EAST
Herausgeber / Editorial Board Sarhan Dhouib (Kassel) – Jan-Peter Hartung (London) – Christoph Herzog (Bamberg) – Anke von Kügelgen (Bern) – Kata Moser (Bern) – Roman Seidel (Berlin) Beirat / Advisory Board Ahmed Attia (Kairo) – Zeynep Direk (Istanbul) – Ali Gheissari (San Diego) – Ahmad Madi (Amman) – Mohamed Misbahi (Rabat) – Anwar Moghith (Kairo) – Nassif Nassar (Beirut) – Fathi Triki (Tunis)
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PHILOSOPHIE IN DER NAHÖSTLICHEN MODERNE PHILOSOPHY IN THE MODERN MIDDLE EAST
Anke von Kügelgen (Hg.)
Wissenschaft, Philosophie und Religion — Religionskritische Positionen um 1900 Texte von Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde, Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, Ahmed Midhat Efendi und Baha Tevfik ins Deutsche übersetzt, annotiert und kommentiert von Enur Imeri, Michael Mäder und Mahdi Rezaei-Tazik
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© 2017 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Berlin Erstausgabe 1. Auflage Logo & Cover: Henrik Jeep (Berlin), Ondřej Šmerda (Prag) Lektorat: Thomas Stender (Berlin) Herstellung: J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-87997-480-1
Inhalt Vorrede zur neuen Buchreihe.....................................................................................9 Anke von Kügelgen Konflikt, Harmonie oder Autonomie?....................................................................30 Anke von Kügelgen Religionskritik als Bedingung für Fortschritt bei Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde......................................................................121 Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder Maktūbāt — مكتوبات.............................................................................................141 Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde (1812–1878) übersetzt von Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder Gottvertrauen auf dem Prüfstand – Ein Disput iranischer Intellektueller....196 Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder Inschallah, Maschallah — ان شاء ا ما شاء ا..............................................208 Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī (1854/55–1896) übersetzt von Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder Ahmed Midhat Efendis Apologie der Wissenschaftskonformität des Islam.............................................................229 Enur Imeri ʿIlm īle fenn — علم ايله فن.......................................................................................245 Felsefe we felāsife — فلسفه و فلسفه....................................................................249 Nizāʿ-i ʿilm we dīn – Islam we ʿulūm — نزاع علم و دين – اسلم و علوم.....256 Ahmed Midhat Efendi (1844–1912) in Auszügen übersetzt von Enur Imeri Baha Tevfiks Vision einer religionsfreien Gesellschaft....................................269 Enur Imeri Felsefe Medjmūʿasī — فلسفه مجموعسي..............................................................297 Mekteb Dersleri — مكتب درسلري.......................................................................300 Felsefe-i Ferd — فلسفه فرد.......................................................................................309 Baha Tevfik (1884?–1914) in Auszügen übersetzt von Enur Imeri Umschrift und Aussprachehilfe.............................................................................321 Personenindex............................................................................................................323
Dank Die Ermutigung und Mitarbeit der im Editorial Board versammelten Spezialisten und Freunde Sarhan Dhouib, Jan-Peter Hartung, Christoph Herzog, Kata Moser und Roman Seidel haben der Idee zu dieser Reihe ihre jetzige inhaltliche Form gegeben. Sie haben mit ihren intensiven Gegenlektüren der Vorrede und einzelner Beiträge auch am ersten Band entscheidenden Anteil. Äußerst fruchtbar für den vorliegenden Band war auch der Austausch mit Freunden und Kollegen. Unter den Philosophen waren es Lutz Wingert in Zürich, Claus Beisbart in Bern und Ralph Weber in Basel und unter den Islamwissenschaftlern Michael Frey und Florian Zemmin in Bern, die mir als Gegenleser zur Seite standen. Ihre kritischen Bemerkungen zur Vorrede und zum Artikel «Konflikt, Harmonie oder Autonomie? Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion» waren für mich unverzichtbar, auch wenn ich nicht alle habe umsetzen können. Frank Peter steuerte aus Qatar wertvolle Kommentare zu dem Artikel bei. Die Vereinheitlichung der bibliographischen Angaben und Transkriptionen dieser beiden Texte war bei meiner Assistentin Nicole Custer in besten Händen. Die Indizierung der Personennamen und die Korrektur der Druckfahnen übernahm mein Oberassistent Bakhodir Sidikov. Die geographische und inhaltliche Bandbreite des ersten Bandes ist ein Ergebnis der langjährigen wunderbaren Kooperation mit meinen ehemaligen Studenten Enur Imeri, Michael Mäder und Mahdi Rezaei-Tazik. Gerd Winkelhane, Henrik Jeep und Tim Mücke vom Klaus Schwarz Verlag haben sich der neuen Reihe mit großem Einsatz angenommen. Das Lektorat war bei Thomas Stender in sachverständiger und sorgsamer Hand. Logo und Layout entstanden in Zusammenarbeit von Henrik Jeep mit Ondřej Šmerda (Prag). Jindřich Strnad zimmerte unentbehrliche außerfachliche Inspirationsrahmen und unterzog ebenso wie unsere Freunde Gabi und Jean Adank meinen Artikel aus erfrischend anderer Perspektive einer nuancierten Kritik. Ihnen allen sei mit diesen wenigen Worten für sehr viel herzlichst gedankt. Anke von Kügelgen
Vorrede zur neuen Buchreihe
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ie Idee zu einer Reihe über Philosophie in der nahöstlichen Moderne erwuchs aus der zunehmenden Präsenz philosophischer Gedanken und Argumente im Nahen und Mittleren Os1 ten. Die dort tätigen Philosophen agieren als Akademiker, Intellektuelle und Experten und beanspruchen zunehmend Aufmerksamkeit. Sie reflektieren philosophische Fachfragen ebenso wie Probleme der globalen und ihrer lokalen Moderne und sind in öffentlichen Debatten, nicht zuletzt in der Presse, in Fernsehen, Radio und Internet präsent. Philosophische Gedanken und Argumente werden darüber hinaus durch Persönlichkeiten verbreitet, die eine philosophische Ausbildung erfahren haben. So hat der ägyptische Autor und spätere Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz (gest. 2006) noch während seines langjährigen, 1931 aufgenommenen Philosophiestudiums begonnen, in bekannten Zeitungen und Zeitschriften Artikel zur westlichen Philosophiegeschichte, zu Kants Vernunftkritik, zum Pragmatismus und zur Philosophie Henri Bergsons sowie zu Sinn und Zweck von Philosophie zu veröffentlichen. Sein in Ägypten lange verbotener Roman «Die Kinder unseres Viertels» repräsentiert in literarischer Form eine philosophische Aussage über das Verhältnis von 2 Glaube, Vernunft, Wissenschaft und Moral. Muhammad Iqbal (gest. 1938) gilt mit seinem umfangreichen Werk, in dem er Gedankengut sogenannt östlicher und westlicher Denker, unter anderen von al-Ghazālī (gest. 1111), Ibn ʿArabī (gest. 1240), Kant und Hegel miteinander verbindet, als geisti3 ger Vater Pakistans. Der iranische Philosophiedozent Ahmad-e Fardīd (gest. 1994) wiederum, der, von dem Orientalisten Henri Corbin angeregt, 1
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Die grammatikalischen Genera werden, solange nicht eindeutig ein Geschlecht bezeichnet wird, geschlechtsneutral verwendet. Unter den Philosophen, die als öffentliche Intellektuelle agieren, dominieren bis heute Männer. An philosophischen Themen interessierte Frauen haben lange Zeit eher in privaten Zirkeln, darunter in von ihnen geleiteten Salons, gewirkt (siehe Fn. 36). In der akademischen Philosophie sind sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch zahlreich und in wachsendem Maße vertreten (siehe etwa Ben Saïd-Cherni, Zeineb: “Les femmes philosophes en Tunisie”, in: Fathi Triki et Rachida BoubakerTriki (éds.): Philosopher en Tunisie Aujourd’hui = Rue Descartes 61 (2008), S.105-110). Abdel Halim Atteya, Ahmed: “Naguib Mahfouz et la Philosophie”, in: Dogma – Revue de Philosophie et de Sciences Humaines (Okt. 2012), S.1-40; Mahfouz, Naguib: On Literature and Philosophy, translated by Aran Byrne, London: Gingko Library, 2016; Machfus, Nagib: Die Kinder unseres Viertels, aus dem Arabischen übersetzt und mit einem Nachwort von Doris Kilias, Zürich: Unionsverlag, 2006. Popp, Stephan: Muhammad Iqbal, ein Philosoph zwischen den Kulturen, Trier: Bautz, 2007.
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zu einem begeisterten Heideggerianer wurde, hat der Islamischen Revolu4 tion in Iran (1979) geistige Impulse gegeben. Die Realisierung der Reihe erscheint angesichts der Ereignisse in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts nur umso drängender. Die unter einem muslimischen Banner weltweit und in Irak und Syrien territorialherrschaftlich agierenden Terroristen und der Diktaturen-Backlash nach dem Arabischen Frühling lassen alle Muslime und Bewohner der MENA-Region in düsterstem Licht erscheinen. Zu einer gefährlichen Verallgemeinerung der negativen Wahrnehmung und Verurteilung des Islam und seiner Anhänger tragen in westlichen Ländern Bewegungen wie Pegida und die erstarkenden fremdenfeindlichen, insbesondere antiislamischen Populisten bei. Zugleich versuchen zahlreiche Initiativen, der Verengung von ,Islam‘ auf ein ahistorisches, mit Mitteln maßloser Gewalttaten erkämpftes Wahngebilde und dessen Vereinnahmung als wahre Essenz des Islam einerseits und seinem Spiegelbild, der Verteufelung aller Muslime, andererseits entgegenzuwirken. Dazu gehören beispielsweise die dialogzentrierten Initiativen wie die Deutsche Islamkonferenz oder das Schweizerische Zentrum Islam und Gesellschaft sowie die neuen Studiengänge Islamische Theologie und Islamische Religiöse Studien, die sich um ausgewogene Darstellungen und Sichtweisen des Islam bemühen. ,Islam‘ ist dabei allerdings meist weiterhin die Hauptbezugsgröße, und so wird das Muslimsein qua Geburt oder kulturellem Hintergrund zum wesentlichen identitätsstiftenden Element erhoben. Diese Wahrnehmung übersieht, dass die Zugehörigkeit zum Islam nur eines unter vielen Persön5 lichkeitsmerkmalen darstellt. Zudem werden der Bezeichnung ,Islam‘ je nach Zeit und Standort unterschiedliche, ja diametral gegensätzliche Be6 deutungen zugewiesen, wie derzeit unübersehbar ist. Diese Buchreihe soll zur Dezentrierung unserer islamozentrischen Wahrnehmung des Nahen und Mittleren Ostens beitragen. Sie bietet jenem philosophischen Denken eine Plattform, das seit der zweiten Hälfte 4
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Mirsepassi, Ali: Political Islam, Iran and the Enlightenment – Philosophies of Hope and Despair, Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2011, S. 85, 116. Mit den iranischen Heideggerianern befasst sich Urs Gösken (Universität Bern) in seinem derzeitigen Habilitationsprojekt. Vgl. Sen, Amartya: Identity and Violence – The Illusion of Destiny, New York/London: Norton & Co, 2006 (Übersetzung: Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt; aus dem Englischen von Friedrich Griese, München: Beck, 2007). Al-Azmeh, Aziz: Islams and Modernities, London/New York: Verso-New Left Books, 1993 (Übersetzung: Die Islamisierung des Islams – Imaginäre Welten einer politischen Theologie, aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz, Frankfurt a.M./New York: Campus, 1996).
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des 19. Jahrhunderts in Beirut, Fes, Istanbul, Jerusalem, Kairo, Kalkutta, Lahore, Teheran oder Tunis in Erscheinung tritt, sich mit den Herausforderungen ,moderner‘ Wissenschaften, Techniken, Werte und Ansprüche auseinandersetzt und dabei religiöse, moralische, kulturelle, rechtliche, soziale und ästhetische Traditionen neu reflektiert. Dieses Denken umfasst Positionen, die an Traditionen anknüpfen, und solche, die sich ganz aus ihnen lösen und eigene philosophische Entwürfe oder ein offenes, der Kritik verpflichtetes Philosophieren dagegensetzen. Es lädt damit in vielfacher Weise zu einer kulturübergreifenden systematischen Diskussion ein. Eine solche argumentativ gestützte Auseinandersetzung über zeitgleiche wie auch zeitversetzte gemeinsame Fragen und Probleme oder auch über fremd oder befremdend anmutende Ideen anzuregen, ist ein weiteres Ziel dieser neuen Buchreihe. Naher Osten – Moderne – Philosophie Die im Titel der Reihe vorkommenden Begriffe «Naher Osten», «Moderne» und «Philosophie» sind, wie alle Begriffe, verständnisgebunden und werden oft – und vielleicht zwingendermaßen – unterschiedlich aufgefasst. Die hier intendierten Bedeutungen sollen daher kurz umrissen werden. Naher Osten
Das geographische Schlagwort «nahöstlich» bzw. «Middle East» ist als ein pars pro toto für Naher und Mittlerer Osten inklusive Südasien und Nordafrika zu verstehen. Diese Gebiete werden oft als islamische Welt, Maschrek und Maghreb und neuerdings auch als MENA-Region (Middle East and North Africa) bezeichnet, wobei der muslimische Subkontinent und Südostasien häufig ausgegrenzt bleiben. «Naher und Mittlerer Osten» sowie insbesondere ihre englischen Entsprechungen «Near East» und «Middle East» sind eurozentrische, ursprünglich kolonialistische Ter7 mini und haben diese Erblast noch nicht vollends abgeschüttelt. Dieses Vokabular wurde und wird aber in seinen unter anderen arabischen, türkischen, persischen Entsprechungen in den Regionen selbst unentwegt 8 benutzt und offenbar nicht oder kaum negativ konnotiert. Gegenüber 7
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Jüngst hat der populäre und kontrovers rezipierte iranisch-stämmige Intellektuelle Hamid Dabashi darauf in seiner Monographie Post-Orientalism – Knowledge and Power in Time of Terror, (New Brunswick/London: Transaction Publishers, 2009, S. 209-227) mit verschiedenen, eklatanten Beispielen hingewiesen. Es finden sich auch dezidierte Fürsprecher des Konzeptes «Middle East». Sadik al-Azm beispielsweise verteidigt es angesichts von Bestrebungen, es durch «West Asia» zu er-
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dem Ausdruck «islamische Welt» hat es den Vorteil, die religiös- oder kulturkonnotierte Komponente nicht in den Vordergrund zu stellen, was 9 mit Blick auf die Philosophie besonders wichtig erscheint. Eine Reihe nahöstlicher Philosophen sind konfessionslos, christlichen oder jüdischen Glaubens und in verschiedenen kulturellen Kontexten aufgewachsen. Nicht die Frage der Religion, Konfession oder Konfessionslosigkeit und des kulturellen Hintergrunds, sondern die Grundlage und die Art des Argumentierens sind entscheidend. Philosophieren, so wie es in dieser Reihe verstanden wird, zielt «stets auf methodische, intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation ab» und schließt die «Berufung auf bloße Tradition, auf religiösen Glauben oder auf eine andere über der menschlichen 10 Vernunft angesetzte Autorität» als alleinige Basis der Begründung aus. Die Versammlung dieser Regionen respektive ihrer Philosophen unter dem Begriff «nahöstlich» bzw. «Middle East» als pars pro toto entbehrt dennoch keineswegs der Problematik, zumal die so bezeichnete Gegend vielfältige regionale Spezifika und unterschiedliche Sprachen vereint, die auch im 19. Jahrhundert keine wie auch immer geartete Einheit bildeten. Sie rechtfertigt sich hier zum einen durch eine stark verflochtene Geistesgeschichte und zum anderen durch gemeinsame Erfahrungshorizonte im 19. und 20. Jahrhundert, wie Imperialismus und Kolonialismus, Dekolonialisierung und Modernisierung unter vergleichbaren Bedingungen und mit ähnlichen Konsequenzen. Auf der normativen Ebene ist das Streben
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setzen, und bringt dafür unter anderem die vielfältigen Verbindungen zu Ägypten und zur mediterranen Kultur in Anschlag (Al-Azm, Sadik J.: “Orientalism and Conspiracy”, in: Ders.: Is Islam Secularizable? Challenging Political and Religious Taboos, Berlin: Gerlach Press, 2014 (12011), S. 70-71). Vgl. Georges Corm, der sich mit Blick auf die ökonomische, soziale und politische Geschichte für die Denomination «Naher Osten» und gegen «Muslimische Welt» ausspricht (Corm, Georges: Le Proche-Orient Éclaté 1956-2012, 2 Bde., Paris: Gallimard, 7 2012, Bd.1, S. 65-103; 187-207.); Ders.: Pensée et politique dans le monde arabe – Contextes historiques et problématiques, XIXe-XXIe siècle, Paris: La Découverte, 2015. Franz Martin Wimmer, von dem diese Formulierung übernommen ist, fasst die Ausschlusskriterien noch schärfer, insofern er keine Einschränkung der Legitimationsbasis vornimmt. Er lässt für philosophisches Argumentieren den Bezug auf sakrale Schriften oder andere, über die menschliche Vernunft gesetzte Autoritäten als Begründung nicht gelten (Wimmer, Franz Martin: Globalität und Philosophie – Studien zur Interkulturalität, Wien: Turia + Kant, 2003, S.116-117). Ich sehe hingegen keinen Anlass, einen zusätzlich zu einem Vernunftgrund angeführten Beweis auf der Grundlage religiöser Schriften auszuschließen. Wenn jemand zur Illustration seiner Position etwa auch auf den Koran, die Sunna oder die Bibel verweist, so bleibt das Argument doch primär vernunftgestützt. Wenn jemand dem Koran ein Argument entnimmt oder aus ihm eine Frage entwickelt, so ist entscheidend, ob er sich von der Berufung auf religiöse Autoritäten löst und seine Behauptung mit Vernunftgründen zu stützen versucht.
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nach Freiheit und Rechtsstaatlichkeit wie auch nach Emanzipation der Frau ein gemeinsamer Nenner der nahöstlichen Philosophen. Moderne
Das Verhältnis von globalen Entwicklungen der Moderne zu ihren unter11 schiedlichen lokalen Ausprägungen ist nicht eindeutig geklärt. Diese unterschiedlichen Ausprägungen machen die Rede von der einen, überall gleich nach westlichem oder europäischem Vorbild ausgestalteten Moderne obsolet. Gleichwohl kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass es eine Reihe von globalen Entwicklungen gibt, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunächst vorwiegend in Teilen Europas und im anschließenden imperialistischen 19. Jahrhundert in anderen Weltregionen ihre Wirkung entfalteten und eine «sprunghafte Veränderung in mensch12 licher Lebensorganisation und Erfahrung» erzeugten. Zu diesen Entwicklungen gehören die Bildung von Nationalstaaten, die Etablierung politischer Zentralgewalten, die durch die neuen Technologien ungeheuer beschleunigten und massiv ausgeweiteten globalen geschäftlichen und intellektuellen Verbindungen und die durch Industrialisierung und Urbanisierung bewirkte Durchlässigkeit bisheriger sozialer Ordnungen. All diese Faktoren führten zu «globaler Uniformität in Fragen des Staates, 13 der Religion, der politischen Ideologien und im Wirtschaftsleben». Uniformität bedeutete und bedeutet nicht Homogenität und schon gar nicht eine umfassende Akzeptanz dieser Entwicklungen. Diese wurden und werden vielmehr verschieden interpretiert, adaptiert oder auch zurück14 gewiesen, weshalb unter anderen von «lateinamerikanischer», «arabi15 scher» oder eben wie jetzt von «nahöstlicher» Moderne gesprochen wird. Doch hinterließen und hinterlassen Konzepte, Institutionen und soziale und ökonomische Prozesse wie Meinungs- und Pressefreiheit, 11 12 13 14 15
Vgl. Schwinn, Thomas: “Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht”, in: Zeitschrift fur Soziologie 38,6 (2009), S. 454-476. Bayly, Christopher A.: Die Geburt der modernen Welt – Eine Globalgeschichte 1780-1914, aus dem Englischen von Thomas Bertram und Martin Klaus, Frankfurt/New York: Campus, 2008, S. 24. Bayly, Die Geburt (Fn.12), S.13. Echeverría, Bolívar: “Moderne in Lateinamerika”, in: Schelkshorn, Hans / Ben Abdeljelil, Jameleddine (Hg.): Die Moderne im interkulturellen Diskurs, Weilerswist: Velbrück Verlag, 2012, S.109-126. Mesbahi, Mohamed: “Das Recht auf Modernität als gemeinsamer Raum zwischen den Kulturen”, in: Schelkshorn / Ben Abdeljelil (Hg.): Die Moderne (Fn.14), S. 86-98, hier S. 94, 97.
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Rechtsgleichheit, Parlamentarismus, Produktivitätssteigerung, Rationalisierung und Technisierung auch bei jenen, die sich ihrer erwehren, deutliche Spuren, und so entstammen auch die Argumente des Gegendiskurses 16 häufig der geistigen Schmiede westlicher Modernekritiker. Das gilt auch für den sogenannten Postmodernismus, der sich gegen die ,aufgeklärte‘ Zivilisierungsmission in den antikolonialen Befreiungskämpfen engagiert 17 und die Geschichte der ,Machtlosen‘ schreibt. Seine Autoren betonen Fragmentierungen, Diskontinuitäten und Differenzen der Gesellschaften und einzelner gesellschaftlicher Gruppen gegenüber der globalen Uniformisierung. Sie rekurrieren dabei indes auch auf allgemeine Konzepte wie «Staat», «Religion» oder «Kolonialismus» und auf implizite politische 18 oder moralisierende Meta-Erzählungen. Vor allem aber im Sinne einer fortschreitenden Vernunftkritik kann der Postmodernismus als Teil des 19 «unvollendeten Projekts» der Moderne angesehen werden. «Moderne» wird im Reihentitel dementsprechend als ein Epochenbegriff verwendet. In diesem Sinne gebrauchen ihn ebenso nahöstliche Intellektuelle, darunter viele Philosophen, wobei sie in einem seit den 1970er Jahren heftig geführten Streit um «Moderne und Authentizität» 16
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Außerhalb Europas und der USA sind wesentliche Elemente dieser ,innerwestlichen‘ Modernekritik Teil einer den Westen pauschal verunglimpfenden und entmenschlichenden Haltung, weshalb Ian Buruma und Avishai Margalit diese Haltung in Analogie zum «Orientalismus» im Saidschen Sinne der Dehumanisierung aller Orientalen als «Okzidentalismus» charakterisieren (Buruma, Ian / Margalit, Avishai: Occidentalism. A Short History of Anti-Westernism, London: Atlantic Books, 2004). Die Problematik des nicht zuletzt durch Edward Said und Michel Foucault in Gang gesetzten «going native» sowohl westlicher wie auch nicht-westlicher Akademiker, die durch ihre ,verständnisvolle‘ Interpretation von auf ihre Authentizität pochenden islamistischen Gruppierungen diesen – selbstredend in guter Absicht – Rückendeckung verschafften, zeigen Mona Abaza und Georg Stauth auf (Dies.: “Occidental Reason, Orientalism, Islamic Fundamentalism: A Critique”, in: International Sociology 3,4 (1988), S. 343-364). Daraus resultierte eine ,grimmige Attacke‘ auf Intellektuelle der Dritten Welt, die für Säkularisierung plädieren (ebd., S. 345; 354). Ähnliches konstatierte al-Azm: “Orientalism and Conspiracy” (Fn. 8), S. 57-85. Vergleiche auch Samuel Schirmbeck: Der islamische Kreuzzug und der ratlose Westen – Warum wir eine selbstbewusste Islamkritik brauchen, Zürich: Orell Füssli, 2016; er lässt darin zahlreiche Muslime zu Wort kommen, die gegen Kulturrelativismus ankämpfen und Islamkritik «nicht als Beleidigung, sondern als Unterstützung» empfinden (ebd., S.10). Siehe auch Elham Manea: Women and Shariʿa Law – The Impact of Legal Pluralism in the UK, London/New York: I.B. Tauris, 2016. Sie charakterisiert die Fürsprecher der Einführung des islamischen Rechts zum Schutze der muslimischen Minderheiten als «Essentialisten», die übersehen, dass eben dieses Recht einige der in der UN-Menschenrechtscharta verbürgten Rechte missachtet (ebd., S. 8-9). Vgl. Bayly, Die Geburt (Fn.12), S. 21-23. Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH Acta Humaniora, 1987; Habermas, Jürgen: “Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980)”, in: Ders.: Kleine politische Schriften (I-IV), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, S. 444-464.
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keineswegs alle auf der Seite der Universalisten stehen. Darüber hinaus 21 dient «Moderne» einigen auch als «Gattungs- und Wertbegriff», zum Beispiel wenn vormoderne, heteronomie-kritische muslimische Dichter 22 und Denker als «modern» qualifiziert werden. Philosophie
«Islamische» oder «arabisch-islamische Philosophie» ist die häufigste Bezeichnung für Philosophie im Nahen und Mittleren Osten. Damit wird ein religiöser bzw. kultureller Faktor zur Kennzeichnung einer bestimmten Philosophie verwendet, der, wenn er als maßgebende Determinante verstanden wird, einer essentialistischen Deutung dieser Philosophie Vor23 schub leistet. Ein zeitgenössischer Philosoph nahöstlicher Herkunft wird dann, wie es Geert Hendrich zugespitzt zum Ausdruck bringt, als ein homo islamicus verstanden und nicht «als Vertreter einer bestimmten 24 philosophischen Position». Das Philosophieren, so die heuristische Vorannahme dieser Buchreihe, wird jedoch neben der Herkunftsreligion bzw. -kultur von zahlreichen weiteren Rahmenbedingungen geprägt. Dazu zählen Alter, Geschlecht, Veranlagung, Sprache, Familie, Ausbildung sowie ebenfalls rechtliche, soziale und politische Bedingungen. Erst der individuelle Umgang mit ihnen, die je eigenen Erfahrungen, Reflexionen, Diskussionen und Anstrengungen können aber in philosophischen Fragen und Projekten münden. 20
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Siehe al-Azmeh, Aziz: “The Discourse of Cultural Authenticity: Islamist Revivalism and Enlightenment Universalism”, in: Deutsch, Eliot (Hg.): Culture and Modernity. EastWest Philosophic Perspectives, Honolulu: University of Hawaii Press, 1991, S.468-486; Boroujerdi, Mehrzad: Iranian Intellectuals and the West – The Tormented Triumph of Nativism, Syracuse: Syracuse University Press, 1996; Scheffold, Margot: Authentisch Arabisch und dennoch modern? Zakī Naǧīb Maḥmūds kulturtheoretische Essayistik zum euro-arabischen Dialog, Berlin: Klaus Schwarz, 1996; Vahdat, Farzin: God and Juggernaut – Iran‘s Intellectual Encounter with Modernity, Syracuse: Syracuse University Press, 2002. Gumbrecht, Hans Ulrich: “Modern, Modernität, Moderne”, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Kosellek, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett, 1978, S. 93-131, hier S.123. Ein auf Deutsch zugängliches Beispiel ist Adonis: Wortgesang – Von der Dichtung zur Revolution, aus dem Arabischen von Rafael Sanchez Nitzl, hg. von Stefan Weidner, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2012, S. 113-119. Zu dieser Problematik: Rudolph, Ulrich: “Einleitung”, in: Ders. (Hg.) unter Mitarbeit von Renate Würsch: Philosophie in der islamischen Welt, Bd.1: 8.-10. Jahrhundert, Basel: Schwabe, 2012 (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, völlig neu bearbeitete Ausgabe, hg. v. Helmut Holzhey), S. xxvi-xvii. Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, S. 8.
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Kulturspezifische Faktoren sollen hier keineswegs ausgeblendet werden, sie jedoch von vorneherein als dominante ,Marker‘ zu setzen, wird den Personen und ihren Themen nicht gerecht. Entsprechende Vorsicht 25 wird auch für die komparative Philosophie eingefordert. Das Spektrum dessen, was in dieser Buchreihe zur Philosophie gerechnet wird, orientiert sich an den in Europa wie in der MENA-Region mehrheitlich vertretenen Kriterien; diese Orientierung schließt aber die Berücksichtigung anderer Philosophiekonzepte nicht aus. Eine gewisse Kongruenz dieser Kriterien rührt von den gemeinsamen philosophischen Wurzeln in der griechischen Antike, ähnlichen Reibungs- und Inspirationsquellen und dem im lateinischen Mittelalter vornehmlich von Ost nach West und seit Beginn der Kolonialzeit vornehmlich von West nach 26 Ost verlaufenden Ideentransfer. Die Ablösung zahlreicher ehemals zur Philosophie im weiteren Sinne zählenden Natur- und Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert und ihre Etablierung als selbstständige Fächer sind auch im Nahen und Mittleren Osten, in der Regel mit der Etablierung von Universitäten nach westlichem Muster, nachvollzogen worden. Dabei überschneiden sich bisweilen die zu Theologie und Mystik, zu Literatur sowie zu politischer Theorie oder auch zu Ideologie gezogenen Grenzen. So werden Lehren muslimischer Mystiker beispielsweise 27 mit philosophischem Materialismus und modernen Subjekttheorien 28 parallel gesetzt oder zur höchsten Reflexionsstufe, der auf das absolute 29 Ego (= Gott) gerichteten Introspektion, erklärt. Die Curricula der an staatlichen Universitäten dieser Regionen unterrichteten Philosophie weisen je nach politischer Geschichte des einzelnen Landes eine eher angelsächsische oder kontinentale Ausrichtung auf und 25 26
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Die Argumente von Ralph Weber für dieses caveat (“Comparative Philosophy and the Tertium: Comparing What with What, and in What Respect?”, in: Dao 13 (2014), S.151171) werden hier ebenso für die Philosophie der geplanten Buchreihe geltend gemacht. Die Geschichte dieser Übereinstimmungen ist vielfach nachgezeichnet worden. Konzise Überblicke geben Turki, Mohamed: Einführung in die arabisch-islamische Philosophie, Freiburg/München: Karl Alber, 2015 (mit einem besonders ausführlichen Kapitel zum 19. und 20. Jahrhundert) und Rudolph, Ulrich: Islamische Philosophie – Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: Beck, 32013. Siehe im vorliegenden Band den Text von Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde, S.141. Badawī, ʿAbdarraḥmān: “Audjuh at-talāqī baina t-taṣawwuf al-islāmī wal-maḏhab al-wudjūdī”, in: al-Insāniyya wal-wudjūdiyya fī l-fikr al-ʿarabī, Kuwait/Beirut 1403 h.q./1982, S. 71-106 (1. Ausgabe: Kairo 1947). Iqbal, Muhammad: Six Lectures on the Reconstruction of Religious Thought in Islam, Oxford: Oxford University Press 1934 (1. Ausgabe: Lahore 1930), Kap. 7 (“Is Religion Possible?”), S.171-188.
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unterscheiden sich wiederum von diesen beiden durch die Möglichkeit, sich auf «islamische Philosophie» zu spezialisieren. Unterrichtet werden, wie an philosophischen Instituten weltweit üblich, logisches Denken, praktische und theoretische Philosophie mit ihren verschiedenen Teildisziplinen und Richtungen sowie Philosophiegeschichte. Insbesondere in den 1930er und 1940er Jahren wurden die Lehrstühle nicht selten mit ausländischen Professoren besetzt. Dazu zählten unter anderen André Lalande und Alexandre Koyré an der Universität Kairo, Hans Reichen30 bach und Ernst von Aster in Istanbul und Henry Corbin in Teheran. An den wenigen noch verbleibenden traditionellen Bildungseinrichtungen gehören – je nach Land – unterschiedliche Werke muslimischer Philosophen zum Repertoire, werden aber in Iran und arabischen Staaten zunehmend durch Standardwerke westlicher Philosophie ergänzt. Entwicklungstendenzen und philosophische Grundhaltungen Bestimmend für die Entwicklung der Philosophie in der nahöstlichen Moderne ist die Hegemonie westlicher Länder. Hegemonie meint hier zum einen direkte politische und wirtschaftliche Herrschaft oder Einflussnahme und deren jeweilige Folgen, zum anderen aber auch die damit teilweise gekoppelte kulturelle Vormachtstellung und ,zivilisatorische 31 Mission‘. Diese Vormachtstellung sahen und sehen die nahöstlichen Philosophen ebenso wie die übrige intellektuelle und die politische Elite der jeweiligen Staaten mehrheitlich als eine herausfordernde Konkurrenz und einen Ansporn an. Als Hauptursachen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz des Westens diagnostizieren sie dabei primär die modernen Wissenschaften, Philosophien und Techniken und – wenn überhaupt, dann oft nur sekundär – soziale und wirtschaftliche Strukturveränderungen. 30
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Siehe Di-Capua, Yoav: “Arab Existentialism. An Invisible Chapter in the Intellectual History of Decolonization”, in: American Historical Review 117,4 (2012), S.1061-91, hier: S.1065; Irzık, Gürol: “Hans Reichenbach in Istanbul”, in: Synthese 181 (2011), S.157-180; Van den Bos, Matthijs: “Transnational Orientalism. Henry Corbin in Iran”, in: Anthropos 100 (2005), S.113-125; “Philosophie als Abwehr der ‘Westbefallenheit’ – Interview mit Hermann Landolt von Urs Gösken und Renate Würsch”, in: Moser, Kata / Seidel, Roman (Gastherausgeber): SGMOIK/SSMOCI Bulletin 42 Philosophie/La philosophie (2016), S. 21-24. Einen umfassenden Überblick bieten Lapidus, Ira M.: A History of Islamic Societies, Berkeley: Cambridge University Press, 32014, Teil IV und Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart, München: Beck, 2016.
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Dementsprechend setzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bis heute andauernde Rezeption wissenschaftlicher, philosophischer und literarischer vor allem englisch-, französisch- und deutschsprachiger Werke ein. Ein Vergleich mit der Rezeption der Werke griechischer Philosophie und Wissenschaft im 8.–10. Jahrhundert, die ins Arabische übersetzt und in Gelehrtenkreisen sowie am herrschaftlichen Hof diskutiert wurden, erscheint naheliegend; die Situationen unterscheiden sich jedoch 32 immens. Während Anregung und Finanzierung der Übersetzung damals auf politische Würdenträger und Gelehrte beschränkt blieben, sind im 20. und 21. Jahrhundert Verlagshäuser, internationale Organisationen, akademische Institutionen und Privatinitiativen hinzugetreten. Zudem wuchs und wächst die Zahl derer, die eine oder mehrere europäische Sprachen beherrschen. Blieben Poesie und Theaterstücke seinerzeit unübersetzt, gehört Belletristik, aber auch griechische Dramen von philosophischer 33 Tragweite seit dem 19. Jahrhundert zu den besonders beliebten über34 setzten und frei adaptierten Stoffen. Vor allem aber ist der Rezipientenkreis nicht mehr nur auf eine kleine Elite beschränkt. Dazu tragen neben der – wenn auch nicht flächendeckend erfolgten – Durchsetzung der Alphabetisierung und Schulpflicht durch die modernen Staaten besonders die neuen Medien bei, die Wissenschaftliches, Philosophisches und Literarisches berichtend und paraphrasierend verbreiten. Im 19. Jahrhundert sind das Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, und im 20. Jahrhundert treten Hörfunk, Fernsehen und schließlich das Internet dazu. 32
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Zu den Unterschieden mit Blick auf das 19. Jahrhundert siehe Peled, Mattityahu: “Creative Translation: Towards the Study of Arabic Translations of Western Literature since the 19th Century”, in: Journal of Arabic Literature 10 (1979), S.128-150; siehe auch die folgenden zwei Fußnoten. Zu den Übersetzungen des 8.–10. Jahrhunderts siehe Endress, Gerhard: “Die wissenschaftliche Literatur”, in: Gätje, Helmut (Hg.): Grundriß der Arabischen Philologie, Bd. 2: Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Reichert, 1987, S. 416-431, und Gutas, Dimitri: “Die Wiedergeburt der Philosophie und die Übersetzungen ins Arabische”, in: Rudolph, Philosophie (Fn. 23), S. 55-91. Etwa Ödipus und weitere Tragödien des Sophokles in der Übersetzung des einflussreichen ägyptischen Intellektuellen und zeitweiligen Erziehungsministers Ṭāhā Ḥusain (1889–1973) und spätere Adaptionen (Porman, Peter E.: “The Arab ‘Cultural Awakening (Nahḍa)’, 1870–1950, and the Classical Tradition”, in: International Journal of the Classical Tradition 13 (2006), S. 3-20; Carlson, Marvin (Hg.): The Arab Oedipus – Four plays from Egypt and Syria, New York: Martin E. Segal Theatre Center Publications, 2005). Strauss, Johann: “Who Read What in the Ottoman Empire (19th-20th centuries)?”, in: Middle Eastern Literatures 6,1 (2003), S. 39-76; Strauss, Johann: “Romanlar, Ah! O Romanlar! Les débuts de la lecture moderne dans l’Empire Ottoman (1850–1900)”, in: Turcica, Revue des études turques 26 (1994), S.125-163. http://www.kalima.ae/ar/Default. aspx (letzter Zugriff 7.2.2016); http://www.poliglotti4.eu/docs/Publis/A_Mapping_of_ Translation_in_the_Euro-Mediterranean_Region.pdf (letzter Zugriff 7.2.2016).
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Die Rezeption westlicher philosophischer Ideen und Schriften der Neuzeit und Moderne begann im 19. Jahrhundert während staatlich organisierter Studienexpeditionen nach Paris und durch Auslandsaufenthalte von Diplomaten oder Exilanten. Häufig in direktem Zusammenhang oder auf derlei Auslandsaufenthalten aufbauend, wurden bereits in den 1830er Jahren in Istanbul, Kairo und Teheran technische und medizinische Insti35 tute eingerichtet. Hinzu kamen literarische Salons als Foren des intel36 lektuellen Austauschs und seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kulturzeitschriften wie al-Muqtaṭaf (Das Ausgewählte). In dieser 1876 gegründeten Zeitschrift wurden beispielsweise höchst kontrovers darwinistische Ideen diskutiert und, nach Umzug der Zeitschrift von Beirut nach Kairo 1884, dezidiert die Ideen Herbert Spencers einem arabischen Publi37 kum unterbreitet. Später kamen philosophische Fachzeitschriften auf – die ersten osmanisch-türkischsprachigen (Istanbul und Thessaloniki) bereits um 1913, die erste arabischsprachige allerdings erst 1967 (Casablan38 ca, Rabat). Die reguläre Lehre neuzeitlicher und moderner Philosophie Seite an Seite mit islamischer Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung setzte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit der Etablie39 rung von Universitäten nach westlichen Vorbildern ein. Sie ist in Kon35
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Mardin, Ş̣erif: The Genesis of Young Ottoman Thought: A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Syracuse: Syracuse University Press, 2000; Jeddi, Farideh: Politische und kulturelle Auswirkungen des Auslandsstudiums auf die iranische Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Unter Berücksichtigung der iranischen Stipendiaten in Westeuropa (1812–1857), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang, 1992; Heyworth-Dunne, James: An Introduction to the History of Education in Modern Egypt, London: Luzac & Co., 1938. Watenpaugh, Keith David: Being Modern in the Middle East: Revolution, Nationalism, Colonialism, and the Arab Middle Class, Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2006, S. 52-54 (der Salon von Maryānā al-Marrāsh); Haroun, Georges: Šiblī Šumayyil: une pensée évolutionniste arabe à l'époque d'an-nahda. Beirut: Librairie Orientale, 1985, S. 61-65 (philosophische Diskussionen mit der hochgebildeten Saloninhaberin Mayy Ziyāda). Sie erschien 1876–1884 in Beirut, 1884–1952 in Kairo (Glaß, Dagmar: Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit – Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitungskommunikation, 2 Bde., Würzburg: Ergon, 2004). Alkan, Mehmet Ö.: “Turkiye’nin İlk Felsefe Dergisi: Felsefe Mecmuası”, in: Tarih ve Toplum 66 (1989), S. 49-56; siehe den Beitrag von Enur Imeri “Baha Tevfiks Vision einer religionsfreien Gesellschaft” in diesem Band, S. 269. Arabischsprachige philosophische Fachzeitschriften mit teilweise sehr kurzer Erscheinungsdauer gab es mindestens 15, von denen heute lediglich zwei noch bestehen, siehe dazu Kata Moser: Akademische Philosophie in der arabischen Welt. Infrastruktur – Periodika – Inhalte (Philosophie in der nahöstlichen Moderne Bd. 2,), Berlin: Klaus Schwarz, zu erscheinen 2017. Moser, Akademische Philosophie in der arabischen Welt (Fn. 38). Zum Philosophieunterricht in arabischen Ländern seit etwa 1990 bis heute siehe den von ʿAfīf ʿUthmān herausgegebenen Sammelband Ḥāl tadrīs al-falsafa fī l-ʿālam al-ʿarabī (madjmūʿa min albāḥithīn), Byblos: Centre International des Sciences de l’Homme (CISH-UNESCO),
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kurrenz zu den islamischen Hochschulen, den Medresen getreten, an denen Philosophie (arab. ḥikma) traditionellerweise in den «rationalen Wissenschaften», wozu auch Logik und Theologie (arab. ʿilm al-kalām) zählten, unterrichtet wurde. Viele Medresen wurden allerdings im Verlaufe 40 des 20. Jahrhunderts in Universitäten umgestaltet. In einigen Lehrstätten, insbesondere im muslimischen Südasien, wird Philosophieunterricht 41 jedoch bis heute in weitgehend traditioneller Weise fortgeführt. Weitere Orte, an denen Philosophie erörtert wird, sind formelle philosophische Gesellschaften und informelle Zusammenschlüsse von Philosophen. Diese kamen zuerst in Indien auf, inzwischen existieren sie in einer Reihe von Ländern mit eigenen Publikationsorganen und zahlreichen Veranstal42 tungen. Seit einigen Jahren bemühen sie sich besonders intensiv um die Pflege und Sichtbarmachung der zeitgenössischen nahöstlichen Philosophie. So erschienen seit 2010 mehrere Überblickswerke zur zeitgenössi43 schen Philosophie in der Türkei und in arabischen Ländern.
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2015. Einige Grundtendenzen der Entwicklung der Philosophie an iranischen Universitäten benennt Meysam Sefidkosh: “The Current State and Possible Future of Philosophy in Iran”, in: Moser/Seidel, SGMOIK/SSMOCI Bulletin 42, S. 25-27. Die al-Azhar in Kairo beispielsweise, die größte und berühmteste zunächst ismailitische und seit 1171 sunnitische Medrese, wurde 1961 zu einer staatlichen Universität ausgebaut und um zahlreiche weltliche Fächer erweitert (Lemke, Wolf-Dieter: Maḥmūd Šaltūt (1893-1963) und die Reform der Azhar – Untersuchungen zu Erneuerungsbestrebungen im ägyptisch-islamischen Erziehungssystems, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang, 1980). Das Repertoire des Philosophieunterrichts wurde dabei erheblich erweitert. In den klassischen Hallen (arab. arwiqa) sind inzwischen auch lange Zeit als Häretiker oder Heuchler verpönte Philosophen wie al-Fārābī und Ibn Rushd zugelassen und an der Fakultät für Humanwissenschaften wird ein breites Spektrum griechischer und moderner Philosophie, unter anderem Utilitarismus, Phänomenologie, Existentialismus, analytische Philosophie und Religionsphilosophie unterrichtet (Rashīd, Ṣalāḥ Ḥasan: “Tadrīs al-falsafa fī Miṣr”, in: ʿUthmān, Ḥāl tadrīs al-falsafa (Fn. 39), S. 485-507, hier, S. 492-494). Hartung, Jan-Peter: Viele Wege und ein Ziel – Leben und Wirken von Sayyid Abū lḤasan ʿAlī al-Ḥasanī Nadwī (1914–1999), Würzburg: Ergon, 2004, S. 51-68; Ders.: “Muslimisches Südasien”, in: Kügelgen, Anke von / Rudolph, Ulrich (Hg.) / Frey, Michael (Redaktor): Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 4: 19.–20. Jahrhundert, Basel: Schwabe, zu erscheinen 2018. (Grundriss der Geschichte der Philosophie). Eine der ersten Initiativen dieser Art war der Indian Philosophical Congress (IPC), der 1925 auf Betreiben des nachmaligen Staatspräsidenten Indiens Sarvapallī Rādhākṛṣṇan (gest. 1975) in Kalkutta ins Leben gerufen wurde (Hartung, Muslimisches Südasien (Fn. 41)). Zahlreiche Staaten haben inzwischen eigene philosophische Gesellschaften. Zu jenen in arabischen Ländern siehe Moser, Akademische Philosophie in der arabischen Welt (Fn. 39). Alpyağıl, Recep (Hg.): Turkiye’de Bir Felsefe Gelen-ek-i Kurmaya Çalısmak, 2 Bde., Istanbul: İz Yayıncılık, 2010; Turkiye Arastırmaları Literatur Dergisi 9/17 (2011) – Türk Felsefe Tarihi; al-Miskīnī, Fatḥī (Hg.): al-Falsafa al-ʿarabiyya al-muʿāṣira, Rabat [u.a.]: Editions El-Ikhtilef / Dār al-Amān / Manshūrāt Ḍifāf, 1435/2014 (Mausūʿat al-Abḥāth al-Falsafiyya lir-Rābiṭa al-ʿArabiyya al-Akādīmiyya lil-Falsafa); al-ʿAṭiyya, ʿAbdalḥalīm (Hg.):
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Die Vermittlung philosophischer, nicht in den eigenen Landessprachen verfasster Texte erfolgte über Zusammenfassungen in Lehrbüchern und durch Zugrundelegung der Originale bzw. französischer oder englischer Übersetzungen. Übersetzungen in die Landessprachen gab es zwar vereinzelt schon im 19. Jahrhundert, in großer Zahl werden die Werke europäischer und US-amerikanischer Philosophen jedoch erst im Verlaufe des 20. Jahrhunderts und insbesondere in den letzten Jahrzehnten über44 setzt Viele der bei uns als klassisch geltenden Schriften liegen inzwischen in mehrfachen Übersetzungen vor. Kants «Kritik der reinen Vernunft» erschien 1941 auf Urdu, auf Arabisch 1965, auf Persisch 1983, neue Übersetzungen folgten 1988 und 2013 ins Arabische und 2011 ins Persi45 sche. Ein ähnliches Bild ergibt sich für Kants übrige Werke. Auch zahlreiche weitere, nicht zuletzt zeitgenössische westliche Philosophen wurden umfassend in nahöstliche Sprachen übersetzt, etwa Michel Fou46 cault, Jacques Derrida – auf Türkisch erschienen bereits fast alle seine 47 Schriften – oder Jürgen Habermas, dessen Hauptschriften auf Arabisch,
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Mausūʿat al-Falāsifa al-ʿArab al-Muʿāṣirīn, 2 Bde., Kairo: Iṣdārāt Multaqā l-Falāsifa alʿArab, 2016; El-Bizri, Nader (Hg.): Practicing Philosophy in Lebanon: Authors, Texts, Trends, Traditions, Beirut: Orient-Institut Beirut – Dar al-Farabi, 2017; u.a. In Südasien allerdings sind Übersetzungen noch selten, da Englisch dort weiterhin die offizielle Verwaltungs- und Unterrichtssprache ist. Zu Übersetzungen ins Persische im 19. Jahrhundert siehe Seidel, Roman: “Early Translations of Modern European Philosophy. On the Significance of an under-researched Phenomenon for the Study of Modern Iranian Intellectual History”, in: Ali Ansari (ed.): Iran’s Constitutional Revolution and Narratives of the Enlightenment, London: Gingko Library, 2016, S. 207-229. Frey, Michael / Aly, Aysun: “Kant auf Arabisch: Übersetzungsprobleme und deren Lösungen durch die Übersetzer der Schriften: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? und Kritik der reinen Vernunft”, in: Asiatische Studien / Études Asiatiques 64 (2010), S. 535-579 (es folgte 2013 eine Übersetzung von Ġānim Hanā: Naqd al-ʿaql al-maḥḍ, Beirut: Markaz Dirāsāt al-Waḥda al-ʿArabiyya); Seidel, Roman: Kant in Teheran – Anfänge, Ansätze und Kontexte der Kantrezeption in Iran, Berlin/München/ Boston: De Gruyter, 2014. Foucault unterrichtete zwei Jahre, 1966 bis 1968, an der Universität Tunis und hinterließ dort bis heute wirksame Spuren (Boubaker-Triki, Rachida: “Notes sur Michel Foucault à l’université de Tunis”, in: Rue Descartes 61 (Fn.1), S.111-113). Zu seinen Übersetzern zählt die international bekannte Derrida-Spezialistin Zeynep Direk. Sie übertrug unter anderem La Pharmacie de Platon (Platon’un Eczanesi), Les fins de l‘homme (Insanın Sonları / Erekleri) und Violence et Métaphysique (Siddet ve Metafizik) ins Türkische. Direk denkt auch seine praktische Philosophie, Europa und seine heutige Politik kritisierend im Sinne eines «neuen kosmopolitischen Universalismus» (S.146) weiter (Direk, Zeynep: “The European Ideal in the Face of the Muslim Other”, in: Isyar, Bora (ed.): Europe After Derrida, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2013, S.134-48; in dem Aufsatz finden sich auch einige Hinweise auf die DerridaRezeption in der Türkei).
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Persisch und Türkisch vorliegen. Einige Schriften sind sogar mehrfach 49 übersetzt worden, so beispielsweise Heideggers «Sein und Zeit», «Was 50 ist das – die Philosophie?» und «Was ist Metaphysik?», und auf die erste türkische Übersetzung von Nietzsches «Also sprach Zarathustra» 51 1934 folgten zehn weitere, 2008 die bisher jüngste. Die Ursachen für diese exponentiell angewachsene Zahl von Übersetzungen sind vielfältig. Neben einem gestiegenen Interesse an westlicher Philosophie zählen dazu größere Absolventenzahlen sowie bessere Informationsmöglichkeiten, das Bedürfnis nach präziseren Begriffen und – im Maghreb – die Arabisierung der Philosophie, d.h. vor allem der Philosophiekurse und -lehrbücher, die bis in die 1970er Jahre auf Französisch abgehalten bzw. 52 verfasst worden waren. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Förderung philosophischer Übersetzungen vor allem durch private bzw. zivilge53 sellschaftliche Initiativen. Das rege Übersetzen geht insgesamt mit einer verstärkten Arbeit am Begriff, der Schaffung neuer Begriffe und dem Experimentieren mit Begriffen einher. Es führt zu einer nun auch begrifflich fassbaren, deutlichen Distanznahme zu der philosophischen Terminologie eines Aristote48
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Zu seiner persischsprachigen Rezeption siehe Paya, Ali / Ghaneirad, Mohammad Amin: “Habermas and Iranian Intellectuals”, in: Iranian Studies 40 (2007), S. 305-334. Habermas’ Philosophie gewinnt in Iran mit Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich an Gewicht; allein die Zahl der Zeitschriftenartikel über sie stieg von drei im Jahre 1994 auf 75 im Jahre 2002 (ebd., S. 310, 312). Es wurde drei Mal ins Persische übersetzt: von Djamādī, Sīyāvash: Hastī va zamān, Teheran: Qoqnūs 1383 h.sh./2004; von Navālī, Mahmūd: Wodjūd va zamān, Tabrīz: Dāneshgāh-e Tabrīz, 1391 h.sh./2012 und von Rashīdīyān, ʿAbdolkarīm: Hastī va zamān, Teheran: Nashr-e ney, 1398 h.sh./2010. Auf Arabisch erschien es erst 2013: al-Maskīnī, Fatḥī (Übersetzung, Einleitung und Glossare): al-Kainūna waz-zamān, Beirut: Dār al-Kitāb alDjadīd al-Muttaḥida. Beide Texte wurden seit dem Beginn der arabischen Heideggerübersetzung 1963 bis heute gleich fünf Mal ins Arabische übertragen. Es liegen auch zahlreiche andere von Heideggers Schriften und Heidegger-Studien auf Arabisch vor (Moser, Kata: “La Réception Arabe de Heidegger”, in: Bulletin Heideggérien V (2015), S. 4-16). Zu weiteren ins Persische übertragenen Schriften Heideggers siehe ʿAbdolkarīmī, Bīzhan: Hāidegger dar Īrān, Teheran, 1392 h.sh./2013-14]. Gülperi, Sert: “Ein Einblick in Nietzsches Also sprach Zarathustra Übersetzungen in der Türkei”, in: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17 (2008), http://www.inst.at/trans/17Nr/3-1/3-1_sert.htm (letzter Zugriff, 7.1.2015). Ben Guiza, Tahar: “Pratiques de la Philosophie en Tunisie”, in: Triki/Boubaker-Triki, Philosopher en Tunisie (Fn.1), S. 33-41, hier: S. 37; Ders.: “Entretien avec Abdelwahab Bouhdiba: L’Arabisation de la Philosophie”, in: ebd., S. 78-81. Dazu zählen die philosophischen Fachzeitschriften (siehe Fn. 39) sowie Wissenschaftsund Kulturzeitschriften (beispielsweise al-ʿArab wal-Fikr al-ʿĀlamī), einzelne Verlage (etwa Çizgi Kitabevi und seine Reihe Osmanlı Felsefe Çalışmaları) und Organisationen wie die Arab Organization for Translation, deren Übersetzungen vom Center for Arab Unity Studies (arab. Markaz Dirāsāt al-Waḥda al-ʿArabiyya) herausgegeben werden.
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les (gest. 322 v. Chr.), Avicenna (Ibn Sīnā, gest. 1037), Averroes (Ibn Rushd, gest. 1198) oder Mollā Sadrā (gest. 1640). Ein Bedeutungswandel ,klassi54 scher‘ Begriffe lässt sich bereits im 19. Jahrhundert erkennen, um die Wende zum 20. Jahrhundert erreicht er dann aber ein Maß, das trotz bislang fehlender Begriffsgeschichten die Vermutung einer ,nahöstlichen Sattelzeit‘ nahelegt – Sattelzeit verstanden im Sinne von Reinhart Koselleck als ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi, wodurch «alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit Annäherung an 55 unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind». Auf Gegenwart und Zukunft bezogen bezeichnen beispielsweise daula nun Staat und nicht Dynastie, ʿilm (ohne weitere Attribute) primär weltliche Wis56 senschaft und ḥurr jetzt frei im weiten, liberal geprägten und nicht im 57 engen Sinne von «Freier», das heißt «kein Sklave». In dieser ,nahöstlichen Sattelzeit‘ bildeten sich verschiedene Haltungen gegenüber der westlichen modernen Philosophie und Wissenschaft und der eigenen Geistesgeschichte heraus. Unserem jetzigen Kenntnisstand zufolge lassen sich seit dem 19. Jahrhundert drei Grundhaltungen unterscheiden, die sich inzwischen weiter ausdifferenziert haben. Ihre Anliegen sind dabei zunehmend kritisch nichtdoktrinär und seltener dok54 55
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Ein zaghafter Wandel zeigt sich auch in staatlichen Dokumenten: Reinkowski, Maurus: Die Dinge der Ordnung – Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert, München: Oldenbourg, 2005, S. 233-263. Koselleck, Reinhart: “Einleitung”, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Kosellek, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.1, Stuttgart: Klett, 1972, S. XIII-XXVII, hier S. XV. Die Zeit zwischen 1860 und 1940 gilt in der Forschung für ganz Asien als eine ,Sattelzeit‘; für die arabische Sprache wird diese mit den 1880er Jahren angesetzt, siehe Schulz-Vorberg, Hagen: “Introduction: Global Conceptual History: Promises and Pitfalls of a New Research Agenda”, in: Ders. (ed.): A Global Conceptual History of Asia, 1860–1940, London: Pickering & Chatto, 2014, S.1-24, hier S. 5. Siehe Enur Imeri “Baha Tevfiks Vision einer religionsfreien Gesellschaft”, S. 269. Ḥurriyya (Freiheit) ist einer der wenigen arabischen Begriffe, dessen Geschichte untersucht wurde. Die von Franz Rosenthal (The Muslim Concept of Freedom Prior to the Nineteenth Century, Leiden: Brill, 1960) aufgestellte und oft wiederholte These einer völligen Absenz des liberalen Freiheitsbegriffs hat Abdallah Laroui in seinen Studien Islam et modernité (Paris: La Découverte, 1986) und Mafhūm al-ḥurriyya (Der Begriff der Freiheit), (Casablanca: al-Markaz ath-Thaqāfī al-ʿArabī, 1981) relativieren können. Er unterscheidet dabei Erfahrung von Idee und weist nach, dass, nicht zuletzt aufgrund der geringen Reichweite des vormodernen Staates, Nomaden, Stämme und Sufis durchaus Freiheitserfahrungen kannten, auch wenn sie keinen einheitlichen Begriff dafür schufen (Islam et modernité, S. 54-63; Mafhūm al-ḥurriyya, S.13-32). Zu Laroui siehe Riecken, Nils: Abdallah Laroui and the Location of History. An Intellectual Biography, unveröff. Diss. phil., Freie Universität Berlin, 2013 (zu erscheinen in London [u.a.]: Routledge, voraussichtlich 2017); siehe auch Fn. 71.
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trinär, im Sinne der Behauptung und Konzeptualisierung von Lehrsätzen 58 und Theorien. Die erste Grundhaltung kommt in einer Abschottung oder Abgrenzung von der modernen westlichen Philosophie und Wissenschaft zum Ausdruck und perpetuiert oder generiert Doktrinen. Sie dominierte im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Kreise der Religionsgelehrten aller Konfessionen. Diese tradierten allerdings auch vormoderne Philosophien der 59 eigenen Traditionen in nur sehr geringem Umfang. Seit der zweiten Hälfte und insbesondere seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts treten zwei davon verschiedene Arten von Abschottung hinzu. Sie gründen nicht mehr in einem unbesehenen und völligen Sich-Verschließen, sondern in einer reflektierten und mit rationalen Argumenten untermauerten Abgrenzung. Eine Art dieser Abgrenzung ist die modernekritische philosophia perennis, eine überzeitliche, religionsumspannende Weisheitslehre, die der iranische Philosoph Seyyed Hossein Nasr (geb. 1933) an Lehren muslimischer Denker wie Ibn Sīnā, Ibn ʿArabī, as-Suhrawardī und 60 Mollā Sadrā anbindet. Die zweite Art der reflektierten Abgrenzung geht 58
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Diese begriffliche Unterscheidung zwischen doktrinärer und nichtdoktrinärer Philosophie, die beide von einem kritischen Impetus getragen sein können, übernehme ich von Michael Hampe (Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik, Berlin: Suhrkamp 2014). Er erachtet sie als ein Kennzeichen der gesamten «abendländischen Philosophie» und setzt den Beginn der nichtdoktrinären Philosophie bei Sokrates an (S.13, 30, 43, 46-49). Diese kann allerdings schwerlich als alleiniges Proprium des ,Abendlandes‘ gelten, was Hampe zwar nicht behauptet, aber suggeriert (S. 64-65). Vielmehr hat das nichtdoktrinäre Philosophieren mit Blick auf die MENA-Region bereits in der Vormoderne Pendants, beispielsweise in Gestalt der Ethik und Religionskritik eines Abū Bakr ar-Rāzī (gest. 925; siehe dazu den Beitrag von Hans Daiber in: Rudolph, Philosophie (Fn. 23), S. 274-281) oder Ibn ar-Rāwandī (9. Jh.) (Stroumsa, Sarah: Freethinkers in Medieval Islam, Ibn al-Rawandi, Abu Bakr al-Razi, and their Impact on Islamic Thought, Leiden: Brill, 1999). Die von Hampe für die europäische Tradition konstatierte Pendelbewegung von Behaupten, Infragestellen und Prüfen von Behauptungen (S. 50) ist ebenfalls zu beobachten – so beispielsweise mit Averroes’ aristotelisch geprägter Kritik an Ibn Sīnā oder Suhrawardīs (gest. 1191) gegen ihrer beider Rationalismus gerichtete Illuminationsphilosophie und die sich wiederum von dieser absetzende Ontologie des Mollā Sadrā (Rudolph, Islamische Philosophie (Fn. 26), S. 75). In der nahöstlichen Moderne wird die nichtdoktrinäre Philosophie zwar fraglos stark von westeuropäischen und USamerikanischen Philosophen inspiriert, ein entscheidender Impuls der «destruktiven Prüfung von Doktrinen» (Hampe, Die Lehren, S. 64) rührt aber aus der eigenen Erfahrung. Siehe oben, Fn. 41, Heyworth-Dunne, An Introduction (Fn. 35). Nasr, Seyyed Hossein: Knowledge and the Sacred, New York: Crossroad, 1981. Nasr sucht mit seiner Philosophie Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten und Nachhaltigkeit zu lehren (Beringer, Almut: “Reclaiming a Sacred Cosmology: Seyyed Hossein Nasr, the Perennial Philosophy, and Sustainability Education”, in: Canadian Journal of Environmental Education 11 (2006), S. 26-42; Vimercati Sanseverino, Ruggero: “Seyyed Hossein Nasr”, in: Kügelgen/Rudolph, Philosophie (Fn. 41)). Für eine kritische Würdi-
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in eine ganz andere Richtung. Sie ist kulturrelativistisch begründet und postuliert eine spezifisch islamische, iranische oder arabische Philosophie. Diese Position vertreten in Iran einige Heideggerianer, wie Ahmad-e 61 Fardīd (gest. 1994) und Rezā-ye Dāvarī Ardakānī (geb. 1933) sowie die Protagonisten einer an Mollā Sadrā (gest. 1640) anknüpfenden Seinslehre Mohammad-e Husain-e Tabātabāʾī (gest. 1981) und Mortezā-ye Motahharī (gest. 1979), die darüber hinaus für ihre grundlegende Kritik der ge62 samten westlichen Philosophie bekannt wurden. In der arabischen Welt hat sich mit dieser Kritik der marokkanische Philosoph Ṭāhā ʿAbdarraḥmān (geb. 1944) einen Namen gemacht. In seinem Buch «Das arabische Recht auf philosophische Differenz» spricht er in einer unverblümt judenfeindlichen Manier von einer «Judaisierung» (tahwīd) der deutschen Philosophie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der anschließenden «Judaisierung» der «,internationalen Philosophie‘» und ihrer politischen Instrumentalisierung und ruft zum Dschihad gegen Juden und Zionisten 63 auf. Die zweite Grundhaltung äußert sich in der Adaption moderner westlicher philosophischer Positionen ohne oder mit nur loser Rückbindung an ,authentische‘, ,eigene‘ Traditionen. Im vorliegenden Band kommt diese Grundhaltung in den Texten von Ākhūndzāde und Baha Tevfik zum Ausdruck. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist diese Haltung durch einen starken Eklektizismus und häufig auch ungenaue Kenntnisse sowohl der modernen Philosophie wie auch der vormodernen eigenen Philosophietraditionen gekennzeichnet. In den folgenden Jahrzehnten jedoch, und nicht zuletzt aufgrund der Etablierung philosophi-
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gung siehe Boroujerdi, Mehrzad: Iranian Intellectuals and the West – The Tormented Triumph of Nativism, Syracuse: Syracuse University Press, 1996, S.120-130. Boroujerdi: Iranian Intellectuals, S. 63-65, 161, 164-165; Mirsepassi, Political Islam (Fn. 4), S. 85-86, 116-128. Mirsepassi sieht die Vorliebe einiger einflussreicher iranischer Intellektueller für Martin Heideggers und auch Ernst Jüngers Authentizitätsbestrebungen und ihrer Revolte gegen den Universalismus der Moderne insbesondere in strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschland der 1920er Jahre und dem Iran der 1960er und 1970er Jahre begründet (Intellectual Discourse and the Politics of Modernization – Negotiating Modernity in Iran, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S.129-158). Gösken, Urs: Kritik der westlichen Philosophie in Iran – Zum geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis von Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī und Murtaza Muṭahharī, Berlin/ München/Boston: DeGruyter, 2014. ʿAbdarraḥmān, Ṭāhā: al-Ḥaqq al-ʿarabī fī l-ikhtilāf al-falsafī, Casablanca: al-Markaz ath-Thaqāfī al-ʿArabī, 2002, S.178-185. Heidegger nimmt er bezeichnenderweise explizit von dem Vorwurf aus und bescheinigt ihm, mit seiner Ontologie das «philosophische jüdische Projekt» zerstört haben zu wollen (ebd., S. 64).
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scher Lehrstühle, wurden westliche philosophische Positionen systematischer und zugleich kritischer adaptiert, etwa die Existenzphilosophie Heideggers durch den ägyptischen Philosophen ʿAbdarraḥmān Badawī 64 (gest. 2002). Besonders ausgeprägt ist seit den 1970er Jahren das kri65 tische Hinterfragen von Ideologien und Doktrinen. Zu den Protagonisten dieser Kritik zählen im arabischsprachigen Raum die Philosophen Sa66 dik Jalal al-Azm (gest. 2016) aus Syrien, Fouad Zakariyya (gest. 2010) 67 aus Ägypten und Nāṣīf Naṣṣār (geb. 1940) aus dem Libanon – ein ent68 schiedener und expliziter Kontrahent von Ṭāhā ʿAbdarraḥmān. Daneben gewinnen Richtungen an Kontur und Gewicht, welche universelle, die Menschheit verbindende Werte und Normen, Seins- und Erkenntnisbestimmungen ermitteln wollen und dabei entweder den kleinsten gemeinsamen philosophischen Nenner von Kulturen suchen – häufig «interkultureller» Ansatz genannt – oder kulturkritisch nach neuen universalisierbaren Konzepten streben, was tendenziell eher unter «Transkulturalität» 69 figuriert. Die aus Algerien bzw. Marokko stammenden Professoren Mo64
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Badawī, ʿAbdarraḥmān: az-Zamān al-wudjūdī, Kairo: Maktabat an-Nahḍa al-Miṣriyya, 1945 (Nachdruck Beirut: Dār ath-Thaqāfa 1973). Seine Philosophie ist bislang nur rudimentär erforscht; Di-Capua, Arab Existentialism (Fn. 30), S.1065-1069. Sevinç Yasargil (Basel/Bern) arbeitet derzeit an einer Dissertation zu Badawī. Kassab, Elizabeth Suzanne: Contemporary Arab Thought. Cultural Critique in Comparative Perspective, New York: Columbia University Press, 2010. Al-Azm, Sadik J.: Critique of Religious Thought, ins Englische übersetzt von George Stergios / Mansour Ajami, Berlin: Gerlach Press, 2015. Zu al-ʿAẓm und weiteren Schriften von ihm siehe Nakhlé, Jean-Pierre: Le Criticisme dans la pensée arabe: Essai sur le rationalisme dans l'oeuvre de Sadiq Jalal al-Azm, Paris: L’Harmattan 2015. Fuʾād Zakariyyā: at-Tafkīr al-ʿilmī [Das wissenschaftliche Denken], Kuwait: al-Madjlis al-Waṭanī lith-Thaqāfa wal-Funūn wal-Ādāb, 1978; Zakariya, Fuad: “Die Prinzipien der Menschenrechte in der zeitgenössischen islamischen Welt”, übers. von Julia Förster, in: Concordia, Gastherausgeber: Sarhan Dhouib 59 (2011), S. 71-82. Zu Zakariyyās Einsatz für eine Säkularisierung siehe Flores, Alexander: Säkularismus und Islam in Ägypten. Die Debatte der 80er Jahre, Berlin: LIT, 2012. Naṣṣār, Nāṣīf: Ṭarīq al-istiqlāl al-falsafī – Sabīl al-fikr al-ʿarabī ilā l-ḥurriyya wal-ibdāʿ, Beirut: Dār aṭ-Ṭalīʿa, 1975, mit neuem Vorwort 42009; Ders.: Manṭiq as-sulṭa, Beirut: Dār amwādj, 1995. Im Westen wurde er bisher kaum rezipiert; ich beziehe mich auf die bereits weit fortgeschrittene Dissertation von Michael Frey. Naṣṣārs Kritik an Ṭ. ʿAbdarraḥmān findet sich in: Naṣṣār, Nāṣīf: al-Ishārāt wal-masālik – Min īwān Ibn Rushd ilā riḥāb al-ʿalmāniyya, Beirut: Dār aṭ-Ṭalīʿa, 2011, S.127-146. Zu diesen beiden Konzepten, die allerdings keineswegs einheitlich als interkulturell bzw. transkulturell bezeichnet werden, siehe Dhouib, Sarhan: “Unrechtserfahrungen und die kritische Funktion der Menschenrechte” in: Ders. (Hg.): Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte – Transkulturelle Perspektiven, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2014, S.177-190, hier S.187-189; Ders.: “Von der interkulturellen Vermittlung zur Transkulturalität der Menschenrechte”, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Recht und Kultur – Menschenrechte und Rechtskulturen in transkultureller Perspektive, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang, 2011, S.153-176; Mall, Ram Adhar: Intercultural Philosophy, Lan-
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hammed Arkoun (gest. 2010) und Abdallah Laroui (geb. 1933) können als Pioniere der in diesem Sinne transkulturell orientierten Philosophie gelten. Neuen Impetus gewonnen hat sie durch den aus Tunesien stammenden Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie Fathi Triki 72 (geb. 1947). Kennzeichnend für die dritte Grundhaltung ist eine Rezeption moderner westlicher philosophischer Positionen verbunden mit einer starken Rückbindung an ,authentische‘, ,eigene‘ Traditionen. Sie kann, wenn ihre jeweiligen Fundamente als unvereinbar angesehen werden, als eine Gratwanderung verstanden werden, die bald der einen, bald der anderen Seite zuneigt und philosophisch unhaltbare Harmonisierungen vornimmt. Im sogenannt postkolonialen Diskurs wird sie hingegen als ein Denken 73 jenseits von Dichotomien begriffen. Paradigmatisch für diese Grundhaltung ist die Behauptung, der Islam sei eine «Vernunftreligion». Diese Behauptung wird im vorliegenden Band für die ,nahöstliche Sattelzeit‘ an dem osmanisch-türkischen Autor Ahmed Midhat Efendi (gest. 1912) exemplifiziert. Sie zählt zu den wohl erfolgreichsten Konzepten des soge-
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ham [u.a.]: Rowman & Littlefield, 2000; Shusterman, Richard: “Internationalism in Philosophy: Models, Motives and Problems”, in: Metaphilosophy 28,4 (Okt. 1997), S. 289301; Schelkshorn, Hans / Ben Abdeljelil, Jameleddine (Hg.): Die Moderne im interkulturellen Diskurs, Weilerswist: Velbrück Verlag, 2012. Eine transkulturelle Ausrichtung zeigt sich unter anderem in Arkouns Reflexionen über die Philosophie des Mittelmeerraums, den Humanismus und eine neue Rationalität – siehe Arkoun, Mohammed: “‘Westliche’ Vernunft kontra ‘islamische’ Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung”, in: Lüders, Michael (Hg.): Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München/Zürich: Piper, 1992, S. 261-274; Ders.: Min Faiṣal at-tafriqa ilā Faṣl al-maqāl: Aina huwa al-fikr al-islāmī al-muʿāṣir, übersetzt und kommentiert von Hāshim Ṣāliḥ, London/Beirut: as-Sāqī, 1993. Weiterführend zu Arkoun siehe Turki, Einführung, S. 212-216; Günther, Ursula: Mohammed Arkoun – Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft, Würzburg: Ergon, 2004. Aus einer dialektischen Verhältnisbestimmung von «lokal» und «global» entwickelt Laroui neue Horizonte für ein universalistisches Denken (Riecken, Nils: “History, Time, and Temporality in a Global Frame: Abdallah Laroui’s Historical Epistemology of History”, in: History and Theory 54 (2015), S. 5-26). Ebenso zielt Laroui mit seinem «objektiven Marxismus» (Laroui, Abdallah: L'idéologie arabe contemporaine, Paris: François Maspero, 1967), auf die Bildung eines universalistischen begrifflichen Rahmens, der die bisherigen Referenzrahmen übersteigt (Riecken, Nils: “Abdallah Laroui”, in: Kügelgen/Rudolph (Hg.): Philosophie, Bd. 4); siehe auch oben, Fn. 57. Triki, Fathi: Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens, aus dem Französischen übersetzt von Hans Jörg Sandkühler, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2011. Besonders fruchtbar aufgegriffen werden seine Ansätze in der Menschenrechtsrechtsphilosophie, etwa von Sarhan Dhouib: Unrechtserfahrungen (Fn. 69) und Von der interkulturellen Vermittlung zur Transkulturalität der Menschenrechte (Fn. 69). Poya, Abbas: Denken jenseits von Dichotomien – Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext, Bielefeld: transcript, 2014.
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nannten Reformislam, dessen Protagonisten sie in einen doktrinären theologischen Rahmen einbetteten. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfuhr die Behauptung, der Islam sei eine Vernunftreligion, eine erkenntniskritische Vertiefung durch Mohammed al-Jabris (gest. 2010) breit rezipierte vierbändige «Kritik der arabischen Vernunft». Al-Jabri entledigt sich des theologischen Rahmens und sucht nach einer philosophischen Verankerung des auf die Vernunft verweisenden Charakters des Islam, nicht zuletzt im rationalen Impetus des Averroes (Ibn Rushd, gest. 1198) und dessen Unterscheidung von philosophisch-wissenschaftlicher und bildhafter, mit rhetorischen Mitteln 74 bewiesener Erkenntnis. Wie kaum ein anderer arabischer Philosoph des 20. Jahrhunderts hat er mit seinen Ideen weit über den akademischen Rahmen und bis nach Indonesien positiven Widerhall gefunden, aber 75 auch schärfste Kritik ausgelöst. In Iran kritisiert ʿAbdolkarīm Sorūsh (geb. 1945) den apodiktischen Wahrheitsanspruch theologischer Doktrinen als fehlbares menschliches Wissen. Er setzt eine von dem Sufidichter Djalāloddīn Rūmī (gest. 1273) inspirierte Religiosität dagegen, wobei er Religion und religiöses Wissen mit Hilfe von Karl Poppers Erkenntnisund Wissenschaftskritik zu verstehen sucht. Ausgehend von Poppers Konzept einer offenen Gesellschaft hat er das Konzept einer «religiös76 demokratischen Regierungsform» entwickelt. In seinem reformerischen, 74
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Auf Deutsch sind al-Jabris Vorüberlegungen zu diesem, esoterisches, fundamentalistisches und instrumentelles Denken der islamischen Geistesgeschichte erkenntniskritisch beleuchtenden Werk erschienen. Al-Jabris Konzept von der Vernünftigkeit der islamischen Religion tritt darin allerdings noch nicht deutlich zutage: Kritik der arabischen Vernunft –Einführung, übersetzt v. Vincent von Wroblewsky / Sarah Dornhof, mit einem Vorwort von Reginald Grünenberg / Sonja Hegasy und einer Einleitung von Ahmed Mahfoud / Marc Geoffroy, Berlin: Perlen, 2009. Die gesamten vier Bände sind bisher nur ins Türkische übersetzt worden. Auf Englisch erschien der erste Band: The Formation of Arab Reason, London/New York: I.B. Tauris, 2011. Eine umfassende Studie bietet Abdelkader Al Ghouz: Vernunft und Kanon in der zeitgenössischen arabisch-islamischen Philosophie – Zu Muḥammad ʿĀbed al-Ǧābirīs (1936–2010) rationalistischer Lesart des Kulturerbes in seinem Werk “Kritik der arabischen Vernunft”, Würzburg 2015. Vgl. z.B. Filali-Ansary, Abdou: Réformer l'islam? Une introduction aux débats contemporains, Paris: La Découverte, 2003 und das fünfteilige Werk Naqd al-ʿaql al-ʿarabī (Kritik der Kritik der arabischen Vernunft) von Djūrdj aṭ-Ṭarābīshī (Georges Tarabichi), Beirut [u.a.]: Dār as-Sāqī, 1996-2010. Hajatpour, Reza: Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus – Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert, Wiesbaden: Reichert, 2002, S. 320-339; Vahdat, Farzin: God and Juggernaut – Iran’s Intellectual Encounter with Modernity, Syracuse: Syracuse University Press, 2002, S.198-211; Paya, Ali / Ghaneirad, Mohammad Amin: “The Philosopher and the Revolutionary State: How Karl Popper’s Ideas Shaped the Views of Iranian Intellectuals”, in: International Studies in the Philosophy of Science 20 (2006), S.185–213.
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VORREDE ZUR NEUEN BUCHREIHE
Ost und West verbindenden Ansinnen ist Sorūsh wie zahlreiche zeitgenössische Philosophen des Nahen und Mittleren Ostens von Muhammad Iqbal inspiriert. Insgesamt ist der philosophische Austausch innerhalb dieser Regionen groß und kennzeichnet neben dem kritischen Bezug auf westliches Denken die Philosophie in der nahöstlichen Moderne. Die neue Buchreihe will der Präsenz und dem Geltungsanspruch der modernen nahöstlichen Philosophie Rechnung tragen. Sie wendet sich an ein über die Fachgrenzen hinausgehendes Publikum und ist daher um gute Lesbarkeit und leichtere Fußnotenfracht bemüht.
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Konflikt, Harmonie oder Autonomie? Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion
Anke von Kügelgen Im Andenken an meinen Vater Klaus Kropfinger und sein philosophisches Ohr. Er starb am 29. Juni 2016.
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ind technisches Wissen und naturwissenschaftliche Erkenntnis mit Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften verknüpft oder sollten sie es zum Wohle der Menschheit sein? Haben Religion und Theologie dabei etwas mitzureden oder gehören sie gar an die Stelle eines oder mehrerer dieser Wissensgebiete? Spätestens seit den 1960er Jahren sind diese Fragen wieder hochaktuell und führen in lokalen und interna1 tionalen Kontexten zu Grundsatzdiskussionen und heftigen Disputen. Während sie einige Jahrzehnte aber vorwiegend in Fachkreisen thematisiert wurden, sind sie seit 9/11 Thema öffentlicher Stellungnahmen und Debatten. So erinnerte jüngst der Volkswirtschaftler Mathias Binswanger an die bisweilen vergessene Glaubenskomponente der Wissenschaft und exemplifizierte sie an dem in der Ökonomie gelehrten «Wissen» von der Neutralität des Geldes, das sich de facto aber als ein «Glaube» erwiesen habe und in zahllosen empirischen Studien bald eher bestätigt und bald 2 eher widerlegt werde. Der Philosoph Michael Hampe plädiert nicht zuletzt angesichts der modernen Totalitarismen, die technisches und naturwissenschaftliches Wissen von freier Forschung, Argument und Kritik abkoppeln, für die «Untrennbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaften» und kritisiert den von Horkheimer und Adorno «gegen ‹die moderne Vernunft› erhobenen Generalverdacht, sie sei vor allem ein Herrschafts- und 3 die Individuen zerstörendes Instrument». Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas setzt sich seit Anfang des Jahrtausends für ein konstruktives Miteinander von Glauben und Wissen ein und erhofft von den Religionen Impulse, die «der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn» und einem «säkularistisch verhärteten» und «exklusiven Selbstverständ1 2 3
Russel, Robert John / Wegter-McNelly, Kirk: “Science and Religion”, in: Wentzel Vrede van Huyssteen, J. (Ed. in Chief): Encyclopedia of Science and Religion, Bd. 2, New York: Macmillan Reference USA, S. 746-748. Binswanger, Mathias: “Was die Wissenschaft zu wissen glaubt”, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.09.2016, S. 41. Hampe, Michael: “Die Untrennbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaften – Gemeinsam für eine Kultur der Aufklärung”, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.09.2016, S.12.
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nis der Moderne» entgegenwirken. Er möchte die Gläubigen von der bisher an sie gestellten Forderung entlasten, ihre Anliegen in einer allgemein zugänglichen Sprache zum Ausdruck zu bringen, und will die nichtgläubigen Bürger für diese Übersetzungsleistung mit in die Pflicht nehmen. Paolo Flores d’Arcais, ebenfalls Philosoph, betrachtet diesen Vorstoß als eine «Quadratur des Kreises», denn in der auch von Habermas befürworteten liberalen Demokratie müssten alle Bürger auf ihre ureigenen Wertsetzungen verzichten, schließe doch der öffentliche Gebrauch der Vernunft «das ‹Gott will es› genauso aus wie jede andere ideologische – 5 agnostische, heidnische, atheistische – Prämisse». Dergleichen Dispute und Überlegungen fanden und finden sich auch unter nahöstlichen, muslimischen wie nicht-muslimischen Intellektuel6 len, wie dieser Beitrag zeigen wird. Sie sind Teil einer ‚west-östlichen‘ Verflechtungsgeschichte, in der die Kompetenzbereiche von Religion, Philosophie, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften schon einmal, wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen, grundlegend neu verhandelt worden waren. Damals waren die Beziehungen zutiefst asymmetrisch, stand doch ein Großteil des Nahen Ostens unter direkter Kolonialherrschaft, während Iran und das verbleibende Osmanische Reich vertraglich in starke Abhängigkeit von Europa geraten waren. Die Erkenntnisfortschritte, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer bis dahin ungekannten Schnelligkeit Bahn brachen, fassten aber vielerorts Fuß, nicht zuletzt in den direkt oder indirekt von den europäischen Imperialmächten abhängigen Gebieten. Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung wurden in technischen Produkten fassbar und praktisch nutzbar gemacht, in Gestalt etwa von Telegrafen, elektrischem Licht oder des sich ausweitenden Eisenbahnnetzes. Die Wissenschaften lösten sich von metaphysischen Vorgaben, erschlossen neue Bereiche und verselbständigten sich, wie etwa Soziologie, Psychologie und Genetik. Mit Darwins Forschungen und Thesen gewann die umstrittene Idee der Evolution 4
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Habermas, Jürgen: “Glauben und Wissen – Dankesrede”, in: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels, 2001, S. 915, hier S. 15; Habermas, Jürgen: “Religion in der Öffentlichkeit – Kognitive Voraussetzungen für den ‹öffentlichen Vernunftgebrauch› religiöser und säkularer Bürger”, in: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S.145. d’Arcais, Flores: “Elf Thesen zu Habermas – Die Weltreligionen sind mächtig genug, deshalb ist es ein Fehler, wenn Philosophen sie als Sinn-Ressource der Demokratie feiern”, in: Die Zeit 48 (22.11.2007), S. 53. Die grammatikalischen Genera werden, solange nicht eindeutig ein Geschlecht bezeichnet wird, geschlechtsneutral verwendet.
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weiter an Plausibilität. Die Stellung des Menschen im Kosmos und seine Möglichkeiten wurden so fühl- und sichtbar neu definiert. Mit dem heliozentrischen Weltbild war die Menschheit zwar bereits seit Kopernikus aus dem Zentrum des Kosmos gerückt worden – verbreitet und akzeptiert wurde diese Erkenntnis jedoch nur langsam und bekanntermaßen gegen den Widerstand der christlichen Kirchen bzw. sunnitischer und schiitischer Religionsgelehrter. Mit der evolutionistischen Biologie wurde nun die Einzigartigkeit, welche die Bibel, der Koran und lange Zeit auch Medizin, Physiologie, Anthropologie und Philosophie dem Menschen verbrieft hatten, in Frage gestellt. Übersinnliches wie Wunder, himmlische Wesen und die Wirksamkeit von Gebeten verlor durch naturwissenschaftliche Erklärungen in den Augen der Menschen zunehmend seine geheimen Kräfte. Ebenso büßten metaphysische Spekulationen über die Ewigkeit der Welt oder das verborgene Wesen einer Sache an Erklärungsund Anziehungskraft ein. Die Vorstellung, der Mensch könne die absolute Wahrheit wissenschaftlich eruieren, geriet ins Wanken; stattdessen rückten Hypothesen und nicht restlos beweisbare Annahmen in den Blickpunkt der wissenschaftsphilosophischen Reflexion. Die Überzeugung, durch die Religion Gewissheit von der Wahrheit zu erlangen, wurde ebenfalls erschüttert. Historische Studien und Textkritik entblätterten die religiösen Gründerfiguren Christus und Mohammed ihrer Legenden und machten sie antastbar. Die Unfehlbarkeit des Papstes und die der schiitischen Imame wurde in Frage gestellt und die hochrangigen christlichen und sunnitischen Geistlichen mussten ihren Autoritätsanspruch verteidigen. Die Religionshüter sahen ihre Glaubwürdigkeit und ihr Ansehen nun in grundlegender Weise herausgefordert. Die mit wissenschaftlichen Mitteln erreichte Beherrschung der Natur und die materiellen wie geistigen Horizonterweiterungen, die mit der zunehmenden Loslösung der Wissenschaften von der Philosophie und der Religion einhergingen, führten allerorts zur Neubestimmung dieser drei Wissens- und Glaubensfelder und ihres Verhältnisses zueinander. Ein konstitutives Element bei dieser Neubestimmung war die Religionskritik, die bald partiell, etwa gegen religiöse Sachwalter und bestimmte Kulte, bald prinzipiell gegen Religionsstifter und Heilige Schriften gerichtet war. Im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts kristallisierten sich unter nahöstlichen Intellektuellen verschiedene Verhältnisbestimmungen von Wissenschaft und Religion heraus. 32
KONFLIKT, HARMONIE ODER AUTONOMIE?
Idealtypisch fasse ich sie als drei Grundthesen: die Konfliktthese, die Harmoniethese und die Autonomiethese. Die Konfliktthese besagt, dass Wissenschaft und Religion in einem unlösbaren Konflikt zueinander stehen, in dem eine Seite von der anderen entwertet wird. Die Harmoniethese richtet sich in erster Linie gegen die Konfliktthese und besagt, dass Wissenschaft und Religion miteinander übereinstimmen. Sie setzt die Autonomiethese in dem Sinne voraus, dass auch sie zwischen Wissenschaft und Religion unterscheidet. Die Autonomiethese postuliert aber im Gegensatz zur Harmoniethese eine völlige Andersartigkeit und Unabhängigkeit beider Bereiche. Diese idealtypisch gefassten Thesen über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion waren in der europäischen und nahöstlichen Geschichte durchaus bereits durchdacht worden, aber sie konnten im 19. Jahrhundert neu fundiert werden. Dabei wurde und wird «Wissenschaft» von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt, sondern schließt die Geistes- und Sozialwissenschaften sowie philosophische Welterklärungen und Ethik ein. Es ging und geht bei der Verhältnisbestimmung sowohl um theoretische Fragen als auch um die praktischen Auswirkungen dieser Stellungnahmen mit Blick auf die zahlreichen gesellschaftlichen Bereiche, in denen 7 Religion Geltung zugesprochen wurde und wird. Ziel dieses Beitrags ist es zum einen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter nahöstlichen Intellektuellen ausgetragenen Debatten um die zeitgenössische und zukünftige Rolle von Religion, Philosophie und Wissenschaft am Beispiel der Religionskritik als Teil einer Verflechtungsgeschichte migrierender Ideen in Wert zu setzen. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Philosophie und Religion beschäftigte Intellektuelle in Alexandria, Beirut, Istanbul, Kairo, Teheran und Tiflis ebenso wie in Paris, London, Delhi, New York, Tokio und anderen Metropolen. Sie befassten sich mit der gleichen Problematik und fühlten sich dem Fortschritt verpflichtet. So soll auch deutlich gemacht werden, dass die nahöstlichen Intellektuellen zur Avantgarde ihrer Epoche gehörten. Zum anderen will dieser Beitrag aufzeigen, dass die drei von ihnen diskutierten Grundthesen – die Konfliktthese, die Harmonie7
Einen Einblick in die Grundtendenzen der Neubestimmung von Religion unter muslimischen Reformern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bieten die von Katajun Amirpur und Ludwig Ammann herausgegebenen Kurzporträts (Der Islam am Wendepunkt, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2006) und die Studie von Abdulkader Tayob (Religion in Modern Islamic Discourse, London: Hurst & Company, 2009).
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these und die Autonomiethese – im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts bald in der gleichen, bald in fortentwickelter Form weiterhin präsent sind. Die Darlegung der Unterschiede im Verständnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion, insbesondere des Islam, die in den drei Thesen zum Tragen kommen, soll auch dazu dienen, westliche Intellektuelle zum Dialog, zur Zusammenarbeit oder auch zum fundierten Disput mit ihren nahöstlichen Kollegen anzuregen. Auf den folgenden Seiten wird zunächst das intellektuelle Milieu des Nahen Ostens um 1900 aus ideengeschichtlichen Perspektiven der Verflechtung beleuchtet. Anschließend werden die drei Thesen anhand ihrer wirkmächtigsten Spielarten im Nahen und Mittleren Osten um 1900 mit einigen Ausblicken auf ihre weitere Entwicklung im Verlaufe des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Vier Positionen werden in diesem Band anhand übersetzter Texte und erläuternder Kommentare ausführlich dargelegt. Die Texte liegen hier erstmals ins Deutsche übersetzt und, von einer Ausnahme abgesehen, auch erstmals in einer westeuropäischen Sprache vor. Sie stammen aus der Feder von vier namhaften Intellektuellen ihrer Zeit, denen ihrer Bedeutung für die intellektuelle Verflechtungsgeschichte zum Trotz von westlichen und zum Teil auch von nahöstlichen Forschern wenig Beachtung geschenkt wurde. Es handelt sich um die Positionen von Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde aus dem damals zum Russischen Reich gehörenden Tiflis, Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī aus Iran sowie Ahmed Midhat Efendi und Baha Tevfik, beide aus dem Osmanischen Reich. Die Auswahl dieser Denker und ihrer Schriften ist aus dem Berner Forschungsschwerpunkt zur zeitgenössischen Philosophie im Nahen und Mittleren Osten erwachsen und den Autoren und Übersetzern Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder für die persischsprachige Region und Enur Imeri für die osmanisch-türkischsprachige Region zu verdanken. Ihre Einleitungen, in denen sie die Denker und ihr Werk vorstellen und die übersetzten Texte kommentieren, stellen eigenständige Forschungsbeiträge dar, die über eine den Wissensstand zusammenfassende Darstellung hinausgehen. In meinem Beitrag wird daher auf sie verwiesen. Ideenzirkulation: Transfer und Zusammenstoß Im Nahen Osten waren die Denker, die sich um 1900 mit der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion befassten, mehrheitlich Journalisten mit einer weltlichen und zum Teil auch religi34
KONFLIKT, HARMONIE ODER AUTONOMIE?
ösen Schulbildung. Sie hielten sich vor allem durch die Lektüre populärwissenschaftlicher Zeitschriften und teilweise auch der Originalschriften über die Entwicklungen von Wissenschaft und Philosophie in Europa und den USA auf dem Laufenden: Das Syrian Protestant College (SPC) in Beirut verfügte über eine mit den neuesten wissenschaftlichen Publikationen ausgestattete Bibliothek und hatte unter anderem die in New York er8 scheinende Popular Science Monthly abonniert. Darüber hinaus übersetzten und paraphrasierten die Redakteure der zahlreichen seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im Nahen Osten ins Leben gerufenen Bildungszeitschriften viele Artikel, die in westlichen populärwissenschaftli9 chen Journalen erschienen, in ihre eigenen Sprachen. Die Neubestimmung von Wissenschaft, Philosophie und Religion und ihrer Relation zueinander gehörten dabei zu den heftig umstrittenen Fragen. Kommuniziert und disputiert wurde innerhalb wie außerhalb der eigenen Kreise, häufig auch in mündlichem oder schriftlichem Kontakt mit amerikanischen, englischen, französischen und russischen Kollegen und Politikern. Besonders intensiv war der Austausch mit französischen Positivisten, die Theologie und Metaphysik als überholt erachteten und an deren Stelle die Wissenschaften vom Positiven, d.h. vom real Fassbaren setzten und für eine auf Liebe, Ordnung und Fortschritt basierende «Religion der Humanität» eintraten. Für den Positivismus geworben hatte kein geringerer als sein Begründer Auguste Comte selbst, der 1853 den ehemaligen osmanischen Großwesir Reshid Pasha brieflich einlud, seine 10 Prinzipien anzunehmen. 8
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Siehe Elshakry, Marwa: Reading Darwin in Arabic 1860-1950, Chicago/London: The University of Chicago Press, 2013, S.1, 57-58; Glaß, Dagmar: Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit – Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitungskommunikation, 2 Bde., Würzburg: Ergon Verlag, 2004, Bd.1, S.197-205; zur Entstehung und zum Ausbau des SPC siehe Penrose, Stephen B.L.: That they may have life – The Story of the American University of Beirut 1866-1941, Beirut: American University of Beirut, 1970 (Nachdruck Auflage Beirut 1941). Zu den arabischen Bildungszeitschriften siehe Glaß, Der Muqtaṭaf (Fn. 8). Comte, Auguste: Correspondance générale et confessions, Bd. 7, Paris: Éd. de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales, 1987, S. 38-41. Comte schätzte am Islam vor allem seine soziale, auf Solidarität ausgerichteten Lehren und hielt die Muslime dadurch für gut disponiert, die «religion de l’humanité» anzunehmen (Comte, Auguste: L’Islamisme au point de vue social. Textes réunis par Christian-Abdelhaq Cherfils, Paris: Albert Messein, 1911, S. 91-93 [neue Ausgabe mit einem Vorwort von Sadek Sellam, Paris: alfAbarre, 2016]). Comtes Anhänger lobten 1877 in einem Brief an Ahmed Midhat Pasha (1822–1884, siehe unten, S. 229), den Mitinitiator der ersten osmanischen Verfassung von 1876, die Toleranz des Islam und dessen Humanismus (Adresse des Positivistes à Midhat-Pacha ancien Grand-Vizir de l’Empire Ottoman, Paris: P. Ritti, 1877, S.11-15). In seinem Antwortschreiben erklärte Midhat Pasha, der Islam habe unter der Herrschaft
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Viele dieser Prinzipien fanden unter osmanischen Reformern Zustimmung und prägten die Jungtürken. Der Landwirtschaftsingenieur Ahmed Rıza, der Leiter des 1902 in Paris gegründeten Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti), das 1908 die jungtürkische Revolution proklamierte und die Wiederinkraftsetzung sowie die Revision der Verfassung bewirkte, war Mitglied einer französischen positivistischen Vereinigung und propagierte die positivistischen Lehren in einer Reihe 11 von Schriften. Großen Zuspruch fanden diese Lehren ebenfalls unter 12 den Wegbereitern des Konstitutionalismus in Iran. Nahöstliche Intellektuelle lasen auch intensiv Schriften westlicher Evolutionisten und Sozialdarwinisten und suchten den Austausch mit ihnen. So besuchte Muḥammad ʿAbduh, der oberste ägyptische Mufti und ein glühender Verfechter der Vereinbarkeit der modernen Wissenschaften mit dem Islam, im Jahre 1903 in Brighton Herbert Spencer, dessen Werk «Education» er für seine Schulreformvorschläge konsultiert hatte und 13 aus dem Französischen ins Arabische übertragen haben soll. Der am SPC ausgebildete libanesische Arzt Shiblī Shumayyil übersetzte 1884 die Vorlesungen Ludwig Büchners über seine materialistische Lesart Darwins ins Arabische und löste damit eine Sturmflut ausführlicher Repliken aus, vor allem seitens jesuitischer, protestantischer, maronitischer und griechisch-orthodoxer wie auch sunnitischer und schiitischer Religionsgelehrter. Zugleich verfolgte Shumayyil auch das gesellschaftspolitische Handeln der Darwinisten und äußerte in einem an Ernst Haeckel adressierten zwanzigseitigen Brief sein Entsetzen darüber, dass er – Haeckel – das «Manifest der 93» im Herbst 1914 unterzeichnet und so seine Unterstützung der deutschen Gräueltaten zu Beginn des 1. Weltkriegs ausge-
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der Abbasiden und Ayyubiden im Orient die ersten Grundlagen für die Demokratie und die Freiheit gelegt (“Réponse de Midhat-Pacha”, in: ebd., S.18). Kabakcı, Enes: “L’introduction et l’appropriation du positivisme dans l’Empire Ottoman”, in: Islâm Arastırmaları Dergisi / Turkish Journal of Islamic Studies 21 (2009), S. 7588; Özervarlı, Sait: “§ 3.1.5 Positivismus und Wissenschaftsphilosophie”, in: Kügelgen, Anke von / Rudolph, Ulrich (Hg.) / Frey, Michael (Redaktor): Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 4: 19.–20. Jahrhundert, Basel: Schwabe, zu erscheinen 2018 (Grundriss der Geschichte der Philosophie). So gründete der iranische Diplomat Mīrzā Malkam Khān (siehe unten, S. 92) Anfang der 1870er Jahre eine Liga der Humanität (Djamʿiyyat-e Ādamīyat), die eine nach Comtes Modell der «religion de l’humanité» verfasste Gesellschaft aufbauen sollte (Seidel, Roman: “The Reception of European Philosophy in Qajar Iran”, in: Pourjavady, R. (Hg.): Philosophical Traditions in Qajar Iran, Leiden: Brill, zu erscheinen 2017). Riḍā, Muḥammad Rashīd: Tārīkh al-ustāḏ al-imām ash-shaikh Muḥammad ʿAbduh, 3 Bde., Bd. 3, Kairo: al-Haiʾa al-Miṣriyya al-ʿĀmma lil-Kitāb, 2003, S.103; Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), S.161-164.
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drückt hatte – eine Tat, die er einem Evolutionsphilosophen nie zugetraut 14 hätte. Sein Kommilitone, der erfolgreiche Wissenschaftspublizist und Darwin-Anhänger Fāris Nimr traf Ende der 1880er Jahre in Beirut mit dem amerikanischen Historiker und Pädagogen Andrew Dickson White zusammen. Er teilte Whites berühmte Thesen vom «Kampf der Naturwissenschaft» gegen die religiösen Dogmen und gegen die Geistlichkeit des Christentums zur Rettung von Wissenschaft und Religion, die dieser 15 anhand der europäisch-christlichen Geschichte entwickelt hatte. Beide handelten sich damit von konservativ bibeltreuer Seite den Vorwurf des Unglaubens ein. Im Fall von Nimr äußerte diesen Vorwurf ein Würdenträger der antiochenisch-orthodoxen Kirche, der unter Verweis auf Bibel-, aber auch Koranverse das geozentrische Weltbild gegen das heliozentri16 sche verteidigte. Wirkmächtiger noch als der weltweite Bestseller von White war unter muslimischen nahöstlichen Intellektuellen das international nicht minder populäre Werk von John William Draper «History of the Conflict between Religion and Science» (1874), das vom Vatikan 1876 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Draper schrieb es unter dem Eindruck des Krieges, den die katholische Kirche dem freien Denken öffentlich erklärt hatte. 1864 hatte Papst Pius IX. den «Syllabus errorum» (Verzeichnis der Irrtümer) abgesegnet, der unter anderem Pantheismus, Naturalismus und Sozialismus verurteilte. 1870 folgte auf dem ersten Vatikanischen Konzil (1869–1870) die Abhandlung «Dei Filius» (Gottes Sohn), in welcher Glaube und Vernunft zueinander in Beziehung gesetzt und unter anderem die Leugnung der Wunder und die wissenschaftliche 17 Erklärung der Glaubensdogmen mit dem Kirchenbann belegt wurden. Draper zeigte sich auch enttäuscht von der Furchtsamkeit und Distanz, mit der die Protestanten auf der 1873 in New York abgehaltenen Versammlung der weltweiten Evangelischen Allianz über die Naturwissen14
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Lettre du Dr Shibli Shumayyil à Ernest Haeckel (Kairo 1915), nach: Haroun, Georges: Šiblī Šumayyil: une pensée évolutionniste arabe à l'époque d'an-nahḍa, Beyrouth: Librairie Orientale, 1985, S.102. Gleichwohl legte Shumayyil seine materialistische Weltsicht nicht ab (Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), S.128-129. Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), S.1-5. 1929 publizierte Ismāʿīl Maẓhar eine arabische Übersetzung der ersten drei Kapitel der 1896 erschienen Buchfassung A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom (Elshakry, Reading Darwin, S. 288). Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd.2, S. 393-398. Draper gibt beide Dokumente in Auszügen wieder (History of the Conflict between Religion and Science, New York: D. Appleton and Company, 1875, S. 343-351).
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schaften (science) sprachen. Trotzdem brachte er zum Ausdruck, dass er den Protestantismus mit der modernen Naturwissenschaft für vereinbar hielt, vorausgesetzt ersterer beachte seine eigene Maxime, namentlich 18 das Recht auf die individuelle Auslegung der Heiligen Schrift. Die Resonanz des Werks bei nahöstlichen Denkern rührte nicht zuletzt daher, dass Draper dem seines Erachtens wissenschaftsfeindlichen Katholizismus den Islam als leuchtendes Beispiel der Förderung von 19 Wissenschaft gegenüberstellte. Wissenschaft habe in Europa erst über das maurische Spanien im Mittelalter Eingang gefunden, und die intellektuelle Entwicklung im Christentum habe erst im 19. Jahrhundert den Stand erreicht, den die Araber im 10. und 11. Jahrhundert erlangt hät20 ten. Draper nimmt unter anderem Bezug auf die induktive Methodik in den Naturwissenschaften, die Idee der sukzessiven Evolution des Menschen aus niederen Formen und die Transzendierung anthropomorpher Konzeptionen, insbesondere bei dem muslimischen Philosophen Averroes 21 (Ibn Rushd, 1126–1198). Während ihm sein Lob der Wissenschaftsfreundlichkeit des Islam in 22 den USA scharfe Kritik einbrachte, rekurrierten im Nahen Osten vor allem muslimische Vertreter der Harmoniethese auf ihn. Darunter waren auch Muḥammad ʿAbduh und Ahmed Midhat Efendi, dessen Kommentar 23 zu Drapers Werk im vorliegenden Band auszugsweise vorgestellt wird. In Drapers Werk wird etwas potenziell verquickt: Die Frage nach der Vereinbarkeit von Religion mit Wissenschaft und Philosophie wird vermischt mit einem kontrastierenden Vergleich von Christentum und Islam. 18 19
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Draper, History, (Fn.17), S. 352-354, 363. Eine Vorrangstellung mit Blick auf die Förderung der Wissenschaften konzedierten dem Islam unter anderen auch der Sozialpsychologe Gustave Le Bon (La civilisation des arabes, Paris: Éd. Les Sycomore, 1980 (11884), viii-ix, S. 341-343, 357-390, et passim) und der Positivist Charles Mismer (siehe unten, S. 42). Doch auch ein Apologet der Überlegenheit des Christentums wie der Lehrer Reginald Bosworth Smith betonte in seinem 1875 publizierten Werk Mohammed and Mohammedanism den rationalen, wissenschaftsfördernden Charakter des Islam (Yalçınkaya, Alper: “Science as an ally of religion: a Muslim appropriation of ‘the conflict thesis’”, in: British Society for the History of Science (2011), S.161-181, hier S.178). Draper, History, (Fn.17), S. 286; Vorwort, S. xiii-xv. Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.170-175. Eine Vorwegnahme der Evolutionsthese durch die Muslime behaupteten ebenfalls Friedrich Dietrici und einige arabische Intellektuelle (Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd. 2, S. 432-434), mit besonders vielen Beispielen Ismāʿīl Maẓhar (Haroun, Šiblī Šumayyil, (Fn.14), S. 6-9). Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.179-180. Siehe unten, S. 229. Hasselblatt, Gunnar: Herkunft und Auswirkungen der Apologetik Muhammed ʿAbduh’s (1849-1905), untersucht an seiner Schrift: Islam und Christentum im Verhältnis zu Wissenschaft und Zivilisation, Göttingen 1968, S.19, 88-89, 186.
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Diese Verquickung wird unter anderem von Midhat und ʿAbduh aufgegriffen und stark ausgebaut und ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahr24 hunderts allgegenwärtig. Die ,christlich-islamische‘ Polemik war schon in der ersten Hälfte wieder aufgeflammt, nachdem sie im 18. Jahrhundert 25 im Zuge der europäischen Aufklärung an Schärfe verloren hatte. Ausgelöst wurde sie durch die protestantischen – in ihrer Stoßrichtung aber verschiedenartigen – Missionen, die im gesamten Nahen und Mittleren Osten in den 1830er Jahren in Form von «Biblischen Gesellschaften», Schriften und Schulen Fuß gefasst hatten, und die teils auf positive, teils auf negative Resonanz gestoßen waren. Empörte Erwiderungen entfachte das unter anderem auf Azeri-Türkisch (1832), Persisch (1835), Urdu (ca. 1840), Osmanisch-Türkisch (1862), Arabisch (1865) und Englisch (1866) erschienene Traktat «Mīzān ul-Ḥaqq» (Die Waage der Wahrheit) Karl Gottlieb Pfanders, der an der Schule der Basler Missionsgesellschaft aus26 gebildet worden war. Er kehrt darin die von Muslimen erhobene Behauptung, die Bibel sei verfälscht und nur der Koran verkünde das echte 27 Gotteswort, um und lässt allein die christlichen Dogmen gelten. Die in der Regel nicht minder apodiktischen Verteidigungen des Islam stamm28 ten vor allem aus der Feder traditionalistischer muslimischer Theologen. Darunter fand sich auch ein osmanischer Müderris (Medresenlehrer), der Ahmed Midhat Efendi des Unglaubens bezichtigt hatte. Letzteres Beispiel illustriert, dass die Frontlinien in keiner Weise bloß zwischen Muslimen und Christen oder Europäern und Orientalen verliefen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war dieser theologische Streit um die christliche und islamische Religion dann von der Auseinanderset24 25
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Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.181. Hourani, Albert: Islam in European Thought, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 1991, S.15-27; Flores, Alexander: Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011, S.125-131. Positive MohammedDarstellungen finden sich beispielsweise in den USA aber durchaus auch im 19. Jahrhundert, so bei Thomas Carlyle, Washington Irvin oder Reginald Bosworth Smith (siehe Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.178; vgl. Hourani, ebd.). Schirrmacher, Christine: Mit den Waffen des Gegners. Christlich-muslimische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Auseinandersetzung um Karl Gottlieb Pfanders ‘Mîzân ul-ḥaqq’ und Raḥmatullâh ibn Ḫalîl al-ʿUṯmânî al-Kairanâwîs ‘Iẓhâr al-ḥaqq’ und der Diskussion über das Barnabasevangelium, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 1992. Die deutsche, 1829 verfasste Originalfassung ist nicht veröffentlicht (ebd., S. 41, 76-79). Pfander, Karl Gottlieb: The Mizan Ul Haqq; Or, Balance of Truth, ins Engl. übersetzt von R.H. Weakley, London: Church Missionary House, 1866, besonders Teil 3, Kap. 3 “The Character of the Contents of the Koran”, S. 88-104. Siehe oben, Fn. 26.
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zung um ihre Vereinbarkeit mit Wissenschaft und Philosophie und ihre ,Fortschrittstauglichkeit‘ vor allem zwischen Protestanten und muslimischen Reformern überlagert worden. Protestantische Bildungseinrichtungen wie das bereits erwähnte Syrian Protestant College (SPC) in Beirut, das 1866 von amerikanischen Missionaren gegründet worden war, fanden gerade auch bei nahöstlichen Intellektuellen, die sich am wissenschaftlichen Fortschritt der Europäer ein Beispiel nehmen wollten, großen Anklang, denn dort wurden die neuesten Natur- und Sozialwissenschaften gelehrt. Viele christliche und bald auch muslimische Absolventen des SPC wurden zu namhaften und einflussreichen Akademikern, Ärzten, Rechtsanwälten, Lehrern, Journa29 listen und Schriftstellern im Nahen Osten. Bei Ahmed Midhat Efendi ebenso wie bei ʿAbduh schneidet der Protestantismus indes keineswegs besser ab als der Katholizismus im Hin30 blick auf die Harmonie mit Wissenschaft und Philosophie. Hier liegt der Schluss nahe, dass der Protestantismus ebenfalls ausdrücklich abgelehnt wurde, da er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein Konkurrent zum Islam hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Wissenschaft und Philosophie gesehen wurde. So hatte das SPC es sich zum Motto gemacht, seine Studenten zu unterrichten «[…] in the spirit and method best calculated to conserve the teachings of revealed truth and demonstrate the essential harmony between the Bible and all true science and philoso31 phy.» Tauscht man in dieser Formulierung die Bibel durch den Koran aus, so ist kein Unterschied zwischen der Harmoniethese der muslimischen Reformer und jener der Protestanten zu erkennen. Allerdings war es auch am SPC zu einer heftigen Auseinandersetzung über die Harmoniethese bzw. das Verständnis von ,wahrer‘ Wissenschaft und Philosophie gekommen. So war 1882 einer der Dozenten, Edwin Lewis, der Darwins Evolutionstheorie öffentlich gelobt hatte, von der damaligen Leitung des SPC aus dem Lehrkörper ausgeschlossen worden. Die Entlassung von Lewis löste die «erste Hochschulrevolte in der arabischen Welt» aus und 32 veranlasste einige protestantische Dozenten, das SPC zu verlassen. Der Wettbewerb um die Harmonie der eigenen Religion mit den mo29 30 31 32
Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd.1, S.198. Siehe unten, S. 88-89, 233-234, 267-268. Penrose, That they may have life, (Fn. 8), S. 48. Djurdjī Zaidān: “Awwal thaura madrasiyya fī l-ʿālam al-ʿarabī”, in: Hilāl 33 (1924), S. 271; Haroun, Šiblī Šumayyil, (Fn.14), S. 28; Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd.1, S. 205.
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dernen Wissenschaften ist in zahlreichen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts belegt, und er ging oft mit einer Diffamierung der jeweiligen Konkurrenzreligion einher. Anstelle der Religion konnte aber ebenso die eigene «Zivilisation», «Kultur» oder «Rasse» in Bezug auf ihre Wissenschaftstauglichkeit und Philosophiemündigkeit in Wert gesetzt werden. Zu jenen, die gleich alle diese Komponenten in die Waagschale warfen, gehörte der Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan, der in seinem Werk «La vie de Jésus» (1863) Jesus als überaus human gesinnten Menschen porträtierte und damit in Theologenkreisen großes 33 Aufsehen erregte. In «Averroès et l’Averroïsme» (1852) stellte er den muslimischen Philosophen Averroes als einen vom gemeinen Volk und den Religionsgelehrten geschassten und gehassten Freidenker dar, der in seiner muslimischen Heimat vergessen worden war, dessen aristotelische Lehren sich in Europa jedoch gegen den Widerstand der Kirche hatten durchsetzen können. 1883 beschied er in einem unter dem Titel «L’Islamisme et la Science» an der Sorbonne gehaltenen Vortrag dem Christentum aber die grundsätzliche Fähigkeit zur Versöhnung mit der weltlichen, «positiven» Wissenschaft bzw. die Fähigkeit, vor ihr zu kapitulieren. Den Islam disqualifiziert er hingegen als wesenhaft der Wissenschaft und Philosophie gegenüber feindlich. Mit diesen Thesen, die in Windeseile gedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, löste Renan eine im Nahen Osten wie in Europa weite Kreise ziehende Debatte über das Verhältnis von Islam und Christentum zu Wissenschaft und Philosophie 34 aus und beförderte vielerorts anti-islamische Einstellungen. Die große Blüte der weltlichen Wissenschaften und der Philosophie unter der Herrschaft der Kalifen und ihren diesbezüglichen Vorsprung gegenüber Europa bis ins 13. Jahrhundert leugnet Renan nicht, schreibt sie aber allein dem Einfluss der griechischen Philosophie und den Denkern nichtarabi35 scher Herkunft zu. Renan verquickt seine Islam-Kritik mit einer nach 33 34
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Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr (Siebeck) 2 1913, S. 647-651. Renan, Ernest: “Der Islam und die Wissenschaft”, in: Birgit Schäbler: Moderne Muslime – Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883, Paderborn: Ferd. Schöningh, S.133-149, hier S.145-147. Der Vortrag wurde noch im selben Jahr ins Deutsche und Russische übersetzt. Renan hatte seine darin vorgebrachten Thesen aber bereits in früheren Schriften zum Ausdruck gebracht (Schäbler, Moderne Muslime, S. 24-57). Renan, Der Islam und die Wissenschaft, (Fn. 34), S.135-143. Renans Auffassung vom Verlauf der Philosophiegeschichte und vom Mangel des Islam und auch der Araber und Türken an echter Rationalität finden sich u.a. bereits bei Jacob Brucker (1696–1770), bei Samuel Forney (1711–1797), Gottfried Herder (1744–1803) (König-Pralong, Catheri-
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heutigen Maßstäben rassistischen Theorie von der Höherwertigkeit der indoeuropäischen, arischen Rasse und der Minderwertigkeit aller übrigen 36 Rassen, insbesondere der semitisch-arabischen und der türkischen. Die vermeintliche Unvereinbarkeit von Islam und Wissenschaft griffen zahlreiche namhafte Persönlichkeiten noch im selben Jahr auf. Der überzeugte Comte-Anhänger Charles Mismer, der Jahrzehnte im Osmanischen Reich verbracht und zu jener Zeit auf Bitten des Gouverneurs von Ägypten die Leitung der damaligen ägyptischen Mission in Frankreich übernommen hatte, verteidigte den Islam und bescheinigte ihm, wie auch schon in vielen anderen seiner Schriften, die Fähigkeit zur Regeneration 37 und zur Versöhnung mit dem «Fortschritt der Zivilisation». Zugleich appellierte er an die Staatsraison, derart falschen Vorstellungen vom Islam, wie Renan sie verbreite, entgegenzutreten, um den Graben zwischen 38 Frankreich und den Muslimen nicht noch weiter zu vergrößern. Der osmanische Propagandist des Positivismus, der Landwirtschaftsingenieur Ahmed Rıza, widersprach der Behauptung der Wissenschafts39 und Philosophiefeindlichkeit des Islam ebenfalls. Die These einer vollständigen Harmonie des Islam mit den philosophischen Konzepten der Moderne schleuderte der jungosmanische Nationalist Namık Kemal Ren40 an entgegen. Ähnlich reagierte in Sankt Petersburg der tatarische, in der klassischen islamischen Scholastik geschulte und in den höchsten Kreisen der russischen Administration verkehrende Imam und Regierungs-
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ne: Médiévisme philosophique et raison moderne de Pierre Bayle à Ernest Renan, Paris: Vrin, 2016, S. 53-55, 63-65; Rudolph, Ulrich: “Einleitung”, in: Ders. (Hg.) unter Mitarbeit von Renate Würsch: Philosophie in der islamischen Welt, Bd.1: 8.-10. Jahrhundert, Basel: Schwabe 2012 (Grundriss der Geschichte der Philosophie). Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S. 23, 35-48; Dies.: “Religion, Rasse und Wissenschaft: Ernest Renan im Disput mit Jamal Al-Din Al-Afghani”, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, (letzter Zugriff, 3.12.2016). Mismer, Charles: “L’Islamisme et la science”, in: La Philosophie Positive 30,15 (janvier à juin 1883), S. 437-453, hier S. 439. Auf Arabisch veröffentlichte Aḥmad Amīn eine kurze Paraphrase der Stellungnahme: Zuʿamāʾ al-iṣlāḥ fī l-ʿaṣr al-ḥadīth, Kairo 51989, S. 87-88. Zu Mismers anderen Schriften, wie u.a. Soirées de Constantinople und La regénération de l’Islam siehe: Interview mit Sadek Sellam:‹https://info.yamar.org/2016/06/19/charlesmismer-un-ecrivain-passionne-par-lislam/›(letzter Zugriff: 9.10.2016). Mismer, L’Islamisme et la science, (Fn. 37), S. 438. Kabakcı, L’introduction, (Fn.11), S. 83; Özervarlı, § 3.1.5 Positivismus und Wissenschaftsphilosophie, (Fn.11). Kemal, Namık: “Die Verteidigung des Islam gegen Renan”, in: Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S.167-204, dazu Schäbler, ebd., S. 93-106. Niyazi Berkes analysiert am Beispiel des Liberalismus das intellektuelle Dilemma, in das Kemal durch seinen Harmonieanspruch geriet (The Development of Secularism in Turkey, mit einer neuen Einleitung von Feroz Ahmad, New York: Routledge 1998, S. 208-218).
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beamte Ataulla Bajazitov. In einer sachlich-ironischen Replik auf Renan attestierte Bajazitov dem Islam Modernetauglichkeit und erachtete ihn 41 von seinem «Wesen» her als wissenschaftsfördernd. Bajazitov hat dabei deutlich ein universalistisches Zivilisationskonzept vor Augen, wobei er den Wissenschaftlern und Philosophen die Aufgabe zuschreibt, «den Ausgangspunkt für die Schaffung eines gegenseitigen Einverständnisses zwischen Wissenschaft und Religion zu finden, damit sie gemeinsam zur 42 Wahrheit gelangen». Diese in russischer Sprache erschienene Schrift ließ Ahmed Midhat Efendi ins Osmanisch-Türkische übersetzen und als Serie in seiner Zeitschrift Tercüman-ı Hakikat wie auch als Buch verbreiten. Zustimmung erntete Renan hingegen bei dem muslimischen Freimaurer und antikolonialistischen Agitator Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī, den er in Paris kennengelernt hatte, und der ihn durch seine Intelli43 genz und Vorurteilsfreiheit zutiefst beeindruckte. Afghānī pflichtete Renan bei, dass die islamische Religion ebenso wie die christliche Religion, «die Wissenschaft zu ersticken und ihre Fortschritte zu hindern» versucht habe, erachtete es jedoch für möglich, «dass auch die muslimische Gesellschaft eines Tages dazu gelangen wird, ihre Fesseln zu brechen und 44 entschlossen auf der Bahn der Zivilisation fortzuschreiten». Diese Positionsnahme Afghānīs erschien allerdings erst über hundert Jahre später 45 vollständig auf Arabisch, sodass in arabischer Sprache lange Zeit bloß seine den Islam als Vernunftreligion apostrophierenden Schriften bekannt waren. Das gilt ebenso für das Persische – zumindest bis zum Jahre 2002 41 42
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Kügelgen, Anke von: “Eine Erwiderung auf Ernest Renans Rede ‘Der Islam und die Wissenschaft’”, in: Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S. 205-230; Schäbler, ebd., S.107-118. Kügelgen, Eine Erwiderung, (Fn. 41), S. 230; Bajazitov wiederholt diesen Gedanken auch in seiner folgenden Schrift Die Beziehung des Islams zu Wissenschaft und Andersgläubigen (1887). In seinem zehn Jahre darauf erschienen Buch Islam und Fortschritt (1898) erklärt er den wissenschaftlich-technischen Fortschritt allerdings als zu wenig durch die Religion ausgeglichen und weist die Wissenschaft in die Schranken (Kügelgen, Anke von: “‘Progressiver Islam’ im ausgehenden Zarenreich: Das Plädoyer des St. Petersburger Imams und Regierungsbeamten Ataulla Bajazitov (1846–1911) für die Partizipation der Muslime an der modernen Zivilisation”, in: Asiatische Studien 3 (2013), S. 927-964, hier S. 950). Zu Bajazitovs Kontakten zu russischen Intellektuellen siehe auch Bekkin, Renat I.: “Ber duslyk tarixy: G. Bajazitov həm V.S. Solov’jev”, in: Fənni Tatarstan 3 (2016), S. 87-103 (ein offensichtlicher Opponent Bajazitovs schrieb dessen russischsprachige Werke dem Kreis um V.L. Velichkov zu, S. 94). Renan, Ernest: “Erwiderung”, in: Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S.161-165, hier S.161-162. al-Afghani, Dschamal al-Din: “Kritik”, in: Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S.151160, hier S.154. Schäbler, Moderne Muslime, (Fn. 34), S. 88.
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existierte gar keine Übersetzung in Afghānīs Muttersprache. In den im vorliegenden Band übersetzten Texten tritt Afghānī als Schlichter zwischen Theologie und diesseitsbezogener Philosophie in Erscheinung; dies in einem Disput zwischen einem osmanischen und iranischen Intellektuellen, den höchstwahrscheinlich Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī entweder er47 dacht, protokolliert oder paraphrasiert hat. Von einigen nahöstlichen Intellektuellen positiv rezipiert wurden auch Renans Einstehen für die Freiheit der Wissenschaft und seine historische Kritik der Überlieferungen über das Leben Jesu. Von Renans Schriften inspiriert, formulierte in Alexandria der aus einem griechisch-orthodoxen Elternhaus stammende Journalist und Literat Faraḥ Anṭūn das of48 fenbar erste offen säkularistische Plädoyer im Nahen Osten. In Tiflis zeigte sich der schiitisch sozialisierte Schriftsteller Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde, dessen Religionskritik im vorliegenden Band vorgestellt wird, von Renans ,Ketzerei‘ angetan. Vielen Angehörigen der muslimischen und der im Nahen Osten beheimateten christlichen Elitengruppen galten Wissenschaft und zum Teil auch die mit ihr in eins gesetzte oder bewusst selbständige Philosophie als die eigentlichen Fortschrittsträger, denen sich die Religion anzupassen oder zu beugen hatte. Afghānī, einer der erbittertsten Antikolonialisten, ging in einer an indische Muslime gerichteten Rede sogar so weit, ihnen die Wissenschaft als das wichtigste Gut und die Hauptwaffe zu apostrophieren, die es zu besitzen gelte, wolle man Usurpatoren standhalten. Er setzt Wissenschaft als den eigentlichen «Herrscher über die Welt» (sultān-e ʿālem) in Wert und schreibt die Siege der Völker im Laufe der Geschichte, so auch jene der europäischen Imperialisten, allein ihrer Kraft zu: «Die Europäer (farangīhā) haben jetzt von der ganzen Welt Besitz er46 47 48
Vahdat, Farzin: God and Juggernaut – Iran’s Intellectual Encounter with Modernity, Syracuse University Press, 2002, S. 59. Siehe in diesem Band: Rezaei-Tazik/Mäder, “Gottvertrauen”, S.196. Anṭūn, Faraḥ: Ibn Rushd wa-falsafatuhu. Maʿa nuṣūṣ al-munāẓara baina Muḥammad ʿAbduh wa-Faraḥ Anṭūn, hg. v. Adūnīs al-ʿAkra, Beirut: Dār aṭ-Ṭalīʿa, 1981 (Alexandria, 1 1902), S.144-150; englische Übersetzung: Antun, Farah: “The Meaning of ‘Tolerance’, Which Is The Basis Of Modern Civilisation”, in: Journal of Levantine Studies 3 (2013), S.159-172, hier S.162-172; italienische, kommentierte Teilübersetzung: Viviani, Paola: Un maestro del Novecento arabo: Faraḥ Anṭūn, Rom: Jouvence, 2004, S. 236-247. Zu Anṭūns Renan-Rezeption siehe Montada, Josep Puig: “Faraḥ Anṭûn, Active Reception of European Thought”, in: Pensamiento 64 (2008), S.1003-1024, hier S.1015-1016; Kügelgen, Anke von: Averroes und die arabische Moderne: Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden [u.a.]: Brill, 1994, S. 79, 82-83.
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griffen. Die Engländer sind bis nach Afghanistan gekommen und die Franzosen (farang) haben Tunesien in ihre Gewalt gebracht. In Wirklichkeit gehen diese Usurpation, diese Aggression und Eroberung weder von den Franzosen noch von den Engländern aus, sondern von der Wissenschaft, die allerorten ihre Macht (ʿazemat) und ihren Glanz (shoukat) in 49 Erscheinung treten läßt.» Ein treffendes Beispiel dafür, wie stark der Druck auf die Religion geworden war, zeigt ein Zitat Muḥammad ʿAbduhs von 1899 – eine Passage aus Bismarcks Tagebüchern, in der dieser seinen christlichen Glauben als das Hauptmovens charakterisiert, das sein politisches Handeln bestimmt (aus einer französischen Übersetzung): «Ich hielt es für angebracht, sie zu übersetzen, damit sie diejenigen unserer jungen Männer, die dieses Buch [die Tagebücher Bismarcks, A.v.K.] noch nicht beachtet haben, studieren können. Sie, welche die Zugehörigkeit zu ihrer Religion als Grund zur Scham ansehen und das öffentliche Festhalten an ihr für eine Schande erachten, mögen erfahren: Der Glaube an Gott und an die göttliche Offenbarung durch seine Propheten stellt keinen Defekt im Denken, kein Verlassen der wahren Wissenschaft, und keine Schande für die Ausübung 50 der Führung dar, noch ist er Ausdruck politischer Schwäche». Ersatz für die Religion versprachen die Wissenschaften vor allem dann, wenn sie mit einer Weltanschauung, einer Philosophie verknüpft wurden. Der Positivismus sowie der als naturwissenschaftlicher Materialismus und Sozialdarwinismus gedeutete Evolutionismus waren dominante philosophische Richtungen, die sich ebenso wie in Europa auch im Nahen Osten als Alternative anboten. Aufgrund ihrer expliziten Ablehnung der überlieferten Religionen hatte die ,neue‘ Philosophie jedoch keinen leichten Stand. Ihr Atheismus ließ dafür die Metaphysik, der der Ruf man49
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Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e: “Taʿlīm wa taʿallum”, in: Ders.: Madjmūʿe-ye Āsār IX: Madjmūʿe-ye Rasāʾel wa Maqālāt, hg. v. Seyyed Hādī Khosroushāhī, Kairo, 2002/1423 h.q., S.127-134, hier, S.129; englische Übersetzung: “Lecture on Teaching and Learning”, in: Keddie, Nikki R. (Hg.): An Islamic Response to Imperialism, Berkeley: University of California Press, 1968, S.101-108, hier S.102. Die Übersetzung stammt von Andreas Meier: “Islamische Zivilreligion im Dienst des Vaterlands! – Muḥammad ʿAbduh, Bismarck und die Religion”, in: Ders., Der politische Auftrag des Islam, Wuppertal: Peter Hammer, 1994, S. 90-94; arabisch: ʿAbduh, Muḥammad: “Bismārk wad-dīn”, in: Muḥammad ʿAmāra [ʿImāra] (Hg.): al-Aʿmāl alkāmila lil-Imām Muḥammad ʿAbduh, Bd. 3, Beirut 21980, S. 489-491, hier S. 489. Ähnlich äußert sich auch Aḥmed Midḥat (siehe unten, S. 236, 242, 260, 261).
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gelnder Gottesfurcht anhaftete, nun in besserem Lichte erscheinen und lange Zeit umstrittene Philosophen wie Averroes wurden als gläubige 51 Philosophen rehabilitiert. Die Mehrzahl der religionskritischen Intellektuellen wandte sich jedoch nicht völlig von der Religion ab, um den Wissenschaften Raum zu bieten. Sie strebte aber nach einer Entmachtung der geistlichen Autorität und der Erlangung größerer Freiheiten. Die Wege, die sie dafür wählten, waren unterschiedlicher Natur. Das Freimaurertum mit seinen starken emanzipatorischen Werten und Praktiken war einer davon. So gehörten zahlreiche Intellektuelle und Politiker einer Loge an; zu den bekanntesten zählte der Kaukab ash-Sharq (Stern des Ostens), die unter der Ägide der 52 Grand Lodge of England 1871 in Ägypten begründete Loge. Viele der Intellektuellen waren zugleich Reformer ihrer eigenen Religion und traten als Advokaten der Harmoniethese auf. Andere Wege, sich aus den Fesseln der eigenen religiösen Traditionen und Institutionen zu lösen, waren der Religions- und Konfessionswechsel oder die Verkündung einer neuen Religion oder Konfession. Besonders einflussreiche neue Religionen waren für die iranischen Intellektuellen der aus der Schia hervorgegangene Babismus und das aus ihm entwickelte Bahaitum, die die Übereinstimmung ihres Glaubens mit Vernunft und Wissenschaft betonen und soziale Gleichheit insbesondere für Frauen fordern. Manche Intellektuelle konvertierten mehrfach, wie der persische Literat Mīrzā Mohammad Bāqer-e Bawānātī (gest. 1892/3). Nachdem er zunächst von der Zwölfer-Schia zum Protestantismus übergetreten war – in diesem Stadium hatte ihn Afghānī kennengelernt –, konvertierte er darauf zum Judentum, Zoroastrismus und schließlich zum sunnitischen Islam. In seiner letzten Glaubensphase als Muslim wurde er für seine Fähigkeit bekannt, Islam-Zweifler 53 und Atheisten wieder zum Islam zu bringen; so etwa im Falle von Ahmed Midhat Efendi (S. 231). Er wird teilweise als selbststilisierter Prophet 51 52
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Kügelgen: Averroes, (Fn. 48). Zur Freimaurerei in der MENA-Region siehe Algar, Hamid: “An Introduction to the History of Freemasonry in Iran”, in: Middle Eastern Studies 6 (1970), S. 276-296; Wissa, Karim: “Freemasonry in Egypt 1798-1921”, in: Bulletin (British Society for Middle Eastern Studies) 16 (1989), S.143-161 und Zarcone, Thierry: Le croissant et le compas, Paris: Dervy, 2015. Riḍā, Muḥammad Rashīd: “ad-Difāʿ ʿan al-Islām wad-daʿwa ilaihī”, in: Ders.: Tārīkh, (Fn. 13), Bd.1, S. 819; Strauss, Johann: “Nineteenth-Century Ottoman and Iranian Encounters: Ahmed Midhat Efendi and Ebrāhīm Jān Moʿaṭṭar (Moḥammad Bāqer Bawānātī)”, in: Brunner, Rainer / Ende, Werner (Hg.): The Twelver Shia in Modern Times. Religious Culture & Political History, Leiden [u.a.]: Brill, 2001, S.107.
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und seine synkretistisch anmutende Glaubensrichtung als «islamo54 christliches System» bezeichnet. Tendenziell weniger wechselhaft nehmen sich demgegenüber die ,Glaubensviten‘ christlicher Intellektueller aus. Doch auch sie zeugen von einer tiefen Verunsicherung und Erschütterung der Glaubhaftigkeit überlieferter Dogmen und der sie vertretenden Autoritäten. Der Protestantismus übte nicht nur eine gewisse Anziehungskraft aus (nicht zuletzt dank des Syrian Protestant College), sondern war im damaligen Kontext eine ,Fluchtmöglichkeit‘ aus eigenen, als geistig ,verkrustet‘ wahrgenommenen religiösen Traditionen. Mīkhāʾīl Mushāqa, Arzt und Musiktheoretiker, kehrte ihm zugunsten der melkitisch griechisch-katholischen Kirche den Rücken. Der bekannteste nahöstliche Enzyklopädist des 19. Jahrhunderts, Buṭrus al-Bustānī, sagte sich für ihn vom Katholizismus los, und Yaʿqūb Ṣarrūf, ein überzeugter Darwinist, verließ für ihn die maronitische Kirche. Der maronitisch sozialisierte Schriftsteller Fāris Shidyāq ging denselben Weg, wandte sich an seinem Lebensende aber dem Islam zu. Sie alle hatten dabei gegen Widerstände ihrer Kirchenoberhäupter zu kämpfen. So wies beispielsweise der melkitische Patriarch erfolgreich seine Gläubigen an, sich nicht mehr von Mīkhāʾīl Mushāqa behandeln zu lassen. Ein Austritt aus der maronitischen 55 Kirche galt als eine Todsünde. Was die nahöstlichen Intellektuellen damit meinten, wenn sie sich für die Wissenschaften und den von ihnen erhofften Fortschritt stark machten, hing vor allem von ihrer jeweiligen Auffassung von Religion und oft auch von ihrer Auffassung von Philosophie ab. Wer unter den nahöstlichen Denkern die klassische Wissenschaftskonzeption vertrat, postulierte die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Philosophie zumindest mit der islamischen Religion. Diese Konzeption von Wissenschaft war mit einer idealistischen Philosophie verknüpft, und gleich ob unter Philosophie nur Metaphysik oder alle weltlichen Wissenschaften gefasst wurden, ging sie von einer Übereinstimmung der subjektiven Erkenntnis mit der objektiven Wesenheit bzw. Wahrheit aus. Sie setzte die Existenz 54 55
Afshār, Ī.: “Bavānātī”, in: Yarshater, E. (Hg.): Encyclopaedia Iranica, London [u.a.]: Routledge & Kegan Paul, 1987, Vol. III, S. 874-875. Fontaine, Jean: La crise religieuse des écrivains syro-libanais chrétiens de 1825 à 1940, Tunis: IBLA, 1996. Zu weiteren Beispielen des Verbots oder der Ächtung der Konversion auch in anderen orientalischen christlichen Glaubensgemeinschaften siehe Merten, Kai: Untereinander, nicht nebeneinander: Das Zusammenleben religiöser und kultureller Gruppen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts, Berlin: Lit Verlag, 2014, S. 64-95, et passim.
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eines Ewigen, Unveränderlichen und Notwendigen voraus und postulierte, das Universale im Sinne des «Wesensallgemeinen» einer Sache zu er56 fassen. Wer hingegen Wissenschaft von einem objektiven, absoluten Wahrheitsanspruch und metaphysischen Instanzen löste und sie als sich ständig fortentwickelnde Forschung begriff, der erachtete Religion entweder als überholt oder Wissenschaft und Religion als getrennte Wissens- bzw. Glaubensbereiche. Philosophie trat dabei teils an die Stelle von Religion und erhielt die Aufgabe von ,Orientierungswissen‘ und wurde teils als der Verwissenschaftlichung vorausgehende ,visionäre‘ Hypothesenbildung verstanden. Die Konfliktthese Ein Konflikt zwischen Wissenschaft bzw. Philosophie und Religion setzt mindestens einen gemeinsamen Problembereich voraus. Er kann kognitiver Art sein und Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt und des Menschen betreffen. Darüber hinaus kann er auch normativen Charakter haben, insofern Religion wie auch Ethik Aussagen darüber treffen, wie sich ein Mensch verhalten sollte, und wissenschaftliche Studien, etwa Forschung zu Primaten und Pädagogik, Erkenntnisse und Thesen formulieren, die als Orientierungswissen oder zur Normenbildung genutzt werden. Im nahöstlichen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts sind beide Problembereiche für die Konfliktthese virulent. In der Mehrzahl der Fälle ist der Islam die Religion, an der sich die Konfliktthese entzündet, doch treffen die sein Welt- und Jenseitswissen verzehrenden Flammen alle Religionen, selbst wenn in der Asche einige Restbestände erhalten geblieben scheinen. Es sind verschiedene Denkrichtungen, die dazu das Zündholz liefern – der Szientismus in Gestalt des Naturalismus bzw. des naturwissenschaftlichen Materialismus, der Sozialdarwinismus, der Positivismus sowie der Marxismus, und in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es auch eine sozialkritische, physiomonistisch-pantheistische Weltanschauung. Ich unterscheide davon eine weiche Konfliktthese: Hier stehen nur 56
Zum Wandel des Wissenschaftskonzepts im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, der für die Entwicklung im 20. Jahrhundert entscheidend wurde, siehe Diemer, Alwin: “Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert – Die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption”, in: Ders. (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, Meisenheim am Glan: Anton Hain, 1968, S. 3-62.
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die im wörtlichen Sinn verstandenen religiösen Aussagen der Offenbarungsschriften in einem Konflikt zur Wissenschaft bzw. Philosophie. Versteht man die Aussagen der Offenbarungsschriften in einem übertragenen Sinn, dann löst sich der Konflikt auf. Hier ist dann Harmonie ein mögliches Ziel und nicht Verdrängung, wie bei der harten Konfliktthese. Die andere Perspektive des Konflikts, die des Literalismus, dessen Befürworter allein den Wortlaut der Offenbarungsschriften anerkennen, wird hier nicht berücksichtigt, da in diesem Band der Fokus auf religionskritischen Stimmen liegt. Im Folgenden unter dem Aspekt der Konfliktthese vorgestellt werden die Positionen des mit einer Übersetzung aus dem Persischen präsenten Autors Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde aus Tiflis (1812–1878) sowie des weiteren Positionen arabisch- bzw. osmanisch-türkischsprachiger Philosophen und Publizisten. Es sind dies aus der Region des Libanon Shiblī Shumayyil (1850–1917), aus Ägypten Salāma Mūsā (1887–1958) und Ismāʿīl Aḥmad Adham (1911–1940), aus Istanbul der im Band näher porträtierte und mit übersetzten Texten präsente Baha Tevfik (1884?–1914), aus Saudi-Arabien ʿAbdallāh al-Qaṣīmī (1907–1996) und aus Damaskus Ṣādiq Djalāl al-ʿAẓm (1934–2016).
Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde (1812–1878) Mit Ākhūndzāde ist in diesem Band einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Advokat der modernen Projektionstheorie unter Muslimen vertreten. Er belässt es nicht dabei, wie die rationalistischen Theologen, muslimischen Aristoteliker und Platoniker, Gott von jeglichen menschlichen, anthropomorphen Zügen freizuhalten, sondern stößt mitten ins ,offenbarungsgläubige Herz‘, indem er das Prophetentum, den Propheten und das koranische Porträt Gottes frontal angreift: «Der Bedarf an einem Auserwählten existiert bloß in dir selbst! Wie kannst du nur einen solchen Bedarf dem Schöpfer zuschreiben? ... Wenn du sagen würdest, dem Schöpfer erwüchse daraus ein Nutzen, dann wäre er eigennützig und hätte eigene Absichten – doch diese Eigenschaften sind wiederum deine eigenen Eigenschaften» (S.160). Ākhūndzāde, der in seiner Jugend muslimischer Geistlicher hatte werden wollen und daher koran- und hadithfest war, sucht später den Koran als ein schändliches Machwerk des Propheten Mohammed zu entlarven, in welchem dieser die Ängste, Wünsche und Triebe der Menschen und nicht zuletzt seine eigene Wollust bedient 49
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(S.170). Er fragt, wie denn ein Gott als gerecht, als barmherzig und wohltätig angesehen werden könne, der Menschen verfluche, zu ihrer Tötung aufrufe und von einer solchen Rachsucht sei, dass er eine Hölle sein eigen nenne, in der er schlimmer wüte «als all die Scharfrichter, Henker, Tyrannen und Schlächter zusammen» (S.185). Die Kultpflichten wie die fünf Gebete und das Fasten erachtet Ākhūndzāde als pragmatische Beschäftigungsmaßnahmen für die arabischen Krieger und Wegelagerer, in der modernen Zeit hält er sie für sozial schädlich, da sie von der Arbeit abhielten – «hätte der Prophet mit dem Gebet einzig die Besinnung an Gott bezweckt, würde ein abendliches Gebet pro Tag genügen» (S.180). Derlei radikale Religionskritik erinnert in ihrer Stoßrichtung an Voltaire, David Hume, Ludwig Feuerbach und Ernest Renan sowie auch an Renans und andere orientalistische Mohammedkritik; zumindest mit Humes «Dialogues Concerning Natural Religion» scheint Ākhūndzāde auch 57 näher vertraut gewesen zu sein. Zweifelsohne hat ihn aber die primär von Protestanten ausgehende oder eine an ihnen orientierte Hinterfragung der Religion bei seiner eigenen Religionskritik inspiriert. Ākhūndzāde zielt mit seinem Werk «Maktūbāt» darauf, die Grundlage der islamischen Religion zu zerstören und einen «Protestantismus (prātestāntezm) im Islam» zu begründen (S.130). Rund dreißig Jahre später, Ende des 19. Jahrhunderts, fordert Afghānī eine religiöse Bewegung für den Islam, wie Luther sie im Christentum ausgelöst hatte, und scheint sich selbst bisweilen als einen solchen gesehen zu haben, und im Verlaufe des 20. Jahrhunderts plädieren eine Reihe von muslimischen Denkern für eine 58 Protestantisierung ihrer Religion. Sie sind allerdings allesamt Advokaten der Harmoniethese. Ākhūndzāde hingegen versteht «Protestantismus» als eine Glaubensrichtung (mazhab), «in der alle Rechte Gottes wie auch 57 58
Masroori, Cyrus: “European Thought in Nineteenth-Century Iran: David Hume and Others.” in: Journal of the History of Ideas 61,4 (2000), S. 657-674; siehe auch unten, S.132. Riḍā, Tārīkh, (Fn. 13), Bd.1, S. 82-83; Keddie, Nikki R.: Sayyid Jamāl ad-Dīn “al-Afghānī” – A Political Biography, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1972, S. 95, 391-392; Sukidi [Mulyadi]: “The Traveling Idea of Islamic Protestantism: A Study of Iranian Luthers”, in: Islam and Christian-Muslim Relations 16 (2005), S. 401412; Schulze, Reinhard: “Islam und Judentum im Angesicht der Protestantisierung der Religionen im 19. Jahrhundert”, in: Gall, Lothar / Willoweit, Dietmar (Hg.): Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts, München: R. Oldenbourg Verlag, 2011, S.139-165; Meier, Andreas: “Säkularisierung im Islam als religiöse Reform – ein Martin Luther im Islam? (Aḥmīda an-Naifar, die Islamisten, Luther und die umgestürzte Pyramide, 1984)”, in: Ders.: Der politische Auftrag des Islam, Wuppertal: Peter Hammer, 1994, S. 487-501.
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Pflichten der Knechte abgeschafft sind und nur die Rechte der Menschen verbleiben» (S.148) und allein die Vernunft herrscht: «So sind die Völker von England, die Yankees und einige weitere Völker Europas protestantisch, das heißt, sie gehören dem Anschein nach (zāheran) zum Christentum, folgen aber eigentlich (bātenan) der Vernunft» (S.165 f.). Ākhūndzāde sieht den Ursprung des Protestantismus keineswegs allein im Christentum, sondern erachtet ihn als eine Glaubensrichtung, die unter Hindus die Tscharwak gepflegt hätten und die in der Islamgemeinschaft im 12. Jahrhundert von ʿAlā Zekrehī as-Salām Esmāʿīlī, einem dem Zweig der Siebener-Schia zugehörigen Herrscher über Alamut, gestiftet worden und 59 mit seiner Ermordung untergegangen sei. Ākhūndzāde legt ʿAlā Zekrehī as-Salām seine eigene Kritik am Propheten Mohammed und sein Plädoyer für die soziale und rechtliche Gleichstellung der Frau, ihre Entschleierung und die Monogamie in den Mund. Bei seiner kurzen Darlegung der philosophischen Lehre von ʿAlā Zekrehī as-Salām greift er zum Teil auf historische Überlieferungen zurück und lässt keinen Zweifel daran, dass er ihren Grundannahmen beipflichtet, namentlich die Ewigkeit der Welt, die Unendlichkeit der Zeit, die Nichtexistenz des Jenseits und die Sterblichkeit der Seele (S.164). Vielerorts in den «Maktūbat» thematisiert er diese Annahmen je einzeln, begründet sie vorwiegend aus einer physiomonistisch-pantheistischen Sicht und beruft sich dabei auch auf die Lehren von der «Einheit des Seins» und der Identität von Schöpfer und Geschöpf muslimischer Mystiker wie Djalāloddīn Rūmī (1207–1273) und Djāmī (1414–1492) sowie auf Brahmanen und Baruch de Spinoza (1632–1677). Ākhūndzāde interpretiert diese Einheitslehren deutlich im Lichte des Materialismus des 19. Jahrhunderts und wendet sich explizit gegen die Trennung des Seins in ein «Möglich-Seiendes» und ein «Notwendig-Seiendes» und somit gegen die Überzeugung der muslimischen Scholastiker und Aristoteliker. Die «Wahrheit» repräsentiert für ihn vielmehr die Lehre der «Naturkundler», die man als «Atheisten» bezeichne: «Sie sagen: ‹Die Dinge bedürfen wohl einer Ursache hinsichtlich ihrer Umwandlung (tanawwoʿāt) und Fortpflanzung (enteqālāt) – aber nicht im Hinblick auf ihr Wesen (māhiyyat) und ihre Essenz (zāt). So benötigt ein Fötus oder ein Samenkorn im Hinblick auf seine Umwandlung und Fortpflanzung – um sich von einem Zustand in einen anderen zu verwandeln 59
Siehe zu den Tscharwak unten, S.177, Fn 76; zu ʿAlā Zekrehī as-Salām Esmāʿīlī siehe unten, S.137.
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– durchaus einen Erzeuger oder Baum, nicht aber im Hinblick auf sein Wesen und seine Essenz.›» (S.193). Philosophie und Wissenschaft scheidet Ākhūndzāde nicht voneinander, er ist nicht an den Methoden der Wissenschaften und deren Wandel interessiert. Unter einem Philosophen ist für ihn «eine Person zu verstehen, die in der Wissenschaft der Vernunft vollkommen ist, die die Urgründe aller Dinge entsprechend den Naturgesetzen feststellt» und Übernatürlichem, wie Wundern, Offenbarungen und Wahrsagungen, keinen Glauben schenkt (S.147). Wissenschaft bzw. Philosophie ist für ihn in erster Linie eigenständiges, offenbarungsunabhängiges Denken und kann und muss, will sich die Gesellschaft zivilisieren, die Religion ersetzen. Vernunftgesteuertes Denken – dazu gehört für ihn maßgeblich Kritik im Sinne einer nicht auf religiösen Überlieferungen basierenden Hinterfragung des vermeintlich Gegebenen – ist der Zivilisierung der Menschheit und damit auch der guten Moral zuträglicher als die Religion. Mit dieser zentralen These sucht Ākhūndzāde das ins Feld geführte Argument für die Religion als Bewahrer von Moralität und Sittlichkeit abzuweisen. Glaube und Kultus erachtet er als sekundäre Konstituenten, mithin als Mittel der Religion, ihr Hauptziel, die gute Moral (akhlāq), zu erreichen (S.191). Mit Verweis auf religiöse Lehren, wie die im Koran verewigte Rachsucht Gottes, und auf einige näher explizierte Schandtaten von Gläubigen und im Gegenzug auf «den Fortschritt» Europas und der USA sucht Ākhūndzāde seine These zu untermauern und kommt zu dem Schluss: «Letztlich ist der Hauptgrund zur Minderung von Verbrechen nicht die Angst vor der Hölle, sondern die Furcht vor weltlicher Strafe, die Schmähung solcher Taten, der gesellschaftliche Meinungsdruck, das Ehrgefühl, der Eifer, die Vernunft, die Wissenschaft. Und hinzu kommt eine dem Menschen angeborene Kraft und Eigenschaft, zu unterscheiden zwischen guter und böser, zwischen Wohl- und Übeltat, die es ihm erlaubt, die gute Tat zu genießen und die böse Tat zu verabscheuen» (S.187). Insofern er Religion als Menschenwerk erachtet, verwundert es auch nicht, wenn er mit Bezug auf eine religiös geprägte Gesellschaft einem «islamischen Protestantismus» das Wort redet, der die Rechte der Menschen an die Stelle der Gottesrechte setzt. Dieser islamische Protestantismus dürfe dann allerdings nur «gedämpfte Handlungen (aʿmāl-e khafīfe) und gemäßigte Bräuche (rosūm-e zāhere)» befolgen und habe «Dinge wie die Tötung und Amputation sowie weitere Vorschriften, die verändert (tabdīl) 52
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und ergänzt (tazyīd) werden müssten» zu missachten (S.165). Das islamische Alkohol- und Glücksspielverbot zählt für ihn dabei zu den sinnvollen, der Gesundheit und dem Lebensgenuss langfristig dienlichen Gesetzen (S.179-180, 186). Es ist für ihn aber nicht entscheidend, dass es ein offenbartes, sondern dass es ein vernünftiges Gebot ist. Wissen und Glaube im Sinne des Glaubens an Übernatürliches sind für Ākhūndzāde indes miteinander unvereinbar, und er klagt die muslimischen Religionsgelehrten an, durch ihre Lehren Barbarei und Unwissenheit zu fördern (S.194-195). Ākhūndzādes Religionskritik war einer Reihe seiner Zeitgenossen bekannt; jenen in Teheran und Istanbul waren die Zungen allerdings stärker gebunden als Ākhūndzāde in Tiflis, wollten sie nicht verfolgt werden. Im Unterschied zu iranischen Verfechtern der Harmoniethese wandte er sich auch gegen die zu seiner Zeit aufkommenden Versuche der «,pragmatischen‘ Ineinssetzung von Islam mit Wissenschaft, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Fortschritt» (S.138). Posthum breiteren Kreisen bekannt geworden ist Ākhūndzādes religionskritisches Hauptwerk allerdings nur in der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere in Aserbaidschan, wo Ākhūndzāde als Denker und Literat weiterhin hohes Ansehen genießt. Im Westen hingegen wird er bislang in der Regel 60 bloß als Autor von Theaterstücken gewürdigt. Doch auch iranische Intellektuelle und Wissenschaftler haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die «Maktūbāt» kaum studiert, geschweige denn gewürdigt. So diskreditieren zwei herausragende Kenner der iranischen modernen Geistesgeschichte, Ali Mirsepassi und Farzin Vahdat, die Lehren von Ākhūndzāde als vollständig am Westen orientiert und schenken seiner Religions61 kritik kaum Beachtung. Vahdat misst ihn zudem mit heutigen Maßstäben und kritisiert sein deterministisches Wissenschaftsverständnis, seinen iranischen, auf die Ablehnung des Arabertums gegründeten Nationa62 lismus und seine Hoffnung auf einen aufgeklärten Herrscher. 60
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Eine Ausnahme bildet die kürzlich erschienene Studie von Gould, Rebecca: “The critique of religion as political critique: Mīrzā Fatḥ ʿAlī Ākhūndzāda’s pre-Islamic xenology”, in: Intellectual History Review 26,2 (2016), S.171-184. Sie erreichte uns kurz vor der Drucklegung und konnte daher von M. Rezaei-Tazik und M. Mäder für ihren Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden. Mirsepassi, Ali: Intellectual Discourse and the Politics of Modernization – Negotiating Modernity in Iran, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 2000, S.12, 61-62. Siehe auch unten, S.126-127. Vahdat, God and Juggernaut, (Fn. 46), S. 42-48.
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Die Konfliktthese wurde und wird, abgesehen von Afghānī in seiner Antwort auf Renan, nach Ākhūndzāde im Wesentlichen von Philosophen mit evolutionistisch-materialistischen Positionen vertreten, wobei sakrale Texte und ihre Boten selten so unmittelbar ins Visier genommen worden 63 sind wie bei ihm. Im Keim finden sich bei Ākhūndzāde bereits alle Elemente der Religionskritik und der materialistischen Ontologie, die in den Schriften späterer Autoren, in systematisierter Form und von einem moderneren Wissenschafts- und Philosophieverständnis begleitet, entwickelt werden. Die Mehrzahl dieser Intellektuellen erachtet eine Koexistenz mit den überlieferten Religionen für möglich, solange sie Privatsache bleiben und keinerlei Erkenntnis- und keine Machtansprüche erheben. Ihre Auffassung von Wissenschaft, Philosophie und auch Religion weichen aber, ganz abgesehen von ihren politischen und sonstigen Positionen, voneinander ab und keiner der im Folgenden skizzierten Verfechter der Konfliktthese nimmt direkt auf Ākhūndzāde Bezug. Deutlich von ihm beeinflusst ist jedoch in seinen späten Jahren Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, der in seinem Werk «Se Maktūb» (Drei Briefe) sogar wortwörtlich, ohne Quellenangabe, lange Textpassagen aus Ākhūndzādes «Maktūbāt» übernimmt, einer Reformation des Islam das Wort redet und Ākhūndzādes iranischen Nationalismus und rassistischen Antiarabismus weiter ausbaut. Er gilt mehr noch als dieser als derjenige Denker, welcher der modernen westlichen Philosophie in Iran den Boden 64 bereitete. Im Gegensatz zu Ākhūndzāde sind Kermānīs religionskritische Positionen entschieden ambivalenter, und er kritisiert Religion auch in den Passagen, in denen er sich eine evolutionistisch-materialistische Weltanschauung zu eigen macht, nicht prinzipiell. Er vermeidet einen Angriff auf die fundamentalen islamischen Glaubensdogmen und betont die Harmonie eines von Obskurantismus gereinigten Islam mit der Moderne und tritt daher primär als ein Advokat der Harmoniethese in Erscheinung. 63
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Eine ähnlich prinzipielle Religionskritik wie Ākhūndzāde, allerdings nicht unbedingt ausgehend von materialistischen Prinzipien übte ʿAlī Dashtī (ca. 1894–1982) in seinem 1937 verfassten Buch «Bīst wa se sāl» (23 Jahre). Eine Veröffentlichung gelang erst 1974 in Beirut; es erschien dort anonym und Zeit seines Lebens konnte sich Dashtī nicht öffentlich zu dem Buch bekennen (Dashti, Ali: 23 Jahre – Die Karriere des Propheten Muhammed, übers., überarb. und hg. von Bahram Choubine und Judith West, Aschaffenburg: Alibri Verlag, 1997, S.18-20). Siehe unten, S. 202 Fn.19; Vahdat, God and Juggernaut, (Fn. 46), S. 36; Tavakoli-Targhi, Mohamad: Refashioning Iran: Orientalism, Occidentalism and Historiography, Hampshire/New York: Palgrave, 2001, S. 99-104.
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Shiblī Shumayyil (1850–1917) Zeitlich am nächsten steht Ākhūndzāde der aus einem griechisch-katho65 lischen Elternhaus stammende libanesische Arzt Shiblī Shumayyil. Er hat seine philosophischen Positionen, die alle evolutionistisch inspiriert sind, unsystematisch und verstreut in vielen Einzelartikeln, in den ausführlichen Einleitungen zu seiner Übersetzung von Büchners Vorlesungen 66 und in Erwiderungen auf seine Kritiker zum Ausdruck gebracht. Zur Philosophie hatte Shumayyil ein zwiespältiges Verhältnis. Er sah die Zukunft allein in den Wissenschaften, benennt die von ihm propagierte Lehre aber als «Philosophie der Evolution und des Fortschritts»; offenbar, weil er die empirischen Beweiskräfte der Wissenschaften dafür noch nicht vollends ausgereift sah. Ebenso wie Ludwig Büchner, Ernst Haeckel und Herbert Spencer, von denen er bald explizit, bald implizit zahlreiche Thesen aufgreift, geht er von Darwins Lehren des Kampfes ums Dasein, der Spielartenbildung, der Vererbung der vorteilhaften Eigenschaften und der natürlichen Selektion aus und entwickelt daraus eine materialistisch-sozialdarwinistische Philosophie. Als ihr Prinzip definiert er – mit deutlicher Spitze gegen das theologische Dogma der göttlichen Einheit – die Einheit der Natur (attauḥīd aṭ-ṭabīʿī). Materie (Stoff) und Kraft seien unerschaffen, unvergänglich und untrennbar miteinander verbunden. Durch ihre beständige Interaktion entstünden verschiedene Formen, entstehe Leben, wobei der Unterschied zwischen anorganischer und organischer Materie nur gradueller Natur sei. Das gelte auch für Mensch und Tier; die mentalen Fähigkeiten und sozialen Instinkte fänden sich im Keim – durch physiologische Vorgänge entwickelt – bereits bei niederen Lebewesen. Ausdrücklich gegen Theologie und Metaphysik entwickelt Shumayyil seine materialistische Seelenlehre, wonach die Seele, ebenso wie der Verstand, eine Aktivität des Gehirns sei. Das gesamte Natursystem sieht er von zwei einander ergänzenden Gesetzen durchwaltet. 65
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Zu Shumayyil siehe Haroun, Šumayyil, (Fn.14), und Elshakry, Reading Darwin (Fn. 8), s.v. sowie Kügelgen, Anke von: “Arabisch-sprachiger Raum § 1. Darwinismus, Materialismus und soziale Evolution 2. Šiblī Šumayyil”, in: Dies./Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11). Shumayyil, Shiblī: Madjmūʿat ad-duktūr Shiblī Shumayyil, Bd.1: Kitāb Falsafat an-nushūʾ wal-irtiqāʾ, Bd. 2: Madjmūʿat ad-duktūr Shiblī Shumayyil wa-huwa yabḥathu fī mauḍūʿāt shattā ʿumrāniyya ṭabīʿiyya wa-ʿilmiyya wa-tārīkhiyya wa-adabiyya wasiyāsiyya taqrīriyya wa-intiqādiyya wa-fukāhiyya, Kairo 1910. Die folgende Darstellung beruht, wo nicht anders vermerkt, auf diesen Schriften; genaue Seitennachweise werden nur bei Zitaten angegeben.
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Das Gesetz des «Kampfes ums Dasein» (tanāzuʿ al-baqāʾ) sichere langfristig das Überleben des besser an die Natur Angepassten und habe den Selbsterhalt als Antrieb. Dieser Eigennutz werde durch das «Gesetz der Äquivalenz und der Solidarität» (nāmūs at-takāfuʾ wat-takāful) – er nennt es auch das «Gesetz der (gesellschaftlichen) natürlichen Ökonomie» – in das Streben nach Erhalt und Wohl der Gattung gelenkt. Auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft gelte es, wollten die Menschen nicht warten, bis die Natur von selbst ihnen den Fortschritt bringe, dieses zweite Gesetz zu berücksichtigen, d.h. «im Wissen darum, dass die geringste Sache in der Natur den größten Nutzen für ihn haben kann, so dass er nichts verachtet, sondern mit jedem Ding rechnet und es seinem Zweck gemäß verwendet, indem er die Gesetze der Natur zur Leitschnur nimmt und sie anfeuert zum Zwecke des Allgemeinwohls, ohne welches 67 der Eigennutz unvollkommen ist oder sich gar ins Gegenteil wendet». Zur Planung und Koordinierung der Aktivitäten jedes Einzelnen im Sinne des Allgemeinwohls bedürfe es notwendig einer Regierung, die demokratisch legitimiert und zugleich sozialistisch ausgerichtet sei, d.h. jedem Ar68 beit gebe und für gerechte Vermögensverteilung sorge. Shumayyil gesteht den Religionen eine historische Rolle zu für die Entwicklung der Idee vom Allgemeinwohl. Ihr Werden und Vergehen erklärt er evolutionistisch und hält mit Blick auf die Gegenwart «die richti69 ge Wissenschaft», mithin den Darwinismus, für «die wahre Religion». Er bekämpft dennoch nicht die überlieferten Religionen an sich, auch wenn er sie für überholt hält, wohl aber jene religiösen Oberhäupter, die nicht die Vernunft zur Richtschnur nehmen. Die Gesetzes-, d.h. die Offenbarungsreligionen sieht er im Kern in völliger Übereinstimmung miteinander. Shumayyils Schriften zählten bis in die 1920er Jahre zu den wirkmächtigsten philosophischen Werken in arabischer Sprache, auch wenn in der Regel nur einige Prinzipien übernommen und die religiösen Dogmen nicht angetastet wurden. Mitstreiter hatte er in dem libanesischsyrischen Arzt Amīn Abū Khāṭir (1854–1922) und dem kurdisch-irakischen Dichter Djamīl Ṣidqī az-Zahāwī (1863–1936), die selbst den Evolu67 68 69
Shumayyil, Madjmūʿa, (Fn. 66), Bd.1, S. bāʾ; Bd. 2, S.154-155, 181; Haroun, Šumayyil, (Fn.14), S.179-182, 219-222. Hanna, Sami A. / Gardner, George H.: Arab Socialism – A Documentary Survey, Leiden: Brill, 1969, S. 289-296; Haroun, Šumayyil, (Fn.14), S.186, 188, 221-222. Shumayyil, Madjmūʿa, (Fn. 66), Bd.1, S. 3, Bd. 2, S. 320; Haroun, Šumayyil, (Fn.14), S.158-159.
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tionismus verbreiteten. Von Shumayyil am deutlichsten inspiriert waren der erste Übersetzer von Darwins «On the Origins of Species», Ismāʿīl 71 Maẓhar (1891–1962), und Salāma Mūsā.
Salāma Mūsā (1887–1958) Der aus einer koptischen Familie stammende, weitgehend autodidaktische Journalist und Schriftsteller Salāma Mūsā machte sich einen Namen als Propagandist westlicher Werte. Als radikaler Gesellschaftskritiker und als Sozialist avancierte er zu einem der «bekanntesten Au72 toren Ägyptens» im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zeitlebens und noch kurz vor seinem Tode 1958 rief er seine Leser dazu auf, sich mit der Welt und der Menschheit als Ganzer zu befassen und Philosophie zu ih73 rem «größten Genuss» zu erheben. Mūsā entwickelte eine sozialutopische Philosophie, deren Hauptbezugspunkte in der Darwin’schen Evolutionstheorie, bei Nietzsches «Übermenschen» und im Fabianismus liegen. Sie ist dabei aber von einem starken Eklektizismus geprägt und schwankt zwischen dem Primat der Biologie und dem von Wirtschaft und Gesellschaft. Seine zahlreichen Schriften zu diesem Thema zielen auf die Höherentwicklung des einzelnen Menschen, seiner Gesellschaft und der Weiterentwicklung der Gattung 74 Mensch. An die Stelle althergebrachter Religionen setzt er wissenschaftliches und kulturelles Wissen, Musik, bildende Kunst, Theater und Tanz. Die Beziehung des Menschen zum Kosmos konstituiert für Mūsā das Religiöse. Am ausführlichsten thematisiert Mūsā die Weiterentwicklung der Religion in seiner Science-Fiction-Erzählung «Khīmī/Khiyamī: Muqaddima li-ṭūbī miṣriyya» (Khīmī/Khiyamī: Einleitung zu einer ägyptischen Utopie)», in der er am Beispiel einer Gesellschaft des Jahres 3105 die 75 Haupteigenschaften des «zukünftigen Menschen» veranschaulicht. Die70 71 72 73 74 75
Haroun, Šumayyil, (Fn.14), S. 412-416. Zu Zahāwī siehe Sorani, Saman: Der irakische Dichter und Philosoph Ǧamīl Ḍidqī az-Zahawī, 1863-1936 (Diss. 2012 Univ. Heidelberg; ‹urn:nbn:de:bsz:16-opus-137059›, letzter Zugriff: 17.10.16). Zu Maẓhar, auf den hier nicht weiter eingegangen wird, siehe Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), s.v. Egger, Vernon: A Fabian in Egypt: Salamah Musa and the Rise of the Professional Classes in Egypt, 1909-1939, Lanham/New York/London: University Press of America, 1986, S. 70. Mūsā, Salāma: The Education of Salāma Mūsā, übers. von L.O. Schuman, Leiden [u.a.]: Brill, 1961, S. 235. Zu Mūsā siehe Egger, A Fabian (Fn. 72); Elshakry, Reading Darwin (Fn. 8), sowie Kügelgen, Anke von, § 1. Darwinismus, Materialismus und soziale Evolution 6. Salāma Mūsā”, in: Dies./Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11). Mūsā, Salāma: “Khīmī/Khiyamī: Muqaddima li-ṭūbī miṣriyya”, in: Ders.: Aḥlām al-falā-
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ser Mensch hat einen weit größeren Verstand und seine Affekte, wie Zorn und Neid, sowie auch die Liebe und der Geschlechtstrieb, sind – offenbar dank Fortpflanzungsmanipulation – stark geschwächt. Das gesamte Empfinden und die Leidenschaften des zukünftigen Menschen sind insgesamt verändert: Das Gefühl ist auf das «geistige Entzücken» (ṭarab aḏ-ḏihn) gerichtet. Dieses geistige Entzücken entsteht durch «das Studium dieses Kosmos (kaun), den Genuss seiner Schönheit und das Entdecken seiner 76 unbekannten Seiten». Es befähigt den Menschen, seine Bewusstheit zu einer Art «kosmischen Sinn» (ḥāssa kauniyya) weiterzuentwickeln, der ihm ein vom eigenen Subjekt unabhängiges Verständnis ermöglicht. Spezielle Kultstätten (maʿābid), die von der Religionsbehörde, in die nur Philosophen gewählt werden können, geleitet werden, vermitteln dem Menschen durch Bilder vom Universum, von der Entwicklung des Menschen, der Industrie und den Ideen der Philosophen und Propheten eine Vorstellung von seinem Platz im Kosmos und verbinden ihn mit demselben. Die Regelung der Fortpflanzung erachtet Mūsā als wichtigstes Anliegen der Gesellschaft und will sie in die Hand der Regierung gelegt wissen. In seiner Utopie bestimmt die Regierung über die Fortpflanzungswürdigkeit eines Paares, und ein aus Wissenschaftlern zusammengesetzter Ausschuss befindet nach der Untersuchung des Neugeborenen über dessen Leben oder Tod. Auch für die Eltern steht das Wohl der Gemeinschaft und der kommenden Generationen an erster Stelle. Leben ist für Mūsā also primär in einem auf die Zukunft der Menschheit und des Kosmos gerichteten Sinne schützenswert. Er versteht den Menschen als durch die Evolution mit allen anderen Lebewesen verwandt und mahnt, sie zu bewahren und zu respektieren. Der «Mensch der Zukunft» ernährt sich nur von gezüchteten Pflanzen, die alle Nährstoffe und Heilmittel enthalten, und stellt aus ihnen auch die Kleidung und Heizstoffe her; den nötigen Regen für das Wachstum der Pflanzen kann er selbst produzieren. Mūsās in derlei Entwürfen zum Ausdruck gebrachter Optimismus beruht auf seiner Hoffnung auf ein Zusammenwirken aller Aktivitäten des Menschen, denn die Wissenschaftler forschten heutzutage ohne Rücksicht auf Nutzen und Schaden für den Menschen. Wissenschaftlern,
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sifa, Kairo: Matbaʻat al-Hilal, 1926, S.105-124. Der Obertitel des Textes kann verschieden gelesen und übersetzt werden: statt khīmī (meine Neigung) könnte auch khiyamī gelesen werden, was entweder «meine Zelte» oder im ägyptischen Dialekt auch «der Zeltmacher» heißen kann. Mūsā, Salāma: Naẓariyyat at-taṭawwur wa-aṣl al-insān, hg. von Ilyās Anṭūn Ilyās, Kairo: al-Maṭbaʿa al-ʿAṣriyya, zweite Auflage, o.J., S. 242.
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Literaten und Philosophen gibt Mūsā daher die Aufgabe an die Hand, die Zukunft der Menschen gemeinsam zu konzipieren.
Baha Tevfik (1884?–1914) Baha Tevfik, der im vorliegenden Band mit übersetzten Texten präsent ist, gehört zu jenen Denkern, die Religion durch ihre Auffassungen von Wissenschaft und Philosophie als überholt ansehen und daher nur implizit in Erscheinung treten lassen. Tevfik, der außer einer sunnitischen Primarschule vor allem säkulare Bildungsstätten besuchte und in Istanbul Sozialwissenschaften studierte, gründete 1910 in Istanbul eine Buchreihe mit dem Titel «Die Bibliothek der wissenschaftlichen und philosophischen Erneuerung» (Teceddüd-i ʿilmī we felsefī kutubkhānesī). Religionskritik und die Konfliktthese sind bei Tevfik vor allem durch den Entwurf einer «neuen Ethik» präsent, wie Enur Imeri in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Ausschnitten aus der von Tevfik 1913 im Rahmen seiner Bibliothek begründeten und geleiteten Zeitschrift Felsefe Medjmūʿası (Zeitschrift für Philosophie) zeigt. Es ist die erste nur philosophischen 77 Themen gewidmete Zeitschrift des Nahen und Mittleren Ostens. Tevfiks gesamtes Werk ist diesen Themen gewidmet, und er hat unter anderen Ludwig Büchners «Kraft und Stoff» und Ernst Haeckels «Der Monismus» ins Osmanisch-Türkische übersetzt sowie eine Monographie über 78 Nietzsche verfasst. Diese Denker benennt er neben Lamarck und Darwin auch als seine Vorbilder, wobei er ihre Theorien zwar im einzelnen unterscheidet, sie aber unter Materialismus und Positivismus fasst, welche er durchwegs als zusammengehörig versteht. Als Philosophie gilt ihm in der Moderne nurmehr das, was die Wissenschaften noch nicht erfasst haben, das heißt «das Feld des Hypothetischen (farḍiyye) und der Theorie (naẓariyye)», und so ist «die Wissenschaft von morgen die Philosophie von heute» (S. 297). Gleichwohl muss sich die Philosophie bemühen, so eng als möglich mit den Wissenschaften verbunden zu sein. Das bedeutet für Tevfik, sowohl ihren neuesten Forschungsstand zu kennen als auch selbst methodisch vorzugehen, das heißt zunächst so genau wie möglich zu beobachten und hernach äußerst «vorsichtig und behutsam» zu ver77
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Alkan, Mehmet Ö.: “Turkiye’nin İlk Felsefe Dergisi: Felsefe Mecmuası”, in: Tarih ve Toplum 66 (1989), S. 49; die zur selben Zeit in Thessaloniki herausgegebene Zeitschrift Yenī felsefe medjmūʿasī fur neue Philosophie) zielte hauptsächlich auf eine Sprachreform (ebd.). Ich danke Herrn Imeri für diesen Hinweis. Die folgenden Bemerkungen beruhen auf Enur Imeris Beitrag und Übersetzung in diesem Band.
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allgemeinern. Die Philosophie behält bei Tevfiq den ihr seit der griechischen Antike eingeräumten obersten Platz der «Wissenschaft der Wissenschaften» und die Aufgabe, die Prinzipien und Grundlagen einer jeden Wissenschaft zu bestimmen (S. 282). Die Klassifikation der Wissenschaften ist indes ganz verändert, nicht nur im Vergleich zu antiken, ,mittelalterlichen‘ christlichen und muslimischen sowie ,idealistischen‘ europäischen Denkern, sondern auch mit Blick auf die Positivisten. Im Unterschied zu Letzteren erachtet Tevfiq nicht die Soziologie, sondern die Physiologie und noch vor ihr die Psychologie als die obersten 79 Wissenschaften. Die Psychologie stellt sogar «die erhabene Grundlage der Philosophie» dar, und der Philosophie obliegt daher in erster Linie «die Selbstbeobachtung des Menschen» (S. 307, 308). Tevfiks Konzept von Psychologie ist allerdings weit umfassender als unser heutiges und liefert «der Logik sowie der Ethik (akhlāq), der Theologie (ilāhiyyāt) und den übrigen Wissenschaften ihre Grundlagen» (S. 306). Imeri spricht daher auch vom «Psychologismus» Tevfiks. Psychologie und Philosophie sind bei Tevfik auf das Engste miteinander verquickt. Dies zeigt auch seine folgende Definition von Philosophie: «Die Philosophie lehrt nicht die eine oder andere partikuläre Sache. Sie lehrt das Denken. Sie lehrt, den Ursprung von allem zu suchen, alles vertieft zu untersuchen sowie klar und deutlich zu sehen und genauso darzulegen. Kurzum: Sie erzieht kompetente und ausgezeichnete Individuen. Sie verleiht der Seele Lebhaftigkeit. Wenn es notwendig ist, einen absoluten Nutzen der Philosophie anzugeben, so genügt es, den Nutzen der Logik für das richtige Denken und der Ethik (akhlāq) für das richtige Handeln zu nennen» (S. 306). So ist denn auch die von Tevfik entworfene «neue Ethik» in erheblichem Maße eine Aufgabe von Philosophie und Psychologie, welche auf die Erziehung zur Selbstbeherrschung zielen. «Ethik» verliert bei Tevfik den Status einer eigenständigen Wissenschaft, die bestimmt, was gut und schlecht ist, und oberste Handlungsprinzipien aufstellt. Die Bestimmung des Guten und Schlechten sieht Tevfik vielmehr als die Aufgabe aller modernen Wissenschaften an; die Ethik ist nur für Umsetzung in praktisches Handeln, mithin für die «Etablierung der Selbstbeherr79
Siehe unten S. 287, 304, 308. Tevfik meint offensichtlich im Anschluss an Friedrich Albert Langes «Geschichte des Materialismus» die naturwissenschaftlich operierende Psychologie und die Physiologie der Sinnesorgane. Die Psychologie galt lange als Basiswissenschaft der Geisteswissenschaften (Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1999, S. 97).
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schung» zuständig. Tevfiks Kritik der bisherigen Ethikkonzeptionen schließt die religiöse Morallehre nicht explizit mit ein, es besteht aber kein Zweifel, dass Tevfik, wie Imeri es formuliert, «die Etablierung eines religiös-fundierten autonomen Erkenntnisbereichs für moralisches, individuelles wie soziales Handeln in Frage» stellt (S. 295). Im Gegensatz zur Mehrzahl der nahöstlichen Intellektuellen seiner Zeit sucht Tevfik keinen Rückhalt bei früheren oder zeitgenössischen osmanischen oder nahöstlichen Denkern; er unterzieht sie vielmehr einer scharfen Kritik. Seine Vorbilder sind die Evolutionisten, Positivisten und Materialisten, insbesondere die deutschen Anti-Metaphysiker des 19. Jahrhunderts. Ebenso wie die «arabische Philosophie» sind die indischen, persischen, griechischen und europäischen Wissenschaften und Philosophien vor dieser Epoche überholt, auch wenn er zum Beispiel Sokrates zubilligt, die Philosophie wieder zur «Erforschung des Menschen» zurückgebracht zu haben (S. 301-302).
Ismāʿīl Aḥmad Adham (1911–1940) Vollständig dem modernen Wissenschaftsverständnis verpflichtet ist der Ägypter Ismāʿīl Aḥmad Adham, der, wie er schreibt, väterlicherseits strenggläubig sunnitisch und mütterlicherseits protestantisch mit einer 80 «Neigung zur Gedankenfreiheit» erzogen worden sei. In seiner berühm81 testen und umstrittensten Schrift, «Warum ich Atheist bin?» spricht er der Wissenschaft keinerlei Anspruch auf Absolutheit, Allgemeinheit und Wahrheit zu, sondern nur die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen: «Die Außenwelt, die Welt der Ereignisse, folgt den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit (iḥtimāl; probability [im Original auch in Engl., AvK]); so ist das Naturgesetz (sunna ṭabīʿiyya) nur ein Schätzwert (qīma taqdīriyya), den der Forscher aus dem Vergleich ähnlicher Ereignisse zieht. Die 80
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Adham, Ismāʿīl Aḥmad: “Li-māḏā anā mulḥid?”, in: al-Khaṭīb Muḥammad Kāmil (Hg.): Ḥurriyyat al-iʿtiqād ad-dīnī, Damaskus, 2005, S. 265-273, hier S. 265. Viele Schriften, die sich Adham zuschreibt, sowie eine Physikprofessur, die er nach einem Studium der Mathematik, theoretischen Physik und Philosophie an der Universität Moskau für ein Jahr innegehabt haben will, scheinen dem Reich der Dichtung anzugehören; siehe Juynboll, Gualtherus Hendrik: “Ismāʿīl Aḥmad Adham (1911-1940), the Atheist”, in: A Journal of Arabic Literature 3 (1972), S. 54-71 (er spekuliert dort auch über die Gründe für Adhams Suizid). Juynboll hatte allerdings keinen Zugang zu möglichen russischen Quellen über Adham; sie könnten möglicherweise mehr Aufschluss ergeben. Adham, Li-māḏā anā mulḥid?, zuerst erschienen in Alexandria 1937. Die Publikation einer deutschen Übersetzung von Michaela Grünenwald ist vorgesehen: Dhouib, Sarhan / Kügelgen, Anke von (Hg.): Konzepte von Toleranz und Intoleranz in der arabischen Moderne, Berlin: Klaus Schwarz, voraussichtlich 2018 (Reihe: pnm).
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wissenschaftliche Kausalität (sababiyya ʿilmiyya) ist in ihrem Kern bloß eine Beschreibung des Ablaufs von Ereignissen und ihrer Beziehungen 82 untereinander.» Seine eigene Überzeugung, dass «die Ursache des Universums (kaun) im Universum selbst enthalten ist und dass es nichts hinter dieser Welt gibt», so lautet seine Definition des Atheismus (ilḥād), benennt er denn auch nicht als ein Wissen, sondern als Glaube (īmān) und Dogma (ʿaqī83 da). Er sei Darwinist und glaube an die Evolution. Die Existenz und Nichtexistenz Gottes sind für ihn – unter Verweis auf Immanuel Kant – gleichermaßen rational-deduktiv wie wissenschaftlich-empirisch unbe84 wiesen. Diese Erkenntnis und seine Glaubensüberzeugungen führten ihn zu einer radikalen Kritik an der Glaubwürdigkeit, das heißt der historischen Haltbarkeit der Hadithe und der Prophetenbiographie. Er führte das in einer Studie «Über die Quellen der islamischen Geschichte – Eine wissenschaftlich-kritische Abhandlung» aus, deren Verbreitung kurz nach ihrem Erscheinen aufgrund einer Intervention von Angehörigen der 85 Azhar-Hochschule beim damaligen Innenministerium verboten wurde. Dieses Verbot erging, obwohl Adham den Koran und damit auch das Prophetentum Mohammads von seiner Kritik vollständig ausnimmt. Er bescheinigt dem Koran sogar ausdrücklich historische Verlässlichkeit und seinen Prinzipien (mabādiʾ) Anpassungsfähigkeit an jede Zeit und jeden Ort. Adham spricht die Unvereinbarkeit des koranischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruchs mit dem von ihm vertretenen modernen philosophischen bzw. wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitspostulat nicht ausdrücklich aus. Mit den anpassungsfähigen Prinzipien des Korans können eigentlich nur moralische Prinzipien gemeint sein. Darauf deutet auch seine Hoffnung, dass, wenn seine These von der Falschheit der Hadithe angenommen würde, ein Teil der Grundlagen der Rechtsbestimmungen 86 des Islam wegfallen würde. Das ist eine berechtigte Annahme, insofern der weitaus größte Teil des islamischen Rechts im Koran keine feste textliche (naṣṣ) Grundlage hat, sondern auf Prophetenhadithen und im Lichte 82 83 84 85
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Adham, Li-māḏā anā mulḥid?, (Fn. 81), S. 269. Ebd., S. 268. Ebd., S. 265, 268. Adham, Ismāʿīl Aḥmad: Min maṣādir at-tārīkh al-islāmī – Muḏakkira ʿilmiyya intiqādiyya, Alexandria: Matbaʻat Ṣalah ad-Din al-Kubra, 1936. Juynboll, Ismāʿīl, (Fn. 80), S. 56; Adham zieht für seine Kritik u.a. Schriften der Orientalisten Ignaz Goldziher und Leone Caetani heran (ebd.). Adham, Min maṣādir, (Fn. 85), S. 5, 6.
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sich wandelnder gesellschaftlicher Umstände gedeuteter Koranverse beruht. Eine Reihe von muslimischen Reformern, darunter auch das ehemalige libysche Staatsoberhaupt Muammar Gaddafi (al-Qaḏḏāfī, 1942– 87 2011), lehnen die Sunna des Propheten als Quelle der Rechtsfindung ab. Adhams Ausführungen waren dafür allerdings nicht entscheidend; es ist vielmehr sein offenes Bekenntnis zum Atheismus, das bis heute nachwirkt.
ʿAbdallāh al-Qaṣīmī (1907–1996) Die Konflikthese hat auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Advokaten gefunden; zwei prominente Denker sollen dafür als Beispiel dienen. Mit dem Schwerpunkt auf einer sehr elaborierten Projektionstheorie übte der saudiarabische Autor ʿAbdallāh al-Qaṣīmī/al-Quṣaimī Kritik an der Religion. In den 1930er Jahren propagierte er zunächst die wahhabitische Lehre seines Heimatlandes, begann dann aber in den 1960er Jahren, Religion an sich zu kritisieren. Er sah sich daraufhin heftigen verbalen Anfeindungen und auch Attentaten ausgesetzt, fand aber zugleich vor 88 allem unter libanesischen Schriftstellern, aber auch im Irak Verteidiger. Zu seinen wichtigsten religionskritischen Werken zählen «al-ʿĀlam laisa ʿaqlan» (Die Welt ist nicht vernünftig), «Hāḏa l-kaun, mā ḍamīruhu?» (Dieses Universum, was ist sein Gewissen?), «al-Insān yaʿṣī ... li-hāḏā yaṣnaʿ al-ḥaḍāra» (Der Mensch rebelliert ... deshalb bringt er die Zivilisation hervor) und «Yā kull al-ʿālam li-māḏā atait?» (O du ganze Welt, weshalb bist du gekommen?). Er beschreibt den Menschen als ein zutiefst «subjektives Wesen» (kāʾin ḏātī), das die äußeren Erscheinungen, die sogenannte objektive Welt, durch seine eigene Brille interpretiere. Die moralischen Grundsätze, Glaubensdoktrinen und Theorien seien sekundärer Natur, das heißt, die Propheten und Lehrer passen sie an die menschliche Psyche an. Religion ist für ihn ein rein menschengemachtes Konstrukt. Dabei geht es ihm vor allem auch darum zu zeigen, dass der Mensch sich mit diesem Lügenkonstrukt von sich selbst abwendet und eine Fähigkeit sträflich vernachlässigt, nämlich die der Kritik. Indem endgültige 87
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Rohe, Mathias: Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart, München: Beck, 2009, S. 52-58, 177-181; Zu Gaddafi siehe Andreas Meier: “‘Der Islam ist nicht die Religion der dicken Bäuche und vollen Taschen!’ – Muʿammar al-Kadhafi, Dialog mit den islamischen Gelehrten am 3. Juli 1978”, in: Ders., Der politische Auftrag, (Fn. 50), S. 427-437. Im Folgenden stütze ich mich im Wesentlichen auf die Studie von Wasella, Jürgen: Vom Fundamentalisten zum Atheisten: Die Dissidentenkarriere des ʿAbdallāh al-Qāṣīmī 1907–1996, Gotha: J. Perthes, 1997.
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Wahrheiten geschaffen würden, lege er sein Denken in Ketten, folge blind selbsternannten Propheten, Missionaren, politischen Führern und steuere so sich und die Gesellschaft in den geistigen Stillstand und damit unvermeidbar in den Niedergang. Die Religion erfüllt laut al-Qaṣīmī vor allem den Zweck, der menschlichen Unvollkommenheit und dem Leiden zu 89 entkommen, sei dabei aber gescheitert. Qaṣīmī stellt aber weder Wissenschaft, Philosophie noch eine andere Erkenntnissuche oder Tätigkeit des Menschen als einen Trost bringenden Weg aus der für ihn ,sicheren‘ Wahrheit dar, da das Leben eine «absurde Tragödie» sei: «So weinen wir und verwandeln unser Weinen in Glaubensgrundsätze, Gebete, Moralvorstellungen und ähnliches. Gelegentlich verwandeln wir unser Weinen in Kriege und Zwistigkeiten oder in Künste, Literaturen und Den90 ken. Unter Umständen verwandeln wir es in Perversion und Randale». Angesichts solcher Aussagen wurde Qaṣīmī von Ṣādiq al-ʿAẓm als 91 «nihilistischer Nietzscheaner und Bilderstürmer» bezeichnet. Ideen von Nietzsche wie auch von Feuerbach und anderen europäischen philosophischen Religionskritikern waren ihm vermutlich bekannt. Gerade bei Qaṣīmī ist jedoch besonders augenfällig, in welch hohem Maße die eigenen Erfahrungen die intellektuelle Entwicklung geformt haben. Derlei Klassifikationen sollten daher nicht als Imitation missverstanden werden.
Ṣādiq Djalāl al-ʿAẓm (1934–2016) Der aus einer sunnitischen Patrizierfamilie stammende syrische Philosoph Ṣādiq Djalāl al-ʿAẓm kritisiert die Religion zum einen aus marxistischer Perspektive mit Blick auf ihre gesellschaftliche und politische In92 strumentalisierbarkeit. Zum anderen weist er die Harmoniethese dezidiert zurück und benennt konkrete, vor allem erkenntnistheoretische Unterschiede zwischen Wissenschaft und Religion: «The Islamic religion includes opinions and doctrines on the devel89 90 91 92
Wasella, Vom Fundamentalisten, (Fn. 88), S.156-175. al-Qaṣīmī, ʿAbdallāh: “Ayyuhā l-ʿaql”, in: al-ʿĀlam laisa ʿaqlan, Bd. 3, 1963, S. 258 nach Wasella, Vom Fundamentalisten, (Fn. 88), S.160. Al-Azm, Sadik: Unbehagen in der Moderne – Aufklärung im Islam, Fischer: Frankfurt a.M., 1993, S. 40. Die bisher umfassendste Studie zu al-ʿAẓms Philosophie mit einer Liste seiner Werke bietet Nakhlé, Jean-Pierre: Le criticisme dans la pensée arabe. Essai sur le rationalisme dans l´œuvre de Sadiq Jalâl al-ʿAzm, Paris: L’Harmattan, 2015. Siehe auch Dhouib, Sarhan / Kügelgen, Anke von: “§ 7. Adaption westlicher philosophischer Strömungen – Aufklärungsphilosophie: Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm”, in: Kügelgen/Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11).
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opment, structure, and nature of the universe, and on the origin, history, and life of men through the ages that are integral to it. I need not stress that these opinions and doctrines are clearly at odds with scientific knowledge on these topics. However, these conflicts over particular beliefs concerning particular subjects are less significant than the deeper conflict concerning the recommended method for gaining knowledge and conviction concerning these subjects, or the means of ascertaining the veracity or falsehood of these beliefs. Here, Islam and science diverge completely. For Islam (as for other religions), the correct methodology for arriving at knowledge and conviction is to return to specified texts considered sacred or revealed, or to go back to the writings of the wise men and legal scholars who studied and explained these texts. As for the justification of the process as a whole, it rests on faith and blind trust in the wisdom and infallibility of the sources of these texts. It goes without saying that the scientific path to knowledge and conviction concerning the development and nature of the universe and man and his history is entirely incompatible with the deferential methodology that prevails in religion. For the scientific method rests on observation and inference and its sole criteria for truth is the degree of internal logical coherence and conformity with real93 ity.» Die von al-ʿAẓm aufgeführten methodischen und sachlichen Unterschiede zwischen Religion und Wissenschaft klingen für an modernen weltlichen Schulen erzogene Ohren überaus vertraut. Sie lösten aber durch die sich für den Wahrheitsanspruch der Offenbarungsschriften ergebenden Konsequenzen einen Skandal aus. al-ʿAẓm publizierte seine provozierenden Thesen in einer Aufsatzsammlung unter dem sprechenden Titel 94 «Kritik des religiösen Denkens» 1969 im Libanon. Er stellte darin die Existenz himmlischer und ,gefallener‘ Engel, den Realitätsgehalt der koranischen Erzählungen und die Echtheit einer Marienerscheinung im Jah93
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Al-Azm, Sadik J.: “Scientific Culture and the Poverty of Religious Thought”, in: Ders.: Critique of Religious Thought, erste autorisierte engl. Übersetzung von Naqd al-Fikr adDini von George Stergios and Mansour Ajami, Berlin: Gerlach Press, 2015, S.17-75, hier, S. 21-22. Sie wurde erst 2015 ins Englische übersetzt (siehe die vorangegangene Fn. 93); es folgte eine italienische Übersetzung: La tragedia del diavolo – Fede, ragione e potere nel mondo arabo, introduzione di Francesca Corrao, con una nota di Stefan Wild, Rom: LUISS University Press, 2016.
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re 1968, für welche die koptische Kirche mit einem wissenschaftlichen Gutachten bürgte, in Frage. Nachdem ihm zunächst nach einer Anzeige durch den höchsten sunnitischen Mufti des Libanon mit Landesverweis gedroht worden war, entschied das Gericht in zweiter Instanz, dass das Buch eine philosophische Kritik mit wissenschaftlichem Anspruch sei 95 und nicht zum Konfessionshader aufhetze. Dieses Urteil gegen den Versuch, Religion mit wissenschaftlichen Mitteln zu erforschen, ist milde, gemessen etwa an der Entlassung des ,islamischen Säkularisten‘ ʿAlī ʿAbdarrāziq im Jahre 1925 oder der Zwangsscheidung des ägyptischen Lite96 raturwissenschaftlers Naṣr Ḥāmid Abū Zaid siebzig Jahre später. Es zeigt aber deutlich die äußersten Grenzen wissenschaftlicher Religionskritik im Nahen Osten auf. Al-ʿAẓms Verteidigung der literarischen Religionskritik Salman Rushdies in den «Satanischen Versen» rief in der arabischen Welt weit über religiöse Kreise hinaus heftige Reaktionen hervor, blieb indes ohne recht97 liche Ahndung. Die «Mentalität des Verbots» der Religionskritik in seinen Landen sieht al-ʿAẓm durch westliche Reaktionen indes noch bestärkt: «In keiner ihrer Verteidigungsreden [von Salman Rushdie, AvK] war jene Art von Wärme, Engagement und ernsthafter Betroffenheit zu spüren, die sie für gewöhnlich gegenüber kritischen Schriftstellern und Denkern aus den kommunistischen Ländern an den Tag legen. Möglicherweise spielt hier das politische Unbewusste eine weitaus größere Rolle als ursprünglich angenommen. Vielleicht handelt es sich wieder um die tief verankerte und unausgesprochene Arroganz des Westens: Muslime verdienen einfach keine ernsthaften Dissi95
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Wild, Stefan: “Gott und Mensch im Libanon – Die Affäre Ṣādiq al-ʿAẓm”, in: Der Islam 48 (1972), S. 206-253, hier S. 229-238; Al-Azm, Critique of Religious Thought, (Fn. 93), S. 207-229. Ins Deutsche übersetzte Auszüge aus dem Wortlaut der Gerichtsverhandlung finden sich in Meier, Andreas: “Moderne Welt ohne Gott? Ein Religionsprozeß im Libanon (Ṣādiq Ǧalal al-ʿAzm, Kritik des religiösen Denkens, 1969/70)”, in: Ders., Der politische Auftrag des Islam, (Fn. 50), S. 459-472. Zu ʿAlī ʿAbdarrāziq siehe Wielandt, Rotraud: Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden: Franz Steiner, 1971, S. 95-99; zu Naṣr Ḥāmid Abū Zaid siehe Hildebrandt, Thomas: “Nasr Hamid Abu Zaid: Interpretation – die andere Seite des Textes”, in: Amirpur/Ammann, Der Islam, (Fn. 7), S.127-135 (mit weiterführenden Literaturangaben). al-ʿAẓm, Ṣādiq Djalāl: Ḏihniyyat at-taḥrīm: Salmān Rushdī wa-ḥaqīqat al-adab, London/ Beirut: Riyāḍ ar-Rayyis lil-Kutub wan-Nashr, 1992. Die Kritiken und seine Antworten darauf publizierte al-ʿAẓm in: Mā baʿda Ḏihniyyat at-taḥrīm, Damaskus: Dār al-Madā, 1997.
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denten und haben keinen Anspruch auf sie. Sie sind eigentlich gar nicht imstande, sie hervorzubringen, denn bei genauem Hinsehen steht ihnen die Gottesherrschaft der Ayatollahs besser zu Ge98 sicht.» So polemisch und überspitzt al-ʿAẓms Vorwurf auch formuliert ist, er benennt das Phänomen der Zurückweisung oder zögerlichen Akzeptanz einer von Muslimen geäußerten Form von Religionskritik, die aus dem Munde eines Voltaire oder Rabelais hingegen hochgeschätzt wird. Es ist hier nicht der Ort, den Ursachen für dieses Phänomen nachzugehen, es wird aber von einem anderen begleitet – muslimische Religionskritiker werden häufig von ihnen im Geiste nicht nahestehenden westlichen Intellektuellen vereinnahmt und für ihre propagandistischen anti-islami99 schen Zwecke missbraucht. Die Harmoniethese Die Advokaten der Harmoniethese behaupten, dass es keinen Widerspruch zwischen der wahren Offenbarungsreligion und der wahren Wissenschaft gebe. Die wenigsten von ihnen wollen den Koran oder die Bibel als eine Natur- oder Sozialkundelehre verstanden wissen. Insbesondere muslimische Denker bedienen sich aber der allegorischen Exegese (taʾwīl), um gegebenenfalls nachzuweisen, dass beispielsweise die von Louis Pasteur entdeckten Mikroben eine Art von Dschinn sind, von denen 100 im Koran die Rede ist, oder die Demokratie im Koran 42:38 «Und deren Richtschnur gegenseitige Beratung ist» verankert sehen (S. 92). Diese Methode hat eine lange Tradition unter den rationalistischen Theologen (mutakallimūn) und klassischen muslimischen Philosophen, die im Konfliktfall dem sicheren Vernunftschluss den Vorrang vor dem Wortlaut des Koran gaben und das Diktum propagierten, dass Vernunft (ʿaql) und religiöse Überlieferung (naql) miteinander im Einklang sind. Es ist aber zu 98
Al-Azm, Sadik J.: “Es ist wichtig, ernst zu sein. Salman Rushdie, Joyce, Rabelais – der Kampf um Aufklärung”, aus dem Amerikanischen übersetzt von Kai-Henning Gerlach, in: Ders.: Unbehagen in der Moderne – Aufklärung im Islam, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, S. 9-53, hier S.10. 99 Carlo Strenger bringt diese Beobachtungen in seinem Essay “Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit” zum Ausdruck (Suhrkamp: Berlin, 4 2015, S. 23-30). 100 So Muḥammad ʿAbduh nach Adams, Charles C.: Islam and Modernism in Egypt. A Study of the Modern Reform Movement inaugurated by Muḥammad ʿAbduh, London: Oxford University Press, 1933, S.138.
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unterscheiden von dem gleichlautenden Postulat der Literalisten, die im 101 Falle der Kollision dem Buchstabensinn der Offenbarung folgten. Abgesehen von der Methode sind im grundsätzlichen Wissenschaftsund Philosophieverständnis Parallelen zu den klassischen muslimischen Theologen oder Philosophen auszumachen. Die konkreten Inhalte ihrer jeweiligen Lehren haben sich hingegen entsprechend der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Forschung und der sozialen und politischen Neuerungen in Europa stark verändert. Der größte Wandel ist zweifelsohne im Religionsverständnis zu erkennen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren es in erster Linie religionskritische muslimische Reformer, die – nicht zuletzt gegen die Advokaten der Konflikt- und der Autonomiethese gerichtet – die Vereinbarkeit von Islam und Wissenschaft ausformulierten und ihr zum Teil lange Abhandlungen widmeten. Sie beschränkten die Harmoniethese indes auf den Islam, die christliche Religion erachteten sie als mit der Wissenschaft unvereinbar. Wirkmächtige Varianten der Harmoniethese werden im Folgenden am Beispiel zweier christlicher und eines muslimischen libanesischen Publizisten, Yaʿqūb Ṣarrūf (1852–1927), Fāris Nimr (1856–1951) und Ḥusain al-Djisr (1845–1909) sowie acht muslimischer Intellektueller aufgezeigt. Es sind dies der Iraner Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī (1854/55–1896) – er ist mit einem übersetzten Traktat vertreten –, Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī (1838–1897), Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule (1823–1895) und Mīrzā Malkam Khān (1833–1909), der im vorliegenden Band mit Übersetzungen präsente Osmane Ahmed Midhat Efendi (1844–1912), die Ägypter Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) und Sayyid Quṭb (1906–1966) sowie der Libanesen Michel ʿAflaq (1912–1989).
Yaʿqūb Ṣarrūf (1852–1927) und Fāris Nimr (1856–1951) Unter den christlichen Intellektuellen waren es nur wenige, die sich argumentativ als Verfechter der Harmoniethese hervorgetan haben. Dazu zählten die beiden Herausgeber von al-Muqtaṭaf (Das Ausgewählte), einer der damals prominentesten Kultur- und Wissenschaftszeitschriften, der Astronomie- und Lateinlehrer Fāris Nimr und der Arabisch-, Mathematik- und Physiklehrer Yaʿqūb Ṣarrūf. Beide waren Abgänger des Syrian 101 Kügelgen, Anke von: “Muslimische Theologen und Philosophen im Wett- und Widerstreit um die Ratio – Ein Thesenpapier zum Diktum der ‘Vernunftreligion’ Islam im 11.–14. Jahrhundert”, in: Asiatische Studien / Études Asiatiques 64 (2010), S. 601-648.
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Protestant College und suchten mittels ihrer Zeitschrift, neueste wissenschaftliche Entdeckungen und Philosophien in arabischer Sprache zu102 gänglich zu machen und zu verbreiten. Zur Verteidigung ihrer eigenen wissenschaftlichen Positionen bedienten sie sich verschiedener Methoden, um im Einklang mit der Heiligen Schrift zu bleiben. Dem Einspruch des im Auftrag des Patriarchen der antiochenisch syrisch-orthodoxen Kirche den Geozentrismus verteidigenden Würdenträgers Ghabriʾīl Djabbāra (gest. 1878) begegneten sie so zum einen mit dem Verweis auf die allegorische Bibelexegese. Zum anderen führten sie ins Feld, dass das heliozentrische Weltbild von den Wissenschaftlern dieses Glaubens akzeptiert werde. Darüber hinaus publizierten sie einen Artikel des muslimischen Pädagogen und Sekretärs des ägyptischen Bildungsministers ʿAbdallāh Fikrī (1834–1890), der ebenfalls die allegorische Schriftauslegung befürwortete und außerdem die Beweiskraft von geometrischen und mathematischen Beweisen ins Feld führte, gegen die sich die Religion nicht widersetze. In einem Disput, den sie 1878/79 wiederum in al-Muqtaṭaf unter anderem mit Shiblī Shumayyil über die Frage führten, ob die Welt aus sich selbst heraus entstanden oder von Gott geschaffen worden sei, ergriffen sie gegen Shumayyil und sein Plädoyer für die Selbstzeugung Partei. Shumayyil berief sich auf die Forschungsergebnisse des Biologen Thomas Henry Huxley, und Ṣarrūf und Nimr auf dessen Freund, den Physiker und Bergsteigerpionier John Tyndall, der in dieser Frage eine andere Position einnahm und experimentell zu beweisen gesucht hatte, dass Gott auch im Falle der Selbstzeugung der eigentliche Urheber sei. Ṣarrūf und Nimr griffen hier also gar nicht mehr auf die Bibel selbst zurück, sondern stellten die Harmonie zwischen dem Dogma des Schöpfergottes und der Wissenschaft mittels eines als wissenschaftlich erachteten Experiments her. Wissenschaft, so konstatieren sie, müsse sich «als Form der Erkenntnis vom ‹Licht der Wahrheit und des Verstandes› (nūr al-ḥaqq wal-ʿaql) 103 leiten lassen». Ihre Wahl des Wortes ḥaqq und nicht ḥaqīqa für «Wahrheit» ist vermutlich eine Anspielung auf ḥaqq als einem der Beinamen Gottes in der islamischer Überlieferung. Wissenschaft wäre damit die Art
102 Zu ihnen siehe Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd.1, S.181-195, et passim; Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), S. 43, 58-61, 93, et passim. Die folgenden beiden Beispiele für ihre Argumentation beruhen auf Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd. 2, S. 391-404. 103 Glaß, Der Muqtaṭaf, (Fn. 8), Bd. 2, S. 399.
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der Erkenntnis, in der das Licht der göttlichen Wahrheit mit dem Licht des menschlichen Verstandes zusammentrifft.
Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī (1854/55–1896) und Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī (1838–1897) In der im vorliegenden Band vorgestellten Diskussion um Gottvertrauen und Fortschritt mit dem Titel «Inschallah, Maschallah» kommen geradezu paradigmatisch viele Charakteristika der muslimischen religionskritisch-reformatorischen Harmoniethese zum Ausdruck. Die vier der realiter oder fiktiv an dem Disput beteiligten Hauptredner – der prädestinationsgläubige, aber regierungskritische Sheikhorraʾīs, der freidenkerische osmanische Beamte Yūsof Rezā Pāshā, der anonyme, seinen Namen verschweigende Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī und Afghānī sind alle Mitglieder des von Afghānī gegründeten Vereins Allianz des Islam (S.196). Keiner von ihnen stellt die Grundlagen des Islam oder einer anderen Religion prinzipiell in Frage. Wie Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder in ihrer Einleitung zur Übersetzung herausstellen, plädieren mit Ausnahme von Sheikhorraʾīs jedoch alle für einen vernunftbasierten Islam; der «heimliche Erzähler und Autor» Kermānī und sein Alter Ego Rezā Pāshā kritisieren scharf und unverblümt die Ulema und Mystiker. Kermānī wirft ihnen Unvernunft, Realitätsverleugnung, selbstverschuldetes Unwissen und Desinteresse am Weltgeschehen vor und demonstriert das an verschiedenen, vor allem historischen Beispielen. Kermānī bedient sich dabei durchaus geschichtsträchtiger Ereignisse und zieht auch Vergleiche zur Weltfremdheit christlicher Kleriker, etwa bei der Eroberung Konstantinopels 1453. Anstatt gegen Mehmet Fātih zu kämpfen, hätten die Byzantiner samt Kaiser in der Hagia Sofia disputiert «über so weltbewegende Fragen wie: ‹Trafen die Nägel, welche man in den gesegneten Leib des gekreuzigten Jesu schlug, nur den Leib des Herrn? Oder den Geist? Oder trafen sie beide?›» (S. 223). Er bescheinigt den damaligen Religionsvertretern Irans eine ebensolche Haltung: «Bestens kennen sie die Geschichte des Ur-Dschinns und Engelsvaters Djān ebn-e Djān, kennen die Namen aller Engel auf Himmel und Erden, und alles, was in Zukunft geschehen soll, all das kennen sie gut, aber von der Geschichte ihrer eigenen Nation oder den Nationen der Welt ist durchaus nichts zu ihren Ohren gelangt, und erst recht wissen sie nicht, wo die Ursachen des Fortschritts und der Dekadenz (ʿellat-e taraqqī wa tanazzol) 70
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der Nationen unserer Weltgeschichte gelegen haben» (S. 225). Geschichte, Naturwissenschaft und Technik sind die Bereiche, in denen Kermānī fatales Unwissen bei ihnen diagnostiziert. Es geht ihm in diesem polemisch gehaltenen Disput jedoch nicht um deren nähere Erläuterung. Wissenschaft und Philosophie erscheinen hier gleichbedeutend mit der Suche bzw. dem Erkennen der Wirk-, Material-, Form- und Zweckursache und bleiben somit dem ,klassischen‘ aristotelischen Wissenschaftsverständnis verbunden. Neben Unkenntnis in weltlichen Belangen und Wissenschaften prangert Kermānī die Ulema und Mystiker darüber hinaus wegen mangelnder Moral und fehlendem Gemein- und Verantwortungssinn an und legt ihnen zur Last, um der eigenen Pfründe und des Machterhalts willen das Volk zu entmündigen und es weiter in himmlischen Illusionen zu wiegen. Kermānī trifft seine Widersacher mit dieser Vorhaltung an einer besonders empfindlichen Stelle, schimpfen sie doch, wie er ausführt, die Europäer als jenseitsunkundig und dem rein Weltlichen und der Vergnügungssucht verfallen. Was eigentlich unter guter Moral zu verstehen ist, macht Kermānī für die Europäer geltend: «Suche nach dem Gemeinwohl (manāfeʿ-e ʿomūmī), Liebe zum Mitmenschen und Verzicht auf persönlichen Nutzen zugunsten des Gemeinwohls (manfaʿāt-e ʿāmme)» (S. 222). Indes macht Kermānī für diese Tugenden nicht christliche oder philosophische Lehren geltend, sondern deklariert – wie andere Verfechter der Harmoniethese, etwa Afghānī und ʿAbduh – ihren Ursprung als islamisch: «Die Europäer übernahmen die ganzen Vorzüge der Religion des Islam (dīn-e eslām), während uns nur ihr leerer Name übrigbleibt» (S. 204, 226). Wollen die Muslime diese Vorzüge wieder für sich beanspruchen, gelte es, die Religion des Islam von Aberglaube und der «Herrchen-und-HündchenHaltung» zu reinigen (S. 226). Kermānī überschreitet in dem in «Inschallah, Maschallah» geführten Disput deutlich die Grenze zu dem, was die von ihm gescholtenen Religionsvertreter als «Unglaube» (kufr) brandmarken. Er bringt diese Anklage von Beginn an auch direkt zur Sprache und greift sie zum Schluss in einer Art Märtyrergeste und Apotheose der Kritik und des Widerstands um der Wahrheit willen nochmals auf, wobei er seinen Glauben «an die Einheit Gottes, die Gesandten Gottes, an die himmlische Rückkehr, die Auferstehung, an das Jüngste Gericht und die Auferweckung und Vereinigung der Toten, ebenso an die zwölf Imame» beteuert und in seinem Umfeld wohl 71
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beteuern musste, wollte er nicht der Apostasie angeklagt werden (S. 204, 215, 227). Kermānī, der in einem von synkretistischen, primär schiitisch inspirierten Lehren geprägten Milieu aufwuchs und in verschiedenen Lebensstadien dem Zoroastrismus, Babismus und schließlich Materialismus zugeneigt war, sah sich lange Zeit seines Lebens dem gegen Glaubensabtrünnige und politische Widerständler gezückten Damoklesschwert ausgesetzt und fiel ihm 1896 auch zum Opfer. Ihm wurde – zu Unrecht – Mittäterschaft an der Ermordung des iranischen Herrschers Nāseroddīn Shāh zur Last gelegt. Die Tat beging der Diener Afghānīs – höchstwahrscheinlich auf Betreiben seines Herrn, der mehrfach zur Ermordung Nā104 seroddīn Shāhs aufgerufen hatte. Kermānī thematisiert die Bedeutung von Wissenschaft und Philosophie für den von ihm für Iran angestrebten Fortschritt in einer Reihe von Schriften, von denen viele noch näherer Untersuchung harren. Soweit aus den bisherigen Studien dazu ersichtlich, vertrat er ein klassisches Konzept von Wissenschaft und erachtete Philosophie dementsprechend als oberste Wissenschaft: Philosophie ist eine «erhabene und universale Wissenschaft» (ʿelm-e aʿlā wa ʿelm-e kullī), deren Ziel es ist, «die Wahrheit der Objekte und der seienden Dinge gemäß ihrer ursprünglichen und natürlichen Ordnung zu kennen». Die Wahrheiten (haqāyeq) aber lassen sich nur über ihre Ursachenketten erfassen. Die Philosophie «nimmt den Platz des Geistes (rūh) ein im Körper (qāleb) der übrigen Wissenschaften. Er erachtet sie darüber hinaus als «die erste Ursache (ʿellat-e oulā-ye) für den Übergang der Nationen (umam) vom Zustand der Wildheit und Primitivität in die Welt der Kultur und Zivilisation (ʿālem-e tamaddun wa hadārat)» und als ihr Ziel die «Vervollkommnung des menschlichen Geistes 105 (kamāl-e nafs-e insānī ast)». Ganz ähnlich erörtert Afghanī Philosophie in zwei in den Jahren 1881 104 Keddie, Nikki: Sayyid Jamāl ad-Dīn “al-Afghānī”, (Fn. 58), S. 404-419; Haim, Sylvia G.: “Introduction”, in: Dies. (Hg.): Arab Nationalism. An Anthology, Berkeley [et al.]: University of California Press, 1962, S. 8-9; siehe auch unten, S. 203. Afghānī entging aufgrund seiner damaligen Beziehungen zum osmanischen Sultan der Auslieferung, war aber 1870/71 auf Betreiben des obersten Muftis für einige Zeit aus Istanbul verbannt worden. Ihm war offenbar zur Last gelegt worden, dass er der Philosophie eine ebenso hohe, wenn nicht höhere Bedeutung als dem Prophetentum beimaß (Keddie, ebd., (Fn. 58), S. 65-80). 105 Kermānī, «Takwīn wa tashrīʿ» und «Hikmet-e nazarī», nach: Ādamiyat, Fereidūn: Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, 2. Aufl., Teheran: Enteshārat-e Payām, 1978/1357 h.sh., S. 76, 80.
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und 1882 an indische Muslime gerichteten Reden. Deutlich spricht er dabei der Wissenschaft universelle Gültigkeit zu: «Wissenschaft ist jene edle Sache, die an keine Gruppe (tāʾife) gebunden ist, und die durch 107 nichts anderes erkannt werden soll als durch sich selbst». Stärker noch als Kermānī betont er die Notwendigkeit der Philosophie als ,Orientierungswissenschaft‘: Wären die Mitglieder einer Gemeinschaft bloß in den Einzelwissenschaften gebildet, nicht aber in der Philosophie, so würden 108 die Wissenschaften in dieser Gemeinschaft keinen Bestand haben. Beide, Kermānī wie Afghānī, erklären die Lehren der vorangegangenen sunnitischen und schiitischen Philosophen für überholt, beklagen deren metaphysischen, spekulativen Charakter und spornen dazu an, sich den empirisch wie rational fundierten «neuen» Wissenschaften und 109 Techniken zu widmen. Kermānī plädiert dafür, die durch die neue Philosophie hervorgebrachten neuen Konzepte und Ideen teils mittels neuer Worte und Begriffe, teils durch deren Verknüpfung mit alten Begriffen 110 zum Ausdruck zu bringen. Afghānī macht gar den Mangel an Philosophie im Osmanischen Reich und Ägypten seiner Zeit für deren Misere verantwortlich. Die Regierungen hätten nun zwar einige Schulen eingerichtet, welche die neuen Wissenschaften lehrten, doch ohne Philosophie brächten sie keine Früchte. Den Ulema seiner Zeit hält er vor, durch die Trennung der Wissenschaft in eine «Wissenschaft der Muslime» (ʿelm-e muselmānān) und eine «Wissenschaft der Europäer» (ʿelm-e farang) ihren eigentlichen allge111 meingültigen Charakter ad absurdum geführt zu haben. Afghānī erhebt in einer dieser Reden den Koran, das vom Propheten überbrachte «wertvolle Buch» (gerāmī-nāme) zum «ersten Lehrer der Phi106 Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e: “Fawāʾed-e Falsafe”, in: Ders., Madjmūʿe-ye Āsār IX, (Fn. 49), S.104-117, hier S.105; engl. Übers.: “The Benefits of Philosophy”, in: Keddie, An Islamic Response, (Fn. 49), S.110; Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e, Taʿlīm wa taʿallum, (Fn. 49), S.127-134, hier, S.130-131; Ders., Lecture on Teaching and Learning, (Fn. 49), S.103-104. 107 Afghānī, Taʿlīm wa taʿallum, (Fn. 49), S.133; Ders., Lecture on Teaching and Learning, (Fn. 49), S.107. 108 Ebd., S.131; ebd., S.104. 109 Ādamiyat, Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 77-79; Afghānī, Fawāʾed-e Falsafe, (Fn.106), S.104, 110-117; Ders., Benefits of Philosophy, (Fn.106), S.109, 115-122. Kermānī, Einleitung zu Takwīn wa tashrīʿ, nach Ādamiyat, Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 81. 110 Kermānī, Einleitung zu Takwīn wa tashrīʿ, nach Ādamiyat, Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 81. 111 Afghānī, Taʿlīm wa taʿallum, (Fn. 49), S.134; Ders., Lecture on Teaching and Learning, (Fn. 49), S.107.
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losophie» in einer für die nahöstliche Elite deutlichen Anspielung auf die für Aristoteles gebräuchliche Ehrenbezeichnung. Das arabische Volk, das er im übrigen mit harschen Worten als das primitivste und unzivilisierteste aller Völker kennzeichnet, hat, so Afghānī, dank des Korans seine schlechte Moral, seinen Aberglauben und seine Dummheit abgelegt. Die Charakterisierung der Heiligen Schrift als den «ersten Lehrer der Philosophie» für die Muslime, womit er deutlich die Araber meint, hat Afghānī aber offenbar auch noch aus einem weiteren Grund gewählt. Er beschreibt, dass sie bald die Überlegenheit anderer Völker in den philosophischen Wissenschaften anerkannten und deren Werke ins Arabische übertrugen. Anstatt aber selbst weiterzuforschen, hätten sie sich damit zufrieden gegeben, die Lehren der griechischen Philosophen als der Weis112 heit letzten Schluss anzunehmen. Afghānī löst sich hier aus dem Absolutheitsanspruch des klassischen Wissenschaftskonzepts, indem er den muslimischen Philosophen vorwirft, sie hätten die Tatsache missachtet, «dass die philosophischen Wissenschaften ebenso wie alle übrigen technischen und industriellen Künste (funūn wa sanāʾiʿ) aufgrund von aufeinander folgenden Ideen (afkār) und aufeinander aufbauenden Einsichten 113 (ārāʾ) diese Stufe erreicht haben». Zugleich versichert Afghānī, dass der Koran «das vollständige Abbild der Philosophie des Makrokosmos darstellt» (noskhe-ye djāmiʿe-ye īn ʿālem-e kabīr ast), insofern er in jedem Wort, ja in jedem Buchstaben unzählige Andeutungen und Geheimnisse (rumūz wa asrār) berge, die zu deuten alle Weisen der Vergangenheit und 114 Zukunft zusammen nicht in der Lage wären. In dieser Rede Afghānīs kommt eine Variante seiner Konzeption der Harmonie des Islam mit Philosophie und Wissenschaft markant zum Ausdruck. Sie besagt, dass Philosophen und Wissenschaftler zur Erforschung der Welt des Korans nicht bedürfen, dieser aber, wenn er richtig gedeutet wird, mit ihren Erkenntnissen nicht im Widerspruch steht. Das implizieren auch die Aussagen von Kermānī in «Inschallah, Maschallah». In dem Werk «Se Maktūb», in dem er ebenfalls Koranverse zur 112 Afghānī, Fawāʾed-e Falsafe, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.108-111; Ders., Benefits of Philosophy, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.112-116. Ähnlich äußert er sich in Taʿlīm wa taʿallum, S.131-134 (Fn. 49); Ders., Lecture on Teaching and Learning, (Fn. 49), S.105-107. 113 Afghānī, Fawāʾed-e Falsafe, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.111; Ders., Benefits of Philosophy, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.116. Ähnlich argumentiert Kermānī in Hasht behesht, nach Ādamiyat, Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 83. 114 Afghānī, Fawāʾed-e Falsafe, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.110; Ders., Benefits of Philosophy, (Fn.106, i.V.m. Fn. 49), S.114.
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Stützung seiner eigenen Aussagen zitiert, äußert er ganz unmissverständlich, Gott habe den Islam «zur Verbesserung der Lebensumstände der arabischen Gemeinschaft (mellat-e ʿarab)» gestiftet, und konstatiert: «Die anderen Gemeinschaften sind in der Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz der Religion frei», wobei er auf den Koranvers «In der Religion gibt es keinen 115 Zwang (2:256)» verweist. Zugleich lässt Kermānī durch seine Feststellung, die Europäer hätten alle Vorzüge der Religion des Islam übernommen, erkennen, dass er ihn für besonders gut mit der Moderne und ihren Wissenschaften für vereinbar hält. Afghānī bringt das noch deutlicher auf den Punkt: «Die den Wissenschaften und dem Wissen (maʿāref) am nächsten stehende Religion ist die Religion des Islam (diyānat-e islāmiyye). Es besteht keinerlei Widerspruch (monāfātī) zwischen den Wissenschaften und dem Wissen und den Grundlagen der islamischen Reli116 gion.» Trotz dieser Gemeinsamkeiten, gerade auch mit Blick auf die Harmoniethese, unterscheiden sich Afghānīs und Kermānīs Rezeptionen der Darwinschen Evolutionstheorie und darauf aufbauender materialistischer Lehren. Kermānī machte sich die Darwinschen Gesetze zu eigen und erklärte es für durch ,die Wissenschaft‘ gesichert, dass das menschliche Denken eine Funktion der Gehirnnerven sei. Die sich aus der ,Reduktion‘ des menschlichen Denkens auf einen physischen Akt ergebenden möglichen Inkompatibilitäten mit den religiösen Vorstellungen der geistigen Natur des Denkens und der Existenz einer Seele reflektiert Kermānī, so117 weit bekannt, nicht. Sein Augenmerk liegt vielmehr auf der Unterscheidung zwischen den «materiellen Gesetzen» (nawāmīs-e māddī), denen der Mensch, der «zweibeinige Beseelte» (djānewar-e doupā), in vielerlei Hinsicht ebenso unterworfen sei wie alle übrigen Dinge, und der «Ordnung der Vernunftwelt» (entezām-e ʿālem-e ʿaqlī). Mit Letzterer bezeichnet Kermānī all jenes, was der Mensch mit der ihn vor dem Tier auszeichnenden «Vernunftkraft» (qowwe-ye motafakkere) hervorgebracht hat. Diese mit 115 Čūbīne, Bahrām (Hg.): Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Se Maktūb, Frankfurt [u.a.]: Alborz Verlag, 2005, S.173. Ich danke Herrn Rezaei-Tazik für diesen Hinweis. 116 Afghānī, Taʿlīm wa taʿallum, (Fn. 49), S.134; Ders., Lecture on Teaching and Learning, (Fn. 49), S.107. 117 Ich stütze mich hier auf die bisher einzige umfangreiche Studie zu Kermānī von Ādamiyat (Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 80-99), der sich auf Kermānīs Schriften «Takwīn wa tashrīʿ» (Genese und Gesetzgebung), «Se Maktūb» (Drei Briefe), «Sad Khetabe» (Hundert Reden) und «Hasht Behesht» (Acht Paradiese) beruft.
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Hilfe der Vernunft geschaffenen Dinge, wie beispielsweise die «gesellschaftlichen Institutionen» (taʾsīsāt-e edjtemāʿī), sind den Naturgesetzen 118 bis zu einem gewissen Grade enthoben. Diese klare Entkopplung von «Vernunft- und Naturordnung» könnte darauf hindeuten, dass Kermānī göttlichen Geboten im sozialen Bereich und insgesamt in allen Bereichen, die der Mensch vernunftgesteuert selbst gestalten kann, nur wenig Raum geben will. Afghānī scheint gegen Ende seines Lebens Darwins Lehren gegen119 über eine ähnliche Position wie Kermānī eingenommen zu haben. In seinem mit Abstand berühmtesten Werk in der islamischen Welt, «Haqīqat-e mazhab-e naičarī» (Die Wahrheit über die naturalistische Lehre, 1881), das in der fünf Jahre später veröffentlichten arabischen Übersetzung unter dem Titel «ar-Radd ʿalā d-dahriyyīn» (Die Zurückweisung der Materialisten) geläufig ist, setzt Afghānī in völlig undifferenzierter Weise Darwinismus mit Materialismus und Kommunismus gleich und sieht die Grundfesten der muslimischen Gemeinschaft durch ihn in Gefahr. Als Vorläufer des Darwinismus respektive Materialismus hebt er im antiken Griechenland die Epikureer, in Persien die Mazdakiten, in Ägypten die Bāṭiniyya (Ismāʿīliyya) und im modernen Europa Voltaire, Rousseau und 120 Darwin hervor. Mit Darwins Grundannahmen war er damals offenbar nur durch entstellende Gerüchte vertraut, denn er stellt sie merklich falsch dar. So behauptet er beispielsweise, Darwin habe den Orang-Utan als unmittelbaren Ahnen der Kannibalen und anderer Schwarzafrikaner, 121 mithin als Vorfahren der ersten Menschenrasse angesehen. Eigentliche Zielscheibe seiner Polemik sind aber der rationale, die Natur (naičar, für 118 Kermānī, Takwīn wa tashrīʿ, nach: Ādamiyat, Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, (Fn.105), S. 99. 119 In mit «Maḏhab an-nushūʾ wal-irtiqāʾ» (Die Lehre der Evolution und des Fortschritts) titulierten Gesprächsnotizen aus den Jahren 1892–1896 unterscheidet al-Afghānī scharf zwischen der Annahme eines der Urform den Lebensodem einhauchenden Schöpfers (khāliq) bei Darwin und deren Negation bei seinen Anhängern Büchner, Huxley, Spencer und Shumayyil. Die Theorie von der Spontanerzeugung erklärt Afghānī dabei für unbewiesen und nimmt einen agnostischen Standpunkt ein (ebd., in: Ders.: Madjmūʿe-ye Āsār VI: Khāterāt-e Djamāladdīn al-Afghānī al-Husainī – Ārāʾ wa afkār, hg. von Seyyed Hādī Khosroushāhī, Kairo, 2002/1423 h.q., S.155. 120 Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e: “Risāle-ye naičariyye dar haqīqat-e mazhab-e naičarī wa bayān-e hāl-e naičarīyān”, in: Ders., Madjmūʿe-ye Āsār IX, (Fn. 49), S. 9-63, hier S. 37-50; Ders.: “The truth about the Neicheri Sect and an explanation of the Neicheris”, übers. von Nikki R. Keddie and Hamid Algar, in: Keddie, An Islamic Response, (Fn. 49), S.152-163. 121 Afghānī, Risāle-ye naičariyye, (Fn.120), S.17-18; Ders., The truth about the Neicheri Sect, (Fn.120), S.135.
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engl. nature) als Maßstab nehmende indische Koran- und Bibelexeget Sayyid Ahmad Khān (1817–1898) und seine Anhänger, die Afghānī als 122 Verbündete der britischen Kolonialherren schärfstens bekämpfte. Er lastet allen «Naturalisten» den moralischen wie kulturellen Verfall und die Kriegsniederlagen ihrer Staaten an und qualifiziert selbst eine «primitive» oder gar «nichtige» (bātel) Religion als besser, da sie immer noch 123 die soziale Ordnung gewährleiste. Allein die Religion erfüllt nach Meinung Afghānīs in dieser Schrift einen gemeinschaftserhaltenden Zweck. Ihre beiden Säulen, die Überzeugung (eʿteqād) von der Existenz eines «Weltbaumeisters» (sāneʿ) und der Glaube (īmān) an eine jenseitige Belohnung und Bestrafung sind ihm dafür Garant. Ebenso auch eine Reihe von Dogmen und Tugenden, die deutlich einen anthropozentrischen und zum Teil nationalistisch-utilitaristischen Charakter aufweisen. So etwa, dass der Mensch das edelste Geschöpf und der Beherrscher der Erde sei, sowie dass die eigene Nation (umma) die edelste sei – Überzeugungen, die seines Erachtens die Konkurrenz und damit den eigentlichen Motor der Zivilisierung fördern. An Tugenden nennt er primär im sozialen Umgang wichtige Eigenschaften, wie «Ehr- bzw. Schamgefühl», «Zuverläs124 sigkeit» und «Aufrichtigkeit». Auf den letzten Seiten erhebt Afghānī den Islam zur erhabensten Religion und erklärt nur ihn für fähig, das «vorzügliche Gemeinwesen» (almadīna al-fāḍila – eine Anspielung auf al-Fārābīs (872–950) gleichnami125 ges Werk) zu errichten. Dieses Urteil gründet in der Überzeugung, der Islam sei – im Gegensatz zu Buddhismus und Hinduismus – frei von Aberglauben und er allein stütze alle seine Dogmen auf rational gesicher126 te Beweise. Der apologetische Charakter dieser Behauptungen und ihr Widerspruch zu seinen beiden in Indien gehaltenen Reden, in denen er vornehmlich der Philosophie die Vorzüge der Zivilisierung zuerkennt, die er hier der Religion und speziell dem Islam zuspricht, ist unverkennbar. Es 122 al-Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e: “The materialists in India”, in: Keddie, An Islamic Response, (Fn. 49), S.175-180. 123 Afghānī, Risāle-ye naičariyye, (Fn.120), S. 57; Ders., The truth about the Neicheri Sect, (Fn.120), S.168; diese Stelle ist in der arabischen Übersetzung ausgelassen. 124 Afghānī, Risāle-ye naičariyye, (Fn.120), S. 23-31; Ders., The truth about the Neicheri Sect, (Fn.120), S.141-147. 125 Afghānīs politisches Konzept hat mit dem vorzüglichen Gemeinwesen von al-Fārābī allerdings kaum etwas gemein (vgl. zu Letzterem Ulrich, Rudolph: “§ 8. Abū Naṣr alFārābī”, in: Ders. (Hg.), Philosophie islamische Welt, (Fn. 35), S. 397-400). 126 Afghānī, Risāle-ye naičariyye, (Fn.120), S. 57-63; Ders., The truth about the Neicheri Sect, (Fn.120), S.169-174.
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ist aber sein Angriff auf den Darwinismus und seine Apologie des Islam als einer vernunftbasierten Religion, die als sein schriftliches Hauptvermächtnis gelten und in der sogenannten islamischen Welt eine breite und lang anhaltende Wirkung entfalteten. Der arabische Darwin-Übersetzer Ismāʿīl Maẓhar beklagt in den 1920er Jahren, diese Schrift Afghānīs habe einer 127 ganzen Generation die Verachtung der Naturwissenschaften eingeimpft.
Ḥusain al-Djisr (1845–1909) Wie groß der Einfluss von Afghānīs Traktat realiter gewesen ist, lässt sich beim jetzigen Forschungsstand schwer ermessen. Mindestens so wirkmächtig war die umfangreiche islamapologetische Monographie «arRisāla al-Ḥamīdīya» (Das löbliche Traktat, 1888) des libanesischen Journalisten und Lehrers Ḥusain al-Djisr (1845–1909), der sich in einer von ihm in Tripoli (Libanon) gegründeten Schule (al-madrasa al-waṭaniyya alislāmiyya) um eine aktive Öffnung gegenüber dem wissenschaftlich-tech128 nischen Wissen des Westens bemühte. Diese gegen die «Freigeister» (ʿuqūl ḥurra), die «materialistischen, atheistischen Naturwissenschaftler» (aṭ-ṭabīʿiyyūn al-māddiyyūn ad-dahriyyūn) gerichtete Monographie machte ihn auf einen Schlag berühmt. Er hielt, ebenso wie Ahmed Midhat Efendi – und im Unterschied zu den meisten hier vorgestellten Vertretern der Harmoniethese –, an einem ,klassisch‘ sunnitischen Verständnis der Scharia fest und lehnte moralische, bürger- und frauenrechtliche sowie systempolitische Reformen ab. Die Setzung moralisch-rechtlicher Normen als Aufgabe der Scharia trennt al-Djisr von der Naturerkenntnis, die dem Menschen kraft des ihm von Gott verliehenen Verstandes und der von Gott im Koran gegebenen Zeichen (āyāt) möglich sei. Den Islam erklärt er als in seinem zivilisatorischen Potential der christlichen Religion und der Philosophie überlegen. Philosophen hält er zwar grundsätzlich auch für fähig, die Regeln der Zivilisation zu etablieren, die Religion er127 Maẓhar, Ismāʿīl: Malqā s-sabīl fī maḏhab an-nushūʾ wal-irtiqāʾ wa-atharihī fī l-inqilāb alfikrī al-ḥadīth, Kairo: al-Maṭbaʿa al-Miṣriyya, 1926, S. 5. 128 al-Djisr, Ḥusain: ar-Risāla al-Ḥamīdiyya fī ḥaqīqat ad-diyāna al-islāmiyya wa-ḥaqīqat ash-sharīʿa al-muḥammadiyya, hg. v. Khālid Ziyāda, Tripolis (Libanon) [ca. 1994]. Zu Autor und Werk siehe Ebert, Johannes: Religion und Reform in der arabischen Provinz: Ḥusayn al-Ǧisr aṭ-Ṭarâbulusî (1845-1909), Frankfurt a.M. (et al.): P. Lang, 1991; Elshakry, Reading Darwin, (Fn. 8), s.v.; Kügelgen, Anke von: “§1. Darwinismus, Materialismus und soziale Evolution 4. Ḥusain al-Ǧisr”, in: Dies./ Rudolph/Frey: Philosophie, (Fn.11). Im Folgenden stütze ich mich, so nicht anders vermerkt, auf besagte ar-Risāla alḤamīdiyya und al-Djisr, Ḥusain: al-Ḥuṣūn al-ḥamīdiyya li-muḥāfaẓat al-ʿaqāʾid al-islāmiyya, Kairo [1905].
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achtet er dabei jedoch als deren eigentliche, ihnen nicht bewusste Quelle. Er hält Philosophen zudem für außerstande, sich gegenüber den einfluss129 reicheren Pseudophilosophen zu behaupten. Zu Letzteren rechnet alDijsr die Materialisten und Evolutionisten, die den Schöpfergott leugnen und damit seine jenseitige Belohnung und Bestrafung, deren Ansporn und Ängstigung er als die Basis der Moral und Zivilisation erachtet. Er wirft den Materialisten Blauäugigkeit vor, wenn sie annähmen, die von der Wissenschaft aufgestellten Gesetze führten auf Dauer zu Recht und Ordnung. Folgerichtig will al-Djisr den von ihm eingeforderten und zum Teil auch selbst durchgeführten Unterricht in Naturwissenschaften nur Gläubigen anvertraut wissen. In seiner Monographie öffnet al-Djisr Darwins Evolutionstheorie und den modernen Naturwissenschaften vorsichtig die Türen. Dabei stützt er sich auf die Harmoniethese der rationalistischen muslimischen Theologen und bedient sich teilweise der Argumente seines expliziten Vorbildes 130 al-Ghazālī. Er postuliert zwar die grundsätzliche Vereinbarkeit der islamischen Religion mit den Darwinschen Gesetzen, sobald er sich dann jedoch näher mit ihnen befasst, stellt er Bedingungen, die Darwins Thesen zuwiderlaufen. So erscheinen ihm Varianzen nur innerhalb einer Art plausibel, und er schließt einen gemeinsamen Ursprung von Mensch und Affe unter Hinweis auf die unterschiedliche Entwicklung ihrer jeweiligen Kinder aus. Hingegen konstatiert er die Vereinbarkeit mit den Lehren vom bloß quantitativen Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verstand und der Entstehung des Lebens im Menschen durch die Bewegung der ihn konstituierenden Materie. Als Bedingung setzt al-Djisr die Anerkennung Gottes als Urheber dieser Erscheinungen voraus. Dabei distanziert er sich deutlich von deterministischen Kausaltheorien. Er stellt es Gott anheim, ob er mit «gewohnheitsmäßigen Ursachen» operiert oder nicht. Die grundsätzliche Vereinbarkeit, von der al-Djisr spricht, ist methodisch begründet. Die Scharia, wie alle übrigen Religionsgesetze, habe die Aufgabe rechtzuleiten, nicht aber detailliertes naturwissenschaftliches Wissen zu vermitteln. Die allegorische Exegese (taʾwīl) hält al-Djisr aber nur dann für notwendig, wenn ein «schlagender rationaler Beweis» (burhān ʿaqlī qāṭiʿ) vorliegt, der dem äußeren Wortsinn des über129 Ebert, Religion, (Fn.128), S.119. 130 Zur mannigfaltigen al-Ghazālī-Rezeption siehe Tamer, Georges (Hg.): Islam and Rationality – The Impact of al-Ghazālī, Bd.1, Leiden: Brill, 2015; Griffel Frank (Hg.): Islam and Rationality – The Impact of al-Ghazālī, Bd. 2, Leiden: Brill, 2016.
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lieferten Textes widerspricht. Als ein solcher gelten ihm beispielsweise der Satz vom Widerspruch oder die Räumlichkeit des Körpers und, wie seine Berufung auf naturwissenschaftliche Entdeckungen zeigt, empirisch Erwiesenes. Die Beweise für die Evolutionstheorie – al-Djisr nennt die der rudimentären Organe und die Entdeckung niederer Pflanzen und Tiere in geologischen Schichten – erkennt er nicht als schlagend an und qualifiziert sie als eine bloße Vermutung (ẓann). Damit siedelt er sie in seiner Erkenntnisskala nicht nur unterhalb des sicheren (yaqīnī) Wissens an – dieses kann durch die ratio oder durch eine lückenlose Überlieferung vieler moralisch integrer Personen (tawātur) gesichert sein –, sondern auch unterhalb des durch wenige Personen überlieferten Wissens. Bei der «Vermutung» verbietet sich aber nach Auffassung al-Djisrs die allegorische Exegese, und es muss dem äußeren Wortsinn von Koran und Hadith Glauben geschenkt werden. al-Djisr sucht seine Glaubensgenossen auf diese Weise vor unsicherem Wissen zu schützen, gleichzeitig nimmt er die Naturwissenschaften aber ernst und will offenbar für den Fall, dass sie «schlagende rationale Beweise» erbringen, gewappnet sein. Al-Djisr stellt sich bis zu einem gewissen Grade auch den Argumenten der Konfliktthese. So sucht er Wundertaten von Propheten und Sufimeistern sowie empirisch nicht nachgewiesene Existenzen mit Hilfe neuerer naturwissenschaftlicher Entdeckungen rational zu plausibilisieren. Mohammeds Mondspaltung vergleicht er mit einem Berge spaltenden Erdbeben und die Konsistenz, Kraft und Schnelligkeit von Engeln und Dschinnen mit Äther, Elektrizität und Licht. Den Vorbehalten gegenüber den Dogmen von der Körper- und Materielosigkeit Gottes und der Erschaffung der Welt aus dem Nichts begegnet al-Djisr einerseits, indem er seine Gegner sachlicher und methodischer Inkonsistenz zu überführen sucht. Er kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die Begründung der Materialisten für die Ewigkeit der Welt aus der ewigen Bewegung der kleinsten Materieteilchen, die nun aber weder sicht- noch spürbar seien, entgegen ihrem Anspruch, nur sinnlich Wahrnehmbares als Beweis anzuerkennen, ebenso rationalistisch sei wie der Beweis der Religionsangehörigen, aus der Existenz des Seienden (al-kāʾināt) die Existenz Gottes abzuleiten. Die Materialisten hätten in dieser Frage demnach auch keinen empirischen Beweis. Andererseits verweist al-Djisr die Naturwissenschaftler auf die vielen, auch von ihnen selbst zugegebenen Wissenslücken und auf 80
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Entdeckungen, die die Existenz von Dingen beweisen, welche die Vorstellungskraft übersteigen, und nennt als Beispiel die Existenz mikroskopisch kleiner Lebewesen in einem Wassertropfen. Al-Djisrs Schrift war auf Osmanisch-Türkisch ein Bestseller – 20.000 Exemplare wurden von ihr verkauft. Der osmanische Sultan Abdülhamid II. lud den Autor 1891 nach Istanbul ein und ehrte ihn mit Auszeichnun131 gen. Die Übersetzung von al-Djisrs Werk hatte der im vorliegenden Band mit eigenen Texten vertretene Journalist, Essayist, Literat, Übersetzer und Draper-Kommentator Ahmed Midhat Efendi veranlasst, der selbst als einer der bekanntesten Vertreter der Harmoniethese im ausgehenden 19. Jahrhundert in den türksprachigen Gebieten des Osmani132 schen und Russischen Reiches gelten kann.
Ahmed Midhat Efendi (1844–1912) Ahmed Midhat Efendi, der bereits mit seinem Kommentar zu Drapers «History of the Conflict between Religion and Science» erwähnt wurde und von Enur Imeri mit Auszügen daraus sowie zwei Artikeln in Übersetzung in diesem Band vorgestellt wird, zeigt sich in seinen Schriften gegenüber allem Neuen äußerst aufgeschlossen. Die Modernisierung des Osmanischen Reiches war ihm ein immenses Anliegen, und er war sichtlich bemüht zu verstehen, was Europäer und US-Amerikaner unter Wissenschaft und Philosophie verstehen, und das, was er davon als fortschrittsfördernd erachtet, in seinem Kontext fruchtbar zu machen. Zugleich war er – nach anfänglichen Glaubenszweifeln und Kontakten zu Jungosmanen, die zu seiner zeitweiligen Verbannung nach Rhodos führten – von der Überzeugung getragen, dass allein die Bindung an die spirituellen Aspekte des Islam die Osmanen und die muslimische Gemeinschaft vor den in Europa beobachtbaren negativen, die ethischen Aspekte der Gesellschaft untergrabenden Seiten des technischen Fortschritts schützen kann. Im Unterschied zu vielen der hier genannten nahöstlichen Intellektuellen stützen seine Schriften das spätosmanische Kalifat bzw. Sultanat. Ahmed Midhat Efendi bemängelt, dass sein Volk die «exakten Wissenschaften» nicht beherrsche, und sucht seine Leser von deren Nutzen 131 Ebert, Religion, (Fn.128), S. 87. 132 Zu seiner Rezeption im Russischen Reich siehe Strauss, Johann: “Müdafaa’ya mukabele et Mukabeleye müdafaa: Une controverse islamo-chrétienne dans la presse d’Istanbul (1883)”, in: Herzog, Christoph / Motika, Raoul / Ursinus, Michael (Hg.): Querelles privées et contestations publiques. Le rôle de la presse dans la formation de l´opinion publique au Proche Orient, Istanbul: Les Éditions ISIS, 2003. S. 55-98, hier S. 93-94.
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und ihrer aufbauenden Kraft zu überzeugen. Hierfür verwendet er den Begriff fenn (Singular) bzw. funūn (Plural), der keinerlei religiösen Bezug hat und der im 19. Jahrhundert häufig als Übersetzung für Kunst im Sinne von «technischer Kunst/Fertigkeit» verwendet wurde. Ahmed Midhat Efendi kennzeichnet fenn als jene Art von Wissenschaft, die, wie beispielsweise die Ingenieurswissenschaften, klare Gesetze und Prinzipien habe, deren Gegenteil niemals wahr sein könne. Er fasst fenn dabei zwar unter den Obergriff ʿilm (Singular) bzw. ʿulūm (Plural), den traditionellen Begriff für «Wissenschaft», grenzt diesen als Fachterminus aber zugleich auch von fenn ab. Als ʿilm im engeren Sinne gilt ihm alles Wissen, «dessen Gegenteil potenziell auch gewusst werden kann» (S. 246); als Beispiele nennt er Geschichte, Dichtkunst und sogar ästhetische Urteile, nicht aber religiöses Wissen, das auch als ʿilm bezeichnet wird. «Philosophie» charakterisiert er als «in ihrer jetzigen Gestalt eine besondere Wissenschaft (ʿilm-i makhṣūṣ), die so breitgefächert und so umfassend ist, dass es bisher keine adäquate Definition für diese Wissenschaft gegeben hat» (S. 250). Seine eigene Definition lautet: «Die Philosophie besteht aus dem Abwägen (muwāzene) der wechselseitigen Beziehungen und Zusammenhänge im Universum» (S. 250). Als Hauptuntersuchungsgegenstand des Philosophen sieht er den Menschen: «Der Philosoph studiert neben der Form und Gestalt sowie der Zusammensetzung, Natur, Moral und Seele dieses Untersuchungsgegenstandes auch dessen Beziehungen zum Universum und fällt entsprechend seinem eigenen Gewissen (widjdān) und seiner eigenen Überzeugung (qanāʿat) ein Urteil (ḥukm) über ihn» (S. 252). Als Begriff für Philosophie verwendet er zunächst vorwiegend das übliche griechische Lehnwort felsefe, später aber vermehrt das im Koran vorkommende und von den klassischen muslimischen Philosophen wie Avicenna oder Averroes bisweilen synonym verwendete ḥikmet (Weisheit, arab. ḥikma). Ihm war die Verwendung des Lehnworts von einem muslimischen Religionsgelehrten vorgeworfen wor133 den, und er beklagt, dass seine Landsleute von den philosophischen Büchern ihrer Vorfahren keinerlei Kenntnis hätten, so dass, wenn heute jemand als Philosoph bezeichnet werde, daraus gefolgert werde, er habe keine Religion oder sei ihr gegenüber indifferent (S. 249). Die Ausführungen Ahmed Midhat Efendis zur Philosophie sind deutlich von dem Bestreben gekennzeichnet, sie von dem in seiner Umgebung 133 Strauss, Müdafaa, (Fn.132), S. 69.
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anrüchigen Stigma des Atheismus und der Amoralität zu befreien. Er bedient sich dabei verschiedener Perspektiven. Historisch verortet er die Philosophie qua Begriff in Griechenland, qua Zielsetzung im Sinne der Suche nach Wahrheit jedoch bereits bei den Propheten. Konzeptuell unterscheidet er zwischen der «wahren Philosophie» (ḥikmet-i ḥaqīqiyye), die aus den mathematischen und den Naturwissenschaften resultiere und die Existenz einer transzendenten, spirituellen Kraft lehre (S. 259) und der «Scheinphilosophie» (tefelsuf) der Sophisten und Materialisten, die ohne apodiktischen Beweis die Spiritualität leugneten (S. 264, 268). Ahmed Midhat Efendi geht dabei offensichtlich von der Annahme aus, dass die auf der Grundlage der exakten Wissenschaften über den Menschen und seine Stellung im Universum getroffenen Urteile unweigerlich zur Idee eines transzendenten Wesens führen. Im Unterschied zu den Materialisten, die ein solches abstreiten, fordert er von allen, die einen Schöpfergott annehmen, gleich ob sie offenbarungsgläubig seien oder nicht, wie etwa der von ihm sehr hochgeschätzte Voltaire, dafür keinen 134 apodiktischen Beweis. Eine weitere Ebene der Bestimmung dessen, was Philosophie ist, beschreitet Ahmed Midhat Efendi, indem er die Philosophie in Analogie zur Religion setzt. Beide hätten die Wahrheit zum Ziel, und obwohl beide eine Wahrheit anstreben, verzweigten sie sich in viele verschiedene, unter- und miteinander konkurrierende Wahrheitslehren. Beim Vergleich zwischen der Philosophie und der Prophetie gibt Ahmed Midhat Efendi mit Blick auf die Darlegung der Wahrheiten von der Göttlichkeit und den verborgenen Dingen der Prophetie den Vorzug (S. 255). Er erteilt der Metaphysik und damit letztlich einem Großteil der klassischen Philosophie, nicht zuletzt Aristoteles und Averroes, dem er aber seinen Beweis der Harmonie von Religion und Wissenschaft zu Gute hält, eine klare Ab135 fuhr: In Fragen wie der nach der Ewigkeit der Welt oder ihrer Entstehung in der Zeit «verfügt niemand, der Überlegungen über diese Sachen anstellt, über einen apodiktischen Beweis (burhān), der den apodiktischen Beweisen der theoretischen und der Naturwissenschaften gleich134 Siehe unten, S. 233. Voltaire war der im Osmanischen Reich bekannteste Aufklärungsphilosoph – von Micromégas sind zwischen 1869 und 1908 vier unterschiedliche Übersetzungen überliefert – und wurde keineswegs allein von Ahmed Midhat Efendi gewürdigt (Herzog, Christoph: “Aufklärung und Osmanisches Reich”, in: Hardtwig, Wolfgang: Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, S. 291-321, hier S. 310-316). 135 Siehe auch Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.172.
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kommt. Vielmehr bleiben sie auf die Überzeugung (iʿtiqād) eines jeden beschränkt. Genau! Das [246] sind dem Feld der Religion und nicht der Wissenschaft zugehörige Punkte. Denn dasjenige, was Religion (dīn) genannt wird, ist kein Wissen (bilgī). Vielmehr ist sie ein Glaubensakt (īnānmaq). In der Sprache der religiösen Weisheiten sind Wissensinhalte und Glaubensakte mit Wissen (ʿilm) bzw. Glaube (īmān) bezeichnet worden. Folglich ist die Gesamtheit der wissbaren Dinge innerhalb derjenigen Grenzen möglich, welche die Europäer science und unsere Wissenschaftler ʿulūm ve funūn genannt haben, und über diese Grenzen hinaus kann nichts gewusst werden. Das geben auch die Philosophen zu.» (S. 262-263). Ahmed Midhat Efendi macht sich hier die Kritik an der Metaphysik der neuzeitlichen Philosophie ebenso zu eigen wie die in islamischen und teilweise auch christlichen Wissenstraditionen unbekannte Unterscheidung zwischen «Wissen» als dem wissenschaftlich Wissbaren und «Glauben» als der Sphäre der Religion. Gleichwohl gibt es in seinen Augen Rangunterschiede zwischen den Religionen, und sein Maßstab sind dabei – ganz im ,Zeitgeist‘ des 19. Jahrhunderts – die Wissenschaften, insbesondere die exakten Wissenschaften. In seiner Auseinandersetzung mit den Thesen von Draper erklärt Ahmed Midhat Efendi «dass im Islam eine Vernunftreligion (dīn-i maʿqūl) gefunden werden kann, die mit den Wissenschaften [243] übereinstimmt» (S. 261). Er verwahrt sich gegen die naive Vorstellung, in diesem Falle 136 müsse der Koran eine Kosmografie oder Enzyklopädie sein. Die Hauptaufgabe des Korans ist für Ahmed Midhat Efendi zweifelsohne die moralische und spirituelle Rechtleitung. Zur Entkräftung der Konfliktthese und zum Beweis des rationalen Charakters des Korans sucht er dennoch mit Hilfe exegetischer Methoden, die Übereinstimmung koranischer Aussagen mit den neuesten Forschungsergebnissen aufzuzeigen; als Beispiele führt Ahmed Midhat unter anderem das Alter der Erde, die Sintflut und die Schöpfung an, mithin Lehren, die Draper in Konflikt mit der Religion sieht, und zwar letztlich auch mit der islamischen Religion, da Draper den Koran nicht von seiner Unvereinbarkeitsthese ausnimmt, sondern nur die Lehren späterer muslimischer Naturwissenschaftler und Philoso137 phen. Ähnlich wie Ḥusain al-Djisr zieht er aber von Wissenschaftlern 136 Siehe unten, S. 262 und Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.168. 137 Yalçınkaya, Science, (Fn.19), S.173-177.
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aufgestellte Thesen dann in Frage, wenn sie der eigenen Überzeugung bzw. dem religiösen Dogma widersprechen und dafür keine handfesten Beweise vorliegen. So habe die Evolutionstheorie mit Blick auf den Menschen keine Geltung, da die Geologie bislang nur menschliche Überreste gefunden habe, die mit denen des zeitgenössischen Menschen identisch 138 seien. Ebenso wie al-Djisr lässt er dabei die Tür für mögliche zukünftige empirische Beweise und eine dementsprechende Neuinterpretation des Koran aber offen. Die Harmonie mit den exakten Wissenschaften und der mit ihnen operierenden Philosophie dient Ahmed Midhat Efendi somit als das eigentliche Gütezeichen einer Religion. Vor allem al-Djisrs Werk wird als wegweisend für die moderne «wissenschaftliche Koranexegese» (tafsīr ʿilmī) gewertet. Als deren eigentli139 cher Initiator gilt Ṭanṭāwī al-Djauharī (1870–1940). Er war überzeugt, der Koran sei nur für denjenigen angemessen verständlich, der in den modernen Wissenschaften – von der Physik über die Religionsgeschichte 140 bis zum Spiritismus – bewandert sei. Diese Überzeugung ist fraglos ein Ausdruck der Begeisterung für die Wissenschaft und zeigt, wie dominant die ,Wissenschaftsgläubigkeit‘ auch im Nahen Osten geworden war. Besonders augenfällig kommt sie bei dem Azhar-Gelehrten Muḥammad Bakhīt (1854–1935, von 1914–1920 Großmufti von Ägypten) zum Ausdruck. Auf die These des französischen Astronomen Charles Nordmann (1881–1940), die Naturwissenschaftler könnten die Gestalt und die Bewegung der Erde nicht mit Gewissheit bestimmen – ob sie sich um die Son141 ne drehe oder nicht, müsse daher ungeklärt bleiben –, reagierte Bakhīt mit einer scharfen Zurückweisung. Er versicherte, dass der Islam die Religion der Wissenschaft sei und im Koran eindeutig die Kugelgestalt der 142 Erde und ihr Lauf um die Sonne verbürgt sei.
138 Ebd., S.177. 139 Djadʿān, Fahmī: Usus at-taqaddum ʿinda mufakkirī l-Islām fī l-ʿālam al-ʿarabī l-ḥadīth, 3. überarb. Ausg., ʿAmmān/Bairūt, 1988, S. 237-245; zu mittelalterlichen ,Vorläufern‘ siehe Morrison, Robert: “Reasons for a Scientific Portrayal of Nature in Medieval Commentaries on the Qurʾān,” in: Arabica 52, 2 (2005), S.182-203. 140 Jomier, J.: Le commentaire coranique du Manâr – Tendances modernes de l’exégèse coranique en Égypte, Paris: G.-P. Maisonneuve, 1954. 141 Nordmann, Charles: Le royaume des cieux, un peu du secret des étoiles, Paris: Hachette, 1923, S. 208-249. 142 Ḥusain, Ṭāhā: “I. Min Bārīs 4. Shakk wa-yaqīn”, in: Ders.: Min baʿīd, Beirut, 91982, S. 4748 (Bakhīt bezieht sich auf Nordmanns Buch). Ḥusain kritisiert die Harmoniethese scharf (siehe unten, S.103-104, Fn. 200).
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Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt sich die wissenschaftliche 143 Koranexegese zu einer Unterdisziplin der Koranexegese.
Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) Die Mehrzahl der religionskritisch-reformatorischen Intellektuellen verfolgte jedoch nicht diese Linie, die den Koran letztlich als Enzyklopädie versteht, sondern betonten im Sinne von Ahmed Midhat Efendi die Rationalität des Islam, die in dem Ausdruck «Vernunftreligion» (dīn al-ʿaql) 144 auch auf Arabisch begrifflich einen Niederschlag fand. Breitenwirkung entfaltete das Konzept des Islam als einer Vernunftreligion vermutlich mehr als durch Ahmed Midhat durch den weit über Ägypten hinaus wirkenden Bildungsreformer und ägyptischen Großmufti Muḥammad ʿAbduh, der eine Zeit lang ein Weggefährte Afghānīs gewesen war und 1885/6 in Beirut dessen anti-darwinistisches Werk auf Arabisch publiziert hatte. Die Übersetzung ins Arabische wird als Reaktion auf die aufsehenerregende Parteinahme von Shiblī Shumayyil (ca. 1850–1917) für den 145 Darwinismus eingeordnet. Wie Afghānī suchte ʿAbduh materialistischen Weltanschauungen den Boden unter den Füßen zu entziehen. Er erteilt dabei implizit auch Renans ,materialistischer‘ Interpretation von Averroes’ Lehren eine Absage. Er setzt die Metaphysiker (ālihiyyūn) Platon, Aristoteles und ihre muslimischen Anhänger, darunter Averroes, scharf von den Materialisten ab und sucht ihre Lehren mit denen der 146 muslimischen Theologen auszusöhnen. Die Lehre von der Ewigkeit der Welt, die über Jahrhunderte hinweg außerhalb aristotelisch geprägter Philosophenkreise als ein Zeichen von Unglaube gewertet wurde, erklärt ʿAbduh nicht als Ketzerei, sondern als einen Irrtum (khaṭāʾ), der jedem, der eigenständig denkt (idjtihād) und nicht unbedacht Tradiertes übernimmt (taqlīd), unterlaufen könne. Mit dieser Argumentation übertrug er 143 Beispiele hierfür bietet Edis, Taner: An Illusion of Harmony: Science and Religion in Islam, Amherst, N.Y.: Prometheus Books, 2007, S. 92-95, 98-102, 106-109, et passim. 144 Unter anderem bei Riḍā, Muḥammad Rashīd: “Al-Islām dīn al-ʿaql”, in: al-Manār 5 (1903), S. 807-825. 145 Ziadat, Adel A.: Western Science in the Arab World: The Impact of Darwinism, London: Palgrave Macmillan, 1986, S. 85. 146 Kügelgen, Averroes, (Fn. 48), S. 91-94; zu weiteren Interpretationen von Ibn Rushds Denken in der arabischen Moderne, siehe ebd. und Mesbahi, Mohamed: “In welchem Sinn könnte Ibn Rushd einen Zugang zum Dialog der Kulturen bieten?”, in: Concordia (Gastherausgeber: Sarhan Dhouib) 59 (2011), S. 57-69 und Ders.: “Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur”, Übersetzung aus dem Arabischen von Sarhan Dhouib und Ina Khiari-Loch, in: polylog – Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 32 Andalusien (2014), S. 49-76.
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ein innerhalb islamischer Traditionen nur im Recht anerkanntes Prinzip des Fehlurteils auf theologische Dogmen bzw. Fragen weltanschaulicher Überzeugungen. Bereits in seinen frühesten Schriften ruft ʿAbduh dazu auf, sich mit den modernen Naturwissenschaften und Medizin zu befassen. Er leitet sie in seinem Kurzkommentar zur Dogmenlehre des rationalistischen Theologen Djalāloddīn-e Dawānī (ca. 1427–1502) aus dem kosmologischen bzw. teleologischen Gottesbeweis ab. Wer gesehen habe, dass der Kosmos als Ganzes und im Einzelnen vollkommen aufeinander abgestimmt und geordnet sei, der begreife, dass diese vollkommene Ordnung nur ein mit vollkommenem Wissen und vollkommener Handlungsfreiheit ausgestatteter Schöpfer (bāriʾ) hervorgebracht haben könne. ʿAbduh zieht daraus den Schluss, dass es den Menschen aufgetragen sei, diese Ordnung mit Hilfe einzelner Wissenschaften zu erkennen. Als Beispiele nennt er u.a. die Physiologie und Geologie, also zwei Wissenschaften, die erst im späten 18. bzw. 19. Jahrhundert entstanden sind. ʿAbduh distanzierte sich zugleich von unreflektiert Doktrinen nachkauenden 147 Theologen und Philosophen. Mit seinen Bestrebungen, die traditionellen religiösen Bildungsstätten für die weltlichen Wissenschaften zu öffnen und das Verständnis des Islam zu reformieren, zog er den Groll des traditionalistischen Establishments auf sich und im Jahre 1905 sah er sich einer Anschuldigung des Rektors der Azhar ausgesetzt, er wolle die Azhar in eine «Schule der Philosophie und literarischen Bildung umwandeln, 148 welche die Religion bekämpft und ihr Licht auslöscht». Ähnlich wie Afghānī kämpfte ʿAbduh an verschiedenen Fronten –gegen muslimische Traditionalisten, europäische Imperialisten, christliche Chauvinisten und nahöstliche Säkularisten. Seine Apologie des Islam unterscheidet sich aber durch eine wesentlich stärkere direktere Bindung an die sakralen Texte sowie durch andere Akzentsetzungen. Durchgängig und an allen Fronten verteidigte ʿAbduh die Harmonie von Wissenschaft und Islam. Als im Jahre 1900 der ehemalige französische Außenminister Gabriel Hanotaux in zwei Artikeln der Pariser Tageszeitung Le Journal, die kurz danach auf arabisch in der ägyptischen Zeitung al-Muʾayyad erschienen, den Islam des absoluten Fatalismus sowie einer höchst schädlichen Vermischung von Politik und Religion schmähte – mit dem Christentum und der arischen Zivilisation als leuchtendem Gegenbeispiel –, 147 Kügelgen, Anke von: “Arabisch-sprachiger Raum § 2 Ethik, Religion und Gesellschaftsreform 2. Muḥammad ʿAbduh”, in: Dies./Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11). 148 Riḍā, Tārīkh, (Fn.13), Bd.1, S. 503.
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konterte ʿAbduh bald darauf in al-Muʾayyad. Er verglich Hanotaux mit einem Kreuzzugsprediger, wies den Vorwurf des Fatalismus zurück und hob die zivilisatorische Rolle des Islam nicht zuletzt bei der Verbreitung 149 der Wissenschaften in Europa hervor. An vielen historischen Beispielen kennzeichnet ʿAbduh in der unter dem Titel «al-Islām wan-naṣrāniyya maʿa l-ʿilm wal-madaniyya» (Islam und Christentum im Verhältnis zu Wissenschaft und Zivilisation) bekannten Artikelserie Wissenschaft und Philosophie als vom Islam geförderte und nach Europa exportierte Güter. Er beruft sich dabei nicht zuletzt auf William Draper und den Sozialpsychologen Gustave Le Bon. Letzteren zitiert er unter anderem mit der Aussage: «Die Araber sind die ersten gewesen, die die Welt gelehrt haben, wie die Freiheit der Gedan150 ken mit dem Bestehen der Religion zu vereinbaren ist». ʿAbduhs Artikelserie war eine Antwort auf die Behauptung des Säkularisten Faraḥ Anṭūn, im Islam seien Wissenschaft und Philosophie ihren muslimischen Verfolgern erlegen, während sie in Europa der christlichen Verfolgung hätten standhalten können, woraus Anṭūn die Schlussfolgerung einer größeren Toleranz des Christentums (akthar tasāmuḥan) ge151 genüber der Philosophie zog. ʿAbduh erklärt die auch von ihm konstatierte Stagnation von Wissenschaft und Philosophie unter den Muslimen mit einer Überfremdung des Islam, seitdem – bereits unter der Regierung der Kalifen – nichtarabische Kräfte die Macht übernommen hätten. Namentlich nennt er Türken und Perser, aber auch den Einfluss von Bräuchen christlicher Völker, wie die Verehrung von Heiligen und Gelehr152 ten. ʿAbduh kontrastiert in dieser Schrift Christentum und Islam ausgehend von ihren Heiligen Schriften und ihrer ,weltlichen‘ Geschichte. Als biblisch verbürgte Grundlagen des Christentums nennt er unter anderem die «Wunder», die «geistliche Macht», die «Weltabgewandheit» 153 und den «Glauben an das Irrationale» (al-īmān bi-ġair al-maʿqūl). Als Beleg für die christliche Opposition gegen Wissenschaft und Philosophie 149 ʿAbduh, Muḥammad: Al-Islām war-radd ʿalā muntaqidīhi, Nachdruck, Kairo, 1924/1343 h.q., S. 20-43. 150 Hasselblatt, Herkunft, (Fn. 23), S. 89; vgl. Le Bon, La civilisation, (Fn.19), «C’est qu’en effet l‘islamisme est une des religions les plus compatibles avec les découvertes de la science …» (ebd., S. 75). 151 Anṭūn, Faraḥ: Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48), S. 215-216; zu Faraḥ Anṭūns Autonomiethese siehe unten S.100. 152 Hasselblatt, Herkunft, (Fn. 23), S.104-111. 153 Ebd., S. 26-31.
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führt er Bücherverbrennungen, die Inquisition und Ketzerverfolgungen an. Die Reformation beschönigt ʿAbduh dabei nicht, vielmehr verweist er auf Calvins Beharren auf der Todesstrafe gegen Häretiker und Luthers 154 Ereiferung gegen Aristoteles. Die Grundzüge des Islam charakterisiert ʿAbduh als das genaue Gegenteil derjenigen, die er für das Christentum geltend gemacht hat, und er sucht mit einer Reihe von Beispielen zu belegen, dass Wissenschaftler und Philosophen unter Muslimen nicht ver155 folgt worden seien. Zur Bekräftigung seiner Harmoniethese beruft er sich auch auf den von der Mehrzahl der muslimischen Theologen (mutakallimūn) gepflegten Grundsatz der «Vorrangstellung des Verstandes über den Wortsinn 156 des Religionsgesetzes beim Widerstreit beider». Das heißt, die Interpretation des Koran war zulässig, und es gab dafür exegetische Richtlinien. Die Religionsgelehrten setzten dem Verstand dabei aber Grenzen, und das tut auch ʿAbduh. An der Existenz eines Schöpfergottes kann es für ihn keinen Zweifel geben, und demzufolge bringt er klassische wie moderne naturwissenschaftliche, evolutionistische und sozialtheoretische Lehren mit diesem Dogma in Übereinstimmung. So besagt ʿAbduhs Kausallehre im Wesentlichen, dass Gott seine gewohnte Handlungsweise (sunna/sunan) nicht verändert und er dem Menschen damit sichtbare Zeichen (āyāt), d.h. eine kausale Ordnung (at-tartīb fī s-sababiyya wal-musabbabiyya) des Weltgeschehens (ḥawādith al-kaun), zur Orientierung ge157 geben hat. Die Natur ebenso wie die Geschichte, das Sozialleben und somit auch die Kriege zwischen den Menschen folgen Gottes Gesetzen 158 (sunan). Darwins Evolutionsthesen vom Kampf ums Dasein, der natürlichen Auslese oder dem Überleben des am besten Angepassten bringen 159 laut ʿAbduh lediglich eben diese göttlichen Gesetze zum Ausdruck. 154 Ebd., S. 36-46. 155 Zur Verfolgung von Häretikern in der islamisch geprägten Welt siehe auch Adang, Camilla / Ansari, Hassan / Fierro, Maribel / Schmidtke, Sabine: Accusations of Unbelief in Islam. A Diachronic Perspective on Takfīr, Leiden: Brill, 2016. 156 Hasselblatt, Herkunft, (Fn. 23), S. 56. Zu dieser Mehrheitsmeinung vgl. Kügelgen, Muslimische Theologen, (Fn.101). 157 Hasselblatt, Herkunft, (Fn. 23), S. 27, 58-59. Zu ʿAbduhs Kausallehre siehe Kerr, Malcolm H.: Islamic Reform – The Political and Legal Theories of Muḥammad ʿAbduh and Rashīd Riḍā, Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 1966, S.103-152. 158 ʿAbduh, Muḥammad: Tafsīr al-Qurʾān al-ḥakīm al-mushtahir bi-sm Tafsīr al-Manār, Bde. 1-12, hg. von Muḥammad Rashīd Riḍā, Kairo 1908-1934, Bd.1, S. 210-215. 159 ʿAbduh, Tafsīr, (Fn.158), Bd. 2, S. 494-495; Adams, Charles C.: Islam and modernism in Egypt. A study of the modern reform movement inaugurated by Muḥammad ʿAbduh, London, 1933, S.141-142.
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Ebenso wie die Existenz Gottes zählt ʿAbduh das Prophetentum zu den unumstößlichen Wahrheiten. Die Unterschiede zwischen den drei Offenbarungsreligionen erklärt er dabei mit Gottes stufenweiser Erziehung der Nationen und der menschlichen Gattung und vergleicht diesen Wachstumsprozess mit der Entwicklung eines Menschen: der Kindheit entsprechen die Gebote und Verbote (das Judentum), der Jugend die Liebe und Askese (das Christentum), dem Zustand der Reife die Rationa160 lität (der Islam). Ethik bleibt bei ʿAbduh – außer bei den Dingen, deren nützliche oder schädliche Konsequenzen unmittelbar einsichtig sind, – an die göttliche Richtschnur gebunden. Moralisches Erkennen heißt für ihn, «die Bedeutung des Religionsgesetzes mit der Vernunft zu erfassen» (taʿaqqul mā maʿnā ash-sharʿ); dies schließt die Berücksichtigung der je161 weils eigenen Zeitumstände ein. Zu ʿAbduhs Morallehre kann auch sein Plädoyer für Meinungsfreiheit und Toleranz gerechnet werden, welche er dem Islam als inhärent erachtet und als Zeichen von dessen hö162 herem Reifegrad gegenüber den vorangegangenen Religionen wertet.
Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule (1833–1895) In stärkerem Maße als ʿAbduh und seine arabischen Zeitgenossen haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts iranische und osmanische Intellektuelle die Harmoniethese für philosophische Ideen fruchtbar gemacht. Ich beschränke mich auf eine kurze Exemplifizierung am Beispiel iranischer Autoren; an osmanischen Autoren seien Namık Kemal (1840–1888) und Ziya Gökalp (1875/76–1924) genannt und auf Schriften 163 von und zu ihnen verwiesen. Bei vielen von ihnen ist eine pragmatische 160 ʿAbduh, Muḥammad: Risālat at-Tauḥīd, Bulāq 1897/1315 h.q., S.102-116; franz. Übers. mit ausführlichem Komm. von B. Michel und Moustapha Abdel Raziq: Rissalat al Tawhid. Exposé de la religion musulmane, Paris 1925. 161 ʿAbduh, Risālat at-Tauḥīd, (Fn.160), S. 45. 162 Ebd., S.102; Adams, Islam, (Fn.100), S.133. 163 Zu Namık Kemal siehe Mardin, Serif: The Genesis of Young Ottoman Thought, A Study in the Modernization of Turkish Polticial Ideas, Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press, 2000 (Nachdruck, Oxford 1962), S. 283-336; und oben, S. 42 Fn. 40. Zu Ziya Gökalp siehe Heyd, Uriel: Foundations of Turkish Nationalism: The Life and Teaching of Ziya Gökalp, London: Luzac & Company Ltd. and The Harvill Press Ltd., 1950; Ziya Gökalp: Turkish Nationalism and Western Civilization: Selected Essays of Ziya Gökalp, translated by Niyazi Berkes, London: George Allen and Unwin, 1959. Bereits 1839, in dem hauptsächlich vom damaligen osmanischen Außenminister Reshid Pasha veranlassten Reformedikt von Gülhane wurden wesentliche Elemente der Gleichheit vor dem Gesetz ungeachtet der Religionszugehörigkeit festgeschrieben und als mit dem Koran und den aus ihm abgeleiteten Bestimmungen in Übereinstimmung bezeichnet (Hourani, Albert: Arabic thought in the liberal age 1798–1939, Nachdruck, Cambridge:
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Komponente erkennbar, mit Hilfe der Harmoniethese moderne, ,westliche‘ Konzepte für die eigenen Landsleute akzeptabler zu machen. Zu den ersten Iranern, welche die Harmoniethese in diesem Sinne ausdeuteten, gehörte der iranische Diplomat Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule, der in St. Petersburg, Paris und eine zeitlang auch in Tiflis als Botschafter 164 weilte. In Tiflis und später brieflich pflegte er intensive Kontakte zu Ākhūndzāde und disputierte mit ihm unter anderem über die Vereinbar165 keit von Wissenschaft, Philosophie und Religion. In seinem in Paris verfassten und vielzitierten Buch «Yek Kalame» (Ein Wort) legt Mostashāroddoule ausführlich die Prinzipien der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 dar und kommt zu dem Schluss, dass sie mit dem lobenswerten Koran vereinbar seien und mithin das kla166 re religiöse Gesetz (sharʿ-e mobīn) seinen Nutzen nicht eingebüßt habe. Er untermauert anschließend jedes der von ihm selbst favorisierten Gesetze und Rechte – etwa Gleichheit vor dem Gesetz, individuelle Freiheitsrechte, Medien-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Sicherheit von Leben und Eigentum sowie Schutz der menschlichen Würde, Volkssouveränität, politische Rechte, Folterverbot und Erwerbsfreiheit – mit Koranversen, Hadithen oder Überlieferungen der schiitischen Imame. Um die Gleichheit vor dem Gesetz als urislamisch auszuweisen, zitiert er beispielsweise die Koranverse «Siehe, Gott befiehlt euch, die euch anvertrauten Güter ihren Eignern zu übergeben. Und, wenn ihr zwischen den Menschen richtet, in Gerechtigkeit zu richten (4:58)» und «Doch wenn du rich167 test, dann richte zwischen ihnen in Gerechtigkeit (5:42)». Die Sicherheit
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Cambridge University Press, 1984, S. 45-46); ähnlich argumentierte Midhat Pasha (siehe oben, S. 35 Fn.10). Ich danke Herrn Rezaei-Tazik für seine Hinweise zu diesem Autor. Doulat-Ābādī, Yahyā: Hayāt-e Yahyā, hg. v. Hamīde Doulat-Ābādī, Bd.1, 4. Aufl., Teheran: Enteshārāte Ferdousī, 1983/1362 h.sh. (11957/1336 h.sh.), S. 47, 57, 105. An Studien seien genannt: Ādamiyat, Fereidūn: Fekr-e Āzādī wa Moqaddame-ye Nehzat-e Mashrūtiyyat, Teheran: Enteshārāt-e Sokhan, 1961/1340 h.sh., S.182-198; Kia, Mehrdad: “Constitutionalism, Economic Modernization and Islam in the Writings of Mirza Yusof Khan Mostashar ad-Dowle”, in: MES 30 (1994), S. 751-777; Ādjūdānī, Māshāʾallāh: Mashrūte-ye Irānī, Teheran: Nashr-e Akhtarān, 5. Aufl., 2004/1383 h.sh., S. 251-258. Zu der brieflichen Korrespondenz siehe: Akhundov, Fath ʿAlī: Alefbā-ye Djadīd wa Maktūbāt, hg. v. Hamīd Mohammadzāde, Baku: Nashriyāt-e Farhangestān-e ʿOlum-e Djomhūrī-ye Shourawī-ye Sosiyālīstī-ye Āzarbāydjān, 1963, S. 360-361, 366-372, 398400, 436-437. Mostashāroddoule Tabrīzī, Mīrzā Yūsof Khān: Yek Kalame wa Yek Nāme, hg. v. Seyyed Mohammed Sādeq Feiz, Enteshārāt-e Sabāh, 2003-4/1382 h.sh. (11870/1), S. 44. Mostashāroddoule, Yek Kalame, (Fn.166), S. 47. Koranübersetzung nach Bobzin, Hartmut: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München: Beck, 2010.
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von Leben und Eigentum sowie den Schutz der Würde erachtet Mostashāroddoule durch den Koran gewährleistet: «Wenn jemand einen Menschen tötet, der keinen anderen getötet, auch sonst kein Unheil auf Erden gestiftet hat, so ist’s, als töte er die Menschen allesamt (5:32)». Das Prinzip der Volkssouveränität leitet Mostashāroddoule unter anderem aus dem im Koran häufig vorkommenden Aufruf zur gegenseitigen Beratung (shūrā) ab. Er wertet auch die Trennung der Exekutive (qodrat-e tanfīz) von der Judikative (qodrat-e tashrīʿ) als zu den «alten islamischen Gesetzen» gehörend und untermauert sie mit einer langen Überlieferung des 168 zwölferschiitischen Rechtsgelehrten Sheikh ʿAlī-ye Karakī (1464–1533).
Mīrzā Malkam Khān (1833–1909) Mostashāroddoules Ansatz machte Schule, so etwa bei einem weiteren engen Freund von Ākhūndzāde, dem armenischen, später zum Islam übergetretenen iranischen Diplomaten Mīrzā Malkam Khān, der weit mehr Zeit in Europa als in Iran verbrachte und sich für eine Modernisierung seiner Heimat nach westlichem Vorbild auf allen Ebenen einsetz169 te. In seinen jungen Jahren verfasste er zahlreiche Werke, in denen er – aus einer liberalen Perspektive und ohne Bezug auf die Religion – die Notwendigkeit eines Rechtsstaates für den Fortschritt betonte und überreichte sie auch Nāseroddīn Shāh und den damaligen Ministern. Nachdem jedoch seine Freimaurerloge – es war die erste in Iran – 1861 in Brand gesetzt und er exiliert worden war, proklamierte er in seinen öffentlichen Schriften die Harmonie der von ihm hochgehaltenen westlichen Werte mit dem Islam; in seiner privaten Korrespondenz brachte er aber offenbar auch weiterhin seine Religionszweifel zum Ausdruck (S.126, Fn. 21 und S.188, Fn. 88). Ein sprechendes Beispiel für seine Harmoniethese ist die Meinungsund Pressefreiheit (haqq-e kalām wa qalam): «Wenn wir darüber mit den Gelehrten Europas sprechen, so sagen die bekannten Professoren von ihnen, die über die Prinzipien des Islam besser als wir informiert sind, folgendes: ‹Das Unglück der islamischen Gemeinschaften liegt darin, dass sie die großartigen Prinzipien des Islam geschmälert haben. Eben diese 168 Mostashāroddoule, Yek Kalame, (Fn.166), S. 57 (Koran 42:38), 62-63, 73. Darüber hinaus argumentiert er mit dem Koran auch für die Industrialisierung. Der Koranvers 57:25 «Wir sandten das Eisen herab – in ihm steckt gewaltige Kraft, doch auch Nutzen für die Menschen» diente ihm als Beleg für den Nutzen von Eisenbergwerken, für deren Einrichtung er sich aktiv einsetzte. 169 Seidel, The Reception (Fn.12).
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Meinungs- und Pressefreiheit, die alle zivilisierten Nationen als Prinzip der Weltordnung betrachten, wurde von Führern des Islam mit den zwei umfassenden Worten der ganzen Welt bewiesen und verordnet: ‹das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten (amr be maʿrūf 170 [wa] nahy az munkar)›.» Malkam hat den Grund, die europäischen Errungenschaften als islamisch auszuweisen, in einer im Jahre 1891 in London gehaltenen Rede selbst angegeben: «Einige behaupten, dass das Haupthindernis der Islam sei. Ich habe das auch studiert. Die Religion Islam stellt kein Hindernis für Zivilisation dar». Nach Malkam können «alle Mittel zum Fortschritt» nicht nur «im Koran selbst, sondern auch in Überlieferungen gefunden werden.» Die westliche Zivilisation werde von «den Muslimen abgelehnt», weil «sie mit der Unterstützung des Christentums den Muslimen angeboten» werde. Denn für einen Muslim habe das, was «aus einer feindlichen Religion angeboten» werde, keinen Wert. Am Schluss seiner Rede beschreibt er den seiner Meinung nach richtigen Weg der Übernahme des westlichen Fortschritts bzw. der westlichen Zivilisation: «Es besteht kein Zweifel, dass wir diejenigen Prinzipien, welche Eure Zivilisation ausmachen, aufnehmen sollen. Aber anstatt sie von London oder Paris zu übernehmen und zu sagen, dass der Minister Soundso oder die Regierung Soundso dies und jenes sagt (was nie Zustimmung fände), ist es einfacher, diese Prinzipien aufzunehmen und zu sagen, dass ihre Quelle der Islam sei. Dies ist einfach zu beweisen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Das heißt, diejenigen Gedanken, die aus Europa kamen und abgelehnt wurden, werden unmittelbar und mit Begeisterung Zustimmung finden, sobald man sagt und beweist, dass sie im Islam verankert sind. Ich versichere Ihnen, dass eben der kleine Fortschritt, der im Iran und im Osmanischen Reich, insbesondere aber im Iran, verwirklicht wurde, das Resultat dieser Wahrheit ist: etliche Menschen haben die westlichen Gedanken und Prinzipien übernommen, und anstatt zu 170 Malkam Khān, Mīrzā: “Nedā-ye ʿedālat”, in: Ders.: Madjmūʿe-ye Āsār-e Mīrzā Malkam Khān, hg. v. Mohammed Mohīt Tabātabāyī, [Teheran?]: Enteshārāt-e ʿElmī, 1948, S. 207. Ich danke Herrn Rezaei-Tazik für diese Hinweise. al-Amr bil-maʿrūf wan-nahy ʿan al-munkar ist eines der am häufigsten und am unterschiedlichsten interpretierten koranischen Gebote (Koran 3:110, 114, et passim) (siehe dazu Cook, Michael: Commanding Right and Forbidding Wrong in Islamic Thought, Cambridge: Cambridge University Press, 2000).
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sagen, dass deren Quelle Europa sei oder sie aus England, Frankreich oder Deutschland stammten, sagen sie, sie hätten nichts mit Europa zu tun und diese Gedanken zählten zu den wahren Prinzipi171 en des Islam, welche Europäer von uns übernommen haben.» Bei Mostashāroddoule und Malkam Khān gründet die Harmoniethese fraglos in einer ,Islamisierung‘ westlicher Prinzipien und Werte und ist pragmatisch motiviert. Die Heranziehung europäischer Kronzeugen zur Steigerung der Glaubwürdigkeit zählt dabei zu einem häufig genutzten rhetorischen Mittel. Im 20. Jahrhundert wird die These der Harmonie des Islam mit den freiheitlich-demokratischen Grundwerten westlicher Gesellschaften erstmals methodisch angegangen. Wegweisend war dafür der pakistanischUS-amerikanische Philosoph Fazlur Rahman (1919–1988) mit seiner phä172 nomenologisch geprägten Koranexegese. Rahman suchte in mehreren Exegese-Schritten, den eigentlichen normativen Kern des Koran, das heißt seine überzeitlich gültigen Zwecke und Prinzipien aus der histo173 risch bedingten Hülle herauszuschälen. Sein Ansatz, den der deutsche Naturwissenschaftler Ufuk Özbe (geb. 1981) treffend als «historisch-teleologisch» kennzeichnet, ist vielfach aufgegriffen worden, unter anderem von den in Deutschland bzw. der Türkei lehrenden Professoren Ömer Özsoy (geb. 1963) und Mustafa Öztürk (geb. 1965). Sie weist auch Ähnlichkeiten zu der exegetischen Methode des Literaturwissenschaftlers Abū Zaid (1943–2010) auf, die vor allem auf Gadamers phänomenologisch 174 fundierter Hermeneutik fußt. Diese verschiedenen Varianten der Harmoniethese ebneten den Weg 171 Malkam Khān, Mīrzā: Resālehā-ye Mīrzā Malkam Khān Nāzemoddoule, hg. v. Hodjatollāh Asīl, Teheran: Nashranī, 2002-3/1381 h.sh., S.158-165, hier S.159, 161, 164. Abdruckt wurde diese Rede unter dem Titel “Persian Civilisation” in der Zeitung Contemporary Review, LIX, im Februar 1891, S. 238-244 (nach Algar, Hamid: Mīrzā Malkum Khān: A Study in the History of Iranian Modernism, Berkeley [u.a.]: University of California, 1973, S.179); Seidel, The Reception, (Fn.12). 172 Einige Beispiele für seine Exegese auf Deutsch bietet Amirpur, Katajun: Den Islam neu denken, München: Beck, 2013, S. 91-116. Zu seiner Philosophie siehe Hartung, JanPeter: “Muslimisches Südasien, § 26 4. Auseinandersetzung mit der anglo-amerikanischen Tradition d. Fażl ar-Raḥmān (Fazlur Rahman)”, in: Kügelgen/Rudolph/Frey: Philosophie, (Fn.11). 173 Özbe, Ufuk: “Kritik der liberalen Auslegungen des Islam – Die Islamdebatte zwischen politischer Zweckmäßigkeit und intellektueller Redlichkeit”, in: Aufklärung und Kritik, Sonderdruck zur Ausgabe 1 (2016), S.1-55, hier S. 31, 33, 50, Fn.112. 174 Özbe bietet in seiner Studie “Kritik der liberalen Auslegungen des Islam” eine konzise und kritische Darstellung der «historisch-teleologischen» Koranauslegung der genannten Denker.
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sowohl für eine Loslösung der Religion von Wissenschaft und Philosophie, mithin deren Autonomisierung, als auch für eine tiefergehende Islamisierung von Wissenschaft und Philosophie. Während die Loslösung in der Autonomiethese ihren Ausdruck fand, konnte die Harmoniethese sogar von dezidierten Verfechtern der Trennung von Religion und Staat propagiert werden.
Michel ʿAflaq (1912–1989) Michel ʿAflaq, einer der beiden Initiatoren der 1947 gegründeten syrischen Partei der arabischen Wiedererweckung (ḥizb al-baʿth al-ʿarabī), aus deren einem Zweig die heute noch in Syrien regierende sozialistische Baath-Partei hervorging, machte einen ,vitalistisch‘ interpretierten Islam 175 für seine revolutionäre nationalarabische Ideologie stark. In einer 1943 an der Universität Damaskus gehaltenen Rede anlässlich des muslimischen Prophetengeburtstags verkündete er: «Die Bewegung des Islam, die im Leben des ehrwürdigen Propheten repräsentiert wird, ist ... ein vollkommenes ewiges Symbol für das Wesen der arabischen Seele, ihre reichen Möglichkeiten und ihre ursprüngliche Orientierung. Deswegen kann sie zu Recht als Quelle ständiger Erneuerung in ihrem Geist angesehen werden, nicht in ihrer Form oder ihrem Buchstaben. Denn der Islam ist die lebendige Erschütterung, welche die verborgenen Kräfte in der arabischen Gemeinschaft mobilisiert und mit der Glut des Lebens in aktive Bewegung versetzt, indem sie die Dämme der überkommenen Tradition hinwegspült, die Fesseln der Konvention aufspringen läßt und ihre Verbindung mit dem tiefsten Sinn des Universums von neu176 em herstellt ...». ʿAflaq, der aus einer griechisch-orthodoxen Familie stammt und auch in dieser Rede unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er nur den Gottesglauben an sich, nicht aber die Einhaltung kultischer Pflichten für wesentlich hält, zieht dennoch einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem Christentum und dem Islam. Die christliche Religion sei lediglich der Extrakt von Jenseitsglauben und moralischer 175 ʿAflaq ist höchstwahrscheinlich von Henri Bergsons Philosophie beeinflusst. Dafür spricht auch, dass zahlreiche Werke Bergsons von Personen übersetzt wurden, die der Baʿth-Partei sehr nahe standen (Lahbabi, Mohamed Aziz: Freiheit oder Befreiung? Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson, übers., ergänzt und eingeleitet von Markus Kneer, Berlin: Klaus Schwarz, zu erscheinen 2018). 176 Meier, Andreas: “‘Ewige Botschaft der arabischen Nation’ – Michel ʿAflaq, Rede zum Gedächtnis des arabischen Propheten (Damaskus 1943)”, in: Ders., Der politische Auftrag des Islam, (Fn. 50), S.122-133, hier S.124-125 (die erste Auslassung von mir gesetzt).
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Prinzipienlehre und habe nicht, wie der Islam, die durch seine Umwelt hervorgerufenen Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht, auch sei das Christentum nicht mit der Geschichte der Europäer in der Weise verschmolzen, wie es der Islam mit der Geschichte der Araber sei: «Er ist der stärkste Ausdruck der Einheit ihrer Identität (Persönlichkeit), in der das Wort und das Empfinden mit dem Denken, die Anschauung mit dem Handeln, 177 die Seele mit dem Schicksal miteinander in Einklang stehen.» Zweifelsohne handelt es sich bei dieser Ansprache von ʿAflaq, der in Paris als Student unter anderem mit politischer Philosophie in Berührung gekommen war, um eine Propagandarede, doch sie zeigt anschaulich, in welchem Maße um die Mitte des 20. Jahrhunderts ,Islam‘ als eine allumfassende, mithin auch Wissenschaft und Philosophie einschließende Einheit gefasst werden konnte. Eine Reihe prominenter christlicher Intellektueller hatte zu diesem holistischen Islamkonzept beigetragen. Bereits der Szientist Shiblī Shumayyil hatte die Scharia Mohammeds als ein «wahres gesellschaftliches, praxisbezogenes, materielles, statuiertes System» (niẓām idjtimāʿī ʿamalī māddī qānūnī ḥaqīqī) charakterisiert und sie von den weniger erschöpfend bzw. kaum konkret auf die gesellschaftliche 178 Realität ausgerichteten Lehren von Moses und Jesus abgesetzt. Eigentlich maßgebend für dieses holistische Konzept waren indes jene religionskritischen muslimischen Reformer, die die Harmoniethese vertieften und Wissenschaft und Philosophie sowie Politik und Gesell179 schaft auch begrifflich als dem Islam inhärent konzeptualisierten. Zu den besonders engagierten Persönlichkeiten unter ihnen gehörte der vorwiegend in Kairo wirkende Syrer Rashīd Riḍā (1865–1935), ein langjähriger Weggefährte ʿAbduhs, der mit al-Manār (Der Leuchtturm) die ein180 flussreichste Zeitschrift des Reformislam schuf. Er erklärte es zur Aufgabe der muslimischen Religionsgelehrten, die Sprache der Religion auch zu einer «Sprache der Wissenschaften» zu machen, um damit auf Fremdsprachen zu verzichten und gegen ketzerische
177 Meier, ‘Ewige Botschaft’, (Fn.176, i.V.m. Fn. 50), S.130, 132-133. 178 Shumayyil, Falsafat an-nushūʾ, (Fn. 66), S. 352, Fn. 3; Ders., Madjmūʿat ad-duktūr, (Fn. 66), S. 72; Haroun, Šiblī Šumayyil, (Fn.14), S.166-168. 179 Jung, Dietrich: Orientalists, Islamists and the Global Public Sphere – A Genealogy of the Modern Essentialist Image of Islam, Sheffield/Oakville: Equinox Pub., 2011. 180 Siehe hierzu: Zemmin, Florian: Modernity in Islamic Tradition – The Concept of ‘Society’ in the Journal al-Manar (Cairo, 1898–1940), Diss. Universität Bern 2016 (vorauss. Publikation 2018).
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Neuerungen besser gewappnet zu sein. Riḍā betont wesentlich stärker als ʿAbduh ein ganzheitliches Konzept von Islam. Gegen Gabriel Hanotaux gerichtet, der für den sozialen Zusammenhalt das nationale Band als dem religiösen Band überlegen erklärt, unterscheidet Riḍā zwei Seiten (ṭarafān) der islamischen Religion (dīn islāmī): eine spirituelle Seite (ṭaraf rūḥī), welche die Religionsangehörigen miteinander verbinde, und eine materiell-soziale Seite (ṭaraf māddī idjtimāʿī), welche die Muslime mit allen anderen ethnischen oder religiösen Elementen verbinde und sie rechtlich gleichstelle, ausgenommen jene, mit denen man im Krieg sei oder 182 keinen Vertrag habe.
Sayyid Quṭb (1906–1966) Dieses integristische Konzept von Islam, in dem die Sprache der Religion alles einschließen sollte, stellte die Weichen für eine Abwendung von der Harmoniethese, die ,westliche‘ Geisteswissenschaften und ,liberale‘ Werte zum Teil oder sogar vollständig mit dem Islam vereinbar sieht. Einer der Vordenker des militanten Islamismus, Sayyid Quṭb, entwickelte es weiter zu einer Position, die im Kern der Konfliktthese der Literalisten entspricht, aus offensichtlich pragmatischen Gründen jedoch einen Kompromiss mit der Harmoniethese eingeht. Quṭb war anfangs vom rationalistischen Reformansatz und Konzept der Vernunftreligion des Kreises um ʿAbduh beeinflusst gewesen. In den 1940er Jahren begann er dann zunächst ein primär ästhetisch-emotionales Koranverständnis zu propagie183 ren. Erst nach seinem zweijährigen USA-Aufenthalt trat er im Jahre 1951 der das religiöse Establishment kritisierenden Gemeinschaft der ägyptischen Muslimbrüder bei und entfaltete – zum Teil in loser Anlehnung an den indo-pakistanischen islamistischen Ideologen Seyyed Abū lAʿlā Maudūdī (1903–1979) – seine radikalen Ideen vom notwendigen Dschihad gegen alles Nicht-Islamische, mithin gegen die djāhiliyya (wörtlich: die “Unwissenheit” vor dem Islam und nach seinem Erschei184 nen), bevor er im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem NasserRegime zum Tode verurteilt wurde. 181 Riḍā, Rashīd: “Waẓāʾif ʿulamāʾ ad-dīn”, in: al-Manār 4,12 (1901), S. 441-448, hier S. 446. 182 Riḍā, Rashīd:: “Hānūtū wal-iṣlāḥ al-islāmī,” in: al-Manār (1900) 3,15, S. 337–345, hier S. 344 nach Zemmin, Modernity, (Fn.180), S. 363. 183 Binder, Leonard: Islamic Liberalism: A Critique of Development Ideologies, Chicago/ London: The University of Chicago Press, 1988, S.175-177, 188-194. 184 Hartung, Jan-Peter: A System of Life: Mawdūdī and the Ideologisation of Islam, London: Hurst & Company, 2013, S.193-213.
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Quṭb vertiefte den Graben zwischen westlicher Philosophie sowie Geisteswissenschaften und Islam einerseits und zwischen den beiden Erstgenannten und den Naturwissenschaften andererseits. Im Unterschied zu jenen, die diesen Graben bereits vor ihm gezogen hatten, wie Afghānī in seiner Schrift gegen die Materialisten oder al-Djisr und Ahmed Midhat Efendi, unternahm Quṭb jedoch keinerlei Versuch, das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion näher zu bestimmen: «Sämtliche Richtungen der ‹Philosophie›, ‹der Deutung (tafsīr) der menschlichen Geschichte›, der Psychologie (ausgenommen das Beobachtete und das empirisch Erfasste, nicht jedoch deren allgemeine Deutungen) sowie sämtliche Forschungen der ‹Ethik› und Richtungen der ‹vergleichenden Religionsstudien› sowie der ‹Soziologie› (ausgenommen das empirisch Erfasste, die Statistiken und das unmittelbar Gewusste, nicht jedoch die daraus gezogenen allgemeinen Schlüsse und auch nicht die daraus erwachsenden universellen Direktiven) – alle diese Richtungen, die alten wie die neuen sind unmittelbar von den Vorstellungen und Überzeugungen des djāhilī, das heißt des nicht-islamischen Denkens beeinflusst und fußen auf ihnen. Die meisten von ihnen, wenn nicht alle, bergen in ihren methodischen Grundlagen eine offene oder versteckte Feindschaft gegenüber den religiösen Vorstellungen (taṣawwur) ingesamt, und insbesondere gegenüber den islamischen. Die Situation in diesen Bereichen der denkerischen – und der wissenschaftlichen! – Aktivität (nashāṭ) ist nicht die gleiche wie jene in den Wissenschaften der Chemie, der Physik, der Astronomie, der Biologie, der Medizin und dergleichen, solange diese in den Grenzen des praktischen Experiments und der Notierung seines Ergebnisses verbleiben und die Grenzen zur philosophischen Deu185 tung in welcher Form auch immer nicht überschreiten.» Dieses Zitat ist dem von Quṭb im Gefängnis verfassten und 1964 erschienen Buch «Maʿālim fī ṭ-ṭarīq» (Zeichen auf dem Weg) entnommen, das 185 Quṭb, Sayyid: Maʿālim fī ṭ-ṭarīq, Beirut/Kairo: Dār ash-Shurūq, 61399/1979, S.127-128; als Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung nennt er hier den Darwinismus. Der Idee, dass Kultur ein menschliches Erbe sei, stimmt er nur mit Blick auf die «reinen Wissenschaften (ʿulūm baḥta) und deren wissenschaftlichen Anwendungen» zu. Hinsichtlich der Geisteswissenschaften, Philosophien und Künste hingegen sei sie eine Mär, hinter der das Weltjudentum stehe, das – so seine antisemitische Verschwörungstheorie – auf diese Weise die ganze Welt durchdringen wolle (ebd., S.128-129).
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zu einem islamistischen Weltbestseller avancierte. Er führt darin verschiedentlich aus, dass alle Naturwissenschaften für die muslimische Gemeinschaft wichtig seien und sogar von Nicht-Muslimen erlernt und 186 übernommen werden dürften. Ihr praktischer Nutzen wird also keineswegs angezweifelt, und Quṭb geht offensichtlich davon aus, dass sie keine Implikationen für die Moral, den Geist und die Seele des Menschen haben, solange man ein Denkverbot über ihre theoretischen Grundlagen und ihre möglichen philosophischen Konsequenzen verhängt. Es ist vor allem dieses explizite Denkverbot, das Quṭb von vielen Verfechtern der Harmoniethese unterscheidet und in die Nähe der literalistischen Advokaten der Konfliktthese rückt. Sein Literalismus ist allerdings keine reine Buchstabengläubigkeit und nicht traditionalistisch im Sinne der Weiterführung einer überlieferten Theologie wie etwa der von den Wahhabiten in Saudi-Arabien fortentwickelte Hanbalismus, vielmehr ist er in einem reformatorischen Sinne ,korantreu‘. Die Autonomiethese Unter Autonomiethese ist die Annahme zu verstehen, dass Wissenschaft und Religion zwei getrennte Felder sind, deren Wissensgehalte, Methoden der Erkenntnisfindung und -vermittlung sowie auch Funktionen und Ziele voneinander verschieden sind. Sie haben aber beide ihre Berechtigung oder werden als notwendig angesehen, haben jedoch keine Implikationen aufeinander. Philosophie wird dabei, wo sie nicht dem klassischen Konzept entsprechend mit Wissenschaft gleichgesetzt wird, nicht mit der Religion verknüpft. Die Autonomiethese wird bisweilen als «ZweiSprachen-Theorie» gefasst, insofern die «Sprache des Faktums» von der 187 «Sprache des Wertes» geschieden wird. Diese Unterscheidung halte ich für irreführend, da sie im Sinne der Übersetzbarkeit der Inhalte der einen in die andere Sprache missverstanden werden könnte. Zudem vermittelt sie ein sehr beschränktes Wissenschaftskonzept und suggeriert, dass Religion für den Menschen als Wertlehre notwendig sei. Beides trifft auf viele nahöstliche wie auch westliche Vertreter der Autonomiethese kaum zu. Religionskritisch sind sie, insofern sie das Religionsverständnis der Literalisten wie auch der Verfechter der Harmonie186 Quṭb, Maʿālim, (Fn.185), S.126. 187 Peters, Ted: “Science and Theology: Toward Consonance”, in: Ders.: Science and Theology: The New Consonance, Boulder, Colorado: Westview Press, 1997, S.11-39, hier S.17; Barbour, Ian G.: When Science meets Religion, New York: Harper, 2000, S.19-22.
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these in Frage stellen und einen religiösen Absolutheitsanspruch auf Wahrheit im Namen der Toleranz verneinen. Über ihre eigene Religiosität oder Areligiosität schweigen sich einige aus, andere wiederum geben sie preis. Wesentliche Charakteristika der Autonomiethese im Nahen Osten werden hier an drei ihrer prominenten Vertreter näher exemplifiziert: dem syrisch-libanesischen Journalisten und Publizisten Faraḥ Anṭūn (1874–1922) und zwei ägyptischen Philosophieprofessoren, Fuʾād Zakariyyā (1928–2010) und Zakī Nadjīb Maḥmūd (1905–1993).
Faraḥ Anṭūn (1874–1922) Faraḥ Anṭūn, der bereits als Sympathisant von Ernest Renan und Kontrahent von Muḥammad ʿAbduh Erwähnung fand, zählte zu den nahöstlichen Denkern, die eine politische Trennung der zivilen und religiösen Gewalten für nötig erachteten, um Religion und Wissenschaft in ihrer Eigenart und ihrem Wirkungsfeld zu erhalten und voreinander zu schüt188 zen. Die völlige Gleichstellung der Religionen und das Schicksal der christlichen Minderheit im Osmanischen Reich war ihm dabei ein wichti189 ges Anliegen. In der äußerst intensiven Auseinandersetzung mit Muḥammad ʿAbduh in den Jahren 1902 und 1903, die Anṭūn kurz darauf als Buch mit dem Titel «Ibn Rushd wa-falsafatuhu» (Averroes und seine Philosophie) publizierte, dominiert jedoch die Frage nach dem Verhältnis von 190 Wissenschaft bzw. Philosophie zur Religion an sich. Entgegen dem von Anṭūn in einem Halbsatz vermittelten Eindruck, er erachte das Christentum als wissenschaftsfreundlicher als den Islam, spielt Anṭūn die beiden Religionen nicht gegeneinander aus, sondern beschuldigt ihre Geistlichen wie auch die anderer Religionen und die in ihrem Namen agierenden Staatsvertreter gleichermaßen, ihre Kompetenzen überschritten zu haben. Die Kritik der Grenzüberschreitung richtet Anṭūn aber ebenso vehement gegen Materialisten, Naturalisten und Szientisten: 188 Zu Anṭūn siehe Reid, Donald M.: The Odyssey of Faraḥ Anṭūn. A Syrian Christian's Quest for Secularism, Minneapolis/Chicago: Bibliotheca Islamica, 1975; Viviani, Faraḥ Anṭūn, (Fn. 48); Kügelgen, Anke von: “Arabisch-sprachiger Raum § 2 Ethik, Religion und Gesellschaftsreform 3. Faraḥ Anṭūn”, in: Dies./Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11), und die in den folgenden Fußnoten erwähnten Studien. 189 Flores, Alexander: “Modernity, romanticism, and religion. Contradictions in the writings of Farah Antun”, in: Schumann, Christoph (Hg.): Nationalism and liberal thought in the Arab East. Ideology and practice, Abingdon, New York, 2010, S.115-131, hier S.126. 190 Antūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48). Die folgende Darstellung beruht, wo nicht anders vermerkt, auf dieser Schrift; genaue Seitennachweise werden nur bei Zitaten angegeben.
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«Die Wissenschaft muss in den Bereich des ‹Verstandes› gestellt werden, denn ihre Gesetze gründen auf Beobachtung, Experiment und Prüfung. Die Religion aber muss in den Bereich des ‹Herzens› gestellt werden, denn ihre Gesetze gründen auf der Unterwerfung unter das, was in den Heiligen Schriften steht, ohne ihre Grundlagen zu erforschen. Es ist nicht berechtigt zu sagen, die Einteilung in ‹Verstand› und ‹Herz› sei eine frevelhafte Neuerung (bidʿa) für die Wissenschaft und zerstöre deren Macht, da sie [die Wissenschaft] doch jedes Ding und jede Grundlage untersuchen wolle. Indes leugnet die Wissenschaft selbst ihre Schwäche in einigen Dingen nicht. Ein Beispiel dafür ist, dass die Wissenschaft die Existenz der Materie, aus der die Welt geschaffen sein soll, hypothetisch annimmt, um damit die Existenz des Universums zu begründen (das ist es, was man heute Äther nennt). Ebenso nimmt sie auch die Existenz der Seele hypothetisch an, um damit die menschlichen Handlungen im Schlaf und Wachzustand zu begründen, die ohne sie 191 nicht erklärt werden können.» Wissenschaft und Religion haben für Anṭūn unterschiedliche Aufgaben, Instrumentarien und ein je eigenes Erkenntnisfeld. Er erachtet beide als notwendig für die menschliche Gesellschaft und betont mehrfach ihre Harmonie im Sinne einer gegenseitigen Ergänzung. Jeder Übergriff in das Feld des Anderen aber führe zu Spannungen. Anṭūn war sich realer wie auch möglicher Konflikte zwischen wissenschaftlichen und geoffenbarten Lehren äußerst bewusst. Am Beispiel des Lebens und einiger Lehren des muslimischen Philosophen Averroes sucht 192 er dieses Konfliktpotential aufzuzeigen. Ernest Renans Interpretation folgend erkennt Anṭūn in den meisten Theorien Ibn Rushds bzw. in ihren logischen Konsequenzen Ansätze zum Materialismus. Dazu rechnet er unter anderem Ibn Rushds Lehre, derzufolge Gott in dieser Welt nichts ohne eine innere notwendige Ursache geschaffen habe. Diese Kausaltheorie hält Anṭūn für den Todesstoß für alle Religionen: Die Offenbarung werde hinfällig (buṭl), da sie so nur noch Ausdruck einer der Naturkräfte sei; der Glaube an das Jüngste Gericht und die körperliche Wiederauferstehung verliere seine Grundlage, ebenso der Glaube an die Wunder und daran, dass Gott ein Wissen von den konkreten, sich auf der Erde er191 Antūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48), S.123-124; 166-167. 192 Kügelgen, Averroes, (Fn. 48), S. 79-88.
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eignenden Einzeldingen hat; schließlich werde der Schöpfer dadurch an eine feste, unveränderliche Ordnung gebunden und sein Handeln erweise sich als an Notwendigkeit gebunden und somit als unfrei. Trotz dieser Konsequenzen hält Anṭūn die Kausaltheorie von Averroes für richtig, fordert aber, sie von der Religion fernzuhalten und die Heiligen Schriften nicht in ihrem Lichte zu interpretieren. Es scheint hier eine Wahrheitsrelativierung vorzuliegen, da Anṭūn erklärtermaßen an die Existenz eines 193 Schöpfergottes und die Lehren der Bergpredigt glaubt. Anṭūn zieht aus dem Widerspruch zwischen dem buchstäblichen Wortlaut der Heiligen Schriften und wissenschaftlichen Thesen somit merklich andere Schlüsse als die Vertreter der Harmoniethese. Er enthebt die Offenbarungen und Religionen insgesamt des Anspruchs auf absolute Wahrheit, auch wenn diese selbst auf einen solchen Anspruch pochen. Das Konzept einer Vernunftreligion ist ihm völlig fremd. Versuche der Exegese der Offenbarungsschriften im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnisse oder Theorien verfehlen seines Erachtens den eigentlichen Sinn und Zweck von Religion. Ganz im Geiste der im 19. Jahrhundert zunehmenden Tendenz der Privatisierung der Religion erklärt Anṭūn im Zuge seines Plädoyers für die Trennung der zivilen und religiösen Gewalten: «Die Religionen wurden [von Gott] gestiftet (shuriʿat), um das jenseitige Leben zu regeln, nicht das diesseitige. Wer sie aber zur Regelung des Diesseits einsetzt, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn er anfangs Erfolg haben 194 mag.» Ohne es direkt zu sagen, spricht sich Anṭūn hier wie auch andernorts deutlich gegen alle aus, die dem Islam eine politische Funktion zuweisen. Der Religion misst Anṭūn das Herz, das Gefühl und die Moral bildende Kräfte zu. Mit Blick auf das Christentum beruft er sich besonders auf die Bergpredigt und schließt sich Renans Deutung der Lehren von Chris195 tus an, dessen «Leben Jesu» er in Auszügen übersetzte. Die Religionen haben für Anṭūn aber keinen Alleinanspruch auf Ethik bzw. Moral; im Gegenteil, er scheint ihre Lehren zwar als moralbildend für den Einzelnen, nicht aber als theoretische Fundierung für die Menschheit anzuerkennen. Vielmehr erklärt er das philosophische Konzept der Toleranz, 193 Antun, Farah: “The Meaning of ‘Tolerance’, Which Is the Basis of Modern Civilization”, in: Journal of Levantine Studies 3 (2013), S.159-172; Puig Montada, Josep: “Faraḥ Anṭûn: Active Reception of European Thought”, in: Pensamiento 64 (2008), S.1003-1024, hier S.1016. 194 Antūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48), S.145. 195 Puig Montada, Faraḥ Anṭūn, (Fn.193), S.1015-1016.
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welches im «Menschenrecht» (ḥaqq al-insān) gründe und Atheisten aus196 drücklich einschließe, als den Religionen übergeordnet. Anṭūns Privatisierungskonzept der Religion bedingt, dass allein Philosophie und Wissenschaft im erkenntnistheoretischen Sinne Wissen generieren und das Hauptgewicht in der Gestaltung von Staat und Gesellschaft tragen. Anṭūn unterscheidet Wissenschaft und Philosophie in ihren Definitionen nicht voneinander und befasst sich auch nicht näher mit ihrer historischen Entwicklung. Sein Hauptinteresse gilt vielmehr der Reform des Orients mit ihrer Hilfe. Er übersetzt und paraphrasiert zu diesem Zwecke unter anderem Werke von Jules François Simon (1814–1896), Lew Nikolajewič Tolstoj (1828–1910), Ernest Renan (1823–1892) und 197 Friedrich Nietzsche (1844–1900), wobei er Letzteren auch kritisiert. Prominent sind seine eigenen, sozialistisch orientierten gesellschaftsreformatorischen Visionen, zum Beispiel die von ihm als «gesellschaftsphilosophische Studie» (baḥth falsafī idjtimāʿī) bezeichnete Erzählung mit dem 198 Titel «ad-Dīn wal-ʿilm wal-māl» (Religion, Wissenschaft und Kapital). Dort ist es der Wissenschaftler, nicht etwa der Religionsvertreter, der Milde (rifq) und Güte (raʾfa) zur unerlässlichen Grundlage einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung erklärt. Die Autonomiethese vertraten explizit und implizit zahlreiche, gerade auch muslimische Intellektuelle des beginnenden 20. Jahrhunderts, so etwa in Ägypten äußerst einflussreiche Persönlichkeiten wie Luṭfī asSayyid, Mitbegründer der liberal-nationalistischen Partei al-Umma, Philo199 sophieprofessor und Rektor der Universität Kairo, und Ṭāhā Ḥusain, Schriftsteller, Professor für alte Geschichte und arabische Literatur und 200 Erziehungsminister in den Jahren 1950–1952: sie plädierten für eine 196 Anṭūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48), S.144, 141-142; Antun, The Meaning, (Fn.193), S.164, 159-160. Er kritisiert in dieser Hinsicht auch Ibn Rushd, der die Tötung von Ketzern (zanādiqa) guthieß, welche die [von Gott eingeführten] Gesetze (sharāʾiʿ) und die Tugenden (faḍāʾil) für nichtig erklären. Hier verletze Ibn Rushd «das Gesetz der wahren Humanität» (sharīʿat al-insāniyya al-ḥaqīqiyya), das Tötung grundsätzlich verbiete (Anṭūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhu, (Fn. 48), S. 75). 197 Puig Montada, Faraḥ Anṭūn, (Fn.193); Khayrallah, Asʿad E.: “Faraḥ Anṭūn and Nietzsche”, in: Haarmann, Ulrich / Bachmann, Peter (Hg.): Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, Beirut, 1979, S. 338-350. 198 Anṭūn, Faraḥ: ad-Dīn wal-ʿilm wal-māl, aw al-Mudun ath-thalāth, Alexandria, 1903. 199 Zu ihm: Hourani, Arabic thought, (Fn.163), S.171-183, et passim; Dhouib, Sarhan: “Arabisch-sprachiger Raum § 4.3 Politische Philosophie – Säkularismus, 2. Luṭfī as-Sayyid”, in: Kügelgen/Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11). 200 Zu ihm: Hourani, Arabic thought, (Fn.163), S. 324-340; Dhouib, Sarhan: “§ 4.3 Politische Philosophie – Säkularismus, 3. Ṭāhā Ḥusain”, in: Kügelgen/Rudolph/Frey, Philosophie,
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Trennung von Religion und Staat. Der Schwerpunkt ihres Denkens und Wirkens lag jedoch nicht auf einer Neubestimmung von Wissenschaft, Philosophie und Religion und ihrem Verhältnis zueinander, sondern auf Politik bzw. Bildung und Literatur. Als Beispiele für weitere Konzeptionen der jeweiligen Autonomie von Wissenschaft, Philosophie und Religion seien die Positionen zweier Philosophen aus dem arabischen Kontext genannt, Fuʾād Zakariyyā und Zakī Nadjīb Maḥmūd. Sie haben ihre durchaus voneinander verschiedenen Positionen in der Auseinandersetzung mit dem logischen Empirismus entwickelt, der maßgeblich durch sie in den 1950er und 1960er Jahren in arabischer Sprache zugänglich gemacht wurde. Mit dem Erstarken des Islamismus Ende der 1970er Jahre erfuhren ihre Positionen eine religionskritische Wendung, die Zakariyyā äußerst dezidiert und Maḥmūd vorsichtig verhalten zum Ausdruck brachten.
Fuʾād Zakariyyā (1928–2010) Fuʾād Zakariyyā, der bis 1974 in Kairo und anschließend in Kuweit bis 1991 als Philosophieprofessor wirkte, hat sich in seinen akademischen (Fn.11). Ṭāhā Ḥusain veröffentlichte 1926, d.h. nach den ersten harschen Reaktionen auf sein Buch «Über die vorislamische Poesie» (Fī sh-shiʿr al-djāhilī), die zu dessen Verbot führten, einen Essay über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion im Laufe der Menschheitsgeschichte (“Baina l-ʿilm wad-dīn”, in: Ders.: Min baʿīd, Beirut: Dār alʿIlm lil-Malāyīn, 101982, S. 205-254); ich danke Sarhan Dhouib für diesen Hinweis. Darin charakterisiert er den Gegensatz zwischen Wissenschaft/Philosophie und Religion als grundlegend und daher als unüberwindbar (ebd., S. 206-207, 211). Wissenschaft und Philosophie sprechen den Verstand an und streben nach Dynamik (ḥaraka), Entwicklung (taṭawwur) und dem Neuen (djadīd), während die Religion das Gefühl adressiert und Ruhe (sukūn), Passivität (djumūd) und das Alte (qadīm) begünstigt (ebd., S. 224, 233). Solange sie sich gegenseitig in Ruhe ließen, gebe es keine Gewaltakte zwischen den Wissenschaftlern und den religiösen Gelehrten, sondern nur Dispute und verbale Auseinandersetzungen (ebd., S. 232). Weder Religion noch Wissenschaft wollten von sich aus einander Schaden zufügen; in Koran und Evangelium ließen sich auch keinerlei Gebote gegen Neuerungen und Meinungsfreiheit finden (ebd., S. 225-228). Schaden entstünde erst, wenn die Politik Partei für die eine oder die andere ergreife. Ḥusain leitet daraus die Notwendigkeit der Neutralität des Staates sowohl gegenüber der Religion als auch der Wissenschaft ab (ebd., S. 207, 225, 232-251, et passim). An anderer Stelle, im Jahre 1923, kritisierte er ausdrücklich Muḥammad ʿAbduhs und Muḥammad Bakhīts und überhaupt jegliche Versuche, die Aussagen der Heiligen Schriften mit wissenschaftlichen Befunden in Einklang zu bringen, da die Wissenschaften keinen Anspruch auf ewiggültige Wahrheiten hätten, sondern mit Wahrscheinlichkeiten operierten (Ḥusain, Min Bārīs, (Fn.142), S. 46-51). – Zu den politischen Umständen in Ägypten, die Ḥusain dazu bewegten, die islamische Frühzeit in der Folge stärker zu verklären, siehe Nagel, Tilman: “Abkehr von Europa. Der ägyptische Literat Ṭāhā Ḥusain (1889-1973) und die Umformung des Islams in eine Ideologie”, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 143 (1993), S. 383-398.
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Publikationen primär der kritischen Erläuterung und teilweise auch der Übersetzung westlicher philosophischer Werke gewidmet, unter anderem einiger Schriften von Friedrich Nietzsche, Baruch de Spinoza, Herbert Marcuse und Bertrand Russell. In seinen an ein breiteres Publikum gerichteten Schriften setzte er sich aus einer von ihm selbst als «historischrealistisch» gekennzeichneten Perspektive kritisch mit den arabischen 201 Gesellschaften seiner Zeit auseinander. Als unabdingbare Voraussetzung zur Lösung der Hauptprobleme der arabischen Welt erachtet er das wissenschaftliche Denken. Seine Auffassung von «Wissenschaft» und «Philosophie» bringt er besonders prägnant in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Hans Reichenbachs 1951 veröffentlichem Werk «The Rise of Scientific Philosophy» sowie mit dem Buch «at-Tafkīr al-ʿilmī» (Das wissenschaftliche Denken, 1978) zum 202 Ausdruck. Er schließt sich darin keineswegs vorbehaltlos dem logischen Empirismus an, macht sich aber – im Unterschied zu den meisten der hier vorgestellten Denker – das moderne, hypothetisch-deduktive Wissenschaftskonzept zu eigen. Er hat dabei primär die Naturwissenschaften vor Augen, bezieht die Humanwissenschaften aber an einigen Stellen in seine Charakterisierung der Wissenschaft explizit ein. «Philosophie» unterscheidet er sehr deutlich von «Wissenschaft» und bedient sich ihrer bei seiner Darstellung des wissenschaftlichen Denkens häufig als Kontrastfolie. Im Einklang mit dem logischen Empirismus billigt Zakariyyā metaphysischen und überhaupt allen Erklärungen, die Phänomene und Ereignissen auf übersinnliche Kräfte zurückführen, mit203 hin auch religiösen, keine wissenschaftlich relevante Aussagekraft zu. «Die Wissenschaft», so schreibt er, «erkennt keine sogenannten endgül201 Zakariya, Fuad: “Die Prinzipien der Menschenrechte in der zeitgenössischen islamischen Welt”, übers. von Julia Förster, in: Concordia 59 (2011, Gastherausgeber: Sarhan Dhouib), S. 71-82, hier S. 78 («historischer Realismus»). Zu Person und philosophischem Werk: Dhouib, Sarhan / Kügelgen, Anke von: “Arabisch-sprachiger Raum § 8 Kritisch-programmatische Ideen- und Philosophiegeschichte 1. Fuʾād Zakariyyā”, in: Kügelgen/Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11); Zakariya, Fuad: “Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit”, in: Lüders, Michael (Hg.): Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München/Zürich: Piper, 1992, S. 228-245. Zu seinem Säkularismuskonzept siehe auch Flores, Alexander: Säkularismus und Islam in Ägypten – Die Debatte der 1980er Jahre, Berlin: Lit Verlag, 2012, S. 41-69. 202 Raishinbākh, Hānz: Nashʾat al-falsafa al-ʿilmīya, übers. von Fuʾād Zakariyyā, Kairo, 1968; Ders.: at-Tafkīr al-ʿilmī, Kuweit: al-Madjlis al-Waṭanī lith-Thaqāfa wal-Funūn wal-Ādāb, 1978. 203 Zakariyyā, Einleitung zu Raishinbākh, Nashʾat al-falsafa, (Fn. 202), S. 7 (er schließt sich hier implizit diesem Standpunkt an).
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tigen Wahrheiten an, die für alle Zeiten und Orte gelten, sondern arbeitet 204 mit der Vorgabe der ständigen Veränderung und Entwicklung». Im Gegensatz dazu beginne die Philosophie keineswegs immer dort, wo die alte aufgehört habe, und vollende sie auch nicht, sondern kritisiere sie und beanspruche für sich einen Neubeginn. Daraus lässt sich schließen, dass Zakariyyā keine philosophische Schule oder Richtung für überholt hält, auch wenn er selbst mit Blick auf die arabischen Länder offenbar eine gesellschaftskritische Philosophie für vordringlich hält. Das philosophische Denken in Systemen unterscheidet Zakariyyā vom wissenschaftlich-systematischen Denken. Während der Philosoph den Gang, das Funktionieren der Welt zu entschlüsseln suche, befasse sich der Wissenschaftler nicht mit ihrem Sinn und Zweck, sondern untersuche seinen spezifischen Gegenstand mittels konstruierter Methoden, weshalb das wissenschaftliche Vorgehen in seinem Kern ein methodi205 sches Wissen sei. Bei der gerade auch zu seiner Zeit unter nahöstlichen Philosophen viel diskutierten Frage, ob zur Kausalität Notwendigkeit gehört, differenziert Zakariyyā die Auswirkungen, die sich aus Humes Kritik an der Notwendigkeit der Wirkursachen ergeben. Für das philosophische Denken habe sie entscheidende Auswirkungen gehabt, in der wissenschaftlichen Praxis spiele es hingegen keine Rolle, ob eine Kausalverbindung eine notwendige sei oder nur eine regelmäßige Abfolge bedeute, bei der das Vorhergehende faktisch hinreichend für das Spätere ist. Er verwehrt sich gegen die Annahme, mit der Infragestellung des notwendigen Kausalgesetzes sei die Idee der Kausalität ad absurdum geführt worden – eine Schlussfolgerung, die durchaus populär ist und vor allem für die Allmacht Gottes ins Feld geführt wird. So betont Zakariyyā, dass dort, wo ein empirischer Zusammenhang erwiesen ist, etwa, dass eine bestimmte Mikrobe eine bestimmte Krankheit auslöse, das Kausaldenken unumstritten beibehalten werde. Die Tatsache, dass in den Wissenschaften das traditionelle Kausaldenken erweitert worden sei, führt er nicht auf Humes Kritik zurück, sondern darauf, dass die Wissenschaftler für das Eintreten eines Ereignisses Ursachenbündel ausfindig gemacht hätten. Dabei macht er einen weiteren Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie geltend: «Für den Wissenschaftler zählt die Verwendung des Konzepts an sich, den Philosophen hingegen interessieren dessen Be204 Zakariyyā, at-Tafkīr al-ʿilmī, (Fn. 202), S. 39. 205 Zakariyyā, at-Tafkīr al-ʿilmī, S.10, 25, et passim.
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deutungen, Grundlagen und Wurzeln». Der logische Empirismus in der Spielart von Hans Reichenbach geht ihm dabei in seiner erkenntnistheoretischen Vorsicht, das heißt in der Betonung der bloß wahrscheinlichen Natur der Erkenntnis, zu weit. Er kritisiert an dieser philosophischen Richtung außerdem, dass sie die Philosophie an die Ergebnisse der Wissenschaften binde, denn dadurch werde ihr jede schöpferische Kraft 207 genommen. Während Zakariyyā in diesen Schriften Religion nicht weiter thematisiert, aber doch eindeutig als für die Wissenschaft von keinem Belang erklärt, wendet er sich seit den frühen 1980er Jahren als einer der prominentesten arabischen Säkularisten gegen den politischen und rechtlichen 208 Machtanspruch der Islamisten. Ihr Erstarken führt er keineswegs auf einen dem Islam allein inhärenten Anspruch zurück, alle Aspekte des menschlichen Lebens, inklusive der Politik, zu beherrschen. Diesen Anspruch sieht er vielmehr bei allen Religionen gegeben und nur durch das irdische Leben, das seine Eigengesetzlichkeit entwickelt, gedrosselt. Dass dieser Anspruch in den islamischen Ländern, nachdem er auch dort während des größten Teils des 20. Jahrhunderts kleinlaut geworden war, seit den 1970er Jahren wieder an Lautstärke hat gewinnen können, erklärt Zakariyyā vor allem mit der fehlenden Meinungspluralität unter dem Militärregime Gamal Abdel Nassers: dessen Alleinanspruch auf Wahrheit, der die jungen Menschen daran gewöhnt habe, der Autorität ungefragt 209 zu folgen, hätten sich die Islamisten zunutze gemacht. Zakariyyās Religionskritik geht aber über die Kritik am allumfassenden und alleinigen Wahrheitsanspruch der Religionsvertreter hinaus. Er verneint die Möglichkeit der Verwendung religiöser Texte für die Ableitung gesellschaftlicher Normen und Werte. Ausgangsbasis dieser Negation ist seine historisch-realistische Perspektive, die dem religiösen Text qua Text, abgesehen von seiner Entstehung, keinen historischen Realitätsbezug zuerkennt. So lautet ein Argument gegen den von den Islamisten behaupteten urislamischen Charakter der Menschenrechte und ihren 206 Ebd., S. 35. 207 Zakariyyā, Einleitung zu Raishinbākh, Nashʾat al-falsafa, (Fn. 202). S. 8-10. 208 Zakariya, Fuʾād: aṣ-Ṣaḥwa al-islāmiyya fī mizān al-ʿaql, Kairo, 21987; Zakariyyā, Fuʾād: al-Ḥaqīqa wal-wahm fī l-ḥaraka al-islāmiyya al-muʿāṣira, Kairo/Paris, 1986; Übersetzung: Zakariyya, Fouad: Myth and Reality in the Contemporary Islamist Movement, übers. mit einer Einleitung und Bibliographie von Ibrahim M. Abu-Rabiʿ, London: Pluto Press, 2005, siehe auch oben, Zakariya, Die Prinzipien, (Fn. 201). 209 Zakariyyā, al-Ḥaqīqa, (Fn. 208), S.15, 17-18.
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Versuch, diesen exegetisch herauszuarbeiten, dass – während das positive Recht an eine komplizierte, veränderliche und vielschichtige Realität gebunden und die Ausformulierung der Menschenrechte daher auch seit den Tagen der Amerikanischen Menschenrechtserklärung immer weiter modifiziert worden sei – sich der religiöse Text «im Bereich absoluter Freiheit» bewege. «Die Entwicklung all dieser Rechte wäre mit einem statischen Menschenrechtsverständnis, welches die praktische Erfahrung, die Geschichte sowie den Einfluss des Erprobens negiert und die Rechte allesamt wortwörtlich vom heiligen Text ableitet, unmöglich gewesen. Und selbst wenn die Herleitung einiger dieser Rechte – durch eine gewaltige Anstrengung der Interpretation – möglich wäre, so gelänge dies nur, indem die moderne Erfahrung in den alten Text hineingelesen würde und 210 nicht aus einer verborgenen Kraft des alten Textes selbst herausgelesen.» Zakariyyā setzt hiermit jegliche gesellschaftsrelevante Exegese der 211 Offenbarungsschriften schachmatt. Er greift die religiösen Texte nicht an und kontrastiert ihre Wahrheiten auch nicht mit wissenschaftlichen oder philosophischen Wahrheiten. Sie sind für ihn vielmehr allesamt historisch gebunden und insofern nicht in Stein gemeißelt, sondern der Erosion der realen Entwicklungen und Erfahrungen anheimgegeben. Er erteilt nicht der Religion, sondern einer «ahistorischen idealistischen An212 schauung» eine entschiedene Absage.
Zakī Nadjīb Maḥmūd (1905–1993) Zakī Nadjīb Maḥmūd, der ebenfalls lange in Kairo und nach seiner Emeritierung bis 1973 in Kuweit Philosophie lehrte, durchlief mehrere Phasen in der Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Religion und 213 Philosophie. Mit einer seit Anfang der 1970er Jahre vertretenen Varian210 Zakariya, Die Prinzipien, (Fn. 201), S. 76, 80. 211 Umfassender und argumentativ fundierter weist Ufuk Özbe die Koranexegese liberaler Muslime zurück (“Kritik der liberalen Auslegungen des Islam”, (Fn.173)). 212 Zakariya, Die Prinzipien, (Fn. 201), S. 78. 213 Zu seinem Leben und Werk: Scheffold, Margot: Authentisch arabisch und dennoch modern? Zakī Naǧīb Maḥmūds kulturtheoretische Essayistik zum euro-arabischen Dialog, Berlin: Klaus Schwarz, 1996 (von ihr übernehme ich die Bezeichnung «eigenkulturell»); Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung: Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, S.170-178; Kügelgen, Anke von: “Arabisch-sprachiger Raum § 6 Adaption westlicher philosophischer Strömungen 5. Logischer Positivismus und Instrumentalismus: Zakī Naǧīb Maḥmūd”, in: Dies./Rudolph/Frey, Philosophie, (Fn.11). Wo nicht anders vermerkt, beruht die folgende Darstellung auf Maḥmūds Werken Mauqif min al-mītāfīzīqā (Beirut/Kairo 41993, nur im Titel und durch ein neues Vorwort ergänzte Wiederauflage der Erstausgabe von 1953
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te der Autonomiethese kann er – im arabischen Sprachraum – als wegweisend für eine Aufwertung der rationalen Strömungen des eigenkulturellen «Erbes» (turāth) durch westlich orientierte nahöstliche Intellektuelle in der breit geführten Auseinandersetzung um das Verhältnis von «Authentizität» und «Moderne» gelten. Auf eine erste, vom sufischen Monismus und philosophischen Idealismus dominierte Phase, in der er das Verhältnis von Wissenschaft, Religion und Philosophie kaum thematisierte, folgten zwei Phasen, in denen die Autonomiethese in verschiedenen Varianten einen wichtigen Gegenstand seiner Reflexionen bildete. Mehrere Abhandlungen, in denen er die Hauptthesen des logischen Empirismus bzw. der Wissenschaftsphilosophie teils an ein Fachpublikum, teils an Laien richtete, machten ihn bekannt, lösten aber zugleich heftigen Widerstand von Seiten azharitischer Religionsgelehrter aus. Maḥmūds logisch-empiristischer Ansatz folgte in vielen Punkten Alfred Jules Ayers Darlegungen in «Language, Truth and Logic» (1936). Der Gegenstandsbereich der Philosophie ist nicht mehr eine «Sache an sich», sondern das Sprechen darüber, unter der Voraussetzung, dass die besprochene Sache ein Korrelat in der Außenwelt hat oder der sinnlichen Erfah214 rung zumindest potentiell zugänglich ist. Poppers Falsifikationstheorie hat er sich nicht angeschlossen. Er weitet jedoch den von Neopositivisten üblicherweise für ihre Analyse akzeptierten Wissenschaftskanon zwischen Mathematik und Naturwissenschaften um Psychologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften aus, weil er den bloß «wahrscheinlichen» Charakter naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse – im Unterschied zur mathematischen «Gewissheit» – auch für diese Wissenschaftszweige als gegeben sieht. Dementsprechend sieht Maḥmūd die Aufgabe des Philosophen nicht darin, erste Prinzipien aufzustellen oder zu beweisen, sondern in der Aufdeckung der zugrundeliegenden Hypothesen und in der Überprüfung der darauf aufbauenden Urteile. Nicht in den Zuständigkeitsbereich des Philosophen fallen gemäß Maḥmūd die «expressiven» Ausdrucksformen, das heißt jene des Gefühls, der Moral und der Ästhetik. Dem empiristischen Sinnkriterium folgend erklärte er sie unter dem Oberbegriff «Metaphysik» für «bedeutungslos», da sie nicht den intersubjektiven, logischen Kategorien von Khurāfat al-mītāfīzīqā, die heftige Kritik ausgelöst hatte) und Tadjdīd al-fikr al-ʿarabī (Beirut/Kairo 91993); genaue Seitennachweise gebe ich nur bei Zitaten an. 214 Maḥmūd, Zakī Nadjīb: Naḥwa falsafa ʿilmīya, Kairo 21980, S. 27-28, 82-106, 114-138.
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«richtig» oder «falsch» unterworfen werden können. Davon ausgenommen blieben die «kritische Metaphysik», d.h. Kants «Kritik der reinen Vernunft», sowie die analytische und die Wissenschaftsphilosophie. Maḥmūd hält daher die völlige Objektivierbarkeit religiöser Begriffe und Vorstellungen, sei es in weltanschaulicher oder moralischer Hinsicht, für unmöglich und lehnt auch Immanuel Kants metaphysische Verankerung der «praktischen Vernunft» explizit ab. Im Anschluss an Ayer und Richard Robinson vertritt er den nonkognitivistischen Standpunkt des «Emotivismus» (an-naẓariyya al-infiʿāliyya) und verteidigt ihn vehement gegen Wertobjektivisten, darunter auch die «Intuitionisten». Moralische wie auch ästhetische Aussagen sind demnach nur dann intersubjektiv bedeutungsvoll, wenn sie an ein konkretes, an sich aber wertrelatives Ziel innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft gebunden und mit Blick auf dieses Ziel geprüft werden können. Ein solches Ziel besteht laut Maḥmūd darin, seine Landsleute vom Neopositivismus zu überzeugen, um ihnen einen Weg in die Moderne und aus ihrer in der Wissenschaft wie im Alltag dominanten realitätsfernen «Improvisation» aufzuzeigen. Maḥmūd erklärt dementsprechend auch gesellschaftspolitische Ziele wie «Freiheit» oder «Kriegsverzicht» für wertsubjektiv und nur durch Konsens objektivierbar. Als seine wissenschaftstheoretische ,Mission‘ nicht wirklich gefruchtet und er gemerkt hatte, dass er sich längere Zeit zu einseitig der westlichen Kultur verschrieben und seine eigenkulturelle Identität damit verleugnet hatte, gab er seiner Autonomiethese eine neue Wendung, ohne sie allerdings im Kern zu modifizieren. Sein Hauptwerk, in dem er diese Rückkopplung an das ,Eigene‘ zum Ausdruck bringt, ist «Tadjdīd al-fikr al-ʿarabī» (Die Erneuerung des arabischen Denkens, 1971). Gefühl, Moral und Ästhetik, denen er implizit auch die Religion zuordnet, trennt er weiterhin von der Vernunft im Allgemeinen und von Wissenschaft und Philosophie im engeren Sinne. Seine eigene Philosophie erweitert er aber um einen pragmatistischen Ansatz, der deutlich Züge von John Deweys experimentellem Pragmatismus bzw. Instrumentalismus aufweist. Ohne direkten Bezug auf Deweys «Reconstruction in Philosophy» zu nehmen, aber durchaus in dessen Tenor, projektiert Maḥmūd die Idee einer Philosophie, die den Menschen als mit Religion, (bildender) Kunst und Literatur befasstes Wesen, d.h. als Kulturwesen, mit den Erkenntnissen der Wissenschaften in fruchtbaren Einklang bringt. Er versteht sich daher 110
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nicht mehr bloß als Wissenschaftstheoretiker, sondern als «Realist in der Phase der Problembeobachtung», als «Idealist in der Phase der Bestimmung der Gangrichtung» und als «experimenteller Pragmatist (ʿamalī 215 tadjrībī) in der Phase der Problembehandlung». Als Hauptmaßstab für die Funktion, die der eigenkulturellen Vergangenheit zukommen soll, wählte Maḥmūd bezeichnenderweise nur Prinzipien bzw. die Moral nicht betreffende Werte, die vorgeblich das gegenwärtige Zeitalter dominieren und die er für sein Land und die arabisch-islamische Welt insgesamt anstrebt, namentlich politische und individuelle Freiheit, Trennung von Religion und Wissenschaft (nur in seinem allerletzten Werk «Die Ernte der Jahre» scheint er dieses Ziel aufzugeben), kritisch-rationales Denken sowie in der Empirie verwurzelte, heuristisch verfahrende Wissenschaft ohne absoluten Wahrheitsanspruch. Die Herrschaftsformen von Kalifat und Emirat hält er für die Etablierung 216 und Wahrung dieser Prinzipien für ungeeignet. Als funktional vergleichbar und als Bezugspunkt geeignet erachtet er hingegen «die rationale Seite des Erbes» und zieht gelegentlich konkrete Kronzeugen heran, allen voran Theologen der Muʿtazila und al-Ghazālī; bei ersteren sieht er zudem eine Anknüpfungsmöglichkeit hinsichtlich der «individuellen Freiheit». Die großen Unterschiede zu den heute vorherrschenden Konzepten und den unterschiedlichen Problemlagen sowie seine eigene Kritik an den Kronzeugen benennt Maḥmūd häufig allerdings nicht gleichenorts. Während Religion in Zakī Nadjīb Maḥmūds logisch-empiristischer Phase nur implizit, eben in Gestalt von Gefühl, Moral und Ästhetik, Thema ist, wird sie in seinen späteren Schriften direkt angesprochen. Die Offenbarungsschrift nennt er nun eine mögliche Quelle der Moral. So erklärt er, dass «die absolute Wahrheit», zu der er Werte und Prinzipien zählt, auf «innerer Einsicht» (baṣīra) bzw. dem «Gewissen» (ḍamīr), der «Offenbarung» oder auf den unter den Menschen verbreiteten «Bräuchen und Traditionen» beruhe, die an veränderte Lebensbedingung angepasst werden; sie basiere nicht auf rein utilitaristischen Überlegungen. Trotz der sich daran anschließenden eigenen Versicherung, er habe sich mit dieser Position von seinem Standpunkt des Wertrelativismus kaum 215 Maḥmūd, Zakī Nadjīb: “Bi-ayy falsafa nasīr?”, in: Ders.: Fī Ḥayātinā l-ʿaqliyya, Beirut/ Kairo, 31989, S.178-192, hier S.192; vgl. Scheffold, Authentisch Arabisch, (Fn. 213), S.106115. 216 Vgl. Scheffold, Authentisch arabisch, (Fn. 213), S. 234-238, 245-247, 256-262, 283; Kügelgen, Averroes, (Fn. 48), S. 295-299.
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entfernt, hat Maḥmūd damit aber die Schranken für einen auf die Scharia pochenden Wertobjektivismus bzw. göttlichen Voluntarismus gelockert, der möglicherweise auch auf die Ausübung von Wissenschaft und Philosophie Auswirkungen haben könnte. Seit den 1980er Jahren hat die Autonomiethese in der nahöstlichen Öffentlichkeit zunehmend an Gewicht zugunsten der Harmoniethese wie auch der Konfliktthese im Sinne des traditionalistischen wie modernistischen Literalismus verloren. Resümee Die religionskritischen Positionen, die hier mit Blick auf die Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Philosophie und Religion unterschieden worden sind, haben, so wenig sie miteinander vereinbar sind, vordergründig einen starken gemeinsamen Nenner. Alle, die Advokaten der Konfliktthese ebenso wie die Apologeten der Harmoniethese und die Verfechter der Autonomiethese, orientieren sich bei der Begründung ihrer These und der an sie geknüpften Weltanschauungen an der Wissenschaft. Der Wissenschaft wird die autoritative Vormachtstellung eingeräumt, die in den Jahrhunderten zuvor der Religion zukam. Dieser gemeinsame Nenner entpuppt sich bei näherer Betrachtung allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht als oberflächlich. Denn das jeweilige Wissenschaftsverständnis differiert in erheblichem Maße und Philosophie und Religion werden höchst unterschiedlich definiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Es gibt indes Übereinstimmungen in der Konzeptionalisierung von Wissenschaft, Philosophie und Religion innerhalb einer jeden ,Gruppe‘ der drei hier als Unterscheidungskriterium angesetzten Thesen. Bei der Konfliktthese besteht die größte Übereinstimmung hinsichtlich des Religionskonzepts. Religion an sich, gleich welchen historischen Ursprungs sie ist, welche Dogmen und welche Funktionen ihr zugeschrieben werden, wird abgelehnt. Die Begründungen dieser prinzipiellen Religionskritik können unterschiedlich lauten. Ākhūndzāde verknüpft bereits 1865 wesentliche Argumente, wonach Religion eine Projektion menschlicher Wünsche und Kompensation von Schwächen ist, das vernunftbasierte, eigenständige Denken unterbindet und zu Autoritätsgläubigkeit erzieht. Neben diesen primär psychologisch unterfütterten Argumenten führt er Gründe an, die aus einer ansatzweise historisch-kritischen Analyse des Korantextes respektive ihres Verkünders erwachsen sind und 112
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dessen Glaubhaftigkeit grundlegend negieren. Hinzu traten noch im 19. Jahrhundert die historisch-evolutionistische Sicht, derzufolge Religion durch die Wissenschaft überholt bzw. abgelöst worden sei, sowie naturphilosophische Argumente, die den Glauben an das Übersinnliche in Frage stellten. Stärker als das Religionsverständnis differieren unter den Advokaten der Konfliktthese ihre Konzepte von Wissenschaft und Philosophie. Wie viele auch westliche Naturforscher und Philosophen um die Mitte des 19. Jahrhunderts unterscheidet Ākhūndzāde Wissenschaft noch nicht von Philosophie und bleibt dem klassischen Wissenschaftskonzept verhaftet. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde jedoch die zunehmende Verselbständigung einzelner Wissenschaften mit je eigenen Methoden und Begriffen reflektiert und Philosophie nicht mehr mit Wissenschaft in eins gesetzt. Die konstitutive Rolle der Hypothesenbildung in den Wissenschaften allerdings scheint bis in die zweite Dekade des 20. Jahrhunderts unter den nahöstlichen Intellektuellen nicht sehr geläufig gewesen zu sein. Das erklärt, weshalb Baha Tevfik der Philosophie die Aufgabe zuschreibt, in die von den Wissenschaften noch nicht erfassten Bereiche vorzudringen und Hypothesen zu bilden. Beide Disziplinen gewinnen aber bei ihm einen klar dynamischen Charakter, und er erklärt die Wissenschaft von morgen als die Philosophie von heute. Philosophie kann aber auch, wie bei Salāma Mūsā, dem Menschen eine Vorstellung von seinem Platz im Kosmos geben und ihn mit demselben verbinden – mithin eine der wesentlichen Rollen erfüllen, in der sie mit der Religion konkurriert. Viele Verfechter der Konfliktthese haben sich im Zusammenhang mit ihrer Religionskritik für eine doktrinäre Philosophie, eine meist ,missionarische‘ Weltanschauung stark gemacht, wie den wissenschaftlichen oder den historischen Materialismus bzw. den Sozialdarwinismus. Ihre Religionskritik stellt durch diese ,Mission‘ mithin sowohl eine Konkurrenz für traditionelle Religionsvertreter als auch für religiöse Reformer dar. Auf liberale Intellektuelle, die für eine freiheitliche Rechtsordnung einstehen, hat die Konfliktthese möglicherweise aus der Verknüpfung mit den genannten Philosophien, die als politische Ideologien großes Unheil gestiftet haben, wenig Anziehungskraft ausgeübt. Doch auch ohne Bindung an eine ,missionarische‘ Weltanschauung setzen sich prinzipielle Kritiker an
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einer historisch überlieferten Religion und insbesondere am Islam im Nahen Osten der Todesgefahr aus. Wie das Beispiel des Prozesses gegen Ṣādiq al-ʿAẓm zeigt, hat natur wissenschaftliche Religionskritik aber eine Chance, solange sie den Glau217 ben an sich und die religiöse Stifterfigur nicht ausdrücklich berührt. Die Advokaten der Autonomiethese üben genau in diesen Fragen Zurückhaltung, und al-ʿAẓm bewegte sich in seiner Verteidigung vor Gericht bereits in ihrem Modell. Ebenso wie die Verfechter der Konfliktthese sehen sie alle Religionen als im Kern gleich an. Sie richten ihre Religionskritik aber nicht minder scharf, wenn auch anders begründet, gegen Versuche, Religion für Wissenschaft und Philosophie oder für Recht und Politik zu vereinnahmen. Sie erklären Religion zu einem subjektiven Feld, der Sphäre der Imagination und der Gefühle zugehörig. Über die Frage, ob das moralische Gefühl nicht doch intersubjektive humane Werte zum Ausdruck bringt, gibt es bei ihnen keinen Konsens. Einig sind sie sich aber darüber, dass Glaube wie Unglaube, unabhängig von der eigenen Überzeugung, gleichermaßen akzeptiert oder zumindest toleriert werden müssen. Faraḥ Anṭūn setzte dafür mit seiner Toleranz gegenüber dem von ihm persönlich missbilligten Atheismus und Materialismus Maßstäbe. Die Überzeugung, dass die überlieferten Religionen über die Beschaffenheit der Welt und der menschlichen Gemeinschaft keine allgemeinverbindlichen Aussagen machen können, wird unterschiedlich begründet. Die Begründungen reichen von dem logisch-empiristischen Argument der Gehalt- bzw. Sinnlosigkeit von Aussagen, die sich nicht empirisch überprüfen lassen, bis zur Annahme, dass die Inhalte der religiösen Texte veraltet sind. Fuʾad Zakariyya macht den veralteten Status von Aussagen ausdrücklich über Naturkundliches hinaus für alle Aussagen geltend, gerade auch jene, die den Bereich zwischenmenschlicher Erfahrungen betreffen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert dominierte auch unter den Vertretern der Autonomiethese noch die Ineinssetzung von Wissenschaft und Philosophie. Über ihre Neuartigkeit wurde nur insofern reflektiert, als sie als dynamisch und nicht als statisch begriffen wurden. Unerschütterlich war aber von vorneherein die Überzeugung, dass die Religion ihnen keine Grenzen setzen darf, selbst wenn sie zu diametral anderen Weltbestimmungen gelangen sollten, als diese sie überliefert. Im Laufe 217 Siehe oben, S. 65-67.
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des 20. Jahrhunderts setzt sich dann aber das Konzept von Wissenschaft als einem hypothetisch-deduktiven System durch und wird von Philosophie abgesetzt. Die Bestimmung der Inhalte und Aufgaben der Philosophie sind äußerst unterschiedlich. Abgesehen von der Wissenschaftstheorie dominieren unter den Advokaten der Autonomiethese nicht-doktrinäre Gesellschaftskritiken. Ganz in dem von Michael Hampe genannten Sinne befragen diese Philosophen «die zentralen kulturellen Projekte auf ihre normativen Konsequenzen hin, decken auf, wann selbstgestellte Ansprüche in ihnen nicht erfüllt werden, wann durch diese Vorhaben Folgen ein218 treten, die niemand gewollt hat». Die Vertreter der Autonomiethese haben zwar einen leichteren Stand als jene der Konfliktthese, doch stößt ihre Position zunehmend auf Widerstand bei Vertretern der Harmoniethese, wie Fuʾād Zakariyyā in einem öffentlich ausgetragenen Disput mit zwei sehr populären islamistischen Religionsgelehrten und Predigern, Muḥammad al-Ghazālī (1917– 1996) und Yūsuf al-Qaraḍāwī (geb. 1926), hautnah zu spüren bekommen 219 hat. Das hängt vor allem mit dem Umstand zusammen, dass ihr Eintreten für die Unabhängigkeit von Religion, Wissenschaft und Philosophie mehr oder weniger explizit mit der Forderung der Trennung staatlicher und vor allem auch rechtlicher Gewalt von der Religion verknüpft ist. Denn allein dadurch scheinen ihnen die Gedankenfreiheit und Rechtsgleichheit gesichert. Säkularismus (ʿalmāniyya) wird jedoch seit den 1980er Jahren außer von seinen Befürwortern mit Atheismus und völliger Ver220 westlichung gleichgesetzt, weshalb selbst ehemals überzeugte Anhänger der Autonomiethese wie Zakī Nadjīb Maḥmūd oder auch Muḥammad ʿĀbid al-Djābirī dieses Konzept meiden und sich mit der Harmoniethese anfreunden. Der koptische Landwirtschaftsexperte und Publizist Faradj Fūda (Farag Foda), der populärwissenschaftlich und ironisch-sarkastisch Religionskritik übte und sich lautstark für Säkularismus einsetzte, wurde 1992 von Azhar-Gelehrten in einem Fatwa zum Ungläubigen de221 klariert und fiel kurz darauf einem islamistischen Attentat zum Opfer. Als die im Nahen Osten mit Abstand erfolgreichste der drei Thesen hat 218 Hampe, Michael: Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 48; siehe auch die Vorrede zu vorliegendem Band, S. 24, Fn. 58. 219 Flores, Säkularismus, (Fn. 201), S. 56-69. 220 Kinitz, Daniel: Die andere Seite des Islam – Säkularismus-Diskurs und muslimische Intellektuelle im modernen Ägypten, Berlin/München/Boston: de Gruyter, 2016, S. 8. 221 Belén Soage, Ana: “Aproximación a la figura del activista egipcio Farag Foda, mártir del laicismo”, in: Entelequia, Revista Interdisciplinar 5 (2007), S. 309-317.
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sich die Harmoniethese erwiesen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie zweifelsohne die dehnbarste ist und einem äußerst breiten Spektrum an Konzepten von Religion, Philosophie und Wissenschaft Raum bietet. Es sind überwiegend muslimische Intellektuelle, die sie postulieren und in oft sehr ausführlichen Abhandlungen zu begründen suchen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert nimmt sie häufig einen apologetischen Charakter an, indem der Islam als eine diesseits- wie jenseitsbezogene, allumfassende Vernunftreligion dem Christentum als einer irrationalen, rein jenseitsbezogenen Religion gegenübergestellt wird. Diese Gegenüberstellung hat ihren Ursprung in der Ende des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzung mit europäischen Advokaten der Konflikttheorie, die bald die Religion an sich, bald das Christentum und bald insbesondere den Islam in mehr oder minder polemischer Form der Vernunft-, Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit bezichtigen. Die auch von den Europäern nicht geleugnete einstige Pflege von Wissenschaft und Philosophie in den Machtzentren muslimischer Herrscher dient dabei vielfach als Referenz für die angebliche Vernunftoffenheit des Islam. Bemerkenswerterweise beziehen sich die nahöstlichen Intellektuellen dabei selbst lediglich auf die von ihren Kronzeugen Draper, Le Bon oder auch Renan angeführten mittelalterlichen Gelehrten und setzen das Ende der wissenschaftlichen Kreativität in der islamischen Welt wie diese im 12. oder 13. Jahrhundert an. Die in den folgenden Jahr hunderten aus empirischer Beobachtung erwachsene mathematischphysikalische Kritik an der ptolemäischen Astronomie, die mit großer Wahrscheinlichkeit Kopernikus bekannt war, und andere empirische Na222 turforschungen erwähnen sie hingegen nicht. Diese Forschungen hat222 Ragep, F. Jamil: “Ṭūsī and Copernicus: The Earth’s Motion in Context”, in: Science in Context 14 (2001), S.145-163; Ders.: “Freeing Astronomy from Philosophy: An Aspect of Islamic Influence on Science”, in: Osiris 16 (2001), S. 49-64, 66-71; Dallal, Ahmad: “Islamic Paradigms for the Relationship Between Science and Religion”, in: Peters, T. / Iqbal, M. / Haq, S.N. (Hg.): God, Life and Cosmos: Christian and Islamic Perspectives, Aldershot: Ashgate 2002, S.197-222. Dallals Klassifizierung der von ihm untersuchten mathematisch orientierten Kritik am ptolemäischen System im Maschrek durch Nāṣīraddīn aṭ-Ṭūsī, Muʾayyadaddīn al-ʿUrḍī und Ibn ash-Shāṭir als eine «Islamisierung der Wissenschaft» (ebd., S. 216) ist schwer nachvollziehbar und lässt ihn als einen wissenschafthistorischen Vertreter der «Harmoniethese» erscheinen. Ganz abgesehen davon, dass die von ihm angeführten Wissenschaftler in ihren astronomischen Werken nicht auf religiöse Konzepte rekurrieren oder explizit Wissenschaft und Religion voneinander unterscheiden und ,Islam‘ als deren beider Rahmen begreifen, entwickelten die beiden Erstgenannten die mathematisch gestützte Astronomie am MarāghaObservatorium. Dort forschten Angehörige verschiedenster Religionen und Kulturen, und der Mäzen des Observatoriums war der mongolische, offenbar dem Buddhismus
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ten keine Breitenwirkung mehr erlangen können, sondern waren auf kleine Zirkel beschränkt geblieben und somit der Vergessenheit anheimgefal223 len. Die Advokaten der Harmoniethese sehen den Islam als mit Naturwie Geisteswissenschaften und Philosophie vereinbar an, wenn er richtig, d.h. mittels eigenständiger allegorischer Koranexegese, interpretiert werde. Ihre partielle Religionskritik richtet sich daher sowohl gegen eine literalistische als auch gegen eine ungeprüft übernommene allegorische Lesart des Koran. Die für die Richtigkeit angelegten Maßstäbe sowie auch die Wissenschafts- und Philosophie-Konzepte differieren allerdings derartig, dass im Grunde jede Interpretation für sich steht. Einige Gemeinsamkeiten und Richtungen können – grob gesehen – dennoch unterschieden werden. So teilen sämtliche Vertreter der Harmoniethese die Annahme, dass die von Gott geschaffene Wirklichkeit mit seinem Wort, dem Koran, und dem wahren Denken übereinstimmt. Insofern Gott den Menschen mit Verstand bzw. Vernunft ausgestattet habe und uns mit seinen Worten zur Beobachtung der Natur und zum Nachdenken anhalte, könnten und sollten wir – je nach Verstandesvermögen – die Wirklichkeit erfassen. In moralischen Fragen allerdings habe er dem Menschen zwar die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse mitgegeben, die dieser Unterscheidung zugrundeliegenden Prinzipien, die das individuelle und gemeinschaftliche Leben regeln, und die Dienste, die der Mensch seinem Schöpfer erweisen soll, seien aber in ihrer ganzen Tragweite nur aus Gottes Worten zu erschließen. Der Koran ist diesen Denkern somit Ansporn zum Denken und unerlässliche Orientierung in moralischen Fragen. Die moderne naturwissenschaftliche Koranexegese sucht die Annahme der Übereinstimmung der von Gott geschaffenen Wirklichkeit mit seinem Wort und unserem Denken zu beweisen. Sie bedient sich einer Hermeneutik, welche die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaftler im religiösen Text als bereits gegeben sieht. Al-Djisr, einer der Inspiratoren dieser Exegese-Richtung, machte sich dabei den hypothetischen Charakter der modernen Naturwissenschaft, den er klar erkannt hatte, besonders zugeneigte Herrscher Hülegü, der kurz vor dessen Gründung das islamische Kalifat der ʿAbbasiden 1258 gestürzt hatte. 223 Hervorgehoben seien hier zum Osmanischen Reich die versammelten Aufsätze von Ekmeleddin İhsanoğlu: Science, Technology and Learning in the Ottoman Empire, Aldershot, Hamshire: Ashgate Variorum, 2004 und die Monographie von Casale, Giancarlo: The Ottoman Age of Exploration, Oxford/New York: Oxford University Press, 2010.
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zunutze, um allein das empirisch Gesicherte zu berücksichtigen und die in der Praxis nützlichen Früchte zu ernten. In seinen Vorstellungen von Moral und Gesellschaftsordnung blieb er einer traditionalistischen Koranauslegung treu. Eine ähnliche, wenn auch im Einzelnen weniger traditionalistische, so aber doch wertkonservative Haltung teilen weiterhin viele Verfechter der Harmoniethese. Dazu gehört der prominente und umstrittene türkische Prediger Fethullah Gülen, dessen Bücher und Schulen, die auf hohem Niveau säkulares Wissen vermitteln, inzwischen nahezu weltweit verbreitet 224 sind. Es bedürfe aber des Zusammenwirkens der Natur-, Sozial- und 225 Religionswissenschaften, um den wahren Sinn des Korans zu erfassen. An spiritistischen Kräften und der Existenz übernatürlicher Wesen, wie Engel und Dschinnen, hegt Gülen keinerlei Zweifel und bezieht auch die 226 Parapsychologie in seine Koranexegese ein. Gebeten misst er einen hohen Stellenwert bei, wobei er auch den Gang zum Arzt als eine aktive Form des Betens für die Genesung erachtet und die Gläubigen anweist, 227 bei Krankheit medizinische Hilfe zu suchen. Großer Beliebtheit erfreuen sich in den letzten Jahrzehnten, wie auch in den USA, die kreationistischen Thesen der Anti-Darwinisten, deren islamische Version unter anderem durch den international agierenden türkischen Publizisten Harun Yahya in hohen Auflagen in Umlauf ge228 bracht wird. In eine ganz andere Richtung bewegen sich dagegen die zahlreichen in ihrem konkreten sozialen und politischen Ansinnen unterschiedlich ausgerichteten reformorientierten Exegeten im ausgehenden 19. Jahrhundert, die den Koran und zum Teil auch Überlieferungen des Propheten Mohammed und der ersten schiitischen Imame vor dem Hintergrund der Probleme ihrer Gesellschaften aus philosophischer Sicht mit Hilfe geisteswissenschaftlicher Methoden neu zu verstehen suchen. Der Islam wird dabei primär in dem Sinne gedeutet, dass er den Menschen zu ei224 Agai, Bekim: Zwischen Netzwerk und Diskurs: das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Schenefeld: EBVerlag, 2004; Seufert, Günter: Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2013. 225 Gülen, Fethullah: The Essentials of the Islamic Faith, transl. by Ali Ünal, New Jersey: Light, 2006, S. 229-230. 226 Ebd., S. 35-87. 227 Ebd., S. 82. 228 Edis, An Illusion, (Fn.143), S.125-136.
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nem mündigen und der Gemeinschaft gegenüber verantwortungsvollen, zukunftsorientierten Handeln erzieht. Dabei wird er teils auf einige wenige Prinzipien reduziert, wie bei Afghānī und Kermānī, oder es werden einzelne philosophische Ideen mit Koranversen belegt, wie bei ʿAbduh oder Mostashāroddoule. Philosophie erachten sie im klassischen Sinne als eine universale Wissenschaft, die alle anderen Wissenschaften zusammenhält und – modern gesprochen – die ,Orientierung‘ gibt. Allerdings führen die exegetischen Anstrengungen zum Teil zu Ergebnissen, die sie – wie mit den Prinzipien von «Meinungsfreiheit» oder «Gleichheit» – ins Feld der Advokaten der Autonomiethese rücken oder – wie im Falle von Kermānī und seinen (sporadisch geäußerten) materialistischen Ideen – ins Feld der Verfechter der Konfliktthese. Wenn Kermānī das menschliche Denken auf einen physiologischen Akt reduziert, überschreitet er auch in den Augen seiner aufgeklärten muslimischen Zeitgenossen den Spielraum der allegorischen Interpretation und die damalige Toleranzgrenze, den Atheismus. Die Exegese lässt indes immer nur so viel Freiheit, wie ihr von den jeweiligen Interpreten und deren sozialem Umfeld eingeräumt wird. Anfang der 1960er Jahre kann so der marokkanische Philosoph Mohammed Lahbabi in einer existentialistisch-personalistischen Lesart das «Nein» zum islamischen Glaubensbekenntnis als das diesem inhärente Korrelat zum «Ja» und als einen Akt der Selbst-Erkenntnis und der Freiheit deuten, auch wenn der Verneiner damit in den Augen der Gläubigen Gott ge229 genüber undankbar ist und ihn ver-kennt. Allerdings geraten philosophische wie literaturwissenschaftliche Interpretationen des Korans im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend wieder ins Visier von muslimischen Traditionalisten und Literalisten. Naṣr Ḥāmid Abū Zaid hat 1995 mit seinem historisch-kritischen und philosophisch-hermeneutischen Zugang, bei dem er das eigentliche Wort Gottes als dem Menschen für unzugänglich erklärt hat, von ihrer Seite eine Apostasieklage ausgelöst und wurde von seiner Frau durch die höchste Instanz der ägyptischen Rechtssprechung zwangsgeschieden. Dabei nehmen in Ägypten auch vermehrt islamistische Vertreter der 229 Lahbabi, Aziz: Le personnalisme musulman, Paris: Presses Universitaires de France, 1964, S. 68-69; dt. Übers. von Markus Kneer in: Lahbabi, Mohamed Aziz: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie, Freiburg i.Br.: Verlag Herder, 2011, S.115-116. Zu Lahbabis Interpretation des islamischen Glaubensbekenntnisses siehe Kneer, Markus: “Personalismus in islamischer Perspektive. Eine Erinnerung an die Philosophie Muhammad Aziz Lahbabis”, in: Theologie und Glaube 95 (2005), S. 298-318.
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Harmoniethese den Begriff der «Aufklärung» (tanwīr) für sich in Anspruch. Sie sprechen von einer «islamischen Aufklärung» und diffamieren die hier vorgestellten ägyptischen Fürsprecher der Konflikt-, aber auch der Autonomiethese als «Verräter», «säkulare Verwestlicher» oder «falsche Aufklärer» und verketzern sie teilweise sogar, so etwa die Philosophen Zakī Nadjīb Maḥmūd und Fuʾād Zakariyyā. Sie reagieren damit auf die ihres Erachtens «staatliche Aufklärungskampagne», das heißt auf die von Mubāraks Regierung mit Hilfe von ,liberalen‘ Intellektuellen lancierten Publikationen, Kongresse und Fernsehsendungen über die «Pioniere der Aufklärung», darunter Ṭāhā Ḥusain, Afghānī, Muḥammad ʿAb230 duh und Salāma Mūsā. Während in diesen Medien deren Grundthesen jedoch kaum voneinander geschieden werden, wissen die islamistischen Vertreter der Harmoniethese sie hingegen sehr genau voneinander zu trennen, denn ʿAbduh und Afghānī, die ,Ahnen‘ des Konzepts vom Islam als einer «Vernunftreligion», diffamieren sie nicht, sondern erachten sie 231 vielmehr als ihre Vorbilder. Die hier zuletzt am Beispiel zeitgenössischer Ägypter skizzierte Problematik hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, und sie betrifft die gesamte Region, die in der Reihe pnm mit «Naher Osten» als pars pro toto bezeichnet wird. Die vier in den folgenden Beiträgen vorgestellten, ursprünglich auf Persisch und Osmanisch-Türkisch verfassten Texte thematisieren bereits Kernfragen der Verhältnisbestimmung von Wissenschaft, Philosophie und Religion unter den Vorzeichen der Moderne. An Schärfe in der prinzipiellen oder partiellen Religionskritik übertreffen einige von ihnen deutlich die derzeit übliche Zurückhaltung.
230 Abaza, Mona: “The Trafficking with Tanwir (Enlightenment)”, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30 (2010), S. 32-46, hier S. 35-37. 231 Ebd., S. 36. Einer ihrer Wortführer, auf den auch Abaza Bezug nimmt, ist Muḥammad ʿAmāra (ʿIm[m]āra, geb. 1931). Er veröffentlichte Gesamtausgaben der Schriften von Afghānī und ʿAbduh und anderen muslimischen Reformern, die als Vertreter der Harmoniethese gelten können Kügelgen, Averroes, (Fn. 48), S.180-182); zu ihm siehe auch Abaza, Mona: Debates on Islam and Knowledge in Malaysia and Egypt, London: Routledge Curzon, 2002, S.159-173.
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Religionskritik als Bedingung für Fortschritt: Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder
O Volk Irans! Hättest du eine Ahnung vom Rausch der Freiheit und von den Rechten der Menschheit, so gäbest du dich nicht solcher Knechtschaft und Niedertracht hin, sondern dürstetest nach Wissenschaft, schüfest Geheimgesellschaften und schlössest Bündnisse. Du bist in Zahl, o Volk, und Können viel stärker als ein Despot – du brauchst nur Entschlossenheit und Eintracht! Wärst du dazu in der Lage, wärst fähig zur Vereinigung, so besännest du dich, würfest die Fesseln des Glaubens ab und die Despoten ins Verlies! Schade ist nur: Du erlangst diesen Zustand nicht ohne Wissenschaft, und die Wissenschaft erreichst du nicht ohne Fortschritt. Den Fortschritt aber gibt es nicht ohne Liberalismus 1 und den Liberalismus nicht ohne ein Abwerfen dieser Fesseln der Religion.
Einleitung
D
er Aufklärer Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde (1812–1878), in Russland und Europa bekannt als Achundov, schrieb um 1865 in Tiflis die erste Fassung der in Dialogform präsentierten grund2 legenden Religionskritik «Maktūbāt» (Briefe). Sie liegt auf Persisch, 3 4 Azeri-Türkisch und Russisch vor und wird mit der vorliegenden Teil5 übersetzung erstmals in einer westeuropäischen Sprache vorgestellt. Ākhūndzāde, der hauptsächlich in Tiflis wirkte, gehört zu den ersten Liberalen und Verfechtern der Geschlechtergleichheit in der ‚islamischen Welt‘ des 19. Jahrhunderts. Er war Religions-, Gesellschafts- und Regierungskritiker, Dichter, Begründer des Drama-Genres und der realistischen Literatur in Kaukasien und Iran. Dazu war er Philosoph, Historiker und 1 2
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Ākhūndzāde, Mīrzā Fath ʿAlī: Maktūbāt, hg. v. Bāqer Moʾmenī, Täbris: Enteshārāt-e Ehyāʾ, 1971/1350 h.sh., S. 56-57. Ākhūndzāde, Maktūbāt. Bekannt ist das Werk auch als «Maktūbāt-e Kamāloddoule» oder «Drei Briefe des indischen Prinzen Kamāloddoule an den persischen Prinzen Djalāloddoule und die Antwort des Letzteren darauf». Für eine Übersicht über die Titel siehe Tanik, Hilda: Der aserbaidschanische Autor M. F. Achundov – Leben, Weltbild, Werk – unter besonderer Berücksichtigung seiner Theaterstücke, Diplomarbeit Universität Wien, 2013, S.122. Axundov, Əsərlər, 3 Bde., Bakı: Elmlər Akademiyası Nəşriyyatı, 5. Aufl., 1988 [1924]. Axundov, M. F.: Izbrannye filosofskie proizvedenija, hg. v. Mehbaly Kasumov, Baku: Izdatel’stvo Akademii Nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1953. Eine vollständige Übersetzung der «Maktūbāt» ins Deutsche ist geplant.
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MAHDI REZAEI-TAZIK UND MICHAEL MÄDER 6
Verfechter einer Alphabetreform. Mit all diesen Aktivitäten suchte er nicht nur das aus seiner Sicht rückständige iranische Volk, sondern die ganze islamische Gemeinschaft vom Joch religiöser Despotie zu befreien und ihr den Weg in die moderne Zivilisation zu ebnen. Dieses nationenübergreifende Engagement hat er mit einem der bekanntesten Religionsreformatoren der ,islamischen Welt‘, Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī (1838/ 39–1897), gemein, jedoch mit einem Unterschied: Afghānī versuchte den Islam zu reformieren, Ākhūndzāde zielte darauf ab, diesen zu überwinden. Biografie – Werke – Wirkung
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Ākhūndzāde wurde 1812 in der Stadt Scheki (früher Nūkhā, NordwestAserbaidschan, zu dieser Zeit zu Iran gehörig) geboren. Als Sohn des aus Täbris stammenden Mīrzā Mohammad Taqī gilt Ākhūndzāde gemeinhin als Aserbaidschaner, selber verstand er sich aber als Iraner. Dieses Selbstverständnis hängt wahrscheinlich mit dem damals weltweit um sich greifenden Nationalismus zusammen. In einem Brief an einen zoroastrischen Freund schrieb er: «Mein Wunsch ist es, dass alle Iraner wissen: Wir sind die Kinder der Perser und unsere Heimat (watan) ist Iran. [...] Zwar bin ich dem Anschein nach Türke, aber meine Abstammung führt auf die Perser zurück. Mein Vorfahr Hadjdjī Ahmad kam aus Rascht und ließ sich später in Aserbaidschan (āzerbāydjān) nieder. Mein 8 Vater und ich sind in Aserbaidschan geboren und aufgewachsen.» 6
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Məmmədzadə, Həmid: Mirzə Fətəli Axundov və Şərq. Bakı: Elm Nəşriyyatı, 1971; Rafili, Mikaėl: Akhundov – Žizn′ i tvorčestvo. Baku: Akademija Nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1957; Brands, Horst W.: Azerbaidschanisches Volksleben und modernistische Tendenz in den Schauspielen Mīrzā Fetḥ-ʿAlī Āḫūndzāde’s, Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1958; Parsinejad, Iraj: A History of Literary Criticism in Iran (1866–1951). Literary Criticism in the Works of Enlightened Thinkers of Iran: Akhundzadeh, Kermani, Malkom, Talebof, Maragheʾi, Kasravi and Hedayat, Bethesda: Ibex, 2003, S. 39-65 und 267-320; Tanik, Der aserbaidschanische Autor. Zur angestrebten Alphabetreform siehe z.B. Algar, Hamid: “Malkum Khān, Ākhūndzāda and the Proposed Reform of the Arabic Alphabet”, in: Middle Eastern Studies, Vol. 5, No. 2 (1969), S.116-130. Zur Biografie von Ākhūndzāde wurden folgende Werke konsultiert, auf die in der Folge nicht einzeln verwiesen wird: Algar, Hamid: “Āḵūndzāda”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. I, ed. by E. Yarshater, London: Routledge & Kegan Paul, 1985, S. 735-740; Ādamiyat, Fereidūn: Andīshehā-ye Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde, Teheran: Enteshārāt-e Khārazmī, 1970/1349 h.sh., S. 9-32; Akhundov, Fath ʿAlī: Alefbā-ye Djadīd wa Maktūbāt, hg. v. Hamīd Mohammadzāde, Baku: Nashriyāt-e Farhangestān-e ʿOlum-e Djomhūrīye Shourawī-ye Sosiyālīstī-ye Āzarbāydjān, 1963; Brands, Azerbaidschanisches Volksleben, S.11-18; Das Vorwort von Kasumov zu Axundov, Izbrannye, S. 7-13; Hess, Michael: “Axundzadə (Akhundov), Mirzə Fətəli”, in: The Encyclopaedia of Islam, Three, Part 2, ed. by K. Fleet et al., Leiden: Brill, 2015, S. 32-34. Akhundov, Alefbā, Brief an Manak Limji Antaria vom 29. Juli 1871, S. 249-250; Siehe auch Ākhūndzāde, Maktūbāt, S. 214. In den russischen Briefen nannte er sich Achun-
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1828 kamen weite Teile des heutigen Aserbaidschans unter russische Herrschaft. Der 16-jährige Ākhūndzāde, der bislang in arabischer und persischer Sprache, Korankunde, Logik (manteq) und islamischer Rechtswissenschaft (feqh) ausgebildet worden war, erlebte nun seinen ersten intellektuellen Wandel: In einer Moschee in Gandscha lernte er den Dichter und Theosophen Mīrzā Shafīʿ Vāzeh (1794–1852) kennen, von dem er in 9 persischer Kalligrafie unterrichtet wurde. Im Laufe der Zeit entstand ein freundschaftliches Verhältnis, das Ākhūndzāde zunehmend auf Distanz zum religiösen Umfeld brachte, was er folgendermaßen beschreibt: «Eines Tages fragte mich diese angesehene Person: ‹Mīrzā Fath ʿAlī! Was willst du nach dem Erwerb der Wissenschaften werden?› Ich erwiderte: ‹Ich möchte Geistlicher (rūhānī) werden.› Er sagte: ‹Willst du Heuchler und Scharlatan werden?› Ich war erstaunt und verwundert über seine Worte. Mīrzā Shafīʿ schaute mich an und sagte: ‹Mīrzā Fath ʿAlī! Verdirb dein Leben nicht in den Reihen dieser abscheulichen Gesellschaft! Gehe einem anderen Beruf nach!› Als ich nach dem Grund seines Hasses auf die Geistlichkeit (rūhāniyyat) fragte, begann er mit der Enthüllung von Themen (matāleb), die mir bis dahin nicht bekannt waren. Schließlich brachte er mir [...] die Grundlagen der Mystik (matāleb-e ʿerfāniyyat) bei und nahm mir den Schleier der Unwissenheit von den Augen. Nach diesen Geschehnissen empfand ich Abscheu gegenüber den Geistlichen und 10 änderte mein Ziel.» 1833 besuchte Ākhūndzāde ein Jahr lang die neueröffnete russische Schule in Scheki, bevor er 1834, im Alter von 22 Jahren, in Tiflis Fuß fasste und seinen zweiten intellektuellen Wandel erfuhr. Tiflis war seinerzeit ein multikulturelles Zentrum, das modernes Gedankengut und progres-
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dov (Akhundov, Alefbā, S.1-45), in den persischen meist Ākhūndzāde (ebd., S. 55-342), außer in einem persischen Brief an den Franzosen «Nicolai» (wohl zu identifizieren mit dem französischen Konsul Alphonse L.M. Nicolas), wo er sich Achundov nennt (ebd., S. 300). Auf Azeri-Türkisch ist nur ein Brief bekannt (ebd., Brief an Mollā Mohammad vom 9. September 1858, S. 351), in dem er sich Mīrzā Fath ʿAlī nennt. Bis heute wird er von unterschiedlichen Nationen als einer der ihren reklamiert. Mīrzā Shafīʿ Vāzeh kam 1840 nach Tiflis, wo er an einer Bezirksschule orientalische Sprachen unterrichtete. Er wurde bekannt, nachdem Friedrich Bodenstedt (1819–1892) eine Sammlung seiner Gedichte unter dem Titel «Die Lieder des Mirza Schaffy» herausgegeben hatte. Bodenstedt behauptete später, die Gedichte entstammten seiner eigenen Feder und Mīrzā Shafīʿ sei bloße Fiktion (Tanik, Der aserbaidschanische Autor, S.16-17). Im Rahmen der von Mīrzā Shafīʿ geleiteten Gesellschaft «Dīwān-e ʿAql» (Haus der Vernunft) versammelten sich Gleichgesinnte, darunter Chatschatur Abowjan und Ākhūndzāde, bei ihm zu Hause (Ādamiyat, Andīshehā, S.18). Akhundov, Alefbā, Autobiografie von 1877, S. 351.
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sive Institutionen willkommen hieß. In der Stadt wohnten armenische, georgische und russische Schriftsteller und Dichter sowie mit westlichen, insbesondere französischen Ideen vertraute Intellektuelle und Offiziere – oft Dekabristen, die nach ihrem unterdrückten Aufstand nach Tiflis hatten auswandern müssen. Durch den Austausch mit fortschrittsorientierten russischen Dissidenten wie dem Schriftsteller A. Bestuschew und dem Lyriker A. Odojewski sowie die Lektüre von Werken russischer, fran11 zösischer und englischer Schriftsteller wie Puschkin, Gogol, Montesquieu, Voltaire, Renan, Hume, J. S. Mill und Buckle wurde Ākhūndzādes intellektueller Horizont entscheidend erweitert. Hinzu kam der Einfluss seines Freundes, des armenischen Schriftstellers und Begründers der rea12 listischen Literatur Armeniens, Chatschatur Abowjan. Noch im Jahre 1834 wurde Ākhūndzāde im Büro des georgischen Oberkommandierenden Baron Grigori Wladimirowitsch Rosen zunächst als Dolmetscher, dann als Assistent und schließlich 1840 als staatlicher Übersetzer für orientalische Sprachen angestellt – ein Posten, den er bis zu seinem Tode unter verschiedenen militärischen Befehlshabern im Kaukasus behalten sollte. Von 1836 bis 1840 gab er zudem an der Bezirksschule in Tiflis Unterricht in Persisch und Azeri-Türkisch. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde er ferner vom Fähnrich bis zum Oberst befördert und mit mehreren Orden ausgezeichnet. Zwischen 1850 und 1855 verfasste Ākhūndzāde in Azeri-Türkisch sechs Komödien, die sich gegen Tradition und Aberglauben, gegen Schwindelei, Korruption und die patriarchalen Gesellschaftsnormen richten. In fünf seiner sechs Komödien spielen Frauen die erste oder zweite 13 Hauptrolle. Besonders auf die Schattenseiten der muslimischen Lebens11
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Der junge Ākhūndzāde beklagte 1837 in einem Gedicht unter dem Pseudonym «Sabūkhī» den Verlust seines verehrten Puschkin (Brands, Azerbaidschanisches Volksleben, S. 81). Allgemein zu Puschkins Einfluss auf Ākhūndzāde siehe Rafili, Žizn′ i tvorčestvo, S. 53-64. Rafili, Mikaėl: “Borʼba M. F. Achundova za opublikovanie svoich filosofsko-političeskich «pisem»”, Izvestija Azerbajdžanskogo filiala Akademii nauk SSSR 6, 1938, 163-178, S.171. Siehe auch die Einleitung Parsinejads zu: Akhundzadeh, Mirza Fath ’Ali: A Literary Critic – A Collection of Essays, translated with an introduction by Iraj Parsinejad, Piedmont: Jahan Book, 1990, S. 7; Ādamiyat, Andīshehā, S.15-20. Zum Einfluss weiterer aserbaidschanischer Intellektueller siehe Rafili, Žizn′ i tvorčestvo, S. 65-71. Zur späteren gegenseitigen Beeinflussung mit iranischen Intellektuellen siehe ausführlich Məmmədzadə, Axundov və şərq, S. 226-308 und Ādamiyat, Andīshehā, S. 20. Brands, Azerbaidschanisches Volksleben, S. 71. Zur Stellung der Frau in Ākhūndzādes Komödien siehe auch Kia, Mehrdad: “Women, Islam and Modernity in Akhundzade's Plays and Unpublished Writings”, in: Middle Eastern Studies 34/3 (1998), S.1-33.
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weise zielte Ākhūndzādes Kritik. So schrieb er in einem Brief an den ira14 nischen Prinzen Djalāloddīn Mīrzā (1827–1872): «Das Hauptziel solcher Werke ist die Verbesserung der Moral (tahzīb-e akhlāq). Die Weisen und Philosophen Europas haben verstanden, dass Niedertracht und Gemeinheit des menschlichen Wesens nicht anders beseitigt werden können als 15 mit Hohn und Spott.» 1857 verfasste Ākhūndzāde auf Persisch ein Büchlein mit dem Titel «Alefbā-ye Djadīd» (Das neue Alphabet) mit Vorschlägen zur Vereinfachung des unter anderem in Iran, im Osmanischen Reich und in Kaukasien verbreiteten arabischen Alphabets. Später sprach er sich sogar für die vollständige Ersetzung des arabischen durch das lateinische Alphabet aus. Er war unablässig darum bemüht, die osmanischen wie auch iranischen Beamten von der Notwendigkeit dieser Reform zu überzeugen. In einem Brief an einen Minister in Teheran schrieb er: «Diejenigen, die mit den Schriften anderer Nationen (mellal) vertraut sind, sehen, in welchem Maß unser Alphabet mangelhaft ist und inwie16 weit es ein Hindernis für den Fortschritt der Wissenschaften darstellt.» 1863 reiste er nach Istanbul und legte seinen Reformentwurf dem Großwesir Fuʾād Pāshā (1815–1869) vor. Von der «Djamʿiyyat-e ʿElmiyye-ye ʿOsmāniyye» (Osmanische Gesellschaft der Wissenschaften) erhielt der Vorschlag viel Lob, wurde aber aus drucktechnischen Gründen nicht umgesetzt. Sein Ziel erreichte Ākhūndzāde also nicht, er löste aber nach eigener Einschätzung zwischen Konservativen und Progressiven im Osmani17 schen Reich zumindest eine Diskussion über eine Schriftreform aus. Neben seinem Hauptwerk «Maktūbāt», sechs Theaterkomödien, einem kurzen historischen Werk über Amerika sowie einigen kritisch-philosophischen Artikeln und Gedichten hinterließ Ākhūndzāde zahlreiche Briefe, die er pedantisch archiviert hatte. Er starb 1878 im Alter von 66 18 Jahren in Tiflis. 14
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Djalāloddīn Mīrzā, geboren am Hof in Teheran als fünfundfünzigster Sohn von Fath ʿAlī Shāh (1769–1834), war Historiker und säkularer Freidenker im Iran des 19. Jahrhunderts. Vgl. Amanat, Abbas: “Jalāl-al-Din Mirzā”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. XIV, ed. by E. Yarshater, New York: Encyclopaedia Iranica Foundation, 2008, S. 405-410. Akhundov, Alefbā, Brief an Djalāloddīn Mīrzā von 1870, S.182. Ebd., Brief an einen iranischen Minister vom September 1868, S.105. Ebd., Autobiografie von 1877, S. 354. Zum Gesamtwerk von Ākhūndzāde siehe Rafili, Žizn′ i tvorčestvo, mit Überblick auf S. 391-393, sowie Ādamiyat, Andīshehā, S. 29-30 und Algar, “Āḵūndzāda”, S. 739-740. Zu Ākhūndzādes Archivierung seiner eigenen Werke siehe Axundov, Əsərlər, 3 Bde., Bakı: Elmlər Akademiyası Nəşriyyatı, 1958-1961, Bd. 2, S. 30-31, sowie Baldauf, Ingeborg: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Russland- und Sowjettürken (1850–1937): Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Ent-
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Sein in den «Maktūbāt» zum Ausdruck gebrachter iranischer Natio19 nalismus wird in der Ākhūndzāde-Rezeption kaum je hervorgehoben. Das mag damit zusammenhängen, dass in der Forschungsliteratur außerhalb der Sowjetunion von wenigen Ausnahmen abgesehen seine auf Azeri-Türkisch verfassten Theaterstücke und seine Schriftreform im Vordergrund standen und er in sowjetischen Studien vornehmlich als Atheist 20 und Materialist und damit als einer der ihren gefeiert wurde. Seine beißende und offene Religionskritik wurde von westlichen Wissenschaftlern erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen. Schnell bekannt wurde Ākhūndzādes philosophisch-religionskritisches Gedankengut hingegen in Iran, da er mit iranischen Intellektuellen, darunter mit Beamten und Botschaftern wie Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule (1823–1895) und Mīrzā Malkam Khān-e Nāzemoddoule (1833–1908) sowie dem Prinzen Djalāloddīn Mīrzā intensiv korrespon21 dierte. Er schickte handschriftliche Exemplare der «Maktūbāt» an zahl22 reiche Freunde in Teheran, Istanbul, Paris und Petersburg. Die handschriftliche Version des Buches wurde unter anderem von Mīrzā Aqā Khān-e Kermānī (1854–1896), dem bekanntesten iranischen Nationalisten des 19. Jahrhunderts, gelesen, dessen wichtigstes Buch «Se Maktūb»
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wicklungen, Budapest: Akadémiai Kiadó,1993 (Bibliotheca Orientalis Hungarica, 40), S. 56. Zum Ausdruck kommt Ākhūndzādes iranischer Nationalismus an einigen hier nicht übersetzten Stellen der Maktūbāt, insbesondere auf den S. 15-60 und 210-216 in der Ausgabe von Moʾmenī. Besprochen wird Ākhūndzādes Nationalismus bei Algar, “Āḵūndzāda”, S. 739. Džafarov, Džafar: Achundov: kritiko-biografičeskij očerk, Moskau: Chudoščestvennaja Literatura, 1962; Mamedov, Šejdabek: Mirovozzrenie M. F. Achundova, Moskau: Izdatelʼstvo Moskovskogo Universiteta, 1962; Vorwort von Kasumov zu Axundov, M. F.: Izbrannye filosofskie proizvedenija, hg. v. Mehbaly Kasumov, Baku: Izdatel’stvo Akademii Nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1953, S. 7-13. Zur Korrespondenz mit Mostashāroddoule, Malkam und Djalāloddīn Mīrzā siehe Akhundov, Alefbā. Ein Portrait von Mostashāroddoule liefert Ādjūdānī, Māshāʾallāh: Mashrūte-ye Irānī, Teheran: Nashr-e Akhtarān, 5. Aufl., 2004/1383 h.sh., S. 251-258, sowie Ādamiyat, Fereidūn: Fekr-e Āzādī wa Moqaddame-ye Nehzat-e Mashrūtiyyat, Teheran: Enteshārāt-e Sokhan, 1961/1340 h.sh., S.182-198. Zur Person Malkam siehe Ādjūdānī, Mashrūte-ye Irānī, S. 281-362, sowie Algar, Hamid: Mīrzā Malkum Khān: A Study in the History of Iranian Modernism, Berkeley: University of California, 1973. Einen Überblick über diese Briefwechsel sowie Ākhūndzādes zahlreiche weitere Kontakte zu iranischen Intellektuellen bietet Məmmədzadə, Axundov və şərq, S. 226-308. Ākhūndzāde benachrichtigt Malkam in einem Brief über die Verbreitung der unpublizierten «Maktūbāt»: «Zahlreiche Exemplare von ‹Maktūbāt-e Kamāloddoule› liegen in den Händen meiner Freunde und Vertrauten – überall auf der Welt verteilt. Bald werden meine Freunde das Schriftstück in jedwedem Winkel der Welt publizieren und in ganz Asien und Afrika verbreiten.» (Akhundov, Alefbā, Brief an Malkam vom 2. Juni 1871, S. 234). Zu den Briefen an seine ausländischen Freunde siehe Akhundov, Alefbā.
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(Drei Briefe) klar von Ākhūndzādes Werk beeinflusst ist. Ākhūndzādes «Maktūbāt» können als ein wichtiger Wegbereiter der Konstitutionellen Revolution in Iran (1905–1911) erachtet werden. Zur unmittelbaren Wirkung schreibt sein Biograf Mikaėl Rafili: «Die Handschriften der persischen Übersetzung der Maktūbāt, die nach Iran durchdrangen, wurden zu einer mächtigen Waffe der revolutionären Propaganda und hatten entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung revolutionärer Ideen. Die Maktūbāt waren das früheste urtümlich revolutionäre philosophisch-politische Werk im Nahen Osten – und überhaupt das erste illegale Buch – und wurden zu einer Art Evangelium für Leute wie Āqā Khān-e Kermānī, der viele seiner philosophischen Ideen aus Achundovs Buch übernahm. Gerade im kolonialen Aserbaidschan weckte das Werk das Bewusstsein manch bedeutender Persönlichkeit, und noch in weit späteren Epochen schöpften Gleichgesinnte und Adepten Achundovs Mut und Glauben daraus. Auch seine umfangreiche Korrespondenz, in der er nicht minder scharf und radikal Fragen zu Religion und Politik stellte, waren eine stets glimmende Zündschnur für die Massen demokratisch-revolutionärer Ge24 sinnung.» In Tiflis selbst wurden die «Maktūbāt» ebenfalls von etlichen zeitge25 nössischen Gelehrten in handschriftlicher Version gelesen. Das Zentrum der posthumen Ākhūndzāde-Forschung ist bis heute die Akademie der Wissenschaften der ehemaligen Aserbaidschanischen Sowjetrepublik in Baku, wo sich das Handschriftenarchiv befindet und zwischen 1924 und 2012 zahlreiche Untersuchungen zu Ākhūndzādes Werken und deren Re26 zeption verfasst wurden. Die erste Studie zu Ākhūndzāde in Iran wurde 27 erst 1970 von Ādamiyat vorgenommen. Im November 2012 veranstaltete die Humboldt-Universität in Berlin die Jubiläumskonferenz «200 Jahre 28 M.F. Akhundov: Ein Projekt für den ganzen Orient?». 23 24 25 26
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Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Se Maktūb, hg. v. Bahrām Čūbīne, Frankfurt a. Main: Alborz Verlag, 2005. Ein Werk Kermānīs wird im Artikel «Gottvertrauen auf dem Prüfstand – Ein Disput iranischer Intellektueller» in diesem Band übersetzt, siehe S.196. Rafili, Borʼba za opublikovanie, S.175. Ebd., S.163. Zu erwähnen sind neben den mehrbändigen Werkausgaben (vgl. Fn. 32) vor allem folgende Werke: Məmmədzadə, Axundov və şərq; Rafili, Žizn′ i tvorčestvo; Karaev, Mirza Fatali Achundov, Baku: Izdatel’stvo Akademii Nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1982; Ibragimov, Agami: Opisanie Archiva M. F. Achundova, Baku: Akademija nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1962. Ādamiyat, Andīshehā. Tanik, Der aserbaidschanische Autor, S. 7.
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Die «Maktūbāt»: Entstehungsgeschichte – Aufbau – Lehre Entstehungsgeschichte
Die erste azeri-türkische Fassung der «Maktūbāt» stellte Ākhūndzāde 29 zwischen 1863 und 1865 fertig. 1866/7 (1283 h.q.) übersetzte er das Buch 30 mithilfe von Mostashāroddoule ins Persische. Um 1874 fertigte er die russische Übersetzung mithilfe seines Freundes, des diensthabenden 31 Staatsrates Adolf Petrowitsch Bergé (auch Berže) an. Trotz wiederholter Versuche fanden er und seine Übersetzer und Freunde für keine einzige Version einen Verleger, sodass die Verbreitung des Werkes ausschließlich über handschriftlich versandte Exemplare an Gesinnungsgenossen erfolgte, bis es 1924 erstmals auf Azeri-Türkisch vom Bakuer «Yeni Türk Əlifba Komitəsi» (Komitee für ein neues türkisches Alphabet) als Teil der dreibändigen Sammlung «Axundov: Əsərlər» (Akhundov: Werke) publiziert 32 und kommentiert wurde. Die erste gedruckte russische Version erschien 33 im Jahr 1940. Die erste persische Druckversion wurde 1971 von Moʾmenī 34 in Teheran in Umlauf gebracht. Sie musste, in einer Auflage von 500 35 Stück, offenbar geheim verbreitet werden. 1986 wurden die persischen 29
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Ākhūndzāde selbst wählt für seine fiktiven «Maktūbāt» den Monat Ramadan 1280 h.q. (Februar/März 1864) und für die ebenfalls fiktive «Antwort des iranischen Prinzen Djalāloddoule» den Monat Zīqʿade 1280 h.q. (April/Mai 1864). Die erste überlieferte Erwähnung der «Maktūbāt» erfolgt in einem Brief vom Juni 1866 (Akhundov, Alefbā, Brief an ʿAbd ul-Wahhāb Khān, Ende Moharram 1283 h.q., S. 89). Weitere Argumente für eine Entstehung zwischen 1863–1865 liefert Tanik (Der aserbaidschanische Autor, S.122, Fn. 848). Akhundov, Alefbā, Vereinbarung (shartnāme), undatiert, S. 90. Nachwort von Mohammadzāde zu Ākhūndzāde, Maqālāt-e Fārsī, S. haft. Zur Freundschaft der beiden siehe Rafili, Borʼba za opublikovanie, S.165. Bereits in der ersten Auflage von 1924 hat das Bakuer Forschungsteam Kollationen aus den persischen und russischen Versionen vorgenommen, die in den folgenden, alsbald von der Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Auflagen stetig überarbeitet wurden. Bis heute problemlos erhältlich ist die dritte Auflage (Mirzə Fətəli Axundov: Əsərlər, Azərbaycan SSR Elmlər Akademiyası, 3 Bde, 3. Aufl., Bakı: Elmlər Akademiyası nəşriyyatı, 1938) sowie die vierte (1958) und fünfte (1987). Im Achundov-Handschriftenarchiv in Baku (Rukopisnyj fond instituta literatury i jazyka, Akademija nauk Azerbajdžanskoj SSR, Archiv M. F. Achundova) lagern 9 vollständige Manuskripte, davon 2 azeri-türkische, 5 persische und 2 russische (Axundov: Əsərlər, 1987, S. 315). Einen Katalog des ganzen Archivs mit einer Kurzbeschreibung jedes einzelnen Blattes sowie vereinzelten Manuskript-Fotografien liefert Ibragimov, Opisanie Archiva. Für ihre unentbehrlichen Hinweise sind wir Frau Hilda Tanik (Wien) sowie Herrn Shahin Mustafaev (Baku) zu herzlichstem Dank verpflichtet. Gusejnov, G. und Klimov, A.A., Achundov, tri pisʼma, Bakı: Azərnəşr, 1940. Für weitere russische Auflagen siehe zusammenfassend Axundov: Əsərlər, 1987, S. 315. Ākhūndzāde, Maktūbāt. Kia bezieht sich auf eine persische Version der «Maktūbāt», die 1986 unter dem
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«Maktūbāt» unter dem Pseudonym «Subhdam» neu aufgelegt, wahr36 scheinlich in London. Schließlich veröffentlichte Čūbīne die «Maktūbāt» 2006 auf Persisch mit einem 265-seitigen Vorwort in Frankfurt am 37 Main. Dass die erste Publikation der «Maktūbāt» erst 46 Jahre nach dem Tode Ākhūndzādes erfolgte, hatte seine Gründe: Die unverblümte Islamkritik stieß überall auf Hindernisse. Sein zoroastrischer Freund Manak Limji Antaria beschied ihm in einem Brief, dass das Buch weder in Iran noch in Indien publiziert werden könne, weil dort der Schriftsatz von 38 Muslimen durchgeführt werde. Ākhūndzāde erkannte, dass die Publika39 tion in von Muslimen bewohnten Gebieten unmöglich war. Die fehlende Meinungsfreiheit und die religiöse Intoleranz sind auch der Grund, wieso Ākhūndzāde seine Autorenschaft zu verschleiern versuchte – nur so konnte er sich der Feindseligkeit der Beamten und der Ulema entziehen. In seinen Briefen an Vertraute betont er immer wieder, dass er als Verfasser des Schriftstücks unerkannt bleiben wolle. Zum Teil bezeichnet er 40 sein Buch in seinen Briefen deshalb als «das bekannte Schriftstück» 41 oder «das Schriftstück 1714 und 7301». Genau diese Repression und Rückständigkeit aber wollte Ākhūndzāde sein Leben lang bekämpfen und 42 «Denkern (arbāb-e khiyāl) den Weg ebnen.» Das Hauptmotiv zur Abfassung der «Maktūbāt» beschreibt er in seiner Autobiographie folgender-
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Pseudonym «Subhdam» von «Mard-i Emruz Publications» veröffentlicht worden ist (Kia, “Women, Islam and Modernity in Akhundzade's Plays and Unpublished Writings”, S. 26, Fn. 4). Gemäß «Subhdams» Vorwort zu den «Maktūbāt» seien 1971 fünfhundert Kopien geheim in Teheran gedruckt und verteilt worden (ebd., S. 28, Fn.13). Da Moʾmenīs Ausgabe (vgl. Fn.1) 1971 erschien, ist anzunehmen, dass dies die von «Subhdam» erwähnte illegal verteilte Ausgabe ist. Tanik, Der aserbaidschanische Autor, S.123, Fn. 851. Ākhūndzāde, Mīrzā Fath ʿAlī: Maktūbāt, hg. v. Bahrām Čūbīne, 3. Aufl., Frankfurt/ Main: Alborz Verlag, 2006. Akhundov, Alefbā, Brief von Manak Limji Antaria an Ākhūndzāde, unklare Datierung, S. 396, sowie ebd., Brief von Manak Limji Antaria an Ākhūndzāde vom 23. April 1876, S. 430. Ebd., Brief an Nicolai vom 6. Dezember 1872, S. 299. Der Franzose, wohl zu identifizieren mit Alphonse L.M. Nicolas (vgl. Fn. 8), wies ihn auf christliche Missionare hin, die sein Werk publizieren könnten (ebd., Brief von Nicolai an Ākhūndzāde, undatiert, S. 412). Dieses Angebot lehnte Ākhūndzāde jedoch strikt ab (ebd., Brief an Nicolai vom 15. Juni 1873, S. 307). Bis heute gehören die «Maktūbāt» zu den in Iran verbotenen Büchern, und auch in anderen muslimisch bewohnten Gebieten ist eine Publikation kaum denkbar. Ebd., Brief an den iranischen Ex-Botschafter in Tiflis ʿAlī Khān vom September 1870, S.178. Ebd., Brief an Mostashāroddoule vom 17. Dezember 1870, S.184. Ebd., S.185.
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maßen: «Das Hindernis zur Verwirklichung eines neuen Alphabets und zur Zivilisierung der Islamgemeinschaft (mellat-e eslām) ist die Religion Islam und ihr Fanatismus. Deshalb begann ich mit dem Verfassen von [Maktūbāt-e] Kamāloddoule: Ich wollte die Grundlage dieser Religion zerstören (hadm-e asās-e īn dīn), den Fanatismus beseitigen, die Völker Asiens aus dem Schlaf der Nachlässigkeit und Unwissenheit erwecken sowie die Notwendigkeit eines Protestantismus (prātestāntezm) im Islam 43 begründen.» Was das Zielpublikum der «Maktūbāt» betrifft, so geht aus einer Vereinbarung (shartnāme) hervor, dass das Buch auf Azeri-Türkisch für die osmanische Nation (mellat-e ʿosmāniyye) und auf Persisch für die iranische Nation (mellat-e īrān) sowie «überall da, wo es Persisch sprechende Menschen gibt», also in Afghanistan, Belutschistan, Khorasan und Teilen Indiens, publiziert werden soll, «außer im Territorium der russi44 schen Regierung, dorthin darf es nie geschickt werden.» In Russland sollte stattdessen eine andere Version verbreitet werden, bei der zentrale politische Begriffe dahingehend abgeändert wurden, dass zwar die Ablehnung des Islam erhalten blieb, hingegen generell regierungskritische Töne, die den Zarenhof hätten provozieren können, abgeschwächt wur45 den. An eine Herausgabe des aserbaidschanischen Originals war wiederum überhaupt nicht zu denken, die zaristische Kolonialmacht hätte eine 46 solche Gnade (wol’nost’) niemals gewährt. In allen drei Sprachen gibt sich Ākhūndzāde als bloßer Kopist der «Maktūbāt», ebenso in einem Brief an den Verleger J.A. Isakov, in dem er um eine russische sowie um zusätzliche Übersetzungen des Buches ins Französische, Deutsche und
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Ebd., Autobiografie von 1877, S. 354. Zum Begriff «Protestantismus» siehe die Übersetzung auf S.148. Ebd., Vereinbarung, undatiert, S. 90-92. Dazu Rafili, Borʼba za opublikovanie, S.174: «Unsere Durchsicht der aserbaidschanischen und der russischen Handschrift förderte eine Reihe von Unterschieden zutage: Der russische Text ist ausgeschmückter (polnee) als der aserbaidschanische, andererseits fehlen in ihm gewisse Stellen, die man in der aserbaidschanischen antrifft. Zum Beispiel werden etliche Begriffe, die Achundov sonst sehr wertvoll waren, wie Revolution, Protestantismus, Zivilisation, Despotismus, Politik, aus dem russischen Text völlig ferngehalten. Offensichtlich hatte er die Begriffe angesichts der russischen Zensurgefahr ausgetauscht; ‹Despotismus› durch ‹Persischer Schah›, ‹Religion› durch ‹Islam› usw.» Rafili, Borʼba za opublikovanie, S.169.
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Englische bittet. Im Vordergrund stand für ihn aber die Publikation der 48 persischen Version. Die gnadenlose Kritik am Islam und den scharfen Ton der «Maktūbāt» versuchte Ākhūndzāde in den Briefen an die Freunde ständig zu begründen und zu verteidigen. In einem Brief an Qarādjahdāghī, den Übersetzer seiner Komödien, weist er darauf hin, dass «die Maktūbāt-e Kamāloddoule eine Kritik (krītīkā)» und deren Verfasser Kamāloddoule «ein Kritiker (krītīkā-newīs), nicht aber ein Ratgeber und Prediger» sei, und dass «die Kritik nicht ohne Tadel, Spott und Hohn geschrieben» sei. Wenn eine Wahrheit nicht als Kritik, sondern als Predigt und Belehrung geschrieben werde, so wirke sie niemals auf die menschliche Natur ein. Er habe sein Schriftstück in dieser Form verfasst, weil es, «um die Nation zu erziehen, die Moral der Glaubensgenossen zu verbessern, die Regierung zu disziplinieren und ihre Befehle und Verbote durchzusetzen, kein nütz49 licheres Mittel als die Kritik» gebe. Er zielte auch darauf ab, mit dem in der islamischen Tradition fest verankerten Schreibstil, bei dem oberflächlich islamkonform und nur zwischen den Zeilen kritisch geschrieben wird, zu brechen und mit den «Maktūbāt» die unverschleierte Religionskritik als Bedingung für Fortschritt einzuführen: «Hätte auch ich sanft und mild und verschleiernd geschrieben, unterschiede sich mein Werk nicht von den Werken eines Mollā-ye Rūmī, Sheikh Mahmūd-e Shabestarī, ʿAbdorrahmān-e Djāmī oder 50 irgendeines anderen Mystikers von damals. Ist aus den Werken 47
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Axundov, Izbrannye, Brief an Isakov vom 12. Februar 1875, S. 47. Zu den Ängsten der russischen Verleger und ihren Ausreden, mit denen sie eine Publikation ablehnten, siehe Rafili, Borʼba za opublikovanie, S.166. Er vermag aber nicht zu erklären, weshalb offenbar auch der in London ansässige deutsche Verleger Nikolaus Trübner (1817–1884) eine Publikation der «Maktūbāt» ablehnte. Axundov, Izbrannye, Brief an Isakov vom 12. Februar 1875, S. 48. Akhundov, Alefbā, Brief an Mīrzā Mohammad Djaʿfar-e Qarādjahdāghī vom 17. April 1870, S. 206. Djalāloddīn Mohammad-e Rūmī (gest. 1273), Sheikh Mahmūd-e Shabestarī (1288– 1340) und ʿAbdorrahmān-e Djāmī (1414–1492) waren persische Dichter und Mystiker. Zu Rūmī siehe Nicholson, Reynold A.: The Mathnawi of Jalalu’ddin Rumi, 8 volumes, Leiden/London: Brill/Cambridge University Press, 1925–1940; Lewis, Frank D.: Rumi: Past and Present, East and West. The Life, Teaching, and Poetry of Jalâl al-Din Rumi, Oxford: Oneworld, 2008. Zu Shabestarī siehe Arabīlī, Elāhī: Sharh-e Golshan-e Rāz, hg. v. Mohammad-Rezā Barzgar-Khāleqī und ʿEffat Karbāsī, Teheran: Markaz-e Nashr-e Dāneshgāhī, 1997/1376 h.sh.; De Bruijn, J.T.P.: “Shabistarī”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1991, S. 72-73. Zu Djāmī siehe Losensky, Paul et al.: “Jāmi”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol XIV, New York: Encyclopaedia Iranica Foundation, 2008, S. 469-482; Algar, Hamid: Jami. New Delhi: Oxford University Press, 2013.
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dieser Personen bis heute irgendein Nutzen erwachsen? Die Wahrheit (haqīqat) liegt nämlich nicht in jenem Schreibstil, dessen sich diese Herrschaften höheren Rangs bedienten. Zwar haben sie selbst die Philosophien (fīlsūfiyyat) verstanden, doch blieb deren Erklärung für das Fußvolk der Nation (ʿāmme-ye mellat) und die Gewöhnlichen der menschlichen Gattung ängstlich und mutlos. Deshalb blieb ihre Absicht bis dahin verborgen, und aus ihren Werken zog niemand Nutzen. Auch der französische Voltaire, der englische Buckle und andere Weise Europas verstanden diese Philosophie, doch sie vermittelten sie dem Fußvolk gekonnt und in vollkommener Klarheit, ohne Angst, ohne Furcht, ohne Verschleierung und Vertuschung. Damit hauten sie auf die große Pauke und gaben das Startzeichen für Europas heutige Zivilisation. Wenn das Schriftstück 51 1714 und 7301 in dieser Art und Form, ohne Kürzung und Ergänzung, ohne Änderung und Ersetzung, ohne Verschleierung und Vertuschung publiziert werden kann, so soll es publiziert werden, wenn Ihr dem Schriftstück aber durch Änderungen und Ersetzungen Würze und Feuer nehmen, es wirkungslos und faulig machen wollt, dann nicht. Lasst also das Schriftstück, wie es ist. Vielleicht werden unsere Söhne und Nachfahren über mehr Kenntnisse und Möglichkeiten verfügen und das Schriftstück – so wie es geschrieben ist – abdrucken, um so in ganz Asien Glückseligkeit und Wohlleben der menschlichen Gattung, die heute im Ozean der Dunkelheit und Unwissenheit versunken ist, herbeizuführen. Seit der Hedschra bis heute wurde kein solches Schriftstück verfasst. Aber wird dieses gewichtige Schriftstück einmal gedruckt, so werden in jeder Ecke 52 der Welt noch gewichtigere Schriftstücke folgen.» Aufbau
Ākhūndzāde bedient sich in den «Maktūbāt» des Dialogs als Ausdrucksform und lässt zwei fiktive, befreundete Prinzen, Kamāloddoule aus Indien und Djalāloddoule aus Iran, brieflich miteinander kommunizieren, wobei Ākhūndzāde als Autor zu betrachten ist und nicht die fiktiven Brief53 schreiber. Er verleiht ihnen eine besondere Autorität, indem er sie als 51 52 53
Gemeint sind die «Maktūbāt». Akhundov, Alefbā, Brief an Mostashāroddoule vom 17. Dezember 1870, S.184-185. In einem Brief an ʿAbd ul-Wahhāb Khān vom Ende Moharram 1283 h.q. (Juni 1866) bezeichnet Ākhūndzāde die «wahren Verfasser» des Schriftstücks als in Bagdad ansässig
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Söhne zweier berühmter Herrscher ausgibt, den einen als Sohn des indischen Mogulfürsten Aurangzeb (1618–1707) und den anderen als Sohn 54 des iranischen ʿAlī Shāh Zellossoltān (1796–1855/6). Kamāloddoule, der Verfechter der liberalen Ideen, bereist Iran und berichtet seinem konservativen und religiösen Freund Djalāloddoule in einer sehr kritischen Art, worauf dieser verärgert reagiert. Die hier übersetzte, 1971 von Bāqer-e Moʾmenī aufbereitete persische Version der «Maktūbāt» beginnt mit einem Begleitbrief, in dem Ākhūndzāde sich als Kopist ausgibt und auf die negative gesellschaftliche Funkti55 on der Religion hinweist. Das «Staatsgeschick» (eqtedār-e mellatī) mit Hilfe der Religion aufrechtzuerhalten, ist nach seiner Ansicht ein Auslaufmodell. Anstelle der Religion soll nun die «Verbreitung der Wissenschaf56 ten» sowie die «Heimatliebe» gefördert werden. Die Religion soll also von Patriotismus abgelöst werden. Darauf folgt eine Art Vorrede, in der Ākhūndzāde mit einem Trick seine Leserschaft zum einen auf den Nutzen der Toleranz aufmerksam macht und zum anderen die Gründe angibt, wieso Kritik an den «Maktūbāt» vonnöten sei. Von der Kritik verspricht 57 er sich, dass sein Werk bekannt werde. Im anschließenden Abschnitt erläutert er 21 vorwiegend französische Begriffe aus Politik und Wissen58 schaft, wobei er einige davon mit russischer Aussprache wiedergibt. Bei der Definition der Begriffe «philosophe», «révolution» und «libéral» meidet er metaphysische Erklärungen und besetzt sie durchwegs weltlich. Gleichzeitig deutet er den Begriff «patriote» zum Teil islamisch, setzt «changement subit» mit dem Jüngsten Gericht gleich und greift bei der 59 Beschreibung von «penseur» auf den Koran zurück. Auf diese Begriffs-
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(Akhundov, Alefbā, S. 88-89). In den «Maktūbāt» wird Djalāloddoule als in Ägypten ansässig beschrieben (Akhundov, Maktūbāt, S. 7). ʿAlī Shāh war der Sohn von Fath ʿAlī Shāh (1769–1834). Moʾmenī weist darauf hin, dass dieser Begleitbrief nicht zum Inhalt der «Maktūbāt» gehört. Allerdings habe Ākhūndzāde vielen Menschen, denen er eine Kopie der «Maktūbāt» schickte, einen solchen Brief beigelegt (siehe Fn.1 in der Annotation von Moʾmenī zu Ākhūndzāde, Maktūbāt, S. pandj). Siehe S.143 in der Übersetzung. Dass die Vorrede ein Trick zur besseren Verbreitung des Buches ist, eröffnet er in einem Brief an den Verleger Isakov (Axundov, Izbrannye, Brief an Isakov vom 12. Februar 1875, S. 48). Dort erwähnt er, dass «der Autor sich herzhaft wünscht, dass Kritik an diesem Werk formuliert wird, weil nämlich nur Kritik dieses Werk auf der ganzen Welt zu verbreiten vermag.» (ebd., S. 49). Ākhūndzāde war des Französischen nicht mächtig (Akhundov, Alefbā, Brief an Djalāloddīn Mīrzā vom Ende September 1870, S.174). Die einzige europäische Sprache, die er beherrschte, war Russisch (ebd., Brief an Nicolai vom 6. Dezember 1872, S. 300). Siehe S.147-148 in der Übersetzung.
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erklärung folgt der erste von drei Briefen seines Protagonisten Kamāloddoule. Auf den ersten Seiten bringt dieser seine tiefste Trauer über die Rückständigkeit des iranischen Volkes zum Ausdruck und erinnert seine Leserschaft mit Pathos an die iranische Hochkultur. Die Verherrlichung des vorislamischen Iran geht dabei mit einem starken Antiarabismus einher. In Anlehnung an den iranischen Nationaldichter Ferdousi (940– 60 61 1019/1025), den er explizit materialistisch interpretiert, festigt er die Dichotomie antiker Iran vs. islamischer Iran und erklärt die Araber und das Aufkommen des Islam zur Hauptursache für den Verfall der Hoch62 kulturen Asiens. Dann kehrt er zur Gegenwart zurück und nimmt unter anderem den herrschenden Despotismus in Iran ins Visier seiner Kritik. Im zweiten Brief beklagt er zuerst die hohe Analphabetenrate in Iran und votiert für die Schriftreform. Danach greift er die Ulema an und begründet, wieso nicht Religion, sondern Vernunft die beste Quelle tugendhafter Erziehung sei. Mit naturwissenschaftlichen wie auch historischen Argumenten strebt er danach, die Existenz des zwölften, nach der schiitischen Lehre seit tausend Jahren in der Verborgenheit lebenden Imams zu widerlegen. Darauf folgt seine philosophisch-prinzipielle Religionskritik. Sie enthält unter anderem Ākhūndzādes Hauptthesen zur Ontologie, die Erörterung der Seelenfrage und das Plädoyer für einen islami63 schen Protestantismus. Im dritten Brief nimmt er die schiitischen Trauerzeremonien ins Visier, ebenso die damals neu aufgekommenen Religi64 onsgemeinschaften wie Sheikhiyye und Babismus, und ruft zur Aufhe60 61
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Zu Ferdousi siehe Khaleghi-Motlagh, Djalal et al.: “Ferdowsī”, in: Encyklopaedia Iranica, Vol. IX, ed. by E. Yarshater, New York: Bibliotheca Persica Press, 1999, S. 514-531. So bezeichnet er Ferdousi als Materialist (dahrī mazhab) und kommentiert eines seiner Gedichte mit den Worten: «Man sieht also, dass das Universum immer existierte, und immer existieren wird.» (Ākhūndzāde, Maktūbāt, S.187). Siehe auch das Kapitel «Axundov və Firdovsi» bei Məmmədzadə, Axundov və şərq, S. 65-81. Diese Stellen wurden in der Auswahl der vorliegenden Übersetzung nicht berücksichtigt, wir vertrösten auf eine demnächst erfolgende Übersetzung der gesamten persischen «Maktūbāt» ins Deutsche. Dem patriotischen Rückgriff Ākhūndzādes auf Ferdousi widmet Məmmədzadə (Axundov və şərq, S. 65-81) ein eigenes Kapitel. Siehe Übersetzung ab S.150. Zum Begriff «Protestantismus» siehe Fn. 66. Die Sheikhiyye ist eine theologische Richtung innerhalb der Zwölfer-Schia und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von Sheikh Zeinoddīn Ahmad-e Ehsāʾī (1753–1826) begründet. Kennzeichnend für sie ist ein starker Intuitionismus (MacEoin, Denis: “Shaykhiyya”, in: The Encyclopaedia of Islam, Vol. IX, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1997, S. 403-405). Der Babismus war eine aus der Scheikhiyye hervorgegangene messianische Bewegung in Iran und Irak, die unter der Führung von Seyyed ʿAlī Mohammad-e Shīrāzī, bekannt als Bāb (1819–1850), im 19. Jahrhundert entstand. Der Babismus brach um 1850 mit dem Islam und versuchte sich als eigenständige Religion zu etablieren. Nach der Hinrichtung von Shīrāzī spaltete sich der Babismus in die
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bung der Polygamie auf. Im vierten Brief, der «Antwort Djalāloddoules auf Kamāloddoule» relativiert Ākhūndzāde seine eigenen Thesen scheinbar, untermauert sie aber im Endeffekt durch die plumpe Argumentationsweise des als stur und konservativ dargestellten Djalāloddoule. Neben zahlreichen Anmerkungen (qeid) fügt Ākhūndzāde dem Buch drei weitere, kürzere Briefe hinzu, die aus der Feder eines der «gleichgesinnten Freunde Kamāloddoules» stammen sollen. Der erste gleicht dem Begleitbrief. Im zweiten wirft dieser Freund den Arabern vor, der Wissenschaft ein Ende gesetzt zu haben. Er votiert für einen persischen Patriotismus und eine menschliche Behandlung der Zoroastrier. Der dritte Brief hat das Verhältnis von Religion zu Wissenschaft und Fortschritt zum Thema. Lehre
Religion, arabische Schrift, Despotismus und die Ulema sind aus Ākhūndzādes Sicht für Irans Rückständigkeit verantwortlich. Er greift den bekanntesten Theologen Irans des 17. Jahrhunderts, Mohammad Bāqer-e Madjlesī (1627–1700), an, der die Schia in eine neue Orthodoxie geführt und sie als eine Art Großinquisitor von jeder Spur von Mystik und Philo65 sophie zu säubern versucht hatte. Ākhūndzāde ist bestrebt, den Aussagen Madjlesīs jegliche Gültigkeit abzusprechen. Die Scharia-Gebote, darunter tägliches Gebet, Ramadan und Pilgerfahrt, lehnt er aufgrund ihrer schädlichen Wirkung auf Individuum und Gesellschaft strikt ab und plädiert stattdessen für Weltbejahung und Streben nach weltlicher Prosperität. Seine Auffassung von Religion und deren Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft, die er beide nicht voneinander trennt, kommt vor allem in seinen Ansichten zur Beschaffenheit der Welt und der Seele sowie 66 in seinem Plädoyer für einen «Protestantismus» zum Ausdruck. Er legt unmissverständlich ein atheistisches bzw. materialistisches Weltbild an den Tag. Das Universum als eine Einheit existiere von selbst, habe weder
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Zweige Bahāʾī und Azalī-Bābī ab. Durchgesetzt hat sich der Bahāʾī-Glaube, der heute eine fast weltweit verbreitete Religion ist (MacEoin, D. M.: “Babism”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. III, ed. by E. Yarshater, London: Routledge & Kegan Paul, 1989, S. 309-317; siehe auch: Smith, Peter: An Introduction to the Baha’i Faith, New York: Cambridge University Press, 2008). Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988, S.126. Ākhūndzāde definiert diesen Begriff gleich selbst, vgl. Übersetzung, S.148. Für die russische Version verwendet er konsequent reformatsija. Insgesamt beschreibt er mit diesen Begriffen eine Wende von der Theologie zur Anthropologie. Ākhūndzādes Verständnis des islamischen Protestantismus verdient eine eigene Studie.
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Anfang noch Ende und sei «genauso Schöpfer (khāleq) wie Geschöpf 67 (makhlūq)». Ākhūndzāde operiert mit der in der islamischen Mystik 68 weithin verankerten Lehre der «Einheit des Seins (wahdat-e wodjūd)». Er deutet die «Einheit des Seins» pantheistisch im Sinne des Physiomonismus, d.h. als Lehre von der alleinigen Existenz und Einheit alles 69 physisch Existierenden, die einem Materialismus gleichkommt. Ākhūndzāde interpretiert dabei zahlreiche iranische Mystiker, darunter Rūmī, Shabestarī und Djāmī, materialistisch und wendet sich ge70 gen ihren verschleierten Schreibstil. Bemerkenswert ist auch, dass er aus dem Koran und den islamischen Überlieferungen die Nichtexistenz eines Gottes zu beweisen versucht. Seine Argumente sind teils logisch, 71 teils empiristisch begründet und ziehen sich durch das ganze Werk. Hinzu kommt ein psychologisch-philosophisches Argumentarium, wel72 ches Ähnlichkeiten mit Feuerbachs Projektionsthese aufweist. Er versucht der Leserschaft vor Augen zu führen, dass es der Mensch sei, der seine Attribute einem übernatürlichen Wesen zuschreibt. Mit Vehemenz sucht Ākhūndzāde, vor allem empiristisch argumentierend, die Existenz der Seele nach dem Tode zu widerlegen. Mit den fünf Sinnen könne der Mensch das «Wesen der Seele» nicht verstehen. Er ist aber der Meinung, dass es sie gibt, solange ein dazugehöriger Körper, «ein Gefäß, eine Guss73 form» vorhanden ist. Hier instrumentalisiert er bemerkenswerterweise den Universalgelehrten al-Ghazālī (1058–1111), obwohl für diesen der 74 Glaube an das Jenseits ein unumstößliches Dogma darstellt. Ākhūndzāde war getrieben von der Überzeugung, dass der Islam 67 68 69 70 71 72
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Siehe Übersetzung, S.152. Zu diesem im Verlauf der Zeit sehr unterschiedlich interpretierten und zu einem Lehrgebäude ausgebauten Konzept siehe Chittick, William: “Wahdat al-Wudjud”, in: The Encyclopaedia of Islam, Vol. XI, ed. by P.J. Bearman et al., Leiden: Brill, 2002, S. 37-39. Siehe u.a. Übersetzung ab S.150. Siehe Ākhūndzādes Brief an Mostashāroddoule, übersetzt auf S.131. Die Dichotomie Rationalismus – die alleinige Quelle der Erkenntnis ist die Vernunft – versus Empirismus – alle unsere Erkenntnisse stammen aus der Erfahrung – existiert im Gedankengebäude unseres Autors nicht. Unter der Projektionsthese ist die Behauptung zu verstehen, «dass die Menschen ihr eigenes, vervollkommnetes Wesen in ein vermeintlich außer ihnen liegendes göttliches Wesen hineinlegen bzw. in den physischen Kosmos, die Natur hineinprojizieren.» (Schlieter, Jens: Was ist Religion. Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart: Reclam, 2010, S. 91). Siehe Übersetzung ab S.163. Zu al-Ghazālīs Verwerfen der Leugnung eines Jenseits siehe Der Erretter aus dem Irrtum – al-Munqiḏ min ad-Dalāl, aus dem Arabischen übersetzt, mit einer Einleitung, mit Anmerkungen und Indices, hg. v. ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī. Hamburg: Meiner, 1988, S.16-18.
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gründlicher Reformen bedürfe. Der von ihm postulierte «Protestantismus» kommt einer säkularen, ja sogar explizit atheistischen Weltanschauung gleich. Mit Hilfe eines historisch existierenden, wenn auch überzeichneten Protagonisten entwickelt Ākhūndzāde die Idee einer gerechten politischen Herrschaft. Dieser Hasan ebn-e Mohammad ebn-e Bozorg-e Omīd-e Esmāʿīlī lebte von 1125/6 bis 1166 und war bekannt als ʿAlā Zekrehī as-Salām. Er war der vierte Herrscher und erste Imam der Nizārī-Ismailiten, die in der ungefähr hundert Kilometer nordöstlich von Teheran liegenden Bergfestung Alamut lebten. Sie waren ethnisch mehr75 heitlich Dailamiten und wurden von Ākhūndzāde so bezeichnet. Die Nizārī-Ismailiten gingen vor allem durch ihre politischen, angeblich unter Haschisch-Einwirkung begangenen Morde in die Geschichte ein. Deshalb wurden sie der europäischen Literatur als Assassinen (von arab. ḥashī76 shiyyūn «Haschischesser») bezeichnet. Die Wahl von ʿAlā Zekrehī as-Salām als Verfechter von Atheismus und Frauenemanzipation scheint dem Umstand geschuldet, dass er sich – dies ist historisch überliefert – zum «Imam der Zeit» (imām-e zamān), mithin zu dem von den Ismailiten erwarteten letzten Imam erklärte und seinen Untertanen verkündete, sie seien «von den Bürden der Scharia befreit und zur Auferstehung hingeleitet». Des Weiteren soll er, so Rashīdoddīn (1247–1318) in seinem historischen Werk «Djāmeʿ at-tawārīkh» (Sammlung von Chroniken) aus dem 13. Jahrhundert, deklariert haben, dass den «philosophischen Prinzipien» entsprechend «die Welt als ewig», «die Zeit als unendlich» und «die seelische Auferstehung, das Paradies und die Hölle und alles, was darin existiert» als allegorisch zu 77 interpretieren seien. Somit hat die von Ākhūndzāde kolportierte «Rede 75
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Die Bergfestung Alamut, errichtet in Höhe von 2000 Metern auf einem Felsgrat in der heutigen nordiranischen Provinz Qazvin gelegen, soll von einem der Dailam-Könige im Jahr 860 gebaut worden sein. 1090 wurde sie vom Begründer des ismailitischen bzw. nizārī-ismailitischen Staats, Hasan-e Sabāh (1050–1124), erobert. Er machte sie zum Zentrum seiner Bewegung, von wo gegen die Nachbarn, Seldschuken und Abbasiden, Widerstand geleistet oder Morde ausgeübt wurden. Vgl. Hourcade, Bernard: “Alamūt”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. I, ed. by E. Yarshater, London: Routledge & Kegan Paul, 1985, S. 797-801. Die Nizāriyye war ein Zweig der Ismailiten, die wiederum eine Abspaltung der Schia sind. Sie entstand Ende des 11. Jahrhunderts. Der nizārī-ismailitische Staat existierte für etwa 166 Jahre, bis die Mongolen ihm 1256 ein Ende setzten (Daftary, Farhad: Kurze Geschichte der Ismailiten. Tradition einer muslimischen Gemeinschaft. Aus dem Englischen von Kurt Maier, hg. v. Heinz Halm et al., Würzburg: Ergon, 2003, S.137-178; Siehe auch: Halm, Heinz: Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge, München: Beck, 2014). Rashīdoddīn, Fazlallāh Hamedānī: Djāmeʿ al-Tawārīkh. Qesmat-e Ismāʿīliyān wa Fāte-
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zur Aufhebung des göttlichen Rechts durch ʿAlā Zekrehī as-Salām», wiedergegeben in der vorliegenden Übersetzung ab S.175, ein historisches 78 Vorbild. Ākhūndzādes Idee eines Protestantismus geht mit einer scharfen Kritik an Mohammed einher. Diese Kritik enthält eine Reihe von Elementen, die sowohl christliche Kleriker und Orientalisten als auch Philosophen der Aufklärung gegen den islamischen Propheten geltend machten und noch heute machen, wie Frauenverachtung, zügellose Wollust, Heu79 chelei und Grausamkeit. Ākhūndzāde seziert Koranverse und überlieferte Worte und Taten des Propheten. Er nennt kein Vorbild für diese Kritik, und der jetzige Forschungsstand erlaubt auch keine Aussage darüber, ob er sich an einem orientiert haben könnte. Im Unterschied zu seinen Freunden – wie Mostashāroddoule und Malkam – konnte Ākhūndzāde der in seiner Zeit beginnenden ‚pragmatischen’ Ineinssetzung von Islam mit Wissenschaft, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten 80 und Fortschritt nur wenig abgewinnen. Er war mit größter Wahrschein-
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miyān wa Nezāriyān wa Dāʿiyān wa Rafīqān, hg. v. Mohammad-Taqī Dāneshpazhūh und Mohammad Modarresī-Zandjānī, Teheran: Bongāh-e Tardjome wa Nashr-e Ketāb, 1960/1338 h.sh., S.164-168. Der Vorwurf der Ungläubigkeit, dem die Ismailiten besonders während der AbbasidenDynastie ausgesetzt waren, ist im «Djāmeʿ at-tawārīkh» (Sammlung von Chroniken) beschrieben: «Solange die Nizariten [Nizārī-Ismailiten] dessen [der Abweichung von der Religion] nicht angeschuldigt wurden, haben die Abbasiden sie nicht besiegt.» (Rashīdoddīn, Djāmeʿ at-tawārīkh, S.168). Zeitgenössische Quellen der Nizārī-Ismailiten sind heute nicht mehr erhalten (Daftary, Farhad: Kurze Geschichte der Isamiliten. Tradition einer muslimischen Gemeinschaft. Aus dem Englischen von Kurt Maier, hg. v. Heinz Halm et al., Würzburg: Ergon, 2003, S. 162), weshalb die Rekonstruktion ihrer Lebensweise und religiösen Einstellung auf Probleme stößt. Ākhūndzādes Sichtweise auf die Nizārī-Ismailiten bzw. Dailamiten entspricht stellenweise dem Abschnitt «Zekr-e Ismāʿīliyye» (Über Ismailiten) im islamkritischen Buch «Dabistān alMaḏāhib». Zum Buch siehe Fānī, Mohsen [?]: Hāḏā Kitāb Dabistān al-Maḏāhib, [Erscheinungsort ist wahrscheinlich Indien]: Čāp-e Bandar, 1847/1264 h.q. Bobzin, Hartmut: Mohammed, München: Beck, 2000; Noth, A.: “Muḥammad 3. The Prophet’s Image in Europe and the West, A. The Image in the Latin Middle Ages”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VII, ed. by C.E. Bosworth, et al., Leiden: Brill, 1993, S. 377-381; Ehlert, Trude: “Muḥammad 3.: The image in medieval popular texts and in modern European literature”, in: ebd., S. 381-387. Ein Beispiel, wie noch heute vergleichbare Kritik an Mohammed formuliert wird und zu politischer Verfolgung führt, ist Abdel-Samad, Hamed: Mohamed – Eine Abrechnung, München: Droemer, 2015. Mostashāroddoule machte sich diese Herangehensweise in seinem Werk «Yek Kalame» (Ein Wort), bekannt auch als «Rūh al-Islam» (Die Seele des Islam), zu Nutze. Aus dem Koran und den Überlieferungen leitete er Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ab. Siehe zum Buch: Mostashāroddoule-Tabrīzī, Mīrzā Yūsof Khān: Yek Kalame wa Yek Nāme, hg. v. Seyyed-Mohammad-Sādeq Feiz, Enteshārāt-e Sabāh, 2003-4/ 1382 h.sh. [erste Publikation 1870/1]. Ākhūndzāde kritisiert in einem Brief an Mosta-
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lichkeit der erste iranische Intellektuelle seiner Zeit, der Religion ausdrücklich als das Kernproblem ansah und nicht bloß ihre Loslösung von Wissenschaft und Philosophie forderte, sondern sie als unvereinbar mit Erkenntnisfortschritt erachtete: «Was ist da zu tun? Welche Schuld soll denn der Autor haben, wenn Glaube und Religion mit Wissen und Weisheit nicht in Einklang zu bringen sind? Hat ein Mensch Glaube und huldigt der Religion, so zählt er nicht als Wissender und Weiser, und verfügt er über Wissen und Weisheit, so wird er nicht religiös sein und fromm! Wer sich Religion und Glauben wünscht, soll sich nicht in der Wissenschaft tummeln, und wer sich Erkenntnis wünscht, wird sich notgedrun81 gen von Religion und Glaube trennen müssen.» Das religionskritische und philosophische Gedankengut dieses außergewöhnlichen Autors sei folgendermaßen zusammengefasst: Ākhūndzāde erteilt jeglicher Metaphysik eine klare Absage, lehnt die Existenz eines Gottes ab und deklariert Religion als schadhaftes Menschenwerk. Dabei bedient er sich empiristischer, naturalistischer und rationaler Argumente. Er ist der festen Überzeugung, dass Religion mit Wissenschaft und Fortschritt unvereinbar ist, und ruft deshalb – «aus Liebe zur 82 Menschheit!» – zur Abkehr von Religion und zur Zuwendung zur 83 Wissenschaft auf. Vorbemerkung zur Übersetzung Für die Übersetzung wurden gezielt die Hauptthesen Ākhūndzādes zur Ontologie, Seelenfrage und zum Verhältnis der Religion zu Wissenschaft und Fortschritt ausgewählt. Präsentiert werden weiter sein Entwurf eines islamischen Protestantismus und seine Kritik an den Ulema und dem Propheten Mohammed. Soweit als möglich wurde dabei die Reihenfolge in den «Maktūbāt» berücksichtigt. Da Ākhūndzāde allerdings öfters ein
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shāroddoule «Yek Kalame». Er vertritt die Meinung, die Scharia könne «keine Quelle der Gerechtigkeit» sein, ebensowenig wie aus ihr Menschenrechte abgeleitet werden könnten. Auch könne durch eine solche Herangehensweise nicht die französische Verfassung adaptiert werden: «Sie denken, man könne, sich auf die Scharia-Vorschriften stützend, die Verfassung Frankreichs im Orient (mashreq zamīn) realisieren. Unmöglich! Unrealistisch!» (Ākhūndzādes Brief an Mostashāroddoule vom 8. November 1875, zitiert nach Ādamiyat, Andīshehā, S.158). Allgemein zu dieser Herangehensweise bei Malkam siehe Ādjūdānī, Mashrūte-ye Irānī, S. 281-362. Siehe S.194 in der Übersetzung. Siehe S.180 in der Übersetzung. In den ganzen «Maktūbāt» gibt es nur eine Stelle, in der Ākhūndzāde seine antireligiöse Haltung relativiert, indem er betont, er wolle nicht alle Menschen zu Atheisten erziehen (vgl. die Übersetzung, S.195).
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Thema an verschiedenen Orten seines Werks behandelt, konnte sie nicht immer eingehalten werden. Die Übersetzung erfolgt auf Grundlage der persischen Ausgabe von 84 Moʾmenī. Darauf beziehen sich die in eckigen Klammern eingefügten Seitenzahlen. Die Abschnitte dienen der besseren Übersicht und wurden von den Übersetzern mit paraphrasierenden Zwischentiteln versehen. In ausgewählten Fällen wurden Kollationen aus anderssprachigen Versionen beigefügt und ebenfalls in eckige Klammern gesetzt. Sie entstammen, wenn nicht anders bezeichnet, der russischen Ausgabe von Mehbaly Ka85 sumov. Bei Koranversen wird, abgesehen von kleinen formalen Ände86 rungen, die Übersetzung Bobzins wiedergegeben. Gedichte sowie arabische Textstellen werden kursiv hervorgehoben. Ākhūndzāde unterlegt seine Aussagen mit zahlreichen persischen Gedichten, deren Autoren er im Normalfall nicht nennt. Falls wir sie Dichtern zuordnen konnten, wird dies vermerkt. Arabische Namen und Begriffe aus dem persischen Originaltext werden mit persischer Transkription wiedergegeben, in den Annotationen hingegen sind sie wie gewohnt arabisch transliteriert. Russische Textstellen sind nach der DIN-Normierung transliteriert, aserbaidschanische werden vom kyrillischen ins heute gängige lateinisch-basierte Alphabet übertragen.
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Ākhūndzāde, Mīrzā Fath ʿAlī: Maktūbāt, hg. v. Bāqer-e Moʾmenī, Täbris: Enteshārāt-e Ehyāʾ, 1971/1350 h.sh. Moʾmenī bediente sich als Grundlage einer handschriftlichen persischen Fassung aus der iranischen Nationalbibliothek und zog zur Kollation zwei weitere Versionen bei, nämlich eine azeri-türkische (wahrscheinlich Əsərlər, 3 Bde., Bakı: Elmlər Akademiyası nəşriyyatı, 1958–1961) sowie eine tadschikische, die 1962 unter dem Titel «Matktūbhā» (Briefe) in Duschanbe herausgegeben worden sei (Vorwort von Moʾmenī zu Ākhūndzāde, Maktūbāt, S. 6). Axundov, M. F.: Izbrannye filosofskie proizvedenija, hg. v. Mehbaly Kasumov, Baku: Izdatel’stvo Akademii Nauk Azerbajdžanskoj SSR, 1953. Bobzin, Hartmut: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München: Beck, 2010.
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Maktūbāt
مكتوبات Mīrzā Fath ʿAlī-ye Ākhūndzāde Aus dem Persischen von Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder [Begleitbrief: Wie der Glaube in den Niedergang führt und warum ich nur der Überbringer dieser schlechten Botschaft bin]
[yek] Zuhanden Ihrer Exzellenz, Ihrer Majestät, der zu unterwerfen sich 1 geziemt und die zu hochachten ich gelobe! Wunschgemäß sei Ihnen das Schriftstück des Kamāloddoule zugeschickt. Dazu ein paar Bedingungen. Erstens: Lesen Sie das Schriftstück in einer ruhigen Stunde von Anfang bis Ende, nicht ohne die vorgesehene Reihenfolge einzuhalten. Zweitens: Sollten Sie sich zu der Richtigkeit (haqīqat) der Aussagen (matāleb) von Kamāloddoule bekennen, so sei Ihnen gestattet, das Schriftstück aufzubewahren. Wenn aber nicht, schicken Sie es zurück. Drittens: Sollten Sie bei einigen Aussagen die Richtigkeit anerkennen, zu anderen aber ein Widerwort haben, so wollen Sie Ihre Einwände vermittels mir dem Publikum mitteilen, damit man von Kamāloddoule eine Antwort verlange und sie Ihnen zukommen lasse. Viertens: Es ist nicht gestattet, dieses Schriftstück jemandem zu zeigen oder vorzulesen – es sei denn, Sie tun das für Menschen, [do] in deren Weisheit, Verlässlichkeit und Menschlichkeit Sie durch und durch Vertrauen haben. Fünftens: Sie dürfen niemandem ein Exemplar aushändigen, außer den Menschen, die Euch, Exzellenz, in jeder Hinsicht glaubwürdig scheinen. Sechstens: Sie dürfen niemandem den Namen des Autors kundtun, außer den Menschen, die Sie als Busenfreund betrachten. Aber was den Kopisten des Schriftstücks betrifft, so darf sein Name auf keinen Fall bekanntgegeben werden. Siebtens: Verlangen Sie von allen, die Ihrer Meinung nach zu den in Wissenschaft Bewan2 derten (rāsekhūne fī-l-ʿelm) zu zählen sind, sie mögen zu den von Kamāloddoule besprochenen Dingen – seien es die politischen oder die religiösen – eine Kritik (qerītīkā) verfassen und mir zukommen lassen. Genau 1
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Der Adressat des Briefes ist unbekannt. In einer fast identischen Variante dieses Briefes vom 4. Februar 1869 ist als Adressat der Botschafter Irans in London, Hādjdjī Sheikh Mohsen Khān, angesprochen. Beide Briefe sind nicht unterzeichnet (Akhundov, Alefbā, [S.122, Fn. 7], S.137-140). Siehe auch die Annotation von Moʾmenī zu Ākhūndzāde, Maktūbāt, [S.121, Fn.1], S. pandj). Anspielung auf den Koran, u.a. Vers 3:7.
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dies nämlich beabsichtigt Kamāloddoule. Entweder nimmt er die Kritik an, oder er lehnt sie mit Argumenten ab. Bei dieser Kritik werden aber überlieferte (naqliyye) oder aus den sakralen Texten abgeleitete (nassiyye) Argumente nicht hingenommen – ihnen wird keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Achtens: Sollte jemand nicht in der Lage sein, eine Kritik zu schreiben, so soll er mindestens den Eindruck, der ihn beim Lesen des Schriftstücks ereilte, zu Papier bringen und mir zusenden. Diese Mühe wird auch von Euch, Exzellenz, erbeten. Nun sollen – bündig und kurz – zu Euren Handen ein paar Worte über den Autor geschrieben werden. Dieser Ehrenhafte verantwortet zahlreiche Werke, liebt sein Heimatland (watan) und seine Nation (mellat). In seinem Schriftenwerk hegt Kamāloddoule keinerlei persönliche Feindseligkeit, [se] denn gegenüber Iran und der Islamgemeinschaft (mellat-e eslām) ist er keinesfalls – verhüte Gott – in Zornesmut. Immerhin wird in ganz Farangestān, das man Europa nennt, diskutiert, ob jene nichtigen Glaubensdogmen (ʿaqāyed-e bātele) zu Glückseligkeit (soʿādat) von Königtum (molk) und Nation führe, oder aber zu deren Niedergang. Alle Philosophen und Weisen jenes Erdteils sind sich darin einig, dass Glaube nichtig ist und in jeder Hinsicht zum Niedergang von Königtum und Nation führe. Mehr als andere hat sich der berühmteste von ihnen, der englische Weise namens Buckle, dessen Werk weltumfassende Geltung hat, zum Glauben tiefsinnige Überlegungen gemacht. Eine seiner Begründungen ist, dass die Nationen (mellal) Spanien, also Andalusien, sowie die Schweiz und der römische Staat – sie alle folgen dem Papst, binden sich an nichtige Glaubensdogmen und horchen den Worten von Priestern und Märchenonkeln – sich in Wissenschaft, Gewerbe sowie Staatsgeschick (eqtedār-e mellatī) immerzu, Tag für Tag, in Richtung Dekadenz und Niedertracht bewegen. Aber die anderen Nationen Europas, insbesondere England, Frankreich und das Land der Yankees (yankī donyā), die von diesem nichtigen Glauben befreit sind und Vernunft (ʿaql) und Weisheit folgen, streben in Wissenschaft, Gewerbe und Staatsgeschick Tag für Tag, [čahār] Stunde für Stunde dem Fortschritt und dem Wohlstand zu. In der heutigen Epoche, so will es der Zeitenlauf, hat das Paradies mit seinen Jungfrauen in den Augen der Menschen nicht mehr die Anziehungskraft wie einst, als man sich nach Martyrium sehnte und sich für den Erfolg der Nation (eqtedār-e mellatī) vom mächtigen Feinde töten ließ. Den Weisen der Nation obliegt es in heutigen Tagen, für das 142
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Staatsgeschick und den Schutz der Heimat vor Eroberung und Fremdherrschaft zu sorgen und die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Verhinderung des Niedergangs geboten sind. Denn Niedergang heißt Gefangenschaft, fehlende Freiheit, fehlende Unabhängigkeit, und dass all dies das Land Iran ereilen wird, ist ein Ding der fast sicheren Möglichkeit! Die Verhinderung des Niedergangs erfordert die Verbreitung der Wissenschaften in allen Bereichen. Das Saatkorn des Eifers, der Ehre, der Heimatliebe muss gesät werden in den Herzen der Menschen. Denn all dies sind mannhafte Tugenden, all dies ist Edelmut. Und die mächtigen Nationen Europas sind derzeit von solchen Tugenden geprägt. Dieses Ziel wird nie erreicht, wenn nicht die Grundlagen der religiösen Dogmen beseitigt werden (hadm-e asās-e ʿaqāyed-e dīniyye), denn diese verschleierten dem Volk den Blick und verwehrten ihm weltlichen Fortschritt (taraqqī)! Diese Meinung teilt auch der Autor der vorliegenden Schriften, Kamāloddoule. Er ist ein Liberaler (līberāl), ein Beschreiter der Wege des Fortschritts (prūqre), ein Verfechter der Zivilisation (sīwīlīze). [pandj] Dies ist der Grund, wieso er seine Erkenntnisse auf Papier gebracht hat. Auch wenn kein Wunsch zu seinen Ohren dringt, Des Boten Pflicht ist einzig, dass er die Botschaft singt. All dies ist der Grund, Kamāloddoules Schriftstück abzuschreiben – eine andere Absicht ist gar nicht vorstellbar. In Erwartung Ihrer Antwort, Fath ʿAlī [Vorrede: Über die Schädlichkeit, mit Gewalt gegen Gottlose vorzugehen, und warum ich diese ketzerische Schrift weiterleite, statt sie zu verbrennen]
[2] Eine Abschrift, übermittelt im Jahre 1280 h.q. (1863/4) durch den Kopisten des von Kamāloddoule stammenden Schreibens an einen der Religionskundigen (motasharreʿīn) der Islamgemeinschaft. Den Herren von Wissen und Weisheit ist klar, dass die Welt in keiner Epoche und Zeit frei von Gottlosen (molhed) und Ketzern (zandaqe) war noch jemals sein wird. Gegen diese Gruppe mit Härte und Zorn vorzugehen wird nicht wirksam sein, da sie nicht aus einer oder zwei Personen besteht, nicht im Inland weilt und nicht zeitlich beschränkt auftaucht, so143
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dass man sich ihrer kaum entledigen kann. Hinzu kommt ihre Anzahl, die den Bereich des Zählbaren sprengt. Wie können wir uns ihrer erwehren, wenn die Schriftsteller Frankreichs, Russlands und anderer europäischer 3 Nationen den Grund für das Aufkommen der Babis auf Laster und grundsätzliche Schwächen des iranischen Königtums zurückführen, oder gar auf die Nichtigkeit (botlān) der Religion Islam, und hierzu zahlreiche Werke verfassen und in zahlreichen Ländern der Welt veröffentlichen? Hinzu kommt, dass sie die Anstrengungen des iranischen Volkes, diese irrende Gruppe zu beseitigen, als Torheit einstufen, als Unwissenheit, als Unfähigkeit, zwischen Gut und Bös zu scheiden, als des Tadels und Spottes würdig. [3] Seitdem in Europa jedem zur menschlichen Gattung Gehörigen in der Verkündung seiner Gedanken – egal ob nichtig und verderblich, ob richtig und gesund – die Freiheit zugestanden wird, tauchen aus jedem Weltenwinkel Ketzer auf, bringen ihre Vorstellungen zu Papier und niemand hindert sie daran und trachtet nach ihrem Schaden. Der ganzen Welt sind die Werke wohlbekannt, die die Ketzer Frankreichs wie Voltaire, Renan und andere unter den Christen verbreiten, um die christliche Religion zu widerlegen. Und doch haben die Führer von Staat und Geistlichkeit bei deren Züchtigung keinerlei Härte angewandt. Weil sie erkannt haben, dass die Behandlung und Entschärfung solcherlei falscher Gedanken nicht mit Gewalt gelingt, sondern allein mit Ablehnung durch weises Widerwort, fußend auf Vernunft und Überlieferung (barāhīn-e ʿaqliyye wa naqliyye). So ging der hochrangige Imam ʿAlī ebn-e 4 Abī Tāleb – Friede sei mit ihm – gegen den Einwand (ehtedjādj) eines Ketzers nicht mit Härte vor, sondern bewog ihn mit weisen Erwiderungen, seine Einsprüche aufzugeben. Danach haben die Proteste des Ketzers – einige von ihnen waren gewiss härter formuliert als die von Kamāloddoule – in den Augen der Menschen die Gültigkeit vollends verloren. Dieser Einwand, der in der Sammlung von Sheikh Saʿīd Abū Mansūr Ah5 mad-e Tabarsī festgehalten ist, lautet wie folgt: «Einer der Ketzer ge3 4 5
Babismus war eine messianische Bewegung in Iran und Irak, die unter der Führung von Seyyed Mohammad ʿAlī-ye Shīrāzī (1819–1850) im 19. Jahrhundert zutage trat. Siehe auch S.134, Fn. 64. Der erste Imam der Zwölfer-Schia, ʿAlī ibn Abī Ṭālib (600–661). Vgl. Gleave, Robert: “ʿAlī b. Abī Ṭālib”, in: The Encyclopaedia of Islam, Three, Part 2, ed. by G. Krämer et al., Leiden: Brill, 2008, S. 62-71. Einer der berühmtesten Gelehrten der Zwölfer-Schia, Ibn Shahrāshūb (gest. ca. 1223), listete sechs seiner Werke auf, von denen nur «al-Iḥtidjādj ʿalā ahl al-ladjādj» auf uns gekommen ist. Das Buch beginnt mit den Debatten, die der Prophet Mohammed mit den Vertretern anderer Religionen gehalten hatte. Der größte Teil des Buches besteht
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langte an den Befehlshaber der Gläubigen und sagte: Gäbe es im Koran nicht diese Widersprüche (al-ekhtelāf), diese Unvereinbarkeiten (al-tanāquz), [4] so träte ich voll und ganz in Ihre Religion ein.» Auch ʿAlī ebn-e 7 Musā ar-Rezā – Gruß und Lob über ihn – hat in Anwesenheit von 8 Maʾmūn, einem mächtigen Kalifen, den Gottlosen und Ketzern nicht mit Härte und Zorn, sondern fußend auf Wissen und Weisheit geantwortet und sie damit besiegt. Wer die Sammlung von Sheikh Tabarsī gesehen und gelesen hat, ist über die Ausführlichkeit seiner Beweisführung im Bilde. Auch die anderen Imame und Religionsführer (ouliyā-ye dīn) haben in verschiedenen Epochen mit Ketzern und Gottlosen Debatten geführt und sie mit Beweisen zum Schweigen gebracht, ihre Einwände entkräftet. 9 Wenn nun der entartete Sohn von Aurangzeb seine verdorbenen Gedanken auf Papier gebracht und sich zum Ziel gesetzt hat, dem islamischen Glauben Schaden zuzufügen, so zählt auch er zu den Ketzern und Gottlosen, wie es sie ehedem schon gab und auch künftig geben wird. Doch seine nichtigen Gedanken werden dem Islam – kraft der inneren Stärke des 10 Scharia-Besitzers (be qowwat-e bāten-e sāheb-e sharīʿat) niemals Schaden zufügen können. Wie die anderen Ketzer wird er ertrinken im Meer der Anonymität, und das strahlende Licht der Scharia wird, einem weltumfassenden Sonnenglanze gleich, alle Horizonte erleuchten bis zum Weltuntergang – dann jedenfalls, wenn seinen schadhaften Gedanken eine entschlossene Antwort (djawāb-e shāfī) entgegengehalten wird, sodass diese Gedanken in den Augen der Menschen Einfluss und Geltung verlieren. Aber wenn man, statt zu antworten, schweigt oder sich für Härte und Stärke ausspricht, so erweist sich dieses Verhalten gewiss als Unfähigkeit der Ulema und der Weisen der Nation und ermutigt die Ketzer 11 erst recht. Angenommen, irgend ein ʿAmr, irgend ein Zaid erweist sich
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aus den Disputen, die die Imame und ihre Anhänger mit Gegnern der Schiiten geführt haben. Vgl. MacEoin, Denis M.: “al-Ṭabrisī”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. X, ed. by P.J. Bearman et al., Leiden: Brill, 2000, S. 39-40. Gemeint ist ʿAlī ibn Abī Ṭālib. Der achte Imam der Zwölfer-Schia (gest. 818), den al-Maʾmūn im Jahr 816 nach Merv gebracht hatte. Vgl. Bayhom-Daou, Tamima: “ʿAlī al-Riḍā”, in: The Encyclopaedia of Islam, Three, Part 3, ed. by G. Krämer, Leiden: Brill, 2009, S. 69-74. al-Maʾmūn (786–833), der Sohn von Hārūn al-Rashīd, war der siebte abbasidische Khalif. Vgl. Rekaya, Mohamed: “al-Maʾmūn”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. XI, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1991, S. 331-339. Mit dem «Sohn von Aurangzeb» ist der fiktive Prinz von Indien, Kamāloddoule, gemeint, vgl. S.133. Mit sāheb-e sharīʿat «Scharia-Besitzer» ist der Prophet Mohammed gemeint. Die Allerweltsnamen ʿAmr und Zaid stehen für eine beliebige Person. In der russischen
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als unfähig, ihnen zu antworten, gibt es nicht einen mit der Wissenschaft Vertrauten (rāsekhīn-e fī-l-ʿelm), [5] der gegen diese Unsinnigkeiten ein Widerwort – fußend auf Vernunft und Weisheit – schreiben und ihnen so die Wirkung nehmen könnte? So verfasste man überall in Europa Antworten auf Voltaire und Renan und nahm so – vor aller Augen! – den Werken die Wirkung, den Autoren die Würde. Und das Christentum weicht durch die Ketzerworte nicht zurück, sondern schreitet voran und verbreitet sich. So haben in den Augen der Menschen auch die Imame hohen Ranges die Worte der Ketzer und Gottlosen mit weisen Antworten ihrer Geltung entleert. Ja, andere Mittel gibt es nicht, denn die Veröffentlichung solcher Werke zu verhindern und deren Erwerb dem Volk zu verbieten ist keine Möglichkeit und wird nie eine sein. Als ich das Schriftstück «Maktūbāt-e Kamāloddoule» erhielt, wurde ich zuerst so zornig, dass ich gewillt war, es zu zerreißen oder zu verbrennen. Danach fragte ich mich, was für ein Nutzen aus meiner Wut zu ziehen sei. Angenommen, ich zerrisse oder verbrännte ein einzelnes der Exemplare, würde denn dadurch die Verbreitung weiterer Exemplare verhindert? Nach diesen Überlegungen gab ich mein Vorhaben auf. Nun, Ihrem Wunsch gemäß, schicke ich Ihnen dieses Schriftstück – unter der Bedingung, dass Sie es nicht unterlassen, eine Antwort zu schreiben. Deshalb habe ich dem Schriftstück diese Vorrede vorangesetzt: [6] Denken Sie an den Eifer im Sinne des Islam und behandeln Sie solche gefährlichen Gedanken nicht sorglos. Und falls durch Ihre Bemühungen eine entschlossene Antwort zu diesen Phantastereien entstünde und verbreitet würde, so schwände auch die Möglichkeit, dass der Konfession (mazhab), der Religion (dīn), dem Königtum (molk) und seinen Sitten (āyīn) Unheil zugetragen würde. Und weiter nichts (wa-s-salām). [Einige Begriffe aus der Sprache Europas]
[9] Während des Abschreibens dieser Briefe aus dem Original tauchten einige Begriffe aus der Sprache Europas auf, deren Übersetzung in die Sprache des Islam sehr schwierig schien. Deshalb werden diese Begriffe mit den Buchstaben des Islam getreu wiedergegeben, was es notwendig macht, sie vorgängig zu erläutern und die Leser mit deren echter Bedeutung vertraut zu machen. Version (Axundov, [S.121, Fn. 4], Izbrannye, S.117 u.a.) ist abwechselnd von «Iwan und Wassili» oder «Friz und Franz» die Rede.
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Erstens, despote (dīspūt): Darunter ist ein König zu verstehen, der in seinen Handlungen an kein Gesetz gebunden ist, über Eigentum und Leben der Menschen grenzenlos und umfassend verfügt und nach eigener Willkür handelt. Unter seiner Herrschaft gelten die Menschen als niedere, gemeine Knechte und sind vom Recht der Freiheit und des Menschseins gänzlich ausgeschlossen. In der arabischen Sprache wird unter Despotismus (dīspūtīzm) eine schlimme Tyrannei (estebdād) verstanden. Zweitens, civilisation (sīwīlīzāsiyūn): Darunter ist die Befreiung einer Nation aus dem Zustand der Unwissenheit und Wildheit, der Erwerb notwendiger Kenntnisse zur Lebensführung, die Erlangung einer Vollkommenheit in Wissenschaften und Industrie, die Verbesserung der Moral (akhlāq) soweit wie möglich und die Vertrautheit mit den Sitten des städtischen Lebens (tamaddon) zu verstehen. [10] Drittens, littérature (līterāter): Darunter sind jegliche Werke zu verstehen, ob Prosa oder Gedichte. Viertens, fanatique (fānātīk): Darunter sind Personen zu verstehen, deren konfessionelles (mazhabiyye) und religiöses (dīniyye) Pflichtgefühl und deren Eifer für die Glaubensgemeinschaft (taʿassobāt-e mellatī) derart ausgeprägt sind, dass sie gegenüber Gegnern sowie Menschen anderer Konfessionen und Religionen oder anderen Brauchtums heftige Feindschaft hegen, sie hassen, und, so die Gelegenheit sich ergibt, in der Aneignung deren Eigentums, Beraubung ihres Lebens und Missbrauch ihrer weiblichen Angehörigen (nāmūs) sich nicht zurückhalten und ihnen gegenüber keinerlei Mitleid haben. Fünftens, philosophe (fīlūsūf): Darunter ist eine Person zu verstehen, die in der Wissenschaft der Vernunft vollkommen ist, die die Urgründe aller Dinge entsprechend der Naturgesetze feststellt, die an ungewöhnliche Begebenheiten und Wunder, an Offenbarung und Wundertat, an Wahrsagung und Prophezeiung, an die Verwandlung wertloser in wertvolle Metalle – die sogenannte Alchemie (kīmiyā) – und dergleichen nie glauben wird; eine Person, die der Existenz von Engeln, Dschinnen, Teufeln, Dämonen und Feen keinerlei Glauben schenkt und diejenigen, die an solche Illusionen glauben, als dumm und töricht, und als die niederträchtigsten Individuen der menschlichen Gattung bezeichnet. Dem Volksmund Europas nach ist auf der Welt niemand vollkommener als der Philosoph. Sechstens, révolution (rewūlosiyūn): Darunter ist ein Zustand zu verste147
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hen, bei dem die Leute des gesetzlosen Verhaltens eines despotischen Königs überdrüssig werden, sich für einen Aufstand verbünden, den Despoten beseitigen, Gesetze im Sinne ihres Wohlergehens und ihrer Glückseligkeit (soʿādat) beschließen oder aber die Unsinnigkeit der religiösen Dogmen (ʿaqāyed-e mazhabiyye) begreifen, sich gegen die Ulema erheben und [11] entsprechend den Empfehlungen der Philosophen und dem Gebote der Vernunft neue Regeln einrichten. Siebtens, progrès (prūqre): Dies heißt, dass sich die Menschen in allen Bereichen, so zum Beispiel in Wissenschaft, Industrie und Weltanschauung (ʿaqāyed), stets nach Fortschritt sehnen und danach streben, sich von Unwissenheit und Wildheit zu befreien. Achtens, poésie (pūʾezī): Darunter ist ein Schreiben zu verstehen, das Lebensgeschichte oder Moral einer Person oder Sippe sachlich schildert. Es umfasst auch die Darstellung einer Sache oder die Beschreibung des Weltenlaufs in Gedichtform – reich an Klugheit und Wirkung. Neuntens, patriote (pātriyūt): Darunter versteht man einen Menschen, dem der Liebe zu Heimat und Nation wegen sein Leben und sein Eigentum nicht zu schade ist. Für die Interessen und die Freiheit der Heimat ist er Eiferer und Märtyrer. Diese Verhaltensweise und Eigentümlichkeit legen jeweils die eifrigen Männer an den Tag, und dazu gehört unser Prophet Mohammed – Gott segne ihn –, der zur Glückseligkeit seiner Heimat Arabien und insbesondere der Stadt Mekka, in der sein Stamm ansässig war, großartige und mühevolle Taten vollbrachte. Zehntens, changement subit (shānzhemān sobī): Darunter ist ein großes Ereignis, eine tiefgreifende Veränderung zu verstehen, die entweder im Universum (kāʾenāt) geschieht, wie das Jüngste Gericht, oder aber auf der Erde im Herrschaftsbereich des Menschen, wie Noahs Sintflut, der Niedergang des Byzantinischen Reiches oder der von Dschingis Khan verursachte Aufruhr. [12] Elftens, politique (pūlītīk): Darunter sind jene Angelegenheiten und Wissenschaften zu verstehen, die mit Regierung (saltanat) und Staat (mamlekat) beschäftigt sind und Wohl und Nutz derselben im Auge behalten. Zwölftens, protestantisme (prūtestāntīsm): Darunter ist eine Glaubensrichtung (mazhab) zu verstehen, in der alle Rechte Gottes wie auch Pflichten der Knechte abgeschafft sind und nur die Rechte der Menschen verbleiben. Die Stiftung dieser Glaubensrichtung innerhalb der Islamge148
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meinschaft geht auf die Bestrebungen von ʿAlā Zekrehī as-Salām Es12 māʿīlī zurück. Die Ketten der Scharia legtʼ er ab mit Gottes Geleit, ʿAlā Zekrehī as-Salām, der Herr seiner Zeit. Neusterdings haben sich auch einige Gruppen in Europa dieser Glaubensrichtung angeschlossen. Dreizehntens, libéral (līberāl): Darunter ist eine Person zu verstehen, die im Denken gänzlich frei ist, sich keiner religiösen Beschränkung verpflichtet sieht und den Dingen, die außerhalb des Vernunftbereichs und der Gesetzmäßigkeit der Natur liegen, keine Geltung schenkt, auch wenn die meisten Weltgemeinschaften solche übernatürlichen Erscheinungen bezeugen und Geschichtswerke und Bücher ihre Wahrhaftigkeit bestätigen. Der Liberale hegt gegenüber der Herrschaft bedachte, freie und uneingeschränkte Gedanken. [13] Vierzehntens, électricité (elektrīsīt): Darunter ist eine funkelnd-warme Kraft zu verstehen, die im Inneren aller Dinge verborgen ist. Fünfzehntens, penseur (penzūr): Darunter ist ein Philosoph oder ein dem Philosophen ebenbürtiger Weiser (hakīm) zu verstehen, ein geistreicher Denker, der Werke schreibt, die fußend auf der Vernunft aufzeigen, wo der Menschen Wohl und Übel liegt – sei es im politischen oder im Glaubensbereich. Den neuzeitlichen Philosophen Europas zufolge ist der wahre und verdienstwürdige Penseur derjenige, der beim Zeigen von Wohl und Übel der Menschen nicht vorwurfsvoll und feindselig vorgeht und sich vor einer Verbreitung seiner weisen Gedanken nicht fürchtet. Auch dem edlen Vers nach ist er mit Gelehrsamkeit begabt: Sie werden auf dem Weg Gottes kämpfen und sich nicht vor dem Tadel eines Tadlers fürchten. Das ist die Gnade Gottes, die er verleiht, an wen er will; Gott ist umfassend, wissend (Koran 5:54). Sechzehntens, charlatan (shārlātān): Darunter ist ein Pharisäer, ein demagogischer und heuchlerischer Mensch zu verstehen. Siebzehntens, parlaman (pārlemān): Es besteht aus zwei Versammlungskammern. In der einen haben die Vertreter des Volkes, in der anderen die der Adligen ihren Sitz. Alle Gesetze der Regierung werden in der ersten 12
Gemeint ist Hasan ebn-e Mohammad ebn-e Bozorg-e Omīd-e Esmāʿīlī (1125/6–1166), bekannt als ʿAlā Zekrehī as-Salām, was mit «Friede sei mit seiner Erwähnung» zu übersetzen ist. Er war der vierte Herrscher und der erste Imam der Nizārī-Ismailiten in der Festung Alamut. Siehe die S.137-138.
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Kammer beschlossen und zur Berücksichtigung in die zweite Kammer geschickt. [14] Im Falle einer Einigung der zwei Kammern werden die Gesetze vom König unterzeichnet und durchgesetzt – und der König hat keineswegs die Macht, gegen diese Gesetze vorzugehen. Achtzehntens, Xénophone, Pétrarque und Voltaire: Sie gehören zu den bekannten Philosophen Europas. Neunzehntens, chimie (shīmī): Unter dem Volke Irans ist sie bekannt als Alchemie (kīmiyā). Es ist eine Wissenschaft, die Eigentümlichkeit und Wesen der Dinge und Metalle sowie die Trennung der Legierungen fassbar macht. Sie widerspricht der im iranischen Volk verbreiteten Meinung, die Verwandlung des Wesens eines Metalls durch Anwendung dieser Wissenschaft sei möglich. 13 Zwanzigstens, estestvoznanije (ʿelm-e yestestūw): Darunter ist das Erfassen von Wesen und Natur aller Dinge zu verstehen. Einundzwanzigstens, Kopernikus und Newton: Sie gehören zu den bekannten Weisen Europas. [Die erste Weltanschauung: 14 Die Einheit des Seins im philosophischen Sinne]
[94] O Djalāloddoule! Solange du und deinesgleichen (ham-mazhabān) in Naturwissenschaft und Sternkunde nicht bewandert seid, solange ihr wegen eurem Glauben an ungewöhnliche Dinge und Wunder – unmöglich all das! – kein einziges wissenschaftliches Prinzip zurate zieht, solange werdet ihr an übernatürlichen Tand glauben, an Zauberei und Wunder, an Hexerei und Engel, Dschinnen und Teufel, Dämonen, Feen und all die Illusionen und darum immerfort in Unwissenheit harren. Dir und deinesgleichen in diesem Brief Natur- und Sternkunde beizubringen, ist nicht möglich, aber man kann die wissenschaftlichen Prinzipien in Worte fas15 sen – vielleicht werdet ihr euch darob etwas Weisheit aneignen. Wir se13 14
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Russisch für «Naturwissenschaft». Der Begriff wahdat-e wodjūd meint einen Physiomonismus und wird hier mit «Einheit des Seins» übersetzt. In der azeri-türkischen Version wählt Ākhūndzāde vücudi-vahid (z.B. Axundov, Əsərlər, 1987, Bd. 2, [S.121, Fn. 3], S. 85), in der russischen Version (z.B. Axundov, Izbrannye, S.106) wählten er und sein Co-Übersetzer Bergé panteizm (Pantheismus). Ākhūndzāde: «Einer der zeitgenössischen Philosophen Europas, der Wissenschaftler Buckle, sagte über das obige Thema in einem seiner Werke: ‹Nicht mal die himmlische Pracht mit ihrer Großartigkeit kann prahlen, sie sei jener der menschlichen Vernunft ebenbürtig.› Also musst du, o Djalāloddoule, um meine Worte verstehen zu können, die reine Vernunft als Quelle aller Begründung (sanad) und Rechtfertigung (hodjdjat)
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hen, dass dieses Universum existiert (ʿālam moudjūd ast). Dieses Seiende (moudjūd) existiert von selbst unter eigenen Gesetzen, und im eigenen Sein (dar wodjūd-e khod) benötigt es kein außenstehendes Sein. In dieser Frage [95] sind wir einig mit einer Gruppe von Vertretern der Einheit des 16 Seins (wahdat-e wodjūd), nämlich mit ʿAbdorrahmān-e Djāmī, Sheikh 17 Mahmūd-e Shabestarī, Xénophone, Pétrarque und dem Franzosen Voltaire. Wir sagen: Das ganze Universum (kāʾenāt) ist eine einheitliche (wāhede), mächtige (qādere), vollkommene (kāmele) und umfassende (mohīt) Kraft (qowwe). Das heißt, es ist ein einheitliches und vollkommenes Sein, das in unschätzbarer Vielfalt, in zahlreichsten Formen und Gestalten in Erscheinung tritt – zwangsläufig (belā ekhtiyār) und unter eigenen Gesetzen und Bedingungen. So ist es zum Beispiel sein Gesetz, dass der Mann dem Weibe beiwohnen und seinen Samenkeim in ihren Schoß legen soll, das Kind neun Monde lang wie eine Pflanze herangedeiht, dann geboren wird, zum Lebewesen wird, Luft atmet und Milch saugt, wächst und gedeiht, erst jung wird, dann alt, und dann zunichte geht, den – wie wir sagen – Tod erfährt und in die Welt der Mineralien hinübergeht. Für Lebewesen herrscht dieses Gesetz, diese Bedingung. Und was das Gesetz der Pflanzen betrifft, so gilt ebendiese Bedingung: Der Samen eines Baums muss in die Erde gepflanzt und zur ziemlichen Zeit ihm Wasser gegossen werden. Sonnenlicht und Luft sollen ihn alsdann nähren, er soll sich entwickeln, zum jungen Bäumchen werden, dann großwachsen und jahrelang leben, Früchte tragen, bald altern, vertrocknen, verfaulen, dann fallen und zunichte gehn. Für die Pflanzen gilt dieses Gesetz, dies ist also die Bedingung. Du wirst nun die Frage stellen: Woher kam der erste Keimling, das erste Samenkorn? Nun, das Universum ist eine einheitliche
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erachten – und nicht die Überlieferung (naql), die unsere Religionsführer der Vernunft vorziehen! Für tausende von Jahren sprachen sie aus egoistischem Antrieb (aghrāz-e nafsāniyye) der Vernunft Hochachtung und Gültigkeit ab, nahmen sie in dauerhafte Gefangenschaft.» Ākhūndzāde: «Seine Exzellenz ʿAbdorrahmān-e Djāmī dichtet: Es gibt nichts außer Licht im Sein und im All, Zur Erscheinung kommt das Licht auf alle Arten, überall. Wahrlich verschieden ist das Licht und seine Gestalt heißt Universum, Die Einheit ist dies, und der Rest ist Trug und Täuschung.» In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.106) lautet das Gedicht wie folgt: Meine Seele! Materie und Raum ist nur eine Substanz, Sie erscheint in vielen Formen, in großer Varianz. Gott ist diese Substanz und das Weltall seine Form, Pantheismus ist die Wahrheit und der Rest ist Illusion. Sheikh Mahmūd-e Shabestarī (1288–1340) war ein persischer Dichter und Mystiker. Siehe S.131, Fn. 50.
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und vollkommene Kraft. [96] Ein einheitliches, vollkommenes Sein, es ist von selbst der Anfang und von selbst das Ende. Weder geht ihm ein Anfang voraus, noch wird ihm je ein Ende gesetzt. Kein Nichts (ʿadam) geht 18 ihm voraus und es wird kein Ende haben. Auch Zeit gehört zu seinen Notwendigkeiten und der Ort zu seinen Eigenschaften. Wenn du nun erwiderst, dass das Sein unmöglich aus sich selbst heraus in die Sphäre der Erscheinungen treten könne, dass dieses Universum vielmehr erst den Willen (erāde) eines anderen Seins benötige, dann Folgendes: Die Existenz dieses anderen Seins – genau deshalb, weil es in der Vorstellung existiert – wäre ihrerseits vom Willen eines anderen Seins abhängig, und die Existenz jenes anderen Seins wiederum von einem anderen Sein und so weiter, und so fort – dies führt zu einer endlosen Verkettung (tasalsol), die auf keinem Boden je Wurzeln schlagen wird! Solltest du aber sagen, dass es ein Sein gibt, das Macht (qodrat) besitzt, dann musst du bedenken, dass Macht etwas ist, das existiert. Macht ist gewiss dem hiesigen Sein – dem Universum, das du mit deinen eigenen Augen siehst – zuzuschreiben. Das andere Sein ist illusionär (mouhūm) und kein naher Verwandter, kein Vetter oder sonst einer, dem man Macht zuschreiben kann. Merkwürdig ist, dass du diese Macht dem sichtbaren Sein nicht zutraust. Dir bleibt nichts anderes, als innezuhalten und mir zuzuhören, denn mehr als das Gesagte kannst du mit deinen fünf Sinnen ohnehin nicht erfahren! Jeder der Bestandteile (djozw) dieser einheitlichen, mächtigen, vollkommenen Kraft, dieses einheitlichen, mächtigen, vollkommenen Seins, die in großer Vielfalt zutage treten, als Planeten im Himmel, als 19 Erde und als jeder weitere Ausdruck des Seins – all diese Teile (zarrāt) bilden ein Ganzes (koll), und dieses Ganze ist wiederum das einheitliche Sein. Also ist doch dieses einheitliche Sein genauso Schöpfer (khāleq) wie Geschöpf (makhlūq). [Vergiss nicht, dass das Universum aus Atomen besteht, dass die Atome weder in ihrer Individualität noch in ihrer Gesamterscheinung einen Willen haben; sie erscheinen einfach und existieren gemäß den Naturgesetzen, und jedweder von bewussten Atomen geäu20 ßerte Wunsch untersteht ebenfalls den Naturgesetzen des Alls.] Und welcher Teil (zarre) wird nun einen anderen Teil [97] darum bitten, ihm 18 19 20
Ākhūndzāde: «So gehst du nicht davon aus, dass das Nichts einem illusionären Sein (wodjūd-e mouhūmī) vorausgeht oder ihm nachfolgt.» In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.108) ist hier statt von «Teilen» von «Atomen» (atomy) die Rede. Axundov, Izbrannye, S.108.
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MAKTŪBĀT
diesen oder jenen Wunsch entgegen dem offenkundigen Gesetz (qānūn-e 21 maʿlūm) zu erfüllen, welcher der Teile ist imstande, den Wunsch des anderen Teils zu erfüllen, entgegen offenkundigen Gesetzen? Lass es mich mit Beispielen erhellen: Welcher der Teile soll sich an den anderen wenden mit dem Auftrag, ein abgetrenntes Haupt mit dem Körper seines Inhabers zu verbinden – noch ein «Lebe du wieder!» dazu? Und welcher Teil ist imstande, gegen jegliches Gesetz dieses Werk zu vollziehen? Welcher der Teile soll sich an den anderen wenden mit dem Auftrag: «Schenk mir ein Alter von eintausend Jahren!»? Und welcher Teil ist imstande, gegen jegliches Gesetz diesen Wunsch zu erfüllen? Nehmen wir Sonne und Mond, die beide auch Bestandteile sind. Ihnen obliegt es gemäß dem Gesetz, aufzugehen und zu leuchten. Nun, welcher der Teile soll sich an den anderen wenden mit dem Auftrag, die Sonne zu vernichten, den Mond zu halbieren? Und welcher Teil ist imstande, gegen jegliches Gesetz diesen Auftrag zu erfüllen? Auf unserem Planeten, der Erde, herrscht das Gesetz, dass einige Lebewesen Luft atmen, andere Wasser. Welches irdische Lebewesen, das 22 Luft atmet, würde sich [im Sinne eines Atoms] an ein anderes Lebewesen wenden mit dem Wunsch, es hoch über das Himmelszelt zu tragen? Oder es auf dem Meeresgrund zu versenken? Und welches Lebewesen könnte diesen widernatürlichen Wunsch erfüllen? Welches Lebewesen, auf der Erde oder im Wasser, würde ein anderes bitten: «Bring mich vom Wasser heraus auf die Erde!» oder «Bring mich hoch in die Lüfte!» Auf unserem Planeten, der Erde, gilt das Gesetz, dass alle Lebewesen (zī hayāt) sicht- oder spürbar sind. Wenn nun Engel, Dschinne, Teufel, Dämonen und Feen zu den Substanzen unseres Planeten gehören, dann müssen sie sicht- oder spürbar sein. Falls sie Substanzen eines anderen Planeten sind, [98] können sie auf unseren nicht herunterkommen, da jeder Planet eine magnetische Kraft, eine Anziehungskraft besitzt, die die auf seiner Oberfläche lebenden Wesen daran hindert, auf die anderen Planeten zu gelangen und auf ihnen anzulanden. Nun, welcher Teil soll den anderen darum bitten, ihm irgendeinen Engel zu schicken, und ja, welcher Teil ist imstande, diese Bitte zu erfüllen? Nach dem wissenschaftlichen Prinzip ist alles Übernatürliche – das heißt alle dem Gesetze zuwiderlaufenden Angelegenheiten wie Wunder, Offenbarung, Wunder21 22
Für pers. qānūn-e maʿlūm (offenkundiges Gesetz) steht in der russischen Version estestvennye zakony (Naturgesetze) (Axundov, Izbrannye, S.108). Axundov, Izbrannye, S.108.
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tat, Zauberei, Hexerei, Wahrsagerei, Prophezeiung und Alchemie – unmöglich! Und so sind denn alle Engel und Dschinne, alle Teufel und Dämonen, Feen und dergleichen auf unserem Planeten nichts als Illusion. [Die zweite Weltanschauung: Die Einheit des Seins im mystischen Sinne und warum der Mensch Teil des Göttlichen ist]
[99] Legen wir die oben erklärte Lehre (ʿaqīde) nun beiseite und anerkennen, dass dieses Universum (ʿālam) [100] in Abhängigkeit eines vollkommenen Ganzen (wodjūd-e koll) existiert. Es ist die Quelle, und alles Seiende (moudjūdāt) [101] verhält sich zu diesem Ganzen (koll) wie ein Teil (djozw), so wie eine Welle sich verhält zum Meer, wie eine Luftblase zum Wasser oder die Schreibzeilen zur Schrift. [102] Und alle Teile sind von diesem Ganzen gesondert, denn dieses Ganze (wodjūd-e koll) ist der Stamm (asl) und die Teile sind seine Zweige (farʿ). Diese führen aber wiederum zum Stamm zurück: Das Meer beginnt zu wogen, eine Welle entsteht, sie schwindet aber und kehrt ins Meer zurück. Das Wasser bewegt sich, Blasen entstehen, treten als Wölbung hervor, stoßen aneinander und werden wieder zu Wasser. Die Springflut erhebt auf dem Gipfel Geschrei, Doch trifft sie auf die See, verstummt sie und schweigt. Das Ameisentier am Körnchen sich freut, Vor dem Kornhaufen wird es bald schamhaft und scheut. In Tat und Wahrheit sind das Ganze (koll) und der Teil (djozw) ein einheitliches Sein, das zwangsläufig (belā ekhtiyār) zutage tritt, in unzähliger Vielfalt, in Formen und Gestalten – nach dem genannten Prinzip, [103] unter eigenen Gesetzen, eigenen Bedingungen. [Warum Determinismus wahr ist]
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Seine Zwangsläufigkeit (belā ekhtiyār būdanash) kannst du an diesem Vergleich erkennen: Auch du wurdest schon Zeuge, dass ein Ungeborenes im Mutterleib mit bedeckten Augenlidern, mit verschlossenem Darmaus23
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Hier hat Ākhūndzāde eine lange Fußnote eingefügt, in der er die Unmöglichkeit der Alchemie zu beweisen sucht. Schiitische Überlieferungen zu ihrer Wirksamkeit erklärt er für haltlos und kommt zu dem Schluss: «Was die Existenz der Alchemie betrifft, so ist heute anhand der chemischen Wissenschaft (ʿelm-e shīmī) erwiesen und erläutert, dass die Umwandlung des Wesens der elementaren Dinge – das heißt die Umwandlung von Kupfer, Eisen, Blei und dergleichen in Silber und Gold – ein Ding der Unmöglichkeit ist.» Bei Moʾmenī (Maktūbāt, S.102-103) steht dieser Abschnitt in einer Fußnote.
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gang oder gar mit zwei Köpfen und nur einem Rumpf heranwächst. Das heißt, irgendetwas hat verursacht, dass seine Entwicklung vom offenkundigen Gesetz abweicht. In diesem Fall besitzt weder das Ungeborene noch die illusionäre außenstehende Kraft, die als Schöpfer (āfarīnande) bekannt ist, die Wahlfreiheit (ekhtiyār), um die Ursache (sabab) zu beseitigen. Es gäbe noch tausende von schlagkräftigen Gründen für diese Aussage, deren Beschreibung in diesem kurzen Brief nicht Platz finden kann. Wer seinen Glauben nicht auf Determinismus eicht, 25 So sagte der Prophet, ist einem Zarathustrer gleich. Mit Determinismus (djabr) ist gemeint, dass das Ganze zwangsläufig zutage tritt (belā ekhtiyār būdan dar borūz-e khod), und falls jemand ihn an26 ders deuten würde, so hat er ihn nicht verstanden. Wo gibt es einen Weisen, der die Sprache der Lilie spricht, 27 Und der sie fragt, wieso sie ging und wiederkam ans Licht? Jeder wahre Weise bekäme, so er die Sprache der Lilie verstünde, diese Antwort von ihr zu hören: Weder beim Kommen noch beim Gehen hatte ich die Wahl (ekhtiyār). Wenn ich in beiden Fällen keine Wahl hatte, wieso stellst du dann mir die Frage nach meinem Kommen und Gehen? [Warum Schöpfer und Geschöpf dasselbe sind] 28
Somit werden wir einig mit anderen Vertretern der Einheit des Seins – 29 wie dem Brahmanen, Shams-e Tabrīzī, Mollā-ye Rūmī, dem jüdischen Spinoza und den anderen Mystikern (ʿorafā). Solcherart sprach Rūmī: 25 26
27
28 29
Ein Gedicht von Shabestarī, vgl. Shabestarī, Sheikh Mahmūd: Ketāb-e Golshan-e Rāz, hg. v. Āmīrzā ʿAbd ul-Rahīm-e Mushtāqī, Esfahān: Habl al-Matīn (undatiert), S. 40. Diese Erklärung ist in der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.108) folgendermaßen formuliert: «Hier bezieht sich Willenlosigkeit (bezwolie) nur auf die Erscheinung des Allseins in seinen verschiedenen Arten und nicht auf das Handeln der einzelnen Lebewesen (bezumnych častic).» Ein Gedicht von Hafez (1315–1390), vgl. Hāfez, Maulānā Shamsoddīn Mohammad Khādje Shīrāzī: Dīwān-e Ghazaliyāt, hg. v. Khalīl Khatīb-Rahbar, Teheran: Enteshārāt-e Safī ʿAlī Shāh, 1998 /1366 h.sh., S. 234. Hafez, dessen Wirkungsfeld Schiraz (Südiran) war, ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Dichter Irans. Vgl. Yarshater, Ehsan et al.: “Hafez”, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. XI, ed. by E. Yarshater, New York: Encyclopaedia Iranica Foundation, 2003, S. 461-507. In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.112) steht für «Vertreter der Einheit des Seins» werujuščich w panteizm (die an den Pantheismus Glaubenden). Shams-e Tabrīzī war ein persischer Mystiker und Freund von Djalāloddīn Rūmī. Vgl. Schimmel, Annemarie: “Shams-i Tabrīz(ī)”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. IX, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1997, S. 298.
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Hör auf die Flöte – wie sie erzählt, Wie sie klagt über Trennung und spricht: Seit man mich vom Röhricht schnitt, 30 Weinen Mann und Frau bei meiner Klage. Auch wenn die Teile aus dem Ganzen hervorgegangen sind, so gilt jenes Grundprinzip, jenes Gesetz, gelten jene Bedingungen, [104] die in der ersten Weltanschauung dargestellt wurden. Und dabei haben weder das Ganze noch der Teil eine Wahl (ekhtiyār). [...] Also sind Schöpfer (moudjed) und Geschöpf (moudjūd) ein einheitliches Sein, eine einheitliche, fähige und vollkommene Kraft – zwangsläufig unter ihren eigenen Gesetzen. [...] Die meisten Vertreter der Einheit des Seins teilen diese Überzeugung (ʿaqīde). Dies ist die Bedeutung der Aussage, wonach der Wahrhaftige (haqq taʿālā) ohne Ort (lā makān) ist. Etwas Ganzheitliches kann für sich keine Verortung haben. Mit anderen Worten, etwas Ganzheitliches und einziges, [das als Gottheit verstanden wird und neben dem es 31 natürlicherweise nichts anderes geben kann,] kann sich nicht irgendwo befinden. Dies ist die Bedeutung des Verses [105] Denn wir sind ihm viel näher noch als seine Halsschlagader (Koran 50:16). [Das heißt, der Mensch 32 selbst ist ein Teil des Göttlichen.] Der Freund ist näher mir, als ich mir selbst es bin, Und ich bin von ihm fern: o wundervoll Erbarmen! Was tu ich gegen ihn, von dem man sagen kann: 33 Ich bin von ihm getrennt, er ist in meinen Armen? Mein Herz hat lange Jahre verlangt nach Dschemschids Glas, Es hat gesucht bei andern, was es bei sich besaß. Die Perle, die der Muschel der Raumwelt sich entwand, Sucht’ es bei den verloren gegangenen am Strand. 30 31 32 33
Übersetzt nach Gölpinarli & Ergenekon: Rumi, Dschalaluddin: Das Mesnevi. Aus dem Persischen und Türkischen von Abdülbaki Gölpinarli und Nuri Ergenekon, Bern: O.W. Barth, 1997, S.17. Axundov, Izbrannye, S.114. Ebd., S.114. Bei Moʾmenī steht dieses Gedicht von Saʿdī (1213/1219–1292) in einer Fußnote. Übersetzt nach Bellmann: Saʿdī, Muṣliḥ ad-Dīn: Der Rosengarten. Auf Grund der Übersetzung von Karl Heinrich Graf neu bearbeitet, herausgegeben und kommentiert von Dieter Bellmann, 3. Aufl., München: Beck, 1998, S.103. Saʿdī, dessen Wirkungsfeld vor allem das südiranische Shiraz war, gehört zu den bekanntesten iranischen Dichtern und Prosaisten. Vgl. Davis, Richard: “Saʿdī”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VIII, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1995, S. 718-723.
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MAKTŪBĀT
Stets hatte der Verliebte Gott bei sich selbst im Haus 34 Er sah ihn nicht und rückte Gott fern von sich hinaus. Es ist auch die Bedeutung der Überlieferung Nicht du hast, als du warfst, geworfen, sondern Gott (Koran 8:17). [Das heißt, du selbst bist Gott, auch 35 wenn dir scheint, er sei anders als du.] Es ist auch die Auslegung von 36 37 [O Mohammed,] hätte es dich nicht gegeben, hätte es dich nicht gegeben. 38 [Das heißt, der Teil (častica) existiert untrennbar vom Ganzen (s celym).] Wenn ein Teil des Ganzen, der mit den anderen Teilen dieses Ganze bildet, zunichte ginge, dann gingen die anderen Teile ebenfalls zunichte und nichts würde mehr existieren. Es ist auch die Auslegung des Ausdrucks Wer sich selbst erkannt hat, hat gewiss seinen Schöpfer erkannt. [106] Das heißt, zwischen ihm und seinem Schöpfer (parwardegār) gibt es keinen Unterschied (djodāʾī). Wer sei39 nen Schöpfer kennen könnte, hätte sein Wesen bereits erkannt. Es ist auch die Bedeutung der Aussage Ich bin die Wahrheit (ʾanā l-haqq) von 40 Mansūr: «Ich und das Ganze stellen eine Kraft (qowwe) dar, ein einheitliches, vollkommenes, in sich mächtiges Sein.» Das heißt, die in ihm liegende Macht ist nötig für dieses einheitliche, vollkommene Sein mit all seinen offenkundigen Gesetzen – genauso wie Hitze für ein Feuer nötig und nicht von diesem zu trennen ist. Du billigst ein «Ich bin die Wahrheit!» von einem Baum, 41 Wieso billigst du es nicht von der Glückseligkeit? 34 35 36 37 38 39 40
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Bei Moʾmenī steht dieses Gedicht von Hafez in einer Fußnote. Übersetzt nach Rückert, Friedrich: Hafiz, Muhammad Schams ad-Din: Ghaselen aus dem “Diwan”, hg. v. Jalal Rostami Gooran, Bonn: Goethe & Hafis, 2008, S.19. Axundov, Izbrannye, S.114. Ebd., S.114. Der Ausdruck ist eine Anspielung auf die Überlieferung «Wenn es dich nicht gegeben hätte, hätten wir das Universum nicht geschaffen.» (Annotation von Moʾmenī zu Ākhūndzāde, Maktūbāt, S.105, Fn. 4). Axundov, Izbrannye, S.114. In einem Brief vom 2. April 1871 hat Ākhūndzāde diese Stelle seinem Freund Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule beigelegt, damit er sie den «Maktūbāt» hinzufüge (Akhundov, Alefbā, S. 215). In einigen Versionen der «Maktūbāt» lautet dieser arabische Ausdruck ʾanā Allāh (Annotation von Moʾmenī zu Ākhūndzāde, Maktūbāt, S.106, Fn. 2). In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.114) ist er mit ja estʼ bog (Ich bin Gott) wiedergegeben. Mit Mansūr ist der 922 wegen seinen Ansichten hingerichtete Mystiker al-Ḥallādj gemeint. Vgl. Massignon, Louis: “al-Ḥallādj”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. III, ed. by B. Lewis, Leiden: Brill, 1971, S. 99-104. Gedicht von Shabestarī. Vgl. Ketāb-e Golshan-e Rāz, S. 33. In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.115) ist das Gedicht für nicht Bibelkundige genauer ausgeführt:
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Aber es ist nicht so auszulegen, dass das Ganze (koll) vom Teil (man) getrennt war und sich dann im Teil verkörpert hat (holūl karde), oder aber dass das Ganze vom Teil getrennt war und sich dann mit ihm vereinigt 42 hat (ettehād pazīrofte). Die Verkörperung (holūl) und Vereinigung (ettehād) sind hier unmöglich, In der Einheit (wahdat) gleicht die Zweiheit (doʾī) 43 einem Irrtum. Es ist auch die Bedeutung des Gedichts von Mollā-ye Rūmī: Wenn die Farblosigkeit zum Gefangenen der Farbe wird, beginnt der eine Moses mit dem anderen Moses zu kämpfen. Wenn du die Farblosigkeit erreicht hast, bist du Besitzer des Ursprungs, – und Moses und der Pharao werden Frieden mit45 einander haben. Das heißt, Moses und der Pharao – alle beide! – wie auch Mohammed 46 und Abū Djahl – alle beide! – waren von dem gleichen Sein. Als sie sich aber von ihrem Ursprung (asl) entfernten und in die Welt des Partikularen (ʿālam-e taʿayyon) eintraten, zogen sie [107] gegeneinander in den Krieg. Sobald sie schließlich zu ihrem Ursprung zurückfanden, wurden sie wieder zu dem einheitlichen Sein, das sie gewesen waren. [...] Bei dieser zweiten Weltanschauung und bei der ersten handelt es sich in Wahrheit um die gleiche Lehre (eʿteqād). Allein die Verwendung der Fachbegriffe durch Mystiker und Philosophen führt zu Unterschieden.
42
43 45 46
Von einem Baum billigst du den Satz ‹Ich bin der Gott Israels›, den er zu Moses auf dem Berg Sinai gesagt – Weshalb billigst du denselben Satz nicht vom Glückspilz Mansūr? In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.115) steht: «Diese Worte von Mansūr dürfen nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Substanz Gottes von seiner eigenen getrennt sei und sich in Mansūr inkarniere (woploschtschatʼsja) oder sich mit ihm vereinige.» Ein Gedicht von Shabestarī, vgl. Shabestarī, Ketāb-e Golshan-e Rāz, S. 34. Übersetzt nach Gölpinarli & Ergenekon (Rumi, Das Mesnevi, S.173). Abū Djahl (gest. 624) gehörte gemäß islamischer Überlieferung zu den Mohammed aufs Schärfste bekämpfenden Mekkanern. Vgl. Rubin, Uri: “Abū Jahl“, in: The Encyclopaedia of Islam, Three, Part 3, ed. by G. Krämer et al., Leiden: Brill, 2007, S. 59-61.
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MAKTŪBĀT [Die dritte Weltanschauung: Die angebliche Erschaffung der Welt durch einen Schöpfer und die Widerlegung dieser Lehre]
Wir legen auch diese Lehre (ʿaqīde) beiseite, kehren zu den Überzeugungen (ʿaqāyed) der Religionskundigen zurück und sagen: Das Universum (ʿālam) existiert, ist in der Zeit erschaffen und hat einen Schöpfer (moudjed), der ewig ist und von anderer Beschaffenheit als die Geschöpfe. Er ist nicht sichtbar, er ist der unabhängige Mächtige [108] und hat mit all seiner Schaffenskraft (qodrat) dieses Universum aus dem Nichts er47 zeugt. Und er hat auch die Wahl (ekhtiyār), das Universum zu vernichten. In diesem Fall stellen wir uns den Schöpfer vor wie uns selbst, als Person, die Absichten hat, Freund- und Feindschaften pflegt, den es nach Ehre und Berühmtheit lüstet, als ein Wesen mit Eigensinn, das mit der Schöpfung von uns Menschen nach seinem eigenen Ruhme sann. Eine Überlieferung sagt: Ich war ein verborgener Schatz und wünschte erkannt zu werden. So erschuf ich den Menschen, um erkannt zu werden! Seine Absicht war einzig, dass wir ihn lobpreisen! Ein weiterer Beleg sagt: Die Dschinne und die Menschen schuf ich bloß, damit sie mir dienen (Koran 51:56). Und er wird unsere Lobpreisung genießen. Sobald wir durch das Loben Nährgrund seines Genusses werden, wird er mit uns zufrieden sein, uns Belohnung vergelten, uns ins Paradies geleiten. Doch sobald wir ihn nicht mehr lobpreisen, ihm sogar Nebenbuhler (sharīk) zur Seite stellen, dann wird er zürnen, wird uns hassen, die Posaune des Jüngsten Gerichts blasen, die Toten auferstehen lassen und zur Versammlung rufen, Gewichtswaage und Maßgewicht aufhängen, von uns Rechenschaft verlangen, die Serāt-Brücke spannen, uns zum Seiltanz zwingen und in die Hölle werfen, uns für immer und ewig quälen und Rache an uns nehmen [109] – erst dann wird er besänftigt sein! Doch was kommt danach? Die Religionskundigen erwidern: «Was danach kommt? Wir wissen nicht, was danach geschieht, nur bis hierhin wissen wir es.» – «Wieso aber seid ihr bis dahin im Bild, und was danach kommt, das wisst ihr nicht? Wohin wird uns diese Schlacht noch führen?» – «Woher sollen wir wissen, wohin dies führen wird? Das Ende ist eben da, bis wo wir erzählten.» Wenn nun jener Schöpfer etwas anderes ist als du, dann muss er in jeder Hinsicht anders sein. Wenn du ihn in seiner Existenz von dir selbst trennst, 47
Ākhūndzāde: «Hier schweige ich bewusst und bringe keinen Einwand, obwohl schließlich aus dem Nichts keine Materie zustande gebracht und aus dem Nichts nichts erzeugt werden kann.»
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wieso setzt du dann seine Eigenschaften (moqtaziyāt) deinen eigenen gleich? Wenn du sein Wesen als von deinem geschieden ansiehst, wie 48 kannst du ihm dann menschliche Attribute zuschreiben? Ja, mit welchem rationalen Argument kannst du dir diesbezüglich Gewissheit verschaffen? Denn wenn der Schöpfer anders ist als du, wirst du ihn niemals wahrnehmen können. So ist es dir unmöglich, ihm deine eigenen Absichten und Eigenschaften zuzuschreiben, und nichts berechtigt dich zu sagen, jene Existenz besitze diese und jene Eigenschaften, da du dir nur über Eigenschaften im Klaren bist, die du an dir selbst wahrnimmst. Eine Überlieferung sagt: Alles, was ihr in euren Gedanken gruppiert und unterscheidet, ist ein Geschöpf wie ihr selbst und geht auf euch selbst zurück. [110] Somit wirst du kaum behaupten wollen, dieser Schöpfer habe jemanden auserwählt aus dem Volke der Araber, der Juden, der Syrer, Türken oder Franzosen, damit dieser Auserwählte beliebig seine Musik spielt und du danach tanzen musst. Denn der Bedarf an einem Auserwählten existiert bloß in dir selbst! Wie kannst du nur einen solchen Bedarf dem Schöpfer zuschreiben? Auch wenn das Wesen des Schöpfers wirklich anders wäre als das des Geschöpfes, und auch wenn diese Lehre wirklich richtig wäre, stünde dir doch nicht das Recht zu, diesen Schöpfer von dir abhängig zu machen und ihn befolgen zu lassen, was du befiehlst. Nehmen wir als Beispiel an, du hättest den Wunsch, der Schöpfer halbiere den Mond – und er halbiert wirklich den Mond. Oder du wünschtest dir, er erwecke die Toten zum Leben – und er erweckt sie wirklich zum Leben. Oder du wünschtest dir, er verleihe dir ein Alter von tausend Jahren – und er verleiht es dir auch. Und nehmen wir weiter an, der Schöpfer würde dich, ohne dass du es gewünscht hättest, auserwählen und solche übernatürlichen Sachen mit deinen Kräften erscheinen lassen. Welchen Nutzen brächte es ihm? Wenn du sagen würdest, dem Schöpfer erwüchse daraus ein Nutzen, dann wäre er eigennützig und hätte eigene Absichten – doch diese Eigenschaften sind wiederum deine eigenen Eigenschaften. O Djalāloddoule! Solltest du an dieser dritten Lehre festhalten, so steht dir kein Heilrezept bei, außer innezuhalten im Reich des stillen Staunens, um alsbald zu sagen: «Ich weiß nichts», und aufzuhören, dich in all den Ungereimtheiten zu verheddern und sinnlose Behauptungen 48
Etwas anders in der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.117): «Wenn die Substanz des Schöpfers in jeder Hinsicht anders ist als eure Substanz, nach welcher Logik und Begründung attestiert ihr ihm dann ebenjene Eigenschaften, die ihr selbst habt?»
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aufzustellen. Solltest du aber sagen: «Welcher Widerspruch entsteht, wenn man dem Schöpfer Absichten zuschreibt, während man ihn als allmächtigen Erschaffer (djāʿel) erdenkt? Ja spricht denn nicht die Schöpfung des Universums (ʿālam) für seine Absicht? Wenn wir sagen, der Schöpfer besitze Absicht, besitze Willen (erāde), wo liegt das Problem?» So mag eine Antwort lauten, dass in diesem Fall dem Schöpfer Gerechtigkeit abgesprochen werden muss. Oder ist es der Gerechtigkeit eines Schöpfers etwa würdig, dass man irgendeinen ʿAmr zum Propheten erwählt und mich zu dessen Anhänger? Dass man irgendeinen Zaid zum Imam ernennt [111] und mich zu einem niederen Knecht? Welche vortrefflichen Tugenden hatten ein ʿAmr und ein Zaid vor aller Schöpfung inne, dass man sie mir vorgezogen hat? Gebührt es der Gerechtigkeit des Schöpfers, dass er zwei- bis dreimal am Tag seinen Engel Gabriel zu sich holt und ihn da- und dorthin laufen lässt, aber nicht ein einziges Mal zu mir? Und gebührt es der Gerechtigkeit des Schöpfers, dass er den Imam aus der Seite der Mutter geboren werden lässt – mich aber aus der Vagi49 na, diesem schmutzigen, unreinen Loch? Und gebührt es der Gerechtigkeit des Schöpfers, dass er ein Lebewesen als Schaf kreiert, ein anderes als Wolf, eines als Fasan und eines als Falk mit scharfem Krallenfuß? Wir müssen dem Schöpfer Größe (ʿazemat) und Allmacht (djabarūt) absprechen, denn: Erlaubt es ein gesunder Verstand, den Schöpfer des Universums dergestalt wahrzunehmen, wie unser Prophet ihn im Koran beschreibt? So zum Beispiel die Sure Tabbat: Verdorren sollen Abū Lahabs Hände, und abermals – verdorren! (Koran 111:1). Bah, bah! Schau dir unseren Gott an, der sagt: Verdorren sollen Abū Lahabs Hände, und abermals – 50 verdorren! Schau wie unser Gott über Abū Lahab flucht, wie es sonst nur Witwen tun, nur weil dieser Vernunft und Denkvermögen besaß und wusste, dass sein Neffe Mohammed vorhatte, einen Apparat zum Betrug des Volkes zu errichten und für seinen fünftätigen sinnlichen Genuss abertausende Menschen töten zu lassen, die vorzüglichen Sultanate Asiens in den Niedergang zu geleiten, den edlen Dynastien die Lichter zu lö49 50
Eine Anspielung auf die schiitische Überlieferung, die Imame würden aus der Seite und nicht aus der Vagina der Mutter geboren. Siehe Madjlesī, Mohammed Bāqer: Haqq alYaqīn, Teheran: Čāpkhāne-ye Heidarī, (undatiert), S.198. Der in der als Tabbat (Verdorre!) oder al-Masad (Die Palmfaser) bekannten 111. mekkanischen Koransure genannte Abū Lahab (Vater der Flammen) wird in der muslimischen Exegese mit einem Onkel und scharfen Gegner Mohammeds identifiziert. Vgl. Montgomery, Watt: “Abū Lahab”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. I, ed. by H.A.R. Gibb et al., Leiden: Brill, 1960, S.136-137.
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schen und die Menschen Asiens und seine eigenen Landsleute in einem Meer von Dummheit und Unglück zu versenken. Mit einem Wort: Kann jemand, der auch nur den kleinsten Verstand besitzt, einem Gott solch widerwärtige, würdelose Ziele zuschreiben, wie sie die Sure Tabbat beschreibt, und ihn als Schöpfer (āfarīnande) der erhabenen (ʿolwiyye) wie der niederen (sofliyye) Welt erachten? [112] Wenn wir tatsächlich von der Existenz eines alleinigen Schöpfers (khāleq), eines beispiellosen Gründers (āfarīnande) ausgehen, ja dann ist dieser Schöpfer und Gründer, hier kann kein Zweifel bleiben, nicht der Gott, den uns der Prophet im Koran vorstellt. Die Sure Tabbat wurde in Mekka offenbart: Als unser Prophet in Mekka war und noch nicht über Helfer, Anhänger und Einfluss verfügte, hat unser Gott sich damit begnügt, Mohammeds Gegner zu verfluchen. Nachdem aber unser Prophet nach Medina ausgewandert war und zahlreiche Helfer und Anhänger um sich scharte, seine Sache Fortschritt zeitigte und er an Macht und Kraft gewann, da änderte unser Gott sein Verhalten, legte Gerechtigkeit und Gewissen rundweg beiseite und ließ stattdessen Blutdurst und Gnadenlosigkeit freien Lauf! Er sandte Befehle wie Dann tötet die Beigeseller (Koran 9:5) und nach der Grabenschlacht (ghazwe-ye khandaq) erließ er vermittels Gabriel an den Propheten den Befehl, den jüdischen Volksstamm Banu Quraiza zu umzingeln. Der Prophet überfiel den Stamm sodann, ergriff seine Festung, fesselte Weiber und 51 Kinder und schlug den Männern den Kopf ab. Wie können wir – mit Blick auf diese Geschehnisse – den Schöpfer des Universums (khodāwand-e kāʾenāt) als gerecht ansehen? Wie können wir verkennen, dass er Absichten hegt und schändliche Eigenschaften besitzt? Wie können wir ihm Größe und Allmacht, Edelmut und Gnade zuschreiben, ihn zum Urquell von Barmherzigkeit und Wohltat erklären? Was ist das denn für ein Gott? Sind die Menschen, die er mit solcher Härte töten lässt, etwa nicht seine Geschöpfe? Damit ist wohl alles gesagt. [113] O Djalāloddoule! Mir ist klar wie Sonnenglanz, was du sagst: Die Weisheit Gottes ist nicht zu hinterfragen! Zeigt diese Aussage nun aber nicht auch, dass du auf Einwände gar keine Antworten liefern kannst? Da du Antworten nicht kennst, dieses Wissen dir fehlt? Wäre es 51
Diese Erzählung stammt aus der im achten Jahrhundert verfassten Biografie Mohammeds, vgl. Moḥammad, Ibn Isḥāq: Das Leben des Propheten. Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter, 2. Aufl., Kandern: Spohr, 1999, S.176-181. Siehe auch Raven, Wim: “Sīra”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. IX, ed. by C.E. Bosworth, et al., Leiden: Brill, 1997, S. 660-663, hier S. 661.
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nicht besser, wenn du zu all dem dich gar nicht bekänntest, von den unsinnigen Behauptungen die Hände ließest, das Schöpfungsgesetz des Schöpfers (moudjed) nicht entstelltest und manipuliertest, und wäre es nicht besser, du sähest schließlich davon ab, in deinem sinnlosen und törichten Glauben zu behaupten, der Schöpfer habe es nötig, einen Propheten zu entsenden und so die Geschöpfe rechtzuleiten? Nein, der Schöpfer hat es keineswegs nötig, einen Propheten zu entsenden! Begreifst du nicht, dass Rechtleitung (hedāyāt) und Abweichung (zelālāt) wie auch Gottesdienst (haqq parastī) und Götzendienst (bot parastī) in den Augen des Schöpfers einerlei sind? Die Zeiten rannen lange dahin, das Land der Yankees blieb weit weg auf jener Seite des Wassers und tausende von tausenden Leuten, alle wie du von der menschlichen Gattung, lebten in Wäldern wie wilde Tiere, bar und nackt – und niemals hat der Schöpfer daran gedacht, einen Propheten zu ihnen zu schicken! Und schließlich, in jüngerer Zeit, hat Christoph Kolumbus das Land der Yankees entdeckt und besetzt. Und nun haben die Yankees die Völker der alten Welt in Wissenschaft und Industrie überholt! [Warum die Seele nach dem Tode nicht weiterexistieren kann]
[150] Gibt es nebst den drei Weltanschauungen, die ich erwähnt habe 52 [und von denen zwei pantheistisch sind und eine monotheistisch ist], [151] noch eine vierte? Mit deinen Sinnesorganen kannst du jedenfalls nicht mehr darüber erfahren. Oder wie Ferdousi sich auszudrücken pflegte: Du hast Organ und Geist, kannst Seelʼ und Sprachʼ erleben, 53 Wie nur kannst du dich einem Schöpfer ergeben? In dir gibt es nur fünf Sinne. Vielleicht wird, was die zwei ersten Weltanschauungen betrifft, das Ganze (wodjūd-e koll) mit der Zeit in einer anderen Form in Erscheinung treten. Das Meer begänne anders zu wogen, im Universum (kāʾenāt) geschähe ein gewaltiges changement subit (shānzhmān sobī), und an deiner Stelle träte ein anderes Wesen in Erscheinung, ein Wesen vielleicht, das nicht fünf, sondern zehn Sinne zur Verfügung hat und mit seinen zehn Sinnen viel eher begreifen wird, was ein Schöpfer (moudjed), was eine Seele (rūh) ist. Also, mit den fünf Sinnen wirst du 52 53
Axundov, Izbrannye, S.144. Ferdousī, Abūlqāsem: Shāhnāme, hg. v. Djalāl Khāleqī-Motlaq, Bd.1, New York: Bibliotheca Persica, 1987-8/1366 h.sh., S. 3.
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nicht imstande sein, Kern (haqīqat) und Wesen (māhiyyat) der Seele zu verstehen – so wie du nicht weißt, was ein Sonnenstrahl ist. Beim Sonnenaufgang streut sich sogleich Licht über die Welt, beim Zünden einer Leuchte trifft sogleich Licht auf die Wand. Was ist dieses Licht, du weißt es nicht! Wie du nicht weißt, was Wärme, Magnetkraft und dergleichen sind. Du kannst nur wissen, dass die Seele eine Qualität (keifiyyat) ist, die den Lebewesen innewohnt und erst zustande kommt durch die Zusammensetzung der Körper (tarkīb-e adjsām) gemäß den Gesetzen und Bedingungen der Schöpfung (khelqat). Ein zusammengesetzter Organismus (djesm-e tarkībī) entsteht aus verschiedenen Organen (ālāt), aus harten [152] und weichen Gliedern. Und aus dieser organischen Mischung (ekhlāt) tritt die Qualität in Erscheinung, die man Seele nennt. Wir führen ein Beispiel an, die Entste54 hung eines Säuglings [aus einem Embryo]. Nachdem die Zusammensetzung eines Organismus, also eines Kindes, vollendet ist, nimmt es einen 55 Zustand (keifiyyat) an, den wir Seele des Lebens (rūh-e heiwānī) nennen, und in ihr existieren das Leben und all seine Voraussetzungen (moqtaziyāt). Solange dieser zusammengesetzte Organismus existiert, existiert auch die Seele. Aber wenn der zusammengesetzte Organismus aufgelöst, zerlegt und somit zerstört wird, dann geht auch die Qualität, die wir Seele nennen, zunichte. Somit wird klar, dass die Seele, was auch immer sie ist, nicht für sich allein (qāʾem be nafse) stehen kann, so wie Vernunft und Gedanke nicht für sich alleine stehen können; sie brauchen zwingend ein Gefäß, eine Gussform. Deshalb kann die Vorstellung und der Glaube (eʿteqād) unserer Ulema, die Seelen existierten nach der Trennung vom Körper ohne Gefäß und Gussform an einem speziell vorgesehenen Ort weiter, [153] einer Prüfung nicht standhalten. Sich für die Seelen nach der Trennung vom Körper feine Gestelle und Förmchen vorzustellen, wie
54 55
Axundov, Izbrannye, S.145. Ākhūndzāde: «Imam Abū Hāmed Mohammad-e Ghazālī sagte in seinem Buch namens Maznūniyye: In Wahrheit entsteht die menschliche Seele bei der Entstehung des Fötus. Das heißt, die Seele oder das Leben ist etwas, das nicht für sich alleine (qāʾem be nafse) stehen kann, sondern unbedingt eines Ortes bedarf; ebenso können Vernunft, Sonnenstrahl, Wärme, Magnetkraft und dergleichen für sich nicht alleine bestehen, sondern sind von etwas anderem abhängig (qāʾem be gheire).» Hier zieht Ākhūndzāde bemerkenswerterweise einen der bekanntesten, in Theologie, Philosophie und Mystik bewanderten und die Unsterblichkeit der Seele lehrenden muslimischen Gelehrten al-Ghazālī (1058–1111) als Gewährsmann heran. Der vollständige arabische Titel des Buches lautet «al-Maḍnūn bihī ʿalā ġair ahlihī».
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es Sheikh Ahmad-e Bahreinī bar jedes rationalen (ʿaqlī) und naturkundlichen (tabīʿī) Beweises tut, ist unsinnig. Wir führen ein Beispiel an: Du nimmst irgendwoher ein paar Metallelemente, mischst sie gemäß den Gesetzen der Wissenschaft und stellst sie neu zusammen. Daraus entsteht eine Qualität, die wir telegraphische Kraft oder telegraphische Seele (rūh-e teleghrāfī) nennen. Wenn du die Metallelemente wieder auseinandernimmst, das heißt, die Form, die du ihnen gegeben hast, zerlegst, so geht auch die telegraphische Kraft, die telegraphische Seele unter, geht zunichte. Aber was das Wesen dieser telegraphischen Kraft, dieser telegraphischen Seele ist, das weißt du nicht. Dies ist auch ein Geheimnis des einheitlichen und vollkommenen und mächtigen Seins. Um diese Worte zu verstehen, müsstest du – so wäre es ziemlich – die Elektrizität und ihre Gesetze und Notwendigkeiten kennen. Wie bedauerlich aber! Du und deine Nation, ihr kennt weder die Elektrizität noch ihre Gesetze. Ihr könnt vielleicht die Hölle gut beschreiben, kennt die Dschinne und Teufel, weil deren Existenz ausgedacht (khiyālī) und illusorisch ist. Aber ihr unternehmt nichts, um die Elektrizität zu verstehen, die vor euren Augen existiert, wahrnehmbar ist und der ganzen Welt bekannt. Doch welchen Nutzen hat die Elektrizität? Nein, die Elektrizität kann euch nicht ins Paradies führen oder euch vor der Hölle retten. Für euch zählt die jenseitige Sache und damit hat es sich. Wie habt ihr euch dem Paradies hingegeben! Da fleht ihr mit erhobenen Händen: Verheirate uns mit den Paradiesjungfrauen! In vollem Ernst wollt ihr das mit euren Augen sehen, diesen Herzenswunsch erfüllt haben! [Wie ʿAlā Zekrehī den Protestantismus im Islam stiftete]
[115 Z10] Was für einen Wert kann eine Lehre haben, die nicht auf Vernunft und Weisheit basiert? Und weshalb sollte man ihrer Beständigkeit trauen? Der Bestand der Religion Islam ist dann gewährt, wenn man mit Verstand (shoʿūr) und Wissen (maʿrefat) das Prinzip (kone) der Religion erkennt. Wenn man allein wegen der Vorzüge der islamischen gegenüber anderen Gemeinschaften (mellat) Muslim bleibt. Wenn man zwar gedämpfte Handlungen (aʿmāl-e khafīfe) wie auch gemäßigte Bräuche (rosūm-e zāhere) billigt und befolgt, allerdings Dinge wie die Tötung und Amputation sowie weitere Vorschriften, die verändert (tabdīl) und er56
Damit ist Sheikhiyye-Gründer Sheikh Zeinoddīn Ahmad-e Ehsāʾī (vgl. S.134, Fn. 64) gemeint.
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gänzt (tazyīd) werden müssten, missachtet, und wenn man sich schließlich ganz von den züchtigenden Zwängen, die man Gottesgesetze (hoqūqo-llāh) nennt, befreit. So sind die Völker von England, die Yankees und einige weitere Völker Europas protestantisch, das heißt, sie gehören dem Anschein nach (zāheran) zum Christentum, folgen aber eigentlich (bātenan) der Vernunft. Als Hasan ebn-e Mohammad ebn-e Bozorg-e Omīd-e Esmāʿīlī, be57 kannt als ʿAlā Zekrehī as-Salām [116] das frühe Erwachsenenalter erreichte, verspürte er ein Verlangen nach den Wissenschaften und den Gedanken der Philosophen, und so wurde er in Fragen sowohl der Vernunft als auch der Überlieferung (masāʾel-e ʿaqliyye wa naqliyye) ein höchst bewanderter und herausragender Gelehrter. Alsbald hielt er seine Kenntnisse auf Papier fest und brachte sie seinen Anhängern näher, womit der Protestantismus im Islam gestiftet war. Da sein Vater, Mohammad-e Bozorg-e Omīd, sehr einfach und unwissend war, bekam er vor den Ansichten (eʿteqādāt) seines Sohnes Angst und lehnte sie vor dem versammelten Volke ab. [117] Die Furcht des Mohammad-e Bozorg-e Omīd vor den Überzeugungen (ʿaqīdehā) seines Sohnes ʿAlā Zekrehī as-Salām wird wie folgt überliefert: Nadjmoddīn-e Rūdbārī gehörte zu den ismailitischen Ulema, war ein ausgezeichneter Gelehrter, vortrefflich gebildet, ansässig in Alamut, wo er auch zu unterrichten pflegte. Eines Tages wohnte ʿAlā Zekrehī as-Salām seiner Unterrichtsstunde bei und erfuhr dort dessen Auslegung des folgenden Verses: Damals, als du zu dem, welchem Gott und auch du Gnade erwiesen hatten, sagtest: ‹Halte fest an deiner Frau, und fürchte Gott!›, bei dir jedoch verborgen hieltest, was Gott offenbar macht, und dich vor dem Menschen fürchtetest, obwohl du eher Gott 58 fürchten solltest – nachdem Zaid sie nun entlassen hatte, verheirateten wir [Gott] dich mit ihr, damit für die Gläubigen darin kein Anstoß läge, die Gat tinnen ihrer Adoptivsöhne dann zur Frau zu nehmen, wenn diese sie entlassen haben. Gottes Befehl wird ausgeführt (Koran 33:37). Und so legte Rūd57
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Ākhūndzāde: «Dass er, Hasan ebn-e Mohammed, mit diesem Beinamen genannt wurde, führt darauf zurück, dass er den gleichen Vornamen wie Hasan-e Sabāh hatte. Und die Ismailiten erachten Hasan-e Sabāh, der in Iran ihre Glaubensrichtung stiftete, als ihren Imam. Die Ismailiten nannten Hasan-e Sabāh zu dessen Lebzeiten ‹unser Herr› und ‹unser Anführer›. Immer wenn nach seinem Tode sein Name erwähnt wurde, pflegte man ihm aus Ehrerbietung Frieden (salām) zu wünschen.» Zaid war ein Sklave, der später zum Adoptivsohn des Propheten Mohammed wurde. Vgl. Lecker, Michael: “Zayd b. Ḥāritha”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. XI, ed. by P.J. Bearman et al., Leiden: Brill, 2002, S. 475.
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bārī diesen Vers nun aus: As-Sādeq – Friede sei über ihn – sagte: «Als der Gesandte Gottes sich wegen einer privaten Angelegenheit zum Haus von Zaid ebn-e Hāres ebn-e Sharāhīl al-Kalbī begab, sah er dessen Frau, die gerade ihre rituelle Waschung tat, und sagte [118] sogleich zu ihr: ‹Preis Gott, der dich schuf!›. Als Zaid nach Hause kam, berichtete sie ihm vom Besuch des Gottgesandten und dass der gesagt habe: ‹Preis Gott, der dich schuf!›. Dann ging Zaid zum Propheten – Friede sei über ihn – und der Prophet sag te zu ihm: ‹Halte fest an deiner Frau und fürchte Gott!›.» Und der Vers ginge weiter. Nachdem Nadjmoddīn den Vers ausgelegt hatte, wandte er sich seinen Schülern zu und sagte: «Diese Überlieferung weist darauf hin, wie nahe unser Prophet dem Gott, dem Erhabenen (hazrat-e bārī), ist, und uns geziemt es Dank zu zeigen für dieses Glückslos (soʿādat), zu seiner Gemeinschaft zu gehören. Lobpreis sei Gott, der uns zu den Muslimen, zu den Überzeugten der Botschaft seines Propheten, des frommen Geschöpfs Mohammed – Gott segne ihn – und zu den Überzeugten des Imamats seiner edlen und reinen Kinder – Friede über sie – gemacht hat.» ʿAlā Zekrehī asSalām sagte in dieser Unterrichtsstunde kein Wort. Am folgenden Tag [119] notierte er die Erläuterung auf Papier und schickte sie Nadjmoddīn. [Der Brief des ʿAlā Zekrehī über die Lüsternheit des Propheten und die unredlichen Hintergründe des Verschleierungsverses]
«Unser Herr! Gestern wohnte ich Ihrem Unterricht bei und horchte vom Anfang bis zum Schluss, wie Sie diesem wohltuenden Vers eine Auslegung gaben. Lassen Sie mich einige Zweifel, die kraft der Auslegung in mir keimten, und einige Spitzfindigkeiten, die mir dabei auffielen, notieren und erläutern. In meinen Augen scheint es von Ruhm und Allmacht einer Gottgestalt reichlich fern zu sein, wenn er seinen Gabriel zum Propheten schickt und verlangt, der möge fürwahr die Frau von Zaid heiraten – allein zur Befriedigung von dessen sinnlicher Lüsternheit! Und obwohl der Prophet dies wegen bestimmter Vorbehalte nicht für redlich hielt, setzte er sich dem höhnischen Vorwurf dieses Ereignisses aus – davon ist er bis heute nicht befreit! – und sagte zu Zaid: Halte fest an deiner Frau, und fürchte Gott (Koran 33:37). Und der Vers ginge weiter. Reichten dem Propheten denn seine zweiundzwanzig Weiber und Sklavenmädchen nicht aus, sodass er sich auch noch mit der Frau von Zaid amüsie59
Djaʿfar al-Ṣādiq (699/700 oder 702/703–765) war der sechste Imam der Schiiten. Vgl. Hodgson, Marshall G.S.: “Djaʿfar al-Ṣādiḳ”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, ed. by B. Lewis et al., Leiden: Brill, 1965, S. 374-375.
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ren musste? Hat denn ein Gott nichts Besseres zu tun, als solchem Unsinn Achtung zu schenken? Nehmen wir an, Zaid hätte sich – sei es aus Angst, Liebe oder Habgier – von seiner Ehefrau getrennt und sie seiner Hoheit, dem Gesandten (hazrat-e rasūl), zur Vermählung angeboten. Wo60 her kann man wissen, dass seine Frau, Zainab, einverstanden ist, die Frau des Propheten zu werden? Bei der Ehescheidung stellt des Weibes Zubill keine Bedingung dar, wohl aber bei der Heirat ist ihre Zustimmung Bedingung! Wann und durch wen erfragte euer Gott von Zainab die Einwilligung, [120] sie in den Höhen des Himmels mit dem Propheten zu vermählen? Ziemlich sicher wollte Zainab, eine junge Frau, nicht einen Mann heiraten, der damals schon greis war und noch zweiundzwanzig weitere Frauen und Sklavenmädchen besaß. In der ‹Sīra anNabī› (Das Leben des Propheten) steht ausdrücklich, dass Zainab nach der Scheidung von Zaid anfangs nicht einverstanden war, Gattin des Propheten zu werden. Danach, als der Vers: Nachdem Zaid sie nun entlassen hatte, verheirateten wir [Gott] dich mit ihr (Koran 33:37) offenbart wurde, beugte sie sich, und es ist offensichtlich, dass Zainab keine andere Wahl hatte, als sich zu unterwerfen. Weiter sehen wir, dass nicht mal der Rang eines Propheten imstande ist, Neid und Eifersucht aus der Weibsnatur zu tilgen. Man denke an all die Belästigungen, die Aischa und des Propheten weitere Frauen ihm und auch einander anheimbrachten, aus Neid und Eifersucht, jeden Tag! Einmal haben sie es mit dem Schikanieren des Propheten derart übertrieben, dass die Hoheit, der Gesandte, für einen Monat ausnahmslos alle Weiber 61 verließ und sich nicht mit ihnen traf. Im Falle von Māriya Qibtiyya hat der Prophet sich diese Sklavin gar ganz verboten (harām karde būd), nur 62 63 um den Zorn von Hafsa, der Tocher von ʿOmar, zu dämpfen. Da griff 60 61
62 63
Zu Zainab s. Bosworth, Clifford E.: “Zaynab bt. Djaḥsh”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. XI, ed. by P.J. Bearman et al., Leiden: Brill, 2002, 484-485. Gemeint ist Maria die Koptin (gest. 637), die mit ihrer Schwester, Sīrīn, als Ehrengeschenk zwischen 627 und 629 zum Propheten geschickt wurde. Nach der islamischen Tradition gehörte sie zu den Lieblingsfrauen des Propheten. Ihre Schönheit und Mohammeds Leidenschaft für sie lösten bei den anderen Frauen des Propheten Eifersucht aus. Vgl. Buhl, Frants: “Māriya”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VI, ed. by C.E. Bosworth, Leiden: Brill, 1991, S. 575. Mohammed heiratete Ḥafṣa als seine vierte Frau im Jahr 625. Veccia Vaglieri, Laura: “Ḥafṣa”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. III, ed. by B. Lewis et al., Leiden: Brill, 1971, S. 63-65. Gemeint ist der zweite Kalif ʿUmar ibn al-Khaṭṭāb (592–644). Zu ʿUmar siehe Levi Della Vida, Giorgio: “ʿUmar (I) b. al-Khaṭṭāb”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. X, ed. by P.J. Bearman, Leiden: Brill, 2000, S. 818-821.
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wiederum Gabriel ins Geschehen ein und brachte den folgenden Vers: O Prophet! Warum verbietest du, was dir Gott erlaubt hat, derweil du die Zufriedenheit deiner Frauen wünschst? Gott ist bereit zu vergeben, barmherzig (Koran 66:1). [121] Kurz gesagt, die Frauen der Hoheit, des Gesandten, waren verstrickt in Laster und Verdorbenheit und kratzten an des Propheten Seele mit ihrem unwürdigen Gebaren – so der Fall, als Aischa behauptete, sie habe ihren Halsschmuck verloren, um unter diesem Vorwand mit einem jungen Araber namens Safwān eine Nacht in der Wüste 64 zu verbringen, und dergleichen Geschichten. Gott musste zur Beseitigung der weiblichen Lasterhaftigkeit seinen Gabriel mehrmals nach Medina entsenden und zahlreiche Verse offenbaren. Die Flügel und Federn des armen Gabriel zerfetzten und gingen zu Bruch vom ständigen Hin- und Herfliegen – geschuldet den unziemlichen Handlungen dieser spitzzüngigen Frauen! Es ist schon wahr, was man sagt: Wird einer durch Scharfsinn zum Prophet, so wird sein Weib mindestens zur Zanksüchtigen, wenn nicht zur Ungehorsamen – so verhielt es sich schon bei den Frauen von Adam, Noah, Lot, Abraham und Moses. Zainab jedenfalls bekam den ganzen Vorfall zu sehen und zu hören. Zweifellos konnte sie aus menschlichen Gründen nicht einverstanden sein, sich vom jungen Gatten zu trennen, um mit einem alten Mann in Ehe zu treten und sich einem so unangenehmen Leben hinzugeben, wie es Gattinnen des Propheten führten. Aber euer Gott maß Zainabs Entscheid nicht die geringste Wichtigkeit bei und verheiratete sie in den Höhen des Himmels mit der Hoheit, dem Gesandten, entsandte seinen Gabriel und benachrichtigte den Propheten über die Heirat. Solange wir in diesem Maß stupide sind, dass wir jede noch so sinnlose Rede als lobenswert preisen, ohne sie auf der Waage der Vernunft zu wiegen, solange wir all den Worten bedenkenlos Glauben schenken, ja so lange hat euer Gott Recht damit, zu reden und zu handeln wie ihm das Herz beliebt! [122] Mein Herr! Ist es nicht Zeit, dass Ihr aufwacht aus dem Schlaf der Nachlässigkeit und erkennt, dass, falls es einen Gott gibt im Universum, es sich bestimmt nicht um jenen Gott handelt, der für irgendeinen Araber namens Mohammed Frauen besorgt und ihm einladend sagt: 64
Zu Aischa und der Verleumdungsgeschichte siehe Afsaruddin, Asma: “ʿĀʾisha bt. Abī Bakr”, in: Encyclopaedia of Islam, Three, Part 2, ed. by K. Fleet et al., Leiden: Brill, 2011, S. 22-27. Zu Safwān siehe Juynboll, Gautier H.A.: “Ṣafwān b. al-Muʿaṭṭal”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VIII, ed. by C.E. Bosworth, Leiden: Brill, 1995, S. 819-820.
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‹Hab keine Angst vor Gott und nimm dir die Frau von Zaid! Amüsiere dich mit ihr! Ich stehe hinter dir, verantworte vor jedem dein Tun!› Ein solcher Glaube ist schlimmer als Götzendienst! Der Schöpfer des Universums (āfarīnande-ye kāʾenāt) ist schuldlos und frei von solchen Eigenschaften, und ihm solche zuzuschreiben ist der reinste Unglaube. Der Gott, von dem ihr sprecht, ist fabriziert (masnūʿī) und imaginiert (khiyālī) in euren Gedanken. Der Inhalt des Verses: Seine Würde ist erhabener als die Schwachköpfe sagen, sodass die Gläubigen keinen Anstoß darin sehen, 66 die Gattinnen ihrer Adoptivsöhne dann zur Frau zu nehmen (Koran 33:37) ist ein sicherer Beweis, wie der Prophet seine eigene Lasterhaftigkeit zu verschleiern versucht. Was ist verwerflich daran, wenn die Gläubigen die geschiedenen Frauen ihrer Adoptivsöhne nicht zur Frau nehmen? Es ist im Gegenteil würdiger, sie nicht zur Frau zu nehmen. Findet man für sie denn keine andere Frau? Wer ist schon auf die Frau seines Adoptivsohnes angewiesen! Wenn es wahrhaftig die Absicht wäre, dass Gläubige die geschiedenen Frauen ihrer Adoptivsöhne heiraten dürfen, dann wäre dazu bereits im Voraus ein Vers offenbart und diese Erlaubnis bekanntgegeben worden. Welchen Sinn soll es ergeben, dass der Prophet dieses Vorgehen selbst an den Tag legte und sich so selbst ins Visier des Tadels begab? [123] Zweifellos ist der Prophet nach der Befriedigung seiner Wollust reuig geworden, weil man ihn nach diesem Vorfall allseits zu tadeln begann. An der Richtigkeit seiner Prophetie kamen bei manch einem Anhänger Zweifel auf, und die Heuchler (monāfeqān) legten an Mut und Eifer zu und zwangen ihn zur Offenbarung des Verses: Mohammed ist nicht der Vater eines eurer Männer (Koran 33:40). Euer Gott fragt ihn tadelnd, weshalb er das Volk fürchte. Fürchtete er also das Volk? Das Volk, das ihn ja wegen dieser Geschichte kaum zu töten gedachte? Die Schmach und der Schimpf waren es, die er fürchtete, und die geschahen auch. Nun musste euer Gott ihn vor Schmach und Schimpf bewahren – aber er vermochte das nicht! Man hat alles gesagt, was zu sagen war, bis heute bleibt die Schmach in den Gedanken und Geschichten. Was war die Folge von: Mohammed ist nicht der Vater eines eurer Männer? [Der Vers brachte 67 ihm weder Schutz noch irgendeinen Nutzen!] Verwunderlich ist überdies, dass die erwähnten Verse euren Gott als 65 66 67
In der russischen Version (Axundov, Izbrannye, S.127) «Angst vor den Leuten». Der Teil «Seine Würde ist erhabener als die Schwachköpfe sagen» wurde von Ākhūndzāde hinzugesetzt und ist nicht Teil des Koranverses. Axundov, Izbrannye, S.128.
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einen zeigen, der sich erfreut und ergötzt am Beischlaf des Propheten mit den Frauen! So im Falle des Verleumdungsberichts (afk) über Aischa, die der Prophet nach dem Hause ihres Vaters schickte und sich weitere Treffen mit ihr verwehrte. Euer Gott spürte aber Wehmut und offenbarte Vers um Vers, im Gesamten zwölf, um Aischas Reinheit und Keuschheit wiederherzustellen. So zum Beispiel: [124] Wer da Lügenhaftes aufgebracht hat, das ist nur eine Gruppe unter euch. Denkt nicht, dass dies böse für euch ausgeht, nein, es ist gut für euch (Koran 24:11). Oder: Die bösen Frauen den bösen Männern, und die bösen Männer den bösen Frauen! Und die guten Frauen den guten Männern, und die guten Männer den guten Frauen! Diese sind von dem, was man da sagt, freigesprochen. Vergebung und großzügige Versorgung ist ihnen zugedacht (Koran 24:26). Oder: Warum habt ihr nicht, als ihr es hörtet, gesagt: ‹Es geht uns nicht an, darüber zu reden! Gepriesen seist du! Das ist eine gewaltige Verleumdung!› (Koran 24:16). Dies alles, damit der Prophet Aischa noch einmal zu sich nach Hause bringen, ihr beischlafen und denen, die sie verleumden, Bestrafung versprechen konnte! Doch diese Armen, die Aischa verleumdeten, was war ihre Schuld? Wenn eine junge Frau die Nacht mit einem Jüngling in der Wüste verbringt, kommt ja wohl jeder auf schelmische Gedanken! Sie dachten einfach logisch und waren mit den göttlichen Geheimnissen nicht vertraut. Nur euer Gott kommt nicht auf solche Gedanken! Als hät68 te er seinen Gabriel und Michael als Wächter über Aischa und Safwān postiert, damit die zwei einander nicht nahe kämen. Die Unredlichkeit liegt bei Aischa selbst. Wieso hat Aischa sich unter dem Vorwand, die Notdurft zu verrichten, vom Heerlager so entfernt, dass niemand etwas merkt? Wieso ging sie alleine auf die Suche nach der Halskette [125] und sagte keinem, man solle die Kamelsänfte warten lassen? Obwohl der Appell zur Losfahrt der Karawane schon erschallt war und das Heer im Begriff war weiterzuziehen? Kommt hinzu, dass Aischa log, ihre Kette habe sich vom Hals gelöst, sei gefallen und sie habe nichts bemerkt, und nur zu deren Suche sei sie dann zurückgekehrt. Auf der ganzen Welt gibt es keine einzige Frau, der bei klarem und wachem Geist eine so große Kette vom Halse sich löst und vor ihren Augen zu Boden fällt und sie es nicht mal merkt! Hätte es sich um einen Finger- oder Ohrring gehandelt, dann 68
Ākhūndzāde: «In der Tabarī-Geschichte steht, Safwān sei ein junger Mann von guter Statur gewesen, schön und herzensraubend.»
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käme das als Möglichkeit hin, doch diese Ausflucht dachte sich Aischa erst aus, nachdem die Geschichte geschehen war! Und: Wieso nur fiel Safwān vom Heereszug zurück, traf sogleich auf sie und nahm sie mit auf seinem Kamel? Wieso wohl stellt Safwān die Nachhut des Heeres ganz allein? Wer weiß, ob sich Aischa nicht schon ab Einbruch der Nacht von ihrem Zelt entfernte und bei Safwān geblieben ist? Und wenn Aischa 69 wirklich sündlos blieb, wieso war dann die Hoheit ʿAlī, ein Mann von Eifer, Ehre und Tapferkeit, nicht einverstanden, dass der Prophet sie noch einmal nach Hause bringt? Ja, er sagte zum Propheten: ‹Lass diese frevelhafte Frau sich in ihren Weibsgelüsten üben! Dir bleiben nicht wenige andere Frauen.› Kurz gesagt, alles deutet darauf hin, dass sie private Motive hatte, und wie kann man angesichts dieser Umstände ohne Verdacht bleiben? Falls Aischa das mit der Scharia nicht konforme Verhalten aufgrund des menschlichen Drangs an den Tag legte, so ist sie im Recht! Der Fehler lastet beim Vater, der seine junge Tochter mit einem alten Mann verheiratete, der derart massenhaft Frauen besaß, dass sie höchstens einmal im Monat zur Unterhaltung kam. Kommt hinzu, dass die Wetterverhältnisse Arabiens für erregende Beischlafslust bei Mann und Frau [126] gar förderlich sind. Nun, dieses Geschehnis, so wahr es dem unziemlichen Benehmen Aischas zuzuschreiben ist, war nun dem Propheten Anlass genug, sie in einem Übermaß an Zuneigung und Eifersucht zu überwachen, den Verschleierungsvers zu offenbaren und so die Hälfte der menschlichen Gattung, nämlich das ganze weibliche Geschlecht, bis ans Ende aller Zeiten in Geiselhaft zu nehmen. Der Vers lautet: Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren sollen. Das ist geziemender für sie. Ja, Gott weiß sehr wohl, was sie tun. Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren und ihren Schmuck nicht zeigen sollen, bis auf das, was ohnehin zu sehen ist, und dass sie sich ihren Schal um den Ausschnitt schlagen und dass sie ihren Schmuck nur ihren Gatten zeigen sollen, den Vätern und den Schwiegervätern, den Söhnen und Stiefsöhnen, den Brüdern und den Söhnen ihrer Brüder oder Schwestern, dann ihren Frauen oder ihren Sklavinnen und den Eunuchen und den Kindern, die die Scham der Frauen noch nicht kennen. Ihre Beine sollen sie nicht eins auf das andere legen, so dass man ihren dort ver -
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Gemeint ist ʿAlī ibn Abī Ṭālib, vgl. Fn. 4.
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borgenen Schmuck bemerke. Und wendet euch alle Gott reumütig zu, ihr Gläubigen! Vielleicht wird es euch dann wohlergehen (Koran 24:30-31). [127] Aischa frönte nicht als einzige den Liebeleien mit Safwān, auch die anderen jungen Frauen des Propheten zeigten – kein Wunder bei seinem Alter! – rundherum ihre Reize, um nach dessen Tod vielleicht zur 70 Wunschbraut eines seiner Gefährten zu werden. So sagte Talha immer wieder: ‹Wann endlich stirbt dieser Greis? Sodass wir es dann sind, die seine Frauen abbekommen, sie in die Arme nehmen? Sodass wir es dann sind, für die der Ringschmuck an ihren Knöcheln erklingt?› Dies, weil die Frauen des Propheten mit der Absicht, die jungen Männer zu entzücken, immer ihre Beine übereinanderschlugen und so den Ringschmuck zum Klirren brachten – bis ihnen auch dies durch den Verschleierungsvers verboten ward: Ihre Beine sollen sie nicht eins auf das andere legen, so dass man ihren dort verborgenen Schmuck bemerke (Koran 24:31). Als Talhas unverschämte Worte dem Propheten zu Ohren kamen, dachte der sich: ‹O 71 du Heuchler! Alles werde ich tun, damit sich dein übler Wunsch niemals erfüllen wird.› Er erbat von eurem Gott zuerst die Offenbarung des Verses: Der Prophet ist den Gläubigen näher als diese selbst. Seine Frauen sind ihre Mütter (Koran 33:6). Des Propheten Ehefrauen als Mütter der Gläubigen darzustellen hatte den Zweck, dass man nach seinem Tode seine Frauen nicht heiratete. Doch er merkte bald, dass die Araber diese Worte, [128] seine Ehefrauen seien ihre vermeintlichen Mütter, nicht beachten würden, und erbat deshalb von eurem Gott die Offenbarung eines anderen Verses, der nach seinem Tode den Gläubigen die Ehelichung seiner Frauen ausdrücklich für haram erklären sollte – und euer Gott, dieser willfährige Befolger aller Gebote und Verbote des Propheten, offenbarte ohne Einspruch auch diesen Vers: Ihr sollt dem Gesandten Gottes nicht lästig fallen und auch niemals seine Frau nach ihm ehelichen! Siehe, das wäre bei Gott ungeheuerlich (Koran 33:53). Und sollte im Mund des Talha und seiner Gefährten noch ein letzter Zahn nach den Frauen gegiert haben, so hatte ihn diese Offenbarung nun gezogen. [...] [131, Z7] Die Frauenverehrung des Propheten sah ich nie als schimpfliche Sache, nein, das Fehlen derselben ist vielmehr tadelnswert, 70
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Gemeint ist Ṭalha ibn ʿUbaidallah, einer der prominentesten Gefährten Mohammeds und eine der ersten acht Personen, die sich zum Islam bekannte. Vgl. Madelung, Wilferd: “Ṭalha b. ʿUbaydallah”, in: The Encyclopaedia of Islam, Three, Part 4, ed. by K. Fleet et al., 2014, Leiden: Brill, S.150-152. Das Fluchwort pedar-sūkhte, das hier mit «Heuchler» wiedergegeben wird, bedeutet wörtlich «jemand, dessen Vater verbrannt ist».
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weil die Schöpfung des Menschen auf dem Prinzip der Frauenliebe fußt und sein Fortbestand von der Freude an der Paarung abhängt. Sollte jemand wider diese Leidenschaft handeln, so ist er entweder krank oder tritt bewusst aus dem Gesetz der Schöpfung aus. So ist denn die Überlieferung: Im Islam gibt es keine Askese einzigartig. Essenz meiner Worte ist, dass übermäßige Frauenliebe der Würde der Prophetie widerspricht, so wie es würdelos ist, auf eine Frau versessen zu sein und diese unziemliche Begierde aus Hinterlist zu verbergen – bei dir jedoch verborgen hieltest, was Gott offenbar macht (Koran 33:37). [132] Und schließlich ist es würdelos, das Erobern der erwünschten Frau von dem Befehl des Schöpfers des Universums (āfarīnande-ye kāʾenāt) abhängig zu machen. All dies aber tat der Prophet! Er müsste sich doch auch selbst an den Inhalt dieses Verses halten: Sprich zu den Gläubigen, dass sie ihre Blicke senken (Koran 24:30), statt mit voller Lust zu starren auf die fremde nackte Frau und die Zierlichkeit ihres Körpers mit einem: Preis Gott, der dich schuf zu loben, um schließlich dieses würdelose Gebaren für alle Muslime zum Glaubenssatz zu machen und sich noch das Vorrecht auf ihre Frauen auszubedingen! Rechtsgelehrte (foqahā), alle, Schiiten wie Sunniten, schreiben betreffend der Eigenschaften des Propheten: So sein Blick auf eine Frau stieß und er Lust auf sie hatte, zwang dies den Mann, sich von ihr zu scheiden, und sie dem Propheten zur Heirat zu lassen. Was soll denn das? Welch riesige Schande! Jeder, Freund oder Feind, der dieses Fatwa liest, ja was denkt er über euren Propheten und über euren Gott? Die Götter anderer Gemeinschaften sind mit großen Taten befleißigt, und euer Gott befasst sich mit solch sinnleerem Zeug! [133] Mein Herr! Meine Verwunderung liegt darin begründet, dass das Fußvolk solch sinnlose Worte glaubt und die Lüsternheit des Propheten zum Beleg für dessen Nähe zum Schöpfer des Universums erklärt! Und dass man die Frage außer Acht lässt, wieso, wenn nicht wegen seiner Lüsternheit, der Prophet mit Absicht eine Frau anblickt, die gerade ihre rituelle Waschung tut, und ihr sagt: ‹Lob deiner Schönheit und Anmut. Rein ist der Gott, der dich in solcher Eleganz geschaffen.› Meine Verwunderung gilt weiter dem Umstand, dass ein so beispielloser Gelehrter, wie Sie es sind, diese Überlieferung als rühmenswert bezeichnet. Dass sie in Ihrer Sicht eine große Glückseligkeit ist und es aller Pflicht sei, für diese imaginäre Glückseligkeit noch Dankbarkeit zu hegen! Wahrlich: Falls Sie aus Überzeugung – und nicht aus Heuchelei – dem Schöpfer (khalq kon174
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ande) von Erde und Himmel dergestalt Taten anlasten, so pflichte ich Ihnen nicht bei, nein, an einen solchen Gott glaube ich nicht und einem solchen Propheten traue ich nicht. Ich erwarte, dass Sie mir auf diesen Einwand eine Antwort zusenden, fußend auf Weisheit und rationalen Argumenten (dalīlhā-ye ʿaqlī), und so meine Beruhigung herbeiführen – oder aber Sie lassen die Finger von diesem Betrug am armen Pöbel, an all den naiven Menschen, und berauben sie fortan nicht mehr der Ehre des 72 Menschseins (sherāfat-e bashariyyat).» [Die Rede des ʿAlā Zekrehī zur Aufhebung des göttlichen Rechts] 73
[135 Z1] Am siebzehnten des Monats Ramadan stieg ʿAlā Zekrehī asSalām auf die Kanzel, las erst ausdrucksstark die Freitagspredigt und hielt dann folgende Rede: «O Leute! Ich bin der Imam der Epoche und die edle Vernunft verpflichtet mich, euch auf Wohl (kheir) und Übel (sharr), auf Glückseligkeit (soʿādat) und Irrung (zelālat) hinzuweisen. Wisset und seid kundig, dass die Welt ewig (qadīm) und die Zeit unendlich (nāmotanāhī) ist. Dass Paradies und Hölle imaginär und nur illusionär sind. Dass der Jüngste Tag einer jeden Person ihr Tod ist. Dass es jedes Vernünftigen Pflicht ist – die Menschlichkeit und der gesunde Verstand verlangen das – im Inneren edel und rechtschaffen zu sein. Eine solche Person nennt man Beschreiter des Weges zur Wahrheit (mard-e rāh-e haqq). Was das Äußere betrifft, so macht er jenes Handeln zur Losung, das ihm für Lebensunterhalt und Weltliches vorteilhaft erscheint. Ab jetzt seid ihr alle befreit von der Scharia, dem göttlichen Recht (haqq-o-llāh). Von nun an seid ihr frei und von Geboten und Verboten des göttlichen Rechts gänzlich unbelastet. Erwerbet Wissen! Seid rechtschaffen! Genießt die weltlichen Gaben in diesem Leben von kaum fünf Tagen! Erwerbet euch Reichtum und Vermögen! Lasst euch nicht hemmen von irrigen Gedanken und törichtem Glauben! Seid fleißig und bemüht, euch hervorzutun unter den Völkern der Welt, mittels Wissenschaft und Industrie, mittels edler und gerechter Taten und mittels Gelehrsamkeit und Tapferkeit!» Und er fuhr fort: «O Leute! Das weibliche Geschlecht in Haft und Schleier zu halten bringt – abgesehen davon, dass es eine ungeheure Grausamkeit an dieser Hälfte der Menschheit ist – auch dem männlichen Ge72 73
Ākhūndzāde: «Eine Ergänzung des Verlegers: Die ganze Beschreibung der Zustände im Harem des Propheten haben besondere Wichtigkeit, da daraus der Grund für die Offenbarung des Verschleierungsverses an das Weibsgeschlecht klar erkennbar wird.» Zur historischen Datierung und Zuordnung dieser Rede siehe S.137-38.
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schlecht gar unermesslichen Schaden! Ab heute nehmt ihr das Frauengeschlecht nicht mehr in Haft und Schleier, schließt sie nicht von der Erziehung (tarbiyyat) aus, übt an ihnen nicht mehr Grausamkeit und Tyrannei, begnügt euch nunmehr mit einer Frau, so wie auch ich nicht mehr als eine Frau habe. Und von nun an gilt: [136] Wer sein Töchterchen nicht wie seinen Sohn mit Lesen und Schreiben beschäftigt und wer – sei er alt oder jung, reich oder arm – mehr als eine Frau an sich reißt, der wird meines zornigen Verhöres würdig!» Dies gesprochen, stieg er von der Moscheekanzel ab und beging den Akt des Fastenbrechens. [Die schleierlosen Frauen von Alamut]
Am Tag nachdem der Protestantismus (prātestāntesm) in Iran erstmals in Erscheinung trat, zwei Stunden vor Mittag, nahm ʿAlā Zekrehī as-Salām seine ehrenhafte Frau Dorratottādj, deren Abstammung auf die Dynastie der Dailamiten zurückging, an die Hand und verließ mit ihr das Haremsgemach. Unverschleierten Haupts schlenderte die ehrenhafte Frau zusammen mit ihrem weisen und weitsichtigen Mann durch die Sehenswürdigkeiten Alamuts und kehrte wieder ins Harem zurück. Diese Spaziergänge wiederholten ʿAlā Zekrehī as-Salām und seine ehrenhafte Frau an jedem kühlen und milden Tag. Die Würdenträger und Adligen und schließlich alle Bewohner von Alamut [137] ahmten diese Befreiung des Frauengeschlechts nach, gingen mit ihren schleierlosen Frauen zu Spaziergängen aus dem Haus und bald schon wurde dieser Brauch in allen Herrschaftsgebieten des ʿAlā Zekrehī as-Salām füglich gelebt. Man erzählt, dass dem ʿAlā Zekrehī as-Salām, obzwar ihn verschiedene Islamgemeinschaften des Unglaubens (kofr) und der Gottlosigkeit (elhād) bezichtigten, doch niemand Unzucht (fesq) und Ausschweifung (fodjūr) vorwerfen oder ihn als Tyrann und Unterdrücker bezeichnen mochte, da er sehr keusch und schuldlos war und nie Wein zu trinken noch Unzucht zu treiben pflegte, ja er verbat es sich, mit Menschen grausam und tyrannisch zu sein und pflegte niemals Mord, Marter und Qualtod anzuordnen. Er verpflichtete sich der Sicherheit und dem Wohlstand der Leute, und an den Gesellschaftsabenden, die bei ihm veranstaltet wurden, waren Weise, Gelehrte und Geistesgrößen zugegen, denn er bemühte sich so gut es ging um Verbreitung der Wissenschaft und Bildung des Menschengeschlechts. Den Gelehrten bewies und erläuterte er, dass Wissenschaft und Bildung die Reinheit von Sünden zur Folge hat, wäh176
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rend Unwissenheit und Gläubigkeit (dīndārī) zu Frevel und Unzucht, zu Geiz und Gier, zu Tyrannei und Grausamkeit führen. Bei solch edler Moral stand es ihm gewiss zu, sich Imam der Epoche und Höchster aller Auserwählten zu nennen – und so nannte er sich auch. [Wie der islamische Protestantismus einem Dolchstoß erlag]
Beifall sei dir gespendet, o ʿAlā Zekrehī as-Salām! Seit Anbeginn der islamischen Zeitrechnung war kein Herrscher so klug, vernünftig und begnadet wie du, hatte keiner höheres Sinnen und Trachten und festeren Entschluss! Keiner hat aus dieser Gemeinschaft eine Zivilisation geformt und sie von Stumpfsinn, Ahnungslosigkeit und Unglück befreit! Hätte die Gemeinschaft deine Worte verstanden, [138] wären es nun die Engländer und die Yankees, die demütig deine Ähren zählen müssten! Folgendes würde man dann sagen: «Während du einst den Protestantismus gestiftet hast, schmoren sie noch immer in den Röstfeuern der Inquisition – sie haben erst lange Zeit nach dir die Glaubensrichtung (mazhab), die du gestiftet hast, den Protestantismus nämlich, verstanden, eine Revolution (rewūlosiyūn) durchgeführt und endlich den Protestantismus angenommen.» Ein paar Jahre der wohlweisen Herrschaft von ʿAlā Zekrehī asSalām waren vergangen. Der Protestantismus hatte sich in allen Herrschaftsgebieten der Dailamiten verbreitet und vor allem anderen den Vorzug erhalten, und Tag für Tag erlebten seine Anhänger die wohlen Folgen dieser Glaubensrichtung an ihrem eigenen Leib. Welch ein Jammer, dass – auf Anstiftung der hirnlosen Seldschuken oder Buyiden hin – ʿAlā Zekrehī as-Salām von dem Bruder seiner Frau, Hasan-e Nāmūr, mit einem Dolchstoß getötet wurde und so das Licht der Islamgemeinschaft – be74 sonders jener in Iran – für immer erlosch. [...] [139 Z6] Welch üble Unbill auch, dass die Werke von ʿAlā Zekrehī as-Salām, die als Edelstein und Smaragd aller Literatur gelten müssen, heute nicht mehr aufzufinden sind. [Möglicherweise befinden sich einige bei den Ismailiten von Maskat 75 oder bei deren Glaubensgenossen irgendwo in Asien oder Afrika.] Falls sie gefunden würden, so wären sie ein einzigartiges Geschenk. Die Lehre und die Glaubensrichtung von ʿAlā Zekrehī as-Salām sind 74
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Ākhūndzāde: «Hasan-e Nāmūr war sehr fanatisch und duldete es aufgrund der alten Bräuche nicht, dass seine Schwester unter den Blicken der Männer unverschleiert spazierenging. Deshalb zeigte er Zorn und Gehässigkeit gegenüber ʿAlā Zekrehī as-Salām und brachte ihn schließlich aus diesem Hass heraus um.» Axundov, Izbrannye, S.138.
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in jeder Hinsicht mit denen der Sekte Tscharwak der Hindus konform, wobei diese sich übermäßig schwierige Vorstellungen machen, was die religiösen Prinzipien anbelangt. Siehe dazu das Buch «Dabestān al77 Mazāheb» (Die Schule der Religionen). Die Tscharwak haben folgende Ansichten: Einen Erbauer (sāneʿ) oder Schöpfer (moudjed) gibt es nicht, Entstehung und Niedergang gehen auf die Naturwelt zurück, was die Existenz eines Gottes betrifft, fehlt jede schlagkräftige Begründung und einleuchtende Argumentation. Deshalb stellt sich die Frage, wieso man sich einer vermeintlichen (maznūn), illusionären, ja letztlich nicht existierenden Sache zur Knechtschaft hingeben soll. Wieso in Tempeln und Moscheen Schlange stehen? Wieso an Engel glauben, die leider des Vorzugs ermangeln, jemals gesehen worden zu sein? Ja, und wieso soll man aus törichter Begierde, aus Hoffnung aufs Paradies, aufgrund jenseitiger Versprechen ewiger Erholung auf die weltlichen Günste und Gemütlichkeiten verzichten und das Vorhandene gegen das haltlos Versprochene [140] eintauschen? Wieso soll man sich von erlogenen Worten machthungriger Rhetoriker betrügen lassen, die zum Erreichen ihrer Ziele die Verführung des Volkes [141] zum Instrument nehmen? Wie kann man sich dazu hinablassen und sich solchen Akteuren ergeben, [142] sie als Herr und Führer bezeichnen, sich bis zur Niedertracht unterjochen lassen und sie auch noch vergöttern?
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Die Tscharwak (hind. cārvāka) war eine atheistisch-materialistische Strömung innerhalb des Hinduismus, die die sinnliche Wahrnehmung bzw. die Empirie in den Vordergrund rückte und jeden Glauben an etwas Transzendentes ablehnte. Die Etymologie von Tscharwak ist unklar. Die einen leiten es von der Wurzel «carv» (kauen) ab, so wären die Tscharwaken also Leute, die gerne essen. Andere erklären es als Verballhornung von «cārv-vāca» (lieblich redend), weil diese Philosophen eine Lehre verkündeten, die der Menge lieblich in den Ohren klänge. Nach einer anderen Erklärung soll Cārvāka der Begründer oder der Hauptschüler des Begründers gewesen sein. Auf uns sind keine Schriften von Tscharwaken gekommen. Unser Wissen über sie basiert auf Sekundärquellen (vgl. Von Glasenapp, Helmuth: Die Philosophie der Inder. Eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren, Stuttgart: Alfred Kroner Verlag, 4. Aufl., 1985, S.126-131). Für einen historischen Überblick siehe Bhattacharya, Ramkrishna: “Svabhāvavāda and the Cārvāka/Lokāyata: A Historical Overview”, in: Journal of Indian Philosophy, Vol. 40, Nr. 6 (December 2012), S. 593-614. Ākhūndzādes Sichtweise der Tscharwak entspricht dem Abschnitt «Dar Eʿteqādāt-e Čārwāk» (Über die Lehren der Tscharwak) im islamkritischen Buch «Dabistān alMaḏāhib». Zum Buch siehe S.138, Fn. 68.
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MAKTŪBĀT [Über die Machtgier und Hinterlist des Propheten]
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[140 Fn. Z19] In Wahrheit war unser Prophet äußerst machtbewusst und gierig nach Autorität und Ruhm (djalāl), und wie kein anderer seiner Zeit ging er schlau und berechnend vor mit einer Redekunst, die unter den Arabern ihresgleichen suchte. So brüstete er sich selbst mit diesen Attributen: ‹Ich bin der gewandteste aller Arabischsprecher, obwohl vom Stamme der Quraisch.› Der Koran entstand durchweg aus seinen eigenen Gedanken, und es ist falsch zu meinen, dass er Analphabet, also des Schreibens nicht mächtig gewesen sei. [141 Fn.] Nein, er war nicht Analphabet. Es stimmt soweit, dass er von den Wissenschaften nicht Ahnung hatte und dass er mit der damaligen Bildung, das heißt der Zivilisation nicht vertraut war, aber er war des Schreibens kundig und konnte lesen. Und alles, was er tat, alles, was er sagte, und alles, was er wollte, schob er ganz bewusst dem Willen des Schöpfers des Universums (khodāwand-e kāʾenāt) in den Schuh, damit er selbst nicht in Kritik geriet! Und im Fortgang seines Plans griff er zu manch niederträchtiger Maßnahme und lastete sie dem Schöpfer (khāleq) von Erde und Himmel an. Dazu gehören folgende Taten: Er beließ es nicht beim Krieg auf dem Schlachtfeld, sondern beauftragte ein paar arabische Diebe, die ihm hörig waren, heimlich nachts den Rastplatz einiger arabischer Stammesführer, die seine Machenschaften zu stören drohten, zu betreten und sie zu töten. Solche niederträchtigen Unternehmungen sind in der «Sīrat an-Nabīy» (Leben des Prophe79 ten) umfassend überliefert. Jeder vernunftbegabte Mensch, der auch nur ein wenig nachdenkt, begreift, wie wahr dies alles ist – genau wie 80 ʿUmārat al-Yamanī dies begriffen hat. [Der wahre Grund, 81 warum der Prophet den schädlichen Kult erfand]
[143 Fn.] Was war der Grund, dass der Prophet fünf Gebete pro Tag zur Pflicht erklärte, den Fastenmonat einführte, dazu noch verschiedene 78
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In einem Brief vom 2. April 1871 hat Ākhūndzāde diesen Abschnitt, der hier verkürzt wiedergegeben wird, seinem Freund, Mīrzā Yūsof Khān-e Mostashāroddoule, beigelegt, damit er ihn den «Maktūbāt» hinzufüge (Akhundov, Alefbā, S. 215). Bei Moʾmenī (Maktūbāt, S.140) steht diese Stelle in einer Fußnote. Vgl. Fn. 51. Gemeint ist der ismailitenfreundliche arabische Poet ʿUmāra al-Yamanī (1121–1174), der 1174 von ayyubidischen Gegnern in Kairo hingerichtet wurde. Vgl. Smoor, Pieter: “ʿUmāra al-Yamanī”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. X, ed. by P.J. Bearman et al., Leiden: Brill, 2000, S. 836. Dieser Abschnitt steht bei Moʾmenī (Maktūbāt, S.143) in einer Fußnote.
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Kulte und Gebete und weniger Schlaf empfahl? Der Grund war, dass die Stämme der Araber in Zeiten des Götzendienstes außer Krieg und Straßenräuberei nichts miteinander anzufangen wussten. Und wenn sie sich nicht gerade in Krieg und Straßenräuberei übten, waren sie mit dem Spiel Sahām ʿAshrat Maisar, bei dem Pfeile auf zehn beschriftete Felder geworfen werden, und anderen Glücksspielen beschäftigt. Ihre Zeit verbrachten sie entweder mit Trinkerei, schliefen viel oder taten nichts. Von Handel, Ackerbau und Gewerbe hatten sie durchaus keine Ahnung, und so gehörten Straßenraub und Krieg, Glücksspiel und Trunklust sowie Langschläferei und Nichtstun zum Rüstzeug ihres Lebens. Letztlich sind alle Stämme der Wilden und Barbaren für diese Eigenschaften bekannt. Weil die Straßenräuberei gegenüber Heiden und der Krieg gegen die Ungläubigen dem Propheten durchaus erwünscht waren, befand er [144 Fn.] Aufhetzung und Ermutigung zu solchen Taten in großer Zahl für nötig, aber das Spiel Sahām ʿAshrat Maisar und anderes Glücksspiel wie auch Trinkerei verbot er den Muslimen, und weniger Schlaf befand er als erwünscht. Nun musste er sich für ihre fehlende Betätigung ebenfalls etwas erdenken, und so schnürte er ihnen das fünfmalige Gebet und das Fasten um den Hals, damit sie auch dann beschäftigt seien, wenn sie nicht Straßenräuberei und Krieg übten. Heute ist die menschliche Gattung auf dem Weg des Fortschritts, der Mensch hat tausende von Betätigungen, ja wo hätte er in dem Maße nichts zu tun, dass er seine Zeit mit Unsinn wie täglichem Gebet oder Ramadan verbringen müsste? Hätte der Prophet mit dem Gebet einzig die Besinnung an Gott bezweckt, würde ein abendliches Gebet pro Tag genügen und es wäre unnötig, am Morgen zweimal niederzuknien, am Mittag viermal niederzuknien, am Nachmittag wiederum viermal niederzuknien, am Abend dreimal niederzuknien und in der Nacht nochmals viermal niederzuknien. Jedes Gebet verdirbt zusammen mit der rituellen Waschung mindestens eine Lebensstunde. Jeden einzelnen Tag werden so mindestens fünf Stunden mit Gebetsverrichtung verbracht und der Rest der Zeit mit Essen und Schlafen – für die Arbeit bleibt so wenig übrig. Aus diesem Grund sind Handel, Handwerk und Kunst in der Islamgemeinschaft sehr dürftig, und auch Reichtum und Wirtschaftskraft sind im Vergleich zu anderen Gemeinschaften überaus erbärmlich. Aus all diesen Gründen, die kaum zu zählen sind, ist der Protestantismus in der Religion Islam ein Ding der Notwendigkeit – und zwar aus Liebe zur Menschheit! 180
MAKTŪBĀT [Über die Illusion der Himmelfahrt und den Schaden der islamischen Bräuche]
[142 Z2] Alles, was nicht sichtbar ist, verdient es nicht, geglaubt zu werden. Das Naturreich (mawālīd) ist aus Elementen (ʿanāsor) zusammengesetzt. Per Naturgesetz (eqtezā-ye tabīʿat) sind diese Elemente für eine Weile miteinander verbunden. Solange die Zusammenbindung eines Organismus besteht und seine Gestalt unversehrt bleibt, soll man nach Wohlerhalt zum Vorteil seiner selbst streben, ohne sich dabei Schaden zuzufügen. Sobald dann die Zusammensetzung des Organismus sich auflöst, besteht das Schicksal des Elements darin, erneut Element zu sein, und mitnichten durchlebt die Körpergestalt nach der Zersetzung eine Himmelfahrt in höhere Welten voller Wohlleben und Glück, noch eine Höllenfahrt in die flammende Unterwelt. Man muss außerdem zur Überzeugung gelangen, dass bei Anwendung der Gottesgesetze die Sünder gar nicht bestraft und die Frommen gar nicht mit Gnade und Huld belohnt werden. In Wahrheit gilt das Gegenteil, denn Sünder werden von der Pein des Ramadan, des Gebets (namāz), des Gehorsams (tāʿāt) und des Betkults (ʿebādāt) befreit, während Fromme in der Mühsal des Betkults, der eine einzige Qual darstellt, verhaftet sind. Der Vernünftige sollte also alle weltlichen Vergnügen genießen und sich nicht den Begehrlichkeiten ver82 wehren, denn sobald du unter der Erde bist, gibt es kein Zurück! Ein Zurück gibt es nicht, denn du gehst, wenn du gehst.
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[143] In Wahrheit ist die Lehre der Tscharwak eine der reinen und lobenswerten Denkrichtungen (mazhab). Wenn nur das Volk Irans (ahl-e īrān) die Vernunft der Tscharwak besäße und sich diese lobenswerte Denkrichtung zueigen machte, wo sie doch von ʿAlā Zekrehī as-Salām schon aufgezeigt worden war! Auf die Nutzlosigkeit der Gottesgesetze hat auch 84 Bū ʿAlī Sīnā hingewiesen:
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Diesen Abschnitt hat Ākhūndzāde zum Teil wörtlich, zum Teil frei aus dem Werk «Dabistān al-Maḏāhib», dem Abschnitt «Dar Eʿteqādāt-e Čārwāk» (Über die Lehren der Tscharwak) übernommen. Zum Buch siehe S.138, Fn. 78. Ein Gedicht von Khayyām (1048–1131). Vgl. Khayyām, ʿOmar: Tarānehā-ye Khayyām, hg. v. Sādeq Hedāyat, Teheran: Enteshārāt-e Amīr Kabīr, 6. Aufl., 1974-5/1353 h.sh., S. 77. Das Gedicht kommt im «Dabistān al-Maḏāhib» im Abschnitt «Dar Eʿteqādāt-e Čārwāk» (Über die Lehren der Tscharwak) vor. Ākhūndzāde hat es wahrscheinlich aus diesem Buch übernommen. Siehe S.138, Fn. 78. Gemeint ist Avicenna (gest.1037).
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Bū ʿAlī, er führte die Weisen an, Eine Krankheit sah er im Ramadan. Tatsächlich kann aus den Gottesgesetzen kein Nutzen gewonnen werden. Einzig Schaden bringen sie, wenngleich rituelle Waschungen wie Wozū und Ghosl, die nach dem Stuhlgang zu erfolgende Tahārat oder die Beschneidung Khetne hinsichtlich hygienischer Grundsätze Nutzen haben, genau wie das Wechseln von Hemd und Unterhose. Aber der Schaden der anderen Handlungen ist offensichtlich. Zum Beispiel hindern dich fünf Gebetszeiten pro Tag am Broterwerb, der Ramadan schadet deinem Körper und die Pilgerfahrt führt in den Tod. [...] [146 Z8] Welcher Nutzen entsprang den massenhaften Pilgerfahrten in den letzten 1280 Jahren? Fragt man aber nach Schadhaftem, kann jeder eine Antwort liefern. Wie viel Geld schon nur außerhalb der Heimat ausgegeben wird von all den Vermögenden! Wie viele Leben unterwegs gelassen werden! Auch werden für die Rituale der Pilgerfahrt mehr als hunderttausend Schafe geschlachtet, deren Blut und Fleisch in der Sonnenglut stinkender Fäulnis anheimfällt. Die Cholera entstand zuerst dort, dann verbreitete sie sich in der ganzen Welt. Wie viele Leben werden da in den Untergang getrieben, wie viele Söhne und Töchter in der Heimat vaterlos, wie viele Frauen zur Witwe! Und die Araber? Auf Almosen hoffend strengen sie sich nicht mal an, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder Fortschritt zu erlangen, völlige Trägheit und stetes Zagen sind sie gewohnt, und so dümpeln sie weiter als ruhmloser Stamm. [...] [150 Z2] Obwohl der Prophet in den dreiundzwanzig Jahren seines Prophetentums aufgrund der Erfordernisse der Zeit und anlässlich gewisser Ereignisse zahlreiche Vorschriften und Verse im Koran aufhob (mansūkh karde) und sie mit Vorschriften und Versen ersetzte, die den Bedürfnissen der Zeit entsprachen, so stellt sich die Frage, ob 1280 Jahre nach der Hedschra nicht doch einige seiner Vorschriften und Gesetze den Er fordernissen des heutigen Lebens angepasst werden sollten. Verwunderlich ist, dass unser Prophet die Zeit vor seiner Mission die Zeit der Unwissenheit nennt, ohne zu merken, dass er die Gemeinschaft an Händen und Füßen knebelte und auf dem Meerboden der Unwissenheit versenkte! Vor der Epoche der Unwissenheit war Freisein (nedjāt yāftan) einfach, danach aber wurde – man muss es einsehen – Freisein schwer. Also, solange in der islamischen Rechtswissenschaft (ʿelm-e feqh) den Denkern und Vernünftigen der Weg des Wandels (taghyīr), der Veränderung (tab182
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dīl), der Erneuerung (tadjdīd) und der Ergänzungen (tazyīd) verschlossen bleibt, wird diese Gemeinschaft auf ewig in einem niederträchtigen Zustand verharren und zur unglücklichsten aller werden und niemals einen Fuß in die Gestade des Fortschritts setzen. [...] [Wie uns die Ulema mit dem Höllenglauben hinters Licht zu führen trachten]
[66 Z5] Der Religionsgelehrte Mollā Sādeq setzte einst zu einer Rede an: «Heute werde ich, der Gelehrte Mollā Sādeq, euch die Hölle schildern, damit ihr aus eurer Nachlässigkeit erwacht und euch nicht mehr derart von der hiesigen Welt besudeln lasst. Der Lehrer Mollā Mohammad Bāqere Madjlesī – Gottes Gnade über ihn – schrieb im Buch «Haqq al-Yaqīn» (Wahrheit der Gewissheit), fußend auf authentischen Überlieferungen: ‹Erstens, ihr sollt glauben, dass die Serāt exisitiert, sie ist nämlich die Brücke über die Hölle. Alle Menschen werden am Tag des Jüngsten Gerichts über die Serāt-Brücke gehen. Sie ist schmaler als ein Haar, schärfer als ein Schwert und wärmer als ein Feuer. Wer zu den reinen Frommen gehört, wird sie leicht wie ein Stromblitz überqueren. Wer aber Sünder ist, wird zittern auf der Brücke und rutschenden Beins in die Hölle fallen. Die Hölle besteht aus sieben Ebenen: Die oberste heißt Djahannam, die zweite Saʿīr, die dritte Saqar, die vierte Djahīm, die fünfte Laziya, die sechste Hotama und die siebte Hāwiye. Der Hölle Wein ist eine sengende Brühe, flüssiges Pech, und als Nahrung dient der Höllenbaum. Die sengende Brühe besteht aus Schmutz und Eiter und ist von solcher Beschaffenheit, dass, löste sich ein Tropfen im Weltmeer auf, alle Menschen auf der Erde ob dem üblen Gestanke stürben! In der Hölle gibt es ein Tal mit siebzigtausend Häusern. [67] In jedem Haus sind siebzigtausend Zimmer, in jedem Zimmer siebzigtausend Schwarznattern, und im Bauch jeder Natter sind siebzigtausend Krüge Gift. Die Schmorkraft des Höllenfeuers, die ist siebzigmal stärker als die der hiesigen Feuer. Weiter gibt es in der Hölle vierzig Ecken, in jeder Ecke sind vierzig Nattern, im Bauch jeder Natter dreihundertdreißig Skorpione, und im Stachel jedes Skorpi85 ons sind dreihundertdreißig Krüge Gift.›» [...] [69 Z6] O Djalāloddoule! Denk nicht, die Bewohner der Hölle seien etwas anderes: Sie sind Söhne der edelsten Geschöpfe, sie sind nichts als 85
Diese Stelle hat Ākhūndzāde teils wörtlich, teils frei aus dem Werk «Haqq al-Yaqīn» (Wahrheit der Gewissheit) übernommen (siehe Madjlesī, Haqq al-Yaqīn, S. 315-328).
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Menschen! Im Gespräch mit dir werde ich die Worte so wählen, dass deren eine Hälfte auf rationalen Argumenten basiert und die andere auf aus dem Text und der Scharia abgeleiteten Beweisgründen. Die Argumente, die rein der Vernunft entspringen, hörst du später noch. Nun hör mal zu. Eine der Säulen der Religion ist die Gerechtigkeit. So muss der, der wirklich Muslim ist, den Schöpfer (khāleq) als gerecht ansehen. Und der Schöpfer hat mich geschaffen. O Djalāloddoule! Leg die sinnlosen Aussagen gewisser heutiger Gelehrter zur Seite! Sie sagen von mir, dass meine Veranlagung das Unglück regelrecht verlange, oder aber, dass ich selbst am Urbeginn der Schöpfung das Angebot des Paradieses abgelehnt und es selbst verursacht hätte, des Höllenfeuers würdig zu sein. Ich erkläre es: Hätte man mir am Urbeginn der Schöpfung Paradies wie Hölle vor Augen geführt, mir beide angeboten und ich hätte das Paradies abgelehnt, dann wäre ich wohl verrückt. Ist es einem Vernünftigen würdig, einen Verrückten zu tadeln? [70] Und weil man mir das Paradies und die Hölle zwar nicht gezeigt, aber angeboten hatte, kann sich der Anbieter die Mühe sparen, mir frohlockende und warnende Boten zu schicken, da ich am Anfang der Schöpfung – ohne frohe Kunde und Angst – das Angebot abgelehnt hatte. Frohe Kunde bringende Boten und Warner zu schicken, trägt keine Früchte. Und zu denjenigen, die dem Angebot zugestimmt haben, frohe Kunde bringende Boten und Warner zu schicken, ist nicht vonnöten, da sie ohnehin dem Angebot zugestimmt haben. Kurz gesagt, o Djalāloddoule: Wenn du es dir doch recht überlegst: Ein solch sinnloses Glaubensdogma (ʿaqīde) hat keine andere Gemeinschaft. Freilich hat der Schöpfer mich geschaffen. Angenommen, er gebe mir ein weltliches Alter von hundert Jahren: Allen ist bekannt, wie diese hundert Jahre vergehen. Wie viel Macht und Reichtum ich auch besitze, nie bin ich frei von Sorge und Gram, nie bin ich frei von Kummer und Scham. Angenommen, ich beginge in diesen hundert Jahren täglich einen Mord, verspräche dem Schöpfer jeden Tag etwas Neues, das ich nicht einhalte, und erläge noch manch weiterer Sünde, bevor ich dann stürbe – verlangte es dann nicht die Gerechtigkeit, dass der gerechte Schöpfer mich dafür der Bestrafung unterzieht? Ich nähme es als Ablass (ʿawaz) für diese hundert Jahre hin, dass der Schöpfer, der Gebieter über Gerechtigkeit, mich eben diese hundert Jahre, wenn nicht zweihundert, vierhundert, fünfhundert, ja tausend Jahre brennen ließe. Hat der Schöpfer unter Berufung auf Gerechtigkeit aber das Recht, mich mehr als diese 184
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Jahre brennen zu lassen? Hat der Schöpfer mich zeitlebens mit soviel Gunst im Übermaß beglückt, [71] dass er mich derartiger Qual aussetzt, die Glieder meines Körpers verrotten und modern lässt, meine Knochen altern und wie Antimon zermalmen lässt und dann – nach alledem! – die Hand noch immer nicht von meiner Gurgel nimmt, sondern mir neuerlich Fleisch und Knochen zuweist, um mich in der Hölle zu martern bis in alle Ewigkeit? Können hundert Jahre Genuss im Diesseits mit einem Tag Höllenqual vergolten werden, wenn ein Höllentag mit tausend Jahren Diesseits gleich ist? Zwar sollst du diesen Schöpfer als den Barmherzigsten aller Barmherzigen und als gnädige Quelle von Großmut ansehen. Aber ein Schöpfer, der eine solche Hölle sein eigen nennt, ein Schöpfer mit solcher Rachsucht, der ist schlimmer als all die Scharfrichter, Henker, Tyrannen und Schlächter zusammen! Wenn der Schöpfer mich so behandeln muss, wieso hat er mich geschaffen? Ich habe doch von ihm das Leben nicht verlangt! Wenn dies mein Schicksal ist, so mögen bitter wie Schlangengift diese hundert Jahre Leben auf seiner Erde sein, auch wenn er es mit noch so vielen Geschenken und Freuden schmückt. Falls die Hölle wahrhaftig ist, muss der gnädige und gerechte Schöpfer in den Augen der Menschen ein verhasstes, abstoßendes und tyrannisches Etwas sein! Und falls sie eine Lüge ist, dann: Ey ihr Prediger, ihr Ulema, ihr Scharlatane! Was beraubt ihr das arme Fußvolk der Wohltaten des Nährers des Alls (parwardegār-e ʿālam)? Wieso verbittert ihr ihm das Leben? Wieso hindert ihr das Volk durch stete Ängstigung vor der Hölle daran, mit anderen Nationen in Kontakt zu treten, in Wissenschaft und Gewerbe sich zu bilden? Die Welt ist der Ort des Austauschs! Ihr aber lasst es mit all dem leerläufigen Unsinn nicht zu, dass das Volk der göttlichen Wohltaten (neʿamāt-e elāhī) teilhaftig wird. Ihr verbietet ihm donnergrollend: Sing nicht, es ist haram! Hör keinen Gesang, es ist haram! Lern keinen Gesang, es ist haram! Bau keine Theater, also Häuser der Schauspielerei, es ist haram! Geh nicht ins Theater, es ist haram! Tanze nicht, es ist verwerflich. Schau keinen tanzen, es ist verwerflich! Musiziere nicht, es ist haram! Hör [72] keine Musik, es ist haram! Spiel kein Schach, es ist haram! Spiel kein Nard, es ist haram! Mal keine Bilder, es ist haram! Bewahre im Haus keine Bilder, es ist haram! Auch wenn dies dem Anschein nach leichtsinnige Taten sein mögen, so habt ihr nur die Kunde nicht, dass sie, falls mit Maß praktiziert, dem Geiste Glanz verleihen und die Vernunft stärken, wenn schon der Mensch 185
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von Natur aus zu Kummer und Frohsinn und all den Launen neigt. Und alle Launen sind Kräfte, die, wenn nicht in Gang gesetzt, schwerfällig werden, genau wie eine Hand starr und dröge wird, die man ein Jahr lang nicht bewegt. Von Gelegenheiten der Freude und Heiterkeit fernzubleiben macht also die Sinne träge und verfinstert die Vernunft! Doch falls nicht Mäßigung geübt, sondern für Freud und Heiterkeit die Kräfte übernutzt werden, so sind sie bald aufgezehrt. Ihr müsst mit den Naturwissenschaften vertraut sein, um diesen wahren Hinweis zu verstehen. Hätte der Entzug weltlicher Genüsse Fortschritte gebracht, so müsste der Asket (zāhed) der Gebildetste aller Menschen sein, wo er doch in Wahrheit der größte Tor unter allen, der Dumme seiner Zeit ist! Es reicht, den Konsum von Rauschgetränken zu verbieten – ein hervorragendes Gesetz im Islam, denn der Körper fällt bei übertriebenem Rauschtrunk zahlreichen Krankheiten anheim und zersetzt sich am Schluss. Du bist eine fröhliche Braut, o Wein! 86 Aber manchmal muss die Trennung sein. Es reicht, [73] das Glücksspiel zu verbieten, denn diese Gewohnheit macht einen Menschen zum Nichtsnutz – sie macht den Lebensgenuss zu Schlangengift und ist eine Krankheit ohne Remedur. [Warum die Religion nicht zu Tugendhaftigkeit führt]
Einige oberflächliche Menschen glauben, die Furcht vor der Hölle führe zum Verschwinden von Verbrechen. Doch welcher Muslim würde schon, bloß aus Angst vor der Hölle, fremdes Gut nicht an sich reißen, das ihm in die Hände fällt? Und welcher Muslim würde einen flaumbehaarten Jüngling nicht berühren, der ihm gerade begegnet, eine fremde Tochter oder die Frau eines anderen nicht bedrängen, wenn die Gelegenheit sich gibt? Alle Diebe, Mörder und Wegelagerer stammen aus jenem Grundstock an Menschen, die an die Hölle glauben! Alle die, die in Afrika jungen Knaben, die doch ebenso zum Menschengeschlecht gehören, kaltblütig das Glied entfernen und sie kastriert in den islamischen Ländern wie Tiere verkaufen, oder auch diejenigen, die sie zu sich nehmen, sie alle glauben an die Hölle. [...] [74 Z6] Wenn man genau überlegt, ist der Grund für die Pein dieser unschuldigen Kinder die muslimische Kund86
Dieses Gedicht von Hafez (vgl. Hāfez, Dīwān-e Ghazaliyāt, S. 627) steht in der Ausgabe von Moʾmenī (Maktūbāt, S. 72) in einer Fußnote.
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schaft, die sich während der Pilgerzeit und bei anderen Gelegenheiten nach neuer Ware umsieht. Gäbe es keinen Kauf, ja welchen Profit schlügen die Verkäufer noch aus solch schändlicher Tat? Letztlich ist der Hauptgrund zur Minderung von Verbrechen nicht die Angst vor der Hölle, sondern die Furcht vor weltlicher Strafe, die Schmähung solcher Taten, der gesellschaftliche Meinungsdruck (aqrān), das Ehrgefühl, der Eifer, die Vernunft, die Wissenschaft. Und hinzu kommt eine dem Menschen angeborene Kraft und Eigenschaft, zu unterscheiden zwischen guter und böser, zwischen Wohl- und Übeltat, die es ihm erlaubt, die gute Tat zu genießen und die böse Tat zu verabscheuen und mit einem herrenlosen und armseligen Waisenkind Mitleid zu haben. Die Menschen, welcher Gemütsart sie auch seien, erkennen die gute und die wohle Tat und genießen sie, während jeder, welcher Gemütsart er auch sei, das Verprügeln eines herrenlosen und armseligen Waisenkindes als böse und üble Tat [75] wahrnimmt und sich darüber verdrießt. Auch bei anderen Verbrechen ist der menschliche Instinkt Wegleiter. Das heißt, je mehr durch sachliches Wissen und die Essenz menschlicher Vernunft (djouhar-e ʿaql-e ensān) aufgeklärt und hervorpoliert wird – bestärkt durch die Wissenschaft und unter Beistand der menschlichen Natur – desto mehr hält sich der Mensch von Sünden fern. Trotzdem braucht es ein Strafgesetz (qānūn-e siyāsat). Aber nicht eines, das die Tötung der Menschen und die Amputation ihrer Glieder vorschreibt, sondern eines, das in den ordentlichen (monazzam) Staaten üblich ist. Denn sinnlose Glaubensdogmen (eʿteqādāt) wie Angst vor der Hölle oder Hoffnung auf das Paradies können die Verübung von Verbrechen nie verhindern. Paradies- und Höllenglauben als Ursache einer reinen Weste anzusehen, ist ein Fehlgriff. Ja, manch einer glaubt offensichtlich, er sei aus Angst vor der Hölle und aus Hoffnung aufs Paradies tugendhaft geworden. Doch der ist im Irrtum. Auch wenn es so scheint und Angst und Hoffnung eine gewisse Rolle spielen mögen, sind es in Wahrheit feinste Ursachen im Geiste, die einen Charakterzug verstärken, aber die Person selbst kann diese nicht wahrnehmen. Dazu gehören menschliche Motive wie das Erheischen von Respekt bei den Ulema, das Erlangen von Ruhm und Vertrauen beim Fußvolk und dergleichen.
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MĪRZĀ FATH ʿALĪ-YE ĀKHŪNDZĀDE [Warum die Furcht vor Gottes Zorn die Kinder nicht erzieht]
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[73 Fn.] Im Koran ist erwähnt, dass der Gott des Universums (khodāwand-e ʿālam) am Tag des Jüngsten Gerichts mit seinen sündigen, flehenden und um Zuflucht bittenden Knechten kein Mitleid haben wird und seinen Engeln donnergrollend befiehlt: Nehmt ihn, und fesselt ihn! Dann lasst ihn in der Feuerhölle brennen (Koran 69:30-31). Deshalb sagen alle Muslime, die an ein Jenseits glauben, in Gesprächen zur Erziehung ihrer Kinder: «In Angst und Zornesfurcht vor dem Allmächtigen (hazrat-e bārī) soll man die Kinder erziehen!» Ganz als ob der Allmächtige ein dämonisches, wütiges, gnadenlos rächendes Wesen wäre und ganz als ob die Kinder, die in Angst und Zornesfurcht vor ihm erzogen werden, sich im Erwachsenenalter von seinem Jähzorn fernzuhalten versuchten und so zu Gerechten und Sündlosen würden. Nein, die Kinder, die eine solche Erziehung erfahren, werden im Erwachsenenalter zu reinen Dummköpfen, mehr noch, sie entwickeln sich allzu oft zu Verbrechern. [Wie die Religion die menschliche Vernunft entehrt]
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[217] Mein großmütiger Bruder! Möge Gott Eurem Glück Fortgang verleihen! Der Niedergang der Welt in diesen Tagen, besonders bei den Völkern Asiens und zum Teil bei jenen Europas, hat einen bestimmten Grund, nämlich das Aufkommen der Propheten aus den Gegenden Asiens – der Wiege der Religionen und mithin der Gegend, von wo diese sich nach Europa ausdehnten – und die Predigten all der Bevormunder, Imame sowie Vertreter und Nachfolger der Propheten, die späterhin die Religionen zu verbreiten pflegten und in den Augen der Menschen den Rang der Heiligkeit und Erhabenheit erreicht haben. In Wahrheit aber entehrten sie die menschliche Vernunft, dieses Leuchtzeichen der Gottheit (olūhiyyat), das etwas Großartigeres nicht finden wird, weder unter den niederen Lebewesen (moudjūdāt-e sofliyye) – dort sicherlich nicht – noch unter den Himmelskörpern (adjrām-e ʿolwiyye) – auch dort wohl 87 88
Dieser Abschnitt steht bei Moʾmenī (Maktūbāt, S. 73) in einer Fußnote. Die hier folgenden Abschnitte bis einschließlich «Warum Glaube und Kult niemals eine Quelle guter Moral sind» stammen von Mīrzā Malkam Khān. Ākhūndzāde fügte sie den «Maktūbāt» später hinzu. In einer späteren Notiz nennt er diese hinzugefügten Worte «Die detaillierte Beschreibung der Worte Seiner Exellenz, Rūholqods [«der Heilige Geist», so nannte er seinen Freund Malkam Khān], die ich Ende März des Jahres 1872, während seines Aufenthaltes in Tiflis vor seiner Weiterreise Richtung Teheran, in einigen Gesellschaften gehört habe.» (Akhundov, Alefbā, S. 288-294), vgl. dazu Moʾmenīs Annotation (Maktūbāt, S. 222, Fn. 2).
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nicht. Fürwahr, die selbstsüchtigen Antriebe (aghrāz-e nafsāniyye) der Propheten, Bevormunder, Imame sowie deren Vertreter und Nachfolger holten die Vernunft herunter vom Rang des Edelmuts, des Vertrauens, das sie einstmals genossen, und nahmen sie in ewige Geiselhaft bis zum heutigen Tag. Und sei es im Handeln oder im Denken, sie anerkennen die Vernunft nie als Argument und Beweis, sondern ziehen ihr die Überlieferung immerzu vor. So lässt zum Beispiel die menschliche Vernunft [218] kraft der rationalen Wissenschaften die Vorstellung nicht zu, der Prophet sei zum Himmel gegangen und habe den Mond gespalten. Unsere Religionsführer und Imame verlauten hingegen, man solle nicht der Feststellung und dem Urteil der Vernunft vertrauen, da die Wahrheit doch sei, was von den Gefährten (sahābe) des Propheten Mohammed bestätigt und durch Überlieferung bei uns eingegangen sei. Statt die Vernunft zur Richterin zu ernennen, nehmen die Völker des Islam diese Aussagen gedanken- und ahnungslos für bare Münz! Doch wahr ist, Glückseligkeit und Erfolg des Menschengeschlechts werden erst dann eintreten, wenn die menschliche Vernunft in Asien wie auch in Europa aus der ewigen Geiselhaft befreit wird und im Handeln wie im Denken nur die menschliche Vernunft (ʿaql) als Argument und Beweis, ja als absolute Richterin zählt – und eben nicht die Überlieferung (naql). [Warum nicht Anschuldigung, sondern Führung und Beratung die Menschen aufzuklären imstande ist]
Mein großmütiger Bruder! Die meisten Bewohner des Osmanischen Reiches und Irans gehören zu den islamischen Völkern. Du sollst dich nicht auf ihre Religion fixieren, ihnen nicht sagen «Eure Religion ist falsch, ihr liegt im Irrtum, glauben sollt ihr dies und das!». Führung (hedāyat) und Rechtleitung (ershād), Beratung (rāhnamāyī) und Belehrung (taʿlīm) sind nicht solcherart. Auf diese barsche Art und Weise schaffst du dir tausende von Klägern und Tadlern, und zum Ziel wirst du auch nicht gelangen. Jeder von ihnen wird aus Starrsinn und Trotz deine Worte [219] als fruchtlos, deine Argumente als sinnlos betrachten, und so wird deine Mühe vergeblich und bar jeden Zwecks. [Warum die Religion Menschenwerk ist]
Lass ihre Religion beiseite und sag dazu nichts. Beginn mit der Rechtleitung folgendermaßen: In den Historien unserer vergangenen Völker wird 189
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die Entstehung der Welt vor 7000 Jahren angesetzt. Aber heute – und dies dank sicherer Beweise – ist uns erwiesen, dass die Entstehung der Welt mehr als eine halbe Million Jahre zurückliegt und es schon vor den Buchreligionen zahlreiche nichtige Religionen gab – Götzendienst, Feuerkult, Brahmanentum, die Vielgötterei bei den Griechen und dergleichen. Dies führt dazu, dass die menschliche Vernunft sich wundert und die Frage stellt: Aus welchem Grund ließ der Gott des Universums (khodāwand-e ʿālam) diese nichtigen Religionen entstehen und bestehen für tausende von Jahren? Aus dieser Verwunderung folgt, dass die menschliche Vernunft gezwungenermaßen das Urteil fällt, dass der Gott des Universums mit dem Aufkommen dieser nichtigen Religionen und ihrer Existenz nichts zu tun hat, sondern sie alle von findigen und herrschsüchtigen Menschen gestiftet wurden zum Erlangen ihrer eigenen Ziele. Wenn nun die Nichtigkeit der alten Religionen den Anhängern des Islams klar wird, so werden sie von selbst und ohne es zu wollen ihre eigene Religion mit den altertümlichen vergleichen und folgendes begreifen: Wäre eine wahre Religion überhaupt von Notwendigkeit, wieso hat dann der Gott des Universums keinen echten Propheten geschickt, um diese nichtigen Religionen zu verdrängen – bis hin zu Mosesʼ Zeiten? [220] Unterstanden bis dahin diese Welt und all die Knechte gar nicht seiner Gewalt? Oder hatte er geschlafen, um erst jetzt zu erwachen und zu merken, dass seine Welt von nichtigen Religionen verunreinigt war, und erst jetzt daran zu denken, wahre Propheten und himmlische Bücher zu schicken? [Über den Gegensatz von Wissenschaft und Glauben]
Mein großmütiger Bruder! Unser bisheriger Irrtum bei der Scheidung des Wahren vom Unwahren, des Richtigen vom Falschen war, dass wir zwei unterschiedliche Sachen mischten und als eins ansahen, wo sie doch zwei entgegengesetzte sind. Die eine Sache ist die Wissenschaft (ʿelm) und die andere der Glaube (eʿteqād). So urteilt, um ein Beispiel zu nennen, die Wissenschaft, Napoleon habe existiert, er sei nach Moskau gegangen und habe dies und das erlebt und sein Ende sei so und so gelaufen. In diesem Fall tut ein Glaube niemandem Not, weil die Sache auf gesichertem Wissen (ʿelm) fußt, und jede Sache, die entweder keines Beweises und Beleges bedarf oder deren Beweis und Beleg gesichert ist, ist Wissen – und dies hat nichts mit Glauben zu tun. Anderseits glauben wir wegen der Überlieferungen der Religionsführer, dass die Hoheit Moses auf den 190
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Berg Tor gegangen, dort mit dem Nährer der Welt (parwardegār-e ʿālam) gesprochen und seinen Stock gegen den Fels geschlagen habe, worauf Wasser hervorgesprudelt sei, und so weiter und so fort. Diese Sache entbehrt jeglichen Beweises und Belegs, und falls es dafür Beweis und Beleg gäbe, so wären sie doch keineswegs sicher. Also dürfen wir diese Sache nicht als Wissen ansehen, sondern sollten sie Glauben nennen, und wegen des Glaubens, nicht des Wissens, sollten wir ihr Vertrauen schenken. Unsere Religionsführer zählen solche Sachen aber zu den Wissenschaften! So sagen sie, dass die Interpretation der [221] Hadithe und die Theologie (ʿelm-e kalām) Wissenschaften seien, und danach folge die Physik, Mathematik, Geographie, Astronomie und derartiges. Als ob die ersteren den letzteren gleich wären! Indessen ist der Unterschied zwischen ersteren und letzteren klarer als die Sonne hell: Wir müssen die ersten zu den Glaubensangelegenheiten zählen und nur die letzten als Wissenschaft bezeichnen. [Warum Glaube und Kult niemals eine Quelle guter Moral sind]
Mein großmütiger Bruder! Du sollst dir im Klaren darüber sein, dass jeder Religion drei Dinge innewohnen: Glaube (eʿteqād), Kult (ʿebādāt) und Moral (akhlāq). Das Hauptziel der Stiftung einer jeden Religion ist die dritte Sache, denn Glaube und Kult sind – im Verhältnis zum Hauptziel – Folgeerscheinungen (farʿ). Damit wir uns die gute Moral aneignen, sollen wir hypothetisch ein Sein imaginieren, das über gute Moral und Größe, Allmacht und Kraft, Gnade und Zorn verfügt und der Anhimmlung und Verbeugung würdig ist – und dies, damit auch wir uns mit seiner Moral zu schmücken versuchen. Dieses Wesen nennen wir den Nährer der Welt (parwardegār-e ʿālam) und den Schöpfer des Universums (khāleq-e kāʾenāt). Sobald wir uns so ein Wesen einbilden und als anbetungswürdig anerkennen, wird es nötig, den Huld- und Betkult zu praktizieren – dazu gehören Gebet, Ramadan, Pilgerfahrt, Vermögenssteuer (zekāt) und dergleichen. Sobald wir uns [222] so ein Wesen vorstellen und den Huld- und Betkult praktizieren, wird es nötig, seine Gnade zu erhoffen und seinen Zorn zu fürchten. Sobald wir uns die Gnade solch eines Wesens erhoffen und seinen Zorn befürchten, wird es vonnöten, sich nach seiner guten Moral zu verhalten und niemals Sündenquell zu sein, damit wir nicht seiner Gnade noch seines Zorns verdienstwürdig werden. Wenn wir ein Mittel fänden, ohne Vorstellung eines Wesens, dem man sich zu unterwerfen 191
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hat, gleichwohl Besitzer von guter Moral zu werden, dann wären wir von den Folgeerscheinungen des Hauptzieles, dem Glauben und dem Kult, entbunden. In vielen Ländern Europas wie auch im Land der Yankees führte die Verbreitung der Wissenschaften dazu, dass die Menschen es nicht mehr nötig haben, Moral aus Glaube und Kult – den beiden Bedingungen jeder Religion – abzuleiten. In Asien aber sind die Wissenschaften nicht verbreitet, daher haben die zwei Folgeerscheinungen im Überdruss Splitterungen gezeitigt und das Hauptziel derart bedrängt, dass der Weg zur Verbreitung der Wissenschaften ihretwegen gänzlich versperrt ward! [223] Mein großmütiger Bruder! Allen Inhalt dieses Briefes wie auch den der zwei vorigen Briefe lernte ich durch die mündliche Unterweisung des Autors Kamāloddoule kennen und schrieb sie dir und hoffe, dass du sie als wertvoll anerkennst. In seinen Unterweisungen behandelt dieser Autor auch die Argumente zum Urgrund des Seins (sababiyyat-e wodjūd) und deren Widerlegung. All dies will ich nun in diesem letzten Brief aufschreiben. [Wie Atheisten und Naturkundler beweisen, dass das Universum keine Ursache hat]
Jedes Sein (wodjūd) bedarf einer Ursache (sabab), da kein Sein von selbst in den Seinsbereich (ʿarseh-e wodjūd) treten kann. Dieses existierende Universum (kāʾenāt) braucht also für sich selbst (dar wodjūd-e khod) eine Ursache, und diese Ursache ist der Erbauer (sāneʿ). Dies ist die Lehre (ʿaqīde) der Religionskundigen (motasharreʿūn), die sie naturkundlichen Denkern (hokamā-ye tabīʿeyīn) zur Begründung einer Gottheit (olūhiyat) vorbringen. Naturkundler (tabīʿeyūn) haben darauf ein Widerwort: In diesem Fall erfordert die Ursache selbst eine andere Ursache, und die andere Ursache bedarf einer weiteren, und so weiter und so fort. Dieser Umstand läuft aber der Vernunft zuwider, da ihr gemäß die Kette der Ursachen an einem bestimmten Punkte enden muss – sonst ist man mit einer endlosen Verkettung (tasalsol) konfrontiert. Nach Vernunft beurteilt ist also die Argumentation der Religionskundigen (motasharreʿīn), jedes Sein müsse [224] eine Ursache haben, nichtig. In der Tat, die Schwäche der Argumentation zum Urgrund des Seins ist klarer als die Sonne hell! Die Naturkundler sagen den Religionskundigen: «Entweder muss sich die Kette der Ursachen ohne Ende fortsetzen, oder ihr müsst irgendwo einlenken und 192
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gestehen, dass das Sein an sich keiner Ursache bedarf. Im ersten Fall entsteht eine endlose Verkettung, im zweiten Fall wird jeglicher Urgrund (sababiyyat) des Seins beseitigt und es wäre bewiesen, dass ein Sein ohne Ursache zutage treten kann.» Weshalb also sollten wir nicht davon ausgehen, dass jenes ursachenlose Sein gerade dieses sicht- und spürbare Universum (kāʾenāt) ist und nicht ein illusionäres und vermeintliches Sein? Und worauf stützt ihr euch, wenn ihr behauptet, dem Universum müsse eine Ursache vorausgehen, wenn doch unserer wie auch eurer Meinung nach an einem gewissen Punkt ein Endhalt unvermeidlich ist? Ist es uns – ausgerüstet mit dem Scharfsinn der Vernunft – nicht also angezeigt, bei diesem Universum selbst den Anfangspunkt zu setzen? Die Religionskundigen (motasharreʿūn), außerstande diesen Einwand zu widerlegen, antworten: «Wir sind der Meinung, das Sein bestehe aus zwei Teilen. Einer ist das Möglich-Seiende (momken al-wodjūd), also das Universum, es bedarf einer Ursache. Der andere Teil ist das Notwendig-Seiende (wādjeb al-wodjūd), der Erhabene (djenāb-e bārī). Er bedarf keiner Ursache. Ja, aus Angst vor einer endlosen Verkettung sind wir gezwungen, irgendwo einen Punkt zu machen. Bei dem Möglich-Seienden, also dem Universum, halten wir nicht an, weil es einer Ursache bedarf. Wir halten hingegen bei dem Notwendig-Seienden an, also bei Gott, dem Erhabenen, [225] der die Ursache des Möglich-Seienden ist, aber selbst keine Ursache benötigt. Mit diesem Argument ist die Begründung der Gottheit nicht schwierig.» Das Argument könnte aber nur dann als gültig genommen werden, wenn die Teilung des Seins in Möglich-Seiendes und Notwendig-Seiendes von Geltung wäre. Sehen wir uns an, mit welcher Berechtigung die Religionskundigen das Sein in Möglich-Seiendes und Notwendig-Seiendes teilen. Sie sagen: «Wir sind der Meinung, dass die Dinge einer Ursache bedürfen, so wie der Fötus eines Erzeugers bedarf oder das Samenkorn eines Baumes. Das Universum, diese Summe aller Dinge, benötigt eine Ursache. Also wird das Universum zum Möglich-Seienden, und nun bei ihm anzuhalten verbietet sich. Dies vorausgesetzt, urteilen wir, dass es ein Sein geben muss, das bar jeder Ursache, aber selbst die Ursache des Möglich-Seienden, nämlich des Universums ist. Und bei dieser notwendigen Existenz (wodjūd-e wādjeb) halten wir an und betrachten sie als die Ursache aller Dinge, die er geschaffen hat.» Die Naturkundler aber sprechen dieser Überzeugung (eʿteqād) aus folgendem Grunde die Gültigkeit ab. Sie sagen: «Die Dinge bedürfen 193
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wohl einer Ursache hinsichtlich ihrer Umwandlung (tanawwoʿāt) und Fortpflanzung (enteqālāt) – aber nicht im Hinblick auf ihr Wesen (māhiyyat) und ihre Essenz (zāt). So benötigt ein Fötus oder ein Samenkorn im Hinblick auf seine Umwandlung und Fortpflanzung – um sich von einem Zustand in einen anderen zu verwandeln – durchaus einen Erzeuger oder Baum, nicht aber im Hinblick auf sein Wesen und seine Essenz. Unser Meinungsstreit dreht sich nicht um die Umwandlung und Fortpflanzung. Mit dem Sein meinen wir zum einen das Wesen der Dinge, [226] als Gegenteil des baren Nichts. Zum anderen meinen wir damit das Wesen des Ganzen als das einheitliche, vollkommene, umfassende Sein – also das Universum selbst. Das heißt, die gesamte Materie ist die Summe der mannigfaltigen Dinge, und diese Dinge stehen bei ihrer Umwandlung und Fortpflanzung in wechselseitiger Abhängigkeit (mohtādj be yekdīgarand). Also ist das Wesen der Dinge das Notwendig-Seiende, das Universum. Und dieses Universum, das die Summe der Dinge ist, bedarf als Wesen keines anderen Wesens und erfordert auch keine Ursache. Das Universum kann hinsichtlich seines Wesens nicht als etwas Möglich-Seiendes angesehen werden und ihm kann keine Ursache zugrunde liegen – sonst stäche die endlose Verkettung in unser aller Augen.» Die Wahrheit ist es, was hier beschrieben wurde. Die Vertreter dieser Sichtweise werden Atheisten (ātāʾīst) genannt oder Leugner des Erbauers, der Religion und des Glaubens (monkerān-e sāneʿ wa dīn wa īmān). [Wer glaubt, kann nicht wissen, wer weiß, kann nicht glauben]
Die meisten Menschen kritisieren den Autor des Schriftstückes, denn die Religions- und Glaubenslosigkeit in der Welt tilge die Hoffnung auf jenseitiges Leben und ewige Glückseligkeit. Und sie sagen: Soll dies unser ganzer Anteil sein? Fünf Tage irdisches Vergnügen, und das war es schon? Was ist da zu tun? Welche Schuld soll denn der Autor haben, wenn Glaube und Religion mit Wissen und Weisheit nicht in Einklang zu bringen sind? Hat ein Mensch Glaube und huldigt der Religion, so zählt er nicht als Wissender und Weiser, und verfügt er über Wissen und Weisheit, so wird er nicht religiös sein und fromm! Wer sich Religion und Glauben wünscht, [227] soll sich nicht in der Wissenschaft tummeln, und wer sich Erkenntnis wünscht, wird sich notgedrungen von Religion und Glaube trennen müssen. Zum einen betonen die Religionsführer des Islam mit aller Heftigkeit, dass wir Religion und Glaube nicht verlassen 194
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sollen, um von der Hoffnung auf das Jenseits und die ewige Glückseligkeit nicht ausgeschlossen zu werden. Zum anderen rufen uns die Gelehrten und Weisen (hokamā) Europas zu, wir müssten uns von Wildheit, Barbarei und Unwissenheit befreien. Sollten wir auf die Worte der Religionsführer des Islam hören und ein paar Erdentage in der Hoffnung auf ewiges Jenseits leben, so werden wir wohl oder übel vom Licht der Wissenschaft und Zivilisation ausgeschlossen – wie wir es jetzt schon sind! Hören wir aber auf die Worte der Gelehrten und Weisen Europas und machen den Schritt in den Kreis der Wissenschaft und Zivilisation, erstreben die Befreiung aus Wildheit (wahshiyyat), Barbarei (barbariyyat) und Unwissenheit, so hat dies Folgen: Gott wird zum bloßen Bewahrer unserer Religion und unserer süßen Wünsche, die wir, begierig nach den paradiesischen Jungfern, in uns tragen. Das heißt, die Hoffnung auf das jenseitige Leben, auf die ewige Glückseligkeit löst sich von selbst auf. Ein Hoch auf all jene, die diesen Widerspruch in Einklang bringen können! Mich dünkt in der Tat, dies sei eine glatte Unmöglichkeit. Bisher haben wir die Worte der Religionsführer vorgezogen, von der Hedschra bis heute – ja, was haben wir wegen Glauben und Religion für schändliche Taten begangen, deren bloße Erwähnung Entsetzen aufkommen lässt: Das Verbrennen der Bücher aus den Häusern des Wissens, [228] die von den gebildeten Gemeinschaften übriggeblieben waren, das Blutvergießen und dergleichen mehr. Immerzu beibehalten haben wir unsere Religion und unseren Glauben, mitsamt der Wildheit, Barbarei und Unwissenheit, die deren Resultat ja sind, und falls wir weiterhin ebendies wählen, so wird sich unser Zustand nie ändern und der Fortschritt der Welt bleibt uns unzugänglich und die gute Moral ein ferner Traum. Der Autor wünscht sich übrigens nicht, dass die Menschen zu Atheisten werden und Glaube und Religion nicht mehr hegen. Seine Botschaft ist vielmehr, dass der Islam im Zugzwang der Zeiten und Zustände eines Protestantismus (prātestāntīzm) bedarf. Der vollkommene Protestantismus ist mit den Bedingungen des Fortschritts (prūqre) konform und nur eine Zivilisierung ist Garant dieser Freiheiten wie auch der Rechtsgleichheit der Menschen (mosāwāt-e hoqūqiyye-ye bashar) – vorausgesetzt, der Despotismus der östlichen Herrscher (dīspūtīzm-e salātīn-e mashreqiyye) wird mittels besonnener Reformen (tanzīmāt) abgeschwächt und die notwendige Schriftkundigkeit (sawād) aller Menschen der Islamgemeinschaft – Männer wie auch Frauen – wird endlich erreicht. 195
Gottvertrauen auf dem Prüfstand – Ein Disput iranischer Intellektueller Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder
Solange sich die Nationen Europas nicht vom Joch ihrer Patriarchen und Päpste befreit hatten, erreichten sie den heutigen Fortschrittsgrad nicht. Als auch sie noch in der Wüste des Aberglaubens, im Sumpfloch der Nachahmung geistlicher Führer festsaßen, war ihre Lage noch tausendmal schlimmer als die der Iraner. [Kermānī 1.14] Einleitung
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ie kleine Schrift «Inschallah, Maschallah» (So Gott will, es ist gottgewollt) ist eine scharfzüngige Religions- und Gesellschaftskritik, dargestellt als Diskussionsrunde einer Gruppe vorwiegend iranischer Intellektueller im osmanischen Exil. Da fast alle Teilnehmer einem von Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī gegründeten Verein namens 2 «Allianz des Islam» (ettehād-e eslām) angehörten, fand die Diskussion möglicherweise in diesem Rahmen statt. Es gilt als einigermaßen ge3 sichert, dass Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī Autor der Niederschrift ist. Ver4 fasst wurde sie, um Thesen der Sheikhiyye-Schule zu widerlegen. Obwohl 1 2 3 4
Als Grundlage der Übersetzung dient Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, hg. v. Hārūn Wohūman und Bīzhan Khalīlī, Los Angeles: Sherkat-e Ketāb, 2007 [anonym, 1893]. Doulat-Ābādī, Yahyā: Hayāt-e Yahyā, hg. v. Hamīde Doulat-Ābādī, erster Band, vierte Auflage, Teheran: Enteshārāt-e Ferdousī, 1983/1362 h.sh. [erste Auflage 1957/1336 h.sh.], S. 98-99. Siehe dazu den Abschnitt «Kermānī, der heimliche Erzähler und Autor», S. 204. Widerlegt wird wohl konkret das Traktat «Rokn-e Rābeʿ» (Die Vierte Säule), das in der Übersetzung [Kermānī 1.16] erwähnt wird. Ādamiyat schreibt es Hādjdjī Mohammad Karīm Khān-e Kermānī (1810–1870) zu (Ādamiyat, Fereidūn: Andīshehā-ye Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī, zweite Auflage, Teheran: Enteshārāt-e Payām, 1978/1357 h.sh. [erste Auflage 1967/1346 h.sh.], S. 65) und entkräftet auch plausibel die These von Edward G. Browne, der Borhānoddīn-e Balkhī, einen der Teilnehmer der Diskussionsrunde, für den Autor hält (Materials for the Study of the Babi Religion, Cambridge: University Press, 1918, S. 224). Die Sheikhiyye-Schule, die in der Übersetzung [Rezā Pāshā 1.1] als Urheberin des Traktats genannt wird, ist eine theologische Richtung innerhalb der Zwölfer-Schia und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von Sheikh Zeinoddīn Ahmad-e Ehsāʾī (1753–1826) begründet. Kennzeichnend für sie ist ein starker Intuitionismus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich verschiedene Ausdeutungen und die Sheikhiyye näherte sich dem Establishment der Osūlī an, d.h. der theologischen Richtung, die sich primär auf Vernunftargumente bezieht. Besonders umstritten war das Dogma der «vierten Säule» (Rokn-e Rābeʿ), das sich auch die Anhänger des Babismus zu eigen machten (MacEoin, Denis: “Shaykhiyya”, in: The Encyclopaedia of Islam, ed. by C.E. Bosworth et al., Leiden: Brill, 1997, Vol. IX, S. 403-405).
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die Diskussion genau datiert ist – auf den 19. Januar 1893 – und alle Diskussionsteilnehmer historisch belegt sind, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob das illustre Streitgespräch jemals so stattgefunden hat. Sicher aber ist dessen Niederschrift ein Glanzstück persisch-islamischer Selbstreflexion, das archaische Religionskonzepte und Ulema kritisiert und als Ursachen für die Rückständigkeit des iranischen Volkes brandmarkt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prallten Wissenschaft und Religion immer heftiger aufeinander und die iranischen Intellektuellen reagierten darauf mit unterschiedlichen Strategien: Trennung zwischen Religion und Wissenschaft, Reformierung des Islam oder Harmonisierung von Islam und Wissenschaft. Die Diskussion in «Inschallah, Maschallah» bewegt sich zwischen diesen drei Ansätzen. Eine scharfe Kritik an Aberglauben und Ulema – aber nicht an Religion an sich – ist aus dem Werk zu erschließen. Bald wird der Islam modernisiert, bald werden die westlichen Errungenschaften islamisiert. Im Folgenden werden die Protagonisten und ihre Positionen vorgestellt. Die Protagonisten in «Inschallah, Maschallah»
Yusof Reza Pasha 5
Yusof Reza Pasha gehörte zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Osmanischen Reiches im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er pflegte enge Beziehungen zu den iranischen Freiheitsaktivisten, war Mitglied des Vereins «Allianz des Islam» und spielte bei dessen Briefen an die Ulema eine 6 entscheidende Rolle. Im Jahre 1893 war er Minister und Vorsitzender der Istanbuler Einwanderungskommission. Als Schiit und Freund Kermānīs konnte er wiederholt erfolgreich verhindern, dass dieser aus politischen 7 Gründen nach Iran ausgeliefert wurde. In «Inschallah, Maschallah» schreibt Kermānī ihm, dem einzigen Osmanen, die Rolle des Gastgebers zu, der das Thema lanciert und das zu diskutierende Traktat – eine Erläuterung des Spruches Inschallah – mit in die Diskussionsrunde bringt. Er lässt Yusof Reza Pasha nicht theologisch, sondern philosophisch an die Frage herangehen, wobei seine Argumentationsweise stellenweise so stark an die von Kermānī erinnert, dass wir davon ausgehen müssen, dass 5 6 7
Geburts- und Sterbedatum sind uns unbekannt. Vorwort von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S. 27-28. Ādamiyat, Fereidūn: Andīshehā, S. 39.
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einige Aussagen, die Rezā Pāshā zugeschrieben werden, Kermānīs eigene 8 Meinung wiedergeben. Bereits bei der Vorstellung des Traktats wird Rezā Pāshās religionskritische Haltung deutlich. Was den Sinn des Ausdrucks Inschallah betrifft, so möchte der Pascha diesen rational-philosophisch begründet sehen: «Wenn jemand eine Handlung vollziehen will, dann liegen – so sagen es die Philosophen – die Mittel zur Ausführung dieser Handlung nicht außerhalb der vier Ursachen (ʿelal-e arbaʿe), näm9 lich Wirk-, Material-, Form- und Zweckursache. In welchem dieser Gründe ist das Aussprechen von Inschallah zu suchen? [Rezā Pāshā 2.1].» Sehr geschickt stellt Rezā Pāshā die Materialisten und Naturalisten den Theologen gegenüber. Er ist derjenige, der Philosophie und Rationalismus bewusst auf Theologie und Vorbestimmung prallen lässt. Ein vernünftiges Vorhaben, so Rezā Pāshā, bedürfe nicht des Aussprechens von Inschallah. Es seien nicht diejenigen, die an diesen Spruch glauben, sondern vielmehr die Materialisten und Naturalisten gewesen, die Großes hervorgebracht hätten: «Die meisten Europäer – besonders diejenigen, welche Quell und Ursprung der großartigen Errungenschaften der Welt darstellen – waren und sind Materialisten (māddī) und Naturalisten (tabīʿī). Sie verwandten und verwenden weder in Wort noch in Absicht den Ausdruck Inschallah, nahmen und nehmen ihn weder in ihre Sprache noch in ihre Gedanken auf – ja sie sannen gar nicht erst danach, wie dieser Spruch zu deuten sei [Rezā Pāshā 2.2].» Die Ulema hingegen brächten mit ihrer Gottesgläubigkeit nichts zustande: «Denn sie sind mit den Material- und Formursachen nicht vertraut, erkennen Konsequenzen von Handlungen nicht und erledigen die Dinge nicht auf sinnhafte Weise [Rezā Pāshā 2.3].» Rezā Pāshā argumentiert offenbarungsunabhängig. Sein Ausgangspunkt ist die Vernunft (ʿaql) – im Gegensatz zum folgenden Protagonisten, Sheikhorraʾīs, der von der Überlieferung (naql) ausgeht.
Sheikhorraʾīs Mit dem Protagonisten Sheikhorraʾīs Abū l-Maʿālī ist wahrscheinlich Abū l-Hasan Mīrzā Sheikhorraʾīs-e Qādjār (1847/48–1917/18) gemeint, der von seinem Zeitgenossen, dem Historiker Doulat-Ābādī, als Mitglied des Ver8 9
Siehe dazu den Abschnitt «Kermānī, der heimliche Erzähler und Autor», S. 204. Die aristotelische Lehre von den vier Ursachen hat in der islamischen Philosophie weithin Anerkennung gefunden, vgl. Jolivet, Jean: “La répartition des causes chez Aristote et Avicenne: le sens d'un déplacement”, in: J. Jolivet, Z. Kaluza et A. de Libera (éd.): Lectionum Varietates, Hommage à Paul Vignaux (1904–1987), Paris: Vrin (Études de philosophie médiévale, LXV), 1991, S. 49-65.
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eins «Allianz des Islam» aufgelistet wurde. Er war ein Enkel des iranischen Schahs Fath ʿAlī Shāh (1771–1834) und wirkte als Kleriker und Dichter. Wie zahlreiche andere Dissidenten seiner Zeit war er nach seinem Studium in Teheran ständig auf der Flucht. Nach einem Streit mit dem Bruder von Nāseroddīn Shāh (1831–1896) wurde er nach Kalāt-e Nāderī (Khorasan) verbannt, von wo er nach Konflikten mit dem dortigen Herrscher wiederum zur Auswanderung nach Aschchabad gezwungen war. Nach einer Pilgerfahrt reiste er ins Osmanische Reich, wo er am Hof von Sultan Abdülhamid II. mit offenen Armen empfangen wurde. Im Zusammenhang mit der «Allianz des Islam» traf Sheikhorraʾīs 1893 auf 11 Afghānī. Im Gegensatz zum vernunftorientierten Beamten Rezā Pāshā lässt Kermānī den Dichter und Verleger Sheikhorraʾīs mit einem theologischen Argumentarium die Nützlichkeit des Ausspruchs Inschallah verteidigen. Bei seiner Erläuterung wird deutlich, dass er die Existenz eines «Buches der Schicksale», nämlich der im Koran (85:22) verbürgten «wohlverwahrten Tafel» (louh-e mahfūz), auf der das ganze Weltgeschehen vorbestimmt sei, für bare Münze nimmt: «Wenn die Entstehung einer Sache im Wissen Gottes festgelegt ist, dann sind ihre Ursachen und Gründe – zu denen auch das Aussprechen von Inschallah zu zählen ist – ebenfalls im Wissen Gottes festgelegt. In dieser Sichtweise ist also sowohl das Aussprechen wie auch das Nichtaussprechen von Inschallah eine auf der wohlverwahrten Tafel festgelegte Vorbestimmung [Sheikhorraʾīs 1.2].» Sheikhorraʾīs legt eine traditionalistische Frömmigkeit an den Tag, der zufolge der Mensch keinen freien Willen hat und vollkommener Vorbestimmung unterworfen ist. Auch verweist er auf den Koran, der diese Worte von Gläubigen verlange: «Sie sprechen gegen den Wortlaut des gesegneten Verses, der da besagt: Sag nie von einer Sache: ‹Ich tue das morgen›, ohne hinzuzufügen: ‹Gott mag es wollen!› (Koran 18:23-24) [Sheikhorraʾīs 3.1].» Zuletzt warnt er Rezā Pāshā vor allzu ketzerischen Äußerungen. Unter anderen Umständen drohe ihm für solche Rede der Takfir, der Religionsausschluss. Mit diesem Tadel kulminiert der Streit zwischen dem frommen Sheikhorraʾīs und dem weltlichen Rezā Pāshā, worauf Afghānī als Schiedsperson hinzugezogen wird.
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Doulat-Ābādī, Hayāt-e Yahyā, S. 99. Vorwort von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S.14-21.
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Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī (1838/39–1897) war politischer Aktivist, Antikolonialist und vernunftorientierter Religionsreformator. Er deklarierte den Islam als Vernunftreligion und setzte sich, von dieser Idee ausgehend, zeitlebens für die Annahme westlicher Wissenschaften und ihre Harmonisierung mit dem Islam ein, allerdings je nach Publikum mit sehr 12 unterschiedlichen Akzenten und Tabuzonen. Obwohl nachweislich iranischer Abstammung, beharrte er zeitlebens darauf, Afghane und somit kein Schiit zu sein, ein Umstand, der als Schutz vor Anfeindungen seitens 13 14 sunnitischer Traditionalisten, aber auch der iranischen Regierung gedeutet wird. Seine reformatorischen und panislamischen Ideen und Forderungen stießen indes bei den konservativen Ulema auf erheblichen Widerstand – sie bewirkten 1870 sogar seine vorübergehende Verbannung aus Istanbul. Bei den politischen Machthabern im Irak, in Afghanistan, dem Osmanischen Reich, Ägypten, Indien, Frankreich, England und Russland fanden seine Aktivitäten jeweils nur kurze Zeit Anklang und endeten meist mit einem Landesverweis. Sultan Abdülhamid II, der Afghānīs Ideen von einer nichtautokratischen Herrschaft eigentlich entschieden widersprach, erblickte in ihm indes zunächst einen Mitstreiter für die islamische Einheit und lud ihn im Sommer 1892 nach Istanbul ein. Dort 15 gründete Afghānī den Verein «Allianz des Islam», der, wie erwähnt, möglicherweise den Rahmen bot, in dem die Protagonisten von «Inschallah, Maschallah» miteinander disputierten. Afghānī soll im Osmanischen Reich an Krebs gestorben sein. Der Religionsreformator Afghānī wird in «Inschallah, Maschallah» als Schlichter präsentiert. Er stellt sich gewissermaßen über die beiden Vorredner, schlägt einen Mittelweg zwischen der theologischen Interpretation von Sheikhorraʾīs und der weltlichen Philosophie von Rezā Pāshā ein. Dazu kritisiert er einerseits die profane Haltung des Rezā Pāshā, denn alles könne der Mensch ja wohl nicht selber lenken: «Alle Zügel liegen in Gottes Hand [Afghānī 1.1].» Doch auch die fromme Haltung von Sheikhorraʾīs will Afghānī nicht teilen. So nütze ein Inschallah kaum der 12 13 14 15
Siehe Kügelgen, Anke von: Konflikt, Harmonie oder Autonomie? Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion, im vorliegenden Band S. 70. Keddie, Nikki R.: An Islamic Response to Imperialism, Berkeley: University of California Press, 1968, S. 5-9. Doulat-Ābādī, Hayāt-e Yahyā, S. 91. Doulat-Ābādī, Hayāt-e Yahyā, S. 98-99; vgl. Keddie, Sayyid, [S. 50, Fn. 58], S. 380-381.
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Sache selbst, sondern eher dem Menschen, der es ausspreche: «Der Ausdruck Inschallah soll als Vorbehalt auftreten, und dieser Vorbehalt hat nicht den Zweck, dass Gott der Person gegenüber wohlwollend werde und sich deswegen für die Verwirklichung ihres Ziels einsetzen solle. Ebenso stimmt das Nichtaussprechen von Inschallah Gott nicht zornig und stur. Vielmehr dient Inschallah dazu, dass beim Gesprächspartner keine allzu große Zuversicht, keine definitive Sicherheit aufkomme [Afghānī 1.1].» Er versucht also, das Aussprechen von Inschallah rational zu begründen, indem er dem Beweggrund für das Aussprechen dieses Ausdruckes nachgeht. Auf gesellschaftspolitischer Ebene schwenkt er auf den rationalistischen Kurs von Rezā Pāshā ein: «In anderen Ländern ist jedes Ding an seinem Platz, die Verhältnisse (omūr-e ʿālam) sind geordnet (monazzam) und diszipliniert, es herrscht weniger Chaos, man lässt jede Sache auf die ihr angemessene Weise erledigen und hat den Grund aller Dinge entdeckt. Das ist es, was es in jenen Gegenden weniger nötig macht, den Ausdruck Inschallah auszusprechen [Afghānī 1.2].» Diese Haltung – das Religiöse zu rationalisieren und zu verweltlichen – entspricht weitgehend der Herangehensweise, deren sich Afghānī bei der Modernisierung des Islam in seinen Werken bedient. Er hat immer die westlichen Errungenschaften vor Augen und leitet aus Koran und Sunna im Grunde genommen keinerlei theologische Dogmen ab. Im Gegenteil propagiert er eigene Gedanken, die dem Fortbestand und der Entwicklung der Gesellschaft dienlich sein sollen, und projiziert diese in die Religion hinein. Durch diese Einbettung kann er den Gedanken, von denen er hofft, sie würden dereinst zu Normen, höhere Geltung verschaffen, 16 als wenn er sie in einem nichtreligiösen Kontext äußern würde. So versucht Afghānī, Religion und Wissenschaft auszusöhnen: «Denn wer der Wahrheit ins Antlitz blickt, weiß sehr wohl, dass die Suche nach den Ursachen der Dinge und das Aufdecken der Gründe (djostan-e asbāb wa estekshāf-e ʿelal-e omūr) gleichzusetzen sind mit der Suche nach Gott, dem Urgrund, dem alles Seiende entströmt [Afghānī 2.2].» Nicht in abgehobenen Gebetstiraden, sondern in der physischen Welt selbst will Afghānī also das Göttliche erkennen. 16
In seinem Artikel «Fawāʾed-e Falsafe» (Der Nutzen der Philosophie) hat sich diese Methode besonders herauskristallisiert (vgl. al-Afghānī: “Fawāʾed-e Falsafe”, in: Madjmūʿe-ye Āsār (al-Āthār al-Kāmila) IX: Madjmūʿe-ye Rasāʾel wa Maqālāt, hg. v. Seyyed Hādī Khosroushāhī, Kairo: Maktabat ash-Shurūq ad-Duwaliyya, 2002/ 1423 h.q., S.104-117).
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Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī (1854/55–1896), geboren als ʿAbd ul-Hosein Khān in einem Dorf in Kerman, gehört zur zweiten Generation säkularer iranischer Schriftsteller im 19. Jahrhundert und war Historiker, Religionsund Gesellschaftskritiker sowie einer der Theoretiker des die vorislamische Hochkultur der Achämeniden und Sassaniden preisenden Nationa17 lismus, aber auch Verfechter des Humanismus und einer der Vordenker der Konstitutionellen Revolution von 1905. Er gilt als Befreier der Philosophie aus ihrem in den Medresen vorgegebenen Rahmen und als bedeu18 tendster iranischer Journalist des 19. Jahrhunderts. In den letzten Jahren seines Lebens entwickelte er sich zu einem Religionskritiker. Seine Kritik geht mit einem starken Nationalismus und Anti-Arabismus einher, was in 19 seinen Werken «Se Maktūb» (Drei Briefe) und «Sad Khetābe» (Hundert 20 Reden) besonders prägnant zum Ausdruck kommt. Nachdem Kermānī als Steuereintreiber des Städtchens Bardsīr mit der Regierung in Kerman in Konflikt geraten war, wandte er sich nach Isfahan, wo er zunächst ein einfaches Leben führte. Bald sprach sich die Ankunft des Weisen aus Kerman herum und er erhielt einen Posten in der Regierung des damaligen Gouverneurs Zellossoltān von Isfahan. Doch auch diese Anstellung sollte er verlieren, nachdem er die Isfahaner Regierung kritisiert hatte. Gemeinsam mit einem Freund machte er sich nach Teheran auf, von wo er aus unbekannten Gründen ebenfalls verbannt wurde. 1886 floh Kermānī aufgrund staatlicher Verfolgung nach 17
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Kermānī haderte mit der Rückständigkeit seines Heimatlandes und wünschte sich einen modernisierten Iran. Er litt am Verlust der iranischen Zivilisation und Hochkultur, der seiner Meinung nach dem Aufkommen des Islam geschuldet war, und begann sich deshalb mit Geschichtsschreibung zu befassen. So schrieb er in seinem Historienwerk «Āyīne-ye Sekandarī» (Der alexandrinische Spiegel), der von Aufstieg und Untergang, Fortschritt und Dekadenz der Nationen handelt: «Für die Beständigkeit der Nation haben wir keine besseren Mittel als die Geschichte.» (Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Āyīne-ye Sekandarī, hg. v. ʿAlī Asghar Haqdār, Teheran: Nashr-e Česhme, 2014/1392 h.sh. [anonym, Ende des 19. Jahrhunderts], S. 37). Vgl. Ādamiyat, Andīshehā, S. 2-70 sowie Bayat, Mangol: “Āqā Khan Kermānī”, in: Encyclopaedia Iranica, ed. by E. Yarshater, London u.a.: Routledge & Kegan Paul, 1987 ff., Vol. II, S.175-177. Die «Se Maktūb» schrieb Kermānī inspiriert von und in Anlehnung an Ākhūndzāde. Die ersten Seiten des Werks (S.119-142) sind sogar aus den «Maktūbāt-e Kamāloddoule» (Die Briefe von Kamāloddoule) von Ākhūndzāde übernommen (Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Se Maktūb, hg. v. Bahrām Čūbīne, Frankfurt u.a.: Alborz Verlag, 2005 [anonym, Ende des 19. Jahrhunderts]). Kermānī, Mīrzā Āqā Khān: Sad Khetābe, hg. v. Mohammad Djaʿfar Mahdjūb, Los Angeles: Sherkat-e Ketāb, 2006 [anonym, Ende des 19. Jahrhunderts].
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Istanbul. Hier lernte er diverse europäische Orientalisten und osmanische Intellektuelle kennen und wurde mit westlichem Gedankengut und den Ideen der Jungtürken vertraut. Er verfasste zahlreiche journalistische Artikel, unter anderem für die persischsprachige Zeitung Akhtar (Stern), die 21 von Istanbul aus die iranische Regierung kritisierte. Im türkischen Exil arbeitete er eine Zeit lang auch mit Afghānī an der Ideologie der «Allianz 22 des Islam». Kermānī, der offenbar Englisch, Französisch, Arabisch und Osmanisch-Türkisch verstand sowie Kenntnisse in alt- und mittelpersischen Sprachen bzw. Sprachstufen wie Awestisch, Zand und Pahlavi hatte, verfasste zahlreiche Artikel und insgesamt zwanzig Bücher, die meisten davon im Exil. Er bediente sich einer einfachen Sprache, um allen Bevölkerungsschichten Zugang zu den Inhalten seiner Werke zu ermöglichen. 1896 wurde Kermānī von den osmanischen Behörden nach Iran ausgeliefert und zusammen mit den zwei Freunden Sheikh Ahmad-e Rūhī und Mīrzā Hasan Khān-e Kabīrolmolk, die ebenfalls als Exilanten im Osmanischen Reich gelebt hatten, in Täbris enthauptet, da ihm und den Freunden eine Verbindung zum Mord an Nāseroddīn Shāh vorgeworfen 23 wurde. Es ist zu vermuten, dass ab dem Abschnitt «Um mit dem Seyyed zu sprechen (...)» der Autor selbst seine Gedanken zu Papier bringt, allerdings ohne sich dabei als einen der Protagonisten vorzustellen. In der Übersetzung wird dieser Teil deshalb mit [Kermānī 1.1, etc.] bezeichnet. 21
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Akhtar wurde von Āqā Mohammad Tāher-e Tabrīzī 1876 gegründet. Während das Blatt anfänglich von der iranischen Regierung Unterstützung erhielt, wurde seine Verbreitung in Iran später verboten (Ādamiyat, Andīshehā, S. 22-23). Die erste Nummer erschien am 13. Januar 1876 in Istanbul. Anfangs wurde die Zeitung täglich außer freitags und samstags herausgegeben, später noch einmal pro Woche (Pistor-Hatam, Anja: Iran und die Reformbewegung im Osmanischen Reich. Persische Staatsmänner, Reisende und Oppositionelle unter dem Einfluss der Tanẓīmāt, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 1992, S.179). Zu einer Analyse der Zeitung Akhtar siehe Pistor-Hatam, Anja: Nachrichtenblatt, Informationsbörse und Diskussionsforum. Akhtar-e Estānbūl (1876–1896) – Anstöße zur frühen persischen Moderne, Münster u.a.: LIT, 1999. Kermānīs Mitarbeit in der «Allianz des Islam» erfolgte wahrscheinlich nicht aus Überzeugung, sondern aus pragmatischen Gründen, denn in Werken wie «Se Maktūb» oder «Sad Khetābe» übt er Kritik an Ulema, Religion und besonders am Islam. Von der Stärkung von Sultan Abdülhamid II versprach er sich wahrscheinlich eine Schwächung der despotischen Herrschaft im Iran. Vgl. Keddie, Sayyid, [S. 50, Fn. 58], S. 382. Neben Ādamiyat hat sich Bayat-Philipp umfassend mit Kermānī befasst, so in BayatPhilipp, Mangol: Mirza Aqa Khan Kirmani: a nineteenth century Persian revolutionary thinker, Los Angeles: University of California (unveröffentl. Diss.), 1971; Dies.: “Mīrzā Āqā Khān Kirmānī: a Nineteenth-Century Persian Nationalist”, in: Middle Eastern Studies 10 (1974), S. 36-59; Dies.: “The Concepts of Religion and Government in the Thought of Mīrzā Āqā Khān Kirmānī, a Nineteenth-Century Persian Revolutionary”, in: International Journal of Middle Eastern Studies 5 (1974), S. 381-400.
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Kermānī versucht, sich über die ganze Diskussion zu erheben, indem er ihr zuerst die Wichtigkeit abspricht. Alsdann führt er auf die Argumentationslinie zurück, die schon Rezā Pāshā benutzt hatte. Das abergläubische Verhalten sei der Grund, wieso die Muslime «von der Karawane des Weltfortschritts abgehängt» worden seien [Kermānī 1.5]. Statt Aberglauben und Unsinn wünscht sich Kermānī Wissenschaftlichkeit: «Es wäre gut, wenn man statt all dessen etwas Wissenschaftliches (masʾale-ye ʿelmī) zum Ausdruck brächte, das der Lebensweise (ahwāl), Moral (akhlāq) und Sittlichkeit (ādāb) der Leute zuträglich ist, damit die gewöhnlichen Menschen profitieren und die Gebildeten Lob spenden [Kermānī 1.3].» Die Angesehenen, das heißt die Ulema, täten das nicht, weil sie die Menschen «blind und taub» [Kermānī 1.4] halten wollten, um sie weiterhin auszunutzen. Er zieht auch – wahrscheinlich in Anlehnung an Afghānī – eine Trennlinie zwischen Physik und Metaphysik, indem er den Ulema und den Mystikern vorwirft, sie befassten sich dauernd mit der «vollkommenen Illusion» (mouhūm-e motlaq), also der Metaphysik, kännten aber nicht einmal das «vollkommen Offenkundige» (maʿlūm-e motlaq), also die Physik [Kermānī 1.8]. So sehr er hier die Ulema und den von ihnen verbreiteten Aberglauben ins Visier nimmt, die Religion selbst lässt er unangetastet. Möglicherweise hätte er, wäre er weitergegangen, einen Religionsausschluss zu fürchten gehabt. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass er die westlichen Errungenschaften islamisch deutet und sie in diesem Sinne islamisiert: «Die Europäer übernahmen die ganzen Vorzüge der islamischen Religion (dīn-e eslām), während uns nur ihr leerer Name übrigbleibt [Kermānī 1.13].» Kermānī, der heimliche Erzähler und Autor
Die Zeitgenossen, namentlich der Historiker Doulat-Ābādī (1863–1939) sowie der Orientalist Edward G. Browne (1862–1926), der mit Kermānī in 24 Kontakt stand, schreiben «Inschallah, Maschallah» dessen Feder zu. In jüngerer Zeit bestätigten unter anderem Keddie und Ādamiyat diesen 25 Befund. Zweifel an der Autorschaft Kermānīs äußert einzig Khosroushāhī, der hinter dem Werk Afghānī vermutet, selbst er räumt aber ein, 26 dass wohl nur ein Teil der Aussagen von diesem stamme. Der franzö24 25 26
Doulat-Ābādī, Hayāt-e Yahyā, S.160; Browne, Materials, S. 224. Zur Einschätzung Brownes siehe Ādamiyat, Andīshehā, S. 65. Keddie, Sayyid, [S. 50, Fn. 58], S. 378; Ādamiyat, Andīshehā, S. 65. Annotation von Khosroushāhī zu “Enshāʾallāh, Māshāʾallāh”, in: al-Afghānī: Madjmūʿe-
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sische Konsul Alphonse L.M. Nicolas, der 1912 eine Übersetzung von «Inschallah, Maschallah» veröffentlichte, hielt Borhānoddīn-e Balkhī für den 27 Autor. Dass Kermānī sich als Autor dieser doch sehr kritischen Gedanken bedeckt hielt, ist aus zeitgeschichtlicher Warte keine Überraschung: Er dürfte sich bei solch messerscharfen Verbalattacken vor einem Religionsausschluss und weiteren Unannehmlichkeiten gefürchtet haben. Au28 toren wie Ākhūndzāde haben, um sich vor Repressalien seitens der Ulema zu schützen, mehrmals ihre Autorschaft verschleiert, was angesichts der von politischer Verfolgung geprägten Lebensgeschichten kritischer iranischer Denker des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht verwundern kann. Auch sonst deutet einiges darauf hin, dass Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī der Autor von «Inschallah, Maschallah» ist. Zum einen hielt sich Kermānī zur fraglichen Zeit (1893) in Istanbul auf und hatte mit allen drei 29 Protagonisten Kontakt. Zum anderen erinnern Ansichten und Rhetorik in der zweiten Hälfte der Abhandlung – also jenem Teil, der in der Originalversion keinem Redner zugeordnet wird und hier mit [Kermānī 1.1] bis [Kermānī 1.18] bezeichnet wird – an die Argumentationsweise in Kermānīs übrigen Werken. Folgende Stellen zeigen dies: In [Kermānī 1.11] ist von «Ursachen des Fortschritts und der Dekadenz» die Rede: «Und erst recht wissen sie nicht, wo die Ursachen des Fortschritts und der Dekadenz (ʿellat-e taraqqī wa tanazzol) der Nationen unserer Weltgeschichte gelegen haben.» Die Wendung taucht in Kermānīs Werk immer wieder auf, so in «Āyīne-ye Sekandarī» (Der alexandrinische Spiegel) mit identischer Wortwahl: «Eine Nation, welche die Geschichte ihrer Vorfahren und die Ursachen des Fortschritts und der Dekadenz (ʿellat-e taraqqī wa tanazzol) nicht kennt, gleicht einem Kind, das weder seinen Vater noch 30 seine Vorfahren kennt.» Andere Stellen haben zwar keinen identischen, aber ähnlichen Wortlaut. So lesen wir in den «Se Maktūb»: «Erstaunlicher ist: Wer sich zu solchen Illusionen nicht bekennt, dessen Eigentum und Blut wird für halāl erklärt, seine Frau wird harām und als sein Platz
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ye Āsār (al-Āsār al-Kāmila) IX: Madjmūʿe-ye Rasāʾel wa Maqālāt, hg. v. Seyyed Hādī Khosroushāhī, Kairo: Maktabat ash-Shurūq ad-Duwaliyya, 2002/1423 h.q., S. 251. Nicolas, Alphonse L.M.: “Controverses persanes”, in: Revue du monde musulman 21 (1912), S. 238-260. Siehe den Titel seiner Übersetzung: «Le livre “In Cha Allah!” refuté par Borhan ed-Din Balkhi» (S. 239). Siehe den Beitrag zu Ākhūndzāde, S.121 in diesem Band. Ādamiyat, Andīshehā, S. 37-40. Kermānī, Āyīne-ye Sekandarī, S. 35.
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wird die Hölle bestimmt.» In [Kermānī 1.15] heißt es: «Es ist offenkundig, dass jeder, der solche Worte sagt, von diesen geistlichen Scharlatanen bar jeden Zögerns und ohne weitere Anhörung zum Gottesleugner erklärt, ja seine Ermordung angeordnet wird, und man ihm donnergrollend sagt: ‹Oh du Fluchwürdiger! Du hast die Scharia missachtet, bist von der Religion abgefallen, abtrünnig geworden, ungläubig bist du! Deine Ermordung ist somit Pflicht (wādjeb), dein Blut ist halāl und dein Eigentum steht allen frei!›». Auch seltene Schimpfwörter wie qoromsāqī (lasterhaftes Verhalten [Kermānī 1.7]) deuten auf Kermānī als Autor hin, 32 da sie auch in «Se Maktūb» benutzt werden. Generell werden die Argumente äußerst unverblümt und scharfzüngig vorgetragen – eine Ausdrucksweise, die wir in dieser Epoche nur von Kermānī überliefert haben. Hinzu kommt der fließende und poetische Schreibstil, der ebenfalls diesem Autor eigen ist. Insgesamt entsteht der Eindruck, Kermānī habe die Diskussion – falls eine solche überhaupt stattgefunden hat – nicht im eigentlichen Sinne protokolliert, sondern eher überspitzt und tendenziös zusammengefasst. Vor allem in Rezā Pāshās Wendungen und Schimpfwörtern scheint ab und an Kermānīs Gedankenwelt durch, wie folgende Beispiele zeigen: Eine dem Pascha zugeschriebene Stelle [Rezā Pāshā 2.6] lautet: «Die Menschen Irans aber haben die Vorstellung, Gott sei wie der König, sei wie all diese schamlosen (pofyūz) Prinzen – welche sich durchaus solche unsinnigen Schmeicheleien und Speichelleckereien wünschen!» Schimpfwörter wie das umgangssprachliche und stark abwertende Adjektiv pofyūz (schamlos) kommen in Rezā Pāshās Rede sowie in Kermānīs «Se Maktūb» häufig vor, aber kaum je bei anderen Schriftstellern. Auch erwähnt Rezā Pāshā [2.2] den berühmten schiitischen Geistlichen und Ha33 dith-Sammler Mohammad Bāqer-e Madjlesī (1627–1700) und kritisiert ihn scharf – genauso wie Kermānī, der diesen in «Se Maktūb» dauernd 34 anprangert und ihm die Rückständigkeit Irans anlastet. Der Aberglaube rund um den Engel Boddūh schließlich, den Rezā Pāshā [2.5] als Beispiel dümmlicher Frömmigkeit kritisiert, wird auch in «Se Maktūb» auf die Schippe genommen. Tatsächlich glaubten die Leute, so Kermānī, Boddūh 31 32 33 34
Kermānī, Se Maktūb, S. 381. Ebd., S. 347. In «Se Maktūb» kommen weitere Schimpfwörter wie dayyūs (Hahnrei, S. 348), qahbe khānom (Schlampe, S. 339) u.a. vor. Siehe auch den Beitrag zu Ākhūndzāde, S.121 in diesem Band. Kermānī, Se Maktūb, S.187-207.
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GOTTVERTRAUEN AUF DEM PRÜFSTAND – EIN DISPUT IRANISCHER INTELLEKTUELLER
sei «ein brieftragender Engel, und sie nehmen diesen Namen als heilig! Die Erzählung von Boddūh wird in den seltsamsten Versionen überliefert – diese Dummheit und Torheit hat aber kein Fundament und keine 35 Grundlage!» Nebst diesen inhaltlichen Übereinstimmungen ist es die ironisch-kritische Rhetorik des Rezā Pāshā, die dahinter einen Kermānī vermuten lässt und aufgrund deren das hier übersetzte Streitgespräch auch dem heutigen Leser noch geistige Anregung wie auch literarisches Vergnügen bieten dürfte. Technische Vorbemerkung zur Übersetzung Die Übersetzung erfolgt auf Grundlage der persischen Ausgabe von Wo36 hūman und Khalīlī (Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh). Die in eckigen Klammern eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Zur besseren Übersicht wurde die deutsche Fassung in nummerierte Abschnitte unterteilt, an deren Anfang der jeweilige Redner angegeben wird. Dem Vorbehalt, der bei der Zuordnung der Äußerungen Kermānīs besteht und im vorangehenden Kapitel «Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī» dargelegt ist, wird mit eckigen Klammern Ausdruck verliehen. Koranverse werden, abgesehen von kleinen formalen Änderungen, in der Überset37 zung von Bobzin wiedergegeben. In der Übersetzung selbst wird ausschließlich die persische Transkription verwendet. Gedichte, arabische Sprichwörter und Koranstellen werden kursiv gesetzt, wobei bei gängigen arabischen Sprichwörtern auf Quellenhinweise verzichtet wird.
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Ebd., S.124. Siehe Fn. 1. Hinzugezogen wurde die französische Übersetzung von Alphonse L.M. Nicolas, Controverses persanes (vgl. Fn. 27). Bobzin, Hartmut: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München: Beck, 2010.
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Inschallah, Maschallah
ان شاء ا ما شاء ا Mīrzā Āqā Khān-e Kermānī (1854/55–1896) aus dem Persischen von Mahdi Rezaei-Tazik und Michael Mäder
[40] Großer Beliebtheit erfreut sich bei den Osmanen die erste Freitagsnacht des Monats Radjab – sie nennen sie Laternennacht oder auch 1 Nacht der Wünsche. Da finden in den Häusern der Angesehenen, der 2 Paschas [41] und der Minister prachtvolle Gesellschaftsabende und herrliche Festlichkeiten statt, und bis zum Morgenrot wird diese Nacht in Unterhaltung verbracht. Nach ebendieser Tradition gab es in der letzten dieser Freitagsnächte, am 19. Januar 1893, im Haus des Beamten und Vorsitzenden der Einwanderungskommission, Yusof Reza Pasha, in Beshiktash eine Feier, und etliche waren zum Abendmahl geladen. [42] Nach dem Essen, im Zuge der Unterhaltung, wurde manch süßes Wort, manch eine Erklärung von nährendem Geist zwischen den Anwesenden ausgetauscht, deren Niederschrift auf diesen Blättern ich durchaus nicht nutzlos finde. Wer weiß, vielleicht erlässt Gott darob ein neues Gebot! (Koran 65:1). Die erwähnte Gesellschaft bestand aus folgenden Personen: 3
1. Seyyed Abū l-Hodā 1 2 3
Die qandīl kečesī (Laternennacht) wird in der Türkei noch heute gefeiert, unter anderem mit einer Beleuchtung der Minarette. Pascha (türk. paşa) war ab dem 15. Jahrhundert im Osmanischen Reich der Titel der höchsten Zivilbeamten und Militärs. Seyyed Abū l-Hodā war ein besonderer Vertrauter von Sultan Abdülhamid II. Sein Zeitgenosse Doulat-Ābādī beschreibt ihn als konservativen, eigennützigen und sehr eifersüchtigen Kleriker (Doulat-Ābādī, Hayāt-e Yahyā, [S. 196, Fn. 2], S.163). So verdross ihn offenbar die Gunst, die Afghānī am osmanischen Hof genoss, derart, dass er ihn beim Sultan in Misskredit gebracht zu haben scheint. Abū l-Hodās Anwesenheit bei dem Gespräch in der Laternennacht könnte damit erklärt werden, dass er Afghānīs und Kermānīs Aktivitäten im Auge behalten wollte (Vorwort von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, [S. 196, Fn.1], S.10-14). Er soll auch in die spätere Deportation von Kermānī und zwei weiteren iranischen Exilanten, Sheikh Ahmad-e Rūhī und Mīrzā Hasan Khān-e Kabīrolmolk, die deren Ermordung in Täbris zur Folge hatte, involviert gewesen sein, so der Bruder von Rūhī, Afzalolmolk-e Kermānī. Vgl. Keddie, Sayyid, [S. 50 Fn. 58], S. 380. Thomas Eich hebt hervor, dass Abū l-Hodā und Afghānī einander anfangs sehr gut verstanden haben. Im Laufe der Zeit aber stellten sich die grundlegenden Unterschiede ihrer politischen Konzeptionen heraus. «Abū lHudā trat für eine sehr zurückhaltende panislamische Politik ein, die weitgehend auf das Territorium des Osmanischen Reichs beschränkt sein sollte». Afghānī und sein
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INSCHALLAH, MASCHALLAH 4
2. Ahmad Asʿad Afandī 5 3. Seyyed Djamāloddīn 6 4. Sheikh Zāfer 7 5. Sheikhorraʾīs Abū l-Maʿālī 8 6. Behdjat Bey 9 7. Seyyed Borhānoddīn, Sohn von Sheikh Soleimān-e Balkhī, dem Autor der «Quellen der Liebe». Der Pascha und Hausherr sprach nun zu Sheikhorraʾīs: Rezā Pāshā 1.1 Da übergab mir gestern ein Mann aus dem iranischen Volk eine Lobrede, verfasst in edler Schrift auf schönem Papier. Sie schildert die Tugenden Mohammeds, des Schützers der Botschaft, und huldigt den edlen Eigenschaften der heiligen Majestät, des Sultans – auf dass ich sie, so der Mann, ebendieser Majestät überreiche. Der Mann sprach: «Mein Künstlername ist Mīrzā Nosrat und ich gehöre zu den Gebildeten 10 der [43] Sheikhiyye.» Eine Weile unterhielt ich mich mit ihm. Viele Worte ohne Hand und Fuß, ohne Sinn und Verstand sprach er! Schließlich zog er ein kleines Traktat, eine der Schriften seines Führers, unter dem Arm hervor und überreichte es mir. Gestern wie heute studierte ich das Traktat, wieder und wieder. Das Ganze beschreibt die Bedeutung der Worte Inschallah.
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vormaliger Schüler Nadīm forderten hingegen zum Aufstand gegen die Briten auf (Eich, Thomas: Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī. Eine Studie zur Instrumentalisierung sufischer Netzwerke und genealogischer Kontroversen im spätosmanischen Reich, Berlin: Klaus Schwarz, 2003, S.171). Aḥmad Asʿad war ein Notabler aus Medina, der in Kontakt zur Sultansfamilie stand (Eich, Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī, S. 47). Zu Seyyed Djamāloddīn-e Afghānī siehe oben, S. 200. Mit vollem Namen Sheikh Ẓāfir al-Madanī. In einem Dokument aus den Archiven der französischen Botschaft in Istanbul wird erwähnt, dass Madanī (als Vertreter Tripolitaniens), Abū l-Hodā (Syrien, Irak), Fazl al-Malabārī (indischer Ozean) und Aḥmad Asʿad (arabische Halbinsel) ein «Schwarzes Kabinett» gebildet hätten. Aufgabe dieses Gremiums sei es gewesen, «panislamische Propaganda für den Sultan» zu betreiben (Eich, Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī, S. 53-54). Zu Sheikhorraʾīs Abū l-Maʿālī siehe oben, S.198. Behdjat Bey war ein Staatsbeamter des Osmanischen Reiches und wahrscheinlich Ratsvorsitzender der «Allianz des Islam» (Vorwort von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S. 27). Seyyed Borhānoddīn-e Balkhī war einer der Freunde und Mitstreiter Afghānīs. Angeblich war er Afghane (Vorwort von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S. 25-27). Siehe Fn. 4.
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MĪRZĀ ĀQĀ KHĀN-E KERMĀNĪ
Rezā Pāshā 1.2 Ihr wisst wohl, dass meine Kenntnisse des Arabischen wie des Persischen gut und mir Fachbegriffe keineswegs fremd sind, dass ich 11 über die «Heilung der Seele» eine Zusammenfassung schrieb und einst 12 die «Wiederbelebung der Wissenschaften» von Ghazālī und die «Illumi13 nationsphilosophie» von Suhrawardī ins Türkische übertrug. Obwohl ich also mit achtsamem und sorgfältigem Blick versuchte, eine Folgerung aus dem Text abzuleiten, trat eine solche nicht zutage. Ganz im Gegenteil, [44] die Sache war nach dem Lesen verworrener als davor, und meine Verwunderung wuchs und wuchs. Erstaunlich! Diese armen Menschen Irans! Als wären sie Bewohner der Finsternis und verbrächten ihr ganzes Leben in einem tiefen Brunnenschacht – in was für Illusionen (mouhūmāt) und sarkastischen Dummheiten sind sie doch verhaftet. Nun, hier ist dieses Traktat: Was versteht Ihr, Exzellenz, davon? Bitte, erläutert es mir. Seine Exzellenz Sheikhorraʾīs warf einen Blick in das Traktat und sprach mit jener Beredsamkeit, die ihm so eigen ist: Sheikhorraʾīs 1.1 Ich las vor ein paar Monaten Lobhudeleien über dieses 14 Traktat in der ägyptischen Zeitung Hekmat. Schließlich bestellte ich es in Bombay. Man brachte es mir, ich sah es mir an. Auch sonst schon habe ich die Kernbotschaft dieser Herrschaften oft gehört und bin mit ihrer Sprache durchaus vertraut. Die Absicht des Autors ist es, herauszufinden, was der Ausspruch Inschallah für einen Sinn habe, wenn doch alles auf der wohlverwahrten Tafel (louh-e mahfūz) [45] festgelegt und das Wesen Gottes, des Ewigen, nicht veränderbar ist? Anders ausgedrückt, welchen Nutzen bringt das Aussprechen dieses Ausdrucks, wenn das, was geschehen soll und in Gottes Wissen (ʿelm-e haqq) festgelegt ist, ohnehin geschehen wird – ganz unabhängig davon, ob nun Inschallah gesagt wird oder nicht – und hingegen das, was nicht geschehen soll und nicht zu Seinem Wissen gehört, nicht geschehen wird? 11 12 13 14
Ein Werk von Avicenna (Abū ʿAlī ibn Sīnā, 980–1037) mit dem Titel «Kitāb ash-Shifāʾ» (Buch der Heilung). Gemeint ist das Werk «Iḥyāʾ ʿUlūm ad-Dīn» (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) von Abū Ḥāmid al-Ghazālī (1058–1111). Gemeint ist das Werk «Ḥikmat al-Ishrāq» (Illuminationsphilosophie) von Shihāb adDīn Yaḥyā Suhrawardī al-Maqtūl (1153–1193). Hekmat war eine persischsprachige Zeitung, die ab Juli 1892 während ca. zwanzig Jahren in Kairo durch Mīrzā Mehdī Khān-e Zaʿīmoddoule herausgegeben wurde (PistorHatam, Anja: Iran und die Reformbewegung im Osmanischen Reich. Persische Staatsmänner, Reisende und Oppositionelle unter dem Einfluss der Tanẓīmāt, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 1992, S.177).
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Sheikhorraʾīs 1.2 Geist seines Widerworts und kurzgefasste Antwort des Urhebers dieses Traktats ist in dieser Frage: Die Entstehung der Dinge auf jeder Stufe setze Ursachen und Gründe voraus. Das Aussprechen von Inschallah sei eine der Ursachen, welche die Entstehung der Dinge vervollständige. [46] Und wenn die Entstehung einer Sache im Wissen Gottes festgelegt ist, dann sind ihre Ursachen und Gründe – zu denen auch das Aussprechen von Inschallah zu zählen ist – ebenfalls im Wissen Gottes festgelegt. In dieser Sichtweise ist also sowohl das Aussprechen wie auch das Nichtaussprechen von Inschallah eine auf der wohlverwahrten Tafel festgelegte Vorbestimmung. Sheikhorraʾīs 1.3 Das heißt also, wenn ein Diener Gottes Inschallah spricht und die Sache in Übereinstimmung mit dem Gewünschten geschehen ist, dann erkennt er, dass es auf der wohlverwahrten Tafel so festgelegt ist; und wenn er Inschallah nicht spricht und die Sache nicht in Übereinstimmung mit dem Wunschziel geschieht, muss er ebenfalls daraus schließen, dass es auf der wohlverwahrten Tafel so vorbestimmt und festgelegt wurde, denn sie umfasst alle Entscheidungen, sogar das Sprechen oder Nichtsprechen des fraglichen Ausdrucks. Der Pascha, der das Thema aufgeworfen und aufmerksam gelauscht hatte, erwiderte: Rezā Pāshā 2.1 Ich nähme Ihre Worte an und hielte sie für vollständig, wäre dieses Prinzip für alle Fälle zutreffend. Das heißt, wenn für den Vollzug jedes Vorgangs das Aussprechen von Inschallah ausreichte, oder aber, wenn ohne das Aussprechen von Inschallah keinerlei Vorgang geschähe. [47] Nehmen wir an, der Ausdruck Inschallah gehöre zu den auf der wohlverwahrten Tafel festgelegten Vorbestimmungen. Wie kann man dann das Aussprechen von Inschallah zum Grund für das Erlangen eines Ziels oder dessen Nichtaussprechen zum Grund für dessen Misserfolg erklären? Wenn jemand eine Handlung vollziehen will, dann liegen – so sagen es die Philosophen – die Mittel zur Ausführung dieser Handlung nicht außerhalb der vier Ursachen (ʿelal-e arbaʿe), nämlich Wirk-, Material-, Form- und Zweckursache. In welchem dieser Gründe ist das Aussprechen von Inschallah zu suchen? Rezā Pāshā 2.2 Und weiter: So sehr ein Mensch auch gewillt ist, eine die 211
MĪRZĀ ĀQĀ KHĀN-E KERMĀNĪ
Scharia verletzende oder unmöglich auszuführende Handlung umzusetzen, so unbestreitbar ist es, dass, auch wenn er tausendmal Inschallah sagen sollte, eine solche Handlung keinesfalls zur Zufriedenheit des erhabenen Gottes geschähe und eine unmögliche Handlung keinesfalls dem Willen Gottes (mashiyyat) zuzuschreiben wäre. Andererseits fügt, wenn eine Tat der Scharia entspricht und vernünftig ist, das Nichtaussprechen von Inschallah der Ausführung dieser Tat nicht das kleinste Fünkchen Schaden zu. Die meisten Europäer – besonders diejenigen, welche Quell und Ursprung der großartigen Errungenschaften der Welt darstellen – waren und sind Materialisten (māddī) und Naturalisten (tabīʿī). Sie verwandten und verwenden weder in Wort noch in Absicht den Ausdruck Inschallah, [48] nahmen und nehmen ihn weder in ihre Sprache noch in ihre Gedanken auf – ja sie sannen gar nicht erst danach, wie dieser Spruch zu deuten sei. Trotzdem trugen und tragen sie grandiose Errungenschaften in die Welt, Errungenschaften, die einst schier unmöglich schienen. Währenddessen äußerten der gesegnete Madjlesī und die Isfahaner Ulema tausendmal ihr Inschallah und Maschallah und Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott, riefen gegen die Afghanen zum Dschihad auf, um am Ende doch zu unterliegen – beim ersten Angriff schon leisteten sie kaum Widerstand! –, und haben nichts vollbracht, in keiner 15 der Welten. Rezā Pāshā 2.3 Fürst Bismarck sagte während des Krieges gegen die Franzosen: [49] «In einem Monat führe ich die deutschen Truppen nach Paris.» Jemand schleunigst zu ihm: «Sag ‹So Gott will›!» Doch der Fürst erwiderte: «Inschallah? Wenn Gott will, werde ich gehen, und wenn er nicht will, werde ich auch gehen! Denn alle Material- und Formursachen (asbāb-e māddī wa sūrī) sind bereit für meine Tat – wo also liegt die Notwendigkeit dieses Spruchs?» Trotz dieses Unglaubens, den der Fürst unserer Überzeugung nach ausdrückte, hat er sein Ziel doch erreicht, mit einem Höchstmaß an Ehrgeiz gelangte er zum Erfolg. Hingegen misslingt dem Gelehrten Soundso, dem Heiligen Irgendwer bedauerlicherweise alles – und dies, obwohl sie, tausendmal ihre Gebetskette drehend, diese Bittsprüche immerzu verwenden. Denn sie sind mit den Material- und Formursachen nicht vertraut, erkennen Konsequenzen von Handlungen nicht und erledigen die Dinge nicht auf sinnhafte Weise. 15
Die Wendung «keine der Welten» bedeutet «weder im Diesseits noch im Jenseits».
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Rezā Pāshā 2.4 In den Anfängen des indischen Eisenbahnbaus [50] stand neben dem allerersten Zug, der indische Lande befahren sollte, ein Engländer. Vor einer Gruppe von Indern setzte er zu folgender Rede an: «Dieser Wagenzug schafft ohne Müh’ und Leid eine Zehntagesstrecke in einem Tag.» Ein indischer Muslim – er stand schon reisefertig da – war einerseits darüber erfreut, traute aber diesen Worten nicht und sagte: «Inschallah, dann sei es so.» Der Engländer darob: «Nein, nein, der fährt von selbst, mit einem ‹So Gott will› hat das nun nichts zu schaffen!» Rezā Pāshā 2.5 Als ich in Teheran in der Botschaft war, fragte einer der Übersetzer des französischen Konsulats, der Persisch erlernte, den Sekretär unserer Botschaft, Mīrzā Hasan Khān-e Shoukat: «Was bedeutet diese Formel, dieses 8642, das man in Iran auf jeden Umschlag schreibt?» [51] 16 Der Sekretär erwiderte: «Dies ist der Name von Boddūh, einem Engel, der den Empfängern die Briefe bringt.» Der Übersetzer daraufhin: «Hat die Post in Iran keine Briefträger? Oder läuft es dort nicht ordentlich, so dass der arme Engel sich bemühen muss?» In den Ländern Europas, Amerikas und dergleichen ist man nicht auf diesen Boddūh angewiesen, und keinesfalls bittet man diesen Engel um Gefallen, denn die Postämter sind sehr ordentlich und die Postbeamten stellen die Papiere so schnell wie möglich den Adressaten zu. Rezā Pāshā 2.6 Anstatt solche schmeichelnden, ja speichelleckerischen Worte wie ein Inschallah zu sprechen, nur damit Gott mit ihnen zufrieden sei, planen dort die Leute ihre Handlungen mit Vernunft und Bedacht, besorgen [52] die nötigen Utensilien für jede Aufgabe und führen dann alles so aus, wie es sich gehört. Die Menschen Irans aber haben die Vorstellung, Gott sei wie der König, sei wie all diese schamlosen Prinzen – welche sich durchaus solche unsinnigen Schmeicheleien und Speichelleckereien wünschen! – und freue sich und sei dankbar, wenn die Leute auch zu ihm sagen: «All unsere Taten wenden sich im Schatten Deiner Gunst zum Guten! Zerstörung (kharābī) wie auch Blüte (ābādī) der Welt liegen in Deiner Hand; so Du magst, baue sie auf, so Du magst, zerstöre sie!» Doch sie wissen nicht, dass der erhabene Gott reich und vollkom16
Dem Engel Boddūh werden übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben. In Iran wurde er oft durch die Zahl 8642 repräsentiert. Es handelt sich um eine Art Zahlen-Akronym, genannt hesāb-e abdjad. In unserem Fall steht 8 für den Buchstaben he, 6 für wāw (ū), 4 für dāl und 2 für be. Von rechts nach links gelesen ergibt sich boddūh.
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men ist und keinen Bedarf hat an derartigen Schmeicheleien seiner Knechte, und dass Er für alles bereits die Mittel bereitgestellt hat und die Glückseligkeit des Einzelnen dessen individueller Strebenskraft überlässt! Rezā Pāshā 2.7 Diese bedeutungslosen Formeln sind ohne jede Essenz und haben die Moral der Muslime – insbesondere jener aus Iran – verfaulen, verderben und verrotten lassen! [53] Und ihre angeborene Vernunft derart von den Füßen geholt, dass sie nichts zur Verbesserung ihrer Lage (eslāh-e omūr) unternehmen und stattdessen die Erwartung haben, ihr Lebenswerk werde durch himmlische Wunder geschönt. Wenn ihre Arbeit stockt, dann verlangen sie, der zurückerwartete Imam (sāheb az17 zamān) solle kommen und das in Ordnung bringen. Wenn Schmutz ihr Haus befällt, dann haben sie den Anspruch, es müssten die Engel kommen und zu fegen beginnen! Solche Trägheit, solche Faulheit aus Unwissenheit nennen sie dann Gottvertrauen. Seine Würde ist über ihr Gerede erhaben. Statt irgendetwas zu tun, lesen sie von morgens bis abends 18 Zaubersprüche, Beschwörungsformeln, Gebete wie Djaldjalūtiyye, 19 20 Harzkafʿamī, Djoushan-e kabīr oder Djoushan-e saghīr, rezitieren [54] Segenswünsche und vierfüßige, sunnitenfeindliche Verwünschungen – und sie meinen, anhand dieses Geschwätzes würden ihr Alltag geordnet, ihr Lebensunterhalt erbracht. [55] Vortrefflich! Welch unnütze Gedanken! Doch verwundern tut es nicht, denn ihre Ulema und Mystiker zählen das Kennen dieser nutzlosen Worte, die für keine der Welten Richtigkeit haben, zur menschlichen Gelehrsamkeit und Vollkommenheit und sind auf solche Sachen stolz. Ihre Bücher sind voll von solcherart Worten, die zu keinem Resultat führten noch führen, außer zum Niedergang der Welt, dem Zerfall der menschlichen Moral, zu Faulheit, Säumnis und Charakterschwäche sowie zum Glauben an Dinge, welche der Wirklichkeit und dem Geiste der Vernunft darwider sind. 17 18 19
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Wörtlich «Besitzer der Zeit», gemeint ist der zwölfte, in der Verborgenheit lebende Imam der Zwölfer-Schia, der ihrem Glauben nach eines Tages als Mahdi, als Rechtgeleiteter, wiederkehren und die Erlösung bringen wird. Der Name dieser Gebete ist abgeleitet von arab. djaldjala (laut erklingen). Eine Komposition aus pers. harz (Schutz) und dem Namen des Ibrāhīm ebn-e ʿAlī ebn-e Hasan-e Kafʿamī, auf den diese Gebetsform offenbar zurückgeht. Das Gebet wird auf ein Papier geschrieben und man trägt es mit sich (Annotation von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S. 53-54). Aus pers. djoushan (Kettenhemd) und arab. kabīr (gross) bzw. saghīr (klein). Dieses Gebet wurde meist in den Ramadannächten gesprochen (Annotation von Wohūman und Khalīlī zu Kermānī, Enshāʾallāh, Māshāʾallāh, S. 54).
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Darauf sprach Seine Exzellenz Sheikhorraʾīs: Sheikhorraʾīs 2.1 Ihre Worte entsprechen nicht der Lehre und den Prinzipien des Islam, und stünde ein anderer an meiner Stelle, hätte er Sie des Unglaubens beschuldigt (takfīr). Der Pascha lachte auf [56] und sprach: Rezā Pāshā 3.1 Das schlagendste Argument der iranischen Islamgelehrten in Glaubensdebatten heißt Religionsausschluss (takfīr), und sie sagen: «Das Zeichen des Schwertes tilgt das Zeichen der Unwissenheit.» So wie Gott und der Prophet den Islam leicht machen, so haben die Ulema Irans den Unglauben (kufr) leicht gemacht. Sheikhorraʾīs antwortete so: Sheikhorraʾīs 3.1 Sie sprechen gegen den Wortlaut des gesegneten Verses, der da besagt: Sag nie von einer Sache: «Ich tue das morgen», ohne hinzuzufügen: «Gott mag es wollen!» (Koran 18:23-24). Der Streit dauerte an, bis schließlich beide Herren gemeinsam von Seiner Exzellenz Seyyed Djamāloddīn eine Beurteilung verlangten, und alsbald ernannte man diesen Seyyed zum Richter und setzte sich geduldig hin. Ein andächtiges Schweigen legte sich über die Gesellschaft. [57] Schließlich setzte der Seyyed an: Afghānī 1.1 Bei beiden von Euch, Ihr Verdienstvollen, bin ich erstaunt, wie Ihr über etwas so Evidentes Fragen stellen könnt und von einem so klaren Weg auf einen so schwierigen geraten könnt. Unabhängig von der Beziehung zwischen Gott und Diener oder Schöpfer und Geschöpf: Nehmen wir einmal an, ich sei der Diener Seiner Exzellenz, des Pascha. Wenn jemand mich nun fragt: «Wirst du morgen diese oder jene Sache erledigen oder nicht?» oder «Versprichst du mir, dieses oder jenes Textstück fertigzuschreiben oder nicht?», dann bin ich zur Antwort gezwungen: «Ich verfüge über keine Autonomie und über keine Vollmacht. Falls mein Herr und Führer hierzu geneigt wäre und sich das wünschte, dann täte ich es, wenn nicht, dann nicht. Alle Zügel liegen in Gottes Hand.» [58] Wahrlich weiß jedes Kind, schon wenn es kaum lesen kann, dass die Zü215
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gel der Geschehnisse und das Zaumzeug des Gemeinwohls nicht in unseren Händen liegen. Natürlich ist, falls jemand sich bei einer einfachen Handlung Gewissheit verschaffen wollte, ob er etwas tun werde oder nicht, das Versprechen jeglicher Gewissheit unmöglich und nicht vernünftig – man bedenke globale Katastrophen und die launischen Umwälzungen in der Welt. Keine vernünftige Person wird eine Sache endgültig beurteilen, wird ausdrücklich garantieren, dass sie unbedingt geschehen werde. Das heißt, der Ausdruck Inschallah soll als Vorbehalt (estesnāʾ) auftreten, und dieser Vorbehalt hat nicht den Zweck, dass Gott der Person gegenüber wohlwollend werde und sich deswegen für die Verwirklichung ihres Ziels einsetzen solle. [59] Ebenso stimmt das Nichtaussprechen von Inschallah Gott nicht zornig und stur. Vielmehr dient Inschallah dazu, dass beim Gesprächspartner keine allzu große Zuversicht, keine definitive Sicherheit aufkommt, während man doch andeuten will, dass immerhin nicht das Gegenteil des gemachten Versprechens eintreffen soll. In Tat und Wahrheit haben all die Vorfälle, Umwälzungen und chaotischen Zustände in Iran und in den islamischen Ländern wohl eher andere Gründe. Afghānī 1.2 In anderen Ländern ist jedes Ding an seinem Platz, die Verhältnisse (omūr-e ʿālam) sind geordnet (monazzam) und diszipliniert, es herrscht weniger Chaos, man lässt jede Sache auf die ihr angemessene Weise erledigen und hat den Grund aller Dinge entdeckt. Das ist es, was es in jenen Gegenden weniger nötig macht, den Ausdruck Inschallah auszusprechen. Für einen Teil der künftigen Geschehnisse kann man den Leuten dort ausdrückliche Garantien abgeben. In Iran aber und anderen Ländern des Ostens ist – wegen der zahllosen Umwälzungen und Unruhen, der vielen Hindernisse und Barrieren – [60] nichts geordnet, für alles gibt es unzählige sichtbare wie auch versteckte Störfaktoren, und aufgrund fehlenden Wissens kennen die Leute die dahinterliegenden Gründe und Hindernisse meist nicht. Deshalb wird Inschallah oft nötig, und der Engel Boddūh muss sich, wohl wahr, alle Mühe geben. Da sprach Seine Exzellenz Sheikhorraʾīs und sagte: Sheikhorraʾīs 4.1 Ich habe Ihre entzückenden Worte sehr genossen, aber einen Punkt haben Sie vernachlässigt, und dieser ist: Des Gottesknechts Vertrauen (tawakkol) in und Bittflehen (tawassol) zu Gott, dem wahren 216
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Ursprung, erwirkt doch auch eine geistig-übernatürliche (rouhānī-ye fouq at-tabīʿe) Kraft im Knechte selbst. Zwar benötigt Gott – Preis sei Ihm, Er ist erhaben – kein Zuwenden (tawadjdjoh) und kein Bittflehen seitens des Gottesknechts. Aber für diesen selbst, der grundsätzlich auf die Hilfe des 21 Urgrundes, dem alles Seiende entströmt (mabdāʾ-e feiz), angewiesen ist, hat das entscheidende Bedeutung, denn die Verbindung zum Ursprung allen Seins (mabdāʾ-e wodjūd), zur vollkommenen Natur oder wie auch immer man es nennen mag, führt zur Entstehung eines neuen Geistes in ihm. Der Seyyed erwiderte mit folgender Antwort: Afghānī 2.1 Da unsere Scharia gnädig und einfach ist und ich die Sache nicht [61] erschweren wollte, ging ich auf diese Frage nicht ein, denn ihre wahrheitsgemäße Klärung bedarf einer Erläuterung, und dies nur kurz und knapp zu erklären, wäre dem Menschentum (ʿālam-e ensāniyyat) gewiss nachteilig. Nun denn, es kann sein, dass das gemeine Volk von heute davon ausgeht, zum Vollbringen von Taten müsse man – statt angemessene Mittel zu ergreifen – sich dem Herrn, dem Erhabenen, anvertrauen, bei Ihm bittstellig werden und von weiteren Anstrengungen geradewegs absehen. Im Gegenteil! Anstrengungen und Bemühungen in weltlichen Angelegenheiten kommen einer Hinwendung zu Gott gleich. Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht (Koran 2:115). Afghānī 2.2 Denn wer der Wahrheit ins Antlitz blickt, weiß sehr wohl, dass die Suche nach den Ursachen der Dinge und das Aufdecken der Gründe (djostan-e asbāb wa estekshāf-e ʿelal-e omūr) gleichzusetzen sind mit der Suche nach Gott, dem Urgrund, dem alles Seiende entströmt. Nun gibt es einen feinsinnigen Aspekt, den außer den mit der Sprache der Philosophen Vertrauten kein anderer verstehen wird. Obwohl das Vortragen dieses Aspekts nicht von großer Notwendigkeit ist, werde ich kurz darauf eingehen, damit ihr wisst, dass unser Schreibrohr über Ausdrucks- und Sprachkraft verfügt. [62] Die Dinge dieser Welt sind geteilt in wahrhaftige (haqīqiyye nafs-e amriyye), in denen die Aspekte des Seins (djehāt-e wodjūdī) vorherrschen, und nichtige (bātel), illusionäre (sarābī) 21
Das neuplatonische mabdāʾ-e feiz (arab. mabdaʾ fayyāḍ) wurde von vielen muslimischen Philosophen mit Gott in eins gesetzt. (Morewedge, Parviz: “The Neoplatonic Structure of Some Islamic Mystical Doctrines”, in: ders. (Hg.): Neoplatonism and Islamic Thought, Albany: State of New York Press, 1992, S. 51-75.)
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Dinge, in denen die Aspekte des Nichts (djehāt-e ʿadamī) vorherrschen. Die Dinge sind, anders ausgedrückt, geteilt in: erstens gute, standfeste Bäume, und zweitens schlechte, entwurzelte Bäume, das heißt in Wohl (kheir) und Übel (sharr), in Verneinung (nafy) und Bejahung (esbāt), Licht und Dunkel, Verdienst (sawāb) und Sünde (gonāh), oder in einen süßlichfrischen und einen salzig-brennenden Strom (Koran 25:53). Afghānī 2.3 Es ist offensichtlich, dass das, was dem Willen des Wahren – Er ist erhaben – (mashiyyat-e haqq-e taʿālā) vom Wesen her zugehört und auch auf der wohlverwahrten Tafel festgelegt ist, gleichsam das Wahre, das Seiende ist; und obwohl wegen einiger Verdrehungen und Gaukeleien der Natur in der Welt des Entstehens und Vergehens (ʿālam-e koun wa 22 fesād) etliche Hindernisse und Hürden [63] vorübergehend auftauchen, werden letztlich doch diese gottgegebenen Dinge entscheidend obsiegen. Aber was die nichtigen, dem Nichts zugehörigen, entwurzelten Dinge betrifft, so wird ihnen niemals der Wille Gottes zuteil. Sie sind keine von selbst zustande gekommenen Dinge, und auch wenn sie mittels Gaukelei, Magie oder Naturwunder vorübergehend etwas in Gang setzen sollten, so werden sie doch letztlich zugrunde gehen, verfallen und nichts mehr als ein hastiges Glück gewesen sein, eine Luftspiegelung in der Ebene (Koran 24:39). Und derartige Dinge sind auf der wohlverwahrten Tafel nicht festgelegt – vielmehr ist ihre Auslöschung, ihre Beseitigung festgelegt. Afghānī 2.4 Deshalb muss der Gottesdiener bei jeder Handlung, die es umzusetzen gilt, zuerst die Überlegung anstellen, ob der Aspekt des guten Seins (wodjūdī-ye kheiriyye) oder [64] jener des Nichts und des Übels (ʿadamiyye wa sharr) in ihr vorherrschen. Falls Aspekte des guten Seins vorherrschen, dann entsprechen die Handlungen gewiss dem Willen Gottes (khāst-e khodā) und sind auf der wohlverwahrten Tafel festgelegt. Und falls sie nicht unverzüglich geschehen, falls ein Hindernis auftauchen sollte, wird letztlich der Sieg doch bei ihnen sein – und dies ganz bestimmt, wenn Inschallah gesprochen wird. Afghānī 2.5 Man muss auf Gott vertrauen, den guten (kheir) und rechten (sawāb) Weg wählen und mit diesem Ziel eine Handlung ausführen, denn 22
Möglicherweise eine Anspielung auf Aristotelesʼ «Peri Geneseôs kai Phthoras» (Über Entstehen und Vergehen).
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wahrlich, der Ausgang ist zu Gunsten derer, die gottesfürchtig sind (Koran 11:49). Sonst, wenn die Aspekte des Übels und des Nichts in ihm vorherrschen, so liegt dieses Geschehnis außerhalb des Wirkungsbereichs von Inschallah und ist auch nicht auf der wohlverwahrten Tafel festgelegt, und wenn es doch geschähe – scheinbar geschähe! –, dann wäre es jedenfalls ein belangloses Geschehnis, eine dieser trügerischen Luftspiegelungen – eine wesenlose Erscheinung. Dies ist die wahre Bedeutung des Aussprechens oder Nichtaussprechens von Inschallah. Afghānī 2.6 Schlange und Natter, um einen Vergleich heranzuziehen, haben eine immense Körperkraft im Vergleich zu einer Seidenraupe. Sie sind Urheber wunderschöner Spuren im Sand und ihr Lebensalter ist länger als das der Seidenraupe, mehr noch, sie fressen ja Tausende dieser schwachen, kurzlebigen Kleintiere. Aber da in der Raupe die Aspekte des Seins, das heißt Nutzen (manāfeʿ) und Gutes (kheirāt) vorherrschen und [65] in der Schlange die Aspekte des Nichts, das heißt Bosheit (shorūr) und Schaden (mozerrāt) dominieren, setzt man bei der ersteren alles an ihr Überleben, belebt sie gar nach dem Tod – aber tötet trotz ihrer großen Überlebenskraft letztere, weil im Wissen Gottes, des Ewigen, der Fortbestand der Seidenraupen ebenso wie die Vernichtung der Schlangen und Nattern festgelegt ist. Dass Moʿāwiye den Befehlshaber der Gläubigen 23 dem Anschein nach besiegte, war auf Magie und Zauberei der Natur zurückzuführen und nicht auf Gottes Willen. Daher ging der wahre Sieg schließlich an Seine Majestät, den Befehlshaber der Gläubigen, an ʿAlī, weil Gott einen Sieg Seiner Freunde wollte, so wie auf der wohlverwahrten Tafel ebenfalls der Sieg der Freunde Gottes festgelegt ist und nicht ihre Niederlage. Nachdem die Anwesenden diese weisen Worte des Seyyeds gehört hatten, spendeten sie ob deren vortrefflicher Anschaulichkeit und würdigem 23
Mit «Befehlshaber der Gläubigen» ist hier ʿAlī ibn Abī Ṭālib (reg. 656–61), der Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, gemeint, den alle Schiiten als ihren ersten Imam anerkennen. Afghānī spielt hier an auf die militärische Auseinandersetzung bei Ṣiffīn im Jahre 657 zwischen ʿAlī und Muʿāwiya ibn Abī Sufyān, dem damaligen Gouverneur von Damaskus, der 661 die Dynastie des umayyadischen Stammeszweigs der Quraisch begründete. Sunnitischen wie schiitischen Überlieferungen zufolge überredete Muʿāwiya, als seine Truppen zu unterliegen drohten, ʿAlī, die Entscheidung einem Schiedsgericht zu überlassen. Der ‚reale‘ Sieg der Gegenpartei ʿAlīs wird von Afghāni zum Scheinsieg erklärt, denn er ist nicht vorhergesehen und daher nicht von Dauer.
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Geiste viel Lob und sagten übereinstimmend: «Das ist das Höchstmaß an Beredsamkeit und Schönheit!» Seine Exzellenz, der Pascha, unser wohlbekannter Gastgeber, blickte zu Seyyed Borhānoddīn und sagte: Rezā Pāshā 4.1 Wie gut wäre es, Sie würden die Fragen und Antworten von heute Abend zu einer kleinen Abhandlung in [66] persischer Sprache machen, um sie dann drucken zu lassen und in Iran zur Veröffentlichung 24 freizugeben. Oder wir schicken es der Zeitung Akhtar, damit die es abdrucke. Vielleicht würde dies etwas für die Aufklärung (tanwīr), für die allgemeine Vernunft (afkār-e mellat) leisten, würde Aberglaube beseitigen. Und vielleicht würde es dazu führen, dass sich diese hilflos-naiven Menschen nicht mehr wie Verwirrte und Trunkene Tag und Nacht von bedeutungslosen Ausdrücken und sinnlosen Gedankenspielen verzaubern und entzücken lassen und ihr wertvolles Leben mit der Hoffnung auf diese Illusionen ohne Hand und Fuß totschlagen. Schwach ist der Suchende und das Gesuchte (Koran 22:73). [Kermānī 1.1] [67] Wahrlich, um mit dem Seyyed zu sprechen: Ich staune mehr über den Fragenden als über den Antwortenden. Was gibt es bei solchen Themen zu fragen und worin liegt der Nutzen einer umfassenden Erläuterung? Wahrhaftig, sollte man sich mit einer derart evidenten Sache (masʾale-ye badīhī) beschäftigen, wenn doch eine Antwort mitsamt all den sinnlosen und langen Diskussionen nicht gewinnbringend sein kann? Das Staunen gilt der großen Wichtigkeit, die einer solch unwichtigen Sache beigemessen wird. Das Problem, so schreibt man, ist sehr schwierig und kompliziert, und bisher konnte keiner der Ulema, keiner der Philosophen es lösen. Tut also diese umständliche Herangehensweise, dieses Schlucken mit verdrehtem Hals Not? [Kermānī 1.2] Was bringt es, wenn man Gedankenspiele anstellt über den Willen Gottes und die wohlverwahrte Tafel, [68] welche aus Smaragden und Perlen besteht? Eine Rede von solcher Klarheit und Einfachheit darf man nicht in so viele verschlungene Rätselknoten ketten, durch all die sinnlosen Irrwege schlingern lassen und damit die hilflosen einfachen Menschen beirren und verwirren. Es scheint ganz so, als wolle der Autor des Traktats nur von seiner eigenen Gelehrsamkeit berichten und nicht 24
Siehe S. 203, Fn. 21.
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von der Wahrheit der Sache selbst – doch ein Spruch wie Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott verleiht einer Aussage keine Kraft. [Kermānī 1.3] Falls das Traktat bloß darum bemüht ist, ein paar einfache und unwissende Menschen zu blindem Nicken zu bringen – während die übrigen ob dieses Unsinns verdutzt und verwundert zurückbleiben und schließlich davonlaufen – so ist die Eroberung der Dummen den Spott und Hohn der Schlauen nicht wert. Es wäre gut gewesen, wenn man statt all dessen etwas Wissenschaftliches (masʾale-ye ʿelmī) zum Ausdruck gebracht hätte, [69] das der Lebensweise (ahwāl), Moral (akhlāq) und Sittlichkeit (ādāb) der Leute zuträglich ist, damit die gewöhnlichen Menschen profitieren und die Gebildeten Lob spenden. [Kermānī 1.4] Falls man Ruhm, Hochachtung und Zustimmung des Fußvolks, aber auch Ehrerbietung der Gebildeten will, wieso geht man dann nicht direkt an die Sache heran und strebt nach Aufklärung (tanwīr-e ʿoqūl) und Fortschritt der Menschen (taraqqī-ye nofūs), nach Verbesserung der Moral (eslāh-e akhlāq), nach allgemeiner Glückseligkeit (saʿādat-e ʿomūm)? Stattdessen will man auf irrlichternde Weise für das Volk schädliche Vorstellungen und Illusionen (mouhūmāt-e mozerr) verbreiten und die entmündigten Menschen (nofūs-e mardom-e mostazʿaf) verstört umherirrend zurücklassen, damit diese Armseligen blind und taub sich selbst 25 überlassen bleiben und die Eselsreiter noch eine Weile ihren Esel treiben können. Sie sagen: «Wir sind die Erzieher des Geistes und der Seelen aller Menschen.» Da ziehe ich Gott als Zeugen heran und frage euch: Seit dem Tag, an dem diese Angesehenen aufgetaucht sind, die nun diese Worte sprechen und zahlreiche Bücher dazu geschrieben haben: Wo bitte, in welchem Bereich der Probleme von Land und Volk, wären dank dieser Bücher Fortschritte zu verzeichnen? Hat das Gewerbe sich emporbewegt? Hat die Landwirtschaft sich entwickelt? Wurde der Handel gestärkt? Oder sind ob dieser Worte die Menschen wach und aufmerksam geworden? [70] Haben sie ein gerechtes System und Gesetz zustande gebracht? Haben sich Wissenschaft und Bildung fortentwickelt? Was, bitte, kam der Welt zuteil, außer dass die Menschen unwissender, unkundiger,
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Gemeint sind die Geistlichen, die mit ihren religiösen Vorschriften die einfachen Menschen wie Esel vor sich hertreiben und ausnutzen.
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dumpfer wurden und zu ihren Illusionen beträchtlich viel weiterer Unsinn hinzukam? Finsternis über Finsternis! (Koran 24:40). [Kermānī 1.5] Überall auf der Welt hat sich das Licht der Wissenschaft, der Strahlschein der Erkenntnis ausgedehnt; bei den spanischen Juden sogar, den Tataren von Kazan und den Armeniern von Amasya. Ganz anders bei den Iranern! Jene Worte haben sie, diese Hilflosen, an allem gehindert, sie von der Karawane des Weltfortschritts abgehängt. [71] 26
Sie geben sich damit zufrieden, Leute des Jenseits zu sein – für die Prüfung aber, wer zu diesen Leuten des Jenseits gehört, 27 sind allein die Schreibengel zuständig! Sie strebten nach dem irdischen Vergnügen, doch ihr Erfolg blieb aus, 28 Das Jenseits, um das sie sich nicht mühten, wie sieht das wohl aus? [Kermānī 1.6] Jemand, der mit der Erledigung diesseitiger Angelegenheiten überfordert ist, wird doch erst recht von den jenseitigen überfordert sein! Wer kein täglich Brot hat, hat kein Jenseits. Schauen wir nun, was die Bedeutung des Jenseits ist. Wenn unter «Suche nach dem Jenseits» und «sich vom Diesseits abwenden» gleichsam «Suche nach dem Gemeinwohl (manāfeʿ-e ʿomūmī)», «Liebe zum Mitmenschen» und «Verzicht auf persönlichen Nutzen zugunsten des Gemeinwohls (manfaʿat-e ʿāmme)» zu verstehen sein sollten, so wären bezeichnenderweise die wahren Leute des Jenseits in erster Linie die [72] Amerikaner, die Engländer und danach die anderen Bewohner Europas – wehe denen, die da leugnen (Koran 77:15 u.a.). [Kermānī 1.7] Wenn aber unter «Suche nach dem Jenseits» bloß zu verstehen ist, eigene kleine Vorteile (yek zarre manfaʿat) zu erlangen und einem kleinen Stück Eigenvorteil mehr beizumessen als dem Schaden für die ganze Welt, wenn es bedeutet, nur über das Bewahren von Eigentum und das Verfolgen eigener Interessen nachzudenken, sich nicht über den Zustand der Mitmenschen Gedanken zu machen, einander Schlechtes zu wünschen und die Losung: «Das geht mich nichts an!» zum Kern seines 26 27 28
Als Leute des Jenseits werden die wahren Gläubigen bezeichnet. Nicolas (Controverses persanes, S. 253, Fn. 2), der diese Stelle Hafez zuschreibt, hat khosh kardan «sich zufrieden geben» offensichtlich mit khoshk kardan «abtrocknen» verwechselt und daher «ils ont desséché leurs coeurs» übersetzt. Nicolas (ebd., S. 253, Fn. 3) schreibt dieses Gedicht Hafez zu.
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lasterhaft-gebieterischen Verhaltens werden zu lassen, dann, ja dann sind wohl tatsächlich die Menschen Irans die Diener Gottes und die Pächter des Jenseits – sie sind seligzupreisen! (Koran 13:9). [Kermānī 1.8] Wenn unter dem Jenseits abwegige Illusionen und eine Lebenshaltung aus Faulheit, Ignoranz und Schlendrian zu verstehen sind, so können die Mystiker Irans freilich einem indischen Yogi kaum den Staub von den Schuhen wischen. Denn an jeder Straßenecke Indiens steht ein Hindu-Brahmane, der hundertfach ebensolche Ansichten miteinander verflicht und denkt, die Welt bestehe aus der Erscheinungsform Gottes, des Erhabenen, Wahren. [73] Jene waren mächtiger als sie! (Koran 30:9 30 u.a.). Darüber hinaus ist unsere Scharia einfach und klar und rein, und sollte die Sache mit dem Inschallah wirklich so viele unlösbare Probleme mit sich bringen, wie allenthalben behauptet, so segne Gott tausendmal die Väter der indischen Buddhas, Brahmanen und Haschisch rauchenden Yogis, die so etwas nämlich viel einfacher handhaben. Zusammengefasst, es ist bedauerlich, dass die Gottesgelehrten (ʿolamā-ye rabbānī) und Gott preisenden Mystiker (ʿorafā-ye sobhānī) derart viel über die vollkommene Illusion (mouhūm-e motlaq) sprechen, dass sie das vollkommen Offenkundige (maʿlūm-e motlaq) nicht kennen. [Kermānī 1.9] Zu der Zeit, als Sultan Mehmet Fātih Istanbul umzingelte, Tag für Tag unterirdische Gänge in die Stadt grub und Breschen in die Stadtmauer schlug, da gingen die Byzantiner, anstatt dagegen Widerstand zu leisten, mit ihrem Kaiser und ihren Führern in die Hagia Sofia – damals die [74] größte byzantinische Kirche – und führten viele Diskussionen und zahllose Streitgespräche über so weltbewegende Fragen wie: «Trafen die Nägel, welche man in den gesegneten Leib des gekreuzigten Jesu schlug, nur den Leib des Herrn? Oder den Geist? Oder trafen sie beides?» Die einen antworteten, die Nägel hätten den Leib Jesu getroffen und seinem Geiste sei kein Schaden entstanden, etwa so wie die Vertreter der Sheikhiyye sagen, der wahre Geist des obersten Märtyrers, des dritten Imams, sei nicht getötet worden, nicht zum Märtyrer geworden. Andere hingegen antworteten, die Nägel hätten sowohl Leib als auch Geist getroffen, weshalb die Welt für drei Tage gottlos geblieben sei. Während 29 30
Der Begriff qoromsāqī bezeichnet die Gewohnheit, seine eigene Ehefrau an andere Männer auszuleihen. Hier wird er als Metapher für lasterhaftes Verhalten verwendet. Mit «jene» sind hier die Inder, mit «sie» die iranischen Mystiker gemeint.
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der Streit in dieser geistigen Angelegenheit Tag für Tag intensiver wurde, machte man sich über den Angriff der Osmanen [75] überhaupt keine Gedanken und sagte stattdessen: «Die oberste individuelle Pflicht (farz-e ʿein), die uns wahrlich obliegt, ist die Erörterung dieser Frage, damit die Glaubensprinzipien nicht verderben, nicht in Unordnung geraten. Danach müssen wir uns der Suche nach dem auserwählten Stellvertreter des erhabenen Jesu zuwenden. Und erst dann soll man sich mit anderen Dingen befassen.» Und sie dachten in der Tat, der erhabene Jesus bestärke den hochehrwürdigen Kirchenvater und die Osmanen versänken durch des großen Papstes Gebet in der Erde! Der Geschichte wahrer Ausgang: An einem dieser Tage, als sie sich alle in der Hagia Sofia versammelt hatten, eroberte Sultan Mehmet Fātih die Stadt Konstantinopel. Die türkischen Kommandeure traten in diese Kirche ein, ergriffen und töteten den König und die Patriarchen und befreiten diese gleichsam von der sorgenschweren Frage nach Jesu Körper oder Geist. Nun, das Verhalten der Ulema Irans, insbesondere der Mystiker und Sheikhiyye-Vertreter von heute, ist von selbiger Art. [76] So nehmt es euch zu Herzen, ihr Sehenden! (Koran 59:2). [Kermānī 1.10] Die bedeutsamen, die wichtigsten Fragen, von denen die Grundlagen des Islam abhängen, hat man indes vergessen und weggelassen. Aus jeder Ecke tritt ein halbstarker Mystiker hervor, erhofft sich Erfolg mit seiner Heuchelei, serviert eine Gussform fauler Mystik und präsentiert sich als auserwählten Stellvertreter des zurückerwarteten Imams. Und den Rest der Muslime erklärt er zu Ungläubigen, zu Feinden ʿAlīs und dessen Familie, zu Abtrünnigen! Er befehligt nicht nur ihre Verfluchung, sondern definiert die Abscheu vor ihnen und überhaupt die Feindlichkeit (boghz) gegenüber anderen Religionen als einen Teil der eigenen Religion. Das ist die bittersüße Frucht, die aus diesen Worten gewachsen ist! Aus solcherlei Behauptungen besteht ihr ganzes Wissen, und sie nennen es die Lehren der Erben Mohammeds. [77] Vor denen, die verleumden, suche ich Zuflucht bei Gott. [Kermānī 1.11] Erstaunlicher noch ist, dass sie sich in jede Wissenschaft und jedes Teilgebiet einmischen und den Anhängern dieses hilflosen, 31 gewöhnlichen Menschen glauben machen wollen, der Angesehene habe 31
Unter dem hilflosen, gewöhnlichen Menschen kann sowohl der Mystiker als auch der
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von jeder Wissenschaft Ahnung, wo doch dieser Hilflose von gar nichts Verstand hat. Überdies ist erstaunlich, dass die hochgeachteten Herren die Geographie des Himmels wie ihre Handfläche kennen, einen Stadt32 plan von Djābolsā und Djābolqā gezeichnet haben – aber von der Geographie der realen Erde keinen Verstand, ja nicht einmal von der eigenen Stadt, dem eigenen Dorf eine Ahnung haben. Bestens kennen sie die Geschichte des Ur-Dschinns und Engelsvaters Djān ebn-e Djān, kennen die Namen aller Engel im Himmel und auf Erden, und alles, was in Zukunft geschehen soll, all das kennen sie gut, aber von der Geschichte ihrer eigenen Nation oder den Nationen der Welt ist durchaus nichts zu ihren Ohren gelangt, und erst recht wissen sie nicht, wo die Ursachen des Fortschritts und der Dekadenz (ʿellat-e taraqqī wa tanazzol) der Nationen unserer Weltgeschichte gelegen haben. [78] Würde man ein armenisches Kind, eben erst der Schulzeit entwachsen, einem dieser Gläubigen gegenüberstellen, um herauszufinden, wie viele Fremdsprachen er kann und wie viel Wissen er erworben, so geriete der Hilflose in Verlegenheit und würde bald nichts mehr behaupten. [Kermānī 1.12] Die iranischen Ulema werfen den Europäern vor, sie seien am Diesseits interessiert und hätten keine Ahnung von himmlischer Rückkehr (maʿād) und dem Jenseits, während ihre eigene Vergnügungssucht hundertmal mal größer ist und sie nach Herrschaft streben, mit Macht und Eigentum liebäugeln, sich jedweder Schande (rezālat) und Niedertracht (denāʾat) hingeben! Würden sie selbst wirklich an die Rückkehr ins Jenseits glauben, so billigten sie diese Täuschung der Leute kaum. Man möchte meinen, sie glaubten nicht ans Jüngste Gericht 33 Derart verfälschen, verdrehen sie Gottes Richterspruch. [Kermānī 1.13] Diese armen Europäer sind auf dem Weg, die Welt zu ordnen, neu aufzubauen. Sie dagegen erstreben, Welt und Menschheit zu zerstören. Die Europäer bringen ständig Opfer zu Gunsten der Nation und 32
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Führer der Sheikhiyye verstanden werden. Die umgangssprachliche Wendung djābolsā wa djābolqā, deren Etymologie ungeklärt ist, bezeichnet zwei fiktive Städte im Jenseits. Die erste soll im äußersten Westen liegen, die andere im äußersten Osten. Vgl. Dehkhodā, ʿAlī Akbar: Loghatnāme, hg. v. Mohammad Moʿīn, Bd.17, Teheran: Enteshārāt-e Dāneshgāh-e Tehrān, 1959/1338 h.sh., S. 23. Ein Gedicht von Hafez, siehe Hāfez, Maulānā Shamsoddīn Mohammad Khādje Shīrāzī: Dīwān-e Ghazaliyāt, hg. v. Khalīl Khatīb Rahbar, Teheran: Enteshārāt-e Safīʿ Alī Shāh, 1998/1366 h.sh., S. 270.
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des Mitmenschen (manāfeʿ-e mellat wa nouʿ-e khod), sie hingegen wollen außer sich selbst keinen anderen am Leben sehen. [79] Die Europäer suchen sich die Freuden des Diesseits auf dem rechten Wege, sie hingegen wandeln auf Irrpfaden einher. Die Europäer übernahmen die ganzen Vorzüge der islamischen Religion (dīn-e eslām), während uns nur ihr leerer Name übrigbleibt. Voller Mitleid bringe ich den Ulema der Muslime die frohe Kunde, dass wir in ein paar Jahren des Namens «Islam» (eslāmiyyat) auch noch beraubt sein werden, und man wird uns, so steht es an, als rückständige Sekte (ommat-e mamsūkhe), (siehe Koran 36:67) betrachten. [Kermānī 1.14] Unsere Ulema, Scheichs, unverdienten Herren und Erzieher meinen, sie könnten sich immerfort an diesen billigen Eseln laben, immerzu ewiges Sultanat ausüben, und dass, sollte es in Europa oder Amerika einen Muslim geben, auch dieser herüberkommen, ihre Hand küssen und sie vorschriftsgemäß nachahmen werde. Nur wissen sie nicht, dass die Gerechtigkeit Gottes eine solche ewige Unwissenheit nicht zulassen würde! Bald werden die Gedanken aber leuchten, die Augen sich öffnen und strahlen, die Menschen [80] von Torheit sich befreien, diese Lasten von der Schulter laden, und es wird die fromme Wahrheit und Reinheit des Islam (dīyānat-e eslām) zur Geltung kommen, ganz ohne den Aberglauben, der ihm da beigefügt worden ist. Die heutige Wissenschaft mit all ihren Fachgebieten entfernt den Aberglauben aus dem Ohr der Menschen. Sie werden ihre Herrchen-und-Hündchen-Haltung ändern, ein jeder wird sich über das Leben, die Lage der Nation und die Ordnung im Lande Gedanken machen – weil dieses Hirte-und-Schäfchen-Spiel nämlich im Widerspruch steht zur Ordnung der Welt. Solange sich die Nationen Europas nicht vom Joch ihrer Patriarchen und Päpste befreit hatten, erreichten sie den heutigen Fortschrittsgrad nicht. Als auch sie noch in der Wüste des Aberglaubens, im Sumpfloch der Nachahmung geistlicher Führer festsaßen, war ihre Lage noch tausendmal schlimmer als die der Iraner. [Kermānī 1.15] Es ist offenkundig, dass jeder, der solche Worte sagt, von diesen geistlichen Scharlatanen bar jeden Zögerns und ohne weitere Anhörung zum Ketzer erklärt, ja seine Ermordung [81] angeordnet wird, und man ihm donnergrollend sagt: «Oh du Fluchwürdiger! Du hast die Scharia missachtet, bist von der Religion abgefallen, abtrünnig geworden, 226
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ungläubig bist du! Deine Ermordung ist somit Pflicht (wādjeb), dein Blut ist halāl und dein Eigentum steht allen frei! Zumal solche Worte unser Geschäft schädigen, den Menschen Aug und Ohr öffnen und sie gar aus der Unterjochung durch uns befreien könnten.» Da kann der Ausgelieferte noch lange um Hilfe rufen, flehen, Schreie ausstoßen wie: «Bei Gott, höret her! An die Einheit Gottes, die Gesandten Gottes, an die himmlische Rückkehr, die Auferstehung, an das Jüngste Gericht, ebenso an die zwölf Imame – an all dies glaube ich stärker als ihr! All dies kenne ich besser als ihr! Mit meinen Worten strebe ich nach Entwicklung der Muslime, nach Erweckung ihrer Ulema aus dem Schlaf der Ahnungslosen.» Nein, sie werden es nicht begreifen. Doch welches ist die Heilrezeptur? Die Wahrheit allein muss gesagt und gehört werden – und nichts soll man fürchten. Gewiss wird das Früchte tragen, denn was an Wahrheit einmal gesagt, schritt noch immer voran und blühte schließlich auf. [Kermānī 1.16] [82] Oh du vernünftiger Gläubiger! An dich, der du das hier Geschriebene liest, habe ich eine Bitte: Sei aufmerksam und schau 34 dir das Traktat «Die Vierte Säule» gut an. Lass dich dann von deinem 35 Gewissen leiten und beurteile beide Schriftstücke, also jenes Traktat und die hier vorliegende Abhandlung gerecht: Schau, ob du von diesen einfachen Ausdrücken, kurzen Sätzen und klaren Bedeutungen, die hier in vollkommener Klarheit geschrieben wurden, mehr profitiert hast als von jenen [83] seitenlangen Litaneien, jenen langatmigen Erzählungen mit so viel innerem Widerspruch wie ein flaumbehaarter Jüngling mit Vollbart, jenen Wortreigen also, deren Kopf und Fuß, deren Anfänge und Schlüsse, deren Subjekte und Prädikate nicht klar sind und bei denen alsdann Ziel und Absicht der Worte verlorengehen. Und je länger du diese ach so genialen Äußerungen, diese philosophisch verklausulierten (hakīmāne) Begriffe liest, desto lauter erschallen die Fragen deines Gewissens 36 (wedjdān): «Wo war ich? Wo bin ich? Wo bin ich nun gelandet?» Verzweifelt antwortest du deinem Gewissen: «Ich bin ein einfacher Mensch. Diese tiefsinnigen Aussagen verstehe ich nicht und muss es wohl aufgeben, zu den Gläubigen zu zählen.» 34 35 36
Gemeint ist das hier kritisierte, von Hādjdjī Mohammad Karīm Khān-e Kermānī (1810–1870) verfasste Traktat über die «Rokn-e Rābeʿ» (Die Vierte Säule), das möglicherweise ebendiesen Titel trug. Das Sprichwort lautet wörtlich kolāh-e nīm qāzī-ye khod rā qādī kon (Lass deine halbe Mütze als deinen eigenen Richter walten). Laut Nicolas (Controverses persanes, S. 259) ein Vers von Ferdousi.
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[Kermānī 1.17] Dein leidgeprüftes Gewissen erwidert: «Oh hochverehrter Mann! Es ist ganz unrecht, dass du etwas nicht Verstandenes für wahr hältst und darob kapitulierst. Glaube nicht, du hättest nichts verstanden, sondern frage dich: Hat es vielleicht der Sprecher selbst nicht verstanden?» Zudem sind Wort und Rede zum Erklären (tafhīm) und Verstehen (tafahhom) da. Hätte dein geistlicher Führer über logisches Denken (manteq) verfügt und es verstanden, sich der Sprache der einfachen Menschen anzugleichen, dann [84] hätte er so gesprochen und geschrieben, dass alle verstehen, dass alle profitieren können. Wahrhaftig, nehmen wir an, du hättest jenes Traktat, das genauso gut von einem Packpferd geschrieben sein könnte, nicht verstanden – hingegen diese vorliegende Abhandlung mit so einfachen Ausdrücken verstündest du. Nun, schau sie dir an und urteile gerecht, ob sie mit ihrem kleinen Umfang nicht hundertmal wert37 voller ist als die Ohrringe des Gottesthrons, ob der Inhalt nicht doch recht nützlich ist. Geist und Essenz all dessen, was in jenem Traktat vorkommt, ist in der vorliegenden Kurzabhandlung untergebracht, einschließlich der Antworten und Einwände sowie zahlreicher weiterer Themen. Während der Autor jenes Traktats die Absicht zu haben scheint, dass du, ohne zu verstehen, zustimmen sollst, so liegt unsere Absicht alleine darin, dass du verstehst. Wenn du möchtest, stimme zu, wenn nicht, dann nicht. Dein Verständnis wollen wir – nicht deine Zustimmung. [Kermānī 1.18] Angesichts der Klarheit der Äußerungen und der Einfachheit der Worte: Verachte und missachte diese Abhandlung nicht! Schau dir diese einfachen, klaren und doch schwer nachzuahmenden Worte an; eine Welt von Bedeutungen [85] ist geflochten in jeden einzelnen Satz. Und sieh diesen glänzenden Beweis, schau nur, wie der Aussagen eigene Bestätigung in sich selbst enthalten ist. Dies ist süß und frisch – jenes salzig und brennend (Koran 25:53). Man erkennt jeden Baum an seinen 38 Früchten.
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Mit Ohrringen sind wahrscheinlich die zwei Imame Hasan und Hosein gemeint, mit denen Gott nach schiitischer Überlieferung seinen Thron geschmückt haben soll. Angefügt ist dem Text das vermutlich vom Kopisten stammende Datum: «Diese Abhandlung wurde am Anfang des edlen Monats Shawwāl im Jahre 1330 h.q. (1912) vollendet; eintausenddreihundertdreißig Jahre nach der Auswanderung des auserwählten Propheten.» In den beiden anderen von Wohūman und Khalīlī (vgl. S.196, Fn.1) herangezogenen Handschriften sind die Jahreszahlen 1328 h.q. (1910) bzw. 1318 h.q. (1900/1901) angegeben.
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Ahmed Midhat Efendis Apologie der Wissenschaftskonformität des Islam Enur Imeri
Einleitung
A
hmed Midhat gehört zu den Persönlichkeiten, die das spätos1 manische Geistesleben in besonderem Maße geprägt haben. Er war ein glühender Verfechter der These, osmanische Tugenden und die islamische Religion seien Träger des Fortschritts. Zugleich war er einer der Pioniere der Verbreitung französischer Romane, der Entwicklung eines osmanisch-türkischen Romangenres sowie einer populärwissenschaftlichen Annäherung an die Philosophiegeschichte und an religionskritische westliche Denker wie Voltaire und Schopenhauer. Seine literarische und populärwissenschaftliche Zeitung Tercüman-ı Hakikat (Terdjumān-i ḥaqīqat: Der Dolmetscher der Wahrheit) gilt als die einflussreichste im Istanbul des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In der dazugehörenden Druckerei publizierte Midhat seine Übersetzung der französischen Ausgabe von William Drapers Bestseller «History of the Conflict between Religion and Science», die er mit einem ausführlichen kritischen Kommentar versah. Auszüge hieraus und seine Artikel «ʿIlm īle fenn» (Wissenschaft und exakte Wissenschaft) sowie «Felsefe we felāsife» (Philosophie und Philosophen) werden im Anschluss an diese Einleitung in Übersetzung vorgestellt. Sie zeugen, wie viele seiner Schriften, von einer Modernisierungsmission, welche von den eigenen kulturellen und religiösen Grundlagen der osmanischen Gesellschaft ausgeht und von hier aus eine selektiv-affirmative Haltung gegenüber den ideellen und materiellen Erneuerungen seiner Zeit einnimmt. In dieser traditionsbewussten Modernisierungskonzeption haben die islamischen Wissensordnungen ihren festen Platz und fungieren mit als Stütze für die Modernisierung der osmanischen Gesellschaft.
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Einen guten Überblick bieten folgende Werke: Okay, Orhan: Batı Medeniyeti Karşısında Ahmed Midhat Efendi, Istanbul: M.E.B., 1991; Ders.: “Ahmed Midhat Efendi”, in: TDV Islam Ansiklopedisi, Bd. 2, Istanbul: Türkiye Diyanet Vakfı, 1988, S.100-103; Arslan, Fazlı (Hg.): İlim ve fennin reis-i mütefekkiri Ahmet Midhat Efendi, Kayseri: Erciyes Üniversitesi Yayınları, 2013; Gonzalez, Pablo Moreno: Orient et Orientalisme chez Ahmet Mithat Efendi, Istanbul: Les Éditions Isis, 2012; Miyasoğlu, Mustafa (Hg.): Ahmet Midhat Efendi Armağanı, Istanbul: Beykoz Belediyesi, 2012.
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Leben und Schriften Geboren in Istanbul im Jahr 1844 in eine aus dem Kaukasus stammende Familie, ist Ahmed Midhat in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen 2 und war von Kindesbeinen an ins Erwerbsleben einbezogen. Er verlor seinen Vater bereits im Alter von sechs Jahren und erhielt seine erste Schulbildung teils in Vidin, teils in Istanbul an traditionellen islamischen Grundschulen, die neben Arabisch und Persisch primär religiös orientierten Unterricht vermittelten. Schon damals bemühte er sich auch um das Erlernen der französischen Sprache und nahm bei einem in Istanbul 3 wohnhaften Franzosen erste Französischlektionen. Er folgte 1861 seinem Halbbruder, der in den Dienst des reformorientierten osmanischen Beamten Ahmed Midhat Pasha (1822–1884) getreten war, in die von diesem geleiteten Gouvernements Niš und Tuna im heutigen Serbien und Bulga4 rien und besuchte dortige Schulen. Ahmed Midhat erlebte diese Region so in der Zeit der grundlegenden Modernisierung ihres Militärwesens und ihrer Wirtschaft und Infrastruktur (Straßen, Brücken, Eisenbahn, Schifffahrt). Nach dem Abschluss der Rüshdiyye (Sekundarschule) in der Donaustadt Russe, Tunas Zentrum, trat Ahmed Midhat 1864 seine erste Stelle in der Redaktion einer lokalen Zeitung an und begann einige Jahre später, seine ersten Zeitungsartikel zu publizieren. Zugleich studierte er autodidaktisch und mit Hilfe von Privatlehrern, besonders dem bulgarischen Beamten griechisch-katholischen Glaubens Dragan Tsankov (1828– 1911), weiter Französisch und Schriften westlicher Autoren. Er erlangte die Aufmerksamkeit des Gouverneurs, der ihm seinen Namen «Midhat» gab und ihn im Jahre 1869, als er zum Gouverneur der osmanischen 5 Provinz Irak berufen wurde, nach Bagdad mitnahm. In Bagdad übernahm Ahmed Midhat die Direktion der arabisch-türkischen Regierungszeitschrift az-Zawrāʾ und verfasste seine ersten Bücher. Ein Schulbuch für die Studenten der Mekteb-i Sanayi (Industrie- und Gewerbeschule), die Midhat Pasha Anfang der 1870er Jahre in Istanbul gegründet hatte, erlangte anhaltende Popularität. Unter dem Titel «Hâce-i evvel» (Khādje-i ewwel: Erster Lehrer) – er wurde zu Ahmed Midhats Beinamen – führte 2 3 4 5
Vgl. Miyasoğlu, Emre: “Doğumundan Ölümüne Ahmet Midhat Efendi” in: Miyasoğlu, Mustafa (Hg.): Ahmet Midhat Efendi Armağanı, Istanbul: Beykoz Belediyesi, 2012, S. 21. Ebd., S. 22. Lewis, Bernard: “Aḥmad Midḥat”, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol.1, Leiden: Brill, 1986, S. 289. Vgl. hierzu Gonzalez, Orient et Orientalisme, S. 43-93.
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es in schlichtem Türkisch in die Fächer Arithmetik, Geometrie, Kosmographie, Geologie, Geographie, Astronomie, Physik, Geschichte und poli6 tische Ökonomie ein. Nach eigenen Angaben setzte Ahmed Midhat seine autodidaktischen Studien in Bagdad fort und fand in Mohammed Bāqer Bawānātī (?–1892/3) einen Lehrer, der sein Religions- und Philosophiever7 ständnis dauerhaft prägen sollte. Die Begegnung mit ihm bezeichnet er als eine ‹Gnade› (niʿmet), für die er nicht genug Dank aussprechen kön8 ne. Bis dahin, so schreibt er, seien seine eigenen Überzeugungen eine Mischung aus allen Glaubens- und Denkschulen (meḏāhib) gewesen, seither wisse er, ‹that pure truth (ḥakikat-i maḥḍā) consists of the thought of the Koran and even if there were pure truth in other thoughts, it would be 9 unsufficient for the needs of the mind›. Allerdings schienen ,erzkonservative‘ sunnitische Gelehrte von Ahmed Midhats Rechtgläubigkeit weiterhin nicht überzeugt. Nachdem er 1871 nach Istanbul zurückgekehrt war, begann er sofort mit der Herausgabe einer Zeitschrift, die er Dağarcık (Ṭāghārdjīq: Rucksack, Felltasche) nannte, und die, wie er in seinen Memoiren festhält, dem Zweck dienen sollte, 10 dem Volk Philosophie und exakte Wissenschaften nahezubringen. So widmete er beispielsweise der Biographie des Diogenes einen Artikel, 11 einen anderen den altindischen Veden. Aufgrund des vermeintlich materialistischen und die Reinkarnation bejahenden Inhalts eines in der vierten Ausgabe unter dem Titel «Duvardan bir Sadā» (Eine Stimme aus der Wand) publizierten Artikels wurde er in einem offenen Brief ‹aus den 6
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Strauss, Johann: “Nineteenth-Century Ottoman and Iranian Encounters: Ahmed Midhat Efendi and Ebrāhīm Jān Moʿaṭṭar (Moḥammad Bāqer Bawānātī)”, in: Brunner, Rainer / Ende, Werner (Hg.): The Twelver Shia in Modern Times, Religious Culture & Political History, Leiden/Boston/Köln: Brill, 2001, S. 99-101, 105. Die Darstellungen seines späteren Glaubensweges variieren zum Teil im Vergleich zur Schilderung von Ahmed Midhat; siehe Afshār, Ī.: “Bavānātī”, in: Yarshater, E. (Hg.): Encyclopædia Iranica, Vol. 3, Fasc. 8, S. 874-875 und Riḍā, Rashīd: “ad-Difāʿ ʿan al-Islām wad-daʿwā ilaihī”, in: Ders.: Tārikh al-Ustāḏ Muḥammad ʿAbduh, Bd. 1, Kairo: Maṭbaʿat al-Manār, 1931, S. 817-820. Er beschreibt die Begegnungen mit Bawānātī in seinen 1877 verfassten Memoiren «Menfa» (Exil). Ich folge ihrer Darstellung durch Strauss, S. 99, 101-111. Strauss, Nineteenth-Century, S.105 (er übersetzt meḏāhib mit «Religionen»), 109, 111. Strauss, Johann: “Müdafaa’ya mukabele et Mukabeleye müdafaa: Une controverse islamo-chrétienne dans la presse d’Istanbul (1883)”, in: Herzog, Christoph / Motika, Raoul / Ursinus, Michael (Hg.): Querelles privées et contestations publiques. Le rôle de la presse dans la formation de l´opinion publique au Proche Orient, Istanbul: Les Éditions ISIS, 2003, S. 55-98, hier S. 69, Fn. 3. Zu dieser Zeitschrift siehe die unveröffentlichte Masterarbeit von Özkan, Tuğba: Ahmet Midhat Efendi’nin Dağarcık Mecmuası, Marmara Üniversitesi Türkiyat Araştırmaları Enstitüsü, Istanbul, 2013. Strauss, Nineteenth-Century, S.106, Fn. 50, S.111.
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Reihen der Mullahs› in einer anderen Zeitschrift 1873 des Unglaubens beschuldigt. Dieser Vorwurf traf Ahmed Midhat schwer, insbesondere da es ihm, wie er in seinen Memoiren vermerkt, ein großes Anliegen war, die Christen von der Weisheit des Islam zu überzeugen, ‹und die Erklärung zum Ungläubigen (tekfīr), die mir drohte, hätte mich nicht nur bei meinen Glaubensbrüdern, sondern auch bei den christlichen Propagandisten 12 (müddeiyān) kompromittiert›. Seine Proteste und Zurückweisungen der Anschuldigung, unter anderem in einem Artikel «Kim kimi nasıl tekfir edebilir» (Wer kann wen wie des Unglaubens anklagen?) scheinen gewisse Früchte getragen zu haben, denn die Ulema verurteilten ihn nicht. Der an seiner Glaubensfestigkeit gesäte Zweifel trug aber vermutlich zu 13 seiner Verhaftung und Exilierung nach Rhodos im selben Jahr bei, für die von offizieller Seite der Verdacht seiner Zugehörigkeit zu den Jung14 osmanen geltend gemacht wurde. Während seines bis zur Absetzung von Sultan Abdülaziz im Jahr 1876 andauernden Exils verfasste Ahmed Midhat zahlreiche Schriften, darunter einen seiner berühmtesten Romane, «Felātun Bey ile Rākım Efendi» (Platon Bey und Rākım Efendi, 1875), in dem er einem osmanischen ,Euro-Gecken‘, der sein Erbe verprasst und die Europäer in allem und jedem nachzuahmen versucht, dabei aber ungebildet, charakterlos, faul und verschwenderisch ist, einen in den traditionellen islamischen Werten verankerten, moralisch untadeligen, stets hilfsbereiten, überaus arbeitsfreudigen und zugleich bestens mit modernem westlichen Wissen vertrauten Osmanen niederer Herkunft in unterhaltsamer, aber schwarz15 weiß-malerischer Weise gegenüberstellt. Nach seiner durch eine allgemeine Amnestie möglich gewordenen Rückkehr nach Istanbul gewann Midhat Efendi mit einem die neue Herrschaft legitimierenden Artikel die Gunst des neu inthronisierten Sultans Abdülhamid II. und es wurde ihm die Leitung der Regierungszeitschrift 16 Takvim-i Vekayi übertragen. Bereits bald darauf, im Jahre 1878, gründete er mit Tercüman-ı Hakikat ein eigenes Presseorgan. Es sollte eine der langlebigsten Zeitungen in der Geschichte des Osmanischen Reiches werden – nach Ahmed Midhats Tod wurde sie noch bis 1921 weiterge12 13 14 15 16
Strauss, Müdafaa, S. 70. Ebd., S. 69-70; Miyasoğlu, Doğumundan Ölümüne Ahmet Midhat Efendi, S. 26. Lewis, Aḥmad Midḥat, S. 289. Guth, Stefan: Brückenschläge – Eine integrierte ‘turkoarabische’ Romangeschichte (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert), Wiesbaden: Reichert, 2003, S.10-47. Ebd., S. 27.
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führt. Die meisten der Schriften, die Ahmed Midhat in der Folge verfasste, übersetzte oder deren Publikation er förderte, erschienen als Buch der Druckerei «Tercüman-ı Hakikat», nachdem sie oft zuvor als Serie in der Zeitung erschienen waren. Philosophische Themen und Kritik nehmen im weiteren Schaffen von Ahmed Midhat einen nicht unerheblichen Platz ein, sind bislang allerdings noch wenig untersucht. So verfasste er Schriften über die Geschichte der Philosophie sowie über Voltaire, Scho18 penhauer und den zeitgenössischen Materialismus. Er spricht sich darin deutlich gegen die Verneinung der Existenz Gottes und der Existenz der Seele aus, doch lassen seine Ausführungen erkennen, dass er mit diesen Fragen gerungen hat. Davon zeugen das von ihm selbst verfasste Pamphlet über den Suizid seines Freundes Beshir Fuad (1852–1887), eines der ersten bekennenden materialistischen Intellektuellen des Osmanischen 19 Reiches, ebenso wie seine vor allem gegen Ludwig Büchners Lehren gerichtete Schrift «Ben Neyim? Hikmet-i Maddiye’ye Müdafaa» (Was bin 20 ich? Eine Zurückweisung der materialistischen Philosophie). War Ahmed Midhat ein ausgesprochener Anti-Materialist, so hat ihn offenbar Voltaire, dessen Glauben an ‹den anfangs- und endlos seienden, unwandelbar Allmächtigen› er hervorhebt, nicht zuletzt aufgrund seiner scharfen Kritik an Klerus und Kirche stark angezogen. Ahmed Midhat bedient sich der Kritik ‹des Philosophen (ḥakīm) Voltaire› ausgiebig in einem sehr negativen Abriss der Geschichte des Christentums und der sich daran anschließenden Kontroverse mit dem Istanbuler protestantischen Missionar Henry Otis Dwight, die 1883 in Tercüman-ı Hakikat ausgetra21 gen wurde. Midhats Quintessenz ist symptomatisch für seine Sicht auf das Christentum, den Islam und ihr Verhältnis zu Philosophie und Fortschritt: In der christlichen Religion gebe es kein einziges Element, das zum Fortschritt anrege, und die Philosophie könne sich in Europa nur 17 18
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Vgl. Miyasoğlu, Doğumundan Ölümüne Ahmet Midhat Efendi, S. 27. Özervarlı, Sait: “Neue Richtungen in der osmanischen Philosophie (1839–1933)”, in: Kügelgen, Anke von / Rudolph, Ulrich (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg) – Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 4: 19.–20. Jahrhundert, Basel: Schwabe Verlag, zu erscheinen 2018. Midhat, Ahmed: Beşir Fuad, Istanbul: Tercüman-ı Hakikat Matbaası, 1886/7; siehe zudem die bisher umfangreiche Monographie zu Beşir Fuad in: Okay, Orhan: Beşir Fuad: İlk Türk Pozitivist ve Naturalisti, Istanbul: Dergâh Yayınları, 1969. Istanbul: Tercüman-ı Hakikat Matbaası, 1891; siehe Özervarlı, Neue Richtungen in der osmanischen Philosophie. Strauss, Müdafaa, S. 82; Ahmed Midhat: Müdafaa, Müdafaa’ya mukabele ve mukabeleye müdafaa, 3 Bde., Istanbul: Tercüman-ı Hakikat Matbaası, 1883–1884. Zum Inhalt der «Müdafaa» und der Auseinandersetzung mit Dwight siehe Strauss, Müdafaa, S. 71-98.
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entwickeln, solange gegenüber der Religion Indifferenz (dīnce qaydsīzlıq) herrsche. Der muslimischen Religion bescheinigt Ahmed Midhat hingegen, dem ‹wahren Fortschritt› (teraqqiyāt-i saḥīḥa) nicht entgegenzustehen, und versichert, dass die ‹Philosophen des Islam› (ḥukemāʾ-i Islām), je mehr sie in der Philosophie fortgeschritten seien, auch ihren muslimi22 schen Glauben gestärkt hätten. Im Jahre 1889 wird Ahmed Midhat durch Abdülhamid II. als Beobachter und Vertreter an den 8. Orientalisten-Kongress in Stockholm ge23 sandt, wo er zugleich als Redner auftritt. Gemeinsam mit einer Kongressteilnehmerin, Ol’ga Sergejewna Lebedewa (1854-?), die in Istanbul unter dem Namen Gülnār Hanım bekannt wurde, bereiste er im Anschluss zweieinhalb Monate lang zahlreiche europäische Städte und hielt 24 seine Eindrücke in einem Reisebericht fest. Paris übte auf ihn eine besondere Faszination aus und war von großem inspirativem Einfluss für 25 viele seiner Romane. Ol’ga Lebedewa, der Ahmed Midhat später in Istanbul Zugang zur ,höheren Gesellschaft‘ verschaffte, verdankte er einen neuen Blick auf die russische Geschichte und Literatur, und er redigierte ihre Übersetzungen ins Osmanische unter anderem von Werken Pushkins, Lermontovs und Tolstojs, die er in seinem Tercüman-ı Hakikat 26 publizierte. Ihrerseits übersetzte sie «Nisvān-i İslām» (Frauen im Islam) zusammen mit der Autorin, Fatma Aliye Hanım (1862–1936), ins Franzö27 sische. Es war das erste Mal, dass eine muslimische Frau die islamischen Gebote bezüglich Heirat, Scheidung und Sklaverei in einer Studie 22 23
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Strauss, Müdafaa, S. 83-84. Siehe hierzu Findley, Carter Vaughn: “An Ottoman Occidentalist in Europe: Ahmed Midhat Meets Madame Gülnar, 1889”, in: The American Historical Review, 103/1 (1998), S.15-49; Sagaster, Börte: “Beobachtungen eines „Okzidentalisten“: Ahmed Midhat Efendis Wahrnehmung der Europäer anlässlich seiner Reise zum Orientalistenkongreß in Stockholm 1889”, in: Asien, Afrika, Lateinamerika, 25 (1997), S. 29-40. Midhat, Ahmed: Avrupa’da bir cevelān, Istanbul: Tercüman-ı Hakikat Matbaası, 1890; Strauss, Johann: “Ol’ga Lebedeva (Gülnâr Hanım) and her works in Ottoman Turkish”, in: Prätor, Sabine / Neumann, Christoph K. (Hg.): Frauen, Bilder und Gelehrte – Studien zu Gesellschaft und Künsten im Osmanischen Reich / Arts, Women and Scholars – Studies in Ottoman society and culture, Festschrift Hans Georg Majer, Bd.1, Istanbul: Simurg, 2002, S. 287-314, hier S. 293-294. Beispielsweise kann hier der Roman «Paris’te Bir Türk» (Ein Türke in Paris, 1876) angeführt werden. Siehe dazu: Çeri, Bahriye: “Paris’te Bir Türk”, in: Boeschoten, Hendrik / Stein, Heidi (Hg.): Einheit und Vielfalt in der türkischen Welt, Wiesbaden: Harrasowitz Verlag, 2007, S. 237-249; Karabulut, Mustafa: “'Paris'te Bir Türk' ve 'Jön Türk' Romanlarında Kültür ve Medeniyete Bakış”, in: Türk Dünyası Araştırmaları, 186 (2010), S. 75-88. Strauss, Ol’ga Lebedeva, S. 297, 310. Ebd, S. 295.
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thematisierte und, wenn auch zum Teil, wie z.B. im Falle der Polygamie, im Sinne von Ausnahmen, vor allem mit sozialen Begründungen rationa28 lisierte. Fatma Aliye, Tochter des Historikers und Staatsbeamten Ahmet Cevdet Pasha, hatte durch Hauslehrer eine ausgezeichnete religiöse wie auch französisch geprägte Bildung genossen und war von Ahmet Midhat zu dieser Schrift angeregt und bei der Abfassung intensiv beraten worden. Ihm lag daran, die westlichen Frauen von ihren seiner Ansicht nach falschen Vorstellungen über die Frauen im Osmanischen Reich zu befreien. Fatma Aliye war eine seiner weiblichen Schützlinge, und dank seiner Förderung wurde sie zu einer der bekanntesten Schriftstellerinnen im 29 späten Osmanischen Reich. Es war Fatma Aliye, die Ahmed Midhat auf Drapers Werk «History 30 of the Conflict between Religion and Science» aufmerksam machte. Die Arbeit an der Übersetzung und Kommentierung dieses Opus, aus dem hier einige Auszüge vorgestellt werden, nahm fünf Jahre in Anspruch – er beendete sie im Jahre 1900. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wagte er sich in die Privatwirtschaft und eröffnete einen Betrieb für Trinkwasserdistribution, nachdem auf einem der ihm gehörenden Grundstücke in Beykoz, einem am Bosporus gelegenen Vorort von Istanbul, eine Trinkwasserquelle entdeckt worden 31 war. Während Ahmed Midhat in der Herrschaftsperiode von Abdülhamid II. zahlreiche Staatsämter innehatte, endete seine Karriere mit dessen Absetzung nach der Jungtürkenrevolution im Jahr 1908, als er altersbedingt in Rente geschickt wurde. Er blieb aber noch bis zu seinem 32 Tod im Jahr 1912 an einigen Schulen ehrenamtlich als Lehrer tätig. 28
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Demir, Hilal: “Fatma Aliye Hanım’ın Çerçevesinden Kadın Haklarının Sınırları”, in: Turkish Studies – International Periodical For The Languages, Literature and History of Turkish or Turkic, Bd. 8/9 (2013), S.1059-1068. Ich danke Zeynep Direk für diesen Hinweis. Strauss, Johann: “Who read what in the Ottoman Empire (19th–20th centuries)?”, in: Middle Eastern Literatures, 6 (2003), S. 39-76, hier S. 50-51; Mithat Efendi, Ahmet: Fatma Aliye Hanım Yahud Bir Muharrire-i Osmaniyenin Neseti, İstanbul: Kırk Anbar, 1893; Koç, Dr. Murat: “‘Üdebâ-yı nisvânın yardımcısı’ – Ahmet Midhat Efendi ve Fatma Aliye Hanım”, in: Turkiyat Arastırmaları Enstitusu Dergisi, 48 (Erzurum 2012), S.191-216, besonders S. 207; Frierson, Elizabeth B.: “Women in Late Ottoman Intellectual History”, in: Özdalga, Elisabeth (Hg.): Late Ottoman Society: The Intellectual Legacy, New York: Routledge, 2005, S.135-161. Midhat, A.: Nizāʿ-i ʿilm we dīn: İslam we ʿulūm, Bd.1, S. 4-5. Vgl. Miyasoğlu, Doğumundan Ölümüne Ahmet Midhat Efendi, S. 28. Vgl. ebd., S. 33.
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Das Modernisierungsprogramm von Ahmed Midhat Efendi Wissenschaft als inklusives Konzept
Ahmed Midhat tritt in dem spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv geführten Modernisierungsdiskurs als Vertreter einer eklektizistischen Position auf. Diese Position ist durch sein Bemühen charakterisiert, der sich immer deutlicher präsentierenden technischen Überlegenheit und der als damit einhergehend erachteten ideellen Dominanz der westlichen geistlichen Strömungen mit einer ,filternden‘ Grundhaltung entgegenzutreten. Dabei ist es charakteristisch, dass die Neuerungen insofern Geltung beanspruchen können, als sie in der traditionsbewussten Modernisierungskonzeption von Ahmed Midhat angesichts der progressiveren Aspekte der osmanischen Zivilisation als Bereicherung angesehen werden können. Diese Grundhaltung resultiert aus der Überzeugung Ahmed Midhats, dass die islamische Tradition fortschrittliche Aspekte aufweise, die zu seiner Zeit ebenfalls Gültigkeit beanspruchen und zur technischen, aus dem Westen zu übernehmenden Modernisierung als komplementäre Komponente hinzukommen sollten. In der islamischen Tradition sieht Ahmed Midhat namentlich die ethischen Aspekte als hochentwickelt an und versucht, mit einer auf die Erziehung der Jugend abzielenden pädagogischen Haltung dieses Verständ33 nis im Bewusstsein der Jugend zu etablieren. Ein Aspekt der Affirmation des zu seiner Zeit geltenden ganzheitlichen Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit ist Ahmed Midhats Bedienung der tradierten Wissens- und Wissenschaftskonzeptionen aus der islamischen Tradition samt deren Semantik sowie deren Neusemantisierung 34 vom 19. Jahrhundert an. Im Mittelpunkt des Wissenschaftsverständnisses von Ahmed Midhat steht das Wechselspiel der Begriffe ʿilm (Wissen/ Wissenschaft), fenn (positive Wissenschaft/exakte Wissenschaft/Naturwissenschaft/Technik) und felsefe bzw. hikmet (Philosophie, Weisheit), das er in dem hier als erstes übersetzten Artikel darlegt. Ahmed Midhats Semantisierungen können als eine Zwischenetappe im Transformationsprozess dieser Begriffe angesehen werden, der in einer Verknüpfung der islamischen Wissenskonzeptionen mit dem zu seiner Zeit aktuellen 33 34
Vgl. Kılınç, Berna: “Ahmed Midhat and Adnan Adivar on History of Science and Civilizations”, in: Nuncius, 23/2 (2008), S. 291-308, hierzu S. 301-302. Siehe dazu meinen Beitrag “Baha Tevfiks Vision einer religionsfreien Gesellschaft” in diesem Band.
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Wissenschaftsverständnis seinen (zumindest vorläufigen) Abschluss fand. Seine Semantisierungen treten vor allem dadurch hervor, dass sie – Ahmed Midhats selektiver Öffnungsstrategie entsprechend – die von ihm willkommen geheißenen technischen bzw. exaktwissenschaftlichen As35 pekte des Westens unter den Begriff fenn, (Pl. funūn) subsumieren. Daraus resultiert zugleich die Bejahung einer weiteren, als wissenschaftlich charakterisierbaren Sphäre, die den exaktwissenschaftlichen Standards entzogen ist. In ihr sichert er den moralischen und spirituellen Aspekten der islamischen Religion eine Existenzgrundlage und schafft ihr damit eine autonome Einflusssphäre und eine aktive Rolle im Modernisierungsprozess der osmanischen Gesellschaft. Die Affirmation der Religion als epistemologische Größe geschieht bei Ahmed Midhat in mehreren Schritten: Durch den Rekurs auf die semantische Breite des Begriffs ʿilm fasst Ahmed Midhat auch die exakten Wissenschaften darunter und lässt gleichzeitig andere Wissensformen zu, denen er ebenfalls den Status von ʿilm zubilligt. Mit Hilfe dieses allumfassenden und zudem zeit- und epochenübergreifenden Wissenschaftsbegriffs sucht Ahmed Midhat zum einen, dem dominanten offenbarungsunabhängigen bzw. positivistischen Wissenschaftsverständnis seiner Zeit entgegenzutreten und das klassische islamische Wissenschaftsverständnis zu legitimieren. Er postuliert dabei eine fast durchweg positive Einstellung gegenüber den weltlichen Wissenschaften in der islamischen Geschichte. Zum anderen leitet Ahmed Midhat von der Semantik des Begriffs ʿilm die eben genannte aktive Rolle der moralischen und spirituellen Aspekte der islamischen Religion ab und stellt sie als konstitutive Elemente für eine moderne Gesellschaft dar. Somit wird der spirituelle bzw. moralische Aspekt der Religion bzw. des Islam als in der Gesellschaft bereits fest verankert und für deren Prosperität zugleich notwendig angesehen. Diese Ansicht erlaubt es ihm, auf Europa als Vorbild aus einer Beobachterperspektive zu blicken und bis zu einem gewissen Grad Europa und den Westen als Untersuchungsgegenstand zu objektivieren. Diese aktive Rolle der Religion für eine moderne osmanische Gesellschaft findet sich ebenfalls in seinen Darlegungen über die Philosophie. Insbesondere in dem hier übersetzten zweiten Artikel aus der von ihm he35
Vgl. Kılınç, Ahmed Midhat and Adnan Adivar on History of Science and Civilizations, S. 301-302.
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rausgegebenen Zeitschrift Dağarcık setzt Ahmed Midhat die philosophische Betätigung im Sinne von Wahrheitssuche mit der Theologie in Analogie. Die Rückführung dieser Wahrheitssuche bis in die Zeit der Propheten, mithin weit in die vorantike Geschichte, zeugen von der Strategie Ahmed Midhats, die Religion – und er bezieht sich im Grunde nur auf den Islam – für jedes Stadium des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses als feste Größe stets mitzudenken. Ahmed Midhats Konzeption von Philosophie, Wissen bzw. Wissenschaft und exakter Wissenschaft ist deutlich von der Dichotomie materi36 ell (māddī) – spirituell (maʿnevī) geprägt. Die Anerkennung zweier separater Sphären ist auch für die Argumentationsstrategie in seinen apologetischen Schriften höchst relevant – ist er darin doch stets bemüht, die Haltung des Islam zur Wissenschaft durch die Geschichte hindurch in ein affirmatives und positives Licht zu rücken. Indem er die spirituellen Aspekte des Menschen jedoch als eine autonome Sphäre von Wissenschaft begreift, sucht er die Entwicklung der positiven Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert losgelöst von deren weltanschaulichen Implikationen zu sehen und sie als bloß den materiellen Bedürfnissen der Menschen dienendes Instrument zu erachten. Ahmed Midhats Blick auf den Westen
Ahmed Midhats Blick ist im Allgemeinen von einer beobachtenden Haltung geprägt, welche ihm – wie bereits erwähnt – eine gewisse ‚Objektivierung‘ Europas und des Westens erlaubt, was in der Forschung bisher 37 als ‹Okzidentalismus von Ahmed Midhat› bekannt geworden ist. Aus der oben genannten Grundposition, dass die spirituellen Aspekte des Menschen ein durchweg konstitutives Element für die Zukunft der osmanischen Gesellschaft darstellen – in Kombination mit einer Öffnung gegenüber den positiven Wissenschaften und einer eklektischen Haltung gegenüber deren weltanschaulichen Implikationen –, resultiert Ahmed Midhats Überzeugung, dass dem Islam als traditionellem Bezugspunkt aller moralischen sowie kulturellen und auch wissenschaftlichen Aspekte eine aktive Rolle zukommen solle. Ahmed Midhats Blick auf den Westen, der in vielen seiner Schriften zum Tragen kommt, ist wiederum von dieser Überzeugung geprägt. 36 37
Okay, Batı Medeniyeti Karşısında Ahmed Midhat Efendi, S.12. Vgl. Sagaster, Beobachtungen eines “Okzidentalisten”, S. 34-36; Findley, An Ottoman Occidentalist in Europe, passim.
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Ahmed Midhat bemängelt den Kenntnisstand über Europa unter den osmanischen Intellektuellen im Allgemeinen und wirft ihnen ein verkehrtes Europabild vor. Ihre Kenntnisse beruhten grundsätzlich auf drei Erkenntniswegen, nämlich entweder auf Büchern oder auf den oft falschen Vorstellungen osmanischer ,Euro-Gecken‘ über den Westen oder schließlich auf eigenen Reisen nach Europa. Folglich ist es gemäß Ahmed Midhat bis zu seiner Zeit keinem Intellektuellen gelungen, ein wahrheitsge38 treues, objektives und differenziertes Bild von Europa zu liefern. Denn alle drei der so geprägten Haltungen gegenüber der westlichen Lebensweise haben den Fokus auf die freiheitlichen, als unmoralisch empfundenen Aspekte derselben gerichtet und osmanische Intellektuelle dazu verleitet, die westliche Zivilisation auf diesen Aspekt zu reduzieren und je 39 nach der eigenen Überzeugung zu loben oder zu kritisieren. Im Gegensatz dazu konstatiert Ahmed Midhat für Europa einige den mangelhaften Beobachtungen osmanischer Intellektueller bisher nicht zugängliche moralische Standards, die jede Reduzierung Europas auf die dort beobacht40 bare Verbreitung der leiblichen Vergnügen relativieren. Das Aufzeigen der Doppelgesichtigkeit der europäischen Zivilisation bleibt auch ein Grundmotiv vieler seiner Romane. Des Weiteren betont Ahmed Midhat, dass innerhalb der ,europäischen Zivilisation‘, auf welche die osmanische Gesellschaft als eine Einheit blickt, die nationalen Eigentümlichkeiten verschiedener Völker bei gemeinsamer Fortschrittlichkeit immer noch 41 fortbestehen. Insbesondere fällt seine Auseinandersetzung mit der westlichen Zivilisation zum Zwecke der Aufklärung der omanischen Gesell42 schaft ins Auge. Die pragmatische Grundhaltung Ahmed Midhats zeigt sich in seinem Schaffen in dem Bemühen, der osmanischen Jugend, die im Begriff ist, Europa zu bereisen, eine Grundidee von dessen Zivilisation zu vermitteln sowie eine alternative Interpretationsfolie für deren Beurteilung zu liefern. Mit diesem Bemühen stellt sich Ahmed Midhat in erster Linie nicht gegen Orientbilder europäischer Gelehrten, sondern vielmehr gegen die Okzidentbilder in der osmanischen Gesellschaft, die er als einseitig empfindet. Dagegen plädiert Ahmed Midhat für eine Synthese zwischen den starken (materiellen) Aspekten des Okzidents und 38 39 40 41 42
Okay, Batı Medeniyeti Karşısında Ahmed Midhat Efendi, S. 20. Ebd., S. 21-22. Ebd., S. 18-19. Ebd., S. 32-33. Ebd., S. 28.
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den starken (spirituellen) Aspekten des Orients. Das kommt in seinen Romanen, wie etwa in «Felâtun Bey ile Râkım Efendi», besonders stark zum Ausdruck. Ahmed Midhats Zivilisationsbegriff misst den spirituellen Aspekten des Lebens einen hohen Stellenwert bei. Aus diesem Grund konstatiert er für die westlichen Zivilisationen einen Niedergang ihres Zivilisationsgrades trotz steigender materieller Fortschrittlichkeit, die ihrerseits neben der Spiritualität ein zweites Kernmoment seines Zivilisationsbegriffs aus44 macht. Ein so verstandener Zivilisationsbegriff erklärt auch die pragmatische Grundhaltung von Ahmed Midhat sowie das damit verfolgte Ziel. Wird nämlich die Spiritualität der östlichen Zivilisationen hochgehalten, so wird zugleich für diese eine fehlende Komponente diagnostiziert, nämlich das Fehlen des materiellen Fortschritts. Umgekehrt wird für die westliche Zivilisation bei steigendem materiellem Fortschritt das Nachlassen des spirituellen Aspekts beobachtet. Beide Zivilisationen weisen für Ahmed Midhat somit eine fehlende Seite auf, die beide zusammen als konstitutiv für den Zivilisationsbegriff von Ahmed Midhat verstanden werden. Eine Zivilisation, deren spirituelle wie auch materielle Seite ausgereift sind, erweist sich für Ahmed Midhat als ein Ideal, das für die osmanische Gesellschaft zu erreichen möglich ist, wenn sie sich einem am europäischen Vorbild orientierten Ausbau des materiellen Aspekts widmet. So erklärt sich der Pragmatismus Ahmed Midhats im Umgang mit der europäischen Zivilisation ebenfalls aus der Sicht seiner Zielsetzung. Diese bestand weniger in einer auf Ideologie basierenden weltanschaulichen Auseinandersetzung und ebenso wenig in einer apologetischen Haltung gegenüber den Vertretern einer Konfliktthese als vielmehr in einer Indienstnahme derjenigen Aspekte der westlichen Zivilisation, welche die Fähigkeit zum materiellen Fortschritt mit sich bringen würden. Apologie des Islam bei Ahmed Midhat
Aus der beschriebenen Modernisierungskonzeption Ahmed Midhats mit einer je autonomen materiellen und spirituellen Seite ergibt sich das 45 Grundmotiv für seine apologetischen Schriften. Wenn nämlich die isla43 44 45
Okay, Batı Medeniyeti Karşısında Ahmed Midhat Efendi, S. 29-33. Ebd., S. 39. Vgl. hierzu Yalcinkaya, Alper M.: “Science as an Ally of Religion: A Muslim Appropriation of the ‘Conflict Thesis’”, in: The British Journal for the History of Science, 44/2 (2011), S.161-181; Kılınç, Ahmed Midhat and Adnan Adivar on History of Science and Civilizations, S. 301-304.
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mische Religion eine aktive Rolle bei der Gestaltung einer modernen osmanischen Gesellschaft übernehmen sollte, so galt es zu einer Zeit, in der Stimmen für eine Unvereinbarkeit des Islam mit der neuen wissenschaftskonformen Weltanschauung immer lauter wurden, die Tauglichkeit der spirituellen Aspekte der islamischen Religion zu legitimieren. Die Strategie Ahmed Midhats war dabei nicht, lediglich für die Legitimität der Anerkennung einer spirituellen Sphäre zu argumentieren, um den Islam darin zu platzieren und ihm ein Eigenleben in der Moderne zu gewährleisten. Vielmehr – und viel tiefgreifender – wollte er die Kompatibilität der islamischen Religion mit den Wissenschaften aus der Geistesgeschichte des Islam selbst ableiten und daher die Besetzung der spirituellen Sphäre durch eine islamische Religiosität als eine historische Notwendigkeit darstellen. Werden die Wissenschaften im Sinne der positiven Wissenschaften aufgefasst, so werden diese ab dem 19. Jahrhundert ver46 mehrt als Grundlage der modernen Zivilisation verstanden. Ahmed Midhat teilt mit vielen anderen Denkern des spätosmanischen Reiches die Ansicht, dass den positiven Wissenschaften eine konstitutive und es47 sentielle Rolle für das Verständnis aller weltlichen Dinge zukommt. Die Eigentümlichkeit Ahmed Midhats bestand jedoch darin, dass er für eine Einbettung der Wissenschaften in eine bestehende Gesellschaft plädierte, d.h. er favorisierte eine Aufnahme der neuen Wissenschaften in die osmanische Gesellschaft mithilfe einer Ausblendung philosophisch materia48 listischer Implikationen. Einen weiteren Strang der Apologie Ahmed Midhats bildet seine Auseinandersetzung mit Drapers Werk über den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft, in welcher er die historischen Eckpunkte des postulierten Konflikts der christlichen (insbesondere der katholischen) Theologie mit den positiven Wissenschaften zu rekonstruieren versucht und dabei nicht selten auf die islamische Geistesgeschichte zurückgreift, um seine Position anhand der aus seiner Sicht andersgearteten Behandlung der 49 Wissenschaften in der islamischen Geschichte zu plausibilisieren. Mit seiner Konfliktthese hatte Draper zu zeigen versucht, dass es in der Geschichte der katholischen Kirche einen immerwährenden Konflikt zwi46 47 48 49
Vgl. Kılınç, Ahmed Midhat and Adnan Adivar on History of Science and Civilizations, S. 292. Ebd. Ebd., S. 293. Siehe Draper, John William: History of the Conflict between Religion and Science, New York: D. Appleton and Co., 1875.
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schen den Entwicklungen der Wissenschaften und den kirchlichen Dogmen gab. Trotz seiner punktuellen Relativierung dieses wesensmäßigen Konflikts und der Betonung dessen besonderer Ausprägung für die katholische Kirche sowie trotz der punktuellen Darstellung der Epochen der islamischen Geschichte, die einer solchen These von einer allgemeinen Konfliktsituation zwischen Religion und Wissenschaft widersprechen, attestiert Ahmed Midhat Draper eine verallgemeinernde Sichtweise dieser Konfliktsituation. Die Pointe der Argumentation von Ahmed Midhat ist dabei, dass die islamische Religion vor einem Konflikt zwischen Religion 50 und Wissenschaft gefeit gewesen sei. So zeichnet er ein Bild der Harmonie zwischen Religion und Wissenschaft in der islamischen Geschichte und erhebt deren Aufrechterhaltung auf die Stufe einer religiösen 51 Norm. Der Begriff ʿilm spielt dabei eine zentrale Rolle, da dieser ihm erlaubt, die Wissenschaften als eine Gesamtheit anzuerkennen und ihnen gleichzeitig eine auf islamischen Religionstexten basierende Legitimität 52 zu verleihen, weil ʿilm als eine religiöse Kategorie definiert wird. In alldem ist zweifellos auch (und vor allem) die edukative Bemühung sichtbar, der Jugend in einer Atmosphäre der Sichtbarkeit der materiellen Überlegenheit der westlichen Mächte ein in der osmanischen Tradition verankertes und dieses stets mitdenkendes Werkzeug für die Begegnung mit als neu und nicht zuletzt als fremd empfundenen Neuerungen ihrer Zeit 53 zu geben. Durch die Inklusion der Wissenschaft in die Geschichte des Islam sucht Ahmed Midhat die in seinen Augen ideologische Verkoppelung der Wissenschaften mit der europäisch-westlichen Zivilisation zu brechen, und die Beschäftigung mit den Wissenschaften somit nicht als ein Akt der Europäisierung, sondern als eine Weiterführung einer im Islam selbst 54 verankerten Beschäftigung zu präsentieren. Dieses Bemühen um die Loslösung der technischen Wissenschaften aus ihrem westlichen Kontext ist ein grundlegender Aspekt von Ahmed Midhats Modernisierungspro55 jekt. Sie ist zugleich Teil seiner Strategie, die in seinen Augen zu einer Entfremdung führenden Elemente der europäischen Kultur von seinen ei50 51 52 53 54 55
Vgl. Kılınç, Ahmed Midhat and Adnan Adivar on History of Science and Civilizations, S. 297. Ebd. Vgl. ebd., S. 298. Kılınc übersetzt es mit «scholarship» statt «science». Ebd., S. 300. Vgl. ebd., S. 301-302. Ebd.
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genen Landsleuten fernzuhalten. Indem er den Kreis des Eigenen ausweitete und die technischen Wissenschaften in ihn einbettete, meinte er, bei der Übernahme der als das Andere identifizierten Komponenten selektiv und eklektisch vorgehen zu können. Zur Textauswahl Im folgenden Übersetzungsteil sind jene Texte aus dem voluminösem Gesamtwerk Ahmed Midhats ausgewählt und übersetzt worden, welche die im vorangegangenen Kommentar dargelegten Grundkonturen des Denkens von Ahmed Midhat repräsentieren. Dabei liegt der Hauptfokus allerdings auf denjenigen Aspekten seines Denkens, die zum einen für das Verständnis seines Standpunktes hinsichtlich der Philosophie und der Wissenschaften und deren Interaktion mit der Religion in Geschichte und Gegenwart und zum anderen für die Rolle des Islam im Prozess der Aneignung der positiven Wissenschaften und für den Modernisierungsprozess der osmanischen Gesellschaft zentral sind. Als Hintergrundannahme fungiert dabei die Verankerung des Denkens von Ahmed Midhat im breit angelegten Diskurs um das Verständnis der Wissenschaften und der damit einhergehende Transformationsprozess in der Semantik der tradierten Wissensordnungen und -konzeptionen, der sich insbeson56 dere an der Verwendung des Begriffs ʿilm zeigt. So werden mit den ersten beiden Texten, die bereits 1872 in der von Ahmed Midhat herausgegebenen Zeitschrift Dağarcık publiziert wurden, diejenigen Artikel übersetzt, in welchen er sich genau mit dieser Begriff lichkeit auseinandersetzt. Die Signifikanz der beiden Texte zeigt sich auch darin, dass sie die Kontinuität der Bemühung Ahmed Midhats aufzeigen, das zu seiner Zeit herrschende Verständnis der Wissenschaft als der islamischen Tradition inhärent darzustellen. Auf die Ausführungen im ersten der beiden Texte über die Differenzierung der verschiedenen Wissenschaftsbegriffe ʿilm und fenn folgen seine Ausführungen über den Begriff der Philosophie (felsefe). Im zweiten Text sucht Ahmed Midhat, anhand einer breit gefassten Semantik dieses Begriffs die Philosophie als Angelegenheit vieler koranischer (und biblischer) Propheten darzulegen und somit den Beginn der Philosophie auf die Zeiten der früheren Propheten zu datieren. Die weiteren drei Texte sind Auszüge aus dem vierbändigen Werk, 56
Siehe dazu S. 276 im Beitrag über Baha Tevfik.
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ENUR IMERI
das neben einer Übersetzung des Werks von Draper auch einen von Ahmed Midhat selbst verfassten Kommentar beinhaltet. Dieser ist im Text direkt als Kommentar zu jeweils einzelnen Absätzen platziert und gibt dem ganzen Werk die Form eines Dialogs bzw. einer Polemik. Allerdings bittet Ahmed Midhat seine Leser schon in der Einleitung, seine Kommentare als ein separates Werk anzusehen und gibt diesem den Titel «Der Islam und die Wissenschaften». Den Tenor von Ahmed Midhats Position bildet die Grundannahme, dass die von Draper gegenüber der Religion erhobenen Vorwürfe der Unvereinbarkeit mit der Wissenschaft lediglich auf die christliche Wissenstradition zutreffe und dass die islamische Religion von solcherlei Vorwürfen nicht betroffen sei. In den ausgewählten Ausschnitten kommt neben der im Kommentar kurz angedeuteten Position Ahmed Midhats über das Verhältnis von Islam und Wissenschaft auch das Hauptziel seiner schriftstellerischen Bemühung zum Vorschein: sein pädagogischer bzw. edukativer Anspruch, die osmanische Gesellschaft und insbesondere die junge Generation bei ihrer Begegnung mit der Moderne anzuleiten.
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ʿIlm īle fenn
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علم ايله فن Wissenschaft und exakte Wissenschaft Ahmed Midhat Efendi aus dem Osmanischen übersetzt von Enur Imeri
[26] Ich weiß nicht, ob wir bis heute keinen Unterschied zwischen den Begriffen Wissenschaft (ʿilm) und exakter Wissenschaft (fenn) gesucht haben – vielleicht deswegen, weil wir als Volk (millet) noch nicht den Status der Beherrschung der exakten Wissenschaften (mütefennin) erlangt haben. Beispielsweise gibt es bei uns sowohl die Bezeichnung «Wissenschaft des Rechnens/der Algebra» (ʿilm-i ḥisāb) als auch die Bezeichnung «die exakte Wissenschaft des Rechnens» (fenn-i ḥisāb), genauso wie es beide Bezeichnungen «Wissenschaft der Geschichte» (ʿilm-i tārīkh) und «exakte Wissenschaft der Geschichte» (fenn-i tārīkh) gibt. Wir dürfen uns jedoch nicht zu der Annahme verleiten lassen, dass beide Begriffe Synonyme sind oder beide im Allgemeinen «Wissen» (bilmek) bedeuten. Vielmehr müssen wir von der Annahme ausgehen, dass in unserer Sprache zwei Arten von Wissen bestehen, deren jede für sich einem der beiden genannten Begriffe entspricht. Die europäischen Autoren haben große Mühen auf sich genommen, um zu zeigen, dass es zwei Arten von Wissen gibt, und dass die eine davon «Wissenschaft» und die andere «exakte Wissenschaft» heißt. Wir wollen hier schauen, ob es einen kürzeren Weg gibt, diesen Unterschied aufzuzeigen. [27] Wir hatten also gesagt, dass es zwei Arten von Wissen gibt. Nun gilt es als Erstes, den Unterschied zwischen diesen beiden Arten zu verdeutlichen. Der Mensch weiß zum einen, dass Peter der Große den folgenden Satz ausgesprochen hat: «Für die Russen ist es sehr einfach, die Welt zu besetzen.» Zum anderen weiß er: «Zwei plus zwei ergibt vier». 1
In: Dağarcık (Ṭāghārdjīq), 1872, Ausg. 1, S. 26-29. Wie im vorangehenden Kommentar erläutert, ist die Übersetzung des Begriffs ʿilm bei Ahmed Midhat mit der grundlegenden Schwierigkeit verbunden, dass er ihm eine semantische Spannbreite beimisst, die in gewisser Hinsicht über die Semantik des Begriffs «Wissenschaft» im engeren Sinn hinausgeht. In diesem Text wird jedoch, in Anlehnung an den gegenwärtigen Sprachgebrauch, für ʿilm die Wiedergabe als «Wissenschaft» bevorzugt, während für fenn das Prädikat «exakt» hinzugefügt wird. Das türkische Wort bilmek wird stets mit «wissen» bzw. in substantivierter Form mit «Wissen» wiedergegeben.
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Tatsächlich sind beides Akte des Wissens. Allerdings wäre es auch möglich, zu wissen, dass Peter der Große keinen solchen Satz ausgesprochen hat. Auf der anderen Seite ist es jedoch unmöglich und unvorstellbar, zu wissen, dass zwei plus zwei nicht vier ergibt. Aus dem Gesagten folgt, dass es eine Art von Wissen gibt, dessen Gegenteil potenziell auch gewusst werden kann. Darüber hinaus gibt es eine zweite Art von Wissen, dessen Gegenteil niemals wahr sein kann, und es ist somit unmöglich, Wissen über etwas Nichtseiendes zu haben. Nun ist es erforderlich, Ersteres «Wissenschaft» und Letzteres «exakte Wissenschaft» zu nennen. Wenn dem so ist, dann können wir die Geschichte (tārīkh) als eine Wissenschaft bezeichnen. Denn sie beinhaltet zwar Wissensinhalte, aber deren Gegenteil könnte auch wahr sein. Allerdings ist die Algebra (fenn-i ḥisāb) keine Wissenschaft im Sinn von ʿilm, sondern im Sinn von fenn. Denn bei Letzterem kann das Gegenteil nicht gewusst werden. Die exakte Wissenschaft entspricht einer solchen Wissenschaft, in welcher es Gesetze und Prinzipien gibt. Wird beispielsweise gesagt: «Diese Linie ist jener gleich», so muss ein solcher Satz auf ein Gesetz gestützt sein, auf welches bei Bedarf zurückgegriffen werden kann. So kann eine Erklärung für einen solchen Satz gegeben werden, indem nämlich gesagt wird, dass, wenn beide Linien nebeneinander stehen und der Abstand zwischen den Punkten beider Linien derselbe ist, geurteilt werden kann, dass beide Linien einander gleich sind. In der Wissenschaft dagegen, die als ʿilm charakterisiert wird, können keine solchen oder ähnlichen Gesetze oder Prinzipien gesucht werden. Der Satz: «Diese Blume ist schön» kann nicht begründet werden, da dieser Satz nicht auf ein analoges Gesetz oder Prinzip gestützt ist. Es bleibt dabei nach wie vor im Rahmen des Möglichen, dass etwas für eine Person schön ist, während es für eine andere Person hässlich ist. Aus dem Gesagten folgt nun, dass die Ingenieurwissenschaften (hendese) exakte Wissenschaften sind, während die Dichtung keine solche Wissenschaft ist. Hinsichtlich des Umfangs ist die Wissenschaft breiter, sodass sogar die exakte Wissenschaft darunter subsumiert werden kann. Denn es ist möglich, Wissen über die exakte Wissenschaft zu haben. Hinsichtlich ihrer Stärke steht die exakte Wissenschaft jedoch höher. Fällt man mithilfe
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der exakten Wissenschaft ein bestimmtes Urteil über eine bestimmte Sache, so kann dieses Urteil nicht anders sein. Jemand, der in irgendeiner Weise etwas weiß (bilmek), wird zum Wissenden (ʿālim). Auch derjenige, der die exakte Wissenschaft beherrscht, wird so genannt. Aber die Charakterisierung als exakter Wissenschaftler (mütefennin) gebührt nur dieser letzten Gruppe, nämlich denjenigen Leuten, die in exakter Wissenschaft bewandert sind. Der Mensch lernt gemäß seiner persönlichen Eignung viele Dinge. Damit verbunden weiß er viele Dinge und verdient die Bezeichnung «Wissender». Die exakten Wissenschaften (funūn) sind jedoch nicht abhängig von der Eignung des Menschen. [32] Denn ohne das Erlernen der entsprechenden Gesetze (qawānīn) kann niemand den Status des exakten Wissenschaftlers (mütefennin) erlangen. Das Wissen um eine Sache entsprechend den Standards der Wissenschaft (ʿilmen) ist unvollständig, während das Wissen entsprechend den Standards der exakten Wissenschaft (fennen) vollständig und vollkommen ist. Beispielsweise lernt der Mensch entweder durch Hören oder Sehen, dass der Ballon eine aus seidigem Taft (djānfes) hergestellte Kugel ist und dass ein mit Gas gefüllter Ballon fliegt, weil Gas leichter als die Luft ist und sich der Luft dementsprechend nicht beugt, d.h. nicht nach unten fällt, sondern sich nach oben bewegt, d.h. fliegt. Einen solchen Menschen nennen wir Wissenschaftler (ʿālim), der im Besitz dieses Wissens ist. Allerdings sind diese Informationen unvollständig. Wird er nämlich aufgefordert, einen solchen Ballon selber anzufertigen oder diesen unter seiner Aufsicht anfertigen zu lassen, ist er dazu nicht imstande. Nur wenn er entsprechend den Standards der exakten Wissenschaft (fennen) auf bestimmte Fragen antworten kann, ist er imstande, einen Ballon selber anzufertigen bzw. eine solche Anfertigung zu beaufsichtigen. Diese Fragen sind: «Warum wird der Ballon aus seidigem Taft (djānfes) hergestellt?», «Aus welchem Grund ist er kugelförmig?», «Warum fliegt Gas, wenn es leichter als die Luft ist?», «Wie leicht ist Gas?», «Welches Volumen muss er haben, damit er Kraft sammeln kann, und wie ist diese Kraft zu messen?», «Welches Gewicht kann er tragen?», «Welche Rolle spielt dabei der Wind?», und «Welche Dimension muss ein Ballon haben, damit er ein bestimmtes Gewicht tragen kann?» Wissen bereitet dem Menschen eine große Freude. Ohne Wissen gibt
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es keine Freude. Üblicherweise bereitet es den Menschen Freude, bei Vollmond am Bosporus den Mond zu beobachten. Wenn nun Freude aus Wissen entspringt, dann entspringt große Freude aus der exakten Wissenschaft. Denn die exakte Wissenschaft wird die stärkste und die deutlichste Art des Wissens genannt. Wenn die Leute bei sternenklarer und schöner Nacht das Glänzen der Himmelskörper beobachten und dabei wissen, dass dies etwas Schönes ist, so ist die Freude der exakten Wissenschaftler, welche die Umlaufbahn der Himmelskörper kennen und wissen, wie weit diese Himmelskörper von uns entfernt sind, noch tausendfach größer. Die Schwierigkeit der Kenntnis von allen Dingen kommt gerade aus dem Wert der zu erkennenden Dinge. Die Wissenschaft ist dabei etwas leichter als die exakte Wissenschaft, während die Schwierigkeit der Erlangung der exakten Wissenschaften bekannt ist und die Anzahl von deren Leute vergleichsweise geringer ist. Die fortgeschrittenen Länder haben den Weg eingeschlagen, die exakten Wissenschaften der Stufe der Wissenschaft entsprechend zu vereinfachen. Bei der Anwendung der Methoden und Gesetze fügen sie zu allem exaktwissenschaftliche Informationen (maʿlūmāt-i fenniyye) in einer narrativen Form hinzu, die dem Leser wie die Lektüre einer Erzählung anmutet. Insbesondere die exakten Wissenschaften wie die Biologie und Botanik werden in einer solchen Weise erzählt, dass die Leser dabei sogar Vergnügen anstatt Langeweile empfinden. […] [29] Sogar deren Familienzugehörigkeit und ihre Gestalt werden nicht unter dem Titel «Zoologie» (fenn-i ḥayewānāt) dargestellt, sondern beides wird hierbei unserer Beobachtung angepasst. Es muss auch angemerkt werden, dass aus dem Blickwinkel der Gesetze der exakten Wissenschaften (funūn) diese stets die Grundlage für die Resultate bilden. Denn die exakte Wissenschaft ist quasi dem Gesetz (qānūn) gleich. Die Resultate gehören dabei zugleich der breiteren Gruppe der Wissenschaft. Da die exakte Wissenschaft, wie oben dargelegt, ebenfalls zur Wissenschaft gehört, kommt die Darlegung der Resultate der exakten Wissenschaften deren Praxis gleich. Meine Absicht mit dieser Darlegung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und exakter Wissenschaft ist es, unseren gütigen Lesern eine Idee von den westlichen Entdeckungen zu geben, die ihrerseits Resultate der exakten Wissenschaften sind. Zu diesen Entdeckungen habe ich viele 248
ʿILM ĪLE FENN
Abhandlungen studiert und übersetzt, und ich werde sie in diese Zeitschrift einbetten. Als Wissenschaft (ʿilm) stellen sie [die westlichen Entdeckungen bzw. die exakten Wissenschaften, EI] einen großen Nutzen (fāʾide) dar, und dieser Nutzen besteht gerade im Aufzeigen des Unglau2 bens für die Leute der Ermahnung (ehl-i ʿibret).
Felsefe we felāsife
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فلسفه و فلسفه Philosophie und Philosophen Ahmed Midhat Efendi aus dem Osmanischen in Auszügen übersetzt von Enur Imeri
[80] Die Philosophie (felsefe) ist aus unserer Sicht, d.h. der Sicht der Orientalen, keine neue Sache, wie z.B. die Freiheit (ḥurriyyet) eine ist. In unseren Bibliotheken findet man viele alte Bücher, die von Autoren geschrieben worden sind, die ein sehr hohes philosophisches Niveau erreicht haben. Dennoch müssen wir aber zugeben, dass diese Bücher in unseren Bibliotheken leider in Vergessenheit geraten sind, nachdem sie mit der Zeit von Staubschichten bedeckt worden sind. In dieser Thematik haben die Ansichten eine derartige Kehrtwende erfahren, dass, wenn heute jemand als Philosoph bezeichnet wird, daraus gefolgert wird, er sei ‹religionslos› (dīnsiz) oder zumindest ‹indifferent› (qaydsiz). Aus dem Gesagten folgt, dass das osmanische Schrifttum, das viele Dinge erst neu zu thematisieren beginnt, gut daran tut, auch die Philosophie als eine neue Sache zu behandeln. So ist es selbstverständlich, dass unsere Zeitschrift Dağarcık (Ṭāghārdjīq: Rucksack, Felltasche), die ja in ihren ersten Ausgaben auch einige philosophische Artikel behandelt, auch unter dem Titel «Philosophie und Philosophen» einige Ausführungen zu diesem wichtigen Thema beinhaltet. Die Philosophie stammt aus Griechenland. Ursprünglich ist sie aus 2 1
Es handelt sich dabei um eine vom Koran inspirierte Aussage, welche u.a. in naturtheologisch interpretierbaren Versen oder solchen, die einen gottgeleiteten Geschichtsverlauf antizipieren, als Aufruf zum Nachdenken vorkommt, wie z.B. in Sure 59:2. In: Dağarcık, 1872, Ausg. 3, S. 80-84.
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den beiden Worten philos [sic!] und sophia zusammengesetzt, wobei ersteres «Liebender» (muḥibb) und letzteres «Vernunft/Verstand» (ʿaql) heißt. Beides zusammengesetzt ergibt die Bedeutung «Liebender der Vernunft» (muḥibb-i ʿaql) oder, direkter, «Liebe zur Vernunft» (ḥubb-i ʿaql). Die Philosophie ist in ihrer jetzigen Gestalt eine besondere Wissenschaft (ʿilm-i makhṣūṣ), die so breitgefächert und so umfassend ist, dass es bisher keine adäquate Definition für diese Wissenschaft gegeben hat. Einige Philosophen haben sie als die genaue Beobachtung der Welt und das Urteilen über sie definiert, während andere sie als Urteil über die menschliche Gattung verstanden haben. Einige wiederum haben sie als die Erkundung der Beziehung des Menschen zum Universum bezeichnet, 2 [81] während wieder andere sie als Theologie (ilāhiyyāt) bezeichnet haben. Ich selbst bin kein Philosoph. Das heißt nicht, dass ich es nicht sein könnte. Im Gegenteil, es ist im Rahmen des Möglichen, dass ich es werden kann. Aber zum jetzigen Zeitpunkt bin ich nur ein gewöhnlicher Schüler, was aber nicht heißt, dass ich gar keine Ahnung von der Philosophie habe. Wenn ich die Philosophie definieren wollte, würde ich dies folgendermaßen tun: «Die Philosophie besteht aus dem Abwägen (muwāzene) der wechselseitigen Beziehungen und Zusammenhänge im Universum.» Diese Definition umfasst meiner Meinung nach sowohl die menschliche Gattung als auch die Theologie und sogar die Seele (nefs), und auch diejenige Definition der Philosophen, die Folgendes sagen: «Die Philosophie besteht im Vergleichen (qiyās) der Seienden mit dem Selbst (qiyās-i nefs).» Einige Philosophen sagen zudem, dass die Philosophie den Kern der Gesamtheit der exakten Wissenschaften (funūn) bildet und andere wehren sich gegen eine solche Definition. Die erste dieser beiden Gruppe sagt, dass niemand Philosoph sein kann, solange er nicht die exakten Wissenschaften beherrscht. Die andere Gruppe sagt hingegen, dass jemand nicht die exakten Wissenschaften erlernen kann, ohne zuvor ein Philosoph zu sein. Beide Gruppen haben sich in tiefe Disputationen begeben, um die Trefflichkeit ihrer jeweiligen Position zu beweisen. Wenn wir uns aber der Frage nähern würden, ob die Philosophie den exakten Wissenschaften 2
Zu beachten ist, dass «Theologie» im philosophischen Kontext oft mit «Metaphysik» gleichgesetzt und synonym verwendet wurde.
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FELSEFE WE FELĀSIFE
(funūn) vorangeht oder umgekehrt, dann liefen wir Gefahr, die Philosophie selbst aus dem Blick zu verlieren. Um zu sehen, wie weit diese beiden Gruppen in ihren Disputationen überhaupt gekommen sind, gebe ich im Folgenden ein Beispiel. Die erste Gruppe sagt, dass alle Wissenschaften (ʿulūm we funūn), aus Wissen bestehen und dass die Philosophie eine Wissenschaft ist. Folglich ist gerade dieses Wissen auch eine Wissenschaft. Demnach sind also die Wissenschaften (ʿilm we fenn) primär und die Philosophie kommt danach. Die zweite Gruppe sagt hingegen, dass die Philosophie lediglich aus dem Abwägen (muwāzene) besteht. Einer, der dieses Abwägen beherrscht, verdient die Bezeichnung «Philosoph». Demnach kommt die Philosophie zuerst und die exakten Wissenschaften folgen ihr. Wenn wir uns an dieser Stelle einem Vergleich der beiden Positionen widmen würden, verlören wir nicht nur die Philosophie selbst völlig aus dem Blick, sondern unsere Diskussion würde dem Disput über die Frage ähneln, ob zuerst das Ei da war oder die Henne. Allerdings ist es unserem Zweck nicht dienlich, hier diese Frage zu beantworten. Wir gehen von der Tatsache aus, dass es sowohl das Ei als auch die Henne gibt, und die Entstehung des einen aus dem anderen ist reziprok. Beide sind insofern sehr relevant, als aus dem einen das andere entsteht. Genauso ist die Philosophie [82] imstande, aus sich die exakten Wissenschaften (funūn) entstehen zu lassen, während umgekehrt auch diese imstande sind, die Philosophie aus sich heraus entstehen zu lassen. Unser Thema ist hierbei nicht, zu entscheiden, wer zuerst kommt und das andere entstehen lässt. Vielmehr sind wir darum bemüht, die Relevanz der Philosophie selbst zu unterstreichen, und wir sind gezwungen, diesen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn wir einen Blick auf die Geschichte der Philosophie werfen, nämlich darauf, aus welchem Kern die Philosophie entstanden ist und wie sie sich verästelt hat, dann können wir auf überzeugende Informationen hinsichtlich ihrer Relevanz hoffen. In der Zeit solcher Männer wie etwa Thales und Sokrates, die wir zu den Gründern der Philosophie zählen können, wurde die Philosophie nicht als aus vielen Teilen bestehend angesehen, sondern sie wurde zur Erklärung der Gesamtheit der Dinge herangezogen. Danach wurde diese Vorgehensweise von den Schülern von Thales und weiter von Pythagoras 251
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in einem vollständigeren Grad weitergeführt. Danach hat Platon dies weiter vervollständigt und die Philosophie in die drei Gebiete Logik (manṭiq), Naturphilosophie (ḥikmet-i ṭabīʿiyye) und Ethik (ʿilm-i akhlāq) eingeteilt. Die älteste wie auch die jüngste Zeit der Philosophie macht uns ihre besondere Relevanz deutlich. Aristoteles, einer der Schüler Platons, hat diese Einteilung akzeptiert und den Gegenstand der Philosophie dadurch erweitert, dass er die Wissenschaft der Politik (fenn-i siyāset) und die Wissenschaft der Verwaltung (fenn-i idāre) in die Philosophie integriert hat. […] Wie bereits aus einem kurzen Abriss der Philosophie deutlich wird, haben die Philosophen die exakten Wissenschaften sukzessive in die Philosophie eingebettet und die Einteilung der Philosophie in den folgenden Generationen geändert und um weitere wissenschaftliche Aspekte wie beispielsweise die Psychologie und Chemie erweitert. Aus dem Gesagten darf allerdings nicht darauf geschlossen werden, dass die Philosophie lediglich aus der Gesamtheit der exakten Wissenschaften besteht. Die Beziehung des Wesens der Philosophie zu den exakten Wissenschaften besteht aus mehr als aus der Entwicklung der exakten Wissenschaften, denn diese haben sich zu spezifischen Zweigen entwickelt. Hinsichtlich dieser Beziehung besagt die Tatsache, dass die Philosophie die Algebra (ḥisāb) gesamthaft umfasst, nicht, dass die Philosophie aus der Gesamtheit von deren Resultate besteht. Vielleicht bildet jede einzelne dieser exakten Wissenschaften eine Perspektive für den Philosophen, sodass er das Universum aus diesen Perspektiven beobachtet und seine Erwägungen über das Universum darauf aufbaut. Der Philosoph hat einen festen Untersuchungsgegenstand, und das ist [83] der Mensch. Der Philosoph studiert neben der Form und Gestalt sowie der Zusammensetzung, Natur, Moral und Seele dieses Untersuchungsgegenstandes auch dessen Beziehungen zum Universum und fällt entsprechend seinem eigenen Gewissen (widjdān) und seiner eigenen Überzeugung (qanāʿat) ein Urteil (ḥukm) über ihn. Nun stellen die bestehenden exakten Wissenschaften für den Philosophen je einen Gesichtspunkt während seiner Analyse (tedqīq) dar, die er während seiner Abwägung (muwāzene) vollzieht. Die Philosophie beschränkt sich dabei auf 252
FELSEFE WE FELĀSIFE
ein Urteil, welches sie nach dieser Analyse fällt. Folglich ist es klar, dass dieses Urteil der Wahrheit (ḥaqīqat) gleichkommt. Wir sind der Überzeugung, dass diese zeitgemäßen Informationen unseren gütigen Lesern eine Idee über das Wesen und die Relevanz der Philosophie geben werden. Dabei sehen wir es als notwendig an, auch einige zeitgemäße Informationen über die philosophischen Schulen zu geben. Diese Informationen über die Schulen der Philosophie werden zweifellos zur Verbreitung der philosophischen Gedanken beitragen. Wenn wir nach etwas Analogem (teshbīh) suchen, um den älteren Lesern die Philosophie zu erklären, so fällt uns sofort die Religion (diyānet) ins Auge. Denn die Analogie (teshbīh) muss etwas Bekannteres [als das zu Erläuternde, EI] in den Augen der Adressaten sein, und es besteht kein Zweifel daran, dass in der Religion viele philosophische Ideen einschlägig behandelt worden sind. Sogar die Tatsache, dass die Wissenschaft der Religion (ʿilm-i diyānet) eine Analogie zur Philosophie darstellt, verdeutlicht uns eine andere Dimension. Es bedarf keiner eingehenden Erläuterung, dass die Idee der Religion (fikr-i diyānet) in Wahrheit eine bestimmte Sache ausmacht. Die gegenseitige Bezichtigung des Unglaubens durch Vertreter diverser Religionen besagt lediglich, dass die Anhänger der einen Religion in den Augen einer anderen Religion ungläubig (kāfir) sind. Beispielsweise bezichtigen viele Christen die Anhänger der jüdischen Religion des Unglaubens. Wieso? Weil die Anhänger der jüdischen Religion die christliche Religion verwerfen. Dennoch hat eine Person, die in den Augen der Anhänger einer bestimmten Religion als ungläubig angesehen wird, eine bestimmte Religion, in deren Rahmen sie die Gewalt (qahr) einer bestimmten Gottheit (rabb) fürchtet, bzw. auf deren Güte sie hofft oder deren Größe und Allmacht sie bestaunt. […] Dies besagt, dass der eigentliche Zweck einer jeden Religion die Wahrheit (ḥaqīqat) ist, genauso wie die Philosophie bei jedem Thema stets auf der Suche nach Wahrheit ist und diese zum eigentlichen Zweck hat. Obwohl das eigentliche Ziel die eine Wahrheit (bir ḥaqīqat) ist, haben sich in vorangegangenen Zeiten innerhalb der Religion viele Lehren (meḏheb) etabliert, und auch die Philosophie hat bei ihrer Wahrheitssuche viele Richtungen (meslek) hervorgebracht. Bei der Philosophie rührt das daher, dass alle Philosophen in der Vergangenheit aus der Perspektive der Wissenschaften (ʿulūm we funūn) an die Sache herangegangen sind 253
AHMED MIDHAT EFENDI
[84] und dabei alle die notwendigen Forschungen jeder für sich gemacht haben. Aus diesem Grund ist die Philosophie notwendigerweise mindestens so verzweigt wie die Religion. Was bedeutet das nun? Die Religion ist imstande, die Gedanken einer Gemeinschaft zu einem einzigen gemeinsamen Ganzen zu vereinen. Die Philosophie vereint eine Gemeinschaft nicht zu einem gemeinsamen Ganzen, sondern sie wählt innerhalb ihres eigenen Kreises eine eigene Richtung aus und sie akzeptiert die von ihr gefundenen Wahrheiten auch dann, wenn sie niemand sonst akzeptieren würde, wie es beispielsweise bei der Schule von Diogenes der Fall war. Dementsprechend ist es prinzipiell möglich, dass es in der Philosophie mindestens so viele Richtungen/Lehren geben kann, wie es Denker (ṣāḥib-i fikr) gibt. Jedoch ist die Tragweite der jeweiligen Idee nicht gleich groß. Während die Tragweite einiger Ideen sich zu einem einzigen Zeitpunkt auf die [ganze, EI] Welt erstrecken kann, können andere nichts weiter erfassen, als das, was unmittelbar vor der Nase liegt. Auf diese Weise werden die Lehren der Philosophie durch Auslese weiter beschränkt. Gestützt auf diese Tatsache werden wir in diese unsere Zeitschrift einige als Gründer der Philosophie geltende Personen sowie von deren Nachfolgern diejenigen Berühmtheiten aufnehmen, die mit der Breitenwirkung ihrer Ideen die Bewunderung der ganzen Welt auf sich gezogen haben. Bei den hier berücksichtigten Personen wird davon ausgegangen, dass die Ära der Sieben Weisen Griechenlands den Beginn der philosophischen Schulen ausmacht. Doch verpflichtet uns der Islam dazu, die Epochen der großen Propheten, die bei der Verkündung und Verbreitung der Wahrheit großen Eifer an den Tag legten und als Früchte ihrer her vorragenden Bemühungen in ihrer Zeit viele Wahrheiten zutage förderten, als Ausgangspunkt zu nehmen. Betrachtet man die heiligen Geschichten der großen Propheten, so fällt beim ersten Blick und unmittelbar ins Auge, dass die Genannten [d.h. die Propheten, EI] große Anstrengungen auf sich genommen haben, um das Volk erstens auf den richtigen Weg (ṭarīq-i hidāyet) einzuladen und es von der Anbetung entweder der Sonne oder der Kühe abzuwenden, und, zweitens, um gegen solche Leute anzutreten, welche die endlose Kraft der Gottheit in sich selbst gesehen haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass, wie vorher bereits angedeutet, die Philosophie nicht in Ab254
FELSEFE WE FELĀSIFE
lehnung und Unglaube (inkār we kufr), sondern in der Wahrheitssuche (djust we djū-i ḥaqīqat) besteht, wie unten noch ausgeführt werden wird. Wir akzeptieren ohne zu zögern, dass unsere Propheten hinsichtlich der Darlegung der Wahrheiten wie der Göttlichkeit (ulūhiyyet we rubūbiyyet) einen ebenso großen Grad an Gewissheit an den Tag legen wie die Philosophie. Folglich ist dies erhabener als die erhabenste Stufe der Philosophie. Wenn wir nun den Propheten Abraham, den Vertrauten Gottes – Gottes Frieden sei mit ihm – zum Ausgangspunkt nehmen, [85] [gehen wir davon aus, EI] dass sich bereits vor dreiundzwanzig Jahrhunderten, d.h. sechzehn Jahrhunderte vor den Sieben Weisen Griechenlands auf palästinensischem (filasṭīn) Boden Ideen von der Wahrheit (efkār-i ḥaqīqat) zu entfalten begannen. Es steht uns nicht an, darüber zu berichten, in welcher Gestalt diese Wahrheit bis zur Ankunft unseres Herren, des Messias (mesīḥ) vorkam. Für unsere Zwecke ist es lediglich wichtig zu wissen, dass sich bereits vor Jahrtausenden Ideen von der Wahrheit auf palästinensischem Boden zu entfalten begannen. Danach sind Jene, die als die «Sieben Weisen» bezeichnet werden, zwischen 620 und 548 v. Chr. fast zeitgleich erschienen. Sie haben einige aus dem alten Ägypten stammende wissenschaftliche Prämissen (muqaddemāt-i funūnī) mit einer ihnen eigentümlichen Stärke, Intelligenz und vielseitigen Klugheit (ḏekā we wafret-i fetānet) in einem beinahe schöpferischen Grad verbreitet und dem damaligen Volk die Unmöglichkeit der Göttlichkeit eines menschlichen Lebewesens aufgezeigt und zugleich betont, dass die Göttlichkeit vielmehr eine den Verstand ins Staunen versetzende spirituelle Kraft (quwwe-i maʿnewiyye), d.h. ein notwendig Seiendes ist. Eine solche Gottheit entbehrt jeder Zeitlichkeit in Vergangenheit und Zukunft und ihre Allmacht umfasst das ganze Universum. Im Unterschied dazu haben mehrere Leute aus Griechenland mit einigen Wahrheiten, die sich nur auf das Feld der Materialität beziehen, den Menschen Sand in die Augen gestreut. Damit verbunden haben sie aber gezeigt, dass der Mensch selbst [den Status, EI] einer solchen Gottheit keinesfalls erlangen kann, und dass die Wirkung einer wahren Gottheit sogar in den Pflanzen (nebātāt) zu erblicken und zu beobachten ist. Daraus folgt, dass die Geschöpfe (erbāb-i mewdjūde) nicht nur keinen Anteil an einer solchen Kreation haben können, sondern auch keine direkte Information darüber haben, wie diese vonstatten geht. […] 255
Nizāʿ-i ʿilm we dīn – Islām we ʿulūm
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نزاع علم و دين ز اسلم و علوم John William Drapers «Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion» mit Ahmed Midhat Efendis Kommentar «Der Islam und die Wissenschaften» Ahmed Midhat Efendi aus dem Osmanischen in Auszügen übersetzt von Enur Imeri
[1/2] Diesem Werk haben wir zwei einander untergeordnete Titel gegeben. Der erste dieser Titel ist die Übersetzung des von Draper selbst als 2 «Les conflits de la science et la religion» betitelten Werkes. Der andere Titel beinhaltet einige Worte meiner Wenigkeit, die teils als Kommentar und teils als Kritik verfasst worden sind. [1/3] Folglich vereint diese Publikation zwei thematisch miteinander verflochtene Bücher in ein und demselben Band. Die Übersetzung Drapers ist dabei in kleinerer Schrift wiedergegeben worden, und wenn nur diese Stellen nacheinander gelesen werden, dann entspricht dies zugleich der Reihenfolge von Drapers Buch. Umgekehrt stellen die in größerer Schrift abgedruckten Stellen unsere Erörterungen zu den entsprechenden Themen dar, und wenn diese nacheinander gelesen werden, stellen sie die Gesamtheit unserer Sicht dar. Darüber hinaus würde die Lektüre unserer Erörterungen direkt im Anschluss an die entsprechenden Erörterungen von Draper [1/4] aufgrund der Verflechtung der Themen einen besonderen Reiz darstellen. Unsere Einführung 3
Eines Tages hat mich Fatma Aliye Hanım, die wie eine spirituelle Tochter für mich ist, während eines Gesprächs gefragt, ob ich das besagte Werk von Draper kenne. Auf eine negative Antwort meinerseits hin hat sie mir das besagte Werk geschenkt mit der Bitte um einige Bemerkungen mei1 2 3
Ahmed Midhat Efendi: Nizāʿ-i ʿilm we dīn, İslām we ʿulūm, Istanbul: Tercüman-ı Hakikat Matbaası, 1895–1900, 4 Bde., Bd. 1, S. 2-14; Bd. 2, S. 237-260 [İslām ve ʿulūm]; Bd. 4, S. 332-337. Ihm lag das Werk vermutlich in französischer Übersetzung vor. Der englische Originaltitel lautet: Draper, John W.: History of the Conflict between Religion and Science, New York: D. Appleton & Company, 1874. Zu Fatma Aliye Hanım (gest. 1936) siehe S. 235, Fn. 29.
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nerseits, die hier nun im Anschluss an einige Erläuterungen folgen werden. [1/5] Wir haben daraufhin das genannte Buch gelesen. Als erstes ist es nötig, den Verfasser dieses Buches unseren Lesern bekannt zu machen. Draper, der Lehrer an der Universität in der Stadt New York war, hat nicht nur dieses Werk «Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion» (Nizāʿ-i ʿilm we dīn) verfasst. Vielmehr hat er mehrere wichtige Werke zu Naturund Geschichtswissenschaften verfasst. Insbesondere seine «Geschichte 4 der geistigen Entwicklung Europas» ist weltweit auf ein derart großes Interesse gestoßen, dass dieses ursprünglich auf Englisch verfasste Werk in England und Amerika mehrfach herausgegeben und darüber hinaus ins Französische sowie ins Deutsche, Italienische und sogar ins Serbische [1/6] übersetzt wurde. Allerdings ist das Werk «Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion» (Nizāʿ-i ʿilm we dīn) hinsichtlich der Relevanz seinen anderen Werken überlegen und hat sogar andere zu diesem Thema verfasste Werke übertroffen. Denn es sind viele religionskritische Werke verfasst worden, wobei die meisten von ihnen entgegen dem von ihren Verfassern postulierten Grundsatz der Meinungsfreiheit eine solch fanatische Indifferenz und ablehnende Feindseligkeit (mukābere-i mutaʿaṣṣibāne we mukhaṣmāne-i münkerāne) an den Tag legen, dass sie nicht nur von den Frommen (mütedeyyin) und Dogmatikern (muʿtaqid), sondern auch von den Pseudophilosophen (mütefelsif) treffenderweise als ,irrsinnig‘ [1/7] bezeichnet werden. Wenn auch der Spruch «Der Glanz der Wahrheit (bāriza-i ḥaqīqat) kommt durch die Kollision der Ideen zustande» durchaus sinnvoll ist, stellt er diejenigen, die durch einen ablehnenden Fanatismus (taʿaṣṣub-i münkerān) geblendet worden sind und weder die Welt noch die Wahrheiten in ihr sehen können, als Vertreter eines objektiven Lagers dar. Diese Leute nehmen den angeblich zwischen Religion und Wissenschaft angelegten Gegensatz zum Maßstab, und unter Berufung auf Draper hören sie auf kein anderes Wort als auf ihre eigenen fehlerhaften Kategorien (maʿqūlāt-i meʿkūse). Aus diesem Grund besteht keine Möglichkeit einer Kollision der Ideen mit ihnen, damit in der Folge der Glanz der Wahrheit aufblitzen kann. Man muss sich jedoch vor solcherlei schändlichen Werken nicht fürchten. Denn die aufrichtigen Gemüter, unabhängig davon, ob sie gläubig [1/8] oder nicht gläubig sind, dienen kei4
Avrūpanin Tarīkhi Tereqqiyat-i fikriyyesi = Draper, John W.: History of the Intellectual Development of Europe, New York: Harper, 1863.
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neswegs diesen fehlerhaften Ideen. Um an solchen Gedanken Gefallen zu finden, muss man vollkommen dem Irrtum verfallen sein. Es besteht sogar die starke Annahme, dass solche Menschen sich nur deswegen an derlei Gedanken festklammern, weil sie unter dem Einfluss von tatsächlichen Vertretern solcher Positionen stehen, und würden sie selber über ihre Wahrheiten nachdenken, so würden sie erkennen, dass sie im Grunde zu keiner Wahrheit gelangt sind. Draper kann mit solchen Menschen jedoch nicht gleichgesetzt werden. Dieser Mann stellt mit seinen Untersuchungen [1/9] seinen hohen Wissensstand unter Beweis. In Bezug auf den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft tritt er nicht als jemand auf, der bloße Behauptungen aufstellt. Auch wenn seine Überlegungen vielfach als Behauptungen daherkommen, so hat er sich doch daran gemacht, die Behauptungen einiger, die gesunde Ideen haben, zu beurteilen und sein eigenes Urteil zu fällen. Sein Urteil fällt zwar zulasten der Religion und zugunsten der Wissenschaft aus, aber er hat wesentliche Aspekte sowohl der Religionen als auch der Wissenschaften zur Sprache gebracht. Für die Liebenden von Weisheit und Wahrheit ist es aber wichtig, etwas über diesen Konflikt zu erfahren. [1/10] Da bei ihm jedoch mit «Religion» (dīn) das Christentum und insbesondere die katholische Konfession bezeichnet wird, hat das für muslimische Leser vielerlei Nutzen. Dieser Nutzen hängt damit zusammen, was wir in dem dreibän5 digen Werk «Mudāfaʿa» (Verteidigung) dargelegt haben. Da dieser besagte Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft angeblich auf eine absolute Art und Weise stattfindet, wird folglich auch der Islam hinzugezählt. Zwar gibt Draper der islamischen Religion in vielerlei Hinsichten Recht und fällt Urteile zugunsten unserer Religion, [1/11] diese entsprechen jedoch unter einigen Gesichtspunkten nicht der absoluten Wahrheit und können in uns daher auch keine Freude hervorrufen. Als Warnung möge die Anmerkung ausreichen, dass er diese Urteile nicht aus Liebe zum Islam, sondern als Kontrast zum Christentum gefällt hat. Andernorts äußert Draper denn auch antiislamische Kommentare. Allerdings können uns diese Kommentare weder beleidigen noch ärgern, entsprechen sie doch nicht der Wahrheit. Wir wollen hingegen in diesem Buch aufzeigen, in welchem Maße und auf welche Art der Islam mit den Wissenschaften korreliert, und damit deutlich machen, dass der Islam in den Punkten, in welchen zwischen dem Christentum 5
Siehe S. 233, Fn. 21.
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und der Wissenschaft [1/12] ein Konflikt besteht, im Gegenteil dazu mit der Wissenschaft übereinstimmt. Wir hoffen, dass sich die Meinung der fortschrittlichen und aufgeklärten Nationen Europas und Amerikas über unseren Islam dadurch verändert. Gegenwärtig erfährt er dort große Sympathie und Zuwendung, sodass viele Personen diese klare Religion (dīn-i mübīn) sogar annehmen und dies offen kundtun, und wir hoffen, dass die folgenden Ausführungen noch weiter dazu beitragen. Die Idee, unsere Analyse (tedqīq) und Kritik (tenqīd) des genannten Buches in Form eines Dialoges zu präsentieren, erwies sich sowohl für das Verstehen als auch für das Erklären [1/13] als eine Erleichterung. Partiell haben wir unsere Kommentare zur Übersetzung des Textes von Draper in Form von einzelnen Antworten konzipiert, damit der Leser bei der Lektüre nicht ermüdet. Folgendes muss an dieser Stelle noch angemerkt werden: Die Ausführungen von Draper beinhalten viele Wiederholungen, einige auch Abschweifungen. Um nun nicht selbst in solche Wiederholungen zu verfallen, wurden einige davon in der Übersetzung ausgelassen, wobei besonders darauf geachtet wurde, [1/14] den eigentlichen Sinn und Zweck des Textes nicht zu verfehlen und nichts zu verklären. Je tiefer wir in das Werk von Draper vordringen, umso deutlicher wird es werden, dass die Gesamtheit der Dinge, die Draper als Beweis gegen die Religion vorbringt, als ein Beweis für den Islam fungieren können. [...] [2/237] Anhand der fünf Kapitel von Drapers Buch «Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion», die bis dahin übersetzt und kritisiert wurden (intiqād), ist es unseren gütigen Lesern vollends klar und deutlich geworden, dass der genannte Gelehrte [d.h. Draper, EI] zu der Auffassung gelangt ist, dass dasjenige, was Religion (dīn) genannt wird, nicht mit den Wissenschaften (ʿulūm) versöhnt werden (tawfīq) kann und er dieses Buch geschrieben hat, um diese Unmöglichkeit aufzuzeigen. Wir haben nun unsererseits hingegen Draper kritisiert, um kundzutun, was wir [2/238] unmittelbar (bedāhaten) einsehen, nämlich dass die Behauptungen des Genannten zwar hinsichtlich der nicht-islamischen Religionen wahr sein könnten, die wahre Weisheit (ḥikmet-i ḥaqīqiyye) aber, die aus den mathematischen (riyāḍiyye) und den Naturwissenschaften resultiert, zugleich das Prinzip der festen Grundlagen der Religion des Islam (dīn-i islām) ist. Aber wem gegenüber wollen wir denn unsere Befunde kundtun? Gegenüber Draper? Oder gar gegenüber Europa? Ich 259
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wünschte, wir könnten das tun! Ich wünschte, dass auch sie [d.h. Draper und die Europäer, EI] diese Weisheiten mit einem zur Wahrheit willigen Blick einsehen könnten. Dieser Zustand wäre sowohl für uns als auch für sie von großer Bedeutung. Denn so könnten einerseits wir uns von Vorurteilen gegenüber uns selbst befreien und uns in der Richtigkeit unseres Weges bestätigt fühlen. Andererseits würden sie sich von ihrem Irrtum befreien und somit auf den richtigen Weg geleitet werden. Das ist auch immer noch möglich, und vielleicht bekommen sie eines Tages auch die von uns verfassten Zeilen zu Gesicht. Allerdings liegt uns zum jetzigen Zeitpunkt daran, die von uns erfassten Wahrheiten zuallererst [2/239] unserer eigenen Jugend darzulegen – einer Jugend, die unter dem Schutz des Kalifats die zerstreuten Wissenschaften zu erlernen bemüht ist. Von ebendieser Wissensaneignung erwarten unser Staat (dewlet) und unsere Gemeinschaft (millet) vortreffliche Dienste. Die Dienste, welche unser Staat erwartet, sind die weltlichen Dienste (khidmāt-i dunyewiyye) der Jugend, und es gehört zu den Anforderungen an ihren Eifer und ihre Treue, dass sie von solchen Diensten nicht fernbleiben, um ihre Dankbarkeit für die ihnen zuteil gewordene Gunst zeigen zu können. Darüber hinaus er wartet die islamische Religionsgemeinschaft (millet-i islāmiyye) von ihnen Einsicht und die Anerkennung der Tatsache, dass der Islam (islāmiyyet) den diversen Wissenschaften nicht mit Ablehnung begegnet, sondern diese im Gegensatz fördert, und daher ein ähnlicher Kampf, wie ihn die Europäer und die Amerikaner [2/240] gegen ihre eigenen Konfessionen (meḏhebler) aufgrund deren Ablehnung gegenüber den Wissenschaften führen, für uns gar nicht statfinden kann. Sobald die Jugend das eingesehen hat, wird von ihr erwartet, dass sie die neuen Wissenschaften weiter entwickelt und dass sie die tradierte Wahrheit (ḥaqīqat-i qadīme), welche diese Wissenschaften verzieren, auf die islamische Philosophie (ḥikmiyyāt-i islāmiyye) anwendet und so deren alten und festen Glanz steigert. Das genau ist der spirituelle Dienst (khidmet-i maʿnewiyye), den wir von ihrem religiös motivierten Einsatz (ghayret-i dīniyye) und ihrem islamischen Eifer (ḥamiyyet-i islāmiyye) erwarten. Wir sind voller Vertrauen in die göttliche Fürsorge, dass sich unsere Erwartung erfüllen wird. Anhand der vorangegangenen Ausführungen wird unseren jungen Lesern deutlich geworden sein, dass es im Islam sehr viele Wahrheiten (ḥaqāʾiq) gibt, deren [2/241] Übereinstimmung mit den diversen Wissen260
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schaften nicht einmal von Draper selbst bestritten werden. Allerdings liegt ihm an der Übereinstimmung dessen, was Religion (dīn) genannt wird, mit den Wissenschaften gar nichts, oder er erachtet diese Übereinstimmung als nicht mit den Zielen vereinbar, denen er dient. Seinen Antagonismus gegenüber dem Islam bringt er beispielsweise durch Verleumdungen zum Ausdruck, wie zum einen, dass der ehrwürdige Koran in der Lehre des Anthropomorphismus (āntrūpūmūrfīzm) gründe und erst später muslimische Gelehrte die islamischen Vorschriften mit den mit diversen Wissenschaften konformen (ʿulūm-i shettā-ye muwāfīq) Wahrheiten verziert hätten, zum anderen, dass Averroes, der in der Betonung der Übereinstimmung zwischen Religion und Wissenschaft alle übertroffen habe, durch die islamische Religion (islām dīnī) geschmäht worden sei und die islamischen Herrschaftsgebiete in der Folge in dunkle Unwissenheit verfallen seien. [2/242] Draper will nicht nur zeigen, dass keine Religion wissenschaftlich fundiert sein kann, sondern er will den jungen Wissenschaftlern und Philosophen auch beweisen, dass es nicht möglich sei, dass irgendeine Religion die Wissenschaften gutheißt, und dass die Zivilisation (medeniyyet) ausschließlich durch die Wissenschaften Fortschritte machen und sich ausbreiten könne. Somit will er beweisen, dass es notwendig sei, sich von der den Fortschritt hemmenden Religion zu befreien. Wir sind indes bemüht, dieses schädliche Werk des genannten Gelehrten unserer Jugend bekannt zu machen und zu beweisen, dass im Islam eine Vernunftreligion (dīn-i maʿqūl) gefunden werden kann, die mit den Wissenschaften [2/243] übereinstimmt. Lasst uns darüber nachdenken, welche konfliktträchtigen (münāziʿ) Punkte es zwischen Religion (dīn) und Wissenschaft (ʿilm) geben kann. Kann z.B. die wissenschaftliche Proposition «Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist eine gerade Linie» in Konflikt mit der Religion stehen? Ist das, was Religion genannt wird, eine technische Schule (hendese mektebi)? Kann ebenfalls die Proposition «Die Vermutung der Altvorderen, dass die Erde das Zentrum des Universums sei, und die Tatsache, dass sie ihre Berechnungen entsprechend dieser Vermutung anstellten, während die späteren Wissenschaftler die Sonne, die eine Million und viertausend Mal größer als die Erde ist, zum Zentrum machten, weil die Erde in dieser Größe das gesamte Sonnensystem nicht anzuziehen vermag, und ihre Berechnungen entsprechend diesem Befund anstellten» in Konflikt mit der 261
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Religion stehen? Ist das, was Religion genannt wird, [2/244] gleich der Kosmografie (qūzmūghrāfiyyā) oder eine Schule innerhalb von dieser? Tatsächlich haben gewisse Leute zwecks Widerlegung einiger falscher Urteile die Messlatte bis zu diesen Schulen und Richtungen herabgesenkt. Aus philosophischer Sicht (ḥikmet) ist jedoch die Bemühung, zwecks Widerlegung offensichtlicher Falschheiten sogar die apodiktischen Gewissheiten (maqārāt-i qaṭīʿiyye) zu widerlegen, nicht nur fern von jedem Nutzen, sondern sie birgt auch viele Nachteile. Ist das denn überhaupt nötig? Betrachten wir die Strategien, die unsere Vorfahren befolgt haben, so sehen wir bei gewissen Kirchenvätern wie Augustinus eine Verleugnung und Nichtanerkennung der Wissenschaft zugunsten der Wahrheit der Religion (waqāye-i dīn). Demgegenüber sehen wir, dass islamische Gelehrte wie al-Ghazālī und Averroes (Ibn Rushd) bemüht waren, die wissenschaftlichen Wahrheiten mit den religiösen Wahrheiten zu vergleichen (muqāyese) [2/245], die eine auf die andere zu anzuwenden (taṭbīq) und darüber nachzudenken. Die Punkte, bei denen sich die Religion und Wissenschaft gegenseitig herausfordern können, sind die Fragen nach dem Beweis der Notwendigkeit der Entstehung oder der Ewigkeit der vergänglichen Welt (ʿālem-i fenāʾ) in der Vergangenheit (ezeliyyet) oder der Ewigkeit der Welt in der Zukunft (ebediyyet) sowie die Frage nach Beginn und Ende. Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass diese Punkte beinahe keinen Zusammenhang mit philosophischen Wissenschaften (ʿulūm-i ḥikmiyye) haben. Denn diese Punkte gehören weder zu den theoretischen Wissenschaften noch zu den Naturwissenschaften. Vielleicht sind sie Gegenstand des jenseits der Natur liegenden Feldes (mā warāʾa aṭ-ṭabīʿa), welches die Gelehrten «Metaphysik» genannt haben. Jedoch verfügt niemand, der Überlegungen über diese Sachen anstellt, über einen apodiktischen Beweis (burhān), der den apodiktischen Beweisen der theoretischen und der Naturwissenschaften gleichkommt. Vielmehr bleiben sie auf die Überzeugung (iʿtiqād) eines jeden beschränkt. Genau! Das [2/246] sind dem Feld der Religion und nicht der Wissenschaft zugehörige Punkte. Denn was Religion (dīn) genannt wird, ist kein Wissen (bilgi). Vielmehr ist sie ein Glaubensakt (inanmak). In der Sprache der religiösen Weisheiten sind Wissensinhalte und Glaubensakte mit Wissen (ʿilm) bzw. Glaube (īmān) bezeichnet worden. Folglich ist das Wissen aller Dinge innerhalb derjenigen Grenzen möglich, welche die Europäer «science» und unsere Wissenschaftler «ʿulūm we funūn» genannt 262
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haben, und über diese Grenzen hinaus kann nichts gewusst werden. Das geben auch die Philosophen zu. Es ist offensichtlich, dass Dinge dann als Glaubensinhalte zählen, wenn sie nicht gewusst werden können. Glaube (īmān) bedeutet, das Verborgene (ghaib) als gewiss anzuerkennen (qabūl bi l-yaqīn), und zwar in der Weise, wie es die großen Exegeten in Bezug auf die Auslegung des Koranverses Diejenigen, die an das Verborgene (ghaib) glauben … (Koran 2:3) klargemacht haben. [2/247] Denn über das, was seiend und beobachtbar ist, kann es keinen Glauben, sondern nur Wissen geben. Folglich ist es beispielsweise Unsinn, einen Satz wie «Ich glaube, dass das Wasser fließend und das Feuer heiß ist» auszusprechen. Denn das gehört zu den beobachtbaren Dingen und ist somit Gegenstand des Wissens. Folgender Satz ist hingegen wahr: «Ich glaube, dass es das Wahre [ḥaqq, d.h. Gott, EI] – Er ist erhaben – gibt. Er ist fern von Raum und Zeit sowie von etwas ihm Ebenbürtigen.» Der Inhalt dieses Satzes gehört nämlich nicht zu den beobachtbaren Dingen, sodass er zum Wissen gezählt werden könnte. Da sie [diese Sätze, EI] vielmehr mittels göttlicher Offenbarung und prophetischer Belehrung geglaubt werden, können sie nur mit dem Glauben im Zusammenhang stehen. An diesem Glaubenszusammenhang können Gelehrte und Philosophen (ḥukemāʾ we felsāsife) keinen Anteil haben. Denn dieser Glaubenszusammenhang gehört [2/248] nicht in die Sphäre derjenigen Wissenschaften wie der theoretischen und der Naturwissenschaften, auf die sich diese stützen. Trotz alldem ist der Glaube an das Verborgene (ghaib) in der ehrwürdigen islamischen Religion (diyānet-i djelīle-i islāmiyye), die in jeder Hinsicht eine Quelle der Wahrheit und Weisheit ist und deren Analyse bereits ein Wunder für sich darstellt, auf eine derart glänzende Wahrheit gegründet, dass sogar die Gemüter, die durch Wissenschaften (ʿulūm we funūn) aufgeklärt (tenewwur) worden sind, nicht imstande sind, treffendere und passendere Herangehensweisen an die erwähnten verborgenen Dinge (umūr-i ghāibiyye) zu finden, als sie der Islam aufgezeigt hat. Es ist genau dieser Weisheit zu verdanken, dass große Theologen (mutekellimīn) sowie prominente Ulema und Philosophen (ḥukemāʾ) von hoher Vernunftbegabung sich nicht davor gescheut (iḥtirāz) haben, sämtliche Wissenschaften (kāffe-i ʿulūm) in den Kreis des Islam aufzunehmen und so die dem Glauben (īmān) zugeordneten Sachen auch auf die erwähnten Wissenschaften (ʿulūm we funūn) zu applizieren. Betrachtet man die Diskussionen und Disputationen der zuvor genannten geehrten Herren [d.h. 263
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Theologen und Ulema, EI] [2/249] mit den Philosophen, so will einem scheinen, dass beide Gruppen Angehörige derselben Schule sind. Demzufolge stellen die Disputationen von Augustinus und weiteren Kirchenvätern, deren Muster uns Draper aufzeigt, überhaupt keine Vergleichsgrundlage für unsere Disputationen dar. Die wir hier jedoch als «Philosophen» (felāsife) bezeichnen, sind keine Ketzer (zenādiq) oder Materialisten (dehriyyūn) bzw. Ungläubige (mülḥidūn). Jene gehören zu den Leuten der Verleugnung (erbāb-i inkār). Wenn sie nach einem apodiktischen Beweis (burhān) für ihre Verleugnung gefragt werden, [2/250] sind sie dessen unfähig. Diese beweislose (bilā burhān) Verleugnung macht sie aber nicht überzeugender in ihrer Position. Sie geben sich sogar mit der Herabsetzung des Menschen auf die Stufe der Tiere und sogar auf die der Pflanzen nicht zufrieden und setzen den Menschen bis auf die Stufe der Erde und Gesteine. Folglich lassen sich die genannten Banditen (eshqiyāʾ) auf den Aspekt der Spiritualität (maʿnewiyyat djiheti) nicht ein. Für sie sind die heiligen Dinge wie Ehrenhaftigkeit (ʿirḍ-i nāmūs) sowie Nächstenliebe (muḥabbet-i ḏū l-qurbā), Heimatliebe (ḥubb-i vatan), nationaler und religiöser Eifer (ghairet-i milliyye we dīniyye) und die Brüderlichkeit zwischen Menschen Zeichen der Naivität. Diese Menschen sind Banditen (eshqiyāʾ), und zwar in jedem Sinn, den diese Bezeichnung annehmen kann. Zu Zeiten der Altvorderen war ihre Anzahl noch so gering, dass man sie an den [2/251] Fingern abzählen konnte. Ihre Irrlehren vertretenden philosophischen Schulen waren in den Augen der breiten Masse (djumhūr) umstritten. Die Anzahl ihrer Gefolgsleute war ebenfalls sehr gering und sie zogen die Abneigung der gesamten Menschheit auf sich. Auch wenn ihre Zahl in Europa heute etwas gestiegen ist, gilt diese alte Abneigung gegen sie unvermindert weiter. Ihnen begegnen alle Regierungen sowie ehrfürchtige und würdevolle Menschen stets mit Feindseligkeit. Somit ist es notwendig, solche Leute von denjenigen ehrwürdigen Leuten zu trennen, welche die Bezeichnungen «Philosoph» (felāsife we ḥukemāʾ) mit Fug und Recht verdient haben. Denn die Gesamtheit solcher Philosophen sind wahrheitsliebende Leute, [2/252] und sie sind sowohl unter sich als auch in ihrer Disputation mit den Religionsgelehrten (ʿulemāʾ-i edyān) bemüht gewesen, zahlreiche Sachverhalte der menschlichen Vernunft auf eine möglichst klare und genaue Art und Weise zu erklären. Tatsächlich nähern sich diese Leute der christlichen Religion gar nicht. Denn sie sind Helden 264
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der Weisheit, die auf dem Feld der Wissenschaften (ʿulūm we funūn) von deren Licht erleuchtet mit ihrem Intellekt und ihren Gedanken ins Gefecht gezogen sind. Hingegen lehnen die Christen die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen (maʿqūlāt-i ʿilmiyye) von Grund auf ab und halten an ihren Vermutungen (ẓannlar) und ihren aus ihrer Sicht unfehlbaren Wahrheiten fest. Somit verstößt jeder Vergleich zwischen ihnen und den Wissenschaftlern und Philosophen (ḥukemāʾ we felāsife) gegen die Regeln des Vergleichs. Was die islamischen Ulema betrifft, [2/253] so sind die zahlreichen Wissenschaften (ʿulūm) zugleich deren Untersuchungsfeld gewesen, und in dieser Hinsicht gibt es Einheit zwischen ihnen und den Philosophen. Folglich ist ein Vergleich zwischen diesen beiden möglich. Nun werden wir in diesem Kapitel unseren Lesern ein Muster (numūne) dieser Disputation vorführen. Da die zu Beginn dargelegten Dinge die eigentlich strittigen Punkte zwischen Religion und Wissenschaft ausmachen, haben wir die Überschrift «Islam und Wissenschaft» auch für dieses Unterkapitel ausgewählt. Es hat auch einen besonderen Grund, warum wir dieses Kapitel an das fünfte Kapitel von Drapers Werk angehängt haben. Gegen Ende des fünften Kapitels anerkennt er zwar einerseits den philosophischen Wert von Averroes (Ibn Rushd) und stellt ihn als Quelle der neuzeitlichen Philosophien (ḥikemiyyāt) von Europa dar. [2/254] Andererseits stellt er Averroes aber anschließend als vom Islam bezwungen (maqhūr) dar. Sobald unsere jungen Leser das sehen, werden sie Folgendes sagen: «Es ist nun klar, dass die Religion mit der Wissenschaft nicht im Einklang sein kann. Die Schule von Averroes wurde nämlich vonseiten des Islam abgelehnt, weil sie nicht mit ihm übereinstimmte, und sie wurde vonseiten der Christen, d.h. vom Papst, verachtet und abgelehnt, weil sie nicht mit dem Christentum übereinstimmte.» Bevor man dieses Urteil fällt, stellt sich die Frage, ob hinsichtlich der Hauptstreitpunkte und -akteure in der Disputation zwischen Averroes und muslimischen Gelehrten Konsens besteht und wer in dieser Disputation welche Position vertreten hat. Sollte kein Konsens bestehen [2/255], ist es dann erlaubt, das Urteil einer einzigen Person auf eine allgemeine und absolute Art und Weise dem Islam zuzuschreiben? Entspricht es dem Verstand und dem Bildungsgrad unserer Jugend, ein solches Urteil zu fällen, ohne die genannten Punkte zu begreifen? Wo kann denn unsere Jugend ausführliche Erklärungen dazu herholen? Dass sie diesem Zweck nicht 265
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durch die Lektüre der in europäischen Sprachen verfassten Bücher näher kommen kann, ist klar und deutlich. Sogar Ernest Renan, der unter den europäischen Gelehrten als wegweisend gilt, konnte diejenigen Vorwürfe, die gegen Averroes gerichtet waren, nicht von seiner eigentlichen Lehre unterscheiden. Unsere Jugend wird die benötigten Informationen über dieses Thema bei den beiden Protagonisten dieser Disputation, namentlich bei Averroes und al-Ghazālī, finden. Genau! [2/256] Sie werden diese 6 Informationen in den «Tahāfut»-Werken finden. […] Wie man dem Werk «Inkohärenz» [«Inkohärenz der Inkohärenz», EI] entnehmen kann, ist die Schule von Averroes eine islamische Philosophie. Er hat diese Schule nicht selbst gegründet, sondern hat sie auf der Grundlage der philosophischen Lehren seiner Vorgänger aufgebaut. [2/257] Averroes würdigt Aristoteles und seine Schule, und seine Erörterungen haben den Charakter einer Affirmation, nicht einer Kritik an Aristoteles. Averroes schreibt überdies auch über die Wahrheiten im Judentum und Christentum. Die Wahrheit muss notwendigerweise eine Einheit, nicht eine Vielheit sein, und er lehnt nicht einmal diejenigen christlichen und jüdischen Philosophen ab, welche über die Wahrheiten im Judentum und Christentum schreiben. Vielmehr sieht er die philosophischen Wahrheiten im Einklang mit der Wahrheit der islamischen Religion und den Wahrheiten sämtlicher Religionen und beweist das mit den Argumenten der jüdischen und christlichen Philosophen. In der Art und 7 Weise, wie Draper Averroes liest, hat dieser, wenn auch nicht wortwörtlich, folgende Lehre vertreten: ‹Jedes Lebewesen stammt von einem anderen, diesem vorausgegangenen Lebewesen. Auch diese materielle Welt [2/258] ist ein Lebewesen. Demzufolge stammt sie von einem anderen Lebewesen und das ist Gott (Allāh). Er ist das Prinzip, das Endziel sowie der Beschützer von allem. Sämtliche beobachtbaren Dinge bewahren ihre Form mit einer Kraft, welche von Gott stammt. Wird diese Kraft beseitigt, führt das notwendigerweise die Vernichtung des diese Kraft besitzenden Körpers herbei. Die Gottheit ist in einer immerwährenden Weise in der Natur präsent und hält diese aufrecht, d.h. sie ist gewissermaßen die Seele des Universums (rūḥ-i kāʾināt).› Auch den Satz ‹Der Tod von 6 7
Gemeint sind die Werke «Tahāfut al-falāsifa» (Die Inkohärenz der Philosophen) von Ghazāli und «Tahāfut at-tahāfut» (Die Inkohärenz der «Inkohärenz») von Averroes. Vgl. hierzu Draper, History of the conflict between religion and science, S.124, 138, 140 ff. und 208.
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Seienden ist der Beginn von deren Rückkehr zu ihrem Ursprung› hat er zwar nicht in demselben Wortlaut, aber in einem ähnlichen Sinne ausgesprochen. […] [4/332] Da unsere Ausführungen zu diesem Punkt an vielen Orten dieses Buches [4/333] wiederholt aufgetreten sind, ist es zwar nicht nötig, sie an dieser Stelle nochmals zu wiederholen. Dennoch gibt es aber für uns einen wichtigen Grund, diese überflüssige Wiederholung hier ein weiteres Mal vorzunehmen. Der Grund besteht darin, unseren Leser noch einmal auf die folgende Wahrheit aufmerksam zu machen: Der Titel «Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft» (Nizāʿ-i ʿilm we dīn) ist falsch. Es wäre passender, das Werk «Ein neuer Angriff auf den Katholizismus» zu nennen. Denn das eigentliche und primäre Ziel ist dabei die Tyrannei (taḥakkum) des Papsttums, das seit Jahrtausenden die ganze Welt umfasst hat, sich jenseits von jedem Realitätsbezug bewegt hat und die spirituelle Dimension der Welt zerstört hat. [4/334] Was den Standpunkt unserer islamischen Weisheit betrifft, so haben wir mit dem Papsttum überhaupt nichts zu tun. Dennoch ziehen wir aus diesem Konflikt und Widerstreit folgenden Nutzen: Unsere jungen Wissenschaftler (mütefennin), die mutig um den Fortschritt der Wissenschaften (tereqqiyāt-i ʿulūm) bemüht sind, sollen nämlich wissen, dass die jahrtausendealten historischen Gründe für die ablehnende Haltung europäischer Wissenschaftler gegenüber der Religion nicht auf unsere islamische Welt zutreffen und dass in ihr keine solche Ablehnung besteht. Im Zusammenhang mit einer solchen Ablehnung gibt es folglich keinen Anlass und auch keinen Nutzen für die Nachahmung der Leute der Wissenschaft in Europa. [4/335] Im Gegenteil liegt darin ein Nachteil. Denn Gott sei Dank haben sich die Ulema in allen islamischen Herrschaftsgebieten stets mit den Wissenschaften befasst und dem Volk die islamischen Wahrheiten immer erklärt. Als Folge davon können solche Philosophen, die einen unversöhnlichen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft würden ausmachen wollen, niemals die Aufmerksamkeit und das Interesse des Islam auf sich ziehen. Die Gemeinschaft Mohammeds (ummet-i Muḥammed) wird solche Versuche ablehnen und dagegen einwenden, dass solche Philosophen weder die wahre Religion noch den Sinn und Zweck der Wissenschaft (ʿilm) begriffen haben. [4/336] Was die Europäer mit Religion meinen, entspricht keinesfalls unserem Begriff davon. Ihre Vereinnahmung der 267
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Naturgesetze und der Theorie zur Entbehrlichkeit des erhabenen und heiligen Notwendigen stimmt nicht mit unserem Begriff von «Wissenschaft» (ʿilm) überein. Für uns besteht Wissenschaft in der bestmöglichen Kenntnis der Realität der Dinge. Es ist natürlich, dass mit steigender Kenntnis der Realität der Dinge auch das Wissen um den Wahren (ḥaqq) steigt. Die Bemühung jedoch, aus der Realität der Dinge Fehlschlüsse (bāṭil) zu ziehen, ist keine Philosophie (felsefe), sondern Scheinphilosophie (tefelsuf). Diese Scheinphilosophie ist [4/337] selbst nicht das Werk einiger gegenwärtiger Europäer. Vielmehr besteht sie seit der griechischen Antike bei ihnen unter der Bezeichnung «Sophismus» (ṣūfīzm) und bei uns unter der Bezeichnung Sophistik (safsaṭa). Diese Gruppe (firqa) konnte sich aber weder gegen den polytheistischen Glauben der Antike noch gegen unseren islamischen Glauben behaupten, und sie ist stets eine marginale Gruppe geblieben. Aufgrund der Schwäche des Christentums konnte sie sich jedoch dagegen und insbesondere gegen den Katholizismus behaupten und hat die Leute der Wissenschaft von Europa und Amerika beinahe vollständig in ihren Bann gezogen. […]
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Baha Tevfiks Vision einer religionsfreien Gesellschaft Enur Imeri
Einleitung
A
uch wenn sich Baha Tevfik in der Geistesgeschichte des Osmanischen Reiches nicht als religionskritischer Denker par excellence profiliert, so beinhaltet sein programmatisches Denken doch insofern ein radikales religionskritisches Moment, als das von ihm artikulierte Philosophieverständnis einem tradierten Verständnis von Wissen und Wissenschaft entgegentrat, in welchem theologischen bzw. religiösen Inhalten durchaus ein epistemologischer Anspruch zukam. Somit stellen die im folgenden Kommentar im Umriss dargestellten Kernaspekte des Denkens von Baha Tevfik die systematische Arbeit eines osmanischen Intellektuellen dar, der sich innerhalb der nach der Jungtürkischen Revolution von 1908 intensivierten und mit den Landverlusten im Zuge der Balkankriege und danach höchste Brisanz annehmenden Diskussion um die Zukunftsvision des türkischen Volks mit einem radikalen Ansatz positionierte. Charakteristisch für diesen Ansatz war seine gesellschaftsreformatorische Programmatik, die beim Individuum als Ausgangspunkt ansetzte und auf die Etablierung eines materialistischen Weltbildes auf allen sozialen Ebenen zielte, um so eine auf Fortschrittlichkeit im Sinne des 19. Jahrhunderts ausgerichtete, ideell homogen denkende Gesellschaft heranzuziehen. In dieser hier kurz angedeuteten, im Folgenden zu erörternden Programmatik des Denkens von Baha Tevfik ist eine Ablehnung von jeglicher Religiosität und auch von jeglichem Versuch, im neuen Wissens- und Wissenschaftsverständnis seiner Zeit der Religion einen Platz einzuräumen, durchaus angelegt. Bezeichnend für Baha Tevfik ist jedoch, dass er seine Programmatik in keiner Weise in direkter Auseinandersetzung mit islamischen Legitimationsansprüchen bezüglich der Vereinbarkeit von Religion (in diesem Fall des Islam) und Wissenschaft erst entfaltete, sondern im Geiste des Positivismus und Materialismus sein vernichtendes Urteil über jegliche epistemologischen Ansprüche der Religion als Resultat der Prämissen seines Denkens darlegte. In diesem System hatte die is269
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lamische Religion in der Wissenschaft ebensowenig Platz wie andere Religionen und metaphysische Positionen, die den wissenschaftlichen Standards des positivistischen Paradigmas nicht entsprachen. Außerdem wird innerhalb dieses Philosophie- und Wissenschaftsverständnisses jegliche epistemologische Autonomie für eine Ethik verneint. Mit diesen beiden Aspekten zusammen fällt die Religion indirekt gänzlich aus dem Leben des Individuums. Dies will Baha Tevfik mithilfe der Etablierung einer Weltanschauung in der osmanischen Gesellschaft erreichen, die er als Philosophie schlechthin versteht. Er erhebt an die Philosophie den Anspruch, die theoretische Grundlage der positiven Wissenschaften zu bilden. Er verknüpfte dabei, wie es für die Vertreter des Materialismus im osmanischen Kontext üblich war, das positivistische Wissenschaftsverständnis mit einem materialistischen Welt- und Menschenbild. Somit hat die Programmatik des Werks von Baha Tevfik die Intention, im Bewusstsein der Individuen in der osmanischen Gesellschaft diese proklamierte Weltanschauung zu etablieren, um eine fortschrittliche Gesell1 schaft zu kreieren. Dementsprechend teilt Baha Tevfik die Strömungen in der Geschichte der Philosophie in zwei Hauptgruppen: in solche, die Pseudophilosophie waren, und solche, die, weil sie die Entstehung des positivistischen Wissenschaftsverständnisses vorantrieben, einen – allerdings lediglich historischen – Wert besitzen. In den folgenden Kapiteln werden die Grundaspekte des Denkens von Baha Tevfik, welche hier im Umriss dargestellt wurden, systematisch elaboriert. Die philosophische Programmatik von Baha Tevfik Das Leben von Baha Tevfik (1884?–1914)
Bezüglich des genauen Geburtsdatums von Baha Tevfik ist man sich nicht einig. Laut Subhi Edhem, der kurz nach dessen Tod einen Nachruf 2 auf ihn publizierte, wurde Baha Tevfik 1884 geboren und starb 1914. We1 2
Vgl. Hanioğlu, Şükrü: “Blueprints for a Future Society: Late Ottoman Materialists on Science, Religion, and Art”, in: Özdalga, Elisabeth (Hg.): Late Ottoman Society. The Intellectual Legacy, New York: Routledge, 2005, S. 28-116, hier S. 28-29. Edhem, Subhi: “Baha Tevfik” in: Serbest Fikir Mecmuası, 3-15 (1330 [Mai 1914]), S.1-4, zitiert nach Alkan, Mehmet Ö.: “Düşünce Tarihimizde Önemli Bir İsim: Baha Tevfik”, in: Tarih ve Toplum 52 (April 1988), S. 41-49, hier S. 41, 48; vgl. auch Çıkla, Selçuk: “Baha Tevfik'in Hayatı, Yazarlığı, Mizacı ve Felsefeciliği”, in: Tarih ve Toplum 234 (Juni 2003), S. 51-58, hier S. 52; Bağcı, Rıza: Baha Tevfik'in Hayatı, Edebi ve Felsefi Eserleri Üzerinde bir Araştırma, Izmir: Kaynak Yayınları, 1996, S.11.
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gen der persönlichen Bekanntschaft der beiden wird diese Angabe als die 3 zuverlässigste angesehen. 4 Baha Tevfik wuchs als Sohn eines Zollbeamten in Izmir auf, wo er seine erste Ausbildung erhielt und diese anschließend an der Izmir Rüsh5 diyesi und der Mülkī Idadisi fortsetzte. Nach seiner Ankunft in Istanbul 6 im Jahr 1904 besuchte er die berühmte Hochschule für Sozialwissen7 schaften Mekteb-i Mülkiye, die er im Jahr 1907 erfolgreich abschloss. Diese drei Jahre boten ihm die Möglichkeit, seine Französischkenntnisse, die er sich während seiner Schulzeit in Izmir hatte aneignen können, auszubauen, und er gab zu dieser Zeit das etymologische französische Wörter8 buch «Fransızca İştikak Lugatı» heraus. Nach dem Abschluss der Mekteb-i Mülkiye kam er zurück nach Izmir, ehe er sich kurz nach der Proklamation der zweiten konstitutionellen Pe9 riode im Jahr 1908 erneut in Istanbul niederließ, diesmal allerdings in Be10 gleitung seiner gesamten Familie. Dort starb er unverheiratet im Jahr 11 1914 an den Folgen einer Leberentzündung. Baha Tevfiks Laufbahn als Autor erstreckt sich über einen Zeitraum von ungefähr zehn Jahren. Schon während seines letzten Schuljahres an der Mülkī Idadisi im Jahr 1904 schrieb er ein kleines Buch mit dem Titel 12 «Biraz Felsefe» (Ein Stück Philosophie). Seine schöpferische Phase fällt in publizistischer Hinsicht hauptsächlich in die Zeit, die er in Istanbul verbrachte, wobei bekannt ist, dass er bereits in seinen Jugendjahren in Izmir zwischen 1904 und 1907 in einer gleichnamigen Lokalzeitung einige
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Vgl. Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.11 Anm. 1; Çıkla, Baha Tevfik'in Hayatı, S. 52; Akgün, Mehmet: Materyalizmin Türkiye'ye Girişi, Ankara: Elis, 20052 [1988], S.195. Für weitere Literaturverweise, die 1881 oder 1882 als Geburtsdatum angeben, siehe Bağcı, ebd. Vgl. Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.12; Çıkla, Baha Tevfik'in Hayatı, S. 52. Çıkla, Baha Tevfik'in Hayatı, S. 52; Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.13 f.; Alkan, Düşünce Tarihimizde Önemli Bir İsim, S. 41. Vgl. Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.15. Vgl. ebd., S.17; Alkan, Düşünce Tarihimizde Önemli Bir İsim, S. 41. Vgl. Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.16; Alkan, Düşünce Tarihimizde Önemli Bir İsim, S. 41. Alkan, ebd., S. 41; Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.12. Abgesehen von den oben genannten Informationen zu seinem Vater geben die Quellen sehr wenig Auskunft über seine Familiensituation. Vgl. Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.12-13. Vgl. Akgün, Materyalizmin Türkiye'ye Girişi, S.197 f. Vgl. Bolay, Süleyman Hayri: Türkiye’de Ruhçu ve Maddeci Görüşün Mücadelesi, Istanbul: Yağmur Yayınları, 1967, S. 27; Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.14.
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erste kleine philosophische Artikel sowie ein paar Übersetzungen kleine13 rer französischer Erzählungen ins Türkische publizierte. Zu seinen wichtigsten Werken gehört neben der zusammen mit Ahmed Nebil (gest. 1945) angefertigten vollständigen Übersetzung von Lud14 wig Büchners (gest. 1899) «Kraft und Stoff» eine Monografie zu Nietzsche, die er zusammen mit Ahmed Nebil und Memduh Süleyman (gest. ?) 15 herausgab. Er übersetzte außerdem Schriften von Ernst Haeckel 16 (gest. 1919), so gemeinsam mit Ahmed Nebil «Der Monismus» (1911) sowie Auszüge aus «Die Welträthsel [sic!]», die er in der Felsefe 17 Medjmūʿasī (Zeitschrift für Philosophie) publizierte. Des Weiteren veröffentlichte er neben zahlreichen Artikeln zur Ethik in vielen Zeitschriften 18 auch ein Werk, in welchem er seine eigene Ethikkonzeption darlegte. Ein späteres Werk, in dem Baha Tevfik die individualistischen Züge sei19 nes Denkens darlegt, ist «Felsefe-i ferd» (Philosophie des Individuums). Historische Entwicklung und Facetten des Materialismus im osmanischen Kontext Das 19. Jahrhundert ist im Osmanischen Reich vor allem durch eine Intensivierung der Bemühungen charakterisiert, den militärisch-technischen Entwicklungen, die seit dem frühen 18. Jahrhundert in Europa be20 obachtet wurden, standzuhalten. Dieser praktische Aspekt der modellhaften Orientierung an Europa machte sich auch in der Etablierung neuer Bildungsinstitutionen bemerkbar. Schon im 18. Jahrhundert wurden zur Ausbildung der Ingenieure in militärisch relevanten Gebieten neue 21 Bildungsinstitutionen gegründet. Dieser allmähliche Aufbau neuer, sich 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Çıkla, Baha Tevfik'in Hayatı, S. 53; Bağcı, Baha Tevfik'in Hayatı, S.13 f; Alkan, Düşünce Tarihimizde Önemli Bir İsim, S. 41. Taufīq, Bāhā: Mādde we quwwet, Istanbul 1911. Siehe Taufīq, Bāhā; Nebīl, Aḥmad; Sulaimān, Memdūḥ: Nīče. Ḥayātī we felsefesī, Istanbul 1912. Haeckel, Ernst: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, Bonn: Strauss, 1892; Taufīq, Bāhā / Nebīl, Aḥmed: Waḥdet-i mewdjūd: Bir ṭabīʿat ʿāliminin dīnī, Istanbul 1911. Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Leipzig 1899. Taufīq, Bāhā: Ḥassāsiyyet baḥthī we yenī akhlāq, Istanbul 1910; vgl. Akgün, Materyalizmin Türkiye'ye Girişi, S. 221 ff. Taufīq, Bāhā: Felsefe-i ferd, Istanbul 1913. Vgl. Mardin, Şerif: “Batıcılık”, in: Ders., Türk Modernleşmesi, Istanbul: Iletişim Yayınları, 200919 [1991], S. 9-19, hier S. 9 ff. Vgl. Dölen, Emre: “Mühendislik Eğitimi” in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi [TCTA], Bd. 2, İstanbul: İletişim Yayınları, 1985, S. 511-516, hier S. 511 ff.
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an positiven Wissenschaften orientierender Schulen weitete sich im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts auf medizinische Bildungseinrichtungen aus. Die 1827 gegründete Medizinschule Mekteb-i ṭibbiyye rekrutierte 22 zahlreiche europäische Physiologen, die empirische Experimente in ih23 ren Unterricht einbauten. Dass in diesen Schulen materialistisches Gedankengut präsent war, beobachtete während eines Besuchs der schottische Reisende Charles Macfarlane (gest. 1858). Macfarlane bewunderte den Stand der Werkzeuge für Experimente in vielen Medizinschulen, stieß sich aber an der Präsenz vieler Werke französischer Materialisten wie Baron d’Holbach (gest. 1789), Denis Diderot (gest. 1784) und der Ak24 zeptanz ihres Denkens unter den Medizinschülern. Die Medizinschulen boten einen der ersten intellektuellen Begegnungsräume mit europäischem Gedankengut, das von seiner Methode her positivistisches Denken mit physiologischem Materialismus in Verbindung brachte. Diese Verbindung von Positivismus und physiologischem Materialismus ist ein Grundcharakteristikum der fortschrittsorientierten Philosophie unter osmanischen Intellektuellen, das sich auch im Denken Baha Tevfiks manifestiert. In der Forschung ist daher auch von einer «organischen Einheit» der materialistischen Philosophie und der positiven Wissenschaften unter spätosmanischen Intellektuellen die Rede, die ihre epistemologischen Kriterien nicht von einem theologisch-spekulativen 25 System, sondern von der Empirie abhängig machten. Ab den 1880er Jahren ist eine allmähliche Systematisierung des materialistischen Denkens bei dessen Anhängern beobachtbar. Als erster systematischer Vertreter eines materialistischen Weltbildes gilt Beshir 26 Fuad (gest. 1887). Während seiner sehr kurzen Schaffensperiode (er publizierte zwischen 1883 und 1887) veröffentlichte er ca. zweihundert Artikel und vierzehn kleinere Werke, die sein breitgefächertes Interessenspektrum erkennen lassen. Sein Werk umfasst zwar neben Biografien zu 22
23 24 25 26
Vgl. Işın, Ekrem: “Osmanlı Materyalizmi” in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi [TCTA], Bd. 2, İstanbul: İletişim Yayınları, 1985, S. 364-365; siehe auch Ortuğ, Gürsel: “The Role of Austrian Physicians and Prof. Joseph Hyrtl (1810–1894) on Modernization of Ottoman-Turkish Medicine”, in: Annals of Anatomy 185/6 (2003), S. 593-596. Vgl. Akgün, Materyalizmin Türkiye’ye Girişi, S. 82. Vgl. Işın, Osmanlı Materyalizmi, S. 365; Akgün, Materyalizmin Türkiye’ye Girişi, S. 83. Vgl. Işın, Osmanlı Materyalizmi, S. 365. Siehe zu Fuad die bisher einzige, umfangreiche Monografie von Okay, M. Orhan: Beşir Fuad. Ilk Türk Pozitivist ve Natüralisti, Istanbul: Hareket Yayınları, 32012 [1969].
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Victor Hugo (gest. 1885) und Voltaire (gest. 1778) auch kleinere Werke 29 zur französischen Grammatik, der Hauptfokus seines Schaffens lag aber 30 definitiv auf der Bekanntmachung der Physiologie. In zahlreichen Werken zur Physiologie proklamierte er neben den Thesen Claude Bernards 31 (gest. 1878) auch Ludwig Büchners Thesen aus dessen Werken «Kraft 32 33 und Stoff» und «Physiologische Bilder». Als ein weiterer Vertreter der materialistischen Philosophie gilt Ab34 dullah Cevdet (gest. 1932). Als Absolvent der Mekteb-i ṭibbiyye war dessen Materialismus auch von den physiologischen Implikationen dieser Weltanschauung mitbestimmt. Außer den Auszügen aus Büchners «Kraft 35 und Stoff» publizierte er Artikel zu und Übersetzungen von Ernst Hae36 37 ckel (gest. 1919) und Gustave Le Bon (gest. 1931). Darüber hinaus veröffentlichte er Artikel, in denen er die materialistische Philosophie als Weltanschauung proklamierte, die ethischen Aspekte der islamischen Religion aber zugleich als konstitutiv für eine neue gesellschaftliche Ord38 nung ansah. Die materialistische Philosophie im osmanischen Kontext tritt mit Abdullah Cevdet in eine neue Phase ein. Sie wird nun mitsamt ihren anthropologischen Implikationen auf der abstrakt-weltanschaulichen Ebene zu einem ,Programm‘, welches auf dem Weg zu einer moder39 nen Zivilisation befolgt werden muss. Der Materialismus von Abdullah Cevdet ging mit der elitistischen Grundhaltung einher, mit dem eigenen materialistischen Weltbild ein anderen Weltanschauungen überlegenes zivilisatorisches Potential zu besitzen, das es dem Volke zu präsentieren 40 galt und nach dessen Maßgabe jeder Einzelne im Volke zu erziehen sei. 27 28 29 30 31 32 33 34
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Vgl. Okay, Beşir Fuad, S.128 ff. Vgl. ebd., S.166 ff. Vgl. ebd., S.111. Vgl. ebd., S. 97 ff. Vgl. ebd., S. 99 ff. Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff, Frankfurt a.M. 1855. Buchner, Ludwig: Physiologische Bilder, Leipzig 1861. Es ist nicht sicher, ob Beshir Fuad alle Werke von Büchner kannte. Okay bemerkt, dass in seinen Publikationen nur auf diese beiden Werke von Büchner referiert wird (Okay, Beşir Fuad, S. 49). In der bislang einzigen Monografie zu Abdullah Cevdet wird besonders die politische Dimension seines Schaffens in den Vordergrund gestellt. Siehe Hanioglu, Sukru: Bir siyasal dusunur olarak Doktor Abdullah Cevdet ve donemi, Istanbul: Üçdal Neşriyat, 1981. Zu seiner Materialismus-Version siehe Hanioglu, Blueprints, S. 39 ff. Vgl. Hanioglu, Blueprints, S. 41 f. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Akgün, Materyalizmin Türkiye’ye Girişi, S. 308 f. Vgl. Hanioglu, Blueprints, S. 49 ff. Vgl. Işın, Osmanlı Materyalizmi, S. 367. Vgl. ebd., S. 368; Doğan, Atila: Osmanlı Aydınları ve Sosyal Darwinizm, Istanbul:
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Dieser Aspekt seines Denkens ist mit sozialdarwinistischen Zügen des 41 Denkens von Ernst Haeckel sowie dem massenpsychologischen Ansatz 42 von Le Bon eng verknüpft. Mit dem Elitismus ist einerseits die Selbstwahrnehmung gemeint, mit dem eigenen materialistischen Weltbild ein zivilisatorisches Moment zu besitzen. Andererseits bedeutet er eine Grundhaltung, dieses Weltbild dem Volk zu präsentieren und die Individuen im Volk zur Annahme eines solchen Weltbilds zu erziehen, da dies für die Materialisten wie für Abdullah Cevdet als notwendige Bedingung 43 für die Zivilisierungsprogrammatik galt. Als Hauptcharakteristika dieses neuen Weltbildes galten die Wissenschaftlichkeit und der Fort44 schrittsgedanke. Die obige Darstellung der Bifurkation der materialistischen Philosophie im Osmanischen Reich soll helfen, das Philosophieverständnis bei Baha Tevfik als letztes Stadium einer kontinuierlichen Entwicklung zu lesen. Eine solche Lesart legitimiert sich dadurch, dass, wie es die Analyse des Philosophiebegriffs von Baha Tevfik zeigen wird, beide dargelegten Facetten des Materialismus darin ihren Niederschlag finden. Es sind dies einerseits die enge Verknüpfung der physiologischen Ausprägung der materialistischen Philosophie mit einem positivistischen Wissenschaftsverständnis und andererseits die Identifizierung eines materialistischen Weltbildes mit den Idealen der Wissenschaftlichkeit und Fortschrittlichkeit. Dieser zweite Aspekt führte schließlich dazu, dass die Etablierung des Materialismus in einen logischen Zusammenhang mit einer individuums- bzw. gesellschaftsreformatorischen Programmatik gestellt wurde. Bevor im Folgenden das Philosophieverständnis von Baha Tevfik sowie sein systematisches Programm, welches beide erwähnten Aspekte des osmanischen Materialismus integriert, evaluiert wird, soll zuerst auf die semantische Veränderung des Begriffs ʿilm eingegangen werden. Denn es wird sich zeigen, dass bei Baha Tevfik die Etablierung der oben vorgestellten Versionen des Materialismus eine Neusemantisierung des Begriffs ʿilm begünstigte, die beim Philosophieverständnis von Baha Tevfik nun explizit gemacht wird. Das hat tragende epistemologische Impli-
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İstanbul Bilgi Üniversitesi Yayınları, 2006, S.135; Hanioglu, Blueprints, S. 39 ff. Vgl. zu diesem Punkt Doğan, Osmanlı Aydınları, S. 82 ff und 257 ff. Vgl. ebd., S.129 ff. Vgl. Işın, Osmanlı Materyalizmi, S. 368; Hanioglu, Blueprints, S. 29; Hanioglu, Sukru: The Young Turks in Opposition, New York: Oxford University Press, 1995, S. 205 ff. Vgl. ebd., S.13.
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kationen, die einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen Semantik dieses Begriffs darstellen. Wandel des semantischen Gehalts des Begriffs ʿilm Aufgrund der kontinuierlich stärker wahrgenommenen und sich immer deutlicher präsentierenden Überlegenheit der westlichen Mächte erfuhr der semantische Gehalt des Begriffs ʿilm im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts eine neue Aufladung. Dies geschah unter anderem deshalb, weil die Tendenz, die Fortschrittlichkeit der technischen Wissenschaften (funūn) als Ursache für die Überlegenheit der westlichen Mächte 45 anzusehen, seit den 1840er Jahren immer stärker wurde. Dabei ist eine schleichende Paarung der beiden Begriffe ʿilm und fenn zu beobachten – eine Verknüpfung, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen blieb. Die Verkoppelung oder auch Gleichsetzung der beiden Begriffe tauchte aber bereits früher in der von Münif Pasha (gest. 1910) ins Leben gerufenen Djemʿiyyet-i ʿilmiyye-i ʿuth46 māniyye (Osmanische Gesellschaft für Wissenschaften) auf. Während ʿilm hier schon im Titel vorkommt und mit Wissenschaft übersetzt werden kann, wird diese im Titel des zentralen Publikationsorgans dieser Gesellschaft, nämlich Medjmūʿa-i funūn (Zeitschrift für Wissenschaften), mit dem Wort funūn wiedergegeben. Darüber hinaus wird in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift, als deren Ziel die Verbreitung der Wissenschaft (ʿilm we fenn) deklariert wurde, für Wissenschaft als Abstraktum das Begriffspaar ʿilm we fenn verwendet und hat den Charakter eines 47 Pleonasmus. Das Zusammendenken von Wissenschaften und Fortschrittsideal prägte auch das Denken vieler Intellektueller ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In zahlreichen Artikeln, die in der Medjmūʿa-i funūn publiziert wurden, werden die technischen Fortschritte der europäischen Zivilisation mit deren Stand im Bereich der Wissenschaften in 48 Verbindung gebracht. Die Verknüpfung der Begriffe ʿilm und fenn sowie deren Reservierung als Programmbegriffe für die Verwirklichung eines sich am europäischen Vorbild orientierenden Fortschrittsideals sind für das intellektuelle Klima im Osmanischen Reich daher signifikant. 45 46 47 48
Vgl. ebd., S.10 f. Für weitere Angaben zur Thematik dieser Zeitschrift siehe Akgün, Mehmet: “Cemiyet-i Ilmiye-i Osmaniye ve Mecmua-i Fünun’un Felsefi Açıdan Tağıdığı Önem” in: Felsefe Dünyası, 15 (1995), S. 51-72. Vgl. ebd., S. 53. Für Beispiele dieser Art siehe Hanioğlu, Young Turks in Opposition, S.10 ff.
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Ein wichtiger Bezugsrahmen für die Analyse der philosophischen Bewegungen im Osmanischen Reich des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist der Wissens- bzw. Wissenschaftsbegriff. Die Klassifizierung der Wissenschaften bei al-Fārābī (gest. 950), Ibn Sīnā (gest. 1037) sowie bei al-Ghazālī (gest. 1111) gingen, trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Klassifizierungen im Einzelnen, von einer Zweiteilung der Wissensquellen aus und unterschieden zwischen Überlieferungs- (naqlī) und Vernunftwissenschaften (ʿaqlī). In der ,islamischen‘ Welt konstituierten sich ab dem 9. Jahrhundert die Wissenschaften immer durch den Einschluss der antiken griechischen Philosophie in den Interpretationsrahmen der 49 Urtexte der islamischen Religion. Dieses Wissenschaftsverständnis konnte im osmanischen Kontext seit al-Fārābī bis ins 19. Jahrhundert hinein Geltung beanspruchen. In den Werken von Ahmed Cevdet Pasha (gest. 1895), dessen Klassifizierung der Wissenschaften sich an den mittelalterlichen Einteilungen orientierte und der somit die Unterteilung in 50 ʿaqlī und naqlī zugrunde lag, wird dieser Gedanke bestätigt. Berücksichtigt man die Vereinnahmung des Begriffs ʿilm durch die beiden genannten Wissensordnungen, kann man anhand dieses Begriffes auch auf einen gemeinsamen Referenzrahmen der beiden Wissensordnungen schließen – einen Referenzrahmen also, um dessen Semantisierung seit besagtem Zeitpunkt gestritten wurde. Die Neusemantisierung des Begriffs ʿilm ermöglichte dessen Loslösung von der Religion, und er konnte nun mit einem anderen, dem auf die (positiven) Wissenschaften bezogenen Begriff fenn verknüpft werden. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass diejenigen Intellektuellen, welche an der traditionellen Semantik des Begriffs ʿilm festhielten, den positiven Wissenschaften eine totale Ablehnung entgegengebrachten. Tatsächlich hatte der Modernisierungsdiskurs spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Binnendifferenzierung durchlaufen. Neben den Vertretern einer Modernisierung, welche sämtliche Lebensbereiche auf eine auf den Errungenschaften der positiven Wissenschaften basierenden Gesamtdeutung stützen wollten, gab es innerhalb der Vertreter der Modernisierung auch einige Stimmen, die von einer grundsätz49 50
Vgl. Akgün, Materyalizmin Türkiye’ye Girişi, S. 51 ff; Korlaelçi, Murtaza: Pozitivizmin Türkiye’ye Girişi, Istanbul: Insan Yayınları, 1986, S.171 ff. Vgl. Akgün, Cemiyet-i Ilmiye-i Osmaniye, S. 57 ff. Siehe außerdem als Referenzwerk dazu auch: Rudolph, Ulrich (Hg.) unter Mitarbeit von Renate Würsch: Philosophie in der islamischen Welt, Bd.1: 8.–10. Jahrhundert, Basel: Schwabe, 2012 (Grundriss der Geschichte der Philosophie).
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lichen Vereinbarkeit der religiösen Grundsätze des Islam und der positi51 ven Wissenschaften ausgingen. Somit ist für die Analyse des Philosophiebegriffs von Baha Tevfik neben der Entwicklung des materialistischen Denkens auch der soeben geschilderte Wandel in der Semantik des Begriffs ʿilm zu berücksichtigen. Dieser Punkt hat, parallel zur Entwicklung des materialistisch-positivistischen Denkens, ebenfalls tragende epistemologische Implikationen, die sich durch die gesamte Programmatik von Baha Tevfik ziehen. Der Analyse des Philosophieverständnisses von Baha Tevfik kommt daher eine Schlüsselrolle zu, weil es zugleich den argumentativen Rahmen seiner Haltung gegenüber der klassischen islamischen Geistesgeschichte, insbesondere aus der Perspektive der Ethik, darstellt. Die Analyse des Philosophiebegriffs wird neben seiner materialistisch-weltanschaulichen Komponente auch das individualistische Paradigma des Denkens von Baha Tevfik offenlegen. Das Philosophieverständnis von Baha Tevfik Philosophie als Wissenschaft der Zukunft
Baha Tevfik liefert die für seine Philosophie charakteristische und für deren gesamte Programmatik wegweisende Definition von Philosophie in mehreren Publikationen in fast demselben Wortlaut: «Philosophie ist die Wissenschaft der Zukunft. In jedem Zeitalter und an jedem Ort sind die Wissenschaften bis zu einem gewissen Punkt fortgeschritten und sind bestrebt gewesen, darüber hinauszugehen. Das Gebiet, welches die Wissenschaft nicht erfassen konnte, ist das Gebiet des Hypothetischen und der Theorie, und dies wird Philosophie genannt. Wenn dem so ist, ist die Philosophie von gestern immer die Wissenschaft von heute und die Wissenschaft von 52 morgen [ist] die Philosophie von heute.» Am obigen Zitat fällt als Erstes die Verwendung des Begriffs «Philosophie» (felsefe) und dessen enge Verknüpfung mit den Wissenschaften (ʿilm we fenn) auf. Da die Wissenschaften stets fortschreiten, wird die Philosophie als das noch nicht zur Wissenschaft gewordene, aber ihrem 51 52
Vgl. Hanioğlu, Young Turks in Opposition, S.14. Taufīq, Bāhā (Hg.): Felsefe Medjmūʿasī, Istanbul: Teceddüd-i ʿilmī we felsefī kutubkhānesī, 1913, S.1, (fortan FM); Vgl. auch Taufīq, Bāhā: Felsefe-i ferd, Istanbul 1913, S. 47.
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Inhalt und ihrer Methode nach dazu fähige Denken verstanden. Baha Tevfik führt dieses Fortschrittsideal auf eine die menschliche Natur konstituierende Wissbegierde zurück, aufgrund derer der Mensch beständig versuche, die aktuell bestehenden Grenzen der Wissenschaften zu überschreiten. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer natürlichen 53 Disponiertheit der Menschen, das Unbekannte zu erforschen. Dieses Streben des Menschen danach, das Unbekannte zu erkennen, sei somit der eigentliche Grund des Wissens. Dieses Bedürfnis könne jedoch nie endgültig gestillt werden, denn mit der Erlangung neuen Wissens entstünden kontinuierlich neue Fragen, die den Menschen zu weiterer Forschung veranlassten. Ebenfalls dieser Disponiertheit entstamme das natürliche Streben, Wissen in seinem allumfassendsten Sinne zu erlangen. Der Mensch strebe von Natur aus danach, über die allgemeinste Bedeutung und den höchsten Zweck der Welt Wissen zu erlangen. Zu dieser allgemeinen Frage führen die sich mit der Zeit verzweigten Wissenschaften, die ihren je eigenen Untersuchungsgegenstand sowie ihre je eigene 54 Methode und ihre je eigenen Grenzen haben. Mit dieser Charakterisierung des Strebens nach Wissen als konstitutivem Merkmal des Menschen schafft Baha Tevfik die Grundlage dafür, der Philosophie, trotz ihres spekulativen Charakters, eine Existenzberechtigung im System der positiven Wissenschaften einzuräumen. Somit werden ihre Verknüpfung mit der Wissenschaft sowie ihr hypothetisch-theoretischer Aspekt (farziyye und naẓariyye), der ihre Zukunftsgerichtetheit ausmacht, von Baha Tevfik als Grundmerkmale der Philosophie (felsefe) bestimmt. Da er Letzteres als ein Charakteristikum der menschlichen Natur begreift, d.h. dass der Mensch von Natur aus nach einer Erweiterung des Wissens und nach der Überwindung seiner Grenzen strebt, tritt diese Zukunftsgerichtetheit des Denkens in jeder menschlichen Gesellschaft zu jeder Zeit und in jedem Stadium der Entwicklung ihres Denkens auf. Dementsprechend kann gemäß Baha Tevfik in jeder Gesellschaft zu jeder 55 Zeit von der Existenz des philosophischen Denkens gesprochen werden. 56 Was diesen ,primitiveren‘ Philosophien (ibtidāʾī) jedoch fehle, sei die erstgenannte Konstituente, nämlich ihre Verknüpfung mit der Wissen53 54 55 56
Taufīq, Bāhā: “Mekteb Derslerī”, Supplementband zu: Ders. (Hg.): Felsefe Medjmūʿasī, Istanbul: Teceddüd-i ʿilmī we felsefī kutubkhānesī, 1913, S.1, (fortan FMMD). Ebd. FM, S.1. Ebd.
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schaft. Folglich sei es Aufgabe der Philosophie, diese Verknüpfung herzustellen und anhand der Vereinbarkeit des überlieferten Denkens mit der Wissenschaft zu entscheiden, was über die Zeit hinweg als philoso57 phisches Denken angesehen werden könne und was nicht. Die von Baha Tevfik als notwendige Bedingung angesehene Verknüpfung mit der Wissenschaft sieht er im Positivismus (muthbetiyyet) und Materialismus (māddiyyet) verankert, die er sowohl als Methode der 58 Wissenschaften (ʿulūm we funūn) als auch als Methode der Philosophie 59 bezeichnet. An dieser Stelle ist es signifikant, dass die Wissenschaften in einem affirmierenden Sinne von Baha Tevfik meist mit dem Begriffspaar ʿilm we funūn wiedergegeben und Materialismus und Positivismus stets zusammengedacht werden. Im «Lexikon der Philosophie», welches Baha Tevfik in der Felsefe Medjmūʿasī sowie im Supplementband «Mekteb Dersleri» partiell publizierte, kommt diese von ihm postulierte intrinsische Verknüpfung deutlich zum Vorschein, wenn er den Positivismus (muthbetiyye) als ‹die philosophische Schule› bezeichnet, die ‹gegen die Metaphysik (mā fauq aṭ-ṭabīʿa) und für den Materialismus (māddiyyet) 60 und den Realismus (ḥaqīqiyyet)› sei. Materialismus wird zudem als ‹die Position› bezeichnet, ‹die das Prinzip von allem, einschließlich der Seele 61 (rūḥ), auf die Materie zurückführt.› Die Notwendigkeit, Philosophie und positive Wissenschaften als zusammengehörig zu begreifen, begründet Baha Tevfik mit dem Stand der Wissenschaften und appelliert an die Gelehrten, diesen stets im Auge zu haben: «Dasjenige, was Philosophie genannt wird, hat sich heute so sehr mit der Wissenschaft vermischt, dass es offensichtlich ist, dass diejenigen Individuen, die keinen Bezug zu wissenschaftlichen Erfindungen haben, nicht imstande sind, einen neuen philosophischen Gedanken hervorzubringen. Allein durch Überlieferung, Kommentierung und Interpretation der Positionen vorangegangener Philosophen (…) kann niemand die Bezeichnung ‹Philosoph› für sich be62 anspruchen» 57 58 59 60 61 62
FM, S.1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Ebd., S.167. Ebd. Ebd., S. 2; vgl. auch Taufīq, Bāhā, Felsefe-i Ferd, Istanbul 1913, S. 58.
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BAHA TEVFIKS VISION EINER RELIGIONSFREIEN GESELLSCHAFT
Wie aus dem Zitat ersichtlich wird, ist es eine logische Konsequenz dieser Verknüpfung, dass die Philosophie nur innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses und durch Berücksichtigung des aktuellen Standes der Wissenschaften eine Existenzgrundlage besitzt. Neben diesem positivistischen Charakter des philosophischen Denkens wird der Materialismus von 63 Baha Tevfik als dessen notwendige Begleiterscheinung postuliert. Die Kenntnis des aktuellen Standes der positiven Wissenschaften zu einer Zeit stellt sich somit als Prüfstein für die Aktualität einer Position dar. So gebühre vielen Denkern, die in ihrer Zeit zur Entwicklung der Wissenschaft beigetragen hätten – wie etwa Descartes oder Leibniz – die Bezeichnung «Philosoph», obwohl ihre Philosophie angesichts des aktuellen Standes der Wissenschaften nur noch einen historischen Wert beses64 sen habe. Baha Tevfik bemerkt, dass es zu seiner Zeit in Europa keine Philosophie und mithin keine Philosophen mehr gebe, die eine Existenzberechtigung abgekoppelt von den positiven Wissenschaften beanspruchen könnten. Paul Janet (gest. 1899), der weiterhin metaphysisches Denken betreibe und dadurch die Erlangung des «wahren Wissens» anstrebe, ist 65 für Baha Tevfik ein Repräsentant dieses illegitimen Anspruches. Stattdessen sieht Baha Tevfik in der Etablierung der Philosophie als das ‹den Einzelwissenschaften ihre übergeordnete Einheit gewährende Prinzip› den Schlüssel zum guten Denken, das seinerseits den Menschen zu richti66 gem Handeln bewegen solle. Die Einheit der Wissenschaften
Baha Tevfik erachtet sämtliche Lebensbereiche des Menschen als von philosophischen Gedanken durchdrungen, und es ist diese Komponente, durch welche er den Menschen in seiner Animalität von anderen Tieren unterscheidet. Unabhängig von ihrem Grad an Übereinstimmung mit den Wissenschaften bestimmen philosophische Gedanken die Mitglieder ei-
63 64 65
66
FM, S. 2. Ebd., S.1. Angesichts der Tatsache, dass Paul Janet ein zeitgenössischer Kritiker von Büchner war, ist diese Nennung jedoch nicht weiter verwunderlich. Siehe Janet, Paul: Le Matérialisme contemporain en Allemagne: Examen du système du docteur Büchner, Paris: G.Baillière, 1864. FM, S. 3.
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ner Gemeinschaft in allen Lebensbereichen, so etwa in ihren Moralvor67 stellungen, Lebensweisen und Charakterzügen. Ebenfalls der menschlichen Natur entspreche das Streben der Menschen nach einer Art des Wissens, welche die Untersuchungsbereiche aller partikulären Wissenschaften unter einer Gesamtheit zusammenführe. Die partikulären Wissenschaften hätten sich erstens aus dem Streben nach allgemeinem und allumfassendem Wissen und zweitens aus der Erfahrung und dem Erkennen der eigenen Erkenntniskräfte und -grenzen der Menschen entwickelt. Obwohl sie ihren je eigenen Erkenntnisbereich haben, würden diese – gerade aufgrund ihres gemeinsamen Ursprungs – von vielen offensichtlichen und verborgenen Verbindungen zwischen einander zusammengehalten. Diese Verbindungen erklärt Baha Tevfik zum Gegenstand eines allgemeinen Wissens, welches die Einheit des Universums (vahdet-i kāʾināt) ergründen solle und den Zweck habe, den partiku68 lären Wissenschaften ihre Existenzgrundlage zu liefern. Er fasst mithin im ,klassischen‘ Sinne die Erlangung eines solchen universellen Wissens als Gegenstand der Philosophie (felsefe) auf. Schon seit den Vorsokratikern habe man versucht, die letzten Prinzipien des menschlichen Seins und Wissens auf verschiedene Arten und Weisen zu ergründen, auch 69 wenn diese Versuche nicht zu den selben Schlüssen geführt hätten. Was diese Versuche jedoch miteinander teilten, sei ihre Neigung zur Allumfassend- und Allgemeinheit, die den gemeinsamen Nenner aller Definitionsversuche der Philosophie seit der Antike liefere und somit deren Stellung als «Wissenschaft der Wissenschaften» (ʿilm el-ʿulūm) und «er70 ste Wissenschaft» (ʿilm el-ewwel) begründe. Anthropozentrismus der Philosophie
Neben der oben dargelegten Veranlagung des Menschen zur Wissensaneignung, die Baha Tevfik auch in Anlehnung an Aristoteles postuliert, sowie dem seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der westlichen Philosophie allgegenwärtigen Fortschrittsideal und dem damit verbundenen Bewusstsein darüber, dass mit neuen Fortschritten in den Wissenschaften neue Fragen die Menschen zu neuen Untersuchungen leiten, erfährt der Bezug der Philosophie – und mithin die Gesamtheit aller 67 68 69 70
Ebd., S.1. FMMD, S.1. FM, S. 2. Ebd.
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Wissenschaften, als deren Prinzip sie fungiert – zum Menschen im Denken Baha Tevfiks eine weitere Vertiefung. Die oben dargelegte, sehr allgemein gehaltene Charakterisierung der Philosophie als erste Wissenschaft nimmt bei näherer Bestimmung eine materialistisch-monistische Gestalt an, in der die Natur als allgemeiner Bezugspunkt in den Vordergrund gerückt, der Mensch innerhalb dieser betrachtet und zugleich als «Zentrum 71 der Erkenntnis» aufgefasst wird. Die Natur (ṭabīʿat) ist gemäß Baha Tevfik das Prinzip allen Seins, und ihre Erkenntnis liefert demnach zu72 gleich Erkenntnis über das gesamte Sein. Als Teil dieser Natur stellt der Mensch das Zentrum des Wissens dar. Diese beiden Bezugspunkte, die Natur und der Mensch, fallen im Denken Baha Tevfiks somit auch deswegen in den Untersuchungsbereich der Philosophie, weil diese, analog zum Anspruch der Philosophie, als Prinzip der partikulären Wissenschaften zu fungieren, die Vereinnahmung des gesamten Seins beanspruchen. Dieser Vereinnahmungsanspruch gestaltet sich im Bereich der Natur als ein monistisches Prinzip des gesamten Seins, während er im Falle des Menschen in seiner Stellung als Zentrum des Wissens auf den ersten Blick subjektiv-idealistische Züge aufweist und der Mensch samt der Begrenztheit seines Erkenntnisvermögens in Betracht gezogen wird. Diese Begrenztheit des Erkenntnisvermögens hat Baha Tevfik im Auge, wenn er im folgenden Zitat von deren erkenntnistheoretischen Konsequenzen spricht: «Unserer Auffassung nach ist alles, was seiend ist, dem Grad unserer Verbundenheit und den Gesetzen unseres Denkvermögens entsprechend seiend. Da die Festlegung unserer [Vernunft-]Kräfte der einzige Schlüssel zu deren Praxis ist und da für uns jenseits dieser Praxis nichts existiert, liegt die Basis für jede Wahrheit und jede Humanwissenschaft (ʿilm besherī) im Wissen (maʿrifet) über die 73 menschliche Wahrheit.» Aus der Subjektgebundenheit des Vernunftvermögens zieht Baha Tevfik nun allerdings nicht die Konsequenz, dass der Mensch dazu befähigt sei, seine Umwelt und mit ihr die Natur mithilfe idealistischer Grundsätze zu erklären. Die subjektivistisch-idealistisch anmutende Tendenz soll viel71 72 73
Ebd. FM, S. 2. FMMD, S. 2.
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mehr Klarheit über die Erkennbarkeit der Natur durch den Menschen liefern. Obwohl Baha Tevfik sich an dieser Stelle unpräzise und unvollständig ausdrückt, lässt dieser Anflug von Idealismus unter Berücksichtigung der selbsterklärten materialistischen Ausrichtung seines Denkens sowie dessen monistischen Charakters nicht unmittelbar den Schluss zu, sein Denken weise mit seinem materialistischen Monismus inkompatible idealistische Züge auf. Die Verknüpfung der Wahrheit mit jeder Humanwissenschaft kann im Kontext seines Menschenbildes, in welchem der Mensch Teil des materialistisch aufgefassten Weltbildes und zugleich dessen Urheber ist sowie den Untersuchungsgegenstand und Zweck vieler Wissenschaften bildet, als ein anthropozentrisches Philosophieverständnis gelesen werden, das den Menschen in den Mittelpunkt der Erkenntnis samt der anerkannten Grenzen seines Vernunftgebrauchs stellt, ohne jedoch daraus eine den materialistischen Monismus gefährdende idealistische Position einzunehmen. In diesem anthropozentrischen Philosophieverständnis von Baha Tevfik bleibt der Mensch ein Teil der Natur und in seiner Ganzheit – d.h. einschließlich seiner physischen Beschaffenheit sowie seines Vernunftgebrauchs – bestimmten unveränderlichen Naturgesetzen unterworfen. Gegen die Attestierung eines Idealismus sprechen auch andere Überlegungen von Baha Tevfik. Das Ideal des guten Denkens als Ziel der Philosophie kann nur durch dessen Unterteilung in zwei Analyserichtungen gewährleistet werden: in die Analyse des Subjekts des Denkens und die seines Objekts. Somit erzeugt Baha Tevfik eine Dichotomie zwischen dem denkenden Subjekt und seinem Objekt, das außerhalb des Subjekts liegt. Baha Tevfik bezeichnet dies als außerhalb der materiellen Welt (kāʾināt khāridjī) und meint wohl das Außerhalb-des-Bewusstseins-Sein. Über das Verhältnis zwischen dem externen Objekt und dem erkennenden Subjekt gibt Baha Tevfik keine Auskunft. Somit kann aus seinen Ausführungen nicht mit Gewissheit entschieden werden, ob er mit idealistischen Erkenntnistheorien sympathisiert haben könnte. Die Ausführungen bezüg74 lich der Erlangung der «reinen Wahrheit», die er als eines der Ziele der Philosophie deklariert, legen die Vermutung nahe, dass ihm die epistemologischen Implikationen der Betonung der Abhängigkeit der Erkenntnis von den Erkenntniskräften des Menschen entweder nicht gegenwärtig oder für seine Zwecke nicht von primärer Bedeutung waren. 74
FM, S. 2.
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Die Philosophie befasst sich gemäß Baha Tevfik in erster Linie mit dem Menschen, der in seinem Dasein um Selbsterkenntnis bemüht ist, d.h. der über sein Denken, Fühlen und Handeln durch Beobachtung (taraṣṣud) seiner selbst reflektiere. Die Aufgabe der Philosophie sieht Baha Tevfik darin, die bei dieser Selbstbeobachtung verwendeten alltäglichen Begriffe und Daten zu ordnen und sie in Verbindung zu wissenschaftlichen Fakten zu setzen, sodass die Art und Weise, wie der Mensch über sich selbst spricht, als empirische Grundlage für die philosophische Betrachtung des Menschen fungieren kann. Somit besteht die Initialaufgabe der Philosophie in der Auswertung und Kommentierung dieses Materials, um zu allgemeinen Aussagen über die menschliche Natur zu gelangen. Diese Verallgemeinerung (taʿmīm) wird neben der Beobachtung als das zweite Mittel angesehen, mithilfe dessen die Philosophie den Menschen 75 untersucht. Das Wechselspiel zwischen der Beobachtung, die empirische Daten liefert, und dem Verallgemeinerungsprozess, der die Beobachtungsdaten auf allgemeine Gesetze zurückführt und somit eine empirisch fundierte Erklärung der menschlichen Natur liefert, spielt für das Nachdenken über den Menschen bei Baha Tevfik eine wichtige Rolle. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass Baha Tevfik die Klassifizierung der Aussagen als ,wissenschaftlich‘ untrennbar an das Funktionieren des genannten Wechselspiels koppelt. Verallgemeinerungen ohne hinreichende empirische Untermauerung verweist Baha Tevfik in den Bereich des Hypothetischen, und die Aussagen, die einen hypothetischen Charakter in diesem Sinne aufweisen, können keine Geltung als wahre Aussagen über die 76 menschliche Natur beanspruchen. Ein an dieser Stelle im Unterton vorhandener, für das Verständnis der Position von Baha Tevfik relevanter Punkt ist die Hervorhebung des empirischen Charakters der philosophischen Methode, die die Selbsterkenntnis des Menschen zum Ziel hat. Es ist wichtig, diesen Punkt im Auge zu behalten, wenn im Folgenden von Konzepten wie Seele (rūḥ) oder Psychologie (ʿilm-i rūḥ/rūḥiyyāt) die Rede sein wird. Mit diesem Anthropozentrismus seiner Philosophieauffassung korrespondieren auch die Überlegungen im nächsten Kapitel, in dem das Phi-
75 76
FMMD, S.10 f. Ebd., S.11.
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losophieverständnis und die Klassifizierung der Wissenschaften von Baha Tevfik als ein Ausdruck von Psychologismus gelesen werden. Die Psychologie als Leitwissenschaft
Die Psychologie nimmt in Tevfiks Rangordnung der Wissenschaften eine besondere Stellung ein. Schon im einleitenden Artikel betont Baha Tevfik als Mittel zu gutem, am Ideal der Fortschrittlichkeit orientierten Denken die Notwendigkeit, das denkende Subjekt und die gedachten Dinge zu unterscheiden und voneinander getrennt zu behandeln. Die Untersuchung des denkenden Subjekts wird durch zwei Wissenschaften, 77 Psychologie (rūḥiyyāt) und Physiologie (gharīziyyāt), gewährleistet. Über die Untersuchung der sich außerhalb des denkenden Subjekts befindlichen Objekte stellt Baha Tevfik keine Überlegungen an, und er liefert auch keine Klassifizierung derjenigen Wissenschaften, die sich mit der Erforschung der Natur befassen. Gemäß dem positivistischen Wissenschaftsverständnis seiner Zeit grenzt er die Metaphysik aus, verknüpft Philosophie und Naturwissenschaften und bezeichnet die naturwissenschaftliche Versiertheit als eine notwendige Bedingung für die 78 Qualifikation als Philosoph. Den Untersuchungsgegenstand der Physiologie bilden die Lebewesen, und zwar insofern, als in ihnen das Leben vorkommt. Die Physiologie wird somit als die Wissenschaft der Lebenserscheinungen definiert. Als eine empirische Wissenschaft bedient sie sich gemäß Baha Tevfik analog zu den Naturwissenschaften auch empirischer Daten, unterscheidet sich jedoch von ihnen darin, dass sie eine angewandte Wissenschaft 79 ist. Die Psychologie erachtet er hingegen als Prinzip von Logik, Ethik und vielen anderen Wissenschaften, die die Erforschung des Menschen unter verschiedensten Aspekten zum Ziel haben. Entsprechend dem Anthropozentrismus seines Philosophieverständnisses sieht Baha Tevfik im Menschen den Bezugspunkt für Philosophie und Wissenschaft zugleich. Es ist der menschliche Intellekt, der mithilfe der Naturwissenschaften die Welt erklärt, während die Philosophie den menschlichen Intellekt selbst 80 erklärt. Die Psychologie wird somit zum Hauptbezugspunkt der Philosophie, insofern die Philosophie aus ihr die Prinzipien für die übrigen par77 78 79 80
FM, S.1. Ebd., S. 2. FMMD, S. 5 f. Ebd., S. 4.
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tikulären Wissenschaften ableiten kann, mithilfe derer sie den partikulären Wissenschaften ihre Prinzipien liefert. Folgendes Zitat illustriert den Stellenwert der Psychologie in der Klassifizierung der Wissenschaften: «In den Naturwissenschaften erklärt der Intellekt des Menschen die Welt, während die Philosophie den menschlichen Intellekt erklärt. Demgemäß ist die Philosophie die Wissenschaft der Wissenschaften und die Erklärung der Erklärungen. Jede Wissenschaft beruht auf einem Prinzip, welches vorausgesetzt wird und dessen Stellenwert [in ihr] nicht begründet wird, wie die Kraft in der Mechanik (...). Die Philosophie umfasst alle dieser [Wissenschaften] (...). Sie begründet deren Prinzipien und bestimmt diese somit. Sie macht dies 81 mithilfe der Psychologie.» Bei der Klassifizierung der Wissenschaften hat man gemäß Baha Tevfik bisher aufgrund der Einsicht in die Ewigkeit und Ursprünglichkeit der 82 Natur deren Betrachtung die erste Priorität gegeben. Diejenige Wissenschaft, die ranghöher als alle anderen sein soll, müsse jedoch die Prinzipien der anderen auch einschließen. Dies kann gemäß Baha Tevfik durch die Setzung der Naturbetrachtung an die oberste Stelle nicht gewährleistet werden, da dabei viele Wissenschaften, die Aspekte des menschlichen Daseins untersuchen, von der Naturwissenschaft nicht eingeschlossen würden. So seien Politik, Geschichte oder Jurisprudenz der spezifischen menschlichen Natur eigen. Somit wird bei Baha Tevfik die Psychologie statt der Naturwissenschaft das primäre Untersuchungsgebiet der Philosophie. Den psychologistischen Charakter seiner Unterteilung der Wissenschaften bringt folgende Aussage zum Ausdruck: «Die Wahrheit, dass die philosophische Methode in erster Linie empirisch ist, ist gleichbedeutend mit der Wahrheit, dass die Psycho83 logie (ʿilm-i nefs) das Prinzip des Vorgehens der Philosophie ist.» Dieser Psychologismus wird auch deutlich, wenn Baha Tevfik Logik und Moral als Gegenstand der Psychologie in dem von ihm vorgeschlagenen Sinne klassifiziert. Die Logik bindet die Urteile an allgemeine Gesetze, während die Moral dem Menschen seinen Platz und seine Pflichten 81 82 83
Ebd. Ebd. Ebd., S.10.
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lehrt. Die Logik untersucht die Bedingungen, wie die partikulären Wissenschaften als Resultat des menschlichen Intellekts auf seiner Suche nach der Wahrheit entstanden sind. Diese Wissenschaft hat ihren Ursprung in der Beschaffenheit des menschlichen Intellekts und im Wechselspiel der externen Umstände und deren Einfluss auf das Gehirn des 85 Menschen. Die Gesetze, die diese Wissenschaft beinhaltet, machen zugleich die Prinzipien des Denkens aus und stellen somit eine allgemeine Methodologie bereit, die auf alle Wissenschaften angewandt werden kann und jeder Wissenschaft ihre eigenen Prinzipien liefert. Somit werden die Entstehung einer jeden Wissenschaft und der Wahrheitsgehalt 86 ihrer Aussagen auf den Affirmationsakt des Menschen zurückgeführt. Das Ethik-Verständnis von Baha Tevfik Ethik im osmanischen Kontext
Ethik stellte im osmanischen Kontext weniger eine philosophische Morallehre dar, als vielmehr religiös motivierte und begründete, an das Bewusstsein des einzelnen Menschen appellierende Handlungsnormen. Sie sollte dazu beitragen, das individuelle und soziale Leben der Menschen 87 religiös zu verankern. Eine solche, auf islamischer Religiosität basierende Ethikkonzeption konnte in der einen oder anderen Weise im intellektuellen Umfeld des Osmanischen Reiches bis in das 20. Jahrhundert hinein ihre dominante Stellung beibehalten. Ausgehend von koranischen oder aus dem Koran abgeleiteten Handlungsmaximen wurde unter Ethik bzw. Moral (akhlāq) die Gesamtheit der Handlungen verstanden, welche, eine theologisch aufgefasste Teleologie der menschlichen Bestimmung zugrunde legend, den Menschen zur Vervollkommnung bringen sollten. So wurde unter Ethik als Wissenschaft (ʿilm) traditionellerweise eine Moralepistemologie verstanden, in der es um die Findung der aus einer eben genannten teleologischen Perspektive als gottgefällig (und deswegen 88 richtig) empfundenen Handlungen ging. In diesem Sinne wird im Kontext einer islamischen Ethik von einem Nachdenken über die Auswahl der auszuführenden Handlungen gesprochen, welche die Befolgung solcher 84 85 86 87 88
Ebd., S.12. Ebd., S. 44. FMMD, S. 45. Vgl. Erdem, Hüsameddin: “Osmanlıda Ahlak ve Bazı Ahlak Risaleleri” in: Selçuk Üniversitesi İlâhiyât Fakültesi Dergisi, 10 (2000), S. 25-64, hier S. 25. Vgl. ebd., S. 25.
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moralischer Werte zum Ziel hatten, um die Vervollkommnung des Individuums (und der Gemeinschaft) im oben genannten theologisch-teleologi89 schen Sinne voranzutreiben. Im intellektuellen Klima des Osmanischen Reiches des 19. Jahrhunderts wurde der Verbreitung der mit einem materialistischen Weltund Menschenbild eng verknüpften positivistischen Denkweise und ihres 90 Wissenschaftsverständnisses mit Skepsis begegnet. Ein wesentlicher Grund für diese skeptische Haltung waren die anthropologischen und damit verbunden die ethischen Implikationen einer materialistischen Weltanschauung. Die Implikationen einer materialistischen Weltanschauung (und insbesondere einer materialistischen Anthropologie) für die Ethik lösten insbesondere deshalb heftigen Widerstand aus, da durch diese Weltanschauung auch die epistemologischen Grundlagen einer auf die Findung moralischer Handlungsmaximen zwecks Vervollkommnung der teleologischen Natur der Welt und des Menschen beruhenden Ethik infrage gestellt wurden. Eine solche Ethik basierte auf der Grundüberzeugung, dass die Handlungen prinzipiell zwischen ,gut‘ und ,schlecht‘ unterscheidbar wären und dass diese Unterscheidung von einer göttlichen 91 Zielsetzung herrührte. Darüber hinaus wurden eine sittlich-moralische Lebensweise und die damit verbundenen Dispositionen mit einer Pflichtenlehre in Verbindung gebracht, die der Vervollkommnung des Menschen und der Gemeinschaft dienlich waren. Solche Dispositionen bzw. deren Beobachtbarkeit an Individuen wurden somit als Schlüssel dieser 92 Teleologie angesehen. Diese oben in ihren Umrissen dargelegte Ethikkonzeption appellierte an das Individuum bzw. an dessen Gewissen, das seinerseits die Richtigkeit gewisser Pflichten bzw. die Falschheit gewisser Handlungen zu er93 kennen und dementsprechend zu handeln hat. Baha Tevfik lehnte jede Ethikkonzeption, welche sich auf eine Pflichtenlehre zu stützen suchte, ab. Nach seiner Meinung fällt es nicht in den Aufgabenbereich einer Ethik, als ‹Wissenschaft der Pflichten› (waẓīfeler ʿilmī) über ,richtig‘ 89 90 91 92 93
Vgl. Moar, Edward Omar: “A Path to the Oasis: Sharī'ah and Reason in Islamic Moral Epistemology”, in: International Journal for Philosophy of Religion, 62/3 (Dec. 2007), S.135-148, hier S.135. Vgl. z.B. Bolay, Süleyman Hayri: Türkiye’de Maddeci ve Ruhçü Görüşün Mücadelesi, Istanbul 1967, passim. Vgl. Hüsameddin, Osmanlıda Ahlak, S. 46 f. Vgl. ebd., S. 52 ff. Vgl. ebd., S. 54 f.
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bzw. ,falsch‘ zu urteilen. Vielmehr habe die Ethik den Menschen die Selbstkontrolle zu lehren, was einzig mit den Mitteln der Psychologie er94 reicht werden könne. Die auf der Selbstkontrolle des Individuums basierende Moral korreliert bei näherer Betrachtung mit dem elitistischen Blick Baha Tevfiks auf die Gesellschaft. In der Forschung wird in dieser Ethikkonzeption von Baha Tevfik ein direkter Einfluss von Paul Dubois (gest. 1918), einem Schweizer Psychiater, gesehen, der die Psychotherapie 95 auf einer philosophischen Basis zu etablieren versuchte. Hanioğlu bemerkt, dass Baha Tevfik nicht gekennzeichnete wörtliche Übersetzungen aus den Werken von Dubois übernahm und diese in den Kontext seiner 96 eigenen Philosophie einbettete. Einen weiteren wichtigen Marker der Ethikkonzeption von Baha Tev97 fik stellt Friedrich Nietzsche (gest. 1900) dar. Der Einfluss Nietzsches 98 auf das Denken von Baha Tevfik spiegelt sich in seiner Ethik insofern wider, als Baha Tevfik im Kontext des Osmanischen Reiches einen radikalen Bruch mit herkömmlichen Ethikkonzeptionen präsentierte und an ihre Stelle eine individualistische, auf die Erziehung des Individuums zur 99 Selbstbeherrschung ausgerichtete Ethik proklamierte. Näher zu untersuchen wäre, inwieweit Nietzsches Unterscheidung zwischen Sklavenund Herrenmoral und seine Kritik an der auf den europäischen Morallehren basierenden Werteskala, die Baha Tevfik in seiner Monographie über Nietzsche ausführlich behandelt, in Tevfiks eigene Ethikkonzeption 100 Eingang gefunden hat. Hanıoğlu, Blueprints, S. 79. Ebd., S. 79 f. Siehe Dubois, Paul: De l’influence de l’esprit sur le corps, Bern: A.Francke, 1908. 96 Hanıoğlu, Blueprints, S. 80. 97 Vgl. Ülken, Hilmi Ziya: Türkiye’de Çağdaş Düşünce Tarihi, Istanbul: Ülken Yayınları, 1999 [1966], S. 240. Zur Nietzsche-Rezeption im Osmanischen Reich siehe Utku, Ali / Arslan, M. Abdullah: “Nietzsche’nin Osmanlı Okurları: Göçebe Düşünür İstanbul Kapılarında”, in: Tevfik, Baha / Nebil, Ahmed / Süleyman, Memduh (Hg.): Nietzsche. Hayatı ve Felsefesi (1912), transkribiert und mit einer Einleitung kommentiert von Ali Utku und M. Abdullah Arslan, Konya 20032 [2001], S. 7-44, hier S. 7 ff. 98 Nietzsches Denken war Baha Tevfik aus Sekundärquellen bekannt. So wird im Untertitel der Nietzsche-Monografie Nietzsche. Hayatı ve Felsefesi (1912) betont, dass diese anhand der kritischen Werke von Harald Hoffding (gest.1931), Émile Faguet (gest.1916) und Henri Lichtenberger (gest.1941) verfasst wurde. Vgl. Baha Tevfik (et al.), Nietzsche. Hayatı ve Felsefesi, Titelblatt. Vgl. dazu auch: Utku (et al.), Nietzsche’nin Osmanlı Okurları, S. 37 ff. 99 Vgl. Utku, Ali (et al.), Nietzsche’nin Osmanlı Okurları, S. 36. 100 Vgl. Tevfik, Baha (et al.), Nietzsche. Hayatı ve Felsefesi, S. 84 ff. Zu diesem Punkt siehe auch Doğan, Osmanlı Aydınları, S. 269 ff. 94 95
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BAHA TEVFIKS VISION EINER RELIGIONSFREIEN GESELLSCHAFT Die «neue Ethik» (yeni akhlāq) von Baha Tevfik
Baha Tevfik räumte in seinem Gesamtwerk dem Thema Ethik bzw. Moral 101 102 (akhlāq) einen großen Platz ein. Er formulierte seine «neue Ethik» anhand der Kritik an herkömmlichen Ethikkonzeptionen und postulierte sie als Resultat dieser Kritik. Baha Tevfik kritisierte jede Position, die die Ethik aus einer islamisch-religiösen Perspektive als die Wissenschaft der 103 104 Pflichten (waẓīfeler ʿilmī) definierte. Ein wichtiger Kritikpunkt Baha Tevfiks, der aus seinem Philosophieverständnis resultiert, besagt, dass die Ethik ebenso wie alle anderen Wissenschaften der ständigen Veränderung und Aktualisierung unterworfen ist – er konzediert ihr mithin 105 keinen Sonderstatus. Für die Verwirklichung des Ideals, eine fortschrittliche (mutaraqqī) Generation zu schaffen, weist er der Ethik eine zentrale Rolle zu. Baha Tevfik bindet sein Ideal von Fortschrittlichkeit dabei an ein Konzept von wissenschaftlicher ,Wahrhaftigkeit‘ (doğruluk), demzufolge das Ziel des wissenschaftlichen Vorgehens einzig und allein das Wissen (ʿilm) zu sein hat und nicht anderen, etwa religiösen Zielset106 zungen unterworfen sein soll. Diese Kritik präsentiert sich im Denken Baha Tevfiks aber nicht in Form eines direkten Angriffs auf eine religiös (auch islamisch) motivierte Ethikkonzeption. Seine Ablehnung der Religion(en) resultiert vielmehr aus einer konsequenten Anwendung seines Philosophieverständnisses auf sämtliche Denk- und Lebensbereiche. Unter die Gruppe der verworfenen Ethikkonzeptionen fallen bei ihm daher auch hedonistische Ethikkonzeptionen aus der Antike wie auch Tugen107 dethiken und der Utilitarismus. Im folgenden Zitat kommt der Hauptkritikpunkt Baha Tevfiks deutlich zum Vorschein: «(…) das Prinzip dieser drei Ethikkonzeptionen ist die Unterscheidung zwischen gut und schlecht. Mit dem Fortschritt der Wissenschaft (fenn) und Philosophie (felsefe) arbeiten alle positiven Wissenschaften (her ʿilm, her fenn) zusammen (mushtereken). Es hat keine Bedeutung, dies[e Aufgabe] allein der Ethik (akhlāq) auf101 Baha Tevfik übersetzt in dem von ihm in der FM publizierten Lexikon philosophischer Termini beide französichen Begriffe “éthique” und “morale” mit akhlāq. Siehe FM, S.162. 102 Siehe Taufīq, Bāhā: Ḥassāsiyyet baḥthī we yenī akhlāq, Istanbul 1910. 103 Kemal, Ali: ʿIlm-i akhlāq, Istanbul: Sabah Matbaası, 1330/1912, S. 3. 104 Vgl. FM, S. 49 ff; Ülken, Türküye’de Çağdaş Düşünce Tarihi, S. 236 ff. 105 FM, S. 50. 106 Ebd., S. 50 f. 107 Vgl. FM, S. 50 ff.
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zuerlegen. Die Ethik soll sich [stattdessen] mit der Ausführung bzw. Nicht-Ausführung der Handlungen befassen, bei denen es gewiss 108 (thābit) ist, ob diese gut bzw. schlecht sind.» Wie man sieht, zeichnet sich die Pointe der Ethikkonzeption Baha Tevfiks dadurch aus, dass man auch der Ethik mit einem normativen Anspruch der Wissenschaftlichkeit als Maßstab entgegentreten soll. Die Plausibilität der herkömmlichen Ethik wird gemäß dieser Auffassung daran gemessen, ob sie wissenschaftlichen Standards entspricht und dementsprechend bejaht oder verworfen. Weil die herkömmliche Ethik gemäß seiner Argumentationsstrategie diese Standards aber nicht erfüllt, kann sie dementsprechend in der Gestalt einer Tugend- und Pflichtenethik keinen epistemologischen Anspruch erheben, da bei diesen der normative Anspruch der Handlungen als von außen gegeben erscheint. Folgendes Zitat bringt die Kernaspekte seiner als «neue Ethik» (yeni akhlāq) bezeichneten Ethikkonzeption zum Ausdruck und ist für deren Analyse zentral: «Wenn [dem so ist, dass] die gemeinsame Eigenschaft (waṣf-i müshterek) zwischen den Menschen das ‹Menschlich-Sein› (besherliq) [H.i.O.] ist, so hat auch die Ethik, welche ihrerseits einen wichtigen Teil ihres [d.h. der Menschen, EI] Umgangs miteinander regelt, an109 thropozentrisch (insānī) zu sein. Deswegen ist es nicht richtig, das Prinzip der Ethik in den Himmeln (semāwāt) oder in den geoffenbarten Büchern (kutub-i semāwī) zu suchen. Dieses Prinzip ist wiederum in den Menschen [selbst]. [Es unterliegt] der Leitung von ihren Handlungen sowie der psychischen und physischen Prozesse (ḥadāthāt-i rūḥiyye we gharīziyye), wie z.B. den Gedanken, der Sensibilität (ḥassāsiyyet), den Gewohnheiten (ʿādāt) sowie den natürlichen Trieben (sawq ṭabīʿī), die die Quelle (mensheʾ) dieser 110 Handlungen sind.» Am obigen Zitat fällt Baha Tevfiks Auffassung vom Ursprung der Ethik auf: er liegt für ihn im Menschen selbst. Die Ethik entspringt dem Zusammenleben der Menschen, die sich selber und einander in ihrer Menschlichkeit – in einem materialistischen Sinn – als Menschen wahr108 FM, S. 53. 109 Diese Übersetzung basiert auf Baha Tevfiks eigener Übersetzung im Lexikon der Felsefe Medjmūʿasī. Darin übersetzt er insāniyye mit «anthropocentrisme» (vgl. FM, S.163). 110 FM, S. 51.
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nehmen, und sie dient der Regelung dieses Zusammenseins. Führt man sich die Implikationen einer solchen Ethikkonzeption vor Augen, so erscheint die Ablehnung einer Ethik, die einen göttlichen bzw. übermenschlichen Ursprung hat, nachvollziehbar. Eine Ethik kann bei Baha Tevfik nur dann anthropozentrisch sein, wenn sie sowohl von den Menschen selbst entworfen wurde als auch gleichzeitig dem zwischenmenschlichen Umgang dient. Verknüpft mit einer materialistischen Weltanschauung schließt eine solche Ethikkonzeption von vornherein die Möglichkeit einer göttlichen und zugleich den Menschen dienlichen Moral aus. Die materialistische Komponente der Ethikkonzeption von Baha Tevfik macht sich im zweiten Teil des ausgewählten Zitats deutlich bemerkbar, wenn er die Menschlichkeit dieser Ethik an eine materialistische Anthropologie koppelt, in welcher die naturbezogenen Aspekte des Menschseins als handlungsleitende Aspekte hervorgehoben und diese primär dem Erkenntnisbereich der Psychologie und Physiologie überantwortet werden. Dem materialistischen Weltbild sowie dem daraus entspringenden Philosophie- und Wissenschaftsverständnis von Baha Tevfik entspricht des Weiteren die Forderung, die Baha Tevfik an Verfasser von Publikationen zur Ethik setzt: ein solcher soll Wissenschaftler (mutefennin) und Philosoph (feilūsūf) sein. Eine dafür notwendige Qualifikation stellt natürlich die Vertrautheit mit den neusten Erkenntnissen der Wissenschaften (funūn) voraus. Insbesondere vonnöten seien nach den Kriterien von 111 Baha Tevfik fundierte Kenntnisse in Psychologie und Physiologie. Durch das Artikulieren dieses Anspruchs kommen die Ausführungen Baha Tevfiks zum Begriff und Gegenstand der Philosophie in ihrer Anwendung auf die Ethik zum Vorschein. Neben der Ethik betrachtet er auch die Sozialwissenschaften (idjtimāʿiyyāt) und die Politik (siyāset) als Wissenschaften der natürlichen Prozesse (ḥadāthāt-i ṭabīʿiyye) und sieht sie als Gegenstand der Philosophie in dem von ihm definierten Sinne an. Aus dieser Einbeziehung der Ethik in den Untersuchungs- und Zuständigkeitsbereich der Philosophie leitet Baha Tevfik den normativen Anspruch an die Verfasser der Werke über diese Themen ab, sich permanent über die neuesten wissenschaftlichen Fortschritte (teraqqiyāt-i fenniyye) 112 zu informieren und diese in ihrer Forschung zu berücksichtigen. Mit der Kritik an Ethikkonzeptionen, deren Gemeinsamkeit in ihrer 111 FM, S. 51. 112 Ebd.
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Suche nach dem Guten bzw. Schlechten bestand und die alle einen autonomen Erkenntnisbereich für Ethik voraussetzten, entfaltete Baha Tevfik seine eigene Ethikkonzeption, die er als die neueste aller Ethikkonzep113 tionen bezeichnet. Wie im obigen Zitat angedeutet, hat die Ethik bei Baha Tevfik keinen theoretischen, sondern lediglich einen praktischen Aspekt. Als Teilwissenschaft soll sich die Ethik Baha Tevfik zufolge damit beschäftigen, die Menschen zu Handlungen zu animieren, die gewiss gut 114 sind, und sie von Handlungen abzubringen, die gewiss schlecht sind. Da Ethik in diesem Sinne nur einen praktischen und keinen theoretischen, d.h. ethische Wahrheiten produzierenden Aspekt besitzt, kommt ihr bei Baha Tevfik nur eine Aufgabe zu: die Menschen durch die Erziehung ihres Willens (terbiyye-i irāde) Selbstbeherrschung (nefs ḥākimiy115 yetī) zu lehren. Auf das Fehlen dieser Charakteristika führt Baha Tevfik auch die Strategien seiner Zeitgenossen zurück, den Kriegsniederlagen eine theologische Deutung zu geben. Gemäß Baha Tevfik versuchten viele Autoren, die Kriegsniederlagen und die in seinen Augen gescheiterten Rehabilitationsversuche mit einer mangelnden Befolgung der sittlichen Regeln zu erklären, und proklamierten einen Kodex theologisch untermauerter Verhaltensmuster als Ethik, welche sie wiederum als Schlüssel 116 zum Wiederaufbau des Landes präsentierten. Damit hätten sie jedoch lediglich einen religiös motivierten Hass gegen die Siegermächte ge117 schürt, anstatt an die Selbstbeherrschung zu appellieren. Stattdessen sagt Baha Tevfik in diesem Artikel erneut, dass neben der Verbreitung der Erkenntnisse der Wissenschaften in der Öffentlichkeit auch das Lehren 118 der Selbstbeherrschung der Gegenstand der Ethik sein soll. Folgendes Zitat bringt seine Konzeption einer neuen Ethik auf den Punkt: «Die Ethik ist nicht das Wissen um das Gute bzw. Schlechte. Auch die Prinzipien wie Lust, Tugend und Nutzen, die alle zwecks Sicherung (teʾmīn) dieses Wissens [um das Gute bzw. Schlechte, EI] dem eigentlichen Geltungsbereich der Ethik weit entfernt bleiben. Weil sich die Ethik (…) stattdessen damit beschäftigt, die Ausführung solcher Handlungen, bei denen Gewissheit (qaṭʿiyyet) über ihr Gut113 114 115 116 117 118
Ebd., S. 53. Ebd. Ebd. FM, S.18. Ebd., S.18 f. Ebd., S.18.
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BAHA TEVFIKS VISION EINER RELIGIONSFREIEN GESELLSCHAFT
Sein herrscht, herbeizuführen, sowie den Willen darin zu stärken, die Handlungen, deren Schlechtigkeit offenkundig ist, nicht auszuführen. Was die Bestimmung des Guten bzw. Schlechten betrifft, so ist diese nicht die Aufgabe einer bestimmten Wissenschaft (ʿilm) wie der Ethik, sondern [die Bestimmung des Guten bzw. Schlechten, EI] stellt die grundlegendste Aufgabe sämtlicher positiver Wissenschaften (ʿilm we fenn) dar. Die Ethik kann nur (…) die Anwendung dieser Resultate [der positiven Wissenschaften, EI] herbeiführen, und diese [Herbeiführung] ist mit der Etablierung der Selbstbeherr119 schung (nefs-i ḥākimiyyet) bei den Menschen verbunden.» Baha Tevfiks Verwerfen sämtlicher Ethikkonzeptionen, die die Bewertung der Handlungen aus einer externen Erkenntnisquelle zu schöpfen trachten und somit der Ethik eine eigene Epistemologie zuerkennen, trifft einen Kernaspekt der religiös-motivierten Weltanschauung. Er stellt die Etablierung eines religiös-fundierten autonomen Erkenntnisbereichs für moralisches, individuelles wie soziales Handeln in Frage. Baha Tevfiks Kritik geht aber weiter, da sie jegliche Ethikkonzeption ausschließt, die der Ethik einen autonomen Bereich einräumt, in welcher diese als Wissenschaft wahrheitsproduzierend agieren kann. Baha Tevfiks Ansatz stellt mithin eine radikale Absage an traditionelle Ethikvorstellungen und in der Tat eine neue Ethik dar. Er bringt dabei die weltanschaulich-normativen Implikationen der positiven Wissenschaften zum Tragen und sucht die Ethik an sie zu binden, mit der Aufgabe, die Individuen im Einklang mit dem produzierten Wissen handeln zu lassen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, impliziert die Erziehung des Individuums zur Selbstkontrolle gleichzeitig eine Erziehung des Individuums dazu, die wissenschaftlichen Grundsätze zu Handlungsmaximen zu erheben. So gibt er die Handlungsqualitäten von ,gut‘ bzw. ,schlecht‘ denn auch nicht auf, sondern verknüpft sie mit den Resultaten der positiven Wissenschaften. Somit sind Handlungen, deren Ausführung in diesem letztgenannten Sinne ,gut‘ sind, auch mit Gewissheit gut und vice versa, wobei die Gewissheit (qaṭʿiyyet) in einem technischen Sinne als wissenschaftliche Gewissheit zu verstehen ist.
119 Ebd., S.17.
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Anmerkung zur Übersetzung Bei der Übersetzung der Texte wurden diejenigen Texte ausgewählt, die repräsentativ für die oben elaborierte Lehre Baha Tevfiks sind. So wird als 120 erstes der einleitende Artikel aus der von ihm herausgegebenen Felsefe Medjmūʿasī (Zeitschrift für Philosophie) den Leserinnen und Lesern in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Dieser Artikel ist insofern zentral, als er als Plädoyer für Materialismus und Positivismus das gesamte Programm Baha Tevfiks, wie er es in seinem Gesamtwerk entfaltete, in Grundzügen beinhaltet. Ergänzend für das in diesem Plädoyer zum Ausdruck gebrachte Programm Baha Tevfiks sind aus dem zusammen mit der Felsefe Medjmūʿasī herausgegebenen Supplementband «Mekteb Derslerī» (Schullektionen) diejenigen Stellen übersetzt, welche sein Philoso121 phieverständnis klar erkennen lassen. Als dritter Auszug wird ein Kapi122 tel aus dem Werk «Felsefe-i Ferd» (Philosophie des Individuums) mit 123 dem Titel «Bizde felsefe» (Die Philosophie bei uns) übersetzt. Charakteristisch für diesen Text ist, dass Baha Tevfik darin sein Philosophieverständnis innerhalb des intellektuellen Diskurses polemisch etabliert und dieser Text somit ein gutes Beispiel für den Binnendiskurs hinsichtlich der Stellung von Philosophie zu seiner Zeit darstellt.
120 Taufīq, Bāhā: “Maqṣad we meslek [Zweck und Methode]” in: FM, S.1-3. 121 Taufīq, Bāhā: “Mekteb Derslerī”, Supplementband zu: Ders. (Hg.), Felsefe Medjmūʿasī, Bd.1., Istanbul: Teceddüd-i ʿilmī we felsefī kutubkhānesī, 1913. 122 Taufīq, Bāhā: Felsefe-i ferd, Istanbul 1913. 123 Taufīq, Bāhā: “Mesāʾil-i felsefiyye: Bizde Felsefe” in: Felsefe-i ferd, Istanbul 1913, S. 46-62.
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Felsefe Medjmūʿasī
فلسفه مجموعسي Zeitschrift für Philosophie Baha Tevfik in Auszügen übersetzt von Enur Imeri Zweck und Methode
[1] In einer unserer letztjährigen Abhandlungen, die in einem der periodischen Hefte publiziert wurde, hatten wir Folgendes gesagt: «Die Philosophie (felsefe) ist die Wissenschaft (ʿilm) der Zukunft. In jedem Zeitalter und an jedem Ort sind die Wissenschaften (ʿilm 1 we fenn) bis zu einem gewissen Punkt fortgeschritten und sind bestrebt und veranlagt gewesen, darüber hinauszugehen. Das Feld, welches die Wissenschaften nicht erfassen konnten, ist das Feld des Hypothetischen (farḍiyye) und der Theorie (naẓariyye). Dies wird Philosophie genannt. Wenn dem so ist, ist die Philosophie von gestern immer die Wissenschaft von heute und die Wissenschaft von morgen die Philosophie von heute.» Des Weiteren sagten wir in der genannten Abhandlung auch Folgendes: «In jeder Weltgegend werden Ethik und Sitten (akhlāq we ādāb) sowie die Gepflogenheiten und der Lebensstil und sogar der Habitus (mīzādj) der Bewohner von philosophischen Gedanken geprägt. Menschen, die jeglicher solcher philosophischer Gedanken entbehren, leben zweifellos wie die Tiere. Denn in ihrem Leben gibt es weder ein System noch eine Ordnung (intiẓām). Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist, dass sich bei jedem Volk (qawm) – selbst bei dem primitivsten – philosophische Gedanken finden lassen. Jedoch ist der bloße Besitz eines bestimmten Grades an philosophischen Ideen keine Errungenschaft und kein Vorzug an und für sich. Vielmehr müssen diese stets erneuert und vervollständigt werden. Insbesondere soll dabei versucht werden, praktische und wissenschaftliche (ʿilmī) Ergebnisse aus ihnen zu erzielen.» 1
Zur semantischen Verknüpfung der beiden Termini innerhalb der osmanisch-türkischer Denktradition siehe Kara, Ismail: Bir Felsefe Dili Kurmak, Istanbul: Dergâh Yayınları, 2001.
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BAHA TEVFIK
Nun haben wir, um unsere Gedanken ausführlicher und eingehender zu veröffentlichen und sie zu verbreiten, diese Zeitschrift gegründet. Damit verfolgen wir das Ziel, unter den Osmanen Charakterzüge wie gutes und treffliches Denken sowie die Beherrschung des eigenen Handelns zu wecken. Denn der Ursprung alles guten wie auch schlechten Handelns liegt in den diesen zugrunde liegenden Gedanken. Ein gut denkendes Individuum vermag auch, gut zu handeln. Die Völker, die aus solchen [d.h. gut denkenden, EI] Individuen besteht, bewegen sich in Richtung «Fortschritt» (teraqqī) [H.i.O.] und Erhabenheit (taʿālī), und sie werden somit glückselig und frei. Um zu verstehen, was gutes und treffliches Denken ist, müssen sowohl das denkende Subjekt als auch das Gedachte getrennt behandelt werden. Die Analyse des denkenden Subjekts wird innerhalb von Physiologie (gharīziyyāt/fīzyūlūdjī) und Psychologie (rūḥiyyāt/bsīqūlūdjī) vorgenommen. Das Gedachte befindet sich hingegen außerhalb der materiellen Welt (kāʾināt khāridjī). Darüber hinaus verdienen zwei andere Dinge Aufmerksamkeit: einerseits gut und richtig zu denken und andererseits entsprechend dem Gedachten zu handeln … In dieser Hinsicht gibt es weiterhin Gesetze (qānūnlar), die aus den vorher genannten zwei Prinzipien folgen. Die erste Gruppe [dieser Gesetze, EI] heißt Logik (manṭiq), während die zweite Gruppe Ethik (akhlāq) genannt wird. Diese genannten Dinge machen insgesamt die Philosophie aus. Wir werden in dieser Hinsicht den Weg befolgen, den die Wissenschaften (ʿulūm we funūn) bisher [2] mit Entdeckungen und Enthüllungen geebnet haben, und werden den weiteren Lauf dieses Wegs erkunden. Wir werden uns bemühen, so weit wie nur möglich zu gehen und so weitsichtig wie möglich zu sein, um die Menschheit und insbesondere unser eigenes Umfeld aufzuklären. Genauso wie auf jeder Reise ein Reiseführer notwendig ist, bedarf es bei der Erforschung der Wahrheit einer Methode. Ein Philosoph ohne Methode ähnelt einem Kapitän ohne Kompass. Genauso wie letzterer bei einem Sturm der Wellen seinen Ort nicht feststellen kann und deswegen ziellos umhertreibt, wird ersterer durch zielloses Abmühen angesichts des Sturms der Gedanken und Informationen benommen und betäubt werden. Was unsere Methode (uṣūl) betrifft, so ist sie die starke Methode der heutigen Wissenschaften (ʿulūm we fenn), d.h. des Materialismus (māddiyyet) und Positivismus (muthbetiyyet). Das hat folgenden Grund: «Das298
FELSEFE MEDJMŪʿASĪ
jenige, was Philosophie genannt wird, hat sich heute so sehr mit der Wissenschaft vermischt, dass es offensichtlich ist, dass diejenigen Individuen, die keinen Bezug zu wissenschaftlichen Erfindungen haben, nicht imstande sind, einen neuen philosophischen Gedanken hervorzubringen. Allein durch die Lektüre und Nacherzählung des Buchs der Natur (kitāb-i ṭabīʿat) [sic!] mithilfe einiger ziemlich realitätsferner und dunkler Theorien, wie es im Mittelalter üblich war, oder durch Überlieferung, Kommentierung und Interpretation der Positionen vorangegangener Philosophen kann niemand die Bezeichnung ‹Philosoph› für sich beanspruchen. Von nun an sind die Zeiten der Klatschphilosophie (lāf felsefesī) vorbei und damit besitzen auch die Philosophien, wie z.B. die von Descartes, Leibniz und Spinoza, in denen wichtige Wahrheiten allein durch die Worte und Gesetze der Logik ans Tageslicht befördert werden, nur noch einen 2 historischen Wert.» Außerdem gibt es heute in Europa keine Philosophen mehr, sondern nur noch Wissenschaftler (ʿulemāʾ) der Natur- und exakten Wissenschaften (ʿulūm-i ṭabīʿiyye we riyāḍiyye). Die geringschätzige Bezeichnung als Philosoph beanspruchen heute lediglich diejenigen, die sich mit Einbildungen und althergebrachten Irrtümern beschäftigen, die unter der Bezeichnung ‹Metaphysik› subsumiert werden und zum baldigen Niedergang verurteilt sind. Beispielsweise avancieren hin und wieder solche Typen wie Paul Janet, die durch Herausgabe vielbändiger Bücher die vorzügliche [sic!] Bezeichnung als Philosoph zu verdienen sich vormachen, während sich unter solchen [die nach einem solchen Titel trachten, EI] 3 keine Denker wie z.B. Lange Haeckel, Bernard oder Darwin finden lassen.» Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Methode der Philosophie dieselbe wie die Methode in den Wissenschaften ist, nämlich die Methode des Positivismus und Materialismus. In dieser unserer Veröffentlichung werden wir für alle darin präsentierten Disziplinen und Erörterungen diese Methode befolgen. Des Weiteren werden wir, uns keiner Tradition und Strömung hingebend, bemüht sein, die reine Wahrheit ans Licht 2 3
Diese Passage wird im Original als Zitat wiedergegeben und findet sich in demselben Wortlaut in Taufīq, Bāhā: Felsefe-i ferd, Istanbul 1913, S. 58. Es geht aus diesem Satz nicht klar hervor, aus welchem Grund Baha Tevfik Friedrich Albert Lange für einen Materialisten hält, hatte dieser doch seine umfassende Geschichte des materialistischen Denkens zugleich als eine Kritik auf deren Kernprämissen konzipiert. Vgl. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Leipzig: J. Baedeker, 1887.
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BAHA TEVFIK
zu bringen. Entsprechend meint der weise Moore, dass das Verbreiten einer neuen Idee unter den Menschen gleich gefährlich sei, als wenn man sich vor eine feuerbereite Kanone werfen würde. Das ist wahr. Für Menschen gibt es nämlich keinen größeren und reißenderen Feind als die Unwissenheit (djehālet). Denn wenn man ernsthaft nach den Ursachen für alle Übel in der Welt suchte, wäre die Unwissenheit die erste dieser Ursachen, die entdeckt würden. [3] Unsere Arbeit ist daher eine Kampfansage an die Unwissenheit und zugleich ein Bemühen, sie zu besiegen. Unsere Devise ist dabei nicht der oben genannte Satz von Moore, sondern folgender Ratschlag Voltaires, der von universalem Wert ist: «Die Wahrheit muss immer und überall ausgesprochen werden. Dafür gibt weder einen bestimmten Zeitpunkt noch einen bestimmten Ort.»
Mekteb Dersleri
مكتب درسلري Schullektionen Baha Tevfik in Auszügen übersetzt von Enur Imeri Was ist Philosophie?
Definition der Philosophie sowie ihre Relevanz, ihr Nutzen, Zweck, Gegenstand und ihre Überlegenheit gegenüber anderen Wissenschaften [1] Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen. Begegnet er etwas Unbekanntem, so wird er durch die dadurch hervorgerufene Unruhe zum Erforschen animiert und durch das Erkunden des Unbekannten verwandelt sich diese Unruhe in ein Glücksempfinden. Die Wissenschaft (ʿilm) ist aus ebendieser Unruhe hervorgegangen. In der Geschichte ist als Erstes eine Wissenschaft entstanden, die das gesamte Universum auf eine unvollständige und dunkle Art und Weise umfasste. Diese hat sich danach durch Aneinanderreihung [der ersten Er300
MEKTEB DERSLERI
kenntnisse, EI] und Fortschritt weiterverbreitet und sich allmählich in verschiedene Richtungen verzweigt. Diese Disziplinen verfügen nun über voneinander abtrennbare, eigene Untersuchungsgegenstände und Grenzen. Da der Mensch aufgrund seines Unvermögens nicht imstande ist, einen breitgefächerten Untersuchungsgegenstand auf einmal vollumfänglich zu analysieren, hat sich diese Verzweigung als notwendig erwiesen. Dies ist nicht nur nützlich, sondern es kommt aus der Sicht der Forscher der Naturbetrachtung gleich. Keine dieser Wissenschaften kann den Willen des Menschen zum Wissen vollständig befriedigen. Durch den Fortschritt von einer Methode zur nächsten wird das menschliche Wissen stets vor neue Fragen gestellt. Schließlich begegnet er einer einzigen Frage, die den allgemeinsten Sinn des gesamten Universums einschließt. Entweder schreitet man bis zu dieser Frage voran oder man bleibt bei der halben Erleuchtung stehen; es gibt nur diese beiden Optionen. Wenn es nicht schändlich ist, stehenzubleiben, so wäre es auch nicht lächerlich, bis zu dieser Frage voranzuschreiten. Die einzelnen, voneinander nur scheinbar getrennten Wissenschaftsdisziplinen stellen nicht bloß verschiedene einzelne Teile dar, die voneinander getrennt und frei von jeglicher Harmonie wären. Vielmehr bestehen zwischen diesen einige offensichtliche und geheime Verbindungen, die diese Einzelteile zu einer Einheit zusammenfügen. Aus genau diesem Grund haben die verschiedenen Problematiken (mesʾeleler) einander notwendigerweise hervorgebracht. Der Mensch ist bestrebt, neben sämtlichen partikulären Wissenschaften auch eine Allgemeinwissenschaft (ʿumūmī ʿilm) zu haben, die ihrerseits über andere partikuläre Wissenschaften befindet und mit Hilfe der Allgemeinheit ihrer Betrachtungsweise, die Einheit des Universums zu begründen versucht. Dass dies möglich ist, wird mittels der Vernunft erfasst. Denn sie zeigt ihr Bedürfnis nach und ihren Willen zu etwas, das ihr summarisch alle einzelnen Wissenschaften lehrt, sobald sich die Vernunft ihres Unvermögens, alle diese Wissenschaften vollständig und vollumfänglich zu beherrschen, bewusst wird. In jeder Epoche sind viele Intellektuelle bestrebt gewesen, diese [allgemeine, EI] Wissenschaft (ʿilm) zu finden. Nun machen genau diese Bemühungen die Philosophie aus. Die erste, noch vor Sokrates entstandene Denktradition trug diesen Namen. Sokrates hatte seinerseits, in Anlehnung an das Dogma (iʿtiqād), gemäß welchem die wahre und letzte Ursache der Dinge der Intellekt (ḏekāʾ) ist, 301
BAHA TEVFIK
erkannt, dass die Erforschung (tedqīq) der intellektuellen (ḏekāʾiyye) und freien Natur des Menschen viel besser als sämtliche Einbildungen der Altvorderen ist, und er brachte so die Philosophie auf die Erforschung des Menschen (tedqīq-i insān) zurück. [2] Genauso wie Aristoteles definierte auch Descartes die Philosophie als die Wissenschaft der ersten Prinzipien und Ursachen. Auch wenn es zahlreiche diverse Definitionen der Philosophie gibt, sind allen diesen der umfassende Charakter und der Hang zur Verallgemeinerung gemeinsam. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Philosophie eine Wissenschaft der Wissenschaften (ʿilm al-ʿulūm) und eine erste Wissenschaft (ʿilm el-ewwel) ist. Kurzum: Die Philosophie wird so zur Wissenschaft des Denkens. Sie lehrt das Denken. Daraus folgt, dass alle Dinge, die über alle allgemeinen und umfassenden Wissenschaften hinausgehen und so das Sein (wudjūd) und Wissen vollständig umfassen, den Gegenstand der Philosophie darstellen. Es gibt zwei Seiende, die das gesamte Sein zu begreifen fähig sind und zu ihr gehören, obwohl sie die philosophische Betrachtung nicht gänzlich einschließen: Es sind dies die Natur (ṭabīʿat) und der Mensch (insān). Das erste Prinzip sowie das Fundament und der Schöpfer eines jeden Seienden ist die Natur; dies ist selbstverständlich. Wer sie [d.h. die Natur, EI] erkennt, erkennt die Prinzipien und Ursachen von allem. Der Mensch ist hingegen das Zentrum des Wissens (ʿilm). Denn alles, was in den Kreis unseres Wissens fällt, ist seiend, und was außerhalb dieses Kreises bleibt, ist nichtseiend. Gemäß uns ist alles, was seiend ist, dem Grad unseres Bezugs dazu und den Gesetzen unseres Denkvermögens entsprechend seiend. Da die Festlegung unserer Kräfte der einzige Schlüssel zu deren Praxis ist und da für uns jenseits dieser Praxis nichts ist, liegt die Basis für jede Wahrheit und jede Humanwissenschaft (ʿilm besherī) im Wissen (maʿrifet) über die menschliche Wahrheit (ḥaqīqiyye-i besher). Wenn die Denkinhalte des menschlichen Intellekts erforscht werden, so wird man sehen, dass unsere Gedanken neben ihrer für konkrete Formen empfängliche Materie auch gewissen, eine abstrakte Allgemeinheit beinhaltenden Gesetzen unterworfen sind, und dass diese Gesetze nicht nur auf den logischen Vernunftgebrauch, sondern auf jegliche Gedanken Anwendung finden. 302
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Die Logik ist eine Wissenschaft, weil sie die definitiven Gesetze (qawānīn-i qaṭʿiyye) des Vernunftgebrauchs lehrt. Des Weiteren ist sie auch eine Kunst (ṣanʿat), weil sie die für die Erkundung der Wahrheiten notwendigen Schritte und die dabei zu befolgende Methode (meslek) lehrt. Die Handlungskräfte des Menschen sind in demselben Grad unabänderlich, und sie sind ebenfalls gewissen notwendigerweise geltenden, durch die Änderung der Umstände nicht veränderbaren Gesetzen unterworfen. Daraus ergibt sich das Ziel der Ethik (akhlāq). Diese besteht darin, die die ordentlichen Handlungen eines jeden freien Handelnden bestimmenden [3] Gesetze erstens in allgemeiner Weise festzulegen, und, zweitens, diese Gesetze auf die partikuläre Lebenssituation der Menschen in dieser Welt anzuwenden. Aus dem Gesagten folgen die Zweige der Philosophie: So beinhaltet die Psychologie zusammen mit der Naturwissenschaft die allgemeinsten Regeln des Denkens. Die Ethik (akhlāq) beinhaltet hingegen die Logik und die allgemeinen Gesetze der Freiheit. Allerdings vermögen diese Wissenschaften zusammen nicht die Philosophie zu definieren. Keine Einzelwissenschaft alleine macht die Philosophie aus. Vielmehr stehen diese genannten Wissenschaften hinsichtlich ihres Ranges ganz oben und die Bereiche, die sie umfassen, sind dementsprechend weit. Dennoch gehören sie aufgrund der Breite ihres Gegenstandsbereichs der Philosophie an. Die Teile der Philosophie sind nicht einer willkürlichen Gliederung gemäß entstanden. Vielmehr sind sie das Produkt einer unwillkürlichen Verbindung und Einteilung. Da die Natur hinsichtlich ihres Seins (wudjūd) ewig ist, scheint es notwendig zu sein, dass bei der Klassifizierung (taqsīm) der philosophischen Wissenschaften (ʿulūm-i felsefiyye) die Naturwissenschaft (ʿilm-i ṭabīʿa) ganz vorne liegt. Seit jeher haben sich die Philosophen vor allen anderen Dingen bemüht, sich auf die Stufe des Prinzips des Seins zu begeben, um von dort aus Schlüsse über das Universum zu ziehen. Dieser Vorgehensweise ist verlockend, großartig und für die Erforschung unserer Vernunft passend. Allerdings ist sie leider nicht praktizierbar, oder ihre Praxis birgt viele Gefahren. Es gibt zahlreiche Wissenschaften, die der Mensch nicht nur praktiziert, sondern in denen er zugleich Objekt und Zweck dieser Wissenschaften ist. Alle diese Wissenschaften variieren jedoch im Hinblick auf ihren Blickwinkel, von dem aus sie den 303
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Menschen studieren. Beispielsweise gibt es die Rhetorik (belāghat), um den Menschen anzuregen und zu überzeugen, die Geschichte erforscht die Entwicklung der gesamten Menschheit in Zeit und Raum, während die Sozialwissenschaft die Gliederung der Gesellschaft thematisiert. Des Weiteren erforscht die Rechtswissenschaft die Rechte und Pflichten des Menschen. Jede einzelne dieser genannten Wissenschaften ist auf die menschliche Natur bezogen und charakteristisch für das Wissen um die Seele. Ist es denn beispielsweise nicht notwendig, die Veranlagung (fiṭra) sowie die Affektionen (meyelān) und die Leidenschaften des Menschen zu kennen, um ihn zu etwas anzuregen oder zu überzeugen? Usw. usw. […] Entweder müssen diese genannten Wissenschaften an die Psychologie (ʿilm-i nefs) gebunden sein oder sie sind mit der Materie verstrickt. Die Applikation dieser Wissenschaften auf die Psychologie (rūḥiyyāt) ermöglicht ihre Befreiung, und die kleinste Abweichung davon bedeutet ihre Nichtigkeit. Es gibt eine weitere Gruppe von Wissenschaften, wie beispielsweise die mathematischen und exakten Wissenschaften, die scheinbar vergleichsweise weniger von der Philosophie dominiert werden. Es wird vermutet, dass diese Wissenschaften eine Autonomie besitzen. Tatsächlich sind es die Stärke ihrer Methoden sowie die Pracht ihrer Resultate, welche diesen Anschein wecken. Allerdings stammen diese Methoden aus nichts anderem als aus dem guten Vernunftgebrauch und aus dessen Inhalten. Auch wenn die Natur und der Mensch unterschiedlich sind, stellt sich die Frage, ob es nicht doch der Mensch ist, der die Natur erforscht und erkundet und auf diesem Wege seinen Intellekt nach seinen Gesetzen [4] gebraucht. Tatsächlich ist es möglich, ohne die Kenntnis des Intellekts zu handeln, wie es beispielsweise für das Gehen nicht erforderlich ist, die Muskeln und Knochen zu kennen. Ist aber einer, der sowohl bei körperlichen als auch bei intellektuellen Handlungen das entsprechende Wissen besitzt, nicht vortrefflicher gegenüber jemandem, der nicht über ein solches Wissen verfügt? Doch ein solcher Mensch ist bei der Erkundung der Geheimnisse der Dinge eben weiter. Auch hinsichtlich des Erklärungswegs ist er ein Schritt weiter. In den Naturwissenschaften erklärt der menschliche Intellekt das Universum. Die Philosophie erklärt hingegen den menschlichen Intellekt. Daraus folgt, dass die Philosophie die Wissenschaft der Wissenschaften 304
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und die Erklärung der Erklärungen ist. Jede Wissenschaft stützt sich auf bestimmte grundlegende Informationen, welche in dieser Wissenschaft zwar erklärt und erwähnt werden, deren Prinzip und Wert jedoch in dieser Wissenschaft nicht deutlich gemacht wird, wie z.B. in der Mechanik die Kraft, in der Technik die Distanz usw. Die Philosophie umfasst alle diese Wissenschaften. In dieser Hinsicht beherrscht sie alle diese Wissenschaften dadurch, dass sie jeder einzelnen Wissenschaft ihre Prinzipien und Grundlagen verleiht. Das macht sie mithilfe der Psychologie. Mithilfe der Logik ordnet sie den Fortgang der Wissenschaften, legt deren Methoden fest und erforscht deren Resultate. Mithilfe einiger Theorien liefert sie [die Philosophie, EI] solchen Gesetzen eine theoretische Grundlage, die in den Wissenschaften nur in Verbindung mit praktischen Handlungen und der Empirie Anwendung finden. Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Philosophie dank der Ranghoheit ihres Themengebiets unter den Wissenschaften den ersten Rang einnimmt. Nun wird die Bedeutung solcher Ausdrücke wie «Philosophie der Mathematik» (felsefe-i riyāziyyāt) oder «Rechtsphilosophie» (felsefe-i ḥuqūq) klar. Denn wenn etwas Bestimmtes eine Wissenschaft zu der Stufe der bestimmten Themen erhebt und ihr dadurch deren gemeinsame Grundlage (usus-i mushtereke) liefert, aus dem jeder Wissensinhalt stammt, und es somit die höchsten Ursachen dieser Wissenschaft erklärt, so wird dieses Etwas zur Philosophie dieser Wissenschaft. Das menschliche Wissen (maʿrifet-i besheriyye) ähnelt einem Acker, auf welchem die Natur durch die Variation des Felds und der Ernte in einige Abschnitte eingeteilt worden ist. Jeder einzelne dieser Abschnitte stellt eine partikuläre Wissenschaft dar, und jeder einzelne hat einen Bewohner, der diesen Acker kultiviert. In der Mitte [dieses Ackers, EI] gibt es eine Erhebung, vom welcher aus das ganze Feld samt dem Grenzverlauf der Abschnitte gesehen wird, ohne dabei die Details eines jeden Abschnitts zu erforschen und zu unterscheiden. Von dort aus erwachsen Strömungen, die jeden Abschnitt zum Wachsen bringen. Die Philosophie will genau dorthin aufsteigen, um die Bemühungen der menschlichen Vernunft zu beobachten und bei Bedarf zwecks Bereinigung die Quellen jener Bemühung zu entdecken. ― Fortsetzung folgt ―
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Die Wahrheitsmethoden der Philosophie ― Fortsetzung ― [9] Philosophie ist Ausdruck eines wahren, andauernden und legitimen Bedürfnisses der menschlichen Vernunft. Das benötigt keine weitere Rechtfertigung. Es kann jedoch bisweilen vorkommen, dass sie von ihrem Weg abkommt und die Zwecklosigkeit (boshluq) eines ihrer Versuche sie in einen zeitweiligen Zustand der Vertrauenslosigkeit versetzt. Weiter ist es auch möglich, dass sie, unzufrieden mit ihrer Vergangenheit und hoffnungslos hinsichtlich ihrer Zukunft, ihr eigenes Unvermögen postuliert. Einerseits steckt hinter diesem verständlichen Eingeständnis des Unvermögens eine Philosophie. Andererseits unternimmt der Intellekt, nach kurzen Phasen der Mutlosigkeit und durch Hingabe an die Brisanz der Sache, unzählige Neuversuche, und er steigert jedes Mal seine Kraft und hält ewig an seinem Bestreben fest. Was das allgemeine Prinzip der Philosophie betrifft, so ist sie keine partikuläre Wissenschaft mit einem bestimmten Untersuchungsgegenstand, sondern die Wissenschaft von allen Untersuchungsgegenständen zugleich. Sie dient keiner einzigen Sache direkt, sondern allen Sachen auf allgemeine Weise. Für den Einfluss der Vernunft auf sich selbst ist diese Bemühung eine Art Gymnastik, welche alle Kräfte der Vernunft verstärkt. Sie provoziert, im Unterschied zu partikulären Wissenschaften, nicht den Einsatz einer bestimmten Kraft zu Ungunsten einer anderen. Sämtliche Kräfte erlangen vielmehr von der Philosophie Beständigkeit, Richtung und Stabilität. Die Philosophie lehrt nicht die eine oder andere partikuläre Sache. Sie lehrt das Denken. Sie lehrt, den Ursprung von allem zu suchen, alles vertieft zu untersuchen sowie klar und deutlich zu sehen und genauso darzulegen. Kurzum: Sie erzieht kompetente und ausgezeichnete Individuen. Sie verleiht der Seele Lebhaftigkeit. Wenn es notwendig ist, einen absoluten Nutzen der Philosophie anzugeben, so genügt es, den Nutzen der Logik für das richtige Denken und der Ethik (akhlāq) für das richtige Handeln zu nennen. [10] Die Psychologie (rūḥiyyāt) ist ebenfalls nicht aus bestimmten Forschungen heraus entstanden. Auch sie hat ihren charakteristischen Nutzen. Erstens liefert sie der Logik sowie der Ethik (akhlāq), der Theologie (ilāhiyyāt) und den übrigen Wissenschaften ihre Grundlagen. Zweitens lehrt sie diejenigen Wörter und deren richtige Bedeutung, welche 306
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die Handlungen und die diversen Zustände der Seele bezeichnen und einen wichtigen Bestandteil einer jeden Sprache darstellen. Kurzum: Die Ruhe der Seele in diesem Leben ist abhängig von der tiefen Gewissheit bezüglich der Vermögen der Menschheit. Es ist ein Bedürfnis der widerspenstigen Gedanken, die Überzeugungen an Theorien und logische Urteilsfindungen zu knüpfen. In der Befriedigung dieses Bedürfnisses liegt nun der Nutzen der Philosophie. Das erste Analysefeld der Philosophie stellt der Mensch dar. Dieser erkennt sich selbst dadurch, dass er in seiner Wachsamkeit stets mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen vertraut wird. So erkennt er diejenige Sache, die er fühlt und begreift, und er bringt dies zum Ausdruck. Um die verschiedensten Zustände der menschlichen Natur zu bezeichnen, gibt es in der Alltagssprache viele Ausdrücke, die tagtäglich in verwerflichsten und anstößigsten Zusammenhängen gebraucht und von jedem verstanden werden. Diese ständige Vertrautheit des Menschen mit sich selber ist ein natürliches Instrument für sämtliche wahre Wissenschaften, welche die Ausformungen der Menschheit erforschen. Nichts anderes kann dieses natürliche Instrument ersetzen. Es geht nicht darum, diese Vertrautheit in einen wissenschaftlicheren Zustand zu bringen, sondern darum, dem Menschen seine Verworrenheit zu nehmen und seine Zweifel zu bestimmen. Da die Bewegungen des Denkens und die Gefühle der Seele veränderlich und flüchtig sind, muss man vorsichtig vorgehen und – bei deren Aufkommen in einem bestimmten Zustand – in erster Linie die auffälligsten von ihnen und dann deren feine Staffelung registrieren. So kann das Leben, diese dunkle unklare Empfindung, zu der Stufe einer wissenschaftlichen Erkenntnis erhoben werden. Der Gewissheitsgrad der Informationen wird am Grad ihrer Fundierung durch eine Grundlage gemessen. So kann es [das Leben, EI] in dieser Hinsicht auf eine vorzügliche und aufgeklärte Art und Weise enthüllt werden. Dieses Vorgehen wird Beobachtung (taraṣṣud) genannt. Das erste Geschäft der philosophischen Methode ist die Beobachtung oder genauer: die Selbstbeobachtung des Menschen. Nichts kann dies ersetzen. Die menschliche Natur kann sonst nicht mithilfe eines genialen Vermögens erfasst werden; sie kann weder erfunden noch vorgestellt werden. Vielmehr muss sie mithilfe ihrer Erscheinungsweisen, nämlich durch ihre Leidenschaften sowie ihre Ziele und Gedanken erklärt werden. 307
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Die Wahrheit, dass die philosophische Methode vor allen Dingen empirisch ist, ist identisch mit der Wahrheit, dass die Psychologie (ʿilm-i nefs) zugleich die erhabene Grundlage der Philosophie darstellt. Auch wenn man diese Wahrheiten schon immer gesehen hat, sind Jahrhunderte vergangen, bis man deren Relevanz klar und deutlich begriffen hat und sie auf eine gesunde Weise befolgt hat. Das menschliche Wissen hat sich erst neu von denjenigen Hypothesen befreit, welche die Natur sehr lange in ihrer Kindheit gefangen [11] gehalten haben. In Anlehnung an diese Tatsache soll die Beobachtung empfohlen werden und es sollen Maßnahmen für die Sicherstellung der Gesundheit der Beobachtung entwickelt werden. Es muss wiederholt betont werden, dass die Beobachtung einwandfrei sein muss. Sie soll, wann immer sie möglich ist, auch objektiv sein. Weiter darf ihr nichts hinzugefügt und nichts von ihr weggelassen werden. Dasjenige, was zu sehen ist, sollte vollständig gesehen werden, es darf jedoch nur das tatsächlich Seiende einbezogen werden. Die Dinge, die ordentlich dargelegt und summiert werden, stellen als erstes den Stoff des Wissens (ʿilm) dar. Das Wissen (ʿilm) kommt jedoch durch das Auffinden der diese Sachen hervorbringenden Ursachen sowie der dabei geltenden Gesetze und der Zwecke, denen sie dienen, zustande. Zu diesem Zweck müssen die Dinge verglichen und klassifiziert werden. Die Vielheit wird durch Einteilung derjenigen Dinge in bestimmte Klassen abgebaut, deren Eigenschaften dies zulassen. So wird dem Gedächtnis eine zusätzliche Last genommen und die Fundierung durch eine Ursache ermöglicht. Diese Ursache führt ihrerseits zur Entdeckung ihres nächsten Prinzips und somit zur Erklärung des Zwecks, dem sie dienen. So gebührt es, zuerst die Dinge zu gruppieren, sie dann entsprechend einer geordneten und auf grundlegenden Beziehungen basierenden Klassifizierung zu verteilen und schließlich die Ursachen und Gesetze – die alle auf ihren spezifischen Zweck zurückgeführt werden – und mithin die menschliche Natur umfassend zu erklären. Auf diese Weise kommt man zum zweiten Geschäft der philosophischen Methode, welche darin besteht, die Einheit der menschlichen Existenz herzustellen und diese Einheit stets ins Gedächtnis zu rufen. Diese Methode heißt Verallgemeinerung (taʿmīm). Die Verallgemeinerung folgt der Beobachtung, während die Zusammensetzung der Analyse folgt. Die Sicherheit des einen bestimmt die 308
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Sicherheit des anderen. Die Beobachtung muss vortrefflich und objektiv sein, während die Verallgemeinerung vorsichtig und behutsam sein muss. Wenn die Verallgemeinerung nicht der Beobachtung folgt, wird dadurch die Wissenschaftlichkeit verletzt und man befindet sich dann auf dem Feld des Hypothetischen. Wenn diese beiden Arbeitsweisen jedoch kooperieren, so führt dies unzweifelhaft zum Wissen über den Menschen. Eine Frage bleibt jedoch bestehen: Reichen die beiden Arbeitsweisen aus, um unser gesamtes Wissen zu erklären und unser Bedürfnis nach mehr Wissen zu befriedigen? Können die Prinzipien der Ethik (akhlāq) sowie die Gesetze der Logik die gesamte Natur wissenschaftlich hervorbringen?
Felsefe-i Ferd
فلسفه فرد Die Philosophie des Individuums Baha Tevfik in Auszügen übersetzt von Enur Imeri
Philosophische Themen Philosophie bei uns Inhalt: Der heutige Zustand der Philosophie bei uns – Die Untätigkeit unserer Gelehrten, die des Arabischen mächtig sind – Das Interesse der Istanbuler Jugend an der Philosophie – Das Interesse in der Peripherie – Was lässt sich bereits vorfinden? – Die Frage nach dem Nutzen der arabischen Philosophie – Früher gab es die griechische Philosophie. Was gibt es jetzt? – Die deutsche Philosophie – Wie sieht es aus in Frankreich? – Der Einfluss [Frankreichs, EI] auf die Philosophie sowie in der Literatur – Was sollen wir tun? Sollen wir sie akzeptieren oder zurückweisen? – Die Diener der Philosophie in unserem Land
[46] Wenn von Philosophie bei uns die Rede ist, dann schmerzt mir das Herz. Wenn ich nicht darum bemüht wäre, Anhänger einiger älterer Philosophen und deren Schulen nicht zu beleidigen, würde ich die Frage 309
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[nach dem Stand der Philosophie bei uns, EI] kurz und knapp mit «Es gibt keine Philosophie bei uns» beantworten. Wenn ich jedoch an diejenigen denke, die stolz auf die arabische Philosophie und auf einige fundierte Hypothesen einiger Schulen (ṭarīqat) sind, muss ich mein diesbezügliches Urteil verschieben. Vor vier Jahren gab es noch für sämtliche Missstände, ja sogar für die politischen Fehler sowie für die technische (fennī) Unwissenheit eine Entschuldigung und eine Ursache: die Despotie (istibdād). Die Verantwortung für alles Unvermögen und sämtliche Unvollständigkeiten wurde dieser erbärmlichen Despotie zugeschoben. Dabei kam es niemandem in den Sinn, dass die Despotie nicht die Ursache, sondern vielmehr das Ergebnis dieses Unvermögens war. Die Despotie hält euch von euren Pflichten nicht ab, im Gegenteil, ihr ruft durch euren fehlenden Eifer die Despotie hervor! [47] Tatsächlich wurde das soeben Gesagte bisher von niemandem ausgesprochen. Wie hätte man denn wissen sollen, dass eine solche Behauptung [d.h. die Rückführung allen Übels auf die Despotie, EI] gar nicht verleugnet und nach vier Jahren immer noch Anwendung finden würde!? Ich möchte mich in dieser Abhandlung davor hüten, zu dem eben genannten Vorwand Zuflucht zu nehmen, und möchte ihn überwinden. Kehren wir nun zur Philosophie zurück: Wie ist es denn um den aktuellen Zustand der Philosophie bei uns bestellt? Ich vermute, dass unseren Lesern dabei die Frage in den Sinn kommen wird, ob es denn nicht sinnvoller wäre, im Vorfeld zu wissen, was diese Philosophie ist, von der hier die Rede ist. So natürlich diese Frage ist, so eindeutig ist auch die darauf lautende Antwort: Die Philosophie (felsefe) ist die Wissenschaft (ʿilm) der Zukunft. In jedem Zeitalter und an jedem Ort sind die Wissenschaften (ʿilm we fenn) bis zu einem gewissen Punkt fortgeschritten und bestrebt und veranlagt gewesen, über [den Stand ihrer Zeit, EI] hinauszugehen. Das Feld, welches die Wissenschaften nicht erfassen können, ist das Feld des Hypothetischen (farziyye) und der Theorie (naẓariyye). Dieses wird Philosophie genannt. Wenn dem so ist, ist die Philosophie von gestern immer die Wissenschaft von heute und die Wissenschaft von morgen die Philosophie von heute. Nehmen wir diese Definition der Philosophie an, so ist nicht nur die Frage nach dem Zustand der Philosophie bei uns, sondern auch die Frage nach ihrem Beginn überflüssig! Wenn wir jedoch nicht so denken [d.h. 310
FELSEFE-I FERD
nicht von dieser Definition der Philosophie ausgehen, EI], sondern darauf bestehen, die Metaphysik und verwandte Disziplinen zur Philosophie zu zählen, dann gibt es meines Erachtens bei aller Rückständigkeit, die sich aus diesem Dazuzählen ergibt, doch einiges zu sagen. Wir baten unsere Gelehrten, die des Arabischen mächtig sind, darum, ja wir flehten sie sogar an, ihren Schatz, [48] von dem sie sich den Ausgleich unserer aller Mängel erhoffen, nun auszupacken. Wir haben jedoch nicht die kleinste Menge von dieser Güte von ihnen gesehen. Da dem so ist, ist es unser Recht, folgende Kritik auszusprechen: Entweder gibt es am Arabischen nichts, was als Philosophie gelten könnte, oder die Gelehrten, die des Arabischen mächtig sind, sind sehr untätig. Es gibt heute keine Entschuldigung dafür, nicht auf dem Feld der Philosophie tätig zu sein. Denn es ist beobachtbar, dass sich die jungen Menschen heute sowohl in Istanbul als auch in der Peripherie mit großer Begeisterung ernsthaften und besonders philosophischen Werken widmen. Entsprechend dieser Nachfrage muss auch das Angebot ausgebaut werden. Angesichts einer solchen Situation ist Tatenlosigkeit fehl am Platz. Die Not ist ein solch großer Antrieb, dass man dadurch imstande ist, die diese Not zu stillende Sache ausfindig zu machen, selbst wenn diese Suche mit zahllosen Hürden und Unannehmlichkeiten verbunden sein sollte. Lediglich die Nicht-Existenz einer solchen Sache [, die die Not zu beseitigen imstande ist, EI] oder deren Unzulänglichkeit für das Stillen des Bedürfnisses – wobei letzteres deren Nicht-Existenz gleichkäme – kann diesen Antrieb bremsen. Nachdem wir gründlich über diese Aspekte nachgedacht haben, gründeten wir die «Bibliothek der wissenschaftlichen und philosophischen Erneuerung (Tedjeddüd-i ʿilmī we felsefī kutubkhānesī)». Die zwölf bisher herausgegebenen Bücher haben großen Anklang gefunden. Es ist unter den Herausgebern Brauch, die Auflagen ihrer Publikationen geheim zu halten, weil sie Angst vor Konkurrenz haben. Demgegenüber legen wir unsere Auflagen offen und wollen so die Philosophiegelehrten (felsefe ʿālimlerī) zur Herausgabe anderer Werke animieren. [49] Denn allein durch die Herausgabe von zwölf weiteren Büchern kann nichts erreicht werden. In jeder Weltgegend sind Ethik und Sitten (akhlāq we ādāb) sowie die Gepflogenheiten und der Lebensstil und sogar der Habitus (mīzādj) der Bewohner von philosophischen Gedanken geprägt. Menschen, die bar jeglicher philosophischer Gedanken sind, leben zweifellos 311
BAHA TEVFIK
wie die Tiere, denn in ihrem Leben gibt es weder ein System noch eine Ordnung (intiẓām). Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist, dass sich bei jedem Volk (qawm) – selbst bei dem primitivsten – philosophische Gedanken finden lassen. Jedoch ist der bloße Besitz eines bestimmten Grades an philosophischen Ideen keine Errungenschaft und kein Vorzug an und für sich. Vielmehr müssen diese stets erneuert und vervollständigt werden. Insbesondere soll dabei versucht werden, praktische und wissenschaftliche (ʿilmī) Ergebnisse aus ihnen abzuleiten. Nach dieser Einleitung werde ich nun jene philosophischen Ideen analysieren, die in unserem Land verbreitet sind. Diese Ideen haben zwei Wurzeln: Erstens die arabische und zweitens die westliche Philosophie. Die arabische Philosophie kommt wiederum auf zwei Wegen zu uns: Der erste und wichtigste Weg führt über die Sufi-Gemeinschaften (ṭarīqāt) und der zweite über Übersetzer, wie die Übersetzer Abidin Pasha und Ankaravi des Masnawī [von Djalāl ad-Dīn Rūmī] sowie den Übersetzer der Fuṣūṣ [von Muḥyī d-Dīn ibn ʿArabī] und Sırrı Pasha, den Autor der Bücher Sirr-i Furqān und Sirr-i Insān […] Wir können nicht in aller Ausführlichkeit über diese Sufi-Orden sprechen. Das hat [50] zweierlei Gründe [die auf zwei unterschiedliche Erkenntnisarten zurückgehen, EI]: den [im Inneren erfahrenen] Zustand (ḥāl) und das über [diskursives Denken gewonnene, EI] Sprechen (qāl). Wir geben hier unsere Gedanken mithilfe des qāl wieder, d.h. unsere Methode und Logik sind – wenn man so sagen darf – die Methode der Dis putation (munāẓara). Demgegenüber ist nach Ansicht der Anhänger der Sufi-Gemeinschaften alles auf das Innere (bāṭinī) bezogen. Folglich können die Leute des qāl nicht reklamieren, dass wir keine Überlegungen über die Sufi-Gemeinschaften anstellen. Hingegen können die Leute der Sufi-Gemeinschaften unseren Umstand nachvollziehen und benötigen keine Erörterung […] Betrachten wir die Werke, die in vergangener Zeit aus dem Arabischen in unsere Sprache übertragen worden sind, so finden wir Muḥyī dDīn ibn al-ʿArabīs Fuṣūṣ an erster Stelle. Auch wenn die Sprache der Philosophie von Maulānā Djalāl ad-Dīn Muḥammad Rūmī Persisch war, unterscheidet sich seine Philosophie nicht von der arabischen. Dennoch ist seine Philosophie verständlicher, weil ihre Übersetzung reiner und um Erzählungen ergänzt worden ist.
312
FELSEFE-I FERD
[51] Über die Eigenschaften der Philosophie von Maulānā und Muḥyī dDīn ibn al-ʿArabī werden wir später ausführlich sprechen. Darüber hinaus gibt es einige weitere Abhandlungen wie ʾĀrā alMilel, wiederum von Sırrı Pasha, und einige Übersetzungen von Werken wie Milel wa Niḥel und Iṣlaḥāt-i Ṣūfiyye, deren Nutzen dem Nichts gleichkommt. Da sieht man den Nutzen, den wir von der arabischen Philosophie haben! […] Was die westliche Philosophie betrifft, so werden wir hier einen Halt machen. Denn nun sind alle Weltgegenden miteinander vereint worden. Eine Errungenschaft wird rasch in vielen Weltgegenden verbreitet. Die Philosophie der fortschrittlichen Völker dominiert, genauso wie ihre Literatur, über die Philosophie anderer Völker – ja erstere hat letztere vollkommen besetzt. Aktuell befinden wir uns in dieser Lage, denn wir sind den aus Europa kommenden philosophischen Strömungen ausgesetzt. Was sollen wir gegen diese Strömungen tun? Sollen wir sie ablehnen oder uns ihnen öffnen? Und was machen wir aktuell? Um diese Aspekte verstehen zu können, ist es nötig, die Art und Weise des Einflusses der Philosophie zu analysieren. Die Rede ist von der Art des Einflusses der Philosophie von einer Sprache auf eine andere und von einem Volk auf ein anderes. Ebenso wie die Literatur haben die philosophischen Ideen die Tendenz, in Gebiete einzudringen, [52] die sie als zugänglich vorfinden. Denn der menschliche Verstand ist wissbegierig. Er ist stets darum bemüht, die ihn umgebenden Dinge zu erkunden. Diese Geheimnisse können aber nur mit Wissen (ʿilm) und Kenntnis (maʿrifet) sowie mit Technik (fenn) und Empirie enthüllt werden. Dementsprechend ist in zivilisierten und fortgeschrittenen Ländern die Anzahl der Naturgeheimnisse im Vergleich zu den in dieser Hinsicht zurückgebliebenen Ländern eher gering. Die meisten dieser Geheimnisse werden dort enthüllt. So sind diejenigen Völker, die diese Angelegenheiten und diese Geheimnisse nicht durch eigenen Fortschritt zu enthüllen imstande sind, darum bemüht, die Resultate der Entdeckungen anderer Völker zu übernehmen. In diesem Sinne sagen wir, dass die philosophischen Ideen Einfluss auf die Gebiete ausüben, zu denen sie Zugang finden. Für das oben Gesagte können mehrere Beispiele angefügt werden. Früher pflegten die indische, persische und griechische Philosophie die gesamte alte Welt zu dominieren. Nach langer Zeit schließlich erloschen Persien und Indien. Demgegenüber glänzte Griechenland als ein Stern 313
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des Wissens und der Kenntnis auf. Dort stieg die Zahl der Entdeckungen und der empirischen Befunde. Die Philosophie der Griechen wurde nach allen Seiten hin verbreitet. Zahlreiche griechische Gelehrte und insbesondere Platon und Aristoteles nahmen den menschlichen Verstand unter ihren Einfluss. Sowohl die Neuplatoniker in Ägypten als auch die Philosophie der Scholastik in ganz Europa, und sogar die Ideen der Renaissance suchten nach der Schlichtung der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Platon und Aristoteles. [53] Descartes kam zu seiner Zeit mit denkerischer Entschlossenheit auf die Bühne und erweiterte mit seiner in dem Satz «Ich denke, also bin ich» enthaltenen Philosophie die Horizonte. Ganz Frankreich sowie ganz Deutschland und England wurden durch diese Philosophie erschüttert. In Frankreich fanden sich Leute wie Pascal, Bossuet, Fénelon, Malebranche und sogar der große Leibniz Deutschlands konnten sich vom Joch dieser göttlichen und spirituellen Philosophie nicht retten. Auguste Comte erzielte denselben Einfluss. Auch Kant wurde eine ähnliche Relevanz zuteil. Einige Zeit später wurde in England durch Bacon die erste Saat der positivistischen Methode ausgestreut, während Hobbes die Projekte der zeitgenössischen Soziologie auf eine meisterhafte Art und Weise darstellte und überall Gelehrte um die Übernahme dieser Lehren bemüht waren und dieselben Theorien überall diskutiert wurden. Wenn wir heute einen kurzen Blick auf die Philosophie werfen, so sehen wir, dass die Philosophien von Kant und Spencer allmählich einer technischen (fennī) und naturbezogenen Philosophie Platz machen. Frankreich breitet seine als «bewegende Idee» (muḥarrik fikir) übersetzbare Idée-force-Theorie aus. Schließlich macht Deutschland die materialistische (māddiyye) und naturalistische (ṭabīʿiyye) Methode in fast allen Weltgegenden bekannt. In letzter Zeit ersetzte die berühmte, in Frankreich durch Lamarck begründete und in England durch Darwin [54] vervollständigte Theorie die ursprünglich vom Propheten Moses gepredigte Schöpfungstheorie. In Deutschland belebten Figuren wie Feuerbach und Ludwig Büchner die in der Antike verwurzelte materialistische Philosophie mit großem Glanz wieder, während große Lehrer wie Ernst Haeckel und Lange diese Philosophie wiederum mit anderen Lehren in Verbindung brachten und sie als eine naturalistische Methode in neuer Weise der Allgemeinheit predigten. 314
FELSEFE-I FERD
Wir folgen einerseits diesen eben genannten wissenschaftlichen (fennī) Strömungen der Philosophie. Andererseits übernehmen wir die moralische und soziologische Lehre des deutschen Moralgelehrten Nietzsche. Jedes Volk begegnet einer neuen Lehre oft mit etwas Distanz. Aber dankenswerterweise gibt es diese Abwehrhaltung bei uns nicht. Denn wir können nichts anders, als diese Lehren so zu akzeptieren, wie sie sind. Um diesen Punkt erläutern zu können, ist es nötig, einen detaillierteren Blick auf die Personen zu werfen, die hierzulande die europäische Philosophie vermitteln. Diese Personen sind an erster Stelle Rıza Tevfik Bey und, der Reihe nach, Shehbenderzade Hilmi Bey, Fazıl Ahmed, Köprülüzade Fuad Bey 1 sowie einige Philosophieautoren aus Thessaloniki und Subhi Edhem. [55] Ist denn Rıza Tevfik Bey ein Philosoph? Das zu erörtern scheint mir ziemlich schwierig zu sein. Es ist notwendig, die Wahrheit auszusprechen, ohne dabei jemanden wirklich zu beleidigen und so wenig wie möglich Überheblichkeit an den Tag zu legen. Das Philosophentum (failūsūflūk) von Rıza Tevfik Bey ist sehr seltsam. Den Beinamen «Philosoph» hat er sich selbst verliehen, und diese Bezeichnung hat sich nach und nach in vielen Witzblättern durch Karikaturisten verfestigt. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass Rıza Tevfik Bey seine Literaturkritik in dem in der Despotie-Ära in Thessaloniki herausgegebenen Pamphlet «Çocuk Bahçesi» (Kindergarten) mit dem Pseudonym «Schüler der Weisheit Bākūns» unterzeichnete. Da es in der Welt der Philosophie keinen Philosophen namens Bākūn gibt, muss Rıza Tevfik Bey mit diesem Namen wohl den 1621 verstorbenen englischen Bacon (Beikīn) gemeint haben. Bacon wird im Englischen als «Bākūn» geschrieben, jedoch als «Beikīn» gelesen. Um Schüler der Weisheit eines Philosophen zu sein, ist es in erster Linie unerlässlich, dessen Methode und allem voran dessen Namen zu kennen. Rıza Tevfik Bey hat diesen Kenntnisstand niemals erreicht. Denn hätte er ihn erreicht, [56] so hätte er sich einem der großen Philosophen wie 1
Zu diesen Personen siehe Özervarlı, Sait: “Neue Richtungen in der Osmanischen Philosophie” in: Kügelgen, Anke von / Rudolph, Ulrich (Hg.) / Frey, Michael (Redaktor): Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 4: 19.-20. Jahrhundert, Basel: Schwabe, zu erscheinen 2018 (Grundriss der Geschichte der Philosophie).
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beispielsweise Spencer verschrieben und wäre nicht bei der fehlerhaften Philosophie Bacons stehengeblieben. Um den Sachverhalt unseren Lesern umfassender zu erläutern, werden wir einige Sätze zum Leben Bacons zitieren. «Bacon hat zur Zeit des Königs Jacob I. die Aufgabe des Großsiegelbewahrers inne und arbeitete, um die Gunst des Königs und Buckinghams zu erlangen. Schließlich wurde er aufgrund von unrechtmäßigen Geschäften vom Unterhaus angeklagt und zum Tod verurteilt [sic!].» Die englische Philosophie hat seit ihren Anfängen mehr Gewicht auf Experiment und Beobachtung als auf Vermutungen gelegt. Daher kann Bacon als einer der Vorläufer der heutigen positivistischen Philosophie angesehen werden. Man würde jedoch zu weit gehen, wenn man Bacon als den Begründer der experimentellen Methode in den heutigen empirischen Wissenschaften ansehen würde. Im Gegenteil ließen ihn die wissenschaftlichen Entwicklungen im 16. Jahrhundert seine Bücher schreiben. Daher hat dieser Philosoph nichts anderes getan, als die Arbeiten anderer zusammenzufassen und Schlüsse aus diesen Arbeiten zu ziehen. Bacon hat kein eigenes System und keine eigene Philosophie. Genauso wie Roger Bacon hat Rıza Tevfik Bey sich durch die Eigenschaft, gut darzustellen, hervorgetan. Aber auch dies war eine große Erneuerung, die in den Wissenschaften schon lange fällig war. [57] Bacon hat die Beobachtungsmethode einschließlich der Details sehr gut erklärt, er zog jedoch aus ihr andere Schlussfolgerungen. Aus diesen Zeilen geht hervor, dass Bacon zwar durchaus Respekt gebührt, aber keine Notwendigkeit besteht, ihm zu folgen. So zeigt Rıza Tevfik Bey mit seiner Loyalität gegenüber Bacon, der keine Gefolgschaft verdient hat und dessen Namen Rıza Tevfik Bey nicht einmal richtig aussprechen kann, mit der Verwendung der Unterschrift «Philosoph Rıza Tevfik» nicht nur seine Unwissenheit, sondern er bringt sich selbst dadurch in eine lächerliche Situation. Rıza Tevfik Bey hat kein einziges Buch geschrieben, das der Philosophie dienlich wäre. Manche seiner Abhandlungen sind zwar nützlich, aber diese Nützlichkeit ist nur punktuell. Ich habe einigen seiner Vorträge beigewohnt. Seine Äußerungen zur Philosophie sind ziemlich weit hergeholt und verworren. 316
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Mit alldem hat Rıza Tevfik Bey den Kindern der Heimat dadurch einen großen Dienst geleistet, dass er das Aufkommen einer wichtigen Wissenschaft (ʿilm) namens Philosophie angekündigt hat. Wir danken ihm deswegen. Dennoch sehe ich es als erwähnenswert an, offen zu sagen, dass ich mich nicht denjenigen anschließen kann, die ihn leichtfertigerweise als Philosoph bezeichnen. Davon abgesehen [58] sind meine Hochachtung und meine Verehrung für ihn von ewiger Dauer, und ich gebe gerne zu, bis jetzt von seinen endlosen Kenntnissen profitiert zu haben und ihn somit zu meinen Meistern zu zählen. Es hat jedoch verschiedene Gründe, warum ich ihn nicht als Philosophen ansehe: Erstens hat sich heute das, was Philosophie genannt wird, so sehr mit der Wissenschaft vermischt, dass es offensichtlich ist, dass diejenigen Individuen, die keinen Bezug zu wissenschaftlichen Entdeckungen haben, nicht imstande sind, einen neuen philosophischen Gedanken hervorzubringen. Allein durch die Lektüre und Nacherzählung des Buchs der Natur (!) [sic!] mithilfe einiger ziemlich realitätsferner und dunkler Theorien, wie es im Mittelalter üblich war, oder durch Überlieferung, Kommentierung und Interpretation der Positionen vorangegangener Philosophen kann niemand die Bezeichnung «Philosoph» für sich beanspruchen. Von nun an sind die Zeiten für die Klatschphilosophie (lāf felsefesī) vorbei und damit besitzen auch die Philosophien wie z.B. die von Descartes, Leibniz und Spinoza, in denen wichtige Wahrheiten allein durch Worte und durch die Gesetze der Logik ans Tageslicht befördert werden, nur noch einen historischen Wert. Zweitens gibt es heute in Europa keine Philosophen mehr, sondern nur noch Wissenschaftler (ʿulemāʾ) der Natur- und exakten Wissenschaften (ʿulūm-i ṭabīʿiyye we riyāḍiyye). Die geringschätzige Bezeichnung als Philosoph beanspruchen heute diejenigen, die sich mit Einbildungen und althergebrachten Irrtümern beschäftigen, die unter der Bezeichnung «Metaphysik» subsumiert werden und zum baldigen Niedergang verurteilt sind. Beispielsweise avancieren als solche hin und wieder Personen wie Paul Janet, [59] die durch Herausgabe vielbändiger Bücher die vorzügliche (!) [sic!] Bezeichnung als Philosoph zu verdienen sich vormachen, während sich unter solchen [die nach einem solchen Titel trachten, EI] keine Denker wie z.B. Lange, Haeckel, Bernard oder Darwin finden lassen. 317
BAHA TEVFIK
Was die Bezeichnung von Rıza Tevfik als Philosophen betrifft, beraubt es mich meiner Seelenruhe, ihm diesen herabwürdigenden Titel zu verleihen. Drittens kann man, auch wenn der Titel «Philosoph» für diejenigen reserviert ist, die den aktuellsten Stand der Wissenschaften (ʿulūm we funūn) erreicht haben, nicht umhin festzustellen, dass dieser Stand ausschließlich mithilfe einer ordentlichen Methode ans Licht gebracht werden kann und dass der Übergang vom Wissenschaftler (ʿālim) zum Philosophen nur durch eine solche Methode möglich ist. Heute werden diejenigen, die lediglich die tradierten Wissenschaften auswendig lernen, nicht einmal als Wissenschaftler (ʿālim), geschweige denn als Philosophen bezeichnet. Auch wenn Philosoph zu sein lexikalisch nicht den Besitz einer Methode suggeriert, beinhaltet dies semantisch genau das. Beispielsweise hat der Zoroastrismus in Iran das System des Dualismus entwickelt […] Alle diese Denker hatten ihr eigenes System und ihren eigenen Standpunkt, aus welchem heraus sie die Geheimnisse des Universums zu enthüllen und zu erklären versuchten. Hat denn Rıza Tevfik Bey eine solche oder ähnliche, vergleichbare Methode? [60] Vielleicht hat er eine gehabt, und sie ist manch einem bekannt. Mir will jedoch scheinen, dass er weder eine Methode besitzt noch sich einer bestimmten Richtung (meslek) verschrieben hat. Ist seine Methode materialistisch, spiritualistisch, oder gar intuitionistisch (khayālī)? Oder gar evolutionistisch, kreationistisch, finitistisch (fenāʾī), nihilistisch (ʿademī) oder infinitistisch (beqāʾī)? Dies konnte ich niemals in Erfahrung bringen. Rıza Tevfik Bey bekundete jedoch seinerseits, dass er Materialist sei, und legte seine Gedanken über die Religion sehr freimütig offen. Gleichzeitig hat er in den Moscheen Predigten gehalten, unterschrieb seine Schriften mit dem Pseudonym «Anhänger der erhabenen Ṭarīqa», und würdigte in einer Abhandlung die Lehre des Intuitionismus (khayāliyye), während er sie in einer Konferenz kritisierte. Wenn ich mich auf diese Fakten beziehe, vermute ich, keinen Irrtum zu begehen, wenn ich sage, dass ich bei Rıza Tevfik Bey keine Spur von einer Methode und einer Denkrichtung feststellen kann. Einige meiner Kritiker sagen zu den vorangegangenen Überlegungen: «Er [d.h. Rıza Tevfik Bey, EI] handelt nach den Bedürfnissen seiner Zeit.» Meines Erachtens heißt Wahrheitsliebender zu sein, sich in Wissenschaft (ʿilm) und 318
FELSEFE-I FERD
Wahrheit (ḥaqīqat) verliebt zu haben. Genauso wie man sich nicht gleichzeitig in zwei Frauen verlieben kann, so kann man nicht an etwas anderes denken, wenn man wahrhaftig in Wissenschaft (ʿilm) und Wahrheit (ḥaqīqat) verliebt ist. Schenkt denen keinen Glauben, die behaupten, sich gleichzeitig in die Wissenschaft und in das Leben verliebt zu haben! Die Liebe ist nur eine. [61] In ein und demselben Gehirn können nicht zwei aufrichtige Lieben zugleich herrschen. Ich vermute, dass meine klugen und aufrichtigen Leser das Fazit erschlossen haben. Wer wahrhaft verliebt ist, kann nicht an das Leben oder an sonst etwas anderes denken. Für ihn ist keinerlei Gefahr von Relevanz. Voltaire sagt: «Die Wahrheit muss immer und überall ausgesprochen werden. Dafür gibt weder einen bestimmten Zeitpunkt noch einen bestimmten Ort.» Fazit: Rıza Tevfik Bey ist ein ehrwürdiger Lehrer (muʿallim); er ist ein einzigartiger und fleißiger Sohn der Türkei. Des Weiteren ist er ein einzigartiger Publizist und ein einzigartiger Rhetoriker. Aber er ist keinesfalls ein Philosoph. Dies sage ich vor allem apologetisch sowohl für unseren ehrbaren Meister als auch für die Philosophie, und ich werde es weiterhin sagen. Shehbenderzade Hilmi Bey konnte nicht einmal so weit kommen. Mit seiner Abhandlung «Die wohlbekannte Wahrheit» (maʿhūd ḥikmet) vertrat er eine für die Jugend nicht zufriedenstellende Lehre. Mit seiner Erzählung «Iblīs Behmen» versuchte er die jungen Gehirne, die offen und bereit für den Empfang der positiven Wissenschaften (ʿulūm-i muthbit) waren, mit Märchen zu beschäftigen, in denen Feen in die sieben Stufen des Himmels emporfliegen. Mit der Herausgabe eines Buchs wie «Welche philosophische Schule sollen wir propagieren?» (Hangi meslek-i felsefiyyi terwīdj edelim) strebte er genauso wie Victor Cousin in Frankreich an, die Lehre des Eklektizismus (intikhābiyye) zu begründen, [62] um so Ruhm und Lob zu erlangen. Doch er scheiterte … Denn er attackierte ernsthafte Werke. Er maßte sich an, ein Naturgenie wie Ernst Haeckel der Lüge zu bezichtigen. Schließlich erntete er ebensowenig Respekt wie sein Ansehen. Heute schweigt er. […] Wenn er sich eines Tages wieder die Zerstörung der fortschrittlichen Ideen anmaßen würde, dann müsste er mit ideellen Rückschlägen rechnen! […] Es sind wiederum junge Leute, die der Philosophie dienen. Sie tun es in kleinem Umfang, dafür aber in einer beachtlichen Weise. Fāzil Aḥmad 319
BAHA TEVFIK
Bey, einer der Lehrer der Dār al-Muʿallimīn, hat sich bemüht, mit vielen Abhandlungen tragfähige Gedanken in unserem Land zu verbreiten. Subhi Edhem Bey bemühte sich seinerseits, diese Wissenschaft mit der Technik (fenn) zu amalgamieren und somit eine Grundlage für den Fortschritt zu schaffen. Seine Abhandlungen in der Felsefe Medjmūʿasī (Zeitschrift der Philosophie) mit dem Titel «Lamarck und Lamarckismus» sowie sein Werk «Darwinismus» sind Produkte ernsthafter Studien. So sind die Begründer der Philosophie bei uns keineswegs alte Gelehrte. Vielmehr ist es die Jugend.
320
UMSCHRIFT
Umschrift Für die Umschrift der arabischen, persischen und türkischen Namen und Begriffe im Fließtext sind die Geläufigkeit im Deutschen und die Aussprache ausschlaggebend. Als geläufig gelten im Duden verzeichnete und in den Informationsmedien verbreitete Begriffe, etwa «Scharia», «Ulema» und «Mohammed». Sie werden in einer der gängigen Schreibweisen wiedergegeben. In allen anderen Fällen dient im Arabischen die Hochsprache und im Persischen primär die heutige Aussprache als Kriterium. Das Türkische wird in der ihm eigenen Lateinschrift wiedergegeben, die 1928 eingeführt wurde. Bei Texten, die vor dieser Schriftumstellung verfasst worden sind, wird bei der Wiedergabe der originalsprachlichen Begriffe und in den Literaturangaben eine an die des Hocharabischen angelehnte Umschrift des Osmanisch-Türkischen verwendet. Aussprachehilfe Umschrift
Aussprache
Schriftzeichen
ʿ
ein Kehlpresslaut (er wird nur im Arabischen gesprochen, wurde hier aber im Schriftbild immer beibehalten)
ع
ʾ
Stimmabsatz, wie deutsch «be’inhalten»
ء
ā, ī, ū
Langvokale
ai
wie «Eimer»
ي
c (türk.)
dsch wie in «Dschungel»
ج
č ç (turk.)
tsch wie in «Tschechien»
چ
ḏ
engl. stimmhaftes th wie in «the»
ذ
ḍ
d, tief artikuliert
ض 321
AUSSPRACHEHILFE dj
dsch wie in «Dschungel»
ج
ei
wie engl. «eight»
ي
gh
stimmhaftes Gaumen-r wie in «Reihe»
غ
ḥ
ist ein h mit Kehlpressung
ح
kh
ch wie in «acht»
خ
q
k, tief und weit hinten artikuliert
ق
r
Zungenspitzen-r wie in ital. «tre»
ر
s
stimmlos wie in «Haus»
ص, س,ث
ṣ
s, scharf und tief artikuliert
ص
sh ş (turk.)
sch wie in «Schach»
ش
ṭ
t, tief artikuliert
ط
th
engl. stimmloses th wie in «thought»
ث
v
stimmhaft, wie «Wissen»
و
y
wie engl. «young»
ي
z
stimmhaft wie in «sieben»
ظ, ض, ز,ذ
ẓ
wie ein tief artikuliertes engl. th in «that»
ظ
zh
franz. j wie in «jour»
ژ
322
PERSONENINDEX
Personenindex ʿAbdarraḥmān, Ṭāhā (geb. 1944) 25, 26 ʿAbdarrāziq, ʿAlī (1888-1966) 66 Abdülaziz, Sultan (reg. 1861-1876) 232 Abdülhamid II., Sultan (reg. 1876-1909) 81, 199, 200, 232, 234, 235 ʿAbduh, Muḥammad (1849-1905) 36, 38-40, 68, 71, 86-90, 97, 100, 119, 120 Abowjan, Chatschatur (1809-1848) 124 Abraham, Prophet 169, 255 Abū l-Hodā [Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī] (1850-1909) 208 Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid (1943-2010) 66, 94, 119 Adham, Ismāʿīl Aḥmad (1911-1940) 49, 61-62 Afandī, Ahmad Asʿad (1830-1898) 209 Afghānī, Seyyed Djamāloddīn-e [Djamāladdīn al-Afġānī] (1838-1897) 43, 44, 46, 50, 54, 68, 70-77, 86, 87, 98, 119, 120, 122, 196, 199-204, 215-219 ʿAflaq, Michel (1912-1989) 68, 95-96 Aischa [ʿĀʾiša bint Abī Bakr] (um 613-678) 168, 169, 171-173 Ākhūndzāde, Mīrzā Fath ʿAlī-ye (18121878) 25, 34, 44, 49-54, 55, 91, 92, 112, 113, 121-195, 205 ʿAlā Zekrehī as-Salām (s. Esmāʿīlī) ʿAlī ebn-e Abī Tāleb [ʿAlī ibn Abī Ṭālib], Kalif (reg. 656-661) 144, 145, 172, 219 Aliye, Fatma (1862-1936) 234, 235, 256 Anṭūn, Faraḥ (1874-1922) 44, 88, 100-103, 114 D’Arcais, Paolo Flores (geb. 1944) 31 Ardakānī, Rezā-ye Dāvarī (geb. 1933) 25 Aristoteles (384-322 v. Chr.) 49, 51, 74, 83, 86, 89, 252, 266, 282, 302, 314 Arkoun, Mohammed [Muḥammad Arkūn] (1928-2010) 27 Aster, Ernst von (1880-1948) 17 Aurangzeb [Aurangzīb], Mogulherrscher (reg. 1658-1707) 133, 145 Averroes (1126-1198) 23, 28, 38, 41, 46, 82, 83, 86, 100-102, 261, 262, 265, 266 Avicenna (980-1037) 23, 82 181, 182, 210
Ayers, Alfred Jules (1910-1989) 109 Aykaç, Fāzil Aḥmad (Bey) (1884-1967) 319-320 al-Azm, Sadik Jalal [Ṣādiq Djalāl al-ʿAẓm] (1934-2016) 26, 49, 64-67, 114 Bacon, Francis (1561-1626) 314-316 Badawī, ʿAbdarraḥmān (1917-2002) 26 Bahreinī, Sheikh Ahmad-e (Sheikh Zeinoddīn Ahmad-e Ehsāʾī) (1753-1826) 165 Bajazitov, Ataulla (1846-1911) 43 Bakhīt, Muḥammad (1854-1935) 85 Balkhī, Sheikh Soleimān-e (gest. 767) 209 Bawānātī, Mohammed Bāqer-e (zw. 1814 und 1820-1892/3) 46, 231 Behdjat Bey 209 Bergé, Adolf (1828-1886) 128 Bernard, Claude (1813-1878) 299, 317 Bestuschew, Alexander A. (1797-1837) 124 Binswanger, Mathias (geb. 1962) 30 Bismarck, Otto Fürst von (1815-1898) 45, 212 Boddūh (eine Engelsgestalt) 206, 207, 213, 216 Bölükbaşı, Rıza Tevfik (Bey) (1869-1949) 315-319 Borhānoddīn, Seyyed (19. Jahrhundert) 205, 209, 220 Bossuet, Jacques Bénigne (1627-1704) 314 Browne, Edward Granville (1862-1926) 204 Büchner, Ludwig (1824-1899) 55, 314 Buckle, Henry Thomas (1821-1862) 124, 132, 142 al-Bustānī, Buṭrus (1819-1883) 47 Cevdet, Abdullah (1869-1932) 274, 275 Cevdet Pasha, Ahmet (1822-1895) 235, 277 Comte, Auguste (1798-1857) 35, 42, 314 Corbin, Henry (1903-1978) 9, 17 Cousin, Victor (1792-1867) 319 Darwin, Charles (1809-1882) 37, 59, 76, 78, 299, 314, 317 Dawānī, Djalāloddīn-e (um 1427-1502) 87 Derrida, Jacques (1930-2004) 21
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PERSONENINDEX Descartes, René (1596-1650) 281, 299, 302, 314, 317 Dewey, John (1859-1952) 110 Diderot, Denis (1713-1784) 273 Djabbāra, Ghabriʾīl (gest. 1878) 69 al-Djābirī, Muḥammad ʿĀbid (1935-2010) 28, 115 Djāmī, ʿAbdorrahmān-e (1414-1492) 51, 131, 136, 151 al-Djauharī, Ṭanṭāwī (1870-1940) 85 al-Djisr, Ḥusain (1845-1909) 68, 78-81, 84, 85, 98, 117 Draper, John William (1811-1882) 37, 38, 81, 84, 88, 116, 229, 235, 241, 242, 244, 256-261, 264-268 Dschingis Khan [Čingiz Khān] (gest. 1227) 148 Dubois, Paul (1848-1918) 290 Dwight, Henry Otis (1843-1917) 233 Edhem, Subhi (Ethem, Suphi) (gest. 1920/23) 270, 315, 320 Esmāʿīlī, Hasan ebn-e Mohammad ebn-e Bozorg-e Omīd-e [ʿAlā Zekrehī asSalām] (1125/6-1166) 51, 137, 138, 149, 165-167, 175-178, 181 al-Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad (um 870950) 77, 277 Fardīd, Ahmad-e (1909-1994) 9, 25 Fath ʿAlī Shāh, Qādjār (reg. 1797-1834) 133, 199 Fātih, Mehmet Sultan (reg. 1444-1446, 1451-1481) 70, 223, 224 Fāzil Aḥmad Bey siehe Aykaç Fénelon [François de Salignac de La Mothe-Fénelon] (1651-1715) 314 Ferdousi [Ferdousī] (940-1019/1025) 134, 163 Feuerbach, Ludwig 64, 136, 314 Fikrī, ʿAbdallāh (1834-1890) 69 Foucault, Michel (1926-1984) 21 Fuad, Beşir (1852-1887) 233, 273 Fuʾād Pāshā, Mehmed (1814/15-1869) 125 Fūda, Faradj [Foda, Farag] (1946-1992) 115 al-Ghazālī, Abū Ḥāmid (um 1058-1111) 9, 79, 111, 136, 210, 262, 266, 277
al-Ghazālī, Muḥammad (1917-1996) 115 Gaddafi, Muammar [Muʿammar alQaḏḏāfī] (reg. 1969-2011) 63 Gökalp, Ziya (1875/76-1924) 90 Gülen, Fethullah (geb. 1938 oder 1941) 118 Gülnār Hanım (s. Lebedewa, Ol’ga) Habermas, Jürgen (geb. 1929) 21, 30, 31 Haeckel, Ernst (1834-1919) 36, 55, 59, 272, 274, 275, 299, 314, 317, 319 Hampe, Michael (geb. 1961) 30, 115 Hanotaux, Gabriel (1853-1944) 87, 88, 97 Heidegger, Martin (1889-1976) 10, 22, 25, 26 Hilmi, Şehbenderzade Filibeli Ahmet (1864-1914) 315, 319 d'Holbach, Paul-Henri Thiry (Baron) (1723-1789) 273 Hugo, Victor (1802-1885) 274 Hume, David (1711-1776) 50, 106, 124 Ḥusain, Ṭāhā (1889-1973) 103, 120 Huxley, Thomas Henry (1825-1855) 69 Ibn ʿArabī, Muḥyī d-Dīn (1165-1240) 9, 24, 312, 313 Ibn Rushd (s. Averroes) Ibn Sīnā, Abū ʿAlī (s. Avicenna) Iqbal, Muhammad [Muḥammad Iqbāl] (1877-1938) 9, 29 al-Jabri, Mohammed (s. al-Djābirī) Janet, Paul Alexandre René (1823-1899) 281, 299, 317 Jesus Christus (Jesus von Nazareth, gest. um 30) 41, 96, 224 Kabīrolmolk, Mīrzā Hasan Khān-e (gest. 1896) 203 Kant, Immanuel (1724-1804) 9, 21, 62, 110, 314 Karakī, Sheikh ʿAlī-ye (1464-1533) 92 Kemal, Namık (1840-1888) 42, 90 Kermānī, Mīrzā Āqā Khān-e (1854-1896) 34, 44, 54, 68, 70-76, 119, 126, 127, 196, 197, 198, 199, 202-228 Khān, Sayyid Ahmad (1817-1898) 77 Khāṭir, Amīn Abū (1854-1922) 56 Kopernikus, Nikolaus (1473-1543) 32, 116, 150
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PERSONENINDEX Köprülüzade (Köprülü), Mehmet Fuat (1888-1966) 315 Koselleck, Reinhart (1923-2006) 23 Koyré, Alexandre (1892-1964) 17 Lahbabi, Mohammed (1923-1993) 119 Lalande, André (1867-1963) 17 Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet (Chevalier de) (1744-1828) 59, 314, 320 Lange, Friedrich Albert (1828-1875) 299, 314, 317 Laroui, Abdallah [ʿAbdallāh al-ʿArwī] (geb. 1933) 27 Lebedewa, Ol’ga Sergejewna (1854 bis nach 1909) 234 Le Bon, Gustave (1841-1931) 88, 116, 274, 275 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-1716) 281, 299, 314, 317 Lewis, Edwin (1881-1959) 40 Luther, Martin (1483-1546) 50, 89 Macfarlane, Charles (1799–1858) 273 al-Madanī, Sheikh Ẓāfir [Zāfer] (1828-1903) 209 Madjlesī, Mollā Mohammad Bāqer-e (um 1627 bis 1699/1700) 135, 183, 206, 212 Mahfuz, Nagib [Nadjīb Maḥfūẓ] (19112006) 9 Maḥmūd, Zakī Nadjīb (1905-1993) 100, 104, 108-112, 115, 120 Malebranche, Nicolas (1638-1715) 314 Marcuse, Herbert (1898-1979) 105 Maudūdī, Seyyed Abū l-Aʿlā (1903-1979) 97 Maẓhar, Ismāʿīl (1891-1962) 57, 78 Midhat (Efendi), Ahmed (1844-1912) 27, 34, 38-40, 43, 46, 68, 78, 81-86, 98, 229-255 Midhat (Sefik) Pasha, Ahmed (1822-1884) 230 Mīrzā, Djalāloddīn (1827-1872) 125, 126 Mīrzā, Shafīʿ (s. Vāzeh) Mismer, Charles (1832 oder /36/38-1904) 42 Moʿāwiye [Muʿāwiya ibn Abī Sufyān] (reg. 661-680) 219
Mohammed, Prophet (gest. 632) 32, 49, 50, 51, 62, 63, 73, 95, 118, 138, 139, 148, 155, 157, 158, 161, 162, 167-175, 179, 180, 182, 189, 215, 321 Moore, Thomas (1779-1852) 300 Moses, Prophet (2. Jahrtausend v. Chr.) 96, 158, 169, 190, 314 Mostashāroddoule, Mīrzā Yūsof Khān-e (1823-1895) 68, 90-92, 94, 119, 126, 128, 138 Motahharī, Mortezā-ye (1919-1979) 25 Münif (Mehmet Tahir) Pasha (1830-1910) 276 Mūsā, Salāma (1887-1958) 49, 57-59, 113, 120 Mushāqa, Mīkhāʾīl (1800-1888) 47 Nāseroddīn Shāh, Qādjār (reg. 1848-1896) 72, 92, 199, 203 Naṣṣār, Nāṣīf (geb. 1940) 26 Nasser, Gamal Abdel [Djamāl ʿAbd an-Nāṣir] (1918-1970) 97, 107 Nasr, Seyyed Hossein (geb. 1933) 24 Nāzemoddoule, Mīrzā Malkam Khān-e (1833-1908/9) 68, 92-94, 126, 138 Nebil, Ahmed (gest. 1945) 272 Newton, Isaac (1643-1727) 150 Nicolas, Alphonse L.M. (1864-1937) 205 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 22, 57, 59, 64, 103, 105, 272, 290, 315 Nimr, Fāris (1856-1951) 37, 68-69 Nordmann, Charles (1881-1940) 85 Nosrat, Mīrzā (1889–1937) 209 Odojewski, Alexander I. (1802-1839) 124 Özbe, Ufuk (geb. 1981) 94 Özsoy, Ömer (geb. 1963) 94 Öztürk, Mustafa (geb. 1965) 94 Pascal, Blaise (1623-1662) 314 Pétrarque (Petrarca), Francesco (13041374) 150, 151 Pfander, Karl Gottlieb (1803-1865) 39 Pius IX., Papst (Pontifikat 1846-1878) 37 Platon (428/7-348/7 v. Chr.) 49, 86, 252, 314 Popper, Karl (1902-1994) 28, 109 Puschkin, Alexander S. (1799-1837) 124 Pythagoras (um 570-510 v. Chr.) 251 al-Qaraḍāwī, Yūsuf (geb. 1926) 115
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PERSONENINDEX al-Qaṣīmī, ʿAbdallāh (1907-1996) 49, 63-64 Quṭb, Sayyid (1906-1966) 68, 97-99 Rabelais, François (gest. 1553) 67 Rahman, Fazlur (1919-1988) 94 Rashīdoddīn, Fazlallāh Hamedānī (12471318) 137 Reichenbach, Hans (1891–1953) 17, 105, 107 Renan, Ernest (1823-1892) 41-44, 50, 54, 86, 100, 101, 102, 103, 116, 124, 144, 146, 266 Reshid Pasha, Großwesir (1800-1858) 35 ar-Rezā, ʿAlī ebn-e Musā, der achte Imam der Zwölfer-Schia (gest. 818) 145 Rezā Pāshā, Yūsof (zweite Hälfte 19. Jahrhundert) 70, 197-201, 204, 206-208, 209-215, 220 Riḍā, Rashīd (1865-1935) 96, 97 Rıza, Ahmed (1858-1930) 36, 42 Rıza Tevfik Bey, s. Bölukbaşı Rūhī, Sheikh Ahmad-e (gest. 1896) 203 Rūmī, Djalāloddīn [Djalāl ad-Dīn] (12071273) 28, 51, 131, 136, 155, 158, 312 Russell, Bertrand (1872-1970) 105 as-Sādeq, Djaʿfar, der sechste Imam der Schiiten (um 700-765) 167 Sadrā, Mollā (Shīrāzī) (1571/2-1640) 23, 24, 25 Ṣarrūf, Yaʿqūb (1852-1927) 47, 68-69 as-Sayyid, Luṭfī (1872-1963) 103 Schopenhauer, Arthur (1788-1860) 229, 233 Shabestarī, Sheikh Mahmūd-e (1288-1340) 131, 136, 151 Sheikhorraʾīs, Abū l-Maʿālī (wahrscheinlich Abū l-Hasan Mirzā Sheikhorraʾīs-e Qādjār (1847/481917/18)) 70, 198-200, 209, 210-211, 215, 216 Shidyāq, Fāris (1805-1887) 47 Shumayyil, Shiblī (1850-1917) 36, 49, 55-57, 69, 86, 96 Simon, François (1814-1896) 103
Sırrı, Giritli Pasha (1844-1895) 312-313 Sokrates (469-399 v. Chr.) 61, 251, 301 Sorūsh, ʿAbdolkarīm (geb. 1945) 28, 29 Spencer, Herbert (1820-1903) 19, 36, 55, 314, 316 Spinoza, Baruch de (1632-1677) 51, 105, 155, 299, 317 Suhrawardī al-Maqtūl, Shihāb ad-Dīn Yaḥyā (1153-1191) 24, 210 Süleyman, Memduh (Wende 19. zum 20. Jahrhundert) 272 Tabarsī, Sheikh Saʿīd Abū Mansūr Ahmad-e (gest. um 1223) 144, 145 Tabātabāʾī, Mohammad-e Husain-e (gest. 1981) 25 Tabrīzī, Shams-e (1185-1248) 155 Ṭalha ibn ʿUbaidallah (gest. 656) 173 Tevfik, Baha (1884-1914) 25, 34, 49, 59-61, 113, 269-320 Thales von Milet (um 640-um 562 v. Chr.) 251 Tolstoj, Lew Nikolajewič (1828-1910) 103, 234 Triki, Fathi [Fatḥī at-Trīkī] (geb. 1947) 27 Tsankov, Dragan (1828-1911) 230 Tyndall, John (1820-1893) 69 ʿUmar ibn al-Khattāb, Kalif (reg. 634-644) 168 Vāzeh, Mīrzā Shafīʿ (1794-1852) 123 Voltaire (1694-1778) 50, 67, 76, 83, 124, 132, 144, 146, 150, 151, 229, 233, 274, 300, 319 White, Andrew Dickson (1832-1918) 37 Xénophone (Xenophon) (gest. nach 355 v. Chr.) 150, 151 Yahya, Harun (geb. 1956) 118 Zāfer, Sheikh (s. al-Madanī) az-Zahāwī, Djamīl Ṣidqī (1863-1936) 56 Zakariyya, Fouad [Fuʾād Zakariyyā] (1928-2010) 26, 100, 104-108, 114, 115, 120 Zeinoddīn Ahmad-e Ehsāʾī (s. Bahreinī) Zellossoltān, Alī Shāh (1796-1855/6) 133, 202
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