»Philosophie und Religion« – Schellings Politische Philosophie 9783495813508, 9783495488485


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Einleitung
1. Kapitel . Darstellungsprobleme
1. Der »Vorbericht«
2. Der Begriff der ›Darstellung‹
3. Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
2. Kapitel . Glaube und Anschauung
1. Das Programm der Nichtphilosophie
2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung
3. Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
5. Anschauung und Glaube
3. Kapitel . Absolutes und Abfall
1. Die Präambel
2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
3. Der Abfall als formelle Anforderung
4. Die Möglichkeit des Abfalls
5. Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
4. Kapitel . Tugend und Geschichte
1. Das Problem der Darstellung
2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
3. Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
4. Das Spezifische der menschlichen Freiheit
5. Der Begriff des Bösen
6. Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit
7. Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
8. Die Unsterblichkeit der Seele
9. Gott als Liebe
5. Kapitel . Politik und Religion
1. Eine neue Deduktion des Naturrechts
2. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
3. Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft
4. Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
5. Religion und Glaube
6. Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
Nachwort
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Forschungsliteratur
Namensregister
Sachregister
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»Philosophie und Religion« – Schellings Politische Philosophie
 9783495813508, 9783495488485

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7

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Ryan Scheerlinck

»Philosophie und Religion« – Schellings Politische Philosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813508

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B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Die vorliegende Untersuchung bietet die erste umfassende Auslegung von Schellings kontrovers beurteilter Schrift Philosophie und Religion. Ausgehend von Schellings Kunst der Darstellung und unter ständiger Berücksichtigung der Einwände Eschenmayers, auf welche diese Schrift zu antworten sucht, zeichnet die Arbeit die Grundlinien von Schellings Denken um 1804 nach. Besonderes Gewicht liegt dabei auf Schellings Ansichten zu Freiheit, Ethik, Geschichte und Politik. Dabei zeigt sich, dass die Grundthesen der sogenannten Identitätsphilosophie, anders als allgemein angenommen, durchaus mit der Lehre der Freiheitsschrift verträglich sind. Der Autor versucht Philosophie und Religion als ein Dokument Politischer Philosophie lesbar zu machen, indem er aufzeigt, dass der politische Charakter des schellingschen Denkens nicht erst in einer ausgearbeiteten Theorie des Politischen zu suchen ist, sondern vielmehr bereits in der Form der Darstellung reflektiert ist, durch welche Schelling unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches mitzuteilen und einer politisch brisanten natürlichen Ungleichheit Rechnung zu tragen vermag.

Der Autor: Ryan Scheerlinck, geb. 1976, studierte Philosophie und klassische Philologie in Löwen, Gent und München. 2014 wurde er mit vorliegender Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität promoviert. Er veröffentlichte zu Nietzsche, Schelling und Seneca in Interpretation, Schelling-Studien, Philosophisches Jahrbuch und Gymnasium.

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Ryan Scheerlinck »Philosophie und Religion« – Schellings Politische Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Philipp Schwab (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht)

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Ryan Scheerlinck

»Philosophie und Religion« – Schellings Politische Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48848-5

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

An die Freunde Schellings

Für Marcel Hermans (1935–2012)

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Vorwort

Dieses Werk ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Frühjahr 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Prof. Dr. Thomas Buchheim danke ich für die Betreuung dieser Arbeit und für die Gelegenheit, meine Gedanken in Seminaren und Gesprächen zu erproben. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ich jetzt schärfer sehe, was ich will. Den Mitarbeitern der Schelling-Kommission danke ich für manche Unterstützung. Den Herausgebern der Beiträge zur Schelling-Forschung danke ich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe und JunProf. Dr. Philipp Schwab für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Marcela García, Hannes Kerber, Marco Lass, Marco Menon und Yu Mingfeng sei für manches erhellende Gespräch, Detlef Kuschel, Jorinde Meyer und Johan Seminck für Aufmunterung und Erholung gedankt. Meinen Eltern, André Scheerlinck und Rita Hermans, sowie meinem Bruder, Timothy Scheerlinck, danke ich für ihr unerschütterliches Vertrauen. Tom Geboers, Detlef Kuschel und Marco Lass sei zudem herzlichst für die sprachliche Korrektur gedankt. Alle haben mir auf ihre Weise dabei geholfen, die Aktualität, d. h. Unzeitgemäßheit von Schellings Denken verstehen zu lernen. Für die mehr als großzügige finanzielle und seelische Unterstützung danke ich meinem Paten Marcel Hermans. Bedauerlicherweise hat er den Abschluss dieses Werks nicht mehr erleben können. Ihm ist die Arbeit gewidmet. Ryan Scheerlinck

München, 4. August 2015 IX https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Kapitel. Darstellungsprobleme . . . . . . . . . . . . . 1. Der »Vorbericht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der ›Darstellung‹ . . . . . . . . . . . . 3. Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren . . . . . . . . . . . . . . . 4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift 5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

. . . . . .

11 12 18

. . . . .

36 56 67

2. Kapitel. Glaube und Anschauung . . . . . . . . . . . . 1. Das Programm der Nichtphilosophie . . . . . . . . . 2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung 3. Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anschauung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

3. Kapitel. Absolutes und Abfall . . . . . . . . . . 1. Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten 3. Der Abfall als formelle Anforderung . . . . . 4. Die Möglichkeit des Abfalls . . . . . . . . . 5. Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . .

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. . . . .

1

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79 81 92

. 101 . 120 . 132 139 141 146 158 171

. . . . . 181

4. Kapitel. Tugend und Geschichte . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der Darstellung . . . . . . . . . . . . 2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube . . . . . . . . . . . . . . .

. . 211 . . 215 . . 220 . . 233 XI

https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Inhalt

4. Das Spezifische der menschlichen Freiheit . . . . . 5. Der Begriff des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte . . 8. Die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . 9. Gott als Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel. Politik und Religion . . . . . . . . . . . . 1. Eine neue Deduktion des Naturrechts . . . . . 2. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien 3. Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln . . . . . . . . . . . . 5. Religion und Glaube . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Aufgabe einer philosophischen Theologie .

. . 245 . . 257 . . . .

. . . .

281 288 307 320

. . . . 337 . . . . 340 . . . 362 . . . . 376 . . . . 385 . . . . 400 . . . . 407

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

429

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435 435 439

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

XII https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

Diese Arbeit nimmt ihren Ausgang von der auf den ersten Blick trivialen Feststellung, dass Schelling in keiner der von ihm veröffentlichten Schriften eine auch nur ansatzweise umfassende Darstellung des von ihm dennoch mit Nachdruck zum Zielpunkt aller Philosophie erklärten Systems gegeben hat. Stattdessen hat er dieses System immer nur bruchstückhaft dargestellt, sich zudem dazu stets wechselnder literarischer Formen bedienend. Gerade weil Schelling selbst immer wieder auf der Notwendigkeit eines Systems insistiert hat, scheint es nur zu naheliegend, das Bruchstückhafte und die Formenvielfalt als ein Indiz dafür zu nehmen, dass Schelling die anvisierte Darstellung seines Systems nicht hat gelingen wollen, um daraus auf eine Unzulänglichkeit des von ihm gewählten Systemprinzips zu schließen. Diese immer noch geläufige Ansicht ist am wirkungsmächtigsten durch Hegel formuliert worden, indem er erklärte, dass Schelling sich »in verschiedenen Formen und Terminologien herumgeworfen« habe, da »das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan« habe (GeschPh III, TWA 20, 422; vgl. GeschPh III, TWA 20, 445 f.). Diese Einschätzung, wonach Schelling mit jeder Schrift wieder von vorne angefangen habe, da er das anvisierte Ziel nicht zu erreichen vermochte, ist nicht nur nachweislich falsch, sondern zugleich auch am meisten dazu geeignet, die von Schelling mit seinen verschiedenen Darstellungen verfolgte Intention dem Blick vollends zu entziehen. Man legt damit an Schellings Schriften den Maßstab eines klaren und wohlgeordneten Schreibens an, wovon erst zu untersuchen wäre, ob er selbst ihm Gültigkeit zuzuerkennen vermochte. Dieser Maßstab führt zudem allzu leicht dazu, dass man allein schon die Form, um von demjenigen, was er durch sie zu vermitteln sucht, noch zu schweigen, als defizient beurteilt, ohne auch die eigentümliche, im

1 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

eigentlichen Sinne ›dialektische‹ Denkbewegung Schellings in ihrer Besonderheit wahrzunehmen. 1 Es verhält sich dennoch keineswegs so, dass Schelling es unterlassen hätte, seine Leser auf das Problem der Darstellung aufmerksam zu machen. Vielleicht am eindrucksvollsten erklärt er in einem Rückblick auf seinen bis dahin zurückgelegten Denkweg ausdrücklich, dass er »ein fertiges, beschlossnes System […] bis jetzt nie aufgestellt, sondern nur einzelne Seiten eines solchen, (und auch diese oft nur in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung), gezeigt« habe. 2 Als Grund für die Wahl dieser bruchstückhaften und einseitigen Darstellung gibt er an, dass ein »fertiges, beschlossnes System« sich nur als geeignet erweist, insofern man potentielle »Anhänger« zu erreichen beabsichtigt. 3 Daraus können wir schließen, dass Schelling bereits durch die Form, in welcher er sein System dargestellt hat, zu erkennen gibt, dass seine Schriften sich nicht in erster Linie an solche potentiellen Anhänger richten, sondern eher an solche Leser, die einer fertigen und abgeschlossenen Darstellung nicht bedürfen, da ihnen wenige Andeutungen genügen, um daraus das Ganze selbst zu erschließen. Diese einzige Erklärung muss an dieser Stelle als beispielhafter Beleg dafür genügen, dass Schelling auch mit der Form seiner Darstellungen eine bestimmte Absicht verfolgte, die genau bedacht sein will, wenn man der Sache seines Denkens auf die Spur kommen will. Am geeignetsten schien es mir deshalb, an der Auslegung einer einzelnen Schrift exemplarisch vorzuführen, wie Schelling gelesen sein will, und ich habe dazu die kleine Schrift Philosophie und Religion von 1804 gewählt. Mit derselben antwortete Schelling auf die 1803 von Adolph Karl August Eschenmayer veröffentlichte Schrift mit dem rätselhaften Titel Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nicht-Philosophie. 4 Darin hatte Eschenmayer den Versuch gemacht, Auch Werner Hartkopf, der eine instruktive Untersuchung zu Schellings Dialektik verfasst hat, vermag bei Schelling nur die Dialektik des Begriffs, nicht den in der Form eingesenkten dialektischen oder dialogischen Charakter von Schellings Denken wahrzunehmen (vgl. Hartkopf 1986). 2 Schelling 1809a, X / SW VII, 334. 3 Schelling 1809a, X / SW VII, 334. 4 Bislang liegt weder eine Monographie zum gesamten Denkweg Eschenmayers noch eine kritische Ausgabe seiner Schriften vor. Verwiesen sei hier auf Wuttke 1972; Jantzen 1994; Jantzen 2005; Florig 2010. Ferner Tilliette 1992, 479–484; Tilliette 1999, 133–151. Die Arbeit von Ralph Marks beschränkt sich auf naturphilosophische The1

2 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

in ständiger Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und insbesondere Schelling, eine eigene philosophische Position zu umreißen. Davon überzeugt, in wesentlichen Punkten mit Schelling übereinzustimmen, formuliert er gleichwohl an dessen Adresse einige kritische Bedenken, wonach gerade dessen System die Notwendigkeit einer Ergänzung des Erkennens durch den Glauben und eines entsprechenden Übergangs der Philosophie zur Nichtphilosophie offenkundig werden lasse. Noch bevor er Schelling die Schrift hat zuschicken können, hat dieser sie »schon lange gelesen und wieder gelesen« und auch bereits eine Antwort auf sie verfasst. 5 Diese erscheint Anfang 1804 unter dem Titel Philosophie und Religion. Bereits ihr Charakter als eine Antwortschrift dürfte kaum eine umfassende oder auch nur geschlossene Darstellung von Schellings System erwarten lassen. In der Tat zeigt sich bereits nach einer oberflächlichen Lektüre, dass Schelling mit dieser Schrift sich nicht nur »fast durchgehends« auf die Schrift Eschenmayers »bezieht«, so dass sein eigener Gedankengang sich ohne Kenntnis der eschenmayerschen Schrift kaum angemessen nachvollziehen lässt, sondern dass sie zugleich an frühere Schriften von Schelling selbst anknüpft. 6 Auf diese Weise fädelt die Schrift sich in ein Textgeflecht von erheblicher Komplexität ein und bildet sozusagen einen von mehreren Eingängen zu einem Labyrinth von unterirdisch miteinander kommunizierenden Texten. Auch sonst hat Schelling typischerweise durch eine Reihe von rhetorischen Kunstgriffen den Zugang zu dem in dieser Schrift verhandelten »Stoff« außerordentlich erschwert. 7 Der nicht ausreichend zugerüstete oder ungenügend aufmerksame Leser müsste sich an diesem ›Stoff‹ ›verbrennen‹, wenn Schelling nicht dafür Sorge getragen hätte, ihn mittels jener Vorkehrungen dem Zugriff zu entziehen. Solche und andere Probleme, die die Darstellung dem Leser bereitet, werde ich ausführlicher im ersten Kapitel erörtern. In den folgenden Kapiteln werde ich mir dadurch einen Zugang zu jener Konstellation zu verschaffen suchen, dass ich mich zunächst an die Auseinandersetzung mit Eschenmayer halte, um erst nach und nach auch andere

men, die in unserem Zusammenhang nicht unmittelbar relevant sind (vgl. Marks 1985). 5 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71. 6 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71. 7 Schelling 1804, III / SW VI, 13.

3 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

Texte einzubeziehen, damit die »höhere organische Verbindung« hervortritt, zu welcher sie gehören. 8 Es gibt aber auch spezifischere Gründe für die Wahl dieser Schrift. Wenn ich in dieser Arbeit immer wieder auf Eschenmayers Position und Einwände eingehe, dann geschieht dies nicht in erster Linie in der Absicht, einen in Vergessenheit geratenen Forscher zu rehabilitieren, sondern eher, damit die Sache, die in dieser Auseinandersetzung auf dem Spiel steht, nicht aus dem Blick gerät. Diese bestimmt Eschenmayer als das Verhältnis von Philosophie und Nicht-Philosophie, Schelling hingegen, mit einer bedeutsamen Verschiebung, als das Verhältnis von Philosophie und Religion. Ohne eine Einsicht in das, wofür Schelling eintritt, und ohne Klarheit darüber, wogegen er sich entschieden richtet, muss die eigentliche Intention seines Denkens unverstanden bleiben. Dies allein würde schon ausreichen, um Schellings Philosophie als Politische Philosophie zu bezeichnen. Dies kommt vielleicht am klarsten in Philosophie und Religion zum Ausdruck, indem Schelling bereits in der Einleitung dreimal hervorhebt, dass das Gelingen seines Unternehmens darüber entscheidet, ob es sich überhaupt lohnt zu philosophieren. Er scheint somit klar gesehen zu haben, dass Eschenmayers kritische Bedenken letztlich darauf hinauslaufen, dass das Philosophieren selbst gänzlich ohne Wert wäre. 9 Gerade für alle Fragen, die die Lebensführung betreffen, hatte Eschenmayer auf den Glauben verwiesen und der Philosophie jegliche Bedeutung abgesprochen. 10 Dieser Punkt war es auch, den Schelling »etwas härter [hatte] nehmen müssen«. 11 In dieser Auseinandersetzung treffen somit nicht bloß zwei unterschiedliche theoretische Ansätze aufeinander, sondern ihr liegt eine existentielle Alternative zugrunde. Nur insofern stellt die von Eschenmayer konturierte, wenn auch nicht in allen möglichen Verzweigungen ausgearbeitete Position eine Gegenposition im starken Sinne dar, eine grundsätzliche Alternative zu Schellings Entscheidung für die Philosophie. Gerade darin dürfte die eigentliche ›Auffoderung‹ liegen, durch welche Schelling sich zu einer Antwort auf Eschenmayers Schrift bewegen Schelling 1804, III / SW VI, 13. Vgl. Schelling 1804, 1–3 / SW VI, 16 f. mit Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49). 10 In diesem Zusammenhang dürfte es kaum zufällig sein, dass Schelling hervorhebt, dass es »Ein und derselbe Geist ist, der die Wissenschaft und das Leben unterrichtet«, und dass »weder Sittenlehre noch Sittlichkeit […] ohne Anschauung der Ideen« ist (Schelling 1804, 58 f. / SW VI, 53 f.; Herv. v. Verf.). 11 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72. 8 9

4 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

lassen konnte. 12 Im Laufe dieser Arbeit werde ich hin und wieder Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, dass diese Gegenposition nicht an die durch seine Denkkraft vielleicht nicht sonderlich beeindruckende Figur eines Eschenmayer gebunden ist, sondern insofern weit über diesen hinausreicht, dass sie jederzeit möglich ist, und dieser Auseinandersetzung somit exemplarische Bedeutung zukommt. 13 Insbesondere dürfte Eschenmayers Rekurs auf den Begriff des Glaubens Schelling dazu Gelegenheit gegeben haben, seine eigentlichen Adressaten, die ebenfalls für eine Ergänzung der Philosophie durch den Glauben einzutreten schienen, seinerseits dazu aufzufordern, sich über jene entscheidende Alternative Klarheit zu verschaffen. Ein weiterer Grund für diese Wahl ist folgender: Philosophie und Religion hat seit ihrem Erscheinen weder bei Anhängern noch bei Gegnern Schellings besonders großen Beifall gefunden. Auch heute löst die Schrift noch am ehesten eine gewisse Irritation aus, wenn man nach dem geringen Interesse urteilen darf, das man ihr in der Regel entgegenbringt. Bestenfalls werden die Darlegungen aus dem ersten und zweiten Abschnitt zur Erläuterung von Thesen herangezogen, die Schelling auch in früheren Schriften behauptet hatte. Sonst wird meistens nur noch an den berühmt-berüchtigten Begriff des Abfalls erinnert, der die »zentrale Aporie der Identitätsphilosophie« vollends aufbrechen lässt und einen Neuansatz unausweichlich zu machen scheint. 14 Jedenfalls hatten es so bereits Zeitgenossen Schellings wie z. B. Eschenmayer, Johann Jakob Wagner und Franz Berg empfunden. 15 Vermutlich würde die Mehrzahl der KommentaVgl. Schelling 1804, III f. / SW VI, 13. So meint Xavier Tilliette bei Eschenmayer »des prémonitions de Kierkegaard« wahrzunehmen (Tilliette 1992, 481). Auf diese Filiation können wir in dieser Arbeit nicht eingehen. Kierkegaard erwähnt Eschenmayer nur einmal, ohne dass daraus hervorgeht, ob er sich eingehend mit ihm beschäftigt hat (Kierkegaard 1844, 29). Bedeutsam ist allerdings, dass ein Forscher wie Karl Jaspers die Gegenposition Eschenmayers weiterschreibt (vgl. Jaspers 1955). Zwischen beiden gibt es zahlreiche Parallelen, was desto erstaunlicher ist, da Jaspers Eschenmayers Schrift nicht studiert zu haben scheint. Jedenfalls erwähnt er Eschenmayer in seinem Schelling-Buch kein einziges Mal. Er scheint somit aus eigener Kraft zu seiner Position gelangt zu sein. Zu vermuten ist indes ein Einfluss Kierkegaards. So heißt es an einer anderen Stelle, dass Schelling »erst entdeckbar [ist], wenn man von Kierkegaard kommt« (Jaspers 1931, 146). Im Laufe dieser Arbeit werde ich in der genannten Absicht wiederholt auf solche Parallelen hinzuweisen Gelegenheit haben. 14 So Tilliette 1992, 481. 15 Vgl. C. A. Eschenmayer an J. J. Wagner, 26. November 1804, Tilliette 1974, 161: »Dass Sie mit mir einsehen, dass Schelling sich durch die Idee des Abfalls eben so 12 13

5 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

toren diesem Urteil auch heute noch zustimmen. Im Gegensatz dazu hat Schelling in keiner seiner späteren Erklärungen zu dieser Schrift auch nur die leiseste Spur eines solchen Vorbehalts angemeldet. Vielmehr erklärt er, auf eine Weise, die angesichts der verbreiteten Auffassung, dass der unausweichliche Neuansatz sich spätestens, jedenfalls am unübersehbarsten in der Freiheitsschrift dokumentiert, geradezu in Erstaunen versetzen müsste, in der »Vorrede« zum ersten Band seiner Philosophischen Schriften, in welchem die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit zum ersten Mal erschienen, Philosophie und Religion nicht nur zu der ersten Schrift, in welcher er wenigstens einen Anfang damit gemacht hatte, »seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie« vorzulegen, während die Untersuchungen diesen jetzt »mit völliger Bestimmtheit« vorlegen sollen, sondern fügt dem hinzu, sich in derselben sogar »über Freyheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit u. s. w.« erklärt zu haben. 16 Damit hat er gerade jene Themen genannt, die man seit längerem als Indiz für den entscheidenden Durchbruch der Untersuchungen angesehen hat, da die Identitätsphilosophie gerade daran gescheitert sei, weder der Freiheit noch dem Unterschied zwischen Gut und Böse noch auch der Persönlichkeit auch nur ansatzweise gerecht werden zu können. Zwar ist in der Überschrift des dritten Abschnitts von Philosophie und Religion von der Freiheit die Rede, die Behandlung dieser Frage in dem Abschnitt selbst dürfte aber bislang nur selten als befriedigend empfunden worden sein. Ferner werden Gut und Böse höchstens beiläufig erwähnt, die Persönlichkeit sogar kein einziges Mal. Angesichts der derart offenkundigen Diskrepanz zwischen Schellings Erklärung und der Schrift, auf welche sie sich bezieht, scheint es naheliegend, auf die Annahme zurückzugreifen, Schelling habe hier ungeschickterweise versucht, dem Leser eine Kontinuität vorzutäuschen, für welche es jedoch in der Sache keinen Grund gibt, oder er habe sie sich vielleicht selbst vortäuschen wollen, da ihm der Fortschritt, den er mit der Freiheitsschrift gemacht hatte, noch nicht in seinem vollen Umfang und in allen seinen Konsequenzen zu Bewusstsein gekommen sei. Wie dem auch sei, bislang hat,

wenig aus der Verlegenheit rettet, als durch andere Versuche, freut mich sehr, aber es lässt sich entschuldigen, dass er vorher alle Arten der Auflösung versucht, ehe er den Knoten für unauflösbar annimmt«. Vgl. Wagner 1804, XXI, XXIV, XLI f.; Berg 1804, IV. 16 Schelling 1809a, IX / SW VII, 334; vgl. auch Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.

6 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

soweit ich sehe, noch niemand versucht, jene Erklärung ernst zu nehmen, oder in ihr eine Aufforderung gesehen, zu untersuchen, ob und wie Schelling sich über die genannten Themen in Philosophie und Religion erklärt hätte. Jedenfalls haben gerade Schellings – zugegebenermaßen sehr verklausulierten – Überlegungen zum Problem der menschlichen Freiheit, der Sittlichkeit, der Unsterblichkeit und der Religion, die nach seiner eigenen Erklärung den eigentlich neuen Beitrag jener Schrift darstellen, da er sich darüber vorher nicht mit aller Bestimmtheit geäußert hatte, bislang kaum Beachtung gefunden. Dazu müsste man sich allerdings auf die Annahme stützen, dass Schelling sich beim Verfassen sowohl von Philosophie und Religion als auch der Philosophischen Untersuchungen durchaus darüber im Klaren war, was er tat und was er dachte. Für den Kommentator brächte dies die Pflicht zur Bescheidenheit, wenn nicht sogar zur Demut mit sich, Schelling nicht besser verstehen zu wollen, als er sich selbst verstand. Was Eschenmayer betrifft, so lässt Schelling selbst keinen Zweifel daran bestehen, dass jener ihn in keinem einzigen Punkt so verstanden habe, wie er sich selbst versteht und wie er verstanden werden will. 17 Der Versuch, Schellings Erklärung einer grundsätzlichen Verträglichkeit der in beiden Schriften umrissenen Position als berechtigt nachzuweisen, führt fast zwangsläufig dazu, die geläufige Meinung anzuzweifeln, wonach es im Denkweg Schellings einen tiefgreifenden Einschnitt gibt, der am offensichtlichsten durch die Freiheitsschrift markiert werde und der einer Absage an das sogenannte Identitätssystem gleichkomme. Stattdessen werde ich für die Aufgabe des Begriffs eines ›Identitätssystems‹ eintreten, mit welchem sich inzwischen allzu viele Vormeinungen verbunden haben, die den Zugang zur Sache versperren und der auch überhaupt ungeeignet ist, die Eigenart der schellingschen Denkbewegung einzufangen. 18 Stattdessen Vgl. Schelling 1804, 4–8, 18–20, 24–28, 53–55, 59, 69, 74 / SW VI, 18–21, 27–29, 31–34, 50 f., 54, 61, 64. – Bei Gelegenheit einer späteren Auseinandersetzung bemerkt Schelling: »Das Bedauerlichste für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden zu haben und daß Sie die Versicherung des Gegentheils mir vielleicht als Anmaßung auslegen« (Schelling 1813b, 127 / SW VIII, 188). Dasselbe ließe sich vielleicht bereits für die Zeit um 1803–05 sagen (vgl. übrigens F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224). 18 Schelling selbst hat wiederholt vor solchen Namen oder Kennzeichnungen eines philosophischen Systems gewarnt: »Es ist unläugbar eine vortreffliche Erfindung um solche allgemeine Namen, womit ganze Ansichten auf einmal bezeichnet werden. Hat man einmal zu einem System den rechten Namen gefunden, so ergiebt sich das 17

7 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Einleitung

werde ich mich des vielleicht genauso missverständlichen Begriffs der Politischen Philosophie bedienen. Diese Bezeichnung dürfte vielleicht überraschen, gilt Schelling doch nach einem immer noch kolportierübrige von selbst, und man ist der Mühe, sein Eigenthümliches genauer zu untersuchen, enthoben« (Schelling 1809a, 402 / SW VII, 338). Seiner Einschätzung zufolge haben auch Fichte und Jacobi sich durch den Namen ›Naturphilosophie‹ blenden lassen und ihre Polemik vorwiegend auf eine – überdies unzutreffende – Auslegung dieses Namens gegründet. Schwerwiegender ist, dass Schelling selbst den Ausdruck ›Identitätssystem‹ zur Bezeichnung seines ›Systems der Philosophie‹ in dieser Zeit kaum jemals verwendet. Eigentlich kommen nur folgende vier Stellen in Betracht: AA I,10, 115 (»das absolute Identitäts-System, welches ich hiermit aufstelle«); AA I,10, 163; Schelling 1802d, 42 / SW V, 45 und SW VI, 164. Der Ausdruck wird vor allem von seinen Gegnern mit einer gewissen Vorliebe verwendet. Stattdessen verwendet Schelling selbst eine Fülle an Namen, um sein System zu bezeichnen (vgl. Tilliette 1992, 310). So ist vom »absoluten Idealismus« oder »Real-Idealismus« die Rede (AA I,10, 93, 144; Schelling 1802b, 46, 62 / SW IV, 370, 381; SW IV, 377; Schelling 1802d, 13 f., 19 / SW V 26, 30; Schelling 1802f, 9, 24 / SW V, 112, 124; Schelling 1802g, 41 / SW V, 136; Schelling 1803a, 254 f. / SW V, 324; Schelling 1803b, 80 / SW II, 68; Schelling 1803c, 23, 29 / SW IV, 404, 408; Schelling 1809a, 419 / SW VII, 350), von »Vernunftwissenschaft« (Schelling 1803a, 129 / SW V, 270; SW V, 381; SW VI, 214; Schelling 1805b, 75 / SW VII, 189; Schelling 1806a, 19, 23 / SW VII, 33, 35; Schelling 1806b, IX / SW II, 359), von »Naturphilosophie« (SW VI, 494; Schelling 1806a, 15–19 / SW VII, 30–33; Schelling 1812, 9 f. / SW VIII, 26 f.; ferner: Schelling 1802f, 1–5 / SW V, 106–109; Schelling 1803b, 78–85 / SW II, 67–71), von »Pantheismus« (vgl. SW VI, 177; Schelling 1809a, 402–419, 502 f. / SW VII, 338– 350, 409 f.; SW, VIII 339 f.) oder ganz allgemein vom »System der Philosophie« (Schelling 1802b, 5 / SW IV, 342; Schelling 1802c, VII / SW V, 6; Schelling 1802d, 14 / SW V, 27; SW V, 363, 371; Schelling 1804, 60 / SW VI, 54; beachte auch die Titel: Darstellung meines Systems der Philosophie, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie und System der gesammten Philosophie). Jede dieser Kennzeichnungen würde eine eigene Erläuterung erfordern, wenn deutlich werden soll, in welcher Hinsicht sie nicht gänzlich unzutreffend sind. Erst in seiner Spätzeit bezeichnet Schelling das System jener früheren Zeit als ein »Identitätssystem«, aber auch dann nicht ohne seine Vorbehalte dadurch zu erkennen zu geben, dass er meistens von dem »sogenannten Identitätssystem« spricht (so SW XI, 371, 373; SW XII, 71): »Nur einmal, in der Vorrede, also in dem exoterischen Theil meiner ersten Darstellung dieses Systems, hatte ich es das absolute Identitätssystem genannt, um eben anzudeuten, daß hier kein einseitiges Reales noch ein einseitiges Ideales behauptet werde […]. Allein auch diese Bennenung wurde übel gedeutet und von denen, welche nie in das Innere des Systems eindrangen, benutzt, um daraus zu schließen, oder dem ununterrichteten Theil des Publikums glauben zu machen, es werden in diesem System alle Unterschiede, namentlich jeder Unterschied von Materie und Geist, von Gutem und Bösem, selbst von Wahrheit und Irrthum aufgehoben« (SW X, 107 f.). Und ferner: »Bekanntlich war dieß die Ausdrucksweise des sogenannten absoluten Identitätssystems, ein Name, den übrigens der Urheber selbst nur einmal gebraucht hat, nur, um es überhaupt und insbesondere von dem Fichteschen zu unterscheiden […]. Abgesehen von

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Einleitung

ten Urteil als »kein politischer Denker« oder sogar als der »›unpolitischste‹« Denker »des klassischen deutschen Idealismus«. 19 Dieses Urteil beruht darauf, dass das ›Politische‹ einer Philosophie ausschließlich über ihren Gegenstand definiert wird statt über die Art der Darstellung. Um zu verstehen, was unter ›Politische Philosophie‹ zu verstehen sei, verdienen die nachfolgenden Überlegungen zum Problem der Darstellung deshalb besondere Beachtung. Zudem operiert das genannte Urteil mit einer für selbstverständlich erachteten Festlegung dessen, was als ›Gegenstand‹ einer als ›politisch‹ zu bezeichnenden Philosophie zu gelten hat und was nicht. Nun hat Schelling in Philosophie und Religion die Herausforderung des Glaubens gerade darin gesehen, dass er die Philosophie ihrer Gegenstände beraube, weshalb er es zu seinem Programm erklärt, »diejenigen Gegenstände, welche der Dogmatismus der Religion und die Nichtphilosophie des Glaubens sich zugeeignet haben, der Vernunft und der Philosophie zu vindiciren«. 20 Diese ›Gegenstände‹ beschränken sich nicht nur oder nicht in erster Linie auf die sogenannten ›politischen Dinge‹, sondern er hat sie durch die Überschriften der Abschnitte, aus welcher die Schrift besteht, deutlich genug zu erkennen gegeben. Wenn ich auch an geeigneter Stelle näher erörtern werde, weshalb die Erörterung der ›politischen Dinge‹ in Schellings Denken einen vergleichsweise geringen Stellenwert aufweist, und das Argument, das sich in dieser ›Lücke‹ verbirgt, herauszuarbeiten suchen werde, so darf es an dieser Stelle genügen, daran zu erinnern, dass bereits die »naturphilosophische[n] Untersuchungen«, auf welche Schelling sich lange »beschränkt« habe, 21 eminent politisch sind, wie wenigstens seine Zeitgenossen wie durch einen Schleier wahrgenommen zu haben scheinen, da sie durch die Naturphilosophie die geläufigen Vorstellungen von Moral und Religion gefährdet sahen. Wenn es Schelling zufolge auch »für das Innere der Wissenschaft […] vorerst dieser nächsten geschichtlichen Beziehung ist der Name zu allgemein, um etwas zu sagen« (SW XI, 371 f.). Wenn der Ausdruck ›Identitätssystem‹ schließlich prominent im Titel des Gesprächs Ueber das absolute Identitäts-System und sein Verhältniß zu dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus figuriert, dann ist zu beachten, dass nach einer der zentralen Thesen dieses Gesprächs Reinholds Dualismus, indem er Verstandes- und Vernunft-Identität verwechselt, nichts anderes als eine Karikatur oder Parodie des schellingschen Systems und somit selbst ein »absolutes Identitäts-System« ist. 19 Habermas 1963, 108; Cesa 1986, 226. 20 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. 21 Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f.

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Einleitung

gleichgültig [ist], auf welchem Wege die Natur construirt wird, wenn sie nur construirt wird« (AA I,10, 92 f.), so zeigt sich die Wichtigkeit dieser Konstruktion der Natur erst an dem Gebrauch, den Schelling von ihr macht und der zuallererst ein kritischer ist: Erst sie erlaubt es, den Schein zu durchschauen, in welchem der Idealismus befangen bleibt und der sowohl das Ich als auch das Absolute betrifft, und dadurch die Basis zu erschüttern, auf welche Moral und Religion aufbauen, während das Versäumnis solcher Untersuchungen letztlich darin mündet, dass auch Philosophen entweder einer Ergänzung der Philosophie durch den Glauben oder sogar einer Gründung der Philosophie auf den Glauben das Wort reden. Das kritische Potential seiner ›naturphilosophischen Untersuchungen‹ stellt er somit insbesondere dadurch immer wieder unter Beweis, dass er sich derselben als eines Werkzeugs der Selbstkritik der Philosophie bedient, zum Zweck der Selbsterkenntnis des Philosophen. Allein aus diesem Grund bereits wäre die Rede von Schellings Politischer Philosophie berechtigt.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Die Intention Schellings muss unverstanden bleiben, solange man sich nicht über seine Kunst des Schreibens im Klaren ist. In der Tat äußert Schelling sich immer wieder zu Fragen der Darstellung. Merkwürdigerweise hat man sich diese Erklärungen bislang nicht zu Nutze gemacht, um der durch seine eigenwillige Darstellungsweise ausgelösten Irritation zu begegnen und sie für sich fruchtbar zu machen. Stattdessen hat man sich damit begnügt, diese Irritation dadurch gutzuheißen, dass man auf Schellings schriftstellerisches Ungeschick oder auch seine bedauerliche Anpassung an damalige Moden verweist. Damit hat man Schelling an einem Maßstab des klaren und deutlichen Schreibens gemessen, dem er erklärtermaßen gar nicht genügen wollte, 1 vielleicht weil er genau wie Xenophon der Meinung war, dass, was schön und in ordentlicher Folge geschrieben ist, ebendeshalb nicht schön und in ordentlicher Folge geschrieben ist und die Kunst des Schreibens sich nicht in Klarheit und Deutlichkeit erschöpft. 2 Gleich im »Vorbericht« zu Philosophie und Religion erklärt Schelling sich umständlich zu der Form, die er für diese Schrift gewählt habe. Diese Erklärungen verdienen eine genaue Erwägung. Nach einer ersten Sichtung der Probleme, die der »Vorbericht« aufwirft, werden wir deshalb näher auf Schellings Begriff der Darstellung eingehen sowie auf die Probleme, die sich für ihn damit verbinden. Die zentrale Aussage des »Vorberichts«, wonach Schelling es für nötig erachtete, ein Gespräch, dem »zur öffentlichen Erscheinung nur die letzte Vollendung« fehlte, durchgreifend zu überarbeiten, um auf Eschenmayers Bedenken antworten zu können, während er zugleich erklärt, dass eine sachdienliche Erklärung über jene von Eschenmayer berührten »Verhältnisse« »[a]m besten […] ohne Zweifel durch das Gespräch selbst geschehen« wäre, verlangt eine umständlichere Erör1 2

Vgl. Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410. Xenophon, Kynegetikos, XIII 6.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

terung. 3 Schelling unterscheidet damit nämlich zwischen der symbolischen Form, die er dem Gespräch Bruno gegeben hatte, und der Form, in welcher er in Philosophie und Religion seine Auseinandersetzung mit Eschenmayer führt. Die Absicht, die er mit dieser Form verfolgt, lässt sich somit erst im Kontrast zur symbolischen Form erschließen. Dabei wird sich zeigen, dass es die besondere Natur seines vordergründigen Adressaten ist, der er die Form anpasst. Wir werden dabei auch Gelegenheit haben, auf die wichtigsten Schriften Schellings aus der Zeit von 1801 bis 1812 hinzuweisen, deren Form maßgeblich durch einen idealtypischen vordergründigen Adressaten bestimmt ist, wenn auch andere Lesertypen dabei niemals außer Acht gelassen werden. Daraus dürfte deutlich werden, wie diese Schriften, trotz ihres auf den ersten Blick disparaten Charakters, sämtlich Glieder einer konsistenten Konstellation bilden, die man als ein ›System‹ bezeichnen dürfte, wenn dieses ›System‹ sich auch ein wenig von dem unterscheidet, was man üblicherweise darunter versteht und gemessen woran Schellings Darstellungen sich allerdings nur als mangelhaft ausnehmen könnten. Dabei wird sich hoffentlich auch zeigen, dass die Feststellung eines Mangels an Dialektik bei Schelling, den dieser durch einen Rekurs auf die Anschauung auszugleichen suche, vordergründig bleibt. Schließlich wird sich zeigen, wie die Bezugnahme auf die Mysterien alles andere als eitle Geheimnistuerei ist, sondern dass man sich derselben vielmehr als eines Schlüssels zu einem angemessenen Verständnis von Schellings Philosophie zu bedienen vermag.

1. Der »Vorbericht« Angefangen bei ihrem geringen Umfang 4 über den schlichten Titel bis zum Aufbau derselben mit vier Abschnitten, die jeweils mit einer das zu behandelnde Thema bezeichnenden Überschrift versehen sind, und das Ganze von einem »Vorbericht«, einer »Einleitung« und einem »Anhang« eingerahmt, präsentiert die Schrift Philosophie und Religion sich wenigstens von der formalen Anlage her zunächst Schelling 1804, IV / SW VI, 13. In der Originalausgabe zählt die Schrift VI und 80 Seiten. Allerdings sind die Seiten 73–74 doppelt gezählt; wir werden sie in der Folge als 73a–74a bzw. 73b–74b angeben. In den Sämmtlichen Werken findet man sie in SW VI, 13–70.

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Der »Vorbericht«

von einer bestechenden Schlichtheit. Zudem scheint es Schelling darin um nichts mehr zu tun zu sein, als bloß auf einige von Eschenmayer vorgebrachte Einwände zu erwidern. Alles scheint also darauf angelegt, einen unscheinbaren, harmlosen Eindruck zu erwecken – als handle es sich um nicht mehr als eine Gelegenheitsschrift. Diesen Eindruck scheint Schelling noch bekräftigen zu wollen, wenn er sie gelegentlich als eine »kleine Schrift« bezeichnet. 5 Diesmal, so scheint es, keine formalen Experimente, wie beispielsweise in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801, in welcher Schelling seine Lehre nach dem Muster der Ethica Spinozas in einer Reihe von Lehrsätzen, Beweisen, Anmerkungen und Erläuterungen in äußerster Kürze darstellt (vgl. AA I,10, 115) oder wie im Bruno von 1802, der sich in Stil, Ton und Diktion das platonische Vorbild zu eigen macht. 6 Ebenso wenig ein heiteres, provokativ-spöttisches Gespräch wie Ueber das absolute Identitäts-System, ebenfalls von 1802, oder ein fingierter Briefwechsel wie die frühen Philosophischen Briefe von 1795. Allerdings ist der Schrift ein »Vorbericht« vorangestellt, der den »aufmerksame[n] Leser« vielleicht davon abhalten dürfte, sich diesem Eindruck der Harmlosigkeit vorbehaltlos hinzugeben. 7 Die äußere Schlichtheit ist insofern trügerisch, als im »Vorbericht« sogleich auf ein höchst verwickeltes Textgeflecht hingewiesen wird, in welches die vorliegende Schrift eingebunden ist. Zum einen handelt es sich um die Fortführung einer früheren Schrift, des Gesprächs Bruno. Während man hätte erwarten können, dass Schelling die Form des Gesprächs dazu beibehält, hat er der Folge eine völlig neue und andersartige Form gegeben. Dadurch ist der Zusammenhang zwischen beiden Schriften, wenigstens in formaler Hinsicht, bereits so weit aufgehoben, dass sie sich nicht mehr nahtlos aneinander anschließen lassen. Die Rede von einer Fortsetzung wird dadurch fast wieder gegenstandslos. 8 Zum anderen setzt Schelling sich fortwährend mit Vgl. z. B. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804; F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 22. April 1804 u. 26. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71, 78, 89. 6 Vgl. zu Schellings Fähigkeit, den platonischen Ton im Deutschen wiederzugeben, übrigens auch seine Übersetzung einer Gorgias-Stelle (abgedruckt in Franz 1996, 308–312; Franz’ Kommentar dazu: Franz 1996, 232 f.). 7 Schelling 1804, III / SW VI, 13. 8 Es ist dies übrigens kein Einzelfall. So suggeriert der Titel Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie eine Fortführung der ein Jahr älteren Darstellung meines Systems der Philosophie. Aus der Schrift selbst wird jedoch klar, dass diese weniger eine Fortsetzung derselben als vielmehr eine erneute Darstellung des Sys5

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Eschenmayers Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nicht-Philosophie auseinander. In derselben stützt Eschenmayer sich über weite Strecken auf eine Interpretation von Schellings früheren Schriften, auf welche dieser seinerseits wieder antwortet, indem er einige wichtige Hinweise darüber erteilt, wie man mit denselben umzugehen habe. Schellings Schrift kommentiert also parallel sowohl seine eigenen Schriften als auch Eschenmayers Interpretation derselben. 9 Um Philosophie und Religion zu verstehen wird der Leser demnach nicht nur dazu aufgefordert, sich mit Eschenmayers Schrift vertraut zu machen, sondern ebenso mit Schellings früheren Schriften, wenn er denn in der Lage sein will, Eschenmayers Interpretation und Schellings Erwiderung angemessen zu beurteilen. Dadurch wird die Erwartung des Lesers an eine, wenn nicht umfassende, dann doch wenigstens in sich geschlossene Darstellung des schellingschen Systems bereits enttäuscht. Stattdessen findet er sich mit einem Textgeflecht von einer kaum durchschaubaren Komplexität konfrontiert, eine Art Labyrinth, wozu die vorliegende Schrift nur eine von mehreren Eingänge bildet, während alle diese Texte auf eine nicht offensichtliche, sondern unterirdische Weise miteinander kommunizieren. Darauf scheint Schelling den Leser auch aufmerksam machen zu wollen, wenn er im Rückblick alle »seine Schriften für Bruchstücke eines Ganzen« erklärt. 10 Solche Bruchstücke verhalten sich zueinander allerdings nicht etwa wie Puzzlestücke, die sich, wenn man es nur lange genug versucht, letztlich zu einem bruchlosen Ganzem zusammenfügen ließen – wozu wohl kaum »eine feinere Bemerkungsgabe, als sich bei zudringlichen Nachfolgern, und ein besserer Wille, als sich bei Gegnern zu finden pflegt, erfordert wurde«, um den »Zusammenhang« »einzusehen«. 11 Stattdessen soll, nach der bei Schelling geläufigen Figur des Organismus, das Ganze im Teil präsent sein, jenes also aus diesem erschließbar. Der »Vorbericht« lässt demnach eine Schrift von einer erheblichen rhetorischen Komplexität erwarten, eine Erwartung, die sich in der Folge auch durchaus bestätigt. tems aus einer allerdings anderen Perspektive enthält. Im Falle jener Schrift, die Schelling ausdrücklich für eine Weiterführung jener Darstellung ausgibt (die sog. Freiheitsschrift), ist ebenso wenig zu ersehen, wie sich diese an die geometrische Form der früheren Schrift anschließen ließe (vgl. Schelling 1809a, VIII f. / SW VII, 333 f.). 9 Ähnlich war Schelling bereits einige Jahre zuvor in noch größerem Umfang in dem Gespräch Ueber das absolute Identitäts-System vorgegangen. 10 Schelling 1809a, X / SW VII, 334. 11 Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

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Der »Vorbericht«

Diese rhetorische Komplexität ist der Deutlichkeit und Verständlichkeit allerdings nicht sonderlich zuträglich. So dürfte der Leser sich in seinem ersten Leseeindruck bestätigt fühlen, wenn Schelling rückblickend erklärt, dass Philosophie und Religion »freylich durch Schuld der Darstellung undeutlich geblieben« ist. 12 Diese Bemerkung lässt allerdings noch offen, ob ihm dies erst nachträglich, durch die Rezeption, die der Schrift zuteilwurde, zu Bewusstsein kam oder ob diese in der Weise der Darstellung begründete Undeutlichkeit von Anfang an von ihm beabsichtigt war. Jedenfalls erklärt er bereits ein Jahr nach deren Erscheinen, dass sie den meisten Lesern unverständlich bleiben wird, ohne darin allerdings einen Grund zu sehen, sich um größere Verständlichkeit zu bemühen. 13 Wenn er nun in diesem Zusammenhang von Leibniz bemerkt, dass dieser »ein ziemlich klares Bewusstseyn hatte über die einzige auf jene Frage [nach dem Ursprung der Endlichkeit und des Bösen, R. S.] mögliche Antwort«, »der weise Mann« aber »in seinem Zeitalter Gründe genug« gefunSchelling 1809a, IX / SW VII, 334. Die Bemerkung lässt sich nicht, wie Horst Fuhrmans es will, als eine Selbstkritik deuten, als ob Schelling damit erklärte, dass er von der Lehre, wie er sie in Philosophie und Religion dargelegt hatte, inzwischen abgerückt wäre (vgl. Fuhrmans 1954, 70). Schelling bemerkt nämlich nicht, dass er jene Lehre nicht mehr unterschreibt, sondern nur, dass sie »undeutlich geblieben« ist, d. h. dass sie von seinen Lesern nicht verstanden worden ist (Schelling 1809a, IX / SW VII, 334). Den Grund dieses Unverständnisses sieht er allerdings in der von ihm gewählten Darstellungsweise. Zu fragen ist, ob jene Undeutlichkeit – für eine bestimmte Klasse von Lesern – nicht von Anfang an beabsichtigt war. Aus keiner der weiteren Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion und Freiheitsschrift lässt sich eine eindeutige Absage an erstere Schrift herauslesen. – Die Bemerkung findet sich in der »Vorrede« zum ersten (und einzigen) Band der 1809 veröffentlichten Philosophischen Schriften, der auch die Freiheitsschrift enthält, und zwar gerade in dem Teil der »Vorrede«, der letztere Schrift betrifft. Wenn Louis van Bladel zu Recht bemerkt, dass Schelling in der Freiheitsschrift »dazu übergeht, die noch undeutlich gebliebene Lehre aus Philosophie und Religion zu klären«, so bleibt dennoch fraglich, ob die für die Freiheitsschrift gewählte Darstellungsweise sich zur größeren Deutlichkeit besonders eignet (van Bladel 1965, 56). So spricht Thomas Buchheim von einem »schwer zu durchschauende[n], in Gliederung und Gedankenführung scheinbar verschwommene[n] Text« (Buchheim 1997, 169). Die »scharf gegliederte Struktur des Argumentationsgangs« wird dadurch verschleiert, dass Schelling jede äußerlich sichtbare Gliederung unterlassen hat (ebd.). Vgl. zur Gliederung Tagebücher 1809–1813, 14 f. Fast am Ende der Schrift bemerkt Schelling in einer langen Fußnote: »Manches konnte hier schärfer bestimmt und weniger lässig gehalten, manches vor Misdeutung ausdrücklicher verwahrt werden. Der V f. unterliess es zum Theil absichtlich« (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410; Herv. v. Verf.). Gleich anschließend verweist er erneut auf Philosophie und Religion. 13 Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197. 12

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

den hat, diese dennoch »nicht mit consequenter Klarheit durchgeführt zu zeigen« und er es ihm auf der nächsten Seite nachmacht, indem er es »dem Leser selbst« überlässt, »sich hieraus die angemessene Erläuterung auch für unsre Ansicht zu nehmen«, dann dürfte dem Leser allmählich fraglich werden, ob die Undeutlichkeit restlos Schellings schriftstellerischem Ungeschick zuzuschreiben ist. 14 Nicht erst im Rückblick macht Schelling auf die eigentümliche Darstellungsart von Philosophie und Religion aufmerksam, auf die ungewöhnlichen Anstrengungen, die sie dem aufmerksamen Leser abfordert und auf den ›Inhalt‹, den sie für diesen bereithält, während sie ihn dem leichtsinnigen Leser entzieht, und von dem es heißt, dass er »brennt«. 15 Im ganzen »Vorbericht« behandelt er eingehend und ausschließlich Fragen der Darstellung, der Mitteilung und der Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von philosophischen Lehren. 16 Auch ist dies kein Einzelfall. Bereits aus der Darstellung meines Systems der Philosophie geht deutlich hervor, dass Schelling sich durchaus dessen bewusst war, dass sie für die meisten Leser unverständlich bleiben musste. Zwar bemerkt er in der »Vorerinnerung«, dass er sich Schelling 1805b, 84 f. / SW VII, 195 f. Schelling 1804, VI / SW VI, 15. 16 Die anhaltende Reflexion über Fragen der Darstellung und Mitteilung von philosophischen Gedanken, die Schelling bereits während seiner Studienzeit besonders beschäftigt hatten, wie seine Studienhefte bezeugen (abgedruckt in Franz 1996, 283– 320 und AA II,4, 15–28), dürfte die Erklärung der Undeutlichkeit dieser Schrift aus ihrer eiligen Verfassung als selbst voreilig erscheinen lassen. So schreibt Xavier Tilliette über Philosophie und Religion, die Schrift sei »hâtivement confectionnée et sans doute prématurée«. Auch von der Darstellung heißt es, sie sei »hâtivement composée«. Sogar die Philosophischen Untersuchungen seien »rapidement rédigées«, angeblich so schnell, dass Schelling »sur le coup ne semble pas [en] mesurer l’importance«, »n’avait pas conscience d’avoir produit un ouvrage à faire époque« und erst nach Erscheinen derselben »prend conscience de son originalité« (Tilliette 1999, 149, 136, 168). An der Darstellung hat Schelling den ganzen Herbst und Winter, möglicherweise bereits ab dem Sommer gearbeitet (AA I,10, 24 f. (Ed. Bericht)), wobei noch zu bemerken ist, dass er, besonders im naturphilosophischen Teil derselben (§§ 51–159), auf Einsichten aus früheren Schriften zurückgreifen konnte. Aus den Tagebüchern können wir ersehen, wie überlegt und planmäßig Schelling bei der Verfassung der Freiheitsschrift vorging (vgl. Tagebücher 1809–1813, 12–15). Was schließlich Philosophie und Religion betrifft, so bemerkt Schelling, dass er mit der Schrift Eschenmayers »gleich bey ihrer Erscheinung […] bekannt« war (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71). Auch hier hatte er also mehrere Monate Zeit, um eine nur wenig umfangreiche Schrift zu verfassen, wobei er ebenfalls auf vorliegendes Material zurückgreifen konnte (vgl. Schelling 1804, III / SW VI, 13). 14 15

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Der »Vorbericht«

um die »größte Kürze der Darstellung« bemüht habe, weil diese »die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10, 115). Gerade diese fast provozierend anmutende Knappheit der Darstellung dürfte allerdings die Unverständlichkeit des Ganzen noch erheblich steigern. So verzichtet er beispielsweise auf Definitionen der den Argumentationsgang tragenden Begriffe. Dass Schelling sich über die Verständnisschwierigkeiten, die er dem Leser dadurch bereitet, durchaus im Klaren war, geht auch daraus hervor, dass er über dieselben in den beigegebenen Anmerkungen und Erläuterungen immer wieder reflektiert. Diese bieten dem Leser nicht Definitionen oder Präzisierungen, die ihn imstande setzen würden, die Hindernisse zu beseitigen, sondern sie weisen ihn lediglich darauf hin, dass die Unverständlichkeit des Textes möglicherweise nicht ausschließlich dessen eigentümlicher Gestalt zuzuschreiben ist, sondern ihren Grund, außer in der Sache selbst, auch in einer dem Leser beinahe natürlichen Haltung haben könnte. Das Verstehen erfordert vielmehr eine Abgewöhnung von festen Lesegewohnheiten 17 und ein Vergessen von »gangbaren Begriffe[n]« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)). Schließlich wird dem Leser mit unverkennbarer Ironie versichert, dass die gebotenen Demonstrationen »vollkommen verständlich seyn werden, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe subjectiv und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem Satz genau eben das denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Erinnerung, die wir hiemit ein für allemal machen« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.); Herv. v. Verf.), ohne dass ihm, wie es scheint, Mittel in die Hand gegeben werden, sich dessen zu vergewissern, ob er denn ›bey jedem Satz genau eben das denkt‹, was Schelling gedacht haben will. Wenn dieser sich dann am Schluss des Textes trotzdem zuversichtlich zeigt, dass die »größere Anzahl meiner Leser« imstande sein wird, »den Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu begreifen (AA I,10, 211 Anm. F), dann wird die Bestimmtheit dieser Erklärung durch die Zwischenbemerkung, dass es »nicht unmöglich ist«, »den Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu erschließen (AA I,10, 211 Anm. F; Herv. v. Verf.), doch wieder relativiert und ironisiert. Die Rezeption scheint jedenfalls zu belegen, dass die DarstelVgl. AA I,10, 117 (§ 2 Erl.), 130 f. (§ 32 Anm.). An letzterer Stelle ist die Rede von denjenigen, »welche in den gewöhnlichen Vorstellungen so fest, und gleichsam verhärtet sind« (hier setzt Schelling sogar einer Parataxe ein). Das Verstehen philosophischer Beweise setzt einen Losriss aus solchen Vorstellungen voraus.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

lung in der Tat unverstanden geblieben ist, da bislang kein eingehender Kommentar derselben vorliegt und die Kommentatoren es stattdessen vorziehen, auf ›fasslichere‹ Darstellungen wie Bruno oder die Ferneren Darstellungen auszuweichen. 18 Es ist offenkundig, dass gerade die Darstellung dem Verständnis von Schellings Lehre erhebliche Probleme bereitet. Diese das Verständnis erschwerende Darstellung scheint, wie sich gezeigt hat, von Schelling durchaus beabsichtigt. Damit stellt sich die Frage, welche Absicht Schelling denn gerade mit dieser problematischen Darstellung verfolgt. Lassen sich aus seinen Äußerungen Hinweise zu einem grundlegenden Problem entnehmen, das zu einer solchen Darstellung nötigt? Falls es gelingen würde, ein nachvollziehbares Argument freizulegen, weshalb dem Philosophen die Darstellung einer Lehre notwendig zu einem mehr als nebensächlichen Problem werden muss, dürfte dies auch dazu beitragen, Schellings Schriften nicht länger an einem Maßstab der Klarheit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit zu messen, wonach sie zwangsläufig als defizient empfunden werden müssen. Welche Probleme verbinden sich für Schelling insbesondere mit dem Begriff der ›Darstellung‹ ?

2. Der Begriff der ›Darstellung‹ Bereits durch ihren Titel lenkt die Darstellung meines Systems der Philosophie die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Darstellung. Der Begriff ist allerdings mehrdeutig oder vielschichtig. In der Tat bohrt Schelling im Laufe der nur wenige Seiten umfassenden »Vorerinnerung« nach und nach mehrere dieser Schichten an. Zunächst, auf den ersten Seiten der »Vorerinnerung«, kommen gehäuft Ausdrücke vor, die auf die Differenz von Darstellung als Ausführung, als schriftliche Fixierung und als Veröffentlichung hindeuten. Zu nennen sind Ausdrücke wie »öffentlich aufstellen«, »zur Bekanntschaft aller bringen«, »vortragen«, »erscheinen«, »Darlegung«, »Ausführung«, »Behandlung« (AA I,10, 109, 114 f.). Danach wäre ›Darstellung‹ als eine Handlung zu verstehen, die einer Sache eine öffentlich sichtbare Existenz oder Präsenz verschafft. Auf ›Darstellung‹ im Sinne einer Unter den wenigen Ausnahmen: Blanchard 1979, 308–312; Buchheim 1990, 334– 336; Buchheim 1992, 57–60, 74–80; Florig 2010, 85–110; Jürgens 2000; Korsch 1980, 106–110; Tilliette 1992, 305–333.

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Der Begriff der ›Darstellung‹

›Ausführung‹, die die Leistungsfähigkeit eines Prinzips dadurch unter Beweis stellt, dass sie die Folgen nachweist, die sich aus ihm ableiten lassen, brauchen wir an dieser Stelle noch nicht einzugehen. Eine Darstellung in diesem Sinne verlangt, dass bereits vorher gezeigt wurde, wie dieses Prinzip zu finden ist. Dies dürfte vielleicht den abrupten Anfang jener Darstellung erklären helfen. Wie dem auch sei, das Problem der ›Darstellung‹, das in der »Vorerinnerung« im Vordergrund steht, scheint ein anderes zu sein. Schelling deutet es dadurch an, dass er erklärt, dass er diese Darstellung »früher als [er] selbst wollte«, veröffentlicht (AA I,10, 109). Auch eine Veröffentlichung ist eine ›Darstellung‹, indem sie etwas vorher bloß Gedachtes oder vielleicht sogar schriftlich Fixiertes ›zur Bekanntschaft aller‹ bringt. Die Durchführung eines Prinzips und die Veröffentlichung der auf diesem Wege gewonnenen Ergebnisse scheinen Anforderungen zu stellen, die nicht zwangsläufig zu harmonieren brauchen. Darauf macht auch der »Vorbericht« von Philosophie und Religion auf eine auffällige Weise aufmerksam, indem es dort heißt: Das im Iahr 1802 erschienene Gespräch: Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, ist seiner Anlage nach der Anfang einer Reihe von Gesprächen, deren Gegenstände auch in ihm zum voraus bezeichnet sind. Dem zweyten Gespräch in dieser Folge fehlte, schon seit längerer Zeit zur öffentlichen Erscheinung nur die letzte Vollendung, welche ihm zu geben, äussere Umstände nicht zugelassen haben. 19

Die Veröffentlichung muss auf ›äussere Umstände‹ Rücksicht nehmen, wie es die Durchführung des Prinzips, die nur dessen immanenter Logik gehorcht, nicht zu tun braucht. Darüber, was es war, das zur letzten Vollendung noch fehlte, erklärt Schelling sich allerdings nicht, außer dass er es ›äusseren Umständen‹ zuschreibt. Welche oder welcher Art diese äußeren Umstände sind, erläutert Schelling nicht. Ebenfalls bleibt offen, ob diese Umstände die Fertigstellung positiv Schelling 1804, III / SW VI, 13. Übrigens hält Schelling noch lange am Vorhaben fest, das zweite Gespräch bzw. die ganze Gesprächsreihe zu vollenden. Erst 1806, dann 1811 ist das zweite Gespräch so weit gediehen, dass er eine Veröffentlichung erwägt, den Plan dann letztendlich doch aufgibt. Vgl. F. W. J. Schelling an F. Unger, 8. Februar 1806, Fuhrmans, Briefe III, 304; F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 21. Februar 1806, Fuhrmans, Briefe III, 309; F. Unger an F. W. J. Schelling, 18. März 1806, Fuhrmans, Briefe III, 320. Ferner Fuhrmans, Briefe III, 346 f.; und die Briefe von F. W. J. Schelling an J. F. Cotta, 18. Oktober 1807, 26. Februar 1808, 15. November 1808, 13. Januar 1809, 30. Januar 1811, Schelling-Cotta 21, 27, 37, 39, 50.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gehindert haben oder ob vielleicht eher das Ausbleiben bestimmter Umstände sie nicht erlaubt hat. Jedenfalls wird die Veröffentlichung eines Textes dadurch als eine besondere Tat hervorgehoben. 20 Auch ist dieser Hinweis auf äußere Umstände als entscheidend für die ›öffentliche Erscheinung‹ einer Schrift oder für den Verzicht darauf nicht einmalig, sondern bildet vielmehr ein wiederkehrendes Motiv. Während Schelling in der »Vorerinnerung« zur Darstellung von 1801 bemerkt, dass er sich »durch die gegenwärtige Lage der Wissenschaft, getrieben [sieht], früher als ich selbst wollte, 21 das System selbst, welches jenen verschiednen Darstellungen bei mir zu Grunde gelegen, öffentlich aufzustellen, und was ich bis jetzt bloß für mich besaß, und vielleicht mit einigen wenigen theilte, zur Bekanntschaft aller zu bringen, welche sich für diesen Gegenstand interessiren« (AA I,10, 109), da führt er in der Fußnote, die den Text beschließt, erneut »Zeit und Umstände« an, die es nicht »erlaubten […] sie in einem folgenden Heft sogleich fortzusetzen« (AA I,10, 211 Anm. F). Sowohl für die verfrühte Bekanntmachung als für den Verzicht auf eine unmittelbare Fortsetzung werden äußere Umstände verantwortlich gemacht, während zugleich offen gelassen wird, welche diese konkret sind. Auch die Präzisierung, dass ›die gegenwärtige Lage der Wissenschaft‹ ihn zur verfrühten Veröffentlichung genötigt habe, erlaubt es nicht, zu ersehen, worauf Schelling damit abzielt. 22 Jedenfalls dürfte es denjenigen, der ›Zeit und Umstände‹, die zu einer Unterbrechung der Darstellung nötigten, mit anderweitigen Verpflichtungen in Verbindung bringt, die Schelling keine Zeit für schriftstellerische Tätigkeit übrigließen, verwundern, dass dieser im nächsten Jahr in rascher Folge eine ganze Reihe von Schriften veröffentlicht, ohne dass in einer derselben die Fortsetzung auch nur ansatzweise zu finden ist. Wir dürfen somit vermuten, dass mit jenen Umstände wohl andere als bloß zufällige Hindernisse gemeint sind. Vgl. auch Schelling 1802d, 83 f., 90 f. / SW V, 72 f., 76 f. Ein Jahr zuvor hieß es nämlich noch, dass er erst, »[s]obald ich hoffen kann, daß der Inhalt jenes Werks in die allgemeine Gedankenmasse gedrungen und aufgenommen sey, […] mit dem, was ich darauf gründen will, den Anfang machen [werde]« (AA I,8, 366). Wenn Schelling auch das System, das er dann ein Jahr später mit der Darstellung vorlegt, hier bereits ankündigt, so wird dennoch dessen Veröffentlichung auf später verschoben. Die Veröffentlichung wird dann im Januar 1801 öffentlich angekündigt (vgl. AA I,10, 88, 97, 101). 22 Horst Fuhrmans vermutet, dass Fichtes Ankündigung einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre Schelling zur verfrühten Bekanntmachung seines Systems bewog (vgl. Fuhrmans, Briefe I, 223 f.). 20 21

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Der Begriff der ›Darstellung‹

Jedenfalls scheinen äußere Umstände für die Entscheidung zur Veröffentlichung eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Während Schelling sich darüber ausschweigt, welche Umstände ihn auf die Fertigstellung und Veröffentlichung des an den Bruno anschließenden Gesprächs haben verzichten lassen, erklärt er sich wenigstens zu jenen Umständen, die ihn dazu bewegt haben, jenes Gespräch in einer überarbeiteten Form als Philosophie und Religion zu veröffentlichen. Erneut ist es ein äußerer Anlass, der ihn dazu bewegt, sich über gewisse »Ideen« und »Verhältnisse« zu erklären: das Erscheinen der »merkwürdigen Schrift Eschenmayers«. 23 Die äußeren Umstände spielen somit nicht nur für die Entscheidung zur Veröffentlichung eine Rolle, sondern sie wirken sich auch auf die Form aus. Schelling lässt die Einbindung derselben in einem Realkontext, in dem Fragenhorizont seiner Zeit, dadurch aufscheinen, dass er darauf verzichtet, ihr die abgerundete Form oder die Geschlossenheit eines »Werk[es] bildender Kunst« zu erteilen, das keine besondere Rücksicht auf mögliche Betrachter nimmt, sondern »auch in die Tiefe des Meers versenkt und von keinem Auge gesehen, nicht aufhört Kunstwerk zu seyn«. 24 Dadurch wird die Erwartung, dass diese Schrift für sich bestehen könne und aus sich heraus, ohne Berücksichtigung des Kontextes, in welchen sie sich einschreibt und eingreift, verständlich sein müsse, bereits im »Vorbericht« enttäuscht. Die geschlossene Form ist zerstört worden, damit die Schrift auch die äußerlichen Spuren davon trägt, nur eine Intervention in stattfindende Debatten zu sein. Auch dies dürfte kein Einzelfall sein, da Schelling rückblickend sogar so weit geht, zu erklären, dass er »ein fertiges, beschlossnes System […] bis jetzt nie aufgestellt« habe, »sondern nur einzelne Seiten eines solchen, (und auch diese oft nur in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung)«. 25

Schelling 1804, III / SW VI, 13. Schelling 1804, IV / SW VI, 14. Vgl. auch Schelling 1803a, 19 / SW V, 223, wo Schelling, obwohl es »des Philosophen würdiger scheinen [könnte], von dem Ganzen der Wissenschaften ein unabhängiges Bild zu entwerfen«, es stattdessen vorzieht, das »Ganze der Wissenschaften« unter ständiger »Beziehung auf die Formen bloß gegenwärtiger Einrichtungen« zu entwickeln. Dies gilt nicht nur für seine Konstruktion der Akademien, sondern auch für die Konstruktion der einzelnen Wissenschaften, die durchgängig im Ausgang vom geläufigen Selbstverständnis derselben durchgeführt wird (vgl. Schelling 1803a, 167 f., 205, 232 f., 305 f., 311 f. / SW V, 286 f., 303, 315, 344 f., 347). 25 Schelling 1809a, X / SW VII, 334. 23 24

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Solche Erklärungen, die sich leicht vermehren ließen, kreisen sämtlich um das Problem der Darstellung im zunächst wenig markierten Sinne einer öffentlichen Bekanntmachung. Schelling gibt klar zu erkennen, dass er beim Veröffentlichen durchgängig Rücksicht auf die Umstände nimmt, unter welchen seine Schriften erscheinen, und auf den Realkontext, in welchen er mittels derselben einzugreifen gedenkt. Sowohl die ›gegenwärtige Lage der Wissenschaft‹ als auch die Art, wie die zeitgenössische philosophische Debatte geführt wird, wie auch die Vormeinungen, an welchen sie sich orientiert, hat er zu berücksichtigen, wenn er sich verständlich machen will. Die ›gegenwärtige Lage der Wissenschaft‹ wird allerdings eine solche Aufnahme philosophischer Gedanken begünstigen, die diese möglichst herrschenden Vormeinungen oder bereits Bekanntem annähert. Allerdings kann ein Autor, der sich über das Neuartige oder Besondere seiner Aufgabe und seines Vorgehens im Klaren ist, eine solche Rezeption durchaus voraussehen. Er ist somit in der Lage, durch gezielte Hinweise aufmerksamen Zeitgenossen oder künftigen Lesern zu verstehen zu geben, welche Vormeinungen ein angemessenes Verständnis seiner Lehre verhindern könnten. Er kann allerdings auch bestimmte Missverständnisse, die er aufgrund seiner Vertrautheit mit dem Zustand der damaligen philosophischen Debatte voraussehen kann, willentlich in Kauf nehmen. So bemerkt Schelling bei einer anderen Gelegenheit Eschenmayer gegenüber, dass es »für das Innere der Wissenschaft […] vorerst gleichgültig [ist], auf welchem Wege die Natur construirt wird, wenn sie nur construirt wird«. So können auch »die, welche über das Princip sich nicht mit mir verstehen, doch an den Untersuchungen teilnehmen, da es ihnen frei steht, sich alle Sätze, wenn es zu ihrem Verstehen nothwendig ist, in die idealistische Potenz zu übersetzen« (AA I,10, 92 f.). Da Schelling im selben Text die entscheidende Bedeutung der Unterscheidung von Naturphilosophie und Idealismus betont (vgl. u. a. AA I,10, 86, 88, 92), kann man diese Bemerkung nur so verstehen, dass es ihm ›vorerst gleichgültig‹ ist, ob einige die Naturphilosophie ihrer eigentlichen Bedeutung nach missverstehen, solange sie sich nur an der Konstruktion der Natur beteiligen. Schelling ist hier somit in erster Linie an der Wirkung, die diese Gedanken zeitigen werden, interessiert, weniger daran, dass alle damit auch ein adäquates Verständnis dessen, was sie tun, verbinden. 26 Wieland 1995, 17. Ich knüpfe hier und in der Folge an die Überlegungen Wielands an.

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Der Begriff der ›Darstellung‹

Durch die Veröffentlichung werden philosophische Gedanken allen zugänglich, die nur lesen können. Wohl deshalb bezeichnet Schelling seine Texte auch mehrfach als »Acten« oder »Actenstücke«. 27 Der Begriff der Darstellung soll jetzt nicht auf die Differenz von Ausführung und Veröffentlichung, sondern auf den Unterschied zwischen der Darstellung seines Denkens und diesem Denken selbst aufmerksam machen. ›Darstellung‹ erhält jetzt zum einen die Bedeutung einer ›Akte‹, eines ›Dokuments‹ oder ›Denkmals‹, also des Ergebnisses des Darstellens, zum anderen bezeichnet sie auch die vom Leser zu erbringenden Eigenleistung. Die Bezeichnung gibt somit Aufschluss darüber, wie Schelling sich den idealen Leser seiner Schriften vorstellt. Eher als Zustimmung oder Ablehnung verlangt er von diesem vor allem eine eingehende Prüfung seiner Behauptungen. Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass jeder, der lesen kann (oder was man gemeinhin ›lesen‹ nennt), dadurch bereits auch über diejenigen Kompetenzen verfügt, die für eine tragfähige Interpretation und eine sachgerechte Beurteilung erforderlich sind. Die Bekanntmachung der Aktenstücke garantiert noch nicht eo ipso den Zugang zur Sache selbst. Eine sachgerechte Prüfung setzt voraus, dass der Prüfende u. a. darüber im Klaren ist, was die Absicht der Darstellung ist und welche Sache es denn gerade ist, die zur Darstellung gelangen soll. Dem Urteilsspruch muss eine sorgfältige Auslegung der Akten vorangehen. Deswegen beschränkt Schelling sich in der »Vorerinnerung« zur Darstellung auch darauf, Reinhold ausschließlich philologisch-hermeneutische Mängel nachzuweisen, ohne auf dessen sachlich gemeinten Einwände einzugehen (vgl. AA I,10, 110–115). Das Publikum ist allerdings keine homogene Masse. Es ist mindestens zu unterscheiden zwischen solchen Lesern, die von sich aus der erforderten Verstehenshaltung fähig sind, und solchen, die dies nicht sind. Der Philosoph muss auf beide Adressaten Rücksicht nehmen. Es kann nämlich nicht schlechthin vorausgesetzt werden, dass der Leser bereits über die für eine solche Prüfung erforderlichen Kompetenzen verfügt. Er muss somit dazu befähigt werden, sich diese zu erwerben. Aus diesem Grund braucht es mehrere Darstellungen. So richtet die Darstellung meines Systems der Philosophie sich ausdrücklich an solche Leser, die die erforderte Verstehenshaltung von sich aus mitbringen; deshalb nimmt sie auch auf solche, denen diese Haltung

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Vgl. AA I,7, 65; AA I,10, 211; Schelling 1802d, 15 / SW V, 27.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

fehlt, nur beiläufig Rücksicht. 28 Es ist auch gar nicht zufällig, wenn Schelling Gegnern wie Anhängern immer wieder vorhält, dass sie ihn missverstehen. Dies sieht zunächst wie eine bequeme Entgegnung aus, da man sich dadurch die Mühe zu ersparen scheint, auf Einwände einzugehen. Das Problem des Verstehens und der Verständlichkeit hat für die Philosophie aber eine ganz besondere Prägnanz. Die zugrundeliegende Behauptung lautet, dass es kein »reine[s] Nichtbegreifen« gibt, sondern dass dieses sich immer in der Gestalt eines Missverstehens manifestiert. 29 Jede Unverständlichkeit ist nur relativ, und zwar relativ auf die Verstehenshaltung, mit welcher der Leser philosophischer Texte an diese herantritt: »[W]as der oft belobte Cajus oder Titius nicht versteht, ist darum noch nicht unverständlich« (SW X, 163). 30 Die Unverständlichkeit philosophischer Behauptungen ist keine Qualität, die diesen inhäriert, sondern sie ergibt sich allererst aus der Haltung des interpretierenden Subjekts. Demzufolge sind philosophische Sätze nur so lange unverständlich, als man mit einer unangemessenen Verstehenshaltung an sie herantritt und sie nach einem ungeeigneten Maßstab der Verständlichkeit beurteilt. Für denjenigen, der sich die für das Verständnis solcher Sätze erforderliche Verstehenshaltung herangebildet hat, sind diese nicht mehr unverständlich. Die Sache der Philosophie ist denn auch nichts Überverständiges, d. h. etwas, was von sich aus jede Möglichkeit eines Verstehens schlechthin ausschließt. In der Mitteilung philosophischer Inhalte hat der Philosoph also durchaus auf solche Verstehensprobleme Rücksicht zu nehmen. Es kann ihm nicht genügen, Sätze einfach hinzustellen, wenn er Grund hat, anzunehmen, dass dem philosophischen Publikum die erforderlichen Kompetenzen zu ihrem Verständnis fehlen. Er muss für den Leser die Mittel bereitstellen, sich solche Kompetenzen heranzubilden, wenn dieser über Wahrheit oder Unwahrheit dieser Sätze urteilen und sie einer Prüfung unterziehen soll. Das Nicht-Verstehen ist demnach kein Phänomen sui generis. Das Korrelat des Verstehens ist nicht das Nicht-Verstehen, sondern das Missverstehen. Das Missverstehen ist selbst eine Form des Verstehens. Man missversteht einen Satz, wenn man ihm eine Auslegung unterschiebt, die ihm nicht angemessen ist. Vgl. Schelling 1802b, 34 / SW IV, 361 f. Schelling 1804, IV / SW VI, 14. 30 Laut dem Herausgeber stammt die zitierte Stelle aus der Erlanger Zeit, also 1821– 1827. Vgl. SW XIII, 18–20. 28 29

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Der Begriff der ›Darstellung‹

Nur in trivialen Fällen reicht es zur Behebung eines Missverständnisses aus, die richtige Formulierung einfach an Stelle der falschen zu stellen. Ein Missverständnis äußert sich zwar zunächst in Aussagen, in bestimmten Sätzen und Behauptungen. In durchaus den meisten Fällen lässt sich das Missverständnis gar nicht auf eine derart leichte Weise beheben, da die Sätze, in welchen sich das Nicht-Verstehen bzw. Missverstehen ausdrückt, nur Ausdrücke oder eben Symptome desselben sind. Der Grund des Missverstehens liegt tiefer und ist gar nicht von der Art eines propositionalen Gebildes. Das Missverständnis beruht auf Gründen, die bis in die Naturanlage, die Erziehung und die Umwelt des Missverstehenden reichen. 31 In diesem Fall kann die Ersetzung der falschen Formulierung durch die richtige die Wurzel des Missverständnisses gar nicht erreichen. Die Grundhaltung, aus welcher die Missdeutung von Aussagen erfolgt, wäre zu ändern. Eine solche Änderung ist allerdings durch bloße Aussagen nicht zu bewerkstelligen. Der Grund des Missverständnisses ließe sich nur mittels einer Darstellung des Prozesses des Missverstehens beheben. In diesem Prozess muss der Verstehende (oder Missverstehende) immer mitberücksichtigt werden. Sätze kommen aber nie vereinzelt, sondern immer in einem bestimmten Zusammenhang vor. 32 Eine Form des Missverstehens kann demnach darin bestehen, einen Satz aus dem Zusammenhang, in welchen er gehört und aus welchem er erst seinen Sinn erhält, herauszunehmen und in einen anderen, ihm fremden Zusammenhang zu versetzen. Dies gilt übrigens nicht nur für sprachliche Gebilde, sondern ebenso sehr für Phänomene: So trifft man ein Phänomen, z. B. ein organisches Gebilde, nicht in seinem Wesen, wenn man es ausschließlich nach solchen Charakteren auslegt, die höchstens für Phänomene einer anderen Klasse (z. B. mechanische Gebilde) mehr als bloß ›zufällige Werte‹ liefern. Statt das Phänomen aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, in welchen es eigentlich gehört, versetzt man es in einen ihm fremden und unangemessenen, in welchem es nur als eine Art Anomalie erscheinen kann. Auf diese Weise wird das Phänomen selbst verzerrt und sein eigentlicher Sinn verfehlt. Im

Wieland 1982, 276. Vgl. auch Schellings »Bitte« an die Leser, ihn »nicht nach einzelnen aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen zu beurtheilen«. Es folgt eine Typologie solcher Lesehaltungen, die notwendig zum Miss- bzw. Nichtverstehen führen sowie eine Angabe einiger Bedingungen, die der gute Leser zu erfüllen habe (AA I,2, 69–77).

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Zusammenhang mit dem Mechanischen kann das Phänomen des Organischen in seiner eigentlichen Bedeutung gar nicht erst zur Geltung kommen. 33 Ähnlich versteht man philosophische Sätze nicht so, wie sie verstanden sein wollen, wenn man sie aus ihrem eigentlichen Zusammenhang herausnimmt und in einen für sie fremden Zusammenhang bringt, in dem sie notwendig einen neuen Sinn erhalten. Sie lassen sich aber nur so aus ihrem eigenen und eigentlichen Zusammenhang herausnehmen, dass sie in einen fremden Zusammenhang eingebracht werden. Deshalb lässt sich ein Missverständnis noch immer diskutieren, nämlich dadurch, dass man zeigt, in welchen – fremden – Zusammenhang diese Sätze eingeführt worden sind, damit man sie diesem oder jenem Sinn habe unterstellen können. Jeder Leser bringt aber von sich aus einen bestimmten Zusammenhang mit. So kann Schelling von seinen Lesern erwarten, dass ihr geistiger Zusammenhang wesentlich von dogmatischen, kantischen oder fichteschen Ansichten geprägt worden ist. Diese bilden sozusagen den Horizont, der ihre Aufnahme von Sätzen bestimmt. Solche Verstehenshorizonte sind besonders dann zu berücksichtigen, wenn die Absicht eines Autors sie überschreitet. Deshalb streut Schelling in seine Texte immer wieder Winke und Warnungen ein und baut formale Elemente ein, die teils den Leser idealiter dazu bringen, nicht voreilig zu glauben, den Text verstanden zu haben, teils ihm Mittel an die Hand geben, sich ein sachgerechtes Verständnis zu erarbeiten. Mit der Versetzung in einen fremden Zusammenhang werden auch sachfremde Maßstäbe der Verständlichkeit an das Phänomen angelegt. So gilt z. B. ein mechanisches Phänomen erst dann als verständlich, wenn es gelingt, eine Verbindung zwischen bestimmten Parametern des zu erklärenden Phänomens und bestimmten kausalen Gesetzen festzustellen. Wird dieses Verfahren nun auf organische Phänomene angewandt, dann wird sich immer ein Rest zeigen: Dieser unverständliche Rest ist ein Symptom dafür, dass die angelegten Maßstäbe ungeeignet sind, um dieses Phänomen zu verstehen, dass demnach nach anderen Verstehensweisen zu suchen ist, wenn das Phänomen in dem, was es ist, verstehen werden soll. Wir haben bereits erwähnt, wie Schelling für die Unverständlichkeit seiner Schriften nicht so sehr deren Kürze verantwortlich macht, sondern vielmehr die Haltung, mit welcher der Leser zunächst an sie herantritt. Die Form nun soll dieser Haltung Widerstand leisten, sie 33

Dieses Beispiel entlehne ich aus Buchheim 1992, 25 f.

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Der Begriff der ›Darstellung‹

zu erschüttern suchen. Diese Grundhaltung besteht darin, sich eines philosophischen Textes als eines Mediums zu bedienen, durch welches man sich unmittelbar auf den intendierten Gegenstand oder Sachverhalt beziehen kann. In diese Haltung gehen aber bereits Vormeinungen über die Beschaffenheit des Gegenstandes mit ein, die durch den Widerstand, den der Text dieser Haltung leistet, überhaupt erst zu Bewusstsein gebracht werden. Man erwartet von einem philosophischen Text Behauptungen darüber, ob ein bestimmter Sachverhalt der Fall ist oder nicht. Nur solche Behauptungen erlauben es dem Leser, sich zu ihnen ein Verhältnis des Zustimmens oder Abweisens zu geben, wobei dies immer noch aus den verschiedensten Motiven heraus stattfinden kann. Auch dann, wenn man seine Zustimmung oder Ablehnung zunächst aufschiebt, um jene Sätze und die angeführten Argumente einer näheren Prüfung zu unterziehen, geschieht dies nur mit der Absicht, nach der durchgeführten Prüfung seine Zustimmung zu geben oder die Gründe anzuführen, weshalb man sich einer solchen enthält. Anhänger- oder Gegnerschaft wären auch dann noch das eigentliche Ziel der Auseinandersetzung mit einem System. Diese Verhältnisse lassen sich präzisieren, indem wir näher auf das in der Bezeichnung als ›Aktenstücke‹ angedeutete Verhältnis des Textes zur verhandelten Sache eingehen. Erst hier dürfte auch der sachliche Grund zu suchen sein, weshalb solchen Darstellungsproblemen eine entscheidende Bedeutung, insbesondere für die Selbsterkenntnis des Philosophen, beizumessen ist. Der prägnante Sinn von ›Darstellung‹ lässt sich am besten durch den Kontrast zum Begriff der ›Vorstellung‹ entwickeln. Eine Vorstellung bezieht sich auf etwas, das ihr äußerlich bleibt. Dieses präsentiert sich so, dass es zugleich seine Unabhängigkeit von der Vorstellung mit bekundet. Eine Darstellung hingegen bezieht sich auf etwas, das nur in ihr und durch sie zur Präsenz gelangt und somit auf sie angewiesen ist, um das zu sein, was es ist. Dies ließe sich am leichtesten am Beispiel solcher performativen Künste wie der Musik oder des Theaters erläutern, wo das Werk erst durch die Aufführung seine eigentliche Realität erlangt. Es war gerade eine vertiefte Reflexion über die Eigenart solcher performativen Künste, die zu einem vertieften Verständnis des Wesens der Kunst überhaupt geführt hatte. Gerade im Zuge solcher Reflexionen hatte man auf den Begriff der ›Darstellung‹ zurückgegriffen als ein geeignetes Mittel, um über die damit zusammenhängenden Probleme zu reflektieren. Auch Texte, insbesondere philosophische, müssen so 27 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gebaut sein, dass sie den Leser zu einer bewussten Eigenleistung veranlassen. Dies können sie nur, indem sie dem unmittelbaren Verständnis Widerstand leisten, da jene stets erbrachte Eigenleistung bei zu ›glatt‹ gestalteten Texte gerade verschleiert wird. 34 Der Text als ›Aktenstück‹ dient bloß als ein Mittel, das den Leser in die Lage versetzen soll, sich auf die im und durch den Text zur Darstellung gelangende Sache zu beziehen. Da die Sache der Philosophie – die von Schelling bekanntlich als die ›Idee des Absoluten‹ bezeichnet wird – in der Erfahrung nicht zugänglich ist, bedarf es auch einer besonderen Art von Texten, um den Leser den Zugang zu derselben finden zu lassen. Falls die Sache auch ohne den Umweg über einen Text zugänglich ist, weil sie z. B. in der Erfahrung gegeben ist, kann durch die Vergleichung des Textes mit dem Gegenstand darüber entschieden werden, ob die Wiedergabe die Sache trifft oder nicht. Das Verhältnis zwischen Text und Sache ist hier ein solches der Nachahmung. 35 Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn die Sache nicht in der Erfahrung gegeben ist und erst durch den Text zur Präsenz gelangt. ›Darstellung‹ ist danach eine indirekte Vergegenwärtigung einer Sache. Gerade weil die Philosophie ihren Gegenstand nicht in der Erfahrung vorfindet, ist auch sie insbesondere auf Texte angewiesen, um sich ihrer Sache zu vergewissern. Aus diesem Grund hat Schelling den Begriff der Darstellung, der sich in der kunsttheoretischen Reflexion bereits als höchst fruchtbar erwiesen hatte, aufgegriffen, um die damit verbundenen Probleme zu artikulieren. Zunächst dürfte es so aussehen, als ob dadurch einer ›Ästhetisierung‹ der Philosophie Vorschub geleistet wird. Zum Teil dürfte dies daran liegen, dass jener Ausdruck ursprünglich im literarischen und ästhetischen Bereich heimisch war. Da das vornehmste Geschäft der Dichter und Künstler in Es ist vielleicht dies keine ungeeignete Stelle, daran zu erinnern, dass gerade die Darstellung meines Systems gleich nach ihrem Erscheinen eine ganze Reihe von heftigen Reaktionen hervorgerufen hat, die öfters die Form einer – absichtlichen oder unabsichtlichen – Parodie annehmen. Zu nennen ist Des Paracelsus Spinosiors Abolutes Ey, von Johann Heinrich Abicht unter dem Pseudonym Ernest Polarch 1803 veröffentlicht (vgl. AA I,10, 69 (Ed. Bericht)). Ferner die von Aenesidemus verfassten Aphorismen über das Absolute (vgl. dazu Schelling 1805b, 22, 81 / SW VII, 153, 193). 35 Über den Paradigmenwechsel, den die Ersetzung des Nachahmungsbegriffs durch den Begriff der Darstellung bedeutete: Stahl 1957; Heuer 1970; Menninghaus 1994; außerdem Koller 1954. Zur Begriffsgeschichte: Mülder-Bach 1998. – In der Akademierede von 1807 entfaltet Schelling übrigens rigoros das kritische Potential des Darstellungsbegriffs in Bezug auf alle möglichen Varianten der Nachahmungstheorie (bes. Schelling 1809a, 345–360 / SW VII, 293–305). 34

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Der Begriff der ›Darstellung‹

der Hervorbringung von schönen Formen und in der Gestaltung liegt, scheint es nur naturgemäß, wenn sie über diese ihre Tätigkeit auch reflektieren und theoretische Betrachtungen darüber anstellen. Wenn man auch nicht leugnen mag, dass der Philosoph sich ebenfalls gelegentlich mit dem Problem der Darstellung, d. h. der Gestaltung und der Präsentationsweise seiner Lehre konfrontiert sieht, braucht daraus noch keine unmittelbare Relevanz der damit zusammenhängenden Probleme für ein Verständnis und eine Beurteilung der mitgeteilten Inhalten zu folgen. Es handelt sich demnach, so scheint es, nur um einen untergeordneten Teilaspekt der Tätigkeit des Philosophen, der nicht zu seinem Kerngeschäft gehört. Das Interesse an Problemen der Darstellung, insofern man darunter die äußerliche Gestaltung versteht, scheint demnach einem ›ästhetisierenden‹ Umgang mit philosophischen Texten zu entspringen und ihn zu befördern. Nun können auch philosophische Texte manchmal einen ästhetischen Genuss gewähren. Dies scheint allerdings noch nicht dazu zu berechtigen, die sachliche Auseinandersetzung durch eine solche ›ästhetische‹ Betrachtung zu ersetzen. Natürlich kann diese Dimension des Umgangs mit philosophischen Texten, die ja für gewöhnlich übersehen oder nicht der Erörterung für wert gehalten wird, zum Gegenstand eigenständiger Erforschungen gemacht werden, die durchaus interessante Aspekte ans Licht holen können. Was Schelling im Besonderen betrifft, könnte man den Versuch wagen, der oft als Symptom eines philosophischen Scheiterns diagnostizierten Formenvielfalt noch etwas Positives abzugewinnen. So könnte die von Schelling praktizierte Formenvielfalt uns durch Kontrastwirkung beispielsweise einen »Verlust an literarischer Diversität« und eine »Schrumpfung der Ausdrucksmöglichkeiten« in der gegenwärtigen philosophischen Landschaft bewusst machen und uns eventuell dazu anspornen, eine solche Pluralität der »literarischen Genres« zu fördern. 36 Auch wenn sich die Vermutung bestätigen ließe, dass die Irritation, die die Form der schellingschen Schriften dem Leser manchmal verursacht, auf eine Voreingenommenheit für ganz bestimmte Mitteilungsformen von philosophischen Inhalten beruht und dass die von ihm praktizierte Formenvielfalt so das Bewusstsein für in Vergessenheit geratene oder wenigstens außer Gebrauch gekommene Mitteilungsformen schärfen könnte, bräuchte dies aber noch keine schwerwiegenden philosophischen Konsequenzen zu haben. Es wäre sogar fraglich, ob von 36

Hösle 2006, 7.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

solchen vorwiegend mit literaturwissenschaftlichen Methoden operierenden Erforschungen für eine inhaltliche Auseinandersetzung besonders relevante Ergebnisse zu erwarten stehen. Die Fokussierung auf formale Aspekte scheint die Frage nach dem Wahrheitsanspruch, die doch auch mit solchen Texten verbunden ist, methodisch auszuklammern. Wenn solche Erforschungen philosophischer Texte auch durchgängig möglich sind, dann doch weitgehend unabhängig von der im eigentlichen Sinne philosophischen – d. h. den Wahrheitsanspruch ernst nehmenden – Auseinandersetzung. 37 So bräuchte die Auffassung, dass Form und Inhalt zwei unabhängige Komponenten einer Mitteilung bilden, dadurch gar nicht tangiert zu werden. Die Aufmerksamkeit, die man der Form zuteilwerden ließe, würde vielmehr diese Auffassung, auf welcher die Vernachlässigung der Form beruht, der man doch entgegenarbeiten wollte, bestätigen und weiterhin verfestigen. Ferner ließe sich der Verdacht nur schwer beseitigen, dass eine solche Forschungsrichtung doch nur dazu gemeint sei, einer sachlichen Auseinandersetzung mit den durch die Texte vermittelten Inhalten auszuweichen. Während die Erarbeitung und Aneignung dieser Inhalte eine durchaus mühevolle Arbeit erfordert, würde man sich damit begnügen, das gestalterische Geschick zu bewundern und darüber unverbindliche Aussagen zu formulieren, an der Pflanze nur zu riechen, ohne sie zu kennen. Besonders im Falle Schellings scheint diesbezüglich einige Zurückhaltung geboten, weil dieser nicht nur durch sein besonderes schriftstellerisches Talent zu einer solchen ästhetisierenden Betrachtung einzuladen, sondern diese zudem auch noch theoretisch rechtfertigen zu suchen scheint. Wenn er beispielsweise der Erwartung Ausdruck verleiht, dass »die Philosophie […] in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen« wird (AA I,9,1, 329), dann scheint dadurch doch wohl eine Aufhebung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Poesie proklamiert, wenigstens als anstrebenswert in Aussicht gestellt. Wenn dieser Satz, aus seinem Zusammenhang gerissen, auch so gelesen werden könnte, dass nicht nur die Philosophie poetisch, sondern dass gleicherweise die Poesie philosophisch zu werden habe – so steht doch zu befürchten, dass Dies nimmt Vittorio Hösle in seiner »Taxonomie und Kategorienlehre des philosophischen Dialogs« ausdrücklich in Kauf: Zwischen theoretisch-inhaltlicher und ästhetisch-formaler Analyse besteht ein »komplementäres Verhältnis«. Beide können nebeneinander und unabhängig voneinander praktiziert werden: »Beide Betrachtungen sind legitim, können einander aber auch immer wieder ignorieren« (Hösle 2006, 9, 14).

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Der Begriff der ›Darstellung‹

man ihm eine flache, von Schelling nicht intendierte, Vorstellung von Philosophie wie Poesie zugrunde legt, derart, dass beide Lesarten gleich verhängnisvoll sind. Über das Interesse an der Form scheint demnach die intentionale Dimension von philosophischen Texten aus dem Blick zu geraten. 38 Die gegenständliche Betrachtung, die den Text nach seinen formalen Aspekten untersucht, ist aber dadurch motiviert, dass der Text einem intentionalen Zugang Widerstand leistet. Wenn dieser Widerstand nun in der besonderen Beschaffenheit des Gegenstandes dieser Texte seinen Grund hat, dann braucht das Interesse an der Form nicht eo ipso zu einem ›ästhetisierenden‹ Umgang mit philosophischen Texten zu führen. Der Widerstand gegen einen unmittelbar intentionalen Umgang wäre sogar notwendig, um der naiven Einstellung zu Texten vorzubeugen und die übertriebenen Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit zu durchkreuzen, da für den Leser nur so die Chance bestünde, einen Zugang zu diesem Gegenstand zu gewinnen. Die naive Einstellung würde selbst bereits auf einer Vorentscheidung über diesen Gegenstand beruhen. Was diese Sache sei, ist aber »eine nichttriviale Frage, deren Erörterung bereits in den Innenbereich der Philosophie gehört«. 39 Der Widerstand, den philosophische Texte dem intentionalen Umgang leisten, gründet in der eigentümlichen Beschaffenheit der Sache, auf welche sie sich beziehen. Diese Sache ist nicht von einer solchen Beschaffenheit, dass sie sich beschreiben oder nachahmen ließe, sie ist nicht unabhängig von dem durch philosophische Texte eröffneten Zugang erschließbar, derart, dass die philosophische Darstellung mit der dargestellten Sache verglichen werden könnte. 40 Wenn der Philosoph in einer Reflexion über seine schriftstellerische Tätigkeit den Begriff der Darstellung aufgreift, dann bewegen ihn dazu die eigen- und einzigartige Beschaffenheit der Sache der Philosophie und das Problem ihrer Darstellbarkeit. Die Philosophie kann nie ein nachahmendes Verhältnis zu ihrer Sache haben; sie kann nur Darstellung ihrer Sache sein. Ist sie aber Darstellung, dann ist eine vergleichende Betrachtung ausgeschlossen. Damit stellt sich die Frage nach dem Kriterium, wonach wir die mit solchen Texten verknüpften Wahrheitsansprüche beurteilen können. Es ist wohl die Befürchtung, dadurch philosophische Behauptungen 38 39 40

Wieland 1995, 16–21. Wieland 1982, 8. Vgl. Wieland 1995, 15, 26–30. So auch Jähnig 2011, 41.

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der Beliebigkeit preiszugeben, die dazu führt, dass man in die naive Einstellung zu Texten zurückfällt. Gerade dort, wo ein textfreier Zugang zur Sache der Philosophie angenommen wird, ist die Gefahr besonders groß, dass sich Vormeinungen über die Sache einmischen und dass gerade der angeblich textfreie und vorphilosophische Zugang zur Sache von – freilich verwässerten und trivialisierten – philosophischen Vormeinungen durchsetzt ist. Darauf hat Schelling in seinen frühesten Schriften, besonders in seiner Auseinandersetzung mit der Kant-Rezeption seiner Zeit, immer wieder aufmerksam gemacht. »Was Philosophie überhaupt seye«, so Schelling, »läßt sich nicht so schnell beantworten«. Um diese Frage zu beantworten, muss man bereits philosophieren, oder: »[D]ie Idee von Philosophie« ist »nur das Resultat der Philosophie selbst« (AA I,5, 69; vgl. AA I,9,1, 48; AA I,10, 89). Die Bestimmung dessen, was die Philosophie ihrem Wesen nach ist und was sie zu leisten hat, welche Aufgaben sie zu lösen hat, lässt sich demnach nicht von außen an einen philosophischen Text herantragen. Der Leser hat sich also zunächst zu fragen, ob er angesichts dieser Idee der Philosophie mit dem Autor übereinstimmt, so wie der Autor zunächst dafür zu sorgen hat, dass der Leser imstande gesetzt wird, der Sache, an welcher er (der Autor) sich orientiert, innezuwerden. Solche Verhältnisse scheint Schelling im Auge zu haben, wenn er in Philosophie und Religion zwei Zugangsweisen zur Idee des Absoluten als ›Beschreibung‹ und ›Anschauung‹ unterscheidet. Diese Unterscheidung wurzelt in einer Reflexion über die Leistungsfähigkeit von philosophischen Texten sowie auf die Folgen eines unreflektierten Umgangs mit solchen Texten. Die Sätze, die der Philosoph über die Idee des Absoluten aufstellt, sind nicht als eine Beschreibung derselben gemeint. Der Leser, der übersieht, dass »die Beschreibung […] bloss negativ« ist und »nie das Absolute selbst, in seiner wahren Wesenheit, vor die Seele« bringt, fällt dadurch »fast nothwendig« in einen »Irrthum«. 41 Das Absolute selbst lässt sich nicht beschreiben; eine Erkenntnis desselben ist nicht auf dem Wege einer Beschreibung erreichbar: »[N]ur das Zusammengesetzte ist durch Beschreibung erkennbar«. 42 Nur eine überzogene Erwartung an die LeistungsfähigSchelling 1804, 9 / SW VI, 21 f. Schelling 1804, 15 / SW VI, 26. Hier schließt Schelling sich ausdrücklich an die für die Entwicklung des Darstellungsbegriffs entscheidende Stelle der Kritik der Urteilskraft an, wonach eine Idee nur einer indirekten Darstellung fähig ist (vgl. KU, AA 5,

41 42

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Der Begriff der ›Darstellung‹

keit von philosophischen Texten lässt den Leser in jenen Irrtum fallen, da er meint, ein Text vermag die Sache unmittelbar, ohne Eigenleistung des Lesers, zur Präsenz zu bringen. Diese Eigenleistung bezeichnet Schelling auch als ›Anschauung‹. Die Beschreibung des Philosophen beschreibt nämlich nicht so sehr die Sache selbst, sondern vielmehr nur eine geordnete Folge von Leistungen, die der Leser zu erbringen hat, wenn er zur Einsicht in jene Sache gelangen will. Der Text fungiert somit in etwa wie eine Partitur oder eine bloße Vorlage: Es bleibt dem Leser überlassen, diese zur Ausführung zu bringen. Schellings Texte insbesondere sind meistens so verfasst, dass die wesentliche Arbeit dem Leser oder Interpreten überlassen bleibt. So begründet Schelling die gewählte Darstellungsweise damit, dass sie »die größte Kürze der Darstellung verstattet« und dadurch »die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10, 115). Diese Kürze bedeutet indessen auch, dass die einzelnen Schritte eigentlich mehr nur andeutungsweise gegeben werden, die wirkliche Ausführung aber dem Leser überlassen bleibt. 43 Insofern vermag der philosophische Text seine Sache nur indirekt zu vergegenwärtigen. Er kann sie nicht zur Vorstellung, sondern immer nur zur Darstellung bringen. Damit ist auf das einzigartige Verhältnis der Philosophie zu Texten hingewiesen: Zwar ist sie auf Texte angewiesen, um überhaupt Zugang zu ihrer Sache zu gewinnen, da diese nicht in der Erfahrung gegeben ist. Andererseits ist diese Sache jedoch nicht derart, dass sie eine nur textimmanente Realität hätte, wie im Falle eines literarischen Textes. Der Leser bedarf zwar der Unterstützung eines Textes, um überhaupt auf diese Sache gerichtet zu werden, muss dann doch wieder dem Text gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit erlangen, da auch die Sache selbst eine gewisse Unabhängigkeit dem Text 351–354 (§ 59)). Eine Idee lässt sich also per definitionem nicht so beschreiben, dass das Beschriebene durch die Beschreibung selbst zur Präsenz gelangte. Die Beschreibung kann höchstens eine Anleitung bieten, wie man zu verfahren habe, um die Idee zu konstruieren. Nur wenn diese Anleitung befolgt und die Idee auch selbst konstruiert wird, tritt das Absolute in seiner wahren Wesenheit selbst vor die Seele. Zum Darstellungsbegriff bei Kant: Gasché 1994; Bahr 2004. Bei Fichte: Stolzenberg 1986, 120–137, 148–161. 43 Ähnlich auch in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie: Hier kommt es nur darauf an, einen Überblick über das Ganze und eine Einsicht in den Zusammenhang zu gewinnen (vgl. Schelling 1805b, 12 / SW VII, 146). Am offensichtlichsten ist dies wohl bei der Darstellung in der Form eines Gesprächs, wo es beim Leser liegt, sich die Figuren in ihrer Interaktion vorzustellen statt sich mit einer derselben zu identifizieren.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gegenüber hat, durch welche sie überhaupt erst zur Darstellung gelangt. Damit ist auch gesagt, dass alle Sätze, die sich bei Schelling über das Absolute oder dessen Idee finden, nicht als Aussagen über bestimmte Sachverhalte zu verstehen sind, da sie dasjenige, worauf sie sich beziehen, gar nicht zu ›beschreiben‹ oder auf eine direkte Weise präsent zu machen beabsichtigen. Stattdessen handelt es sich um Handlungsanweisungen oder Anleitungen. 44 Auch wenn diese Sätze wie Theoreme aussehen, die über einen Sachverhalt etwas aussagen sollen, wollen sie doch nur zeigen, wie man zu verfahren habe, um einen bestimmten Begriff bzw. eine Idee zu konstruieren. Dem Leser sollen nicht Wissensinhalte unmittelbar mitgeteilt, sondern ihm soll vielmehr gezeigt werden, wie er sich eine bestimmte Form des Wissens, das sich nie in solchen Inhalten oder Ergebnissen erschöpft, selbst erwerben kann. 45 Der Grund, weshalb Schelling hier den Begriff der ›Beschreibung‹ einführt, ist folgender. Unter ›Beschreiben‹ versteht man gemeinhin die Auflösung eines Gegenstandes in Begriffen. Bei seiner Verwendung des Begriffs der ›Beschreibung‹ hebt Schelling auf diesen Moment der Auflösung in einzelne Konstruktionsschritte ab. Wenn er hinzufügt, dass dasjenige, was hier aufgelöst wird, »in dem Gegenstand absolut Eins ist«, dann heißt dies natürlich nicht, dass der Leser diese einzelnen Schritte auch auf einmal zu vollziehen habe. 46 Er hat während der Konstruktion nur immer zu bedenken, dass dasjenige, was in einzelnen Schritten konstruiert wird, dadurch, dass es sich nur sukzessiv denken lässt, nicht auch im Gegenstand sukzessiv ist. So bedarf es auch zur Konstruktion einer geometrischen Figur einzelner Schritte und es besteht eine logische Folge zwischen diesen Schritten, aber dies heißt nicht, dass eine Figur auf diese Weise auch wirklich entsteht, als ob mit dieser begrifflichen Genese auch eine wirkliche Genese beschrieben wäre. Deshalb muss während der Konstruktion von der Sukzession ›abstrahiert‹ werden. So kann es von den Potenzen auch heißen, dass sie selbst »absolut gleichzeitig« sind, obwohl sie in einer logischen Schrittfolge konstruiert werden (AA I,10, 136 (§ 44)). Auch die Angaben im »Vorbericht« von Philosophie und Religion sind nicht so sehr als Materialien einer Entstehungsgeschichte der 44 45 46

Vgl. Buchheim 1990, 334 f. Vgl. Wieland 1982, 21. Schelling 1802b, 52 / SW IV, 374.

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Der Begriff der ›Darstellung‹

Schrift gemeint, sondern zuallererst als Leseanweisungen. 47 Die Frage, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, ist somit von nachgeordneter Bedeutung. 48 Der Hinweis, dass Philosophie und Religion die Umarbeitung eines Gesprächs ist, soll dem aufmerksamen Leser als Hilfe dienen, sich die fragmentarische Präsentation von Schellings Lehre zu erklären. Das Buch kann nur »aufmerksame[n] Lesern« verständlich werden, d. h. solchen, die sich die Mühe geben, aus den »einzelnen Theile[n]« selbständig die »organische Verbindung« aufzuspüren, aus welche jene »gerissen« wurden. 49 Damit sind die Leser gleich anfangs auch gewarnt, dass sie in dieser Schrift keine organiDer Hinweis auf ein »schon seit längerer Zeit« halbfertiges Gespräch (Schelling 1804, III / SW VI, 13) dürfte auch dadurch motiviert sein, den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, dass die Ausführungen in Philosophie und Religion erst aus Anlass von Eschenmayers Bedenken entwickelt wurden. Dass ein solcher Verdacht unbegründet ist, zeigt sich allerdings bereits an dem früheren Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt von 1802. Auf die vielfältigen Beziehungen zwischen beiden Schriften wurde bereits früh hingewiesen, vgl. Michelet 1839, 33 f., 52, und neuerdings Danz 2002, 205 und Ziche 2002, 211. 48 Vgl. indessen den Brief vom 4. April 1802 an A. W. Schlegel, wo es heißt, dass Bruno »der erste Versuch [ist], ich hoffe aber nun weiter auf dieser Bahn fortzugehen, und mir diese Form immer mehr zu eigen zu machen« (F. W. J. Schelling an A. W. Schlegel, 4. April 1802, AA III,2,1, 426). 49 »Wenn aufmerksame Leser, in dieser [sc. in Philosophie und Religion, R. S.], Spuren einer höheren organischen Verbindung erkennen, aus der die einzelnen Theile gerissen sind, so werden sie es sich aus dem Gesagten erklären« (Schelling 1804, III / SW VI, 13). Der Satz enthält eine (von Schelling bereits AA I,9,1, 301 zitierte) Anspielung auf Horaz’ Sermones, I 4, 57–62: Nähme man aus den von Horaz zitierten Ennius-Versen Versmaß und Rhythmus hinweg und veränderte zudem die Wortstellung, dann würde man selbst nicht mehr die Teile oder Glieder eines zerrissenen Dichters finden, sondern die poetische Qualität wäre schlechthin zerstört. Schelling kontrastiert hier die Weise, wie er selbst in dieser Schrift aus ›einzelnen Theilen‹ ein neues Ganzes bildet mit der Art, wie Gegner und Anhänger einzelne Teile aus dem Ganzen herausreißen. – Wenn Schelling auch folgende Sätze Rousseaus nicht kennen konnte, da diese erst 1861 zum ersten Male veröffentlicht wurden, so drücken sie doch seltsamerweise ganz treffend sein eigenes Verfahren aus: »Quelques précautions m’ont donc été d’abord nécessaires, et c’est pour pouvoir tout faire entendre que je n’ai pas voulu tout dire. Ce n’est que successivement et toujours pour peu de Lecteurs, que j’ai développé mes idées. Ce n’est point moi que j’ai ménagé, mais la vérité, afin de la faire passer plus sûrement et de la rendre utile. Souvent je me suis donné beaucoup de peine pour tâcher de renfermer dans une Phrase, dans une ligne, dans un mot jetté comme au hasard, le résultat d’une longue suitte de réflexions. Souvent la pluspart de mes Lecteurs auront du trouver mes discours mal liés et presque entierement décousus, faute d’appercevoir le tronc dont je ne leur montrois que les rameaux. Mais c’en étoit assez pour ceux qui savent entendre, et je n’ai jamais voulu parler aux autres« (Rousseau 1754, 106). 47

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sche Verbindung, sondern nur ›einzelne Theile‹ zu erwarten haben: Das Ganze muss erst aus diesen erschlossen werden. Die Schrift bildet also eine Art Ruine oder Bruchstück, und es bleibt dem Leser überlassen, aus ihm das ›Original‹ zu erschließen. Zugleich ist dieser »Vorbericht« wie ein Nachwort zum Bruno. Wenn dieses Gespräch auch durch seinen gehoben-feierlichen Ton bereits deutlich macht, dass es sich an ganz besondere Adressaten richtet, und seine Form, die Angaben zu Beginn 50 sowie der sich daraus ergebende unvollendete Charakter des Ganzen zu erkennen geben, dass es nur ein Bruchstück, nur »der Anfang einer Reihe von Gesprächen« war, so wird auch der weniger aufmerksame Leser an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen. 51 Auch vom Bruno lässt sich sagen, dass die Darstellung unterbrochen wurde und ›Zeit und Umstände‹ eine unmittelbare Fortsetzung nicht erlaubten. Ein neu eingetretener Umstand (die Veröffentlichung Eschenmayers) nötigt nun dazu, wenn nicht das Gespräch fortzusetzen, dann doch die für dieses vorgesehene Themen eingehender zu behandeln.

3. Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren Das Gespräch Bruno ist die erste Schrift, die Schelling in Philosophie und Religion erwähnt, und zwar sogleich im ersten Satz. Es ist auch diejenige Schrift, auf welche Schelling in der Folge am meisten verweist. 52 Insofern er Philosophie und Religion als eine Art Weiterführung jenes Gesprächs präsentiert, ist klar, dass diesem für jene eine besondere Bedeutung zukommen muss. 53 Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, auf jene Hinweise zurückzukommen, die in Vgl. Schelling 1802a, 33–35 / SW IV, 233 f. Schelling 1804, III / SW VI, 13. 52 Außer im Vorbericht wird das Gespräch noch sechsmal erwähnt: einmal im ersten (Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) und fünfmal im zweiten Abschnitt (Schelling 1804, 19, 19 f., 26, 27, 53 / SW VI, 28, 29, 32, 33, 50). Außerdem finden sich im Anhang deutliche Anklänge, die aber nicht als solche kenntlich gemacht werden. Neun der neunundzwanzig Fußnoten verweisen auf weitere Schriften Schellings, vierzehn auf die Schrift Eschenmayers. Nur sechs Fußnoten verweisen auf andere Autoren, davon vier auf antike und zwei auf moderne Autoren (Homer, zweimal Platon, Cicero, Spinoza und Friedrich Schlegel). 53 Dies dürfte teils auch dadurch motiviert sein, dass Eschenmayer besonders diese Schrift wiederholt zitiert, vgl. Eschenmayer 1803, 62 (§ 70), 67–69 (§ 72), 78 (§ 79). 50 51

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Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

der Absicht eingefügt werden, die Kontinuität zwischen beiden Schriften in doktrineller Hinsicht zu betonen. So möchte Schelling besonders die Darlegungen im ersten und zweiten Abschnitt als Erläuterungen zur Darstellung seiner Lehre im Bruno verstanden wissen. Während im Haupttext die Kontinuität betont wird, hebt die erste Erwähnung hingegen einen gewichtigen Unterschied hervor. Dieser betrifft den unterschiedlichen Modus der Darstellung. Da Schelling die für Bruno gewählte Form als eine »symbolische Form« charakterisiert, gilt es zu untersuchen, was die Eigenart dieser Form ist, welche Absicht Schelling mit derselben verfolgt und welche Aufgabe er ihr zuschreibt. 54 Außerdem ist zu untersuchen, was Schelling zu der »Meynung« veranlasst hat, dass die symbolische Form »die einzige« sei, »welche die bis zur Selbstständigkeit ausgebildete Philosophie in einem unabhängigen und freyen Geiste annehmen kann«. 55 Erst vor diesem Hintergrund kann es gelingen, auch Schellings Absicht mit Philosophie und Religion und besonders das Motiv für die Umarbeitung einer fast fertigen Schrift präziser zu umreißen. Schelling unterscheidet ausdrücklich ein »kunstgerechtes Gespräch« und »ein ganz natürliches« Gespräch. 56 Damit stellt sich die Frage nach dem präzisen Unterschied beider Formen des philosophischen Dialogs und nach der Besonderheit der symbolischen Gesprächsform. 57 Zur Beantwortung dieser Frage ist, erstens, zu unterSchelling 1804, III / SW VI, 13. Schelling 1804, IV / SW VI, 13. 56 Schelling 1802d, 90 / SW V, 77. 57 Die nachfolgenden Überlegungen können als eine Ergänzung zur »Poetik und Hermeneutik« des »philosophischen Dialogs« angesehen werden, die Vittorio Hösle vorgelegt hat. Hösle unterscheidet allerdings nicht zwischen symbolischem und natürlichem Gespräch. Überhaupt differenziert er kaum zwischen unterschiedlichen Dialogtypen. Zwar arbeitet er einen Satz von flexiblen formalen Kriterien heraus, die einer solchen Differenzierung hätten dienlich sein können. Er bringt sich allerdings um den Gewinn, der mittels seiner anvisierten »Taxonomie und Kategorienlehre des philosophischen Dialogs« zu erzielen gewesen wäre, indem er jene Kriterien durch die Annahme einschränkt, dass der philosophische Dialog ein »literarisches Genre« ist, das »ein reales Phänomen, den philosophischen Austausch zwischen verschiedenen Menschen« nur »spiegelt bzw. transformiert«, und somit eine bloß literarisch überformte oder stilisierte Darstellung eines »direkten sozialen Austausches«. Dieser Begriff von dem, was ein Dialog zu sein hat, den er nicht aus einer Analyse von Dialogen gewonnen hat, sondern anfangs apodiktisch aufstellt, wird in der Folge als ein normatives Kriterium angewandt. Dies hindert ihn von vornherein daran, überhaupt noch die Frage zu stellen, inwiefern es einem Autor gelingt, ein vorgefundenes Genre nach seinen eigenen Zwecken und in Übereinstimmung mit seiner eigenen 54 55

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

suchen, ob sich im Bruno selbst Indizien auffinden lassen, die die Charakterisierung als symbolisches Gespräch rechtfertigen. Dann ist, zweitens, zu erörtern, welchen Begriff von Symbol und symbolisch Schelling dabei zugrunde legt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen Absicht zu verwenden und zu verwandeln. Es darf denn auch kaum verwundern, dass der Autor, wenn er im zweiten Teil seiner Arbeit auf Bruno zu sprechen kommt, nur wenig mit diesem Dialog anzufangen weiß und ihn nach seinem Maßstab nur als defizient einstufen kann. So sieht er sich dazu genötigt, dem Gespräch die »dramatische Qualität« abzusprechen, da es keinen besonders hohen »Polyphoniegrad« aufweise, »auf der theoretischen Ebene zu wenig Diversität zwischen den verschiedenen Gesprächspartnern« herrsche und in seiner Form nicht die postulierte Intersubjektivität spiegele. Durch seine bloße Form würde es »jede Andersheit perhorreszieren«. Der Autor schließt, dass die Dialogform »in einem solchen Fall ganz gewiss überflüssig« ist und somit nur eine literarische Einkleidung von Inhalten, die sich ohne wesentliche Verluste auch ohne diese aufwendige literarische Aufmachung hätten vermitteln lassen. Im Allgemeinen kann man zu solchen Urteilen bemerken, dass sie der bestimmenden Urteilskraft entspringen, da ein besonderer Fall nach einem allgemeinen Kriterium beurteilt wird. Da in diesem Fall das Besondere dem Kriterium nicht genügt, wäre allerdings zu fragen gewesen, ob dies nicht vielmehr die Unzulänglichkeit der angelegten Kriterien anzeigt. Vielleicht wäre hier vielmehr die reflektierende Urteilskraft gefragt, die das der Sache angemessene Kriterium erst noch zu suchen hat und aus der Sache selbst zu erschließen sucht. Die Subsumtion des Bruno unter den allgemeinen Begriff des Dialogs reicht nicht aus, um auch die mit dieser Form verfolgte Absicht zu erkennen (Hösle 2006, 7–10, 32, 49 f., 54, 279–282). Übrigens ist der Vorwurf eines Mangels an ›Polyphonie‹ nur die Neuauflage einer bereits von Karl Jaspers formulierten Kritik: »Die Philosophie des deutschen Idealismus in ihren vielfachen Gestalten hat das Gemeinsame, eine Philosophie des Abschließens, der Kommunikationslosigkeit zu sein in der Behauptung und systematischen Darstellung des absoluten Wissens. Es ist keine Philosophie, in der sich lebendige Menschen, die noch fragen und im Ernst ihr Schicksal ergreifen, die Hand reichen, sondern eine Philosophie, die man als Anhänger in gehorsamer Unterwerfung glauben und fanatisieren […] kann, die aber unfähig ist, zu Dasein und Lebensform durch den Ernst einer sie ergreifenden Existenz zu werden«. Und: »Kommunikationslos ist die Philosophie, die Gefolgschaft will und bewirkt. Sie fordert Gehorsam. Wer sie verkündet, will belehren, einprägen, Denkmanieren erzeugen, aber nicht antworten, wo ihm etwas Fremdes begegnet, das für ihn nicht einzubeziehen ist. Kommunikativ dagegen ist die Philosophie, die ihre Wahrheit nicht als das eine Gebilde des Denkens beansprucht, sondern sie, als in Kommunikation stattfindend, in dieser selbst immer noch sucht«. Allerdings ist Jaspers gezwungen zuzugeben, dass die Wirkung Schellings »nicht als Schelling-Schule faßbar« ist: »Sie ist zudem zerronnen, unmerklich, als ob sie gar nicht gewesen wäre«; Schelling »hat keine Schule. Schulen produzieren eine brauchbare Literatur der Mediokrität, wie Hegel oder Herbart«; eine Philosophie wie die Schellings kann »nur auf Einzelne« wirken (Jaspers 1955, 284, 340, 329; vgl. auch Jaspers 1955, 119). Die Tendenz dieser Kritik hat Jürgen Habermas treffend charakterisiert: »So unterstehen alle philosophischen Gedanken als ihrem obersten Richtmaß der Frage, ob sie Kommunikation hemmen oder fördern«. Damit folgt Jaspers dem

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Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

können dann, drittens, für die Interpretation der in diesem Gespräch zur Darstellung gelangenden Konstellation sowie der Absicht Schellings fruchtbar gemacht werden. Dabei wird sich zeigen, wie der Sinn philosophischer Behauptungen nur dann angemessen erhoben werden kann, wenn man sich fragt, wer spricht? Im Laufe dieser Überlegungen werden wir die Begriffe der ›Gegend‹ und der ›konzeptuellen (oder symbolischen) Figur‹ einführen und erläutern. (1.) Der Unterredung zwischen Bruno und Lucian, die den Hauptteil des Gesprächs ausmacht, ist ein einführendes Gespräch zwischen Anselmo, Alexander und Lucian vorgeschoben. 58 Dieses soll zum einem zum Hauptteil hinführen, zum anderen zugleich den Rahmen für die gesamte Reihe von Gesprächen entfalten, »deren Gegenstände auch in ihm zum voraus bezeichnet sind«. 59 Indem es aber insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schönheit verhandelt und dabei auch die Werke philosophischer und schöner Kunst vergleicht, gibt dieses einleitende Gespräch dem Leser zugleich auch einige wichtige Hinweise darüber, nach welchen Kriterien dieses Gespräch selbst bzw. die Reihe, deren Auftakt es bildet, beurteilt sein will und welche Absicht Schelling dabei verfolgt. 60 Anselmo erinnert nämlich an ein Gespräch am Vortag über das Verhältnis von Wahrheit und Schönheit, das in einer Aporie geendet hatte. 61 Dieses Gespräch, das mit der Frage nach der »Einrichtung der Mysterien« oder nach der angemessenen Art, philosophische Lehren mitzuteilen, anhob, soll jetzt wieder aufgenommen und der Streit, in welchen es mündete, soll ausgetragen werden, damit »die Rede zugleich in ihren Ursprung zurückkehre« 62 und »nachher« das eigentliche Thema des Gesprächs, nämlich »die Mysterien und die Mythologie« sowie »das Verhältniß der Philosophen und Dichter«, wieder aufgenommen und »auf de[m] gelegten sichern Grund« behandelt »Impuls«, dass »sich die bewährten Methoden der parlamentarischen Diskussion auch in der philosophischen fruchtbar verwirklichen lassen« (Habermas 1971, 99 f.). 58 Vgl. Schelling 1802a, 3–35 / SW IV, 217–234. 59 Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. Schelling 1802a, 23–35 / SW IV, 227–233. 60 Vgl. Schelling 1802a, 3–23 / SW IV, 217–227 61 In der Darstellung meines Systems hatte Schelling bereits angekündigt, dass diese Frage bei einer Weiterentwicklung des Systems zur Sprache kommen werde (vgl. AA I,10, 211). Dieses Versprechen wird hier also eingelöst. 62 Wenn dieser Punkt Schelling 1802a, 23 / SW IV, 227 auch im Wesentlichen erreicht ist, so ist das Gespräch doch erst Schelling 1802a, 33 / 233 wirklich zu dem Punkt zurückgebracht, wo es am Vortag abgebrochen wurde; hier gibt Anselmo eine Zusammenfassung des damals von Polyhymnio Gesagten.

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werden kann. 63 Der Hauptteil des Gesprächs ist somit auch als ein Beitrag zur endgültigen Beantwortung jener Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Dichtung gedacht. Anselmo, der hier zunächst in der Rolle eines Gesprächsleiters auftritt, 64 erinnert Lucian und Alexander an ihre früheren Behauptungen. Während Lucian behauptet hatte, dass »in vielen Werken die höchste Wahrheit seyn könne, ohne daß ihnen darum auch der Preis der Schönheit zuerkannt werden dürfte«, vertrat Alexander hingegen die These, dass »die Wahrheit allein alle Foderungen der Kunst erfülle, und daß einzig durch diese ein Werk wahrhaft schön werde«. 65 Während er die These Lucians keiner weiteren Untersuchung für würdig befindet, wendet Anselmo sich ausschließlich Alexander zu. Seine Fragen zielen in erster Linie darauf ab, herauszufinden, in welchem Sinne Alexander die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹ verstanden habe, als er behauptete, dass ein Werk einzig durch die Wahrheit dessen, was in ihm ausgedrückt ist, auch schön ist und dadurch »allein alle Foderungen der Kunst erfülle«, dass es den Erfordernissen der Wahrheit genügt. 66 Dabei stellt sich heraus, dass Alexander die Schönheit nur deshalb der Wahrheit hat unterordnen können, weil er Wahrheit als die korrekte Wiedergabe eines vorhandenen Wirklichen verstand. Dem hält Anselmo entgegen, dass diese »Art der Wahrheit […] nur Der zur Regel und Norm der Schönheit machen [kann], welcher nie die unsterbliche und heilige Schönheit erblickte«. 67 Alexanders These ist somit nur deshalb falsch, weil er dabei einen unzureichenden Begriff von Wahrheit als Nachahmung von in der Erfahrung gegebenen Dingen zugrunde gelegt hatte. Dennoch beschließt Anselmo die Überredung mit der unverkennbar ironischen Bemerkung, dass Alexander »also ganz rechte« hatte, wenn er urteilte, dass »ein Kunstwerk einzig durch seine Wahrheit schön sey«, da er hingegen damit sagen will, dass nur der wahre Philosoph auch am besten die Kunst des Schreibens beherrsche. 68 Dementsprechend bringt er Alexander, ihn dem Schelling 1802a, 4 / SW IV, 217 f. Auch weiterhin: vgl. Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234, wo er Bruno nicht nur das Wort erteilt, sondern ihm auch das Thema vorgibt, das dieser behandeln soll, und Schelling 1802a, 180 / SW IV, 307, wo Bruno ihm nach der Erledigung der Aufgabe das Wort zurückgibt und Anselmo den Plan für das abschließende Gespräch entwirft. 65 Schelling 1802a, 3 / SW IV, 217. 66 Schelling 1802a, 3 / SW IV, 217. 67 Schelling 1802a, 21 f. / SW IV, 226 f. 68 Schelling 1802a, 21 / SW IV, 226. 63 64

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Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

platonischen Ion gleichsetzend, dazu, einzugestehen, dass die Künstler »die Idee der Schönheit und Wahrheit an und für sich selbst oft am wenigsten besitzen, eben weil sie von ihr besessen werden« und der Künstler, obwohl er das Göttliche nicht erkennt, »es doch von Natur ausübt« und »ohne es zu wissen denen, die es verstehen, die verborgensten aller Geheimnisse« offenbart. 69 Das Ergebnis dieser Unterredung lässt sich auch so formulieren, dass die Wiedergabe oder Nachahmung eines realen Austausches nicht ohne weiteres ein angemessenes Kriterium zur Beurteilung eines philosophischen Dialogs abgibt. Die Auffassung, wonach ein philosophischer Dialog insofern als geglückt anzusehen wäre, als es ihm gelingt, das ›reale Phänomen‹ des ›philosophischen Austausches‹ als allgemeine ›Praxis des Philosophierens‹ möglichst getreu wiederzugeben, wird damit dezidiert zurückgewiesen. Nach dieser »Regel und Norm« gestaltete Dialoge wären höchstens wegen der Kunstfertigkeit zu bewundern, »mit der sie das Natürliche erreichen«. 70 Wir können somit schließen, dass Schelling mit diesem Gespräch nicht beabsichtigte, einen ›realen Austausch‹ oder eine ›direkte soziale Interaktion‹ wiederzugeben, und dass er somit zu Recht das symbolische als das ›kunstgerechte‹ von dem ganz natürlichen Gespräch abhob. Übrigens gibt Schelling durch die ganze Inszenierung des Gesprächs, besonders durch dessen ritualisierten Ablauf sowie durch die feierlich-gehobene Sprache, die nur wenig mit einer freien Rede oder mit den Gepflogenheiten einer ›direkten sozialen Interaktion‹ gemein haben, bereits deutlich genug zu erkennen, dass er Gelingen oder Misslingen seiner Absicht nicht danach abgeschätzt haben will, ob eine direkte Interaktion über philosophische Themen realistisch wiedergegeben wird. (2.) Damit ist das symbolische Gespräch jedoch erst negativ charakterisiert. Um einen positiven Begriff desselben zu gewinnen, müssen wir jetzt untersuchen, worin nach Schelling das Eigentümliche eines Symbols liegt. Seine Überlegungen lassen sich auf drei Thesen zurückbringen. Die erste These betrifft das Verhältnis zwischen einer Darstellung und der durch sie und in ihr zur Darstellung gelangenden Sache.

Schelling 1802a, 29 / SW IV, 230 f.; Herv. v. Verf. Solche Figuren des Unbewussten fanden übrigens von früh an Schellings Interesse. Siehe das Studienheft ›Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Einwirkung auf Menschen überhaupt‹ (vgl. AA II,4, 15–28). 70 Schelling 1802a, 22 / SW IV, 227. 69

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Schelling unterscheidet drei Arten der Darstellung: die schematische, die allegorische und die symbolische (vgl. SW V, 407–411). Diese unterscheiden sich zunächst durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu der in ihnen zur Darstellung gelangenden Sache. Eine schematische Darstellung ist eine solche »Darstellung, in welcher das Allgemeine das Besondere bedeutet, und dies ist auch die Definition des Schematismus« (SW V, 407). So kann z. B. irgendein Attribut, eine bestimmte Haltung, ein Gesichtsausdruck oder auch eine charakteristische philosophische Position eine dargestellte Figur als diese oder jene konkrete Figur identifizierbar machen. Ein Porträt, als deutlichstes Beispiel einer schematischen Darstellung, kann man dadurch darauf prüfen, inwiefern es den Dargestellten korrekt wiedergibt, dass man es mit dem Porträtierten vergleicht. Die allegorische Darstellung hingegen stellt einen Begriff dar. Der Begriff ist uns in diesem Fall allerdings auch ohne die Darstellung bekannt. Deshalb werden in einer Allegorie meist konventionelle Zeichen verwendet, was allerdings dazu führt, dass sie ohne Kenntnis dieser Konventionen oft kaum noch zu entschlüsseln ist. Jedenfalls kann eine allegorische Darstellung auf ihr Gelingen oder Misslingen dadurch geprüft werden, dass man sie mit den in dem Begriff enthaltenen Merkmalen vergleicht. Schematische und allegorische Darstellung haben gemeinsam, dass in beiden etwas dargestellt wird, das auch ohne den Umweg über die Darstellung zugänglich ist. Dies fasst Schelling so zusammen, dass sowohl die schematische als auch die allegorische Darstellung das Dargestellte bloß bedeuten (vgl. SW V, 409). Beide verweisen auf etwas außer sich, durch welches sie selbst erst deutbar sind. Sie erhalten ihre Bedeutung erst in einem Verweisungszusammenhang, in welchem sie aufgenommen sind, indem sie auf etwas außer sich verweisen. In beiden Fällen besteht zwischen der Darstellung und der dargestellten Sache ein Bedeutungsverhältnis. 71 Die symbolische Darstellung unterscheidet sich dadurch von der schematischen und allegorischen Darstellung, dass es keinen anderen Zugangsweg zum Dargestellten gibt als eben durch die Darstellung selbst. Sie eröffnet dadurch einen Wirklichkeitsbereich, der uns sonst verschlossen bliebe. Zwischen Darstellung und Dargestelltem besteht in diesem Fall ein Darstellungsverhältnis im prägnanten Sinn: Das Symbol ist das Dargestellte (vgl. SW V, 411). Da die Kopula bei Schelling zwar eine Identität, nicht aber eine Einerleiheit bezeichnet, 71

Vgl. Whistler 2013, 15.

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Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

so besagt der Satz, wonach das Symbol das Dargestellte ist, nicht, dass Symbol (die Darstellung) und Idee (das Dargestellte) einerlei sind, sondern dass sie identisch sind oder dass zwischen beiden ein Darstellungsverhältnis besteht. Daraus folgt, dass es bei der symbolischen Darstellung kein äußeres Kriterium der Beurteilung wie z. B. die Vergleichung gibt. Anders als Schema und Allegorie erfährt das Symbol seine Deutung nicht von etwas außer ihm, sondern es ist selbst deutend. Es stellt ein Potential bereit, das Wirkliche auf seine Bedeutung oder seinen Sinngehalt hin zu erschließen. Deshalb gibt »die deutsche Sprache Symbol vortrefflich als Sinnbild wieder« (SW V, 412). 72 Dies geschieht dadurch, dass das Symbol, nach der ursprünglichsten Bedeutung von ›Symbolon‹, zwei Bereiche zusammenbringt, die sich aufgrund ihrer formalen Entsprechungen wechselseitig zu deuten und durchsichtig zu machen vermögen. So können Phänomene aus einem bestimmten Bereich zum »Sinnbild von etwas Höherem« 73 oder zum »Gleichniss und Sinnbild des andern« werden. 74 Sie können denn auch als Modell verwendet werden, um Phänomene anderer Art zu deuten. 75 Diese Erschließungskraft eignet nur dem Symbol. Diese erhält es daher, dass es Darstellung einer Idee ist. 76 Nach der zweiten These korrespondiert jedem Darstellungsmodus auch eine ihm eigene und nur ihm angemessene Art der Aufnahme oder der ›Lektüre‹. Die Unterscheidung verschiedener Darstellungstypen impliziert somit die Unterscheidung verschiedener Aufnahmemodi, die keine bloß subjektiven ›Sichtweisen‹ sind, sondern ihren Grund in der Darstellung selbst haben. Jeder Darstellungstypus verlangt einen ihm angemessenen Aufnahmemodus, wenn man dem Dargestellten in seiner Eigenart gerecht werden will. Es ist somit auch möglich, die Darstellung in ihrer Eigenart zu verfehlen, so wenn man »Wir begnügen uns allerdings nicht mit dem bloßen bedeutungslosen Seyn, dergleichen z. B. das bloße Bild gibt, aber ebensowenig mit der bloßen Bedeutung, sondern wir wollen, was Gegenstand der absoluten Kunstdarstellung seyn soll, so concret, nur sich selbst gleich wie das Bild, und doch so allgemein und sinnvoll wie der Begriff« (SW V, 411 f.). Hier kehrt eine der allgemeinsten Denkfiguren Schellings zurück, nämlich dass Wesen und Form einander nicht äußerlich sind, sondern einander wechselseitig ›eingebildet‹ sind. 73 AA I,7, 284; vgl. Schelling 1803b, 393 / SW II, 275. 74 Schelling 1803c, 33, 47 / SW IV, 411, 421. 75 Vgl. AA I,7, 356; Schelling 1803b, 103 / SW II, 82; Schelling 1806b, XX f. / SW II, 360; Schelling 1809a, 441, 457 f., 511 / SW VII, 366, 378, 415. 76 Ein Vergleich mit dem goetheschen Symbolbegriff findet sich bei Todorov 1977, 235–249; Whistler 2013, 25–27, 37–40, 163 f., 228–243. Vgl. Jähnig 1969, 190. 72

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

eine symbolische Darstellung nur schematisch ›lesen‹ würde. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn man symbolische Figuren nur zu identifizieren oder mit bestimmten realen Figuren in Beziehung zu setzen sucht. Die dritte These schließlich betrifft das Verhältnis der Darstellungsmodi untereinander: Die symbolische Darstellung schließt die schematische und allegorische nicht so sehr aus, als dass sie die Möglichkeit derselben vielmehr in sich enthält. 77 Ein Symbol ist somit immer eine Mannigfaltigkeit. Obwohl eine symbolische Darstellung somit immer auch eine schematische und eine allegorische ›Lektüre‹ erlaubt, so leistet sie einer vollständigen oder erschöpfenden Durchführung derselben dennoch Widerstand. Sie enthält beide Sichtweisen als Möglichkeiten in sich, ohne dass ihre Bedeutung durch eine derselben oder durch beide zusammen erschöpft wäre. Die eigentliche Leistung des Symbols besteht in seinem Deutungscharakter. Es erschließt erst den Bereich, der bestimmte Behauptungen verständlich macht, oder es eröffnet den Horizont, von woher sie ihren Sinn erhalten. (3.) Die vorherigen Überlegungen erlauben eine präzisere Bestimmung des symbolischen Charakters des Bruno. Nach der dritten These enthält die symbolische Darstellung die Möglichkeit einer schematischen ›Lesart‹ in sich. In der Tat lässt sich in der Figur des Lucian unschwer Fichte erkennen. 78 Damit wäre der Ansatz einer schematischen Lesart gegeben, wonach idealiter jede Figur als eine reale Person zu identifizieren und zu entschlüsseln und jede ihrer Aussagen auf eine bestimmte Stelle in ihren Werken zu beziehen wäre. 79 Die Vgl. Barth 1991, 159; Tomberg 2001, 79. Dies wird auch dadurch nahegelegt, dass Schelling Fichte die Lektüre dieses Gesprächs besonders empfiehlt (F. W. J. Schelling an J. G. Fichte, 3. Oktober 1801, AA III,2,1, 378). In einem Vortrag an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 5. März 2009 hat Claudio Cesa übrigens auch eine allegorische Lesart vorgeschlagen, wonach Lucian als ›der Erleuchtungsfähige‹ zu lesen wäre, während Bruno dementsprechend die Rolle des ›Lichtbringenden‹ übernähme (vgl. auch Cesa 2009, 74 f.). 79 Merkwürdigerweise fehlen bislang, soweit ich sehe, Identifikationsversuche für die anderen Gesprächsteilnehmer. Zwar hat z. B. Xavier Tilliette in der »Rede von der Mythologie und Poesie« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234) eine Anspielung auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie erkannt, ohne dass man untersucht hat, ob dieser nicht auch als Figur im Bruno auftritt (vgl. Tilliette 1992, 335 f.). Alexander wäre hier, wie mir scheint, ein guter Kandidat. Ferner spricht einiges dafür, dass sich hinter Anselmo Jacobi verbirgt. So fängt Bruno die Unterredung mit Lucian mit einer Verbeugung vor Anselmo an, indem »[z]um Grunde […] des Gesprächs zu legen« 77 78

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Identifizierung des Lucian jedenfalls ist so naheliegend, dass sie als von Schelling beabsichtigt gelten kann und für das Verständnis des ganzen Gesprächs zu berücksichtigen ist. Wenn das Gespräch allerdings, nach Schellings ausdrücklicher Erklärung und nach den Indizien im einführenden Gespräch, als ein symbolisches Gespräch zu verstehen ist, dann kann die Deutung des Gesprächs sich, nach der ersten These, nicht in solchen Identifizierungen erschöpfen, sondern muss der Durchführung der schematischen Lesart Widerstand leisten. Danach würde man Schellings eigentliche Absicht verfehlen, wenn man im Bruno nichts als die verschlüsselte, literarisch überhöhte Wiedergabe eines (wenigstens möglichen) realen Austausches sieht. In der Tat gibt Schelling keine bloße Wiedergabe der fichteschen Lehre, sondern er scheint sich auch hier durch die Maxime leiten zu lassen, nur dasjenige darzustellen, was Fichte »meiner Einsicht nach wollen musste, wenn seine Philosophie in sich selbst zusammenhangen sollte« (AA I,4, 102). 80 In der nichts »Vortrefflicheres« zu erfinden sei, »als wozu du uns geführet, die Idee dessen, worin alle Gegensätze nicht sowohl vereinigt als vielmehr eins, und nicht sowohl aufgehoben als vielmehr gar nicht getrennt sind« (Schelling 1802a, 38 / SW IV, 235; Herv. v. Verf.), im deutlichen Unterschied zum fichteschen Ich als der Idee dessen, worin die Gegensätze vereinigt und aufgehoben sind, als der Idee einer Identität, nicht einer Indifferenz. Bruno erkennt hier ausdrücklich an, dass dasjenige, was ihm als Ausgangspunkt dienen wird, nicht von ihm zuerst erfunden oder gefunden wurde, sondern dass ein anderer zuerst zu dieser Idee hingeführt hat. Gerade diese Stelle zeigt eine auffällige Ähnlichkeit mit einigen Jacobi-Stellen, die Schelling im ungefähr gleichzeitigen Reinhold-Gespräch zitiert und wovon er ausdrücklich erklärt, dass genau sie ihm zur Idee der Indifferenz geführt haben (vgl. Schelling 1802d, 62 / SW V, 58 f.). Außerdem übernimmt Anselmo am Ende des Gesprächs die Darstellung der leibnizischen Philosophie. Nun war es Jacobi, der, unter dem Einfluss Lessings, ein neues Verständnis Leibniz’ auf die Bahn gebracht hatte. In den Anmerkungen zu Bruno verweist Schelling zudem mehrfach auf Jacobis Spinozabüchlein. Schließlich ist daran zu erinnern, dass sowohl Friedrich Schlegel als auch Jacobi sich in der Dialogform versucht hatten. Keiner der beiden scheint sie allerdings als symbolische Form gepflegt zu haben, sondern sie bleiben sehr nah am (mehr oder weniger verschlüsselten) Protokoll eines ›realen‹ Gesprächs. So bemerkt Schlegel über sein Gespräch über die Poesie, dass »vieles […] wirklich darin [ist], andres ersonnen«. Den Vorzug der Dialogform sieht er darin, dass sie es erlaubt, »ganz verschiedene Ansichten gegeneinander [zu] stellen«. Die Wahl dieser Form ist durch ein »Interesse an dieser Vielseitigkeit« motiviert (Schlegel 1800, 286). 80 Durch diese Maxime hatte Schelling sich bereits bei seiner Kant-Interpretation leiten lassen. Auch die Spinoza-Deutung in den Ferneren Darstellungen scheint nach dieser Maxime durchgeführt. Schelling war sich übrigens durchaus dessen bewusst, dass er »das Fichtesche System hier nicht dar[stellt], wie es sich selbst darstellt, sondern wie es von einem höheren Standpunkt aus erscheint« (SW VI, 123). Dies gilt

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Darstellung erfährt Fichte eine Verwandlung in eine symbolische oder konzeptuelle Figur, die zugleich Schellings Distanznahme zu ihm enthält und verschleiert. 81 Der Hinweis auf zwei Einzelheiten kann dazu beitragen, diese Operation näher zu erläutern. Erstens tritt Fichte im Bruno nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter einem Decknamen auf. Dieser signalisiert, dass Lucian, wenn die durch ihn vertretene Position auch sehr große Ähnlichkeiten mit derjenigen Fichtes aufweist, doch nicht schlechthin mit diesem identifiziert werden darf, als wäre er lediglich eine literarisch überformte Nachahmung einer realen Person. Die Position Fichtes lässt sich weitgehend von seiner Person loslösen und als eine in der Vernunft vorgezeichnete Position konstruieren, als deren bloßes Organ die Person Fichtes angesehen werden kann. 82 Das Pseudonym markiert gerade diese Distanz zwischen der Person und der von ihr vertretenen Lehre. Insofern kann die als Lucian bezeichnete Figur als eine symbolische oder konzeptuelle Figur verstanden werden. 83 Eine solche Position bezeichnet Schelling auch als eine ›Gegend‹. 84 Die Sätze, in welchen Fichtes Position sich auskristallisiert, lassen sich nur angemessen beurteilen, wenn man sie zu dieser Gegend in Beziehung setzt. Erst von daher erhalten sie ihren eigentlichen Sinn. Es ist die Gegend, die den inneren Zusammenhang oder die Konsistenz der fichteschen Konzepte und Theoreme reguliert und sichert. Dabei deutet die Bezeichnung als ›Gegend‹ an, dass diese selbst nicht von der Art eines propositionalen Gebildes ist. Zwar drückt sie sich in solchen aus, sie bleibt dennoch von denselben abgehoben, sodass sie niemals

auch für die Lehren von Giordano Bruno und Leibniz, wozu Schelling bemerkt, dass es ihm nicht um eine historisch-korrekte Darstellung derselben geht als vielmehr um eine Umdeutung derselben »zu einem höhern Sinn« (Schelling 1802a, 229 / SW IV, 332). 81 Ich übernehme damit einen Begriff von Deleuze/Guattari 1991, 60–81. 82 Im Anti-Fichte hingegen lautet die Kritik, dass das Verhältnis zwischen dem Organ und demjenigen, was es ausdrücken soll, eine Verkehrung erleidet: Die philosophische Doktrin wird für die Person Fichte zu einem Mittel, andere als philosophische Ziele zu verfolgen (vgl. Schelling 1806a, 36–43, bes. 41 f. / SW VII, 44–48, bes. 47 f.). 83 Reinhold und Bardili hingegen treten im Gespräch Ueber das absolute IdentitätsSystem unter eigenen Namen auf. Damit gibt Schelling zu erkennen, dass die Position Reinholds sich nicht als eine in der Vernunft vorgezeichnete Position einsichtig machen lässt. Sie lässt sich gar nicht einsichtig machen, wenn man nicht auch die Person und die besonderen Bedingungen ihres Existierens mitberücksichtigt. 84 Vgl. Schelling 1802a, 184 / SW IV, 309.

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restlos in Sätzen aufgeht. Sie lässt sich demnach auch nur indirekt zur Darstellung bringen. Eine solche ›Gegend‹ ist ihrerseits in einem sie umfassenden Feld aufgenommen, in welchem mehrere ›Gegenden‹ unterscheidbar sind. Keine der Gegenden fällt mit diesem Feld zusammen, das sie alle in einem Verhältnis der Indifferenz in sich enthält. Statt auf eine Geschichte der Philosophie zielt Schelling damit auf eine Geographie der Philosophie ab. 85 Erstere ist erst aufgrund der letzteren durchführbar. Dies tritt insbesondere im Schlussteil des Gesprächs hervor, in welchem Schelling eine Konstruktion der »vier Weltgegenden der Philosophie« durchführt: 86 Jeder der vier Gesprächsteilnehmer übernimmt die Darstellung einer dieser ›Weltgegenden‹. Die Darstellung weist allerdings eine auffällige Asymmetrie auf. Während Alexander und Anselmo ihre jeweilige ›Gegend‹ (Materialismus und Hylozoismus) auf erzählende Weise und gesondert, sozusagen in der Disjunktion, vorstellen, werden die Positionen des Realismus und Idealismus wiederum gesprächsweise und damit in einer polaren Beziehung dargestellt, wobei jeder Pol von sich aus auf den anderen verweist. 87 Während die beiden ersteren Positionen eine innere Konsistenz aufweisen, die eine gesonderte und erzählende Darstellung erlaubt, und ihre Grenzen nicht von innen heraus wahrnehmbar sind, sondern erst durch die Gegenposition Zweifel an ihrer Haltbarkeit entstehen, da verweisen Realismus und Idealismus hingegen von sich aus auf ihr Gegenteil, sodass ein Übergang vom einem zum anderen möglich und sogar notwendig ist. 88 Allerdings kann keine dieser Positionen für sich beanspruchen, das wahre System der Philosophie zu sein, Jean-François Marquet spricht diesbezüglich von einer »géographie mentale«. Darin kommt auch die Gleichzeitigkeit dieser Potenzen zum Ausdruck (Marquet 1976, 583). In der Propädeutik der Philosophie (SW VI, 73–130) kombiniert Schelling die systematische mit einer historisch-chronologischen Darstellung. 86 Schelling 1802a, 184 / SW IV, 309. 87 Marquet 1976, 583: »alors qu’Alexandre et Anselme exposent chacun leur doctrine sous forme de monologues indépendants […] – Lucien et Bruno ne pourront s’exprimer qu’à travers un dialogue qui démontrera leur égalité«. Den Grund sieht er darin, dass Alexander der potentiellen oder wesentlichen Identität, Anselmo der aktuellen oder affirmierten Identität und Lucian und Bruno schließlich der Form der Affirmation der Identität, die zwei Pole hat (der Indifferenz), zugewiesen werden. Zu beachten ist ferner, dass Alexander und Anselmo das von ihnen dargestellte System nicht so darstellen als wäre es ihr eigenes, als würden sie sich mit demselben identifizieren. 88 Einen solchen Übergang hatte Schelling auch AA I,10, 89 f. angedeutet. 85

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das nur in dem sie alle umfassenden und koordinierenden Feld existiert. Ebenso wenig wie die Gegenden selbst vermag das umfassendkoordinierende Feld direkt dargestellt zu werden, sondern nur durch die Darstellung der Gegenden kommt es auch selbst indirekt zur Darstellung. An diesem Punkt wird eine zweite Einzelheit von Bedeutung: Unter dem Decknamen Lucian tritt Fichte als selbst agierende Figur auf. Er ist Teilnehmer am Gespräch, stellt Fragen, macht kritische Bemerkungen, äußert seine Zweifel, antwortet auf die Fragen, die ihm gestellt werden. 89 Daran lässt sich erst die Bedeutung einer konzeptuellen Figur erläutern. Das Verhältnis zwischen Sätzen und Gegend ist nämlich kein solches der Ableitung. Es bedarf einer Vermittlung zwischen Sätzen und Gegend, die durch die konzeptuelle Figur geleistet Die Bedeutsamkeit dieses Elements tritt noch klarer hervor, wenn man Bruno mit dem fast gleichzeitig erschienenen Reinhold-Gespräch vergleicht, in welchem Reinhold gar nicht leibhaftig auftritt, sondern bloß Gegenstand der Unterredung ist: Es wird lediglich über ihn gesprochen, er selbst spricht aber nicht mit. (Dadurch unterscheidet das Gespräch sich übrigens auch von der durch Fichte geführten Auseinandersetzung mit Reinhold: Das Antwortschreiben an Reinhold richtet sich direkt an Reinhold.) Höchstens redet er indirekt, insofern aus seinen Schriften zitiert wird. Allerdings werden diese Zitate eher als Objekte einer Erörterung genommen, als dass sie so im Gespräch einfließen würden, dass die dort aufgestellten Behauptungen es wert wären, durch den Verfasser und seinen Freund wirklich erwogen zu werden. Dadurch soll markiert werden, dass Reinhold kein im strengen Sinne gesprächsfähiger Partner ist. Dies wird im Gespräch selbst überall dort markiert, wo die »Absurdität« von Reinholds Behauptungen herausgestrichen wird (vgl. u. a. Schelling 1802d, 2 f., 5, 10, 29 f., 32 / SW V, 18 f., 20, 24, 37, 39). Auch die Rede von Reinholds »philosophische[r] Imbecillität« (AA I,10, 113) soll seine Gesprächsunfähigkeit hervorheben. Allerdings ist er doch nicht völlig gesprächsunfähig. Wenn er auch nicht über die erforderlichen Kompetenzen verfügt, um sich in einer philosophischen Auseinandersetzung zu behaupten, so zeigt er wenigstens die Bereitschaft, sich in das philosophische Gespräch einzumischen. Um seine Schriften gesprächstauglich zu machen, bedarf es allerdings einer besonderen Aufbereitung. Dies ist eine der Aufgaben des ›Freundes‹. Das Gespräch macht durch seine Form deutlich, wie die Figur des Reinhold zwar nicht direkt gesprächsfähig ist, aber sich durch Vermittlung noch gesprächsfähig machen lässt. Darin unterscheidet sie sich von der vierten Figur, die in diesem Gespräch eine nicht unwichtige Rolle spielt und die ebenfalls unter seinem eigenen Namen auftritt: Bardili. Dieser tritt nun einmal wirklich als Gesprächspartner auf, in einem vom ›Verfasser‹ erzählten ›Gespräch im Gespräch‹ (vgl. Schelling 1802d, 47–50 / SW V, 48–50). Dieses stellt aber nur umso klarer heraus, dass Bardili im Vergleich zu Reinhold ein durchaus gesprächsunfähiger Partner ist. Keine der ihm gestellten Fragen weiß er zu beantworten. Die unschuldigste Frage bringt ihn sogleich in Verlegenheit, wenn nicht in Verwirrung. Und die Unterredung wird dadurch beendet, dass er in ein besinnungsloses Gelächter ausbricht.

89

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wird. 90 Diese bezeichnet den jeweiligen Gesichtspunkt, der in einer Gegend enthalten ist und durch welche eine Gegend sich von einer anderen unterscheidet. Sie beinhaltet die Verwendungsbedingungen der zur Gegend gehörigen Konzepte und Theoreme. Die konzeptuelle Figur macht zum einen sichtbar, dass die Gegend auf eine vermittelnde Funktion angewiesen ist, um zur Darstellung zu gelangen, zum anderen, dass im Ich eine dritte Person spricht. Als eine solche wäre der Gesichtspunkt oder die Stelle zu bezeichnen, von wo aus das Ich spricht. Erste und dritte Person fallen nicht zusammen. Vielmehr beurteilen wir die erste Person (z. B. Fichte) danach, ob er der dritten Person als der Idee jener Stelle (in casu Lucian) gerecht wird. Hieraus dürfte auch deutlich werden, weshalb die Identifizierung der Gesprächsteilnehmer mit realen Personen für die Deutung des Gespräches als Ganzes durchaus relevant ist, ohne sie erschöpfend bestimmen zu können. Die Freilegung der symbolischen Figuren, die sich hinter den realen Personen verbergen oder die sich derselben als ihr Organ bedienen, ist als ein Beitrag zur Selbsterkenntnis der letzteren gedacht. 91 Erst durch die Erkenntnis seiner ›Gegend‹ und damit seines Verhältnisses zu den anderen Gegenden oder seiner Position auf der ›Weltkarte‹ der Philosophie, die dem Sprechenden im Sprechen meistens verborgen bleibt und nicht diskursiv ausgesprochen, sondern nur gesprächsweise zur Darstellung gelangen kann, vermag der Philosoph zur Selbsterkenntnis zu gelangen. 92 Deleuze/Guattari 1991, 73: »Les personnages conceptuels constituent les points de vue selon lesquels les plans d’immanence se distinguent ou se rapprochent, mais aussi les conditions sous lesquelles chaque plan se trouve rempli par des concepts de même groupe. […] Les concepts ne se déduisent pas du plan, il faut le personnage conceptuel pour les créer sur le plan, comme il le faut pour tracer le plan lui-même, mais les deux opérations ne se confondent pas dans le personnage qui se présente lui-même comme un opérateur distinct«. 91 Dies ist auch die ausdrückliche Absicht der »allegorischen Vision« im Jacobi-Denkmal, die »dem Gegner […] wo möglich noch selber zu einer richtigeren Selbsterkenntniß […] verhelfen« soll (Schelling 1812, 34 / SW VIII, 38; Herv. v. Verf.). 92 Nicht nur im Bruno treten konzeptuelle Figuren auf. So könnte man in der Figur des Heinz Widerporstens eine weitere der Naturphilosophie korrespondierende konzeptuelle Figur sehen. Siehe den Abdruck des Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens in Pareyson 1977, 89–97. Dort auch einige Zeugnisse, aus welchen hervorgeht, dass Schelling sich auch in späterer Zeit »noch aufrichtig [da]zu [zu] bekennen [schien]«. Ein Fragment des Gedichts erschien übrigens auch in der Zeitschrift für spekulative Physik. Dazu Kunz 1955, 40–55. – Eine weitere Figur wäre Clara aus dem Gespräch Ueber den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt (SW IX, 11–110): Sie ist die Schauende, die das Wahre schaut, aber ohne es zu wissen, 90

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Die Frage nach dem Subjekt des Sprechens wird übrigens explizit in der einleitenden Unterredung zwischen Anselmo und Alexander angesprochen. Ausgangspunkt ist dort die Frage nach dem Realitätsstatus des Irrigen, Verkehrten, Unvollkommenen. Darauf antwortet Alexander, dass er sich »nicht denken [kann], daß z. B. die Unvollkommenheit irgend eines menschlichen Werks nicht wirklich in Ansehung dieses Werkes Statt finde«. 93 Anselmo bemerkt, dass Alexander zu einer solchen Antwort nur deshalb gelangt, weil er den Sinn der Frage nicht genügend beachtet hat. Es ist nämlich nicht die Rede davon, ob ein unvollkommenes Kunstwerk in Wahrheit nicht doch ein vollkommenes sei oder ob ein Irrtum in Wahrheit nicht doch Wahrheit sei. Deshalb lenkt Anselmo die Aufmerksamkeit auf denjenigen, der das Werk hervorgebracht hat. Keiner aber bringt »etwas anders hervor«, »als was theils aus der Eigenthümlichkeit seiner Natur, theils aus den Einwirkungen, welche auf ihn von aussen geschehen sind, nothwendig folgt«. 94 Damit unterscheidet er zwischen der Natur oder der idealen Verfassung des Subjekts und den Bedingungen, die den Spielraum seines Handelns umreißen. Jedes einzelne und endliche Ding hat demnach eine doppelte »Beschaffenheit«. 95 Ein Individuum kann auf zweierlei Weise »Organ« sein: entweder als Organ seiner »idealen Natur« oder als Organ des Realkontextes, in welchem es auftritt und von welchem es für seine Existenz abhängig ist. 96 Dem entspricht Anselmos Unterscheidung zwischen den »ewigen Urohne des Geschauten wirklich mächtig zu sein und ohne es auch diskursiv entfalten zu können. Dazu bedarf sie der Hilfe von zwei weiteren Figuren: Es gelingt ihr erst in einem »Gespräch mit zwei Männern, einem Priester als Repräsentanten des Geistes sowie einem Arzt als Repräsentanten des Körpers, ihre für sie selbst unformulierbaren Gewißheiten zum Ausdruck [zu] bringen« (AA III,2,1, 164). Diese Gestalt des Wissens wird übrigens bereits 1802 antizipiert, wo die Rede ist von der »reine[n] Idee der Philosophie«, wo sie »ohne wissenschaftlichen Umfang mit Geist als eine Naivetät sich ausdrückt, welche nicht zur Objectivität eines systematischen Bewußtseyns gelangt; es ist der Abdruck einer schönen Seele, welche die Trägheit hatte, sich vor dem Sündenfall des Denkens zu bewahren« (Schelling 1802c, VII / SW V, 6). Auf diese Gestalt des Wissens macht Schelling immer wieder aufmerksam, vgl. z. B. SW IV, 357; Schelling 1804, 6 f. / SW VI, 19; F. W. J. Schelling an A. W. Schlegel, 3. Juli 1801, AA III,2,1, 355 f. Vgl. auch Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357 mit Schelling 1806a, 154–159 / SW VII, 119–122 und SW X, 166, 184–187. 93 Schelling 1802a, 12 / SW IV, 221. Diese Antwort bestätigt zudem, dass ihm die Idee der Schönheit fehlt. 94 Schelling 1802a, 12 f. / SW IV, 222; Herv. v. Verf. 95 Schelling 1802a, 13 / SW IV, 222. 96 Schelling 1802a, 19 / SW IV, 225.

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bilder[n]« und ihren Abbildungen. 97 Wenn es von diesen heißt, dass sie »nothwendig […] unvollkommen und mangelhaft« sind, dann bedeutet dies nur, dass in der Erfahrung keine Gegenstände gegeben sind, die den Ideen völlig kongruent wären. 98 Zudem sind jene, um auftreten zu können, außer auf ihre ›ideale Natur‹ auch auf besondere raumzeitliche Bedingungen angewiesen. Die Idee selbst ist, um erscheinen oder sich darstellen zu können, auf solche Bedingungen angewiesen, die sie zugleich daran hindern, ihr ganzes Potential zu realisieren. Ohne das Zusammentreffen solcher äußeren Verhältnisse vermag die Idee nicht zu erscheinen. Sie unterscheidet sich allerdings von diesen Bedingungen ihrer äußeren Existenz und überragt sie. Deshalb »gestattet« das natürliche Prinzip es bloß, dass die Idee hervortritt. 99 In einer wissenschaftlichen Darstellung, die ausschließlich an den Inhalten des Wissens interessiert ist, kann und muss vom Subjekt des Wissens abstrahiert werden. Die für die Erarbeitung des Wissens erforderlichen subjektiven Bedingungen werden einfach vorausgesetzt oder bloß ›statuiert‹. Sie können auch nicht auf dieselbe Art wie die Ergebnisse des Wissens mitgeteilt werden. 100 Sie können nur gezeigt werden. Dies soll durch die Form des Gesprächs geschehen. Schellings Absicht mit dem Gespräch Bruno besteht somit darin, sowohl die Gegenden als auch die entsprechenden konzeptuellen Figuren eigens sichtbar zu machen. Dazu ist zweierlei erfordert: Erstens müssen Zusammenhang, Sinn und Konsistenz der einzelnen Konzepte und Theoreme sichtbar gemacht werden; zweitens muss auch die jeweilige konzeptuelle Figur jeder Gegend zur Darstellung gelangen. Damit finden wir auch die deutende Funktion des Symbols wieder. Erst die Herausarbeitung der dem Idealismus korrespondierenden konzeptuellen Figur erlaubt es, die Behauptungen Fichtes und insbesondere das Selbstverständnis, das er selbst mit demselben verbindet, auf eine angemessene Art zu beurteilen. Die Identifizierung der Figur des Lucian mit Fichte ist deshalb nur insofern relevant, als umgekehrt die Gesprächsfiguren symbolische Darstellungen jener realen Figuren sind Schelling 1802a, 16 / SW IV, 223. Schelling 1802a, 17 / SW IV, 224. 99 Schelling 1802a, 19 / SW IV, 225. 100 Vgl. Schelling 1802b, 9 f., 47 / SW IV, 344 f., 370; Schelling 1803c, 27 f. / SW IV, 408. Aus diesen Stellen geht hervor, dass die intellektuelle Anschauung keine der Philosophie eigentümliche Voraussetzung ist, sondern Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit überhaupt. 97 98

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und insofern dazu beitragen, diese selbst angemessen zu deuten und ein Kriterium an die Hand geben, ihre Aussagen danach zu beurteilen, ob sie zur ›Gegend‹ oder ob sie bloß zur »sterbliche[n] Seite« ihres jeweiligen Denkens gehören. 101 Eine historisch richtige Darstellung der Positionen ist somit nicht beabsichtigt. Daraus folgt nun auch, dass die Figur des Bruno nicht mit Schelling identifiziert werden darf. 102 Schelling zielt, wie wir gesehen haben, vielmehr darauf ab, das alle Gegenden umfassende Feld zur Darstellung zu bringen, während Bruno selbst nur eine Gegend innerhalb dieses Feldes bezeichnet. Noch weniger hat man in der Figur des Bruno eine Wiedergabe der Lehre des Giordano Bruno zu suchen, die übrigens von Alexander, und nicht von Bruno, dargestellt wird. 103 Hinzu kommt die Charakterisierung des Bruno. Dieser wird von Anselmo als ein »Gast«, also als ein Fremder eingeführt: Bruno war »bisher als Gast unsern Gesprächen gegenwärtig«, hat diesen anscheinend bislang schweigend zugehört, soll nun aber auf Anordnung Anselmos das Wort ergreifen, damit er »davon rede, von welcher Art der Philosophie er glaube, daß sie in den Mysterien gelehrt werden müsse«. 104 Brunos Status als Gast gibt dreierlei zu erkennen: Erstens greift die durch Bruno dargestellte – sowohl erörterte als auch repräsentierte – Naturphilosophie in eine schon seit längerer Zeit geführte, allerdings noch nicht zu einem befriedigenden Abschluss gekomSchelling 1802b, 21 / SW IV, 353. Obwohl Jean-François Marquet Bruno zunächst mit Schelling identifiziert, sieht er sich nachher doch gezwungen, zuzugeben, dass Schelling eigentlich nur im Zentrum steht, d. h. an einem Platz, der »ne saurait être à aucun des quatre points de la périphérie« (Marquet 1976, 584). Auch mit seiner vorangegangenen Unterredung mit Lucian zielte Bruno nicht so sehr darauf ab, diesen zu widerlegen, als vielmehr zu zeigen, in welche Beziehung seine Position sich zur Naturphilosophie bringen lässt. Nur solche Behauptungen Lucians sollen abgewehrt werden, aus welchen eine wechselseitige Ausschließung beider Positionen folgen würde. 103 Siehe Schellings Anmerkung: Schelling 1802a, 226 / SW IV, 330. Bisherige Untersuchungen der Einflüsse Giordano Brunos auf Schelling blieben unergiebig. Sie kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass Schellings Kenntnisse der nolanischen Philosophie eher dürftig waren und, jedenfalls zur Zeit der Verfassung dieses Gesprächs, kaum weiter reichten, als was sich aus den Auszügen in der ersten Beilage von Jacobis Spinozabüchlein erschließen ließ. Die Einführung der Figur des Bruno dürfte also mehr mit Jacobi als mit Giordano zu tun haben. Dazu Tilliette 1992, 306 f. Diese Feststellung hätte dazu führen müssen, zu fragen, welche Intention Schelling damit verfolgt haben mag, die der Naturphilosophie entsprechende konzeptuelle Figur mit dem Namen ›Bruno‹ zu bezeichnen. 104 Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234. 101 102

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Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

mene, jedenfalls nicht von ihm erst angestoßene Debatte ein. Die Lösung, die die Naturphilosophie für diese Debatte bereithält, ist insofern originell, als sie eine Einigung der verschiedenen Positionen ermöglicht. Dass die Naturphilosophie dieser Debatte bzw. den vorher erprobten Lösungsversuchen vieles zu verdanken hat, bezeugt Bruno sogleich in seinem ersten Satz: »Undankbar würde ich erscheinen, wenn ich, so oft und so reichlich bewirthet von euch, nicht hinwiederum so gut ich vermag, euch von dem Meinigen mittheilen sollte«. 105 Zweitens präzisiert Bruno selbst sogleich seinen Status, indem er, mit einer Anspielung auf Spinoza, 106 zunächst um Verzeihung bittet, »wenn ich euch nicht sowohl sage, welche Philosophie ich für die beste halte, in Mysterien gelehrt zu werden, als vielmehr von welcher ich wisse, daß sie die wahre sey«, und dem noch die Einschränkung hinzufügt: »und auch diese nicht selbst, sondern nur den Grund und Boden darstelle, auf welchem sie erbaut und aufgeführt werden müsse«. 107 Das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt ist eine Identität, aber keine Einerleiheit: Die Philosophie überhaupt geht nicht in Naturphilosophie auf, diese ist nicht die ganze Philosophie, sondern nur deren Grund. Insofern muss ihr allerdings eine gewisse Priorität zuerkannt werden. 108 Drittens deutet sein Status als Gast an, dass Bruno zu jenen »wenige[n] große[n] Erscheinungen« gehört, die »allgemein miskannt und verfolgt worden sind«, deren Größe aber darin besteht, dass sie sich des Hauptstroms der modernen Philosophie, »in welchem sich die längst vorhandene Entzweyung nur mit Bewußtseyn und wissenschaftlich ausgesprochen hat«, zu entziehen vermocht haben. 109 Darin dürfte ein Grunde dafür liegen, dass Schelling, trotz seiner dürftigen Kenntnisse der nolanischen Philosophie, Bruno als zentrale Figur des Gesprächs gewählt hat. In der Bezeichnung des Bruno als eines symbolischen Gesprächs drückt sich insofern Schellings Absicht mit demselben aus, als in ihm nicht so sehr Nachahmungen realer Personen als vielmehr symbolische Figuren auftreten. Es handelt sich um ein symbolisches GeSchelling 1802a, 36 / SW IV, 234. Vgl. B. d. Spinoza an A. Burgh, Spinoza 1677, Bd. IV, 319 f. 107 Schelling 1802a, 37 f. / SW IV, 235. 108 Vgl. dazu Schellings wiederholte Erklärung, dass die Naturphilosophie nur die eine Seite des Systems ist, so z. B. Schelling 1802f, 2 f. / SW V, 107; Schelling 1803b, 67, 78–85 / SW II, 58, 66–71. 109 Schelling 1802f, 14 / SW V, 116. 105 106

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spräch, insofern idealtypisch vorgeführt wird, wie partielle Ansichten sich so zueinander in Beziehung setzen lassen, dass sie sich nicht mehr als miteinander in Widerspruch ausschließen. Jede ›Gegend‹, die im Widerspruch zu einer anderen zu stehen scheint, steht dadurch zu sich selbst im Widerspruch. Jener Widerspruch ist ein Indiz für einen Widerspruch zwischen den zu ihr gehörigen Sätzen und dem für dieselben beanspruchten Status. Deshalb werden die Sätze, die Lucian behauptet, nicht als schlechthin falsch zurückgewiesen, sondern es wird nur der Gebrauch verworfen, den er davon machen zu können meint, insbesondere seine Überzeugung, dass sie sich zur Widerlegung des Realismus eignen. Am Verhältnis, das eine Gegend sich zu anderen Gegenden gibt, lässt sich somit ein unangemessenes Selbstverständnis sowie ein ungenügendes Verständnis der ihr eigenen Aufgabe ablesen. Lucian kann sich somit nur insofern als mit Bruno im Gegensatz verstehen, als er ein unangemessenes Verständnis seiner eigenen Gegend hat und diese mit dem umfassenden Feld gleichsetzt. Insofern soll das Gespräch den teilnehmenden Philosophen zur Selbsterkenntnis verhelfen. Es gilt nämlich zu beachten, dass alle Gesprächsteilnehmer Philosophen sind. 110 Das Gespräch ist dabei so gestaltet, dass der Leser sich mit keiner der agierenden Figuren zu identifizieren braucht, sondern ihnen in ihren Auseinandersetzungen zuschauen kann. Dadurch vermag er zu allen Distanz zu halten, auch zu jener Gegend, mit welcher er sich vielleicht anfangs Deshalb sind in diesem Gespräch, wie auch sonst, mittels nicht kenntlich gemachter Zitate oder Anspielungen Erkennungszeichen für die Adressaten eingestreut. Ein Symbol ist nach seiner ursprünglichen Bedeutung nämlich auch ein Erkennungszeichen (vgl. Schelling 1802a, 230 / SW IV, 332, wo »das Symbolum der wahren Philosophie« erwähnt wird). Auch am Ende der Philosophischen Briefe erwähnt Schelling »ein Symbol für den Bund freier Geister, an dem sie sich alle erkennen, das sie nicht zu verbergen brauchen, und das doch, nur ihnen verständlich, für die Andern ein ewiges Räthsel sein wird« (AA I,3, 112). Hier ist die Erinnerung an Rousseaus ›signe caractéristique‹ unübersehbar: »Des êtres si singulierement constitués doivent necessairement s’exprimer autrement que les hommes ordinaires. Il est impossible qu’avec des ames si differemment modifiées, ils ne portent pas dans l’expression de leurs sentimens et de leurs idées l’empreinte de ces modifications. Si cette empreinte échappe à ceux qui n’ont aucune notion de cette maniére d’être, elle ne peut échapper à ceux qui la connoissent et qui en sont affectés eux-mêmes. C’est un signe caractéristique auquel les initiés se reconnoissent entre eux, et ce qui donne un grand prix à ce signe, si peu connu et encore moins employé, est qu’il ne peut se contrefaire, que jamais il n’agit qu’au niveau de sa source, et quand il ne part pas du coeur de ceux qui l’imitent il n’arrive pas non plus aux coeurs faits pour le distinguer« (Rousseau 1776, 672; vgl. dazu Meier 2011, 49 f.).

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identifiziert hatte. Wohl aus diesem Grund bezeichnet Schelling die symbolische auch als die »höhere Form« und als »die einzige nach unsrer Meynung, welche die bis zur Selbstständigkeit ausgebildete Philosophie in einem unabhängigen und freyen Geiste annehmen kann«. 111 Auch die Gesprächsteilnehmer sind nicht von Anfang an ›unabhängige und freye Geister‹, sondern gewinnen ihre Unabhängigkeit und Freiheit erst im Laufe des Gesprächs, indem sie sich nicht mehr zu den anderen Figuren im Gegensatz sehen, sondern in ihrer eigenen Position stets auch über das Verhältnis zu den anderen mitreflektieren. Erst das System, das sich mit keinem im Gegensatz findet, sondern alle zu integrieren weiß, kann das wahrhaft befriedigende System sein und damit auch das einzige, das Unabhängigkeit und Freiheit gewährt. 112 Gerade die symbolische Gesprächsform eignet sich besonders dazu, unterschiedliche philosophische Positionen zueinander in Beziehung zu setzen. Das System der Philosophie findet seine Bewährung darin, dass es in die Lage versetzt, Positionen so zueinander in Beziehung zu setzen, dass sich zeigt, wie sie sich in einem sie alle umfassenden Feld integrieren lassen. Insofern dadurch die Selbstdeutung, die ihre Vertreter mit ihrer Position verbinden, einer kritischen Prüfung unterzogen wird, liefert es zugleich einen Beitrag zu deren Selbsterkenntnis. Dies drückt Schelling in Philosophie und Religion prägnant so aus, dass »jeder partiellen Ansicht Eine andre partielle entgegengesetzt werden kann« sowie »einer umfassenden, die das Universum begreift, alle möglichen Einseitigkeiten«. 113 Man könnte auch sagen, dass gerade eine solche Darstellung sich in erster Linie an »Leser« richtet, »die schon ein philosophisches System haben«. 114

Schelling 1804, IV / SW VI, 13. Vgl. auch Schellings spätere Erklärung: SW X, 95 f. 113 Schelling 1804, 4 / SW VI, 18. 114 So der Titel der Zweiten Einleitung zu Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797/98. Die erste Einleitung richtet sich hingegen an »unbefangene Leser«, d. i. »solche, die ohne vorgefasste Meinung sich dem Schriftsteller überlassen, ihm nicht nachhelfen, aber auch nicht widerstehen« (GA I,4, 209). Schelling scheint diese Unterscheidung unterschiedlicher Adressatentypen aufzunehmen, wenn auch mit einer bedeutsamen Amendierung. 111 112

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4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift Die Analyse des Bruno hat gezeigt, wie die Eigenart der symbolischen Form durch Schellings Absicht sowie durch seine Ausrichtung an einer Klasse von vorzüglichen Adressaten motiviert ist. Wenn Schelling nun im »Vorbericht« zu Philosophie und Religion erklärt, dass die Schrift die Umarbeitung eines fast fertig vorliegendes Gesprächs enthält, das als Fortsetzung des Bruno gedacht war, und »äussere Umstände nicht zugelassen haben«, diesem zweiten Gespräch »die letzte Vollendung […] zu geben«, 115 dann können wir vermuten, dass an der Vollendung gerade der Umstand gehindert hat, dass bislang weder Fichte noch Jacobi noch auch Friedrich Schlegel sich der für sie im Bruno enthaltenen Herausforderung gestellt hatten. Um diese für diese Adressaten noch zu verschärfen, verfasst Schelling Philosophie und Religion, wählt allerdings Eschenmayer als Stellvertreter, um die alles entscheidende Frage stellen zu können, auf welche er zuallererst von den Genannten eine Antwort verlangt. Eschenmayer eignete sich desto mehr zu diesem Zweck, da er, genau wie Fichte und Jacobi, »die Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 116 Solange Fichte und Jacobi sich nicht ausführlich zum Verhältnis von Philosophie und Religion erklären, ist Schelling allerdings im Umklaren darüber, in welchem Sinne sie den Begriff des Glaubens verstanden haben wollen. Die Schrift soll sie somit dazu auffordern, sich unzweideutig zu diesen ›Verhältnissen‹ zu erklären. Allerdings führt Schelling die fehlende Vollendung nur als Grund dafür an, dass das zweite Gespräch bislang nicht veröffentlicht wurde. Für die Umarbeitung des Gesprächs in eine verwandelte Form und für eine Veröffentlichung derselben führt er aber nicht den unvollendeten Charakter des Gesprächs, sondern einen anderen Grund an, nämlich die Erscheinung jener »merkwürdigen Schrift von Eschenmayer«, besonders wegen der Tendenz, die sich darin zu erkennen gibt, als auch wegen Eschenmayers Charakter. 117 Wichtiger als die Richtigkeit dieser Angaben ist somit das Motiv, das Schelling für diese Umarbeitung anführt. Ein symbolisches Gespräch wie Bruno oder wie das – nicht fertiggestellte und nicht veröffentlichte – zweite Gespräch rich-

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Schelling 1804, III / SW VI, 13. Schelling 1804, III f. / SW VI, 13. Schelling 1804, III / SW VI, 13.

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tet sich an einen »unabhängigen und freyen Geiste«. 118 Wir haben gesehen, wie das Gespräch zwischen Philosophen, wie Bruno es vorführt, so eingerichtet ist, dass die teilnehmenden Philosophen durch es insofern zu einem neuen und angemesseneren Verständnis ihres eigenen Systems gelangen, als es sie in die Lage versetzt, sich auf der philosophischen ›Weltkarte‹ zu verorten. Erst durch diese Selbsterkenntnis werden die Philosophen selbst zu ›unabhängigen und freyen Geistern‹. Zu dieser Selbsterkenntnis gelangen sie erst dadurch, dass die Identifikation mit dem eigenen System durchkreuzt wird und sie sich über ihr Verhältnis zu anderen Systemen Klarheit verschaffen. Die Gesprächsform eignete sich besonders zu einer solchen Distanznahme zum eigenen System, insofern sie nicht darauf ausgerichtet ist, dass der Leser sich mit einem der Gesprächsteilnehmer bzw. der von ihm vertretenen Position identifiziert, sondern ihn auf Distanz zu allen Gesprächsteilnehmern stellt und ihm diese in ihrer Auseinandersetzung vor Augen führt. Die hauptsächlichen Adressaten eines symbolischen Gesprächs sind demnach die Philosophen; seine Absicht besteht darin, diesen zu einem angemessenen Selbstverständnis zu verhelfen und sie dadurch zu ›unabhängigen und freyen Geistern‹ zu machen. Bei der Auseinandersetzung mit Eschenmayer ist die Ausgangslage eine andere. Schelling charakterisiert ihn als »scharfsinnig«, als einen »geistreiche[n] Forscher«, allem voran als einen »edlen Geist«, der sich durch seine Wahrheitsliebe auszeichnet. 119 Damit dürfte Eschenmayer gerade durch solche lobenden Charakterisierungen von den wirklichen Philosophen ausgenommen werden. Dass Schelling Eschenmayer nicht als einen Philosophen betrachtet, dürfte aus der zweideutigen Weise hervorgehen, wie er ihn von den ›Werkzeugen der Zeit‹ ausnimmt. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich eine philosophischen Lehre so »zurechtzumachen und anzueignen« suchen, dass sie sie zeitgemäßen Meinungen anpassen, eine AnpasSchelling 1804, IV / SW VI, 13. Schelling 1804, 4, 54, IV / SW VI, 18, 51, 14. Solche Lobsprüche können manchmal auch eine kritische Spitze enthalten. Man erinnere sich Jacobis Unterscheidung von Scharfsinn und Tiefsinn (vgl. Jacobi 1785, 14 f.). Auch das Geistreiche hat nur relativen Wert und ist z. B. noch vom Vernünftigen zu unterscheiden (vgl. SW V, 477; Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395; SW VII, 468). Allerdings bemerkt Schelling anlässlich einer späteren Auseinandersetzung: »Sie […] gaben […] zu erkennen, daß es Ihnen nur um die Ausmittlung der Wahrheit oder wenigstens des eigentlichen Streitpunktes zu thun sey« (Schelling 1813b, 80 / SW VIII, 162).

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sung, die allerdings mit »Misdeutungen und Verunstaltungen« erkauft wird. 120 Dabei ist es unerheblich, ob jene »Organe« sich als Gegner oder Anhänger gerieren. 121 Versteht man philosophische Sätze ausschließlich als Behauptungen über Sachverhalte, dann kristallisiert diese Haltung sich zwangsläufig in den beiden möglichen Haltungen der Gegner- und Anhängerschaft heraus, da mit jener Grundhaltung auch die Bivalenz der Sätze gesetzt ist. Behauptungen über Sachverhalte können nämlich ihren Gegenstand treffen oder auch verfehlen. Demnach behandelt Schelling beide Gruppen meistens parallel, da sie sich nur dem Vorzeichen, nicht aber der zugrundeliegenden Haltung nach unterscheiden. Nachdem er im »Vorbericht« anfangs bemerkt hat, dass die ›Misdeutungen und Verunstaltungen‹ weder der Gegner noch der Anhänger besonderer ›Rücksicht werth‹ sind, so unterzieht er beide wenig später doch einer nun unterschiedlichen Behandlung. 122 So erklärt er, dass er zu »den groben Misdeutungen der Gegner, welche die Grundsätze und Folgen dieser Lehre auch bey der Gelegenheit erfahren mögen«, »ruhig schweigen« wird. 123 Auf die Anhänger geht er hingegen umständlichst ein. Deren Lage scheint demnach verhängnisvoller zu sein als die der Gegner, nicht nur weil sie für Schelling, sondern besonders weil sie für diese selbst schädlich ist. Auch hier sollen also besonders diejenigen berücksichtigt werden, die sich der philosophischen Erkenntnis rühmen, während diejenigen, die eine solche leugnen, mit Schweigen übergangen werden. 124 Für den Anhänger charakteristisch sind nicht so sehr die Behauptungen, welchen er sich anhängt, sondern in erster Linie die Weise, wie er mit denselben umgeht. Erst dieser Umgang macht ihn zu dem, was er ist. Dabei unterscheidet Schelling dreierlei Schelling 1804, IV / SW VI, 14. Schelling 1804, IV / SW VI, 14. 122 Im Hauptteil werden sie zudem noch zweimal berücksichtigt, vgl. Schelling 1804, 52, 60 f. / SW VI, 49, 55. 123 Schelling 1804, V / SW VI, 14; Herv. v. Verf. Vgl. Lessing 1777, 673: »Die Frage ist: was der Philosoph gegen die Schwärmerei tut? Weil der Philosoph nie die Absicht hat, selbst Schwarm zu machen, sich auch nicht leicht an einen Schwarm anhängt; dabei wohl einsieht, daß Schwärmereien nur durch Schwärmerei Einhalt zu tun ist: so tut der Philosoph gegen die Schwärmerei – gar nichts« (Herv. v. Verf.). Der ganze Aufsatz Über eine zeitige Aufgabe, der erstmals 1795 veröffentlicht wurde, scheint für Schellings Verständnis der Polemik höchst bedeutungsvoll; so führt Schelling genau wie Lessing den Begriff der Schwärmerei auf »Schwarm« zurück (so Schelling 1804, VI / SW VI, 15; ausführlicher: Schelling 1806a, 36 f. / SW VII, 44). 124 Vgl. Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. 120 121

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Verhaltensweisen. Der Anhänger geht, erstens, so mit Büchern und Texten um, dass er eine »Masse fremdartiger Dinge […] hineinleg[t]« und dadurch die in jenen enthaltene Lehre »zur Caricatur ausdehn[t]«, da er sich nicht die Mühe gibt, einen Text so zu verstehen, wie er vom Autor verstanden sein will. 125 Die Karikatur braucht dabei nicht beabsichtigt zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass jener Leser tatsächlich glaubt, dass der Autor seine Lehre so verstanden wissen will. Zweitens verhält der Anhänger sich zu anderen so, dass er versucht, diese »in Erstaunen [zu] setzen«. 126 Auch dies braucht nicht absichtlich zu geschehen, insofern der Anhänger so seinem Publikum nur sein eigenes Erstaunen mitteilt und sich dadurch mit jenen anderen auf eine Linie als zum »Pöbel« gehörig stellt. 127 Sein Verhältnis zu sich selbst schließlich kennzeichnet sich durch ein »hohles«, leicht erregbares »Gemüth«, das sich der Worte nur dazu bedient, seine subjektive Befindlichkeit auszudrücken. 128 Zusammenfassend kann man sagen, dass der Anhänger sich durch einen Mangel an Selbsterkenntnis auszeichnet: Weder von seinem Tun noch von seinem Umgang mit Anderen noch auch von sich selbst ist er imstande, Rechenschaft abzulegen. Deshalb wäre es auch verfehlt, auf ein solches Verhalten mit Argumenten zu reagieren. Stattdessen setzt Schelling rhetorische Mittel ein und versucht, auf die Affektivität zu wirken, besonders die Eigenliebe der Anhänger zu erschüttern. 129 Nicht nur im »Vorbericht«, sondern auch andernorts finden sich Proben einer solchen Einschüchterungsrhetorik. Was den Anhänger bzw. Gegner vom Philosophen unterscheidet, ist nicht in erster Linie auf einer doktrinalen Ebene zu suchen. Die Differenz wurzelt nicht so sehr in der Materie der Sätze, sondern zuallererst in der Weise, wie beide mit Sätzen umgehen, in der Form und Art, wie sie ihrer Behauptung Geltung zu verschaffen suchen. Deshalb möchte Schelling dafür das Wort der »Schwärmerei« gebrauchen, und zwar in der ursprünglichen Bedeutung […], wo es nicht unmittelbar auf die Materie des Denkens bezogen wird, sondern auf die Form und die Art, Schelling 1804, VI / SW VI, 15. Schelling 1804, VI / SW VI, 15. 127 Schelling 1804, VI / SW VI, 15; vgl. Schelling 1804, 52 / SW VI, 49. 128 Schelling 1804, VI / SW VI, 15. 129 Vgl. Schelling 1804, VI, 52, 60 f. / SW VI, 15, 49, 55. Im Reinhold-Gespräch geht Schelling darin noch weiter, als es dem heutigen Geschmack genehm ist. Jedenfalls lässt er kein Mittel aus, um Reinholds Selbstverständnis, wie dieses sich in beiläufigen Bemerkungen zu erkennen gibt, zu erschüttern. 125 126

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wie es sich geltend macht. Schwärmer, auch Schwärmgeister nennen Doktor Luther und seine Zeitgenossen Menschen, die eine gewiße Verbindung und Folge von Sätzen, die bloß in ihrer Eigenheit gegründet sind, und nur durch ihre Subjektivität zusammengehalten werden, aber weder in ihnen selbst, noch an sich einen objektiven Grund und Zusammenhang haben, durch ihre bloße Subjektivität geltend machen wollen. Alles was allein Sache des Subjekts ist, und dennoch für Wahrheit angesehn seyn will, sucht den Charakter innrer Allgemeingültigkeit durch den äusseren, des allgemeinen Geltens, sich zu ersetzen und zu erheucheln, d. h. es strebt, sich selbst zur Sache aller Subjekte zu machen, mit Einem Wort: Parthei zu stiften. Schwärmer ist, wer auf diese Art einen Schwarm, eine Sekte bildet; der Sektirer. 130

Damit restituiert Schelling dem Begriff der Schwärmerei seine soziale und politische Bedeutung, indem er hervorhebt, wie jenem Umgang mit philosophischen Sätzen eine spezifische Form der Sozialität entspricht. 131 Darauf zielt auch die Unterscheidung zweier entgegengesetzter Modi der Sozialität, die er als ›Volk‹ und ›Pöbel‹ bezeichnet. 132 Der Schwärmer kennzeichnet sich dadurch, dass er einen Wahrheitsanspruch für Sätze erhebt, welchen nur eine subjektive Geltung und Sinn zukommt. Während das Volk durch eine organische Einheit charakterisiert ist, d. h. eine Differenz der verschiedenen Glieder des Ganzen enthält, ist für den Pöbel hingegen die Aufhebung solcher Differenzen und hierarchischer Unterscheidungen kennzeichnend. Schelling greift hier auf Phänomene zurück, die er in seiner Naturphilosophie erschlossen hatte und die er hier für die Durchdringung geistiger Phänomene fruchtbar macht. 133 Damit zeigt Schelling 1806a, 36 f. / SW VII, 44. Vgl. Lessing 1777, 672. Nicht erst seit Kant dient der Begriff der Schwärmerei dem Philosophen dazu, sich von den Nicht-Philosophen abzugrenzen. Die Unterscheidung Philosophie – Schwärmerei erfüllt damit dieselbe Funktion wie die Unterscheidung Philosophie – Sophistik bei Platon. An der Ausfüllung, die dieser Begriff bei einem Denker erfährt, lässt sich demnach sein Verständnis dessen, was Philosophie ist, ablesen. Dazu: Hinske 1988. 132 ›Pöbel‹ ist ein wertbeladener Ausdruck – was sich für eine um Nüchternheit und Objektivität bestrebte Wissenschaft nicht gehört. Deshalb würde der Wissenschaftler einen ›wertneutralen‹ Ausdruck wie ›Masse‹ vorziehen. Damit wäre der entscheidende Unterschied zwischen ›Volk‹ und ›Pöbel‹, zwischen einer organischen und einer nicht-organischen Menschenmenge jedoch verwischt. In jener Unterscheidung verbirgt sich demnach bereits eine Entscheidung über Gut und Böse. 133 Auch in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium ist von geschlechtslosen, aber unproduktiven Bienen die Rede, »die, weil ihnen zu produciren versagt ist, durch anorgische Absätze nach außen, ihre eigene Geistlosigkeit in Abdrücken vervielfältigen« (Schelling 1803a, 16 / SW V, 217). Die Rede von ge130 131

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sich an diesem Punkt bereits, wie sowohl die Form der Darstellung als auch die Naturphilosophie einen integralen Teil von Schellings Politischer Philosophie bilden. Schelling dürfte wohl kaum gehofft haben, dass die »Drohworte der Vorrede« eine derartige Wirkung erzielen würden, dass sie tatsächlich »unberufene[…] Nachfolger[…] und Gegner[…]« von der Lektüre der Schrift abhalten würden. 134 Mehr noch als die ›Drohworte‹ dürfte die Art der Darstellung dazu beigetragen haben, dass die Schrift unverstanden blieb. Wie dem auch sei, wenn z. B. Bruno und Philosophie und Religion, wie wir zu zeigen versucht haben, sich an unterschiedliche Adressaten richten, dann braucht dies doch nicht auszuschließen, dass nicht auch andere Adressatentypen dabei stets mitberücksichtigt werden. 135 Es steht nämlich nicht in der Gewalt eines Schriftstellers, zu verhindern, dass seine Schriften auch durch solche, für welche sie nicht zuallererst gemeint sind, gelesen werden. So dient der feierlich-gehobene Ton des Bruno auch dazu, den nichtphilosophischen Lesern einen Inhalt, der »seiner Natur nach der Gemeinheit unzugänglich seyn soll«, »auch durch die Form äusserlichsichtbar, zu entziehen«. 136 Vielmehr soll er die Differenz zwischen schlechtslosen, aber unproduktiven Bienen ist zunächst befremdend, da Schelling zufolge bei den Bienen die Geschlechtlichkeit durch Produktivität ersetzt wird, der Kunsttrieb das Äquivalent des Zeugungstrieb ist (vgl. SW V, 573). Wenn Schelling in obiger Stelle von diesen »Bienen« bemerkt, dass »ihnen zu produciren versagt ist«, dann ist »produciren« hier im Sinne der Geschlechtlichkeit und der Zeugung gemeint. Die Bienen sind aufgrund ihrer Natur unproduktiv, d. h. nicht zur Zeugung fähig, zur Hervorbringung von Selbständigem und Organischem. An die Stelle dieser wahren Produktivität tritt die Hervorbringung von »anorgische[n] Absätze[n] nach außen, die mit dem Producirenden oder dem Thiere in Cohäsion bleiben« (SW V, 573), d. h. sich nicht von ihnen loslösen (können), also keiner selbständigen Existenz fähig sind (vgl. auch SW VI, 465). 134 Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410. 135 Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, zu zeigen, wie besonders die Unterbestimmtheit einiger von Schelling gewählter Ausdrücke sich vorzüglich dazu eignet, unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches zu verstehen zu geben. 136 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Wenn nicht immer ›Töne alter Philosophie‹, so finden sich in dem kurzen Vorbericht jedenfalls auch ›Töne‹ alter Dichtung: Wenn Schelling seinen »Anhänger[n]« rät, sich »die Mühe« zu nehmen, »selbst Gedanken zu haben, für die sie dann selbst verantwortlich sind« und »sich des ewigen Gebrauches fremder, für den sie ihren Urhebern die Verantwortlichkeit aufladen«, zu enthalten: »[E]s hielte sie denn die billige Rücksicht auf sich selbst zurück, daß, da sie von fremdem Eigenthum schon so aufgeblasen sind, sie von eignen Gedanken, wenn sie deren hätten, vollends platzen möchten« (Schelling 1804, VI / SW VI, 15; Herv. v. Verf.), dann spielt er damit lose auf die Fabel Rana Rupta et Bos des Phaedrus an.

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den Nicht-Philosophen und den Philosophen, die in diesem Gespräch ganz unter sich sind und, durch niemand gestört, sich über Fragen unterhalten, die ihnen besonders am Herzen liegen, auch für jene spürbar machen. Dennoch richtet das Gespräch sich in seiner Gesamtkonzeption, seinem Aufbau und seiner Durchführung in erster Linie an den anderen Typus von Adressaten. Die Form des symbolischen Gesprächs ist »die einzige nach unsrer Meynung, welche die bis zur Selbstständigkeit ausgebildete Philosophie in einem unabhängigen und freyen Geiste annehmen kann«. 137 Zur Erläuterung zieht Schelling eine Analogie mit einem Werk der bildenden Kunst heran. Die Vormeinungen und Erwartungen eines möglichen Betrachters gehen nicht in der Konzeption und Gestaltung eines solchen Werkes ein, wenigstens erlangen zeitgebundene Meinungen und Haltungen keine bestimmende Bedeutung für dieselben. Insofern verhält es sich jenen gegenüber gleichgültig und hört deshalb, wie Schelling es ein wenig überspitzt formuliert, »auch in die Tiefe des Meers versenkt und von keinem Auge gesehen« nicht auf, »Kunstwerk zu seyn«. 138 Ein Werk bildender oder philosophischer Kunst ist nicht auf irgendeinen Zusammenhang angewiesen, um das zu sein, was es seinem Wesen nach ist. Es zielt nicht darauf ab, in einen bestimmten Realkontext einzugreifen, der sich dementsprechend in seiner Gestaltung auswirkte. Es ist nicht als Mittel zur Erreichung irgendeines Zwecks entworfen. Auch »unbegriffen von der Zeit«, vom historischen Kontext, in welchem es auftritt, in welchem es entstanden ist und in welchen es wieder aufgenommen wird, hört ein »Werk philosophischer Kunst« nicht auf, eben dies zu sein. Beide Arten von Werk zeichnen sich dadurch aus, dass sie solche Kontexte überragen. Insofern können sie auch nur von solchen verstanden werden, die selbst, vielleicht mittels ihrer Hilfe, sich eine Unabhängigkeit und Freiheit solchen Kontexten gegenüber erarbeiten. Gerade weil ein solches Werk der Kunst sich keinem bestimmten Adressatentypus oder besonderen ErBei Phaedrus ist es der Neid (invidia tantae magnitudinis), der den Frosch dazu verlockt, den Ochsen nachzueifern oder nachzuahmen (imitari), ohne zu bedenken, dass ihm dazu die Fähigkeiten fehlen. Das Verhalten des Frosches wird vorgeführt, nicht um es aus moralischen Gründen zu brandmarken, sondern um zu zeigen, dass der Frosch dadurch nur sich selbst schadet. Zu beachten ist, dass der Ochse bloß Auslöser des Geschehens ist, an dem er sonst nicht beteiligt ist. Vielmehr ist es der Blick seiner Kinder, der den Frosch in seinem Begehren bestimmt. Vgl. Oberg 2000, 81. 137 Schelling 1804, IV / SW VI, 13. 138 Schelling 1804, IV / SW VI, 14.

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Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

wartungshorizont anpasst, stellt es für den Betrachter eine Herausforderung dar und enthält in seiner Form schon die Aufforderung, ein freies Verhältnis zu den Kontexten zu gewinnen, in welche es eingebunden ist. Wenn Schelling sich für Philosophie und Religion hingegen einen bloß ›edlen Geist‹ zum offenkundigen Adressat auswählt, so werden die anderen Adressaten doch nicht gänzlich vergessen. So sucht er die Gegner und Anhänger derart einzuschüchtern, dass sie wenigstens einfach zuhören, ohne dass er sich sonderlich darum bemüht, sich so zu erklären, dass auch sie ihn verstehen könnten, während er die Darstellung seiner Lehre danach einzurichten sucht, dass jener ›edle Geist‹ allenfalls dazu veranlasst werden könnte, sich des spekulativen Wissens zu bemächtigen. Indessen kann die gegen die Anhänger gerichtete Diatribe auch für andere Lesertypen instruktiv werden. Sie dürfte den aufmerksameren Leser zur Selbstreflexion veranlassen, ob nicht auch er für die Fehler anfällig sein dürfte, die Schelling bei Gegnern und Anhängern diagnostiziert. So scheint auch Eschenmayer es nicht immer zu vermeiden, die schellingsche Lehre ›zur Caricatur auszudehnen‹ ; wenigstens gibt Schelling unzweideutig zu verstehen, dass auch Eschenmayer ihn in allen wesentlichen Punkten nicht so verstanden hat, wie er sich selbst versteht und wie er verstanden werden will. 139 Nicht nur bezüglich solcher Gegenstände, zu denen Schelling sich bislang noch nicht geäußert hatte und für welche Eschenmayer demnach auf bloße Folgerungen aus bereits Gesagtem angewiesen war, sondern auch bezüglich solcher Gegenstände, die Schelling bereits früher und mehrmals behandelt hatte, weigert er sich, Eschenmayers Deutung als zutreffend zu akzeptieren. In dieser Hinsicht gehört Eschenmayer genauso zu den ›Werkzeugen der Zeit‹ wie die namenlos bleibenden und leicht abgefertigten Gegner und Anhänger, indem er wie diese in den Meinungen und Vorurteilen seiner Zeit befangen bleibt. Wenn Schelling den Gegnern und Anhängern ›Misdeutungen und Verunstaltungen‹ bescheinigt, dann ist Eschenmayer davon also nicht ausgenommen. Ebenso wenig vermeiDiese Situation wiederholt sich bei einer späteren Auseinandersetzung. Dort heißt es: »[D]as Bisherige könnte hinreichen, Sie zu überzeugen, daß Sie den Sinn und Zusammenhang der in meiner Abhandlung enthaltenen Ideen noch nicht völlig erreicht haben« (Schelling 1813b, 108 / SW VIII, 177). Ferner: »Es fehlt Ihnen an den eigentlichen Mittelbegriffen meines Systems«. Und schließlich: »Das Bedauerlichste für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden zu haben« (Schelling 1813b, 127 / SW VIII, 188).

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det Eschenmayer es, in einen Ton der moralischen Verdächtigung und Entrüstung zu verfallen. 140 Daraus können wir schließen, dass es nach Schellings Einschätzung bei Eschenmayer etwas gibt, das ihn sowohl mit den Gegnern als auch mit den Anhängern verbindet, und etwas, das ihn von beiden unterscheidet. Trotz dieser Übereinstimmung nimmt Schelling ihn von den ›Werkzeugen der Zeit‹ aus und lässt ihm eine Sonderbehandlung zuteilwerden. Diese scheint durch nichts weiter als seinen ›edlen Geist‹ und sein aufrichtiges Bestreben nach Einsicht und Wissenschaft motiviert zu sein. Eine solche Natur und ein solches Bestreben verdienen Unterstützung und Förderung. Diese vermag man einem solchen Geist insbesondere dadurch zu gewähren, dass man ihm dabei behilflich ist, sich von zeitgemäßen Meinungen zu befreien, die ihn daran hindern, sein eigentlichstes Bestreben und seine eigene Natur zu entfalten. Nur wegen jenes Bestrebens ist ein solcher Geist weder ohne weiteres den Gegnern zuzurechnen – selbst dann nicht, wenn auch er sich kritisch äußert und Einwände vorbringt – noch als Anhänger einzustufen, da er allem Anschein nach zu einer eigenständigen Ansicht zu gelangen sucht. Zusammenfassend kann man sagen, dass Schelling Eschenmayer in dieser Schrift als Muster des potentiellen Philosophen auftreten lässt. Wenn sie sich demnach direkt an ihn richtet, so gilt er dabei zugleich doch auch als Stellvertreter für alle potentiellen Philosophen. Der »Vorbericht« unterscheidet somit mindestens drei Adressatentypen: die Philosophen oder die unabhängigen und freien Geister; die potentiellen Philosophen oder die edlen Geister; die Organe der Zeit. 141 Vgl. Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54 f. Die Unterscheidung solcher Adressatentypen wird im Gespräch Ueber den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt am offensichtlichsten: Nachdem der ›Pfarrer‹ ausführlich den ersten, philosophischen Weg behandelt hat, »die Seligkeit des beschaulichen Zustandes festzuhalten« (SW IX, 43) und meint, diese Frage derart befriedigend erörtert zu haben, dass er »entschlossen« ist, »aufzubrechen«, da erinnert der ›Arzt‹ ihn daran, dass die Frage so nur für »die wenigsten« befriedigend beantwortet wurde, es aber »ganz unmöglich« sei, dass »alle in einen so seligen Zustand gleich vom Leben weg übergehen« (SW IX, 76; Herv. v. Verf.). Zwar ist dieser Weg niemandem prinzipiell verschlossen; dennoch muss auch für solche gesorgt werden, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht dazu gelangen, ihn zu beschreiten. Da dieser Weg nur den Wenigsten offensteht, muss der Philosoph sich auf die Frage einlassen, ob nicht auch dem Volk die Möglichkeit offensteht, jener Anschauung eine das ganze Leben bestimmende Macht zu verleihen. Sonst hätte er zwar für sich die Bedenken des ›Geistlichen‹ zurückgewiesen, das Volk oder die Nicht-Philosophen jedoch wären weiterhin denselben ausgesetzt. Es obliegt ihm also, zu zeigen, wie auch das Volk jene Harmonie auf eine beständige Weise erreichen kann. Damit wird eine

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Die Umarbeitung und damit der Verzicht auf die symbolische Form scheinen somit durch den vordergründigen Adressaten motiviert, den Schelling sich gewählt hat. Die symbolische Form wird nämlich »nie gefodert, wo ein Zweck erreicht werden soll«. 142 Worin besteht nun der Zweck, den sich Schelling mit der neuen Schrift gesetzt hat? Zunächst dürfte es so aussehen, als ob dieser darin bestünde, sich den Zeitgenossen verständlich zu machen. Der bedeutendere Zweck besteht allerdings, wie wir gesehen haben, darin, den »Foderungen an ein Ganzes der Wissenschaft« eines edlen Geistes Genüge zu leisten bzw. zu zeigen, wie das System Schellings diesen gerecht zu werden vermag. 143 Zum einen hat insbesondere die charakterliche Anlage Eschenmayers Schelling überhaupt dazu zu motivieren vermocht, »sich über eben diese Verhältnisse zu erklären«, wie es andere nicht vermochten. 144 Zum anderen nötigt jene ihn auch dazu, sich auf eine Weise darüber zu erklären, die diesem Adressaten angemessen ist. Es ist der Zweck, den er mit dieser Schrift verfolgt, der die Form derselben bestimmt. 145 Wie aus dem Gesagten hervorgeht, kann dieser Zweck nicht darin bestehen, sich dem Zeitalter verständlich zu machen oder seine Lehre so zu präsentieren, dass sie auch für solche, die nicht dazu bereit sind, zeitgemäße Vorurteile in Zweifel zu ziehen, leicht verständlich wird. Dabei stellt sich die Frage, wie man, gesetzt den Fall, dass es kein »reine[s] Nichtbegreifen« gibt, 146 sondern, dass das Unbegreifliche und Unverständliche immer nur aufgrund von nicht befragten Vormeinungen als solches erscheint, einem edlen Geist zum Bewusstsein bringen kann, dass die ganz andere Frage zur Debatte gestellt. Entsprechend wandelt sich auch die Art, wie die Untersuchung geführt wird bzw. der Status der Ergebnisse. Während der Philosoph für sich angesichts des zukünftigen Lebens zur völligen Gewissheit gelangen konnte, ist ihm dies angesichts der Frage des zukünftigen Lebens der Nicht-Philosophen nicht möglich (vgl. »So wäre es also denkbar« (SW IX, 80), »so wäre […] noch begreiflich«, »Sollte nun nicht […] möglich seyn« (SW IX, 81), »ließe sich mit großer Wahrscheinlichkeit […] sagen« (SW IX, 83)). 142 Schelling 1804, IV / SW VI, 13. 143 Schelling 1804, IV / SW IV, 14. 144 Schelling 1804, III f. / SW VI, 13. 145 Auch in den Ferneren Darstellungen, die sich ebenfalls an den »noch weniger Eingeweihten« richten (Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361), ist mehrmals von einem »Zweck« die Rede, der mit der Darstellung verfolgt wird und dem diese sich anzupassen hat (vgl. Schelling 1802b, 30, 35 / SW IV, 359, 362; Schelling 1803c, 67, 71, 92, 97, 175 / SW IV, 434, 437, 451, 455, 492). 146 Schelling 1804, IV / SW VI, 14.

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Ansicht, die er sich von Schellings System gebildet hat, eine bloße Meinung ist, die der Intention seines Autors nicht entspricht. Insofern die symbolische Form sich in erster Linie an Philosophen richtet, eignet sie sich nicht für diesen Zweck bzw. für einen solchen Adressaten. Aufgrund seiner Natur eignet Eschenmayer sich nicht dazu, in eine konzeptuelle Figur überführt zu werden. Dennoch ist er auch nicht, wie Reinhold oder Bardili, eine geradezu gesprächsunfähige Figur, deren Behauptungen sich erst durch die Vermittlung eines ›Freundes‹ in eine diskussionsfähige Form überführen lassen. Eschenmayer nimmt somit eine Art von Zwischenposition zwischen ›Fichte‹ und ›Reinhold‹ bzw. ›Bardili‹ ein. Anders als die letzteren gibt er ein aufrichtiges Bestreben zu erkennen, das schellingsche System zu begreifen: Aus der Art, wie er seine Bedenken formuliert, geht hervor, dass er sie nicht unbedingt als Einwände verstanden haben will, sondern nur Schwierigkeiten signalisieren will, die er in diesem System wahrzunehmen meint. Sie können also auch als das Geständnis eines noch unzureichenden Verständnisses desselben verstanden werden. Gerade diese Haltung macht ihn zu einem gesprächsfähigen Partner. Aus diesem Grund richtet Schelling sich mittels einer argumentativ aufgebauten Schrift direkt an ihn. Der Verzicht auf die symbolische Gesprächsform bedeutet somit offensichtlich nicht, dass damit auch die gesprächsweise Darlegung aufgegeben wird. 147 Der ›Stoff‹ wird nämlich gerade so entwickelt, dass die Darlegung sich durchgehend auf die Einwände Eschenmayers bezieht. Zudem ist sie als eine Antwort auf die in »mehreren öffentlichen Aeuserungen« enthaltenen »Auffoderungen« gedacht. 148 Der Zweck der Schrift ist zunächst ein erzieherischer. Sie richtet Vgl. Schelling 1809a, X / SW VII, 334: »in einer […] polemischen Beziehung«; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72: »die sich fast durchgehends auf die Ihrige bezieht«; Schelling 1813b, 79 / SW VIII, 161: »Wären wir nicht durch Räume getrennt, vielleicht hätte sich aus Ihrem Brief und meiner Antwort ein Gespräch gemacht. Ich wünsche, auch der Verhandlung in die Ferne so weit es seyn kann diese Form zu geben […]. Ich habe oft gewünscht, daß, wie in alten Zeiten so in unsern, wenn nicht über Glaubensartikel, doch über philosophische Behauptungen und Systeme öffentliche Gespräche in Gegenwart gelehrter Zeugen stattfinden möchten …« – Die ›allegorische Vision‹, die das Jacobi-Denkmal beschließt, dürfte ein Beispiel eines solchen ›öffentlichen Gesprächs‹ darstellen. 148 Schelling 1804, III / SW VI, 13. Auch von der Freiheitsschrift bemerkt Schelling, dass diese zwar die Form einer Abhandlung angenommen hat, dennoch durchgängig »gesprächsweise« verfährt (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410; vgl. Schelling 1809a, X / SW VII, 334). 147

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sich in erster Linie weder an die unphilosophische Mehrheit noch an die eigentlichen Philosophen, sondern an einen solchen, der sich wegen bestimmter Anlagen dazu eignen dürfte, sich zum Philosophen zu bilden. Eschenmayer wird damit die Rolle zugewiesen, den potentiellen Philosophen zu repräsentieren. Die Absicht, die Schelling mit der Schrift verfolgt, besteht somit nicht so sehr darin, wie man zunächst vielleicht meinen könnte, seine eigene Lehre gegen Einwände und Bedenken zu verteidigen, als vielmehr darin, zu zeigen, welche Vormeinungen das Verständnis derselben hindern könnten und auf welche Weise man sich von denselben zu befreien vermag. Indem die Schrift einen solchen noch in zeitgemäßen Vorurteilen befangenen Leser dazu befähigt, sich von denselben zu befreien, wenigstens sich derselben bewusst zu werden, hilft sie ihm dadurch, sich die philosophische Erkenntnis zu erarbeiten. Der Plan der Schrift, ihr fragmentarischer Charakter und ihr Ton werden als ebenso viele Mittel eingesetzt, um bei einem solchen Leser eine Distanz zu den geläufigen Vormeinungen hervorzubringen und dadurch den Weg zur philosophischen Erkenntnis zu ebnen. 149 Die anderen Leser werden sich durch solche Merkwürdigkeiten nicht stören lassen und sie vielleicht nur Schellings schriftstellerischem Ungeschick zuschreiben. Zugleich wird dem ›aufmerksamen Leser‹ auch vorgeführt, wie der Philosoph mit den Bedenken solcher ›edlen Geister‹ umgeht.

5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift Die Überlegungen zur Form der Schrift und zum Typus des Adressaten dürften dazu beitragen, ein neues Licht auf die Mysterien zu werfen, die in Philosophie und Religion eine so bedeutsame, wenn auch rätselhafte und vielschichtige Rolle spielen. Dabei wird sich zeigen, dass das richtige Verständnis der Mysterien der eigentliche Schlüssel zum rechten Verständnis des ganzen Werkes ist. Alle bislang erörterten Fragen – nach der Darstellung und Mitteilung philosophischer Lehren, der Ausrichtung an unterschiedliche Typen von Adressaten, der Eigenständigkeit des nichtpropositionalen Wissens im Verhältnis zum propositionalen Wissen, der erzieherischen Absicht, die in die Form der Schrift eingesenkt ist – laufen im Begriff der Mysterien zusammen. Als Mysterien werden zunächst die Gegenstände be149

Vgl. Schelling 1804, 15 f. / SW VI, 26.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

zeichnet, wovon in dieser Schrift die Rede ist. In der geplanten Gesprächsreihe sollte nur von solchen Gegenständen die Rede sein, die in Mysterien gelehrt werden müssen. 150 Bedeutender ist aber die für die Mysterien charakteristische Art der Mitteilung. 151 Wenn die Rede von Mysterien zunächst auch mysteriös anmutet, so gibt Schelling selbst genügend Hinweise, die den Leser imstande setzen, sich durch diesen Eindruck nicht in die Irre führen zu lassen. Nur nebenbei ist die jetzt geläufigere Bedeutung von ›Geheimnissen‹ mitzuhören. 152 Sonst verweist der Ausdruck, wie Schelling hinreichend klar macht, zuallererst auf ein ganz präzises historisches und auch – bis zu einem gewissen Grade – der historischen Forschung zugängliches Phänomen: die Mysterien von Eleusis als eine besondere religiöse Veranstaltung oder Einrichtung. Der besondere Zweck derselben besteht in der Mitteilung oder Vermittlung bestimmter Lehren. Diese Lehren werden allerdings nicht in erster Linie als eine Doktrin oder ein Korpus von Behauptungen weitergegeben, sondern die Mysterien zielen vor allem darauf ab, eine bestimmte Erfahrung zu vermitteln und eine Verwandlung im Selbstverhältnis der Teilnehmenden in die Wege zu leiten. Die eigentlich vermittelte Lehre lässt sich denn auch nicht restlos in Behauptungen auflösen, sondern das Verständnis selbst der doktrinalen Lehre bleibt unlöslich an jenes verwandelte Selbstverhältnis gebunden. Insofern kann man in ihnen auch eine Erziehungsanstalt sehen. Wenn die Mysterien auch prinzipiell allen zugänglich sind und jeder berechtigt ist, an denselben teilzunehmen, so sind es dennoch nur ganz wenige, die zur eigentlichen Einsicht in die dort mitgeteilten Lehren gelangen. 153 Obwohl es demnach scheinen dürfte, dass diese Veranstaltung für die Mehrzahl, die jene Lehren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, nutzlos und überVgl. Schelling 1802a, 33 f., 37 f. / SW IV, 233 f., 235; Schelling 1804, 3, 35 f., 76– 78 / SW VI, 17, 39, 67 f. 151 Auf der ersten Seite von Philosophie und Religion (Schelling 1804, III / SW VI, 13) verweist Schelling den Leser auf Seite 35 der Originalausgabe des Bruno, wenn er wissen will, welche Gegenstände in der Gesprächsreihe behandelt werden sollten. Schlägt man die Stelle nach, dann fällt auf, dass auf der vorhergehenden und nachfolgenden Seite zwar von diesen Gegenständen die Rede ist, auf Seite 35 selbst aber nur von den Mysterien als einer besonderen Anstalt zur Mitteilung philosophischer Lehren. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird dadurch nicht so sehr auf die mitgeteilte Lehre, sondern vielmehr auf die Art ihrer Mitteilung gelenkt. 152 Nur in Schelling 1804, VI / SW VI, 15 scheint der Ausdruck (fast) ausschließlich als Synonym für Geheimnisse verwendet zu werden. 153 Vgl. Schelling 1804, 74 / SW VI, 66. 150

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Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

flüssig wäre, wurden sie dennoch von allen als die »heilvollsten und wohlthätigsten aller Einrichtungen« gepriesen. 154 Auch solchen, die diese Lehren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, muss dort etwas vermittelt worden sein, dass sie als heilsam erfuhren. In der Tat weist Schelling im »Anhang« unserer Schrift auf die besonderen Abstufungen in der Einrichtung der Mysterien hin, durch welche sie unterschiedlichen Klassen von Teilnehmern jeweils etwas anderes vermitteln, das aber von allen in seiner jeweiligen Form als heilsam empfunden wird. Das Eigentümliche der Mysterien besteht demnach darin, dass sie grundsätzlich allen offenstehen, aber so eingerichtet sind, dass sie unterschiedlichen Klassen von Adressaten Unterschiedliches vermitteln und dadurch einer unaufhebbaren Ungleichheit zwischen den Menschen Rechnung tragen. Die Mysterien sind demnach nicht nur etwas, worüber in dieser Schrift gesprochen wird, sondern sie liefern zugleich das Modell, wonach sie selbst, ihrer Form und ihrer Intention nach, interpretiert werden muss. Die Schrift reflektiert in ihrer Form über die Notwendigkeit, die Philosophie in Mysterien einzurichten. 155 Dass jene antike Einrichtung gerade unter diesem Aspekt Schellings Interesse auf sich zog, geht mit aller nur wünschenswerter Deutlichkeit aus einer der frühesten Erwähnungen der Mysterien bei Schelling hervor, die alle diese Elemente bereits in konzentrierter Form enthält. Sie findet sich in einem Brief, den Schelling am 12. März 1796 an Jakob Hermann Obereit schrieb. Der einundzwanzigjährige Schelling schreibt: Ihr Wunsch, daß man die neue Philos. nicht zur Sprachmode werden laßen soll, ist völlig hgegründeti. Ich glaube daß zu einer Nationalerziehung Mysterien gehören, in welche d[er] Jüngling stufenweise eingeweiht wird. In diesen sollte die neue Phil. gelehrt werden. Sie sollte die lezte Enthüllung seyn, die man d[em] erprobten Schüler der Weisheit widerfahren ließe, wenn sie anders etwas ist, das man von andern empfangen kann, u. nicht sich selbst verschaffen muß. Diß ist aber bei der Fluth unsrer Literatur durch die alles in’s weite Publ. gehtriebeni wird Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Der Philosoph ist nicht nur an der in den Mysterien gelehrten Lehre interessiert, sondern ebenso sehr an der Art, wie diese mitgeteilt wird. In der ersten Hälfte der Gesprächsreihe, die durch Bruno eröffnet wird, soll festgestellt werden, »welche Art der Philosophie […] in den Mysterien gelehrt werden müsse«. In einer zweiten Hälfte sollen dann »die Sinnbilder und Handlungen« beschrieben werden, »durch welche eine solche dargestellt werden könne« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234).

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unmöglich u. die beßern Schriftsteller können daher nichts thun, als Ihrer Darstellung so viel Würde, Strenge des Vortrags u. Erhabenheit geben, daß jedes Blatt dem Profanen zuruft: procul, o procul esto! (AA III,1, 47)

Auch hier werden die Mysterien in erster Linie als eine Erziehungsanstalt betrachtet. Die Notwendigkeit, die Erziehung auf eine solche Weise einzurichten, ergibt sich Schelling zufolge aus den Anforderungen der Erziehung überhaupt. Wenn diese Erziehung im eigentlichen Sinne – und nicht etwa nur Abrichtung zur Erfüllung bestimmter Funktionen – sein will, dann kann sie nur mittels Mysterien geschehen. Die (neue) Philosophie soll erst auf der letzten Stufe gelehrt werden. Die Erziehung kommt erst dann an ihr Ziel, wenn der Jüngling auch in die Philosophie eingeweiht wird. Der Zögling selbst hat erst dann die notwendigen Stufen der Erziehung durchlaufen, wenn er hinreichend vorbereitet ist, auch in dieses letzte Gebiet einzutreten. Damit ist nicht gesagt, dass auch alle dazu fähig sind, bis zu dieser letzten Stufe geführt zu werden. Die vorhergehenden Stufen müssen demnach so eingerichtet werden, dass sie auch zur Erziehung von solchen beitragen, die nicht imstande sein werden, bis zur letzten Stufe fortzuschreiten, zugleich jedoch so, dass sie als eine Vorbereitung auf dieselbe gelten können. Es ist also letztlich die höchste Stufe, die bestimmt, wie die Erziehung als Ganzes einzurichten ist. Wichtiger als die in den Mysterien mitgeteilte doktrinale Lehre ist für Schelling die in dieser Einrichtung als solche enthaltene praktische Lehre über die Art, wie jener absolute Zustand sich erreichen lässt. Schelling gibt nun zwei Gründe an, weshalb die Erziehung zur Philosophie eine solche Einrichtung erfordert. Zum einen ist sie als eine Schutzmaßnahme zu verstehen: Sie soll verhindern, dass die (neue) Philosophie zur bloßen Sprachmode verkommt. Diese Gefahr ist durchaus reell in einer Situation, wo die ›Fluth der Literatur‹ ›alles in’s weite Publikum‹ treibt, alle nur denkbaren Themen, Theorien und Behauptungen ohne Unterschied dem Publikum zugänglich macht und ihm dadurch ein Recht einzuräumen scheint, darüber mitzureden und zu urteilen. Die publizistische Tätigkeit, die begünstigt, dass man sich durch Sprach- oder anderen Moden mitreißen lässt, ist nicht nur für diejenigen, die sich daran beteiligen, es befördern und vorantreiben, schädlich, sondern besonders und in erster Linie für die potentiellen Philosophen. Für die ersten, könnte man mit Schelling sagen, wäre der Mangel an wahrer Erkenntnis selbst die eigentliche Strafe. Nur die Sorge um die letzteren erfordert besondere Maßnah70 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

men, damit die Bedingungen hervorgebracht werden, die ihr Erscheinen wenigstens nicht ganz unmöglich machen. Bei der Verfassung philosophischer Schriften geht es demnach nicht um bloße »Büchermacherey«, die letztlich nur der eigenen Eitelkeit dient, sondern sie erwächst der Sorge um die potentiellen Philosophen. 156 Philosophische Bücher sollen als Erziehungsinstrumente die potentiellen Philosophen in die Lage versetzen, sich selbst zu erkennen und den Weg zur Erkenntnis zu gehen. Jene Einrichtung ist zum anderen durch die Rücksicht auf die zu erziehenden Jünglinge motiviert. Diese soll sie dazu befähigen, sich der Gewalt der Literaturflut zu entziehen, und verhindern, dass sie die Terminologie, der die Philosophie durchaus bedarf, nur als eine Modeerscheinung behandeln, die man anziehen und auch wieder ablegen kann, je nachdem, ob es einem von Vorteil ist, sich mittels ihrer von anderen zu unterscheiden und sich so eine eigene ›Identität‹ zuzulegen. Die Einrichtung von Mysterien ist demzufolge durch eine besondere Lage der philosophischen Sprache motiviert. Sie soll dem entgegenwirken, dass diese zu einer bloßen Modeerscheinung verkommt, und dadurch zu einem anderen Umgang mit der philosophischen Sprache erziehen. Von hier aus lässt sich bereits ein Licht auf eine Eigentümlichkeit der schellingschen Schriften werfen. Die von Schelling verwendete Terminologie weist einen besonders flüssigen Charakter auf. Ausdrücke, die in einer Schrift als termini technici eine tragende Rolle spielen, werden in der folgenden bereits wieder aufgegeben und durch andere Ausdrücke ersetzt. So spielt, um nur ein Beispiel, das sich leicht vermehren ließe, anzuführen, in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 der Ausdruck der ›Potenz‹ eine zentrale Rolle. Im ein Jahr später veröffentlichten Bruno taucht dieser Ausdruck kaum mehr auf, sondern wird durch den – früher nicht in dieser Verwendung vorkommenden – Ausdruck der ›Ideen‹ ersetzt. 157 Derselbe Begriff findet sich demnach unter verSchelling 1804, V / SW VI, 14. Miklos Vetö hat diese Einsicht zum Ausgangspunkt seiner Studie zum Begriff des Grundes gemacht: »la catégorie du fondement n’est pas présente seulement là où le terme Grund est explicitement évoqué: elle pénètre toute l’œuvre de Schelling sous des noms différents« (Vetö 1977, 254). Dieser Gesichtspunkt hat es ihm erlaubt, den Begriff des Grundes, der vor der Freiheitsschrift nur eine marginale Rolle zu spielen schien, die kaum die überraschende Aufwertung in derselben zu rechtfertigen scheint, als einen der zentralen Begriffe des schellingschen Denkens von Anfang an sichtbar zu machen.

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schiedene Ausdrücke wieder. Diese fließende Terminologie soll den Leser dazu nötigen, sich darüber im Klaren zu werden, ob nicht mit unterschiedlichen Ausdrücken derselbe Begriff bezeichnet wird, wobei jeder Ausdruck einen besonderen Aspekt desselben Begriffs hervorkehren dürfte. Sonst könnte man leicht dazu verführt werden, Schelling einen ständigen Systemwechsel zu unterstellen. 158 Der plötzliche Terminologiewechsel soll den Leser eine Distanz zum Sprachgebrauch gewinnen lassen und ihn dazu veranlassen, in eigener Arbeit zu versuchen, sich den zugrundeliegenden und anvisierten Begriff klar zu machen. Dieses Verfahren gehört zur Einrichtung der Philosophie in Mysterien. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Jüngling nicht als Philosoph, sondern zunächst als von Sprach- und Theoriemoden geprägt und in seinen Überzeugungen und Erwartungen durch die Literaturflut bestimmt an die Philosophie herankommt. Diese Vorbelastung wird durch die stufenweise Einweihung berücksichtigt. Es ist nicht möglich, den Jüngling unmittelbar zur höchsten Erkenntnis zu führen. Dazu bedarf es ganz besonderer und geeigneter Vorbereitungen. Die erste Stufe wenigstens ist grundsätzlich jedem zugänglich. Wie es im »Anhang« von Philosophie und Religion heißt, muss zunächst ein »Vorhof« eingerichtet werden, in welchem eine »erste Vorbereitung zu den höchsten Erkenntnissen« stattfindet. 159 Für die »Nicht-freyen« »möchte sich überhaupt die Theilnahme […] an den Mysterien« darauf »beschränken«; für die potentiellen Philosophen bildet sie nur eine Stufe auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis. 160 Das Kennzeichnende der ersten Stufe besteht darin, dass hier vor allem Diese immer noch verbreitete Ansicht wurde am beredtsten und wirkungsmächtigsten von Hegel formuliert: »Schelling hat seine philosophische Ausbildung vor dem Publikum gemacht. Die Reihe seiner philosophischen Schriften ist zugleich Geschichte seiner philosophischen Bildung und stellt seine allmähliche Erhebung über das Fichtesche Prinzip und den Kantischen Inhalt dar, mit welchen er anfing; sie enthält nicht eine Folge der ausgearbeiteten Teile der Philosophie nacheinander, sondern eine Folge seiner Bildungsstufen«. Und: »In späteren Darstellungen fing er in jeder Schrift nur immer wieder von vorne an (stellte nie ein vollendet durchgeführtes Ganzes auf), weil man sieht, daß das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan; und so hat er sich in verschiedenen Formen und Terminologien herumgeworfen«. Und noch: »In der neuesten Darstellung hat Schelling andere Formen gewählt; er hat sich, wegen unausgebildeter Form und Mangel an Dialektik, in verschiedenen Formen herumgeworfen, weil keine befriedigend ist« (GeschPh III, TWA 20, 421, 422, 445 f.). 159 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69. 160 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69. 158

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Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

eine Wirkung auf die Affektivität beabsichtigt wird: Sie »besteht in der Schwächung und wo möglich Vernichtung der sinnlichen Affecte und alles dessen, was die ruhige und sittliche Organisation der Seele stört«. 161 Die ›sinnlichen Affecte‹, die Anhänglichkeit an die endlichen Dinge, die Eigenliebe hindern am meisten daran, die höheren Stufen zu erreichen, weshalb man diesen besondere Rücksicht zu zollen und die Mitteilung der Lehre so zu gestalten hat, dass sie gerade diese Hindernisse beseitigt. Der Glaube an die sinnliche Erfahrung soll erschüttert werden; dieser soll ihre Rolle als Maßstab allen Wissens genommen werden. Um dies zu erreichen, müssen die dazu eingesetzten Mittel natürlich von der Art sein, dass sie auf die sinnlichen Affekten einzuwirken fähig sind, und zwar so, dass eine Schwächung derselben daraus resultiert. Die ›sinnlichen Affecte‹ lassen sich dadurch schwächen, dass ihnen stärkere Affekte entgegengesetzt werden; deshalb kommt es zum Einsatz von »schreckenvolle[n] Bilder[n]«, die »die ruhige und sittliche Organisation der Seele« erst dadurch wiederherstellen, dass sie »der Seele die Nichtigkeit alles Zeitlichen vor die Augen stellen und sie erschütternd das einzig wahre Seyn ahnden lassen«. 162 Auch Schelling setzt, wie wir gesehen haben, gezielt rhetorische Mittel ein, um beim Leser solche affektiv-erschütternden Wirkungen hervorzurufen. 163 Bereits im »Vorbericht« lassen sich dafür mehrere Beispiele auffinden. So soll die Eigenliebe der Gegner dadurch gekränkt werden, dass er sie einfach mit Stillschweigen übergeht. Gegen jene, die nur moralische Bedenken vorzuführen haben, erinnert Schelling 1804, 79 / SW VI, 69. Schelling 1804, 79 / SW VI, 69; Herv. v. Verf. Es ist wohl kaum zufällig, dass Schelling gerade in diesem Zusammenhang den für Eschenmayer so charakteristische Ausdruck ›ahnden‹ verwendet (vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33), 30 (§ 38), 35 (§ 44), 35 (§ 45), 50 (§ 57)). Eine solche Beziehung zum Absoluten, wobei dieses bloß geahnt wird, gehört also zu dieser ersten Stufe. Dies ist somit die »Sphäre«, die Schelling »in ihrem ganzen Werth […] bestehen« lässt (Schelling 1804, 7 / SW VI, 20). Die Ahnung ist bestenfalls ein Analogon oder ein schwaches Abbild der eigentlich philosophischen Erkenntnis. 163 Vgl. auch die scharfe Rede von der »platte[n] Unwissenschaftlichkeit« und der »Nullität« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54), die der Leser fast zwangsläufig zunächst auf Eschenmayer beziehen muss, da dessen Name im vorherigen Absatz betont genannt wurde. Auch wenn Schelling ihn gleich anschließend von diesem Urteil ausnimmt, so scheint Eschenmayer doch mit davon betroffen. – Das Reinhold-Gespräch wie auch das Jacobi-Denkmal bieten eine Fülle von Beispielen dieses Vorgehens, das allerdings der Absicht untergeordnet ist, ihnen dadurch zur Selbsterkenntnis zu verhelfen. 161 162

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

er daran, dass diese gerade in moralischer Hinsicht versagen: Er setzt einem moralischen Argument ein moralisches Argument entgegen. 164 Den Anhängern, die sich aus Stolz einer besonderen Erkenntnisart rühmen, hält er entgegen, dass sie sich möglicherweise darin täuschen und sich als bloße Karikaturen ausnehmen: Dadurch soll Selbstzweifel erweckt werden. 165 Auch die »Töne alter Philosophie«, die Schelling in dieser Schrift – und mehr noch im Bruno – »anzugeben gesucht« hat, gehören zu den rhetorischen Mitteln, die Schelling dazu einsetzt, solche Leser auf Distanz zu halten, die sich nur allzu gerne mit einem Autor identifizieren, dem sie Autorität über sich zuerkennen. 166 Die Einrichtung der Philosophie in Mysterien hat also unmittelbare Folgen für die Art, wie die »beßern Schriftsteller« ihre Lehren mitzuteilen haben (AA III,1, 47). Es ist gerade die öffentliche Mitteilung philosophischer Lehren, die solche Massenphänomene und die Sektenbildung begünstigt, die indes die erzieherischen Absichten gerade untergraben. Dem hat der bessere Schriftsteller in der Form seiner Schriften Rechnung zu tragen. Sie nötigen ihn zu einem eigenen Ton und einer angepassten Vortragsweise. Bereits Ton, Form, Stil bringen Schellings Wahlspruch zum Ausdruck: »procul, o procul esto!« (AA III,1, 47). 167 Dieser ersten Vgl. Schelling 1804, 59–61 / SW VI, 54 f. Vgl. auch Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410, wo von den »Drohworte[n] der Vorrede« die Rede ist, die eine bestimmte Klasse von Lesern zurückschrecken sollen. 166 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Insofern der Bruno »das, was seiner Natur nach der Gemeinheit unzugänglich seyn soll, ihr auch durch die Form äusserlich-sichtbar« entzieht, scheint Schelling nicht zu erwarten, dass die »Töne alter Philosophie«, die auch dort anklingen, übel vernommen werden. Gerade weil Philosophie und Religion auf die symbolische Form verzichtet, meint er nun erwarten zu können, dass »die Zeit diese Töne alter Philosophie […] übel vernehmen werde« (Schelling 1804, V / SW VI, 14). Die symbolische Form scheint den provokativen Charakter solcher ›Töne‹ zu mildern, während er, ohne diese Form, desto stärker hervortritt. 167 Damit macht Schelling sich die Worte zum Wahlspruch, die die Sibylle in der Aeneis VI, 258 Aeneas’ Begleitern in dem Augenblick zuruft, als die Göttin Hekate sich naht und Aeneas sich als einziger Eingeweihter zum Abstieg in die Unterwelt bereitmacht, wo sein Vater Anchises ihn mit den Geheimnissen der Philosophie, insbesondere bezüglich des Lebens nach dem Tod, sowie mit der Zukunft Roms bekannt macht. Es dürfte Schelling kaum entgangen sein, dass gerade diese Stelle der Aeneis, insbesondere der Ausruf der Sibylle selbst, mit Anspielungen auf und Erinnerungen an die Mysterien von Eleusis durchsetzt ist. Jenen Ausruf war bereits von Horaz aufgegriffen worden, als er in Carmina, III, 1, 1–4 sich selbst zum Priester der Musen erklärte und das profanum volgus den Abstand zu wahren hieß, da er nur für die Edlen oder Reinen singe. Auch Schelling scheint die Parallele beider Stellen aufgefallen zu sein: Jedenfalls führt er in den Vorlesungen über die Methode des acade164 165

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Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

Stufe, die sich an alle richtet, kommt demnach besondere Bedeutung zu. Sie hat eine sondernde Wirkung: Während sie die meisten im ›Vorhof‹ festhält, wird sie für die Wenigen zum Mittel, zu einer höheren Stufe aufzusteigen. Obwohl sie demnach prinzipiell allen zugänglich ist, ist sie dennoch an unterschiedliche Adressaten gerichtet. Die erschütternden Affekte sind dazu gedacht, die Seele in einen Traumzustand zu versetzen. Dieser Traumzustand wird durch die Einrichtung der ersten Stufe induziert, bildet zugleich aber den Übergang zur zweiten Stufe: Diese »möchte daher die seyn, wo die Geschichte und die Schicksale des Universum bildlich und vornämlich durch Handlung dargestellt würden«. 168 Während auf der ersten Stufe vornehmlich eine Veränderung im Selbstverhältnis eingeleitet und hervorgerufen werden soll, zeigt diese sich auf der zweiten Stufe als lediglich die Bedingung für eine Hinwendung zum ›Universum‹, in der Absicht, dieses zu erkennen. Während die erste Stufe sich an die Nicht-Freien richtet, so entspricht die zweite Stufe den Erkennenden oder den Wissenschaftlern. 169 Aber auch diese Stufe ist noch nicht die höchste, sondern bildet nur den Übergang zur dritten Stufe. Diese ›bildlichen‹ Darstellungen der ›Geschichte‹ und der ›Schicksale des Universum‹ erlauben nämlich eine doppelte Lektüre. Es ist nämlich möglich »durch diese Hülle hindurch zu der Bedeutung der Symbole [zu] dringen«. 170 Dies ist der Zustand der »Autopten«, welche »die Wahrheit rein wie sie ist, ohne Bilder«, zu sehen imstande sind. 171 So haben auch philosophische Texte einen symbolischen Charakter, da ihr eigentliches Ziel ebenfalls darin besteht, den Leser den ›autoptischen‹ Zustand erreichen zu helfen, wo er ihrer allerdings vielleicht nicht mehr bedarf. Aus Schellings knappen Andeutungen zu den mischen Studium statt des procul o procul esto das Odi profanum volgus et arceo als »natürlicher Wahlspruch« der Philosophie an (Schelling 1803a, 111 / SW V, 261). 168 Schelling 1804, 80 / SW VI, 69. 169 Insofern die »Freyen« die Dinge als »Werkzeuge oder Organe« der Ideen betrachten (Schelling 1804, 73 / SW VI, 65), bleibt ihre Erkenntnis durchaus »exoterisch«, insofern als »jede Erkenntniß, welche die Ideen nur an den Dingen, nicht an sich selbst zeigt, exoterisch« ist. Alle, die sich im Bereich (oder in der Potenz) der Wissenschaft, Religion oder Kunst bewegen, sind zwar auf Ideen gerichtet, aber nur insofern diese sich an den Dingen zeigen. Davon ist noch die Erkenntnis der Ideen zu unterscheiden, insofern diese an sich betrachtet oder, was dasselbe heißt, insofern sie auf das Absolute bezogen werden. Diese Erkenntnis nennt Schelling »esoterisch«, da sie »die Urbilder der Dinge an und für sich selbst [zeigt]« (Schelling 1802a, 30 / SW IV, 231). 170 Schelling 1804, 80 / SW VI, 69. 171 Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.

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1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Mysterien lässt sich somit ersehen, mit welcher Absicht er seine Rhetorik einsetzt. * * * Der »Vorbericht« gipfelt in eine durch Zentrierung und Sperrung eigens hervorgehobene Warnung an den Leser: »Rühre nicht, Bock! denn es brennt«. 172 Der Satz scheint nur eine neue Variante des »natürliche[n] Wahlspruch[s]« der Philosophie zu sein. 173 Er greift indessen eine von Plutarch in der Abhandlung De capienda ex inimicis utilitate mitgeteilte Fabel auf. Plutarch führt sie dort im Zusammenhang mit der Frage an, wie man auch aus solchem, das zunächst bloß schädlich scheint, dadurch Nutzen ziehen kann, dass man den richtigen Gebrauch der Sache entdeckt. Die durch den Titel angezeigte Leitfrage des Textes ist selbst nur ein Beispiel dieser allgemeineren Frage. So kann das Feuer auf vielerlei Weise nutzbringend verwendet werden, was dem Satyr allerdings wegen seiner Zudringlichkeit entgeht. In dem nicht kenntlich gemachten Zitat fasst Schelling das Ergebnis seiner Überlegungen zum Verhalten seiner Anhänger und Gegner zusammen: Durch ihre Zudringlichkeit sowie durch ihren Mangel an Erfahrung, wie man mit philosophischen Texten umzugehen habe, verfehlen insbesondere die Anhänger das Nutzbringende des ›Feuers‹, das Schelling in seine Schriften niedergelegt hat, und schaden dadurch sowohl sich selbst als auch anderen. Dem »Vorbericht« kann man wenigstens bereits so viel entnehmen, dass der angemessene Umgang mit dieser Schrift nicht darin besteht, dass man sich zum Anhänger oder Gegner einer Lehre macht. Zugleich dient die Schrift selbst als Beispiel dafür, wie Schelling selbst aus seinen Gegnern und Anhängern Nutzen zu ziehen weiß. 174 Die Anspielung auf die Plutarch-Stelle bildet allerdings ein seltsames DopSchelling 1804, VI / SW VI, 15. Schelling 1803a, 111 / SW V, 261. 174 Vgl. Plutarchus 1956. Schelling hält auch dort noch Plutarchs Richtlinien ein, wo er seine Polemik mit Jacobi zu rechtfertigen sucht: »Gewohnt, schnöde Gehässigkeit, und alle Versuche, mich aufzuhalten, nur zu höherer und kräftigerer Entwicklung der Wissenschaft zu benutzen, mußte ich mich nicht mit jenem bloß äußerlich Gefoderten [sc. der Zurückweisung von Jacobis Schelling-Interpretation sowie den von diesem damit verbundenen Folgerungen und Verdächtigungen, R. S.] begnügen, sondern darauf denken, das, was böslich gemeynt war, zugleich in ein Gutes für mich und Andere zu verwandeln« (Schelling 1812, 33 / SW VIII, 37). Beachte auch Schelling 1812, 60 / SW VIII, 52, wo Schelling bemerkt, wie gerade die fehlende Aussicht, einen wissen172 173

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Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

pelzitat. Bereits Rousseau hatte der Stelle nämlich eine hervorgehobene Bedeutung für sein Œuvre zuerkannt, indem er sie zur Erläuterung des Frontispizes seiner ersten Schrift herangezogen hatte. 175 Schelling verknappt die erste Hälfte des Zitats und lässt, genau wie Rousseau, die zweite Hälfte des Satzes aus, die bei Plutarch auf die heilbringende Wirkung der Wissenschaft hinweist. Der erste Discours thematisierte ausdrücklich die Spannung zwischen Philosophie bzw. Wissenschaft und Gemeinwesen. Wenn die Philosophie für die »unerbetnen Anhänger[…]«, die »ohne Beruf« und »ohne begeistert zu seyn, zu gleichem Skandal der Klugen und der Einfältigen, den Thyrsus tragen«, schädlich ist, so ist sie es auch für das Gemeinwesen, durch den Gebrauch, die jene von der missverstandenen und »zur Caricatur« ausgedehnten Lehre machen, und durch die Wirkung, die die Verbreitung der Lehre in dieser Gestalt hervorbringt. 176 Die Erinnerung an den Gebrauch, den Rousseau von jener Stelle gemacht hatte, dürfte kaum zufällig sein, da dieser sie dazu anführt, auf den Unterschied zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen und auf die Folgen, die sich aus demselben für die Darstellung seiner Lehre ergeben, aufmerksam zu machen. Der »Vorbericht«, den jener Satz beschließt, hat durchgängig nur von solchen Darstellungsproblemen gehandelt, und von der Bedeutung, die die Berücksichtigung der Adressaten dabei spielt. Wie aus einer späteren Stelle in Philosophie und Religion noch deutlicher hervorgeht, erhält die Frage nach dem Verhältnis von Freien, Nicht-Freien und Philosophen dadurch für das Verständnis dieser Schrift eine grundlegende Bedeutung. Bereits durch die Art der Darstellung ist sie damit der Politischen Philosophie zuzurechnen.

schaftlichen Gewinn aus einer Auseinandersetzung zu ziehen, ihn bei einer früheren Gelegenheit auf eine Polemik hat verzichten lassen. 175 Zur Plutarch-Stelle als Vorlage für das Frontispiz des ersten Discours: Rousseau 1755, LI–LIII; Meier 2011, 19–22. Das Frontispiz war allerdings nicht wiederabgedruckt in der Rousseau-Ausgabe, die in Schellings Besitz war, vgl. Rousseau 1782 und Müller-Bergen 2007, 135. Gleich im Anschluss an das Plutarch-Zitat richtet übrigens auch Rousseau sich gegen die »Büchermacherey« (Rousseau 1776, 673; vgl. Schelling 1804, V / SW VI, 14). 176 Schelling 1804, V f. / SW VI, 14 f.

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Der Begriff einer intellektuellen Anschauung hat seit jeher Widerstand hervorgerufen. Man hat darin zum einen eine Rückführung der Philosophie auf eine Art Naturgabe vermutet. Zum anderen hat man befürchtet, dass dadurch die Philosophie der Aufgabe einer rationalen Rechtfertigung für enthoben gehalten wird. So vermochte Hegel, aufgrund seiner Annahme, dass die Philosophie »ihrer Natur nach fähig« ist, »allgemein zu sein«, in der Behauptung einer intellektuellen Anschauung nur ein Anzeichen des »Mangelhafte[n] in der Schellingschen Philosophie« zu sehen, insofern damit auf einen »wahrhafte[n] Beweis, daß diese Identität [des Subjektiven und Objektiven, R. S.] das Wahrhafte« sei, verzichtet würde (GeschPh III, TWA 20, 428, 435). Dementsprechend stellt Hegel der intellektuellen Anschauung die Dialektik entgegen, in der Überzeugung, dass die Aufgabe, die nach seinem Urteil von Schelling der intellektuellen Anschauung zugewiesen wird, restlos durch eine dialektische oder logische Analyse übernommen werden könne. Außerdem könne es kein Kriterium geben, das es zuließe, darüber zu entscheiden, ob man die intellektuelle Anschauung hat oder nicht: »[O]b man sie aber hat oder nicht, kann man nicht wissen« (GeschPh III, TWA 20, 439). Hegels Einschätzung scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass er den Unterschied eines negativen und positiven Verfahrens bei Schelling übersieht. Es ist nicht der Fall, dass Schelling sich einfach auf eine solche Anschauung zur »Bewährung« seiner Behauptungen beruft (GeschPh III, TWA 20, 440), sondern dem geht ein negativer Gedankengang voraus, der durchaus diskursiv auf die Notwendigkeit der Annahme einer intellektuellen Anschauung hinzuführen sucht. Der Unterschied zwischen negativem und positivem Verfahren muss allerdings dann übersehen werden, wenn man die unterschiedliche Absicht und, damit zusammenhängend, den unterschiedlichen idealtypischen Adressaten von Schellings verschiedenen Darstellungen übersieht, da man von der Voraussetzung ausgeht, dass Schelling in 79 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

seinen »späteren Darstellungen […] in jeder Schrift nur immer wieder von vorne an[fing]« (GeschPh III, TWA 20, 422). Wir werden in der Folge denn auch den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Darstellungen zu präzisieren suchen. Während in der wissenschaftlichen Darstellung die intellektuelle Darstellung nicht eigens thematisiert wird, setzt sie sie doch durchgängig voraus. In der nicht-wissenschaftlichen Darstellung wird umgekehrt die intellektuelle Anschauung zwar Thema der Erörterung; sie kann sich gerade deshalb zur ›Bewährung‹ ihrer Behauptung nicht auf dieselbe berufen. Wenn man sich daran stört, dass »die intellektuelle Anschauung oder der Begriff der Vernunft ein Vorausgesetztes ist« und keinen Beweis erfährt (GeschPh III, TWA 20, 439), dann dürfte eine solche Einschätzung, auf die Schrift Philosophie und Religion angewendet, daher rühren, dass man sich durch Schellings Erklärung am Anfang des zweiten Abschnittes, wonach wir »vorerst überall nichts voraus[setzen], als das Eine, ohne welches alles Folgende unbegriffen bleiben muss, die intellectuelle Anschauung«, hat irreführen lassen und den methodisch unterschiedlichen Zugriff des ersten und des zweiten Abschnitts darüber übersehen hat. 1 Die Position Eschenmayers hat nun das Besondere an sich, dass er die intellektuelle Anschauung durchaus zuzugeben scheint, in ihr dennoch einen Mangel diagnostiziert, der zu einer Ergänzung durch den Glauben nötigt. Nach einem Umriss des Programms der Nichtphilosophie werde ich in diesem Kapitel insbesondere das zentrale Missverständnis Eschenmayers in seiner Kritik an Schelling fokussieren, nämlich die Meinung, in Akten des Glaubens über etwas hinauskommen zu können, was bei Schelling durch die intellektuelle Anschauung als Prinzip der philosophischen Konstruktion aller Realität aufgestellt wird. Dabei wird sich zeigen, dass Eschenmayers Einwände sich auf eine Auffassung der intellektuellen Anschauung und des Absoluten stützen, die nicht präzis genug der schellingschen entspricht, und damit ihr Ziel verfehlen. Der Kern von Eschenmayers Einwand und die Grundlage der von ihm selbst skizzierten alternativen Position ist in der Behauptung einer Verschiedenheit von ›Gott‹ und ›Absolutem‹ zu suchen. Der Glaube wird nämlich deshalb bemüht, den Zugang zu einem der intellektuellen Anschauung unzugänglichen Gegenstand zu eröffnen. Schellings Einwand geht dahin, die Identität beider ›Gegenstände‹ zu behaupten, bei gleich1

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Das Programm der Nichtphilosophie

zeitiger Behauptung eines Unterschieds in der Zugangsweise zu demselben. Damit verbindet sich die These einer Überlegenheit der intellektuellen Anschauung in der Erschließung dieses Gegenstandes. Schelling versucht somit einen Berührungspunkt zwischen Glaube und Anschauung zu zeigen, während beide sich in unterschiedlicher Richtung weiterentwickeln. Da es nicht immer leicht ist, Eschenmayers Sätzen einen klaren Sinn abzugewinnen, habe ich mich insbesondere darum bemüht, seine Gedanken so wiederzugeben, dass sie auch für heutige Leser nachvollziehbar werden. In dieser Absicht habe ich auch mehrfach auf Parallelstellen bei Karl Jaspers hingewiesen, da dieser im Grunde denselben Einwand erhebt und aus demselben Motiv wie Eschenmayer. Da Darstellung und Kritik der schellingschen Position sich nicht nur bei Jaspers oft unentwirrbar verschlingen, dürfte dies auch zu der Überlegung veranlassen, ob nicht eine solche Kritik am Begriff der intellektuellen Anschauung und der Idee des Absoluten, konsequent durchgedacht, notwendigerweise zur Nichtphilosophie überleiten muss.

1. Das Programm der Nichtphilosophie In seiner Antwort auf den Brief vom 30. März 1804, der Eschenmayers Übersendung seiner Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nicht-Philosophie begleitete, 2 bemerkt Schelling, dass er diese »schon lange gelesen und wieder gelesen« und inzwischen bereits eine Erwiderung auf dieselbe fertiggestellt habe. Es ist dies die »kleine Schrift Philosophie und Religion«, die, wie er bemerkt, »sich fast durchgehends auf die Ihrige bezieht«. 3 Die Schrift Eschenmayers erVgl. C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 30. März 1804, Fuhrmans, Briefe III, 68–70. 3 Die Stelle lautet im Zusammenhang: »Ihre Schrift war mir auch jetzt noch angenehmes Geschenk, obgleich ich sie schon lange gelesen und wieder gelesen hatte, wie sich versteht. H. Prof. Paulus machte mich gleich bey ihrer Erscheinung damit bekannt. Sonderbarer Weise kommt Ihr Geschenk in dem Augenblick, da ich eben das lezte Blatt einer kleinen Schrift: Philosophie und Religion, die sich fast durchgehends auf die Ihrige bezieht, in die Druckerey geben will. Sie erhalten diese, sobald sie fertig und aus der Presse ist. Wie vielen Dank ich Ihnen für Ihre Schrift, deren Tiefe mich im Innersten angeregt hat, schuldig bin, will ich Ihnen hier nicht sagen, ich glaube, daß so, wie Sie mich genommen haben, allerdings noch ein bedeutend höherer Schritt in ein andres Gebiet geschehen muß; aber dieses Gebiet glaube ich noch in der Spekulation selbst zu finden, u. viel klarer durch dieses Organ in ihm zu sehen, als durch 2

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

schien Ende 1803. Der Brief Schellings, der die Fertigstellung seiner Antwortschrift meldet, ist auf den 7. April 1804 datiert. Die rasche Reaktion bezeugt, dass Schelling die Schrift Eschenmayers zum willkommenen Anlass nahm, sich über bestimmte Themen zu äußern. 4 Mit der Veröffentlichung seiner Antwort erachtet Schelling die Auseinandersetzung jedoch noch keineswegs für abgeschlossen; noch mehr als ein Jahr lang führt er sie sowohl in Briefen als auch in neuen Veröffentlichungen weiter. 5 Wenn die in Eschenmayers Schrift enthaltene »Auffoderungen« Schelling zu einer Antwort veranlassen, wie es andere nicht vermocht haben, dann steht für ihn wohl noch etwas mehr auf dem Spiel, als nur die Berichtigung einiger Missdeutungen. 6 Vielmehr erblickt Schelling in der von Eschenmayer umrissene Position, trotz der Unzulänglichkeiten und der begrifflichen Unschärfe, die sich bei diesem leicht feststellen ließen, eine grundsätzliche Alternative nicht nur zu seiner eigenen Position, sonGlauben. Sie haben vieles als durch diesen erfaßt ausgesprochen, was ich im ersten zu besitzen längst die Gewißheit habe«. Die Absicht der Schrift besteht darin, »einen Geist, wie Sie, mit mir vielleicht ganz aus[zu]söhnen« (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71 f.). Schelling schickt Eschenmayer die Schrift wohl Anfang Juni (vgl. Fuhrmans, Briefe I, 320). Eschenmayer meldet den Empfang in einem Brief vom 24. Juli 1804 (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108). 4 Schellings Reaktion auf die öffentliche Kritik Fichtes mit der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre (1806) und auf die Kritik Jacobis mit dem Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. (1812) erfolgte übrigens genauso schnell. 5 Vgl. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 10. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe I, 320– 322; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108– 112; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157 f.; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f.; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 10. August 1805, Fuhrmans, Briefe III, 227–229. Dann scheint der Briefwechsel bis 1810 zu ruhen (vgl. Fuhrmans, Briefe III, 229). Vgl. ferner die »Vorrede« zu den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft (Schelling 1805a, XII f. / SW VII, 135 f.) sowie die dort veröffentlichten Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (Schelling 1805b, 18, 69–71 / SW VII, 150 f., 186 f.) und Kritischen Fragmente (Schelling 1807b, 286 f. / SW VII, 247 f.). Siehe auch F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 158: Das erste Heft der Jahrbücher »wird eröfnet durch Aphorismen über Naturphilosophie, wo bey Gelegenheit der ersten Grundsätze auch Ihrer mehrmals Meldung geschehen muß«. Wie bei Schelling üblich geschieht dies jedoch manchmal ohne ausdrückliche Namensnennung; dass Eschenmayer gemeint ist, lässt sich meistens leicht aus dem Zusammenhang wie aus der Terminologie erschließen. 6 Schelling 1804, III / SW VI, 13.

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Das Programm der Nichtphilosophie

dern zur Philosophie überhaupt. 7 Nach Eschenmayers Ansicht ist der Mensch nämlich für die Beantwortung der wichtigsten Fragen, wozu er sowohl die Frage nach Gott und der menschlichen Freiheit als auch die nach der Sittlichkeit, der Unsterblichkeit der Seele und der Endabsicht der Geschichte rechnet, auf Glauben angewiesen, da die menschliche Vernunft aus eigener Kraft außerstande ist, diesbezüglich zur Klarheit zu gelangen. Eschenmayers Absicht sieht Schelling denn auch darin, gerade diese ›Gegenstände‹ der Jurisdiktion der Philosophie zu entziehen oder diesen längst geschehenen Entzug abermals zu bekräftigen. Dass es sich tatsächlich um eine grundsätzliche Alternative zur Philosophie überhaupt handelt, geht auch daraus hervor, dass, hätte Eschenmayer Recht und wäre es der Philosophie prinzipiell verwehrt, sich in diesen Fragen gegen die Ansprüche der Nichtphilosophie zu behaupten, das Philosophieren insgesamt ohne Wert wäre. Dasjenige, was der Philosophie nach dem Entzug dieser »Gegenstände[…]« übrig bliebe, hätte »für die Vernunft keinen Werth«. 8 Im Umkehrschluss heißt dies, dass es nur wegen diesen »einzig grossen Gegenständen« »werth ist, zu philosophiren und sich über das gemeine Wissen zu erheben«. 9 Ob es dem Philosophen gelingt, auf diese Herausforderung eine überzeugende Antwort zu geben, wird somit über den Wert des Philosophierens oder des theoretischen Lebens überhaupt entscheiden. Die Differenz betrifft demnach nicht lediglich theoretische Stellungnahmen, sondern den Wert der theoretischen Bemühungen selbst, die Frage nach den Folgen oder der Folgenlosigkeit der Philosophie für das Dasein des Philosophen. Für Eschenmayer lässt die Philosophie Schellings »nichts zu wünschen übrig«, auch und gerade dann, wenn sie die Tugend ausschließt und auf die Frage nach dem guten Leben keine Antwort zu geben vermag, und zwar weil für ihn nur der Glaube für solche Fragen zuständig ist und angesichts ihrer alle theoretischen Differenzen irrelevant sind. 10 Die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zur Nichtphilosophie als zu ihrem Anderen ist so wenig von nachgeordneter Noch 1805 spricht er vom »bis jetzt namhaftesten« Versuch, eine solche Gegenposition aufzustellen (Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150). 8 Schelling 1804, 2 / SW VI, 16; Herv. v. Verf. 9 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17; Schelling 1805b, 75 / SW VII, 189. 10 Vgl. Eschenmayer 1803, II (Vorbericht), 40 f. (§ 49), 90 (§ 86). Diese Stellen werden auch von Schelling selbst zitiert (vgl. Schelling 1804, 59 / SW VI, 54). Es ist gerade diesen Punkt, den er »etwas härter [hat] nehmen müssen« (F. W. J. Schelling an C. A. 7

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Bedeutung, dass sie vielmehr über den Wert der Philosophie überhaupt entscheidet. Ihre Beantwortung kann denn auch nicht warten, bis das System irgendwann zu einem Abschluss gelangt ist – umso mehr, als das System »in seiner empirischen Totalität« gar nicht abschließbar ist (SW VII, 421) –, sondern erhält eine ganz besondere Dringlichkeit. Hierin dürfte ein wichtiger Grund liegen, weshalb die Position Eschenmayers für Schelling eine derart ernstzunehmende Herausforderung darstellt, dass es ihm wichtiger ist, direkt auf dessen Bedenken zu antworten, als eine Schrift zu veröffentlichen, der nur »die letzte Vollendung« fehlte und durch welche er sich auf eine angemessenere Art über jene »Ideen« und »Verhältnisse« hätte erklären können. 11 Jene Alternative kommt bereits in dem befremdlichen und rätselhaften Titel von Eschenmayers Schrift klar zum Ausdruck, der sein Programm auf eine griffige und prägnante Formel bringt. 12 Diesem Titel zufolge soll die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie begleitet werden. Dazu muss zunächst das Bedürfnis oder die Notwendigkeit eines solchen Übergangs nachgewiesen werden. Dazu ist in der Philosophie selbst eine Aporie aufzudecken, die dazu nötigt, über sie hinauszugehen. Es steht denn auch zu vermuten, dass Eschenmayer auf ein Problem aufmerksam macht, dem der Philosoph sich nicht zu entziehen vermag und das er nach Eschenmayers Urteil mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch nicht zu lösen vermag. Wir können dies als den negativen Teil von Eschenmayers Unternehmen bezeichnen. Der positive Teil wird die konkrete Ausfüllung der Nichtphilosophie betreffen. 13 Die Erfüllung des negativen Teils verlangt allerdings, dass die Nichtphilosophie sich auf das Gebiet der Philosophie selbst begibt. Die Grenze oder das Gebiet, wo Philosophie und Nichtphilosophie sich berühren und wo sie auseinandergehen, betrifft insbesondere die Lehre von Gott und die Lehre von der Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72). Dasselbe Motiv ist auch in Jaspers’ Kritik an Schelling deutlich feststellbar. Vgl. dazu Habermas 1971, 95. 11 Schelling 1804, IV / SW VI, 13. 12 Vgl. auch die für Jaspers entscheidende Alternative zwischen ›Gnosis‹ und ›Existenzerhellung‹, wovon Habermas zu Recht fragt, ob dies wirklich »eine vollständige Alternative« darstellt (vgl. Jaspers 1955, 9, 130, 311; Habermas 1971, 97). 13 Im Vorbericht wird zunächst die Aufgabe formuliert, »die Gränzen des Erkennens« und damit der Spekulation zu bestimmen, wonach sich in der Folge zeigen wird, dass »das, was ich unter Nichtphilosophie verstehe, bestimmter ausgedrückt eine reine und von aller Spekulation befreyte Theologie wäre« (Eschenmayer 1803, I f.). Zum positiven Teil siehe das 5. Kapitel.

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Das Programm der Nichtphilosophie

Welt und, damit zusammenhängend, den Status der Erkenntnis. Für den Nachweis der Notwendigkeit jenes Überstiegs darf der Nichtphilosoph sich nicht auf den Glauben berufen, sondern dazu muss er Argumente anführen können, die auch den Philosophen überzeugen können müssen. Es soll ja gezeigt werden, wie jene Aporie nur durch den Glauben gelöst werden kann. Erst durch den Glauben bzw. die Nichtphilosophie »entsteht« »eine veränderte Ansicht« »in dem absoluten Standpunkt der Philosophie«, zu welcher diese aus eigener Kraft nicht gelangen kann. 14 Insofern als nur der »Gegenstand« der Nichtphilosophie »von der Beschaffenheit [ist], dass er sich von selbst der Spekulation entrückt« und dadurch »überhaupt die Gränzen des Erkennens bezeichnet«, 15 kann die Philosophie erst durch die Nichtphilosophie zur Einsicht in die Beschränktheit ihres Aufgabengebiets und damit auch zur Erkenntnis ihrer selbst gelangen. Da die Philosophen diese Grenze gar nicht erst wahrnehmen, halten sie den Bereich der Spekulation für »unbegränzt und unendlich«, das Absolute ihrer Spekulation für das höchste und vergessen darüber »das Selige«. 16 Die Erkenntnis dieser Grenze muss naturgemäß »selbst dem Philosophen äusserst erwünscht seyn«, da nur in ihr seine Selbsterkenntnis sich zu vollenden vermag. 17 Wie sich in der Folge noch deutlicher zeigen wird, weiß umgekehrt auch der Glaube sich seinerseits durch die Philosophie herausgefordert. Er sieht sich dazu genötigt, Auge in Auge mit dieser Alternative seine Rechte geltend zu machen und sich in der Auseinandersetzung mit ihr zu rechtfertigen. Wenn die Nichtphilosophie in der Folge auch bestimmter als Glaube oder als Theologie bezeichnet wird, so können wir aus dem bisher skizzierten Programm bereits schließen, dass es sich dabei nicht um einen Glauben handelt, der sich selbst genügte und sich durch die Philosophie nicht besonders herausgefordert fühlte. Eschenmayer unterscheidet denn auch die Nichtphilosophie, so wie er sie versteht, von einer »zufälligen« Nichtphilosophie, der es lediglich »am Entschlusse zu philosophiren« fehlt. 18 Die Gestalt, die eine solche Auseinandersetzung zwischen Nichtphilosophie und Philosophie anzunehmen hat, wird von Eschenmayer als ein »beständiges Beweisfodern der erstern und ein Eschenmayer 1803, 45 (§ 54); vgl. Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 30 f. (§ 39), 52 (§ 59). Vgl. Jaspers 1955, 194. 15 Eschenmayer 1803, I f. (Vorbericht). 16 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht), 34 (§ 43), 58 (§ 65). 17 Eschenmayer 1803, 44 (§ 53). 18 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht). 14

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

beständiges Beweisgeben der letztern« charakterisiert. 19 Das Scheitern der Beweisversuche gilt ihm als eine indirekte Bestätigung für die Notwendigkeit eines Übergangs zur Nichtphilosophie. Es handelt sich also darum, »die Spekulation in die Enge« zu treiben und sie so dazu zu zwingen, ihre Grenzen anzuerkennen und der Nichtphilosophie Platz einzuräumen. 20 Wie bequem eine solche Position zunächst auch aussehen mag, so sieht sie sich doch einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Darauf macht Schelling gleich in der Einleitung seiner Antwortschrift aufmerksam. Zum einen muss jene Position darauf verzichten, sich selbst zu beweisen, da sie sich dann in einen Widerspruch mit sich selbst verwickelte: Ließen die Behauptungen, wegen welchen man auf den Glauben verweist, sich beweisen, dann bedürfte es dazu keines Glaubens mehr. Die einzig konsequente Strategie, die sich daraus ergibt, ist ein negatives Verfahren, das zu zeigen versucht, dass »gewisse Fragen durch Philosophie [nicht] befriedigend zu beantworten« sind. 21 Positive Gründe lassen sich demnach, so scheint es, für die von Eschenmayer angepeilte Nichtphilosophie nicht anführen. Dies hebt Schelling besonders hervor: Was Eschenmayer »zur Begründung seines Glaubens Positives anführt, – kann allerdings nicht beweisend seyn, da der Glaube, könnte er bewiesen werden, aufhörte Glaube zu seyn«. 22 Ließe die Nichtphilosophie sich auf Beweisführungen ein, so wäre sie »verloren«. 23 Diese Strategie hat Eschenmayer denn auch in der Tat gewählt. Zum anderen kommt sie dennoch nicht umhin, immer wieder theoretische Annahmen zu machen. Um die Philosophen zum Eingeständnis des ungenügenden Charakters der Philosophie zu nötigen, sieht die Nichtphilosophie selbst sich dazu genötigt, sich auf eine bestimmte Vorstellung von Philosophie zu stützen, von ihrem Wesen, ihrer Aufgabe und den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, um bestimmte Fragen zu stellen und einer Lösung zuzuführen. Sie hat nur dann einige Aussicht Eschenmayer 1803, 44 (§ 52). Eschenmayer 1803, 44 (§ 52). Eschenmayers Fazit lautet: »Sobald aber jene [die Nichtphilosophie bzw. Theologie, R. S.] sich aufs Beweisgeben einlässt und der Spekulation das Beweisfodern zugesteht, so ist sie verloren« (ebd.; Herv. v. Verf.). Was Eschenmayer hier anvisiert, scheint demnach eine gewisse Ähnlichkeit mit einer negativen Theologie aufzuweisen. 21 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18. 22 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18; Herv. v. Verf. 23 Eschenmayer 1803, 44 (§ 52). 19 20

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auf Erfolg, wenn sie solcherart auf eine Übereinstimmung mit der Philosophie aufbauen kann. Dadurch bietet sie der Philosophie allerdings zugleich eine Angriffsfläche. Solche Annahmen sind nämlich, wie Eschenmayer es auch anerkennt und anerkennen muss, nicht mehr oder noch nicht Gegenstand des Glaubens, d. h. sie müssen auch für solche, die den Glauben nicht zugeben, einsichtig sein und sich auch ohne Rekurs auf den Glauben behaupten lassen. Damit hat Eschenmayer sie auch für eine kritische Überprüfung durch die Philosophie freigegeben. Eine solche wird Schelling denn auch unternehmen. Dazu wird er zum einen zeigen, dass er den von Eschenmayer vorausgesetzten Begriff von Philosophie nicht als triftig anzuerkennen vermag. Dadurch versucht Schelling zu zeigen, wie Eschenmayers Einwände ihr Ziel verfehlen, indem sie sich gegen eine Meinung richten, der er selbst nicht zustimmt. Zum anderen wird er zeigen, welchen prinzipiellen Schwierigkeiten ein solches Unterfangen ausgesetzt ist. Gelingt es dem Philosophen, die Unhaltbarkeit dieser Annahmen nachzuweisen bzw. zu zeigen, wie bestimmte Fragen, die für philosophisch unlösbar gehalten werden, doch »durch Philosophie befriedigend zu beantworten« sind, dann ist das Vorhaben Eschenmayers gescheitert oder es müsste ein neuer Angriff mit leistungsfähigeren Argumente gewagt werden. 24 Eschenmayer verwendet viel Mühe darauf, einen solchen Begriff von Philosophie zu entwickeln, der jenen Übergang als notwendig einsichtig zu machen vermag. Dazu sind die Paragraphen 1 bis 40 seiner Schrift gedacht. Die Plausibilität jenes Übergangs hängt denn auch weitgehend davon ab, ob man bereit ist, ihm hierin zuzustimmen. Jedenfalls rechnet Eschenmayer gerade in diesem Punkt mit der Zustimmung Schellings. 25 Die Aufgabe der Philosophie sieht EschenSchelling 1804, 5 / SW VI, 18. Eschenmayer 1803, 14 (§ 21): »Ich halte mich nun an dieses System [sc. dasjenige Schellings, R. S.]«. Und 104 (§ 99): »Dass der Glaube das Ende aller Spekulation sey, hat Schelling an mehrern Stellen in seinen Schriften geäussert«. Welche ›mehrern Stellen‹ Eschenmayer dabei im Sinne hat, bleibt sein Geheimnis. Meines Wissens findet sich nur eine einzige Stelle, wo Schelling dies dem Wortlaut nach behauptet, die sich aber ihrem Sinn nach nur schwerlich mit der Position Eschenmayers vereinigen ließe (vgl. Schelling 1802a, 218 / SW IV, 326). In einem Brief vom 24. Juli 1804 schreibt Eschenmayer schließlich, dass »in ihren bisherigen Schriften […] unzählige Äußerungen vor[kommen], welche eben das, was ich meyne, auf die klareste Weise enthalten und, wenn ich es sagen darf, über die bisher gegebene formelle Darstellungen ihrer Hauptideen hinaus gehen« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110). Solche ›unzähligen Äußerungen‹, wonach wir in

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

mayer darin, eine Begründung des Erkennens zu leisten. Das Erkennen ist einziger Gegenstand der Philosophie. 26 Was darüber hinausgeht, kann damit auch kein Gegenstand der Philosophie mehr sein. Ihr geht es darum, die unterschiedlichen Vermögen, die dazu beitragen, dass ein Erkennen zu Stande kommt, zunächst zu sondern, dann zu zeigen, wie sie durch ihr Zusammenspiel in einem Erkennen resultieren, und aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen dieser Erkenntnisanspruch berechtigt ist. 27 Die Philosophie ist danach Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie. Sie sucht in unseren Erkenntnistätigkeiten einen geordneten Zusammenhang, ein System aufzudecken. In der auffälligen Bestimmung des Gegenstands der Philosophie als einer besonderen Tätigkeit kann man ein Indiz für eine zugrundeliegende anthropologische oder psychologische Annahme sehen. Wenn diese auch in vorliegender Schrift nur selten angedeutet wird, so erhalten doch viele von Eschenmayers oft schwer durchschaubaren Behauptungen erst dann eine gewisse Konsistenz, wenn man sie sich aus einer solchen Annahme erklärt. 28 Nach dieser Annahme sind im menschlichen Geist mehrere Funktionen zu unterscheiden, die sich mittels unterschiedlicher Vermögen realisieren. So Gott sind und nicht Gott in uns, lassen sich nun in der Tat bei Schelling auffinden. Daraus folgt nach Eschenmayer unmittelbar, dass Gott »kein Gegenstand mehr der Erkenntniß und der Anschauung« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110), also nur des Glaubens ist. 26 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne, was Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Universum als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegenstände der Nichtphilosophie solche seyn welche weder für das Wollen noch Erkennen erreichbar sind«. Dazu ist anzumerken, dass Handeln und Wollen, insofern sie Gegenstand der Philosophie werden sollen, selbst bereits den Glauben voraussetzen. 27 Eschenmayer 1803, 1 (§ 2): »Unser Geistesvermögen ist im Ganzen genommen eine Masse, welche von einander zu sondern, wir in uns selbst zurückgehen und auf uns selbst reflektiren müssen. Der Antheil, welchen die Vernunft, der Verstand, Empfindung und Anschauung, die Sinne u. s. w. an dieser Masse haben, muss von einander gesondert und nachher wieder in den verschiedenen Beziehungen untereinander betrachtet werden«. 28 Nach Walter Wuttke tritt diese in späteren Schriften noch deutlicher hervor: Eschenmayer trennt »den Bereich des Glaubens strikt von dem der Philosophie, faßt beide jedoch unter einem anthropologischen Gesichtspunkt zusammen, da der Mensch Wissen und Glauben als psychologische Tatsachen erfährt« (Wuttke 1972, 262). Auch Schelling erwägt, ob Eschenmayer ihn nicht auf eine solche psychologisierende Weise verstanden hat (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23), setzt sich auch andernorts mit solchen psychologistischen Deutungen auseinander (vgl. Schelling 1803b, 69 / SW II, 60; Schelling 1802d, 44, 51, 56, 60 / SW V, 46 f., 51, 54, 57).

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Das Programm der Nichtphilosophie

erfährt der Mensch sich nicht nur als ein erkennendes, sondern auch als ein wollendes, fühlendes und glaubendes Wesen. Im Erkennen lassen sich seinerseits mehrere Funktionen unterscheiden, die nur durch ihr Zusammenspiel in einer Erkenntnis resultieren. Den systematischen Zusammenhang dieser Funktionen zu rekonstruieren ist Aufgabe der Philosophie. Die anderen Funktionen des Geistes (Wollen, Fühlen, Glauben …) lassen sich hingegen weder aus dem Erkennen ableiten noch auf es zurückführen. So lässt sich der Wille z. B., auch wenn Erkennen und Erkenntnisse in ihm eingehen, doch nicht in lauter erkenntnismäßige Elemente auflösen. Zum Wollen braucht es ein zusätzliches Element, das nicht mehr von der Art des Erkennens ist. Wenn einmal feststeht, dass die Aufgabe der Philosophie nur in der Auslotung unserer Erkenntnistätigkeit und -vermögen besteht, dann ist durch den Nachweis, dass das Wollen sich nicht auf einen bloßen Modus des Erkennens zurückführen lässt, ein Argument dafür gegeben, dass der Wille nicht Gegenstand der Philosophie sein kann. Außerdem lässt sich auch der Träger dieser Tätigkeit nicht in Erkennen auflösen. 29 Die Art, wie Eschenmayer von Potenzen, Funktionen und Vermögen redet, scheint stets ein Subjekt als deren Träger vorauszusetzen. Das Subjekt dieser Funktionen nennt Eschenmayer die Seele. Insofern diese deren Subjekt ist, kann sie nicht selbst wieder durch jene objektiviert werden. Seine Bestimmung der Aufgabe der Philosophie versucht Eschenmayer zudem durch ein historisches Argument abzustützen: Er bietet einen problemorientierten Überblick über die »Schicksale der Philosophie in der Geschichte der Menschheit«, wobei er sich besonders auf die neuere Philosophie (Kant, Fichte, Schelling) konzentriert. 30 Dieser Überblick soll plausibel machen, dass das Erkennen in der Tat einziger Gegenstand der Philosophie ist und dass alle wesentlichen Bemühungen und Fortschritte in der Geschichte der Philosophie im Problem des Erkennens ihren Grund haben. 31 Nach dieser Deutung Das Selige »erfüllt« »unser ganzes Wesen«, während das Erkennen nur einen Teil unseres Wesens erfüllt (Eschenmayer 1803, 15 (§ 21; Herv. v. Verf.); vgl. Eschenmayer 1803, 105 (§ 99)). Daher muss das Selige eine höhere Potenz sein, da es nämlich die Potenz des Erkennens in sich enthält, nicht aber vollständig davon ausgefüllt oder erfüllt wird. Diese Annahme bricht erneut in Eschenmayers Reaktion auf die Freiheitsschrift durch (vgl. Eschenmayer 1813, 47 f. / SW VIII, 149, und Schellings Reaktion: Schelling 1813b, 82–84 / SW VIII, 163 f.). 30 Eschenmayer 1803, 1 (§ 1); vgl. Eschenmayer 1803, 2–14 (§§ 5–20). 31 In diesem Bereich gibt es also eindeutig feststellbare Fortschritte. Auch wenn es 29

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gelingt es der Philosophie erst mit Kant, ihre eigensten Möglichkeiten zu entfalten, indem sie sich zu einem System gestaltet. Alles Vorhergehende wird als ein richtungsloses Herumtasten und Ausprobieren beiseitegelassen. 32 Dies dürfte ein Indiz dafür sein, dass dieser Abriss der Geschichte der Philosophie bereits durch einen Vorbegriff vom Wesen und von der Aufgabe der Philosophie geleitet wird, wofür man in der Geschichte nur Bestätigung sucht, während solche Erscheinungen, die sich nicht einordnen lassen und den vorausgesetzten Begriff in Frage stellen könnten, beiseitegelassen werden. 33 Der Hinweis auf die Philosophiegeschichte scheint hier jedenfalls vor allem dem Zweck zu dienen, Eschenmayers Begriff von Philosophie zu belegen. Gegen dieses historische Argument bringt Schelling ebenfalls eine historische Beobachtung vor. Eschenmayers Behauptung, wonach die Begründung des Erkennens die Hauptaufgabe der Philosophie ist, beruht auf einem Zirkel: Er behauptet, dass dies schon immer die Aufgabe der Philosophie gewesen ist, muss zugleich aber eingestehen, dass die antike Philosophie sich über diese Aufgabe nicht im Klaren war und erst mit Kant darüber Klarheit gewann. 34 Der Begriff von Philosophie, wonach Eschenmayer ihre Geschichte auslegt, hat allerdings selbst erst in einer bestimmten historischen Konstellation auftreten können, in welcher über die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion bereits entschieden war. Deshalb erinnert Schelling daran, dass »eine Zeit war«, wo jene Bestimmung des Verhältnisses noch keine Geltung hatte. 35 Wenn dieser Satzanfang zunächst den Eindruck erwecken dürfte, dass hier die im »Vorbericht« versprochenen »Töne alter Philosophie« angeschlagen werden, von welchen zu erwarten ist, dass man sie »übel vernehmen werde«, so verbirgt sich in ihm ein historisches Argument, das sich insbesondere gegen Kant richtet, wenigstens gegen die Wirkung, die seine Philoso-

von Eschenmayer so nicht ausgesprochen wird, so ist doch zu vermuten, dass der Entzug bestimmter Gegenstände (bes. Gott und die Tugend) von der Befugnis der Philosophie darauf abzielt, diesen einen überzeitlichen Wert zu sichern. Im Bereich der Moral bzw. des praktischen gibt es keinen Fortschritt. 32 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 10 f. (§ 16), 11 f. (§ 17). 33 Für einen solchen Umgang mit der Geschichte der Philosophie, siehe: Wieland 1995, 14 f. 34 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 4 (§ 7), 5–8 (§§ 9–11). 35 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16.

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Das Programm der Nichtphilosophie

phie gezeitigt hatte. 36 Jener Satzanfang erinnert nämlich an einen Satz in der »Vorrede« zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, wo es heißt: Es war eine Zeit, in welcher sie [die Metaphysik, R. S.] die Königin aller Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die That nimmt, so verdiente sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen […]. (KrV, AA 4, 7 f.; Herv. v. Verf.) 37

Diese historisch gemeinte Bemerkung dient dazu, den für Kant orientierenden Philosophiebegriff zu belegen, indem die Kritik der Aufgabe gewidmet ist, jenen Anspruch endlich einzulösen und die Metaphysik nicht nur selbst zu einer Wissenschaft zu gestalten, sondern sie wieder in ihr Recht als ›Königin aller Wissenschaften‹ einzusetzen. Der von Eschenmayer zugrundegelegte Begriff von Philosophie eignet sich jedenfalls nicht zu einem der ›älteren‹ und nach Schelling ›ächten‹ Philosophie angemessenen Verständnis. 38 Ebenso wenig wird er der damaligen Gestalt von Religion gerecht. Die historische Skizze des Verhältnisses von Philosophie und Religion soll dazu veranlassen, den Begriff von Philosophie, wie Eschenmayer ihn voraussetzt, kritisch zu hinterfragen. Daran hatte Schelling auch andernorts erinnert: Die Betrachtung der Philosophie von dem allgemeinen historischen Standpunct aus würde für Manche wenigstens den Nutzen haben, sie über die engen Formen ihres Philosophirens, in welchen sie die Grenzen des allgemeinen Geistes gesteckt zu haben glauben, ins Klare zu setzen. Anderen würde sie, bey dem Unvermögen, sich aus freyer Selbstthätigkeit zu Ideen zu erheben, wenigstens einen allgemeineren Maasstab der Beurtheilung angeben, als die auf den engen Kreis der gegenwärtigen Zeit eingeschränkte Kenntniß der Formen und Richtungen der Philosophie. 39 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Diese Resonanz ist auch Katia Hay aufgefallen (vgl. Hay 2011, 201). In der Einleitung von Philosophie und Religion wird Kant wenig später auch namentlich erwähnt (vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17). Auch die Bemerkung, wonach Eschenmayer »die Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will« (Schelling 1804, III f. / SW VI, 13; Herv. v. Verf.), spielt auf Kant an, und zwar auf die berühmte Stelle, wo Kant erklärt, dass er »das Wissen aufheben [musste], um zum Glauben Platz zu bekommen«, weil »der Dogmatism der Metaphysik […] die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens« ist (KrV, AA 3, 19). 38 Vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17. 39 Schelling 1802f, 20 f. / SW V, 120 f. 36 37

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Im ersten Teil der Einleitung hebt Schelling besonders auf das Verhältnis von Philosophie und Religion als bestimmend für die Bestimmung der Philosophie ab. Das Verhältnis, das die Philosophie sich selbst zu ihrem Anderen gibt, bestimmt mit darüber, was sie selbst ist. Der erste Teil der Einleitung ist also u. a. auch gegen Eschenmayers Abriss der Geschichte der Philosophie gerichtet. Von mehr Gewicht als die psychologische Annahme und das historische Argument ist indes der Begriff der intellektuellen Anschauung, in welchem Eschenmayer einen Grund zu finden meint, über die Philosophie hinauszugehen. Dieser verdient eine ausführlichere Erörterung, da dieser Begriff auch für Schelling von entscheidender Bedeutung ist. Zudem drückt Eschenmayer sich gerade hier in einer schellingianisierenden Sprache aus, was dazu verführen könnte, beide auch in der Sache als übereinstimmend zu betrachten. Ob eine solche Übereinstimmung auch tatsächlich gegeben ist, bedarf einer besonderen Überprüfung, wenn man sich in die Lage versetzen will, über die Triftigkeit von Eschenmayers Einwänden zu urteilen.

2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung Eschenmayer hebt mehrere Merkmale dessen, was er intellektuelle Anschauung nennt, hervor, ohne einen vollständigen Begriff derselben zu entwickeln. Er bestimmt sie zunächst als das »Vermögen, […] welchem die Ichheit selbst zum Objekt wird«. 40 Als Ichheit bezeichnet er die Identität von empirischem Bewusstsein und Selbstbewusstsein. 41 Empirisches Bewusstsein ist Anschauung mit Empfindung oder jedes Bewusstsein-von-etwas. Als solche hat es immer eine Richtung auf etwas außer sich. Eschenmayers Begriff der Ichheit beinhaltet die These, dass es kein Bewusstsein-von-etwas gibt ohne Selbstbewusstsein und umgekehrt. Auch im Selbstbewusstsein ist demnach immer ein intentionales Moment enthalten. 42 Die intellekEschenmayer 1803, 1 (§ 3). Vgl. Eschenmayer 1803, 9 (§ 12), 18 f. (§ 25). 42 Dies ist dadurch suggeriert, dass Eschenmayer das Begreifen vom Erkennen unterscheidet. Das Begreifen beinhaltet immer noch einen Bezug auf einen Gegenstand, der begriffen wird und allgemein zugänglich ist. Der Begriff hat nur deshalb nicht die allgemeine Verständlichkeit, weil es im Belieben des Individuums steht, wie er die ihm sich darbietenden sinnlichen Eindrücken ordnet (vgl. Eschenmayer 1803, 27 (§ 35)). Ferner bemerkt er, dass im Begriff das Erkannte nur »mittelbar und in einer 40 41

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Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

tuelle Anschauung bezeichnet danach das Vermögen des erkennenden Subjekts, sich diese Identität von empirischem Bewusstsein und Selbstbewusstsein in jedem Erkenntnisakt selbst wieder bewusst zu machen. Sie objektiviert somit die Erkenntnisoperationen, die in jedem Erkenntnisakt tätig sind. Sie ist zudem als eine Potenzierung der Ichheit zu denken. Potenzierung impliziert zweierlei: Zum einen deutet sie auf eine Erhebung auf eine höhere Stufe, die, zum anderen, durch die Anwendung des Potenzierten auf sich selbst zustande kommt. Während die Ichheit eine Richtung auf einen Gegenstand außerhalb des erkennenden Subjekts enthält, so wird in der intellektuellen Anschauung die Ichheit selbst zum Gegenstand des Erkennens. Deshalb kann Eschenmayer sagen, dass hier »das Begreiffen […] in ein bloses Erkennen über[geht]«, da die Richtung auf ein vom Bewusstsein verschiedenes Objekt, die im Begreifen noch erhalten blieb, im Erkennen verschwindet, da der Erkennende es nur noch mit seiner eigenen Erkenntnistätigkeit zu tun hat. 43 Er formuliert dies auch noch so, dass hier »das Erkannte […] zugleich und unmittelbar ein integrirender Theil des Erkennenden selbst ist«. 44 Das Erkannte ist ein wesentlicher Teil des Erkennenden, d. h. ein solches, das nicht weggenommen werden kann, ohne dass das Ganze, wovon es ein Teil ist (in casu das Erkennende), dadurch selbst aufgehoben würde. So möchte Eschenmayer die Identität von Erkennendem und Erkanntem hier verstanden haben. Diese Identität kann Eschenmayer deshalb als eine absolute bezeichnen, da das Erkennen hier losgelöst von aller Beziehung auf ein äußeres Objekt betrachtet wird. Allerdings ist damit die Subjekt-Objekt-Struktur nicht grundsätzlich aufgehoben. Sie bleibt vielmehr in Kraft, indem bloß die Objektstelle jener Struktur jetzt als durch das erkennende Subjekt selbst besetzt gedacht wird. Nach Eschenmayer ist es Aufgabe der Philosophie, das Erkennen zu begründen. Zwar operiert Eschenmayer mit dem Begriff einer intellektuellen Anschauung, die er als Identität des Erkennenden und des Erkannten bestimmt. Mit der Vollendung des Systems der Erkenntnis ist allerdings noch nicht erwiesen, dass die aus dem Ich abweit niedrigern Potenz« integrierender Teil des Erkennenden ist. (Eschenmayer 1803, 24 (§ 31)) Das Erkannte ist im Begriff Teil des Erkennenden, insofern es stets durch das Selbstbewusstsein vermittelt ist; es ist nur auf mittelbare Weise Teil desselben, weil in ihm immer auch die Beziehung auf einen Gegenstand enthalten ist, der ihm von außen, nämlich durch die Sinnlichkeit gegeben ist. 43 Eschenmayer 1803, 27 (§ 36). 44 Eschenmayer 1803, 24 (§ 31).

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leitbaren Erkenntnisstrukturen auch Realität haben und mit der Struktur der Welt übereinstimmen. Dazu bedürfte es eines Standpunktes außerhalb des Ich. Die Übereinstimmung der Strukturen der Erkenntnis mit den Strukturen der Welt kann, so Eschenmayer, nur durch Gott gewährleistet werden. Für uns kann sie nur Gegenstand eines Glaubens sein. Die Realität des Erkennens ist somit unerweislich. Dass dabei die Subjekt-Objekt-Struktur im Grunde gewahrt bleibt, geht am deutlichsten aus der Frage hervor, die Eschenmayer an diesem Punkt aufwirft: Zwar sind in der intellektuellen Anschauung Erkennendes und Erkanntes identisch, aber wie gelangen wir dazu, diese Identität nicht nur zu sein, sondern sie auch als eine solche zu erkennen? Um die intellektuelle Anschauung selbst zu erkennen und dadurch die Selbsterkenntnis des Menschen zu vollenden, bedarf es selbst noch eines weiteren Erkenntnisaktes. Erst im Briefwechsel, der sich an die Veröffentlichung von Philosophie und Religion anschließt, kommt Eschenmayer dazu, diese Frage in aller Klarheit zu formulieren. Die intellektuelle Anschauung ist, »eben weil es ein Schauen in das Absolute ist, selbst außer demselben«, sie ist »der auf die Gleichheit des Nachbildes (Philosophie) mit dem Urbilde (Vernunft) gerichtete Blik der Seele«. 45 Auch hier tritt wieder die Seele als Träger jener Tätigkeit oder jenes Vermögens hervor. Wichtiger ist, dass aus dieser Stelle hervorgeht, wie in der eschenmayerschen intellektuellen Anschauung die für alles Erkennen charakteristische Subjekt-Objekt-Struktur ganz erhalten bleibt. In den jeweiligen Potenzen wechselt demnach nur dasjenige, was die Subjekt- und Objekt-Stelle besetzt, während die Struktur selbst erhalten bleibt. Während bei Sinnlichkeit und Verstand beide Stellen durch verschiedene Entitäten besetzt werden, zeichnet sich die intellektuelle Anschauung nur dadurch aus, dass die erkennende Instanz hier sich selbst erkennt und dieselbe Entität somit beide Stellen besetzt. Aufgrund dieser Voraussetzung kommt Eschenmayer nun zu seiner Frage: [W]o ist alsdann das Auge noch, das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem Nachbilde – oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absoluten erkennt und anschaut? In der Vernunft, welche ganz Object ist, liegt dies Auge nicht, es muß also über sie Hinaus liegen, und dies ist der Grund, warum ich den letzten Anker der Philosophie über C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201; Herv. v. Verf.

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Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

dem Absoluten in der Seele oder dem Glauben zu suchen gezwungen war, und es als die Potenz des Seligen ausdrückte, weil sie wahrhaft über das Erkennen und Wollen hinausliegt und nur als Andacht oder Glaube sich offenbart. 46

Die intellektuelle Anschauung ist demnach das Vermögen, ein »getreues Nachbild von dem Wesen der Vernunft als dem Urbild« zu entwerfen. 47 Ob dieses ›Nachbild‹ nun auch tatsächlich dem ›Urbild‹ ähnlich und gleich ist, dies kann sie nicht mehr erkennen. Es ist dies bloß eine »Forderung«, der sie Folge leistet, ohne dessen gewiss sein zu können, ob sie dieser genügt. 48 Das Subjekt hat zwar das Vermögen, die einzelnen Vermögen, deren Träger es ist, zu objektivieren, nicht aber das Vermögen, sich selbst als Träger zu objektivieren. Als solches kann es nur durch eine andere Instanz als sich selbst objektiviert werden. Den Glauben bestimmt Eschenmayer als die Erfahrung des Subjekts davon, dass es Objekt dieser höheren Instanz ist. Deshalb spricht er auch von einer ›intellectuellen Empfindung‹, weil ›Anschauung‹ noch zu sehr etwas Objektives suggeriert. Diese Empfindung ist derjenige »Act der Seele, in welchem sie die Vernichtung aller Speculation in sich gleichsam empfindet«. 49 Die Seele ist Grund oder Träger aller Spekulation und kann deshalb nicht selbst wieder Objekt der Spekulation werden. 50 Ganz Objekt ist sie nur für Gott. C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109. C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109. 48 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 10. August 1805, Fuhrmans, Briefe III, 228. – Darin dürfte auch der Grund zu suchen sein, weshalb Eschenmayer behauptet, dass nach der »veränderte[n] Ansicht«, die »durch die Potenz des Seligen […] in das System der Philosophie eingeführt werde«, die intellektuelle Anschauung in Gewissen übergehe (Eschenmayer 1803, 15 (§ 21); vgl. Eschenmayer 1803, 2 (§ 3), 33 (§ 42), 35 (§ 44), 38 (§ 48)). Die theoretische Tätigkeit resultiert selbst aus dem Willen, einer Forderung Folge zu leisten, oder aus Gewissenhaftigkeit. 49 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f. 50 Vgl. auch die Bemerkung: »weil alle Speculation, als ein Theil der Seele, ihrer Totalität nicht gleich kommt« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110). Anders gesagt: die Spekulation, als nur ein Teil der Seele, kann niemals die Seele selbst, als Träger der Spekulation, in ihrer Totalität objektivieren, sondern höchstens gewisse Teile derselben. In der intellektuellen Anschauung ist nur der erkennende Teil der Seele (wozu Sinnlichkeit und Verstand gehören) in seiner Totalität objektiviert. Dies scheint auch der Hintergrund folgender Bemerkung zu sein: »Wäre die Vernunft das höchste, so müsste der Mensch ganz in Denken und Handeln bestehen. Der physische Zustand des Philosophen müsste dem höchsten Akt seiner Reflexion gleich werden, er würde sich in das auflösen, was er dächte und handelte, und zuletzt selbst in die absolute Identität übergehen. So aber ist die Ver46 47

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Diese Objektivierung ihrer selbst durch eine höhere Instanz kann die Seele selbst allerdings nur fühlen, ohne das Gefühlte in der Spekulation artikulieren zu können. In der intellektuellen Anschauung, so wie Eschenmayer sie versteht, ist somit die grundsätzliche Differenz von Subjekt und Objekt nicht aufgehoben. Sie impliziert zugleich, dass die Philosophie sich selbst als Erkenntnis nicht zu rechtfertigen vermag. Sie beruht in letzter Instanz selbst auf einem Glauben. Die Identität, auf welcher sie aufbaut, ist ihr eine bloße Voraussetzung, von welcher sie selbst keine Rechenschaft mehr abzulegen vermag. 51 Gerade diese Folgerung ist für Schelling ein klares Indiz dafür, dass die von Eschenmayer gemeinte Anschauung nicht im eigentlichen Sinne eine intellektuelle genannt werden kann. Schelling richtet seine kritischen Nachfragen deshalb genau gegen den eschenmayerschen Begriff der intellektuellen Anschauung. Da dieser der intellektuellen Anschauung selbst eine zentrale Rolle in seinem eigenen System zuweist, haben wir es hier nicht mit denjenigen zu tun, »welche nichts von einer solchen wissen, und zu wissen vorgeben«, die, Schelling zufolge, weniger »Rücksicht« verdienen, sondern mit jemandem, der sich »rühm[t], sie zu besitzen« und von dem demnach zu untersuchen ist, ob er wirklich die »wahren Idee von ihr« hat oder nicht. 52 Schelling hält sich an die Merkmale und Behauptungen, die Eschenmayer mit der intellektuellen Anschauung verbindet, und untersucht sie auf ihre Voraussetzungen und Implikationen hin. Als wesentliches Merkmal derselben hatte Eschenmayer, wie gesehen, die Identität von Erkanntem und Erkennendem herausgestellt. Oder, in seiner eigenen Formulierung: »das Erkennen […] erlöscht erst im Absoluten, wo es mit dem Erkannten identisch wird«. 53 Da auch bei Schelling mehrfach von einer Identität von Erkennendem und Erkanntem, Idealem und Realem, Subjektivem und Objektivem die Rede ist, erweist es sich als besonders dringlich, zu prüfen, ob beide unter diesem Ausdruck dasselbe verstehen. Ein Indiz dafür, dass Eschenmayer danunft selbst nur ein Modus existendi der Seele, welche ihren Bestand im Glauben hat« (Eschenmayer 1803, 105 (§ 99)). Auf dieser Annahme scheinen auch die Bedenken zu beruhen, die Eschenmayer 1810 gegen Schellings Freiheitsschrift formuliert (vgl. Eschenmayer 1813, 46 f. / SW VIII, 148 f.). 51 Dies ist auch nach Hegel die »Hauptschwierigkeit bei der Schellingschen Philosophie« (GeschPh III, TWA 20, 436; vgl. GeschPh III, TWA 20, 435, 439 f., 445 f., 454). 52 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. 53 Eschenmayer 1803, 25 (§ 33); von Schelling 1804, 5 / SW VI, 18 zitiert.

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Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

mit einen anderen Begriff verbindet, sieht Schelling in der Folgerung, die Eschenmayer daraus ziehen zu können meint. Eben weil in der intellektuellen Anschauung Erkanntes und Erkennendes identisch sind, kann dasjenige, »[w]as über diesen Punkt hinausliegt […] kein Erkennen mehr seyn«. 54 Eschenmayers These lautet somit, dass etwas über das Erkennen hinausgehen muss, wenn dieses selbst begründet sein soll. Insofern das über das Erkennen Hinausgehende von einer höheren Ordnung als das Erkennen ist, kann man es auch als die Potenzierung des Erkennens bezeichnen. Diese These ist der Nerv von Eschenmayers Argumentation. Schelling beginnt damit, daran zu erinnern, dass der Begriff einer intellektuellen Anschauung es verbietet, sich eine intellektuelle Tätigkeit zu denken, die noch darüber hinausginge. Er bewahrt es für später auf, zu untersuchen, ob Eschenmayer einen richtigen, jedenfalls einen mit seinem, Schellings, übereinstimmenden Begriff der intellektuellen Anschauung zugrunde legt, sondern hält sich zunächst bloß an die einzelne Bestimmung, auf welche Eschenmayer seinen Schluss stützt, dass nämlich in der intellektuellen Anschauung das Erkennen im Absoluten erlischt oder dass in ihr Erkennendes und Erkanntes identisch sind. Dabei versucht er zu zeigen, wie die Folgen, die Eschenmayer mit dieser Annahme verbindet und deren er bedarf, um von der Philosophie zur Nichtphilosophie überzugehen, in sich widersprüchlich sind. Dadurch soll die grundlegende, oben angedeutete Schwierigkeit seines Unterfangens durch ein Beispiel erläutert werden. Zugleich soll es hier als exemplarisch angeführt werden. Dem Leser bleibt es überlassen, weitere Fälle solcher Widersprüche bei Eschenmayer aufzuspüren. Übrigens wird Schelling selbst im Hauptteil der Schrift immer wieder auf solche Fälle hinweisen. Eschenmayer hatte also behauptet, dass in der intellektuellen Anschauung »das Erkennen […] erlöscht«. 55 Daraus hatte er geschlossen, dass dasjenige, was über diese Anschauung hinausgeht »kein Erkennen mehr seyn« kann und deshalb nur als ein Ahnen bezeichnet werden kann, als ein Bewusstsein der prinzipiellen Grenze alles menschlichen Wissens. Fraglich bleibt, wodurch die Annahme, dass es etwas darüber hinaus geben muss, berechtigt ist. Nach Schelling ist diese Annahme mit der Bestimmung der intellektuellen Anschauung als ein ›Erlöschen‹ des Erkennens in Widerspruch. Wenn die intellek54 55

Eschenmayer 1803, 25 (§ 33). Eschenmayer 1803, 25 (§ 33).

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

tuelle Anschauung eine absolute Erkenntnisart ist, dann kann nichts darüber hinaus liegen, weil sie »durch ihre Natur« und nicht nur im Verhältnis zu anderen Erkenntnisarten absolut und deshalb die höchste ist, während jene stets eine Differenz voraussetzen. 56 Schellings Argument lautet denn auch: »[J]edes ideale Verhältniss zu ihm« oder jedes Verhältnis zum Absoluten, das von der Art des Erkennens ist, »das über diesen Punct hinausliegt«, das also über die intellektuelle Anschauung hinausginge, ist »nur durch eine Wiederauferweckung der Differenz möglich«. 57 Wenn es Schelling gelingt, diese Behauptung zu untermauern, hat er Recht, dass Eschenmayers Bestimmung widersprechend ist. Dazu unterscheidet er drei mögliche Fälle. Diese laufen letztlich alle auf eine solche Differenz hinaus. Im ersten Fall wäre das von Eschenmayer gemeinte Erkennen, das im Absoluten ›erlischt‹, wirklich ein absolutes Erkennen, also ein solches, das wir als ein Selbsterkennen des Absoluten erkennen. Schelling erwägt hier die Möglichkeit, dass Eschenmayer mit dem, was er intellektuelle Anschauung nennt, den Sinn getroffen hat, den Schelling mit diesem Begriff verbindet. In diesem Fall ist es jedoch ausgeschlossen, dass eine »höhere Potenz als Glaube oder Ahndung etwas Vollkommeneres und Besseres bringen« würde, »als in jenem Erkennen schon enthalten war«. 58 Der adäquate Begriff der intellektuelle Anschauung schließt eo ipso die Möglichkeit einer noch höheren Erkenntnisart aus. Was ihm also entgegengesetzt wird, kann somit keinesfalls eine höhere Potenz sein. In der Tat hatte Eschenmayer zunächst Erkennen und Glauben voneinander unterschieden, dann zudem behauptet, dass der Glaube nur als eine höhere Potenz des Erkennens gedacht werden kann. Es erhebt sich damit die Frage, wie Eschenmayer, angenommen, er wäre mit Schelling über den Begriff der intellektuellen Anschauung einig, dennoch dazu kommen könnte, eine noch höhere Erkenntnisart anzunehmen und wie er dazu kommen kann, diese als Glaube oder Ahnung zu bezeichnen. Nach Schelling ist dasjenige, was für eine höhere Potenz des absoluten Erkennens ausgegeben wird, nur »eine besondere Ansicht jenes allgemeinen Verhältnisses zum Absoluten, das im Erkennen durch Vernunft am vollkommensten ist«. 59 Die angeblich höhere Erkenntnisart 56 57 58 59

Schelling 1802b, 2 / SW IV, 339. Schelling 1804, 5 / SW VI, 18 f. Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. Schelling 1804, 6 / SW VI, 19. Für eine solche besondere Ansicht oder für einen

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Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

wäre selbst nur ein besonderer Fall der eigentlichen intellektuellen Anschauung. Dieser Fall scheint bei Eschenmayer dadurch nahegelegt, dass er die intellektuelle Anschauung als eine Objektivierung der Ichheit bezeichnet. Für dieselbe hatte Schelling aber herausgestellt, dass in ihr noch eine Differenz von empirischem und reinem Bewusstsein ist. Die Folgerungen, die Eschenmayer aus seinem Begriff der intellektuellen Anschauung zieht, zeigen an, dass er mit diesem Ausdruck einen anderen Begriff verbindet als Schelling. Die intellektuelle Anschauung, wie man sie Schelling zufolge denken muss, erlaubt diese Folgerungen nicht. Wenn Eschenmayer demnach meint, dass seine eigene Position mit derjenigen Schellings verträglich ist, dann ist dies nur dadurch möglich, dass er Schelling einen anderen Begriff der intellektuellen Anschauung unterschiebt. Wenn Schelling dem eine ausführliche Erörterung widmet, dann steht dabei mehr auf dem Spiel als bloß die Frage, ob Eschenmayer ihn recht verstanden hat oder nicht. Das Vorgehen hat nach Schelling nämlich exemplarische Bedeutung. In der Deutung der intellektuellen Anschauung, an welcher Eschenmayer sich orientiert, sieht Schelling das einzig mögliche Argument, das gegen seine eigene Position vorzubringen wäre. Nur indem man diese Anschauung wieder in einem ganz subjektiven Sinn nimmt, kann man sie behaupten und zugleich behaupten, dass noch über sie hinausgegangen werden muss. 60 Man könnte diesen solchen besonderen Fall hält Schelling auch Fichtes intellektuelle Anschauung: Der besondere Fall der Einheit von Erkennendem und Erkanntem ist mit einer Differenz zwischen empirischem und reinem Bewusstsein gesetzt; »in intellectueller Anschauung […] verschwindet die Form [der Ichheit, R. S.], als besondre Form« (Schelling 1802b, 23 / SW IV, 355). Hier gibt es nur eine relative Identität von Erkennendem und Erkanntem (vgl. Schelling 1802b, 29 / SW IV, 359). 60 Vgl. Schelling 1803a, 149 / SW V, 278. Dieses Verfahren lässt sich beispielhaft am Vorgehen Jaspers’ zeigen. Was bei ihm die Gestalt einer abweisenden Kritik annimmt, enthält zugleich die Andeutung derjenigen Korrektur, die am schellingschen Denken vorzunehmen wäre, um sie mit Jaspers’ Position verträglich zu machen. Auch Jaspers baut seine Kritik auf eine Deutung der intellektuellen Anschauung auf. Auch er schiebt Schelling einen Begriff unter, den dieser nicht mit diesem Ausdruck verbunden hat. Der Hauptpunkt von Jaspers’ Kritik ist darin zu sehen, dass Schelling Gott vergegenständlicht. Die Annahme ist, dass auch die intellektuelle Anschauung ein vergegenständlichendes Denken ist und dass auch in ihr die für alles Denken charakteristische Subjekt-Objekt-Spaltung nicht überschritten wird. Diese Struktur wäre von Schelling, in dem Gebrauch, den er von der intellektuellen Anschauung machen will, verschleiert worden. Deshalb ist es in kritischer Absicht nötig, daran zu erinnern, dass auch in der intellektuellen Anschauung diese Spaltung bestehen bleibt. Damit ist angenommen, dass in dieser Anschauung der Anschauende sich auf das Absolute

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Einwand auch den fichteschen Einwand nennen, da Schelling ihn mehrmals in Zusammenhang mit Fichtes Position behandelt hat. 61 Da die intellektuelle Anschauung ›durch ihre Natur‹ die höchste Erkenntnisart ist, so kann das, was ihr auch immer entgegengesetzt wird und angeblich über sie hinausgeht, nur eine Erkenntnisart niederer Ordnung sein, die eben deshalb eine Differenz enthält und die Subjekt-Objekt-Spaltung nicht überschreitet. Als zweiten Fall betrachtet Schelling die Möglichkeit, dass im absoluten Erkennen nicht alle Differenzen aufgehoben wären und die intellektuelle Anschauung, wie Eschenmayer sie versteht, sich weiterhin innerhalb der Subjekt-Objekt-Struktur bewegt. Während im ersten Fall ein Gegensatz zwischen der intellektuellen Anschauung und einem besonderen Fall von ihr angenommen wird, da wird sie hier mit diesem besonderen Fall identifiziert. Dass auch nach Eschen(oder Gott) als auf einen Gegenstand bezieht. Unterschlagen wird dabei, dass das Kennzeichnende dieser Anschauung eben darin besteht, dass sie sich auf das Angeschaute nicht als auf einen Gegenstand bezieht, sondern das Absolute als die Materie oder den Stoff des Denkens entdeckt. Dies hatte Jaspers übrigens selbst hervorgehoben, scheint es allerdings dort wieder zu vergessen, wo er zur Kritik übergeht. Wenn das Denken in der intellektuellen Anschauung sich auf das Absolute nicht als auf einen Gegenstand, sondern als auf seine eigene Materie bezieht, dann verfehlt der Einwand, wonach in diesem Denken Gott objektiviert oder vergegenständlicht wird, allerdings sein Ziel. Es dürfte kaum zufällig sein, dass Jaspers Schelling wiederholt vorwirft, die wesentliche Einsicht Kants ›preisgegeben‹ zu haben (Jaspers 1955, 78, 129 f., 176 f., 192, 194, 197–210, 313–323). Jürgen Habermas hat somit wohl Recht, wenn er bemerkt, »wie sehr Jaspers’ Existentialismus ein Neukantianismus ist« (Habermas 1971, 105). 61 Schelling 1802b, 21–29 / SW IV, 353–359. Dass Jaspers gerade diesen Einwand gegen Schelling geltend zu machen sucht, geht mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit aus folgender Stelle hervor: »In der Situation unseres Denkens ist die Subjekt-Objekt-Spaltung, d. h. daß wir, was immer wir denken, im meinenden Gerichtetsein auf das Gedachte erfassen, unüberwindlich. […] [W]as immer wir erfahren, was wir umgreifend sind als Dasein, als Geist, als mögliche Existenz, und was wir als diese ergreifen, was wir sind als Vernunft und als solche ins Offene wenden, alles muß im Medium des ›Bewußtseins überhaupt‹ eine Weise der Gegenständlichkeit gewinnen, um mittelbar zu werden […]. Schelling steht in der Reihe derer, die den Grundtatbestand unseres Denkens nicht zu wollen scheinen: daß alles Gedachte in der SubjektObjekt-Spaltung ein gegenständliches bleibt, daß alle Kategorien zum Bewußtsein überhaupt gehören«. Auch hier scheint Jaspers eine frühere Behauptung vergessen zu haben, wonach »der Versuch, die intellektuelle Anschauung aus dem Bewußtsein und aus Bewußtseinserscheinungen zu widerlegen oder zu beweisen, fehlschlagen [muß]«, da er in der oben zitierten Stelle eben dies versucht: die intellektuelle Anschauung dadurch zu widerlegen, daß an den »Grundtatbestand« alles Bewußtseins, nämlich die Subjekt-Objekt-Spaltung, erinnert wird (Jaspers 1955, 205, 80).

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

mayers Selbstverständnis die intellektuelle Anschauung die SubjektObjekt-Spaltung nicht wirklich überschreitet, wurde bereits aus Eschenmayers oben angeführter Frage klar, wo »alsdann das Auge noch [ist], das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem Nachbilde – oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absoluten erkennt und anschaut?« Sie enthält den eigentlichen Grund, weshalb er in seiner Bestimmung der intellektuellen Anschauung ein Argument für den Übergang zum Glauben sehen konnte.

3. Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott Die bisherige Erörterung hatte vor allem eine vorbereitende Absicht. Deshalb handelt Schelling sie auch in der Einleitung ab. Die intellektuelle Anschauung, wie Schelling selbst sie verstanden wissen will, wird erst im ersten Abschnitt erörtert. Der Grund, weshalb Eschenmayer auf den Glauben verweist, ist im Gegenstand des Glaubens zu suchen. Dieser ist Gott. Dieser soll als »unerkennbar und über unser ganzes Vernunftsystem unendlich erhaben« behauptet werden: »Gott ist für die Vernunft ganz unerreichbar, und doch ganz offenbar im Glauben«; »Gott ist über alle Spekulation unendlich erhaben und jenseits des Absoluten«. 62 Es ist durchaus folgerichtig, wenn Eschenmayer ein solches Verhältnis zu Gott als Glaube oder Ahnung bezeichnet, wenn man darunter eine Beziehung versteht zu etwas, das sich zwar bekundet, ohne durch Begriffe ganz erfasst werden zu können. 63 Das Was des Sich-Bekundenden bleibt unserem Zugriff entzogen. Wenn Eschenmayer in der Folge auch von weiteren Gegenständen, wie der Freiheit des Willens, der Tugend, der Unsterblichkeit, behauptet, dass sie »der Spekulation entrückt« sind, dann kann er dies nur insofern, als sie mit Gott zusammenhängen. 64 Nur insofern Gott als unerkennbar behauptet wird, kann die Befugnis der Philosophie auch im Bereich des Praktischen bestritten werden. Es ist denn auch durchaus folgerichtig, wenn Eschenmayer bemerkt, dass die NichtEschenmayer 1803, 32 (§ 40), 33 (§ 41), 52 f. (§ 43); vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33). 63 Vgl. auch die Äußerung über die »intellectuelle Empfindung« als »Act der Seele, in welchem sie die Vernichtung aller Speculation in sich gleichsam empfindet« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f.). 64 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht). 62

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philosophie bei näherer Betrachtung als eine Theologie bezeichnet werden muss. Dann ist die Unterscheidung von Absolutem und Gott, die Bestimmung Gottes als ein »jenseits des Absoluten« der Nerv der Position Eschenmayers. 65 Nur aus dieser Unterscheidung erhält sie ihre Konsistenz, auf diese zielt alles hin, nur insofern man sie mit jener in Verbindung bringt, lässt sich der Sinn seiner Behauptungen überhaupt erschließen. Es zeugt denn auch durchaus von einem klaren Wissen dessen, was er will und was er tut, wenn Eschenmayer in einem späteren Brief bemerkt, dass die Behauptung, Gott sei über alles Erkennen »unendlich erhaben« »die wahre Absicht meiner letzten Schrift« enthält, »welche mit ihr steht und fällt«. 66 Bereits in der Schrift über die Nichtphilosophie hatte Eschenmayer hervorgehoben, dass diese »verloren« ist, wenn sie sich durch die Philosophie zu Beweisen auffordern lässt und dass »die geringste Spekulation« die »Reinheit« des Glaubens »verderbt«. 67 Dies hat Schelling klar gesehen und erkannt, dass es nicht nur Eschenmayers Absicht gemäß, sondern für dieselbe geradezu unabdingbar ist, diese Unterscheidung einzuführen und zu behaupten. Damit ist die Behauptung der Unerkennbarkeit Gottes von einem Begriff des Absoluten abhängig gemacht. In letzterem sieht Eschenmayer das Mittel, eine der Spekulation entrückte Nichtphilosophie abzustützen. 68 Insofern dieser Begriff noch zum Gebiet der Philosophie gehört, muss er auch einer philosophischen Rechtfertigung fähig Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 31 (§ 39), 53 (§ 43), 53 (§ 44), 56 (§ 46), 41 (§ 50), 58 (§ 65); vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33), 32 (§ 40). Auch Jaspers’ Kritik stützt sich auf diese Unterscheidung, die er als die Unterscheidung zwischen der Transzendenz und deren ›Chiffern‹ bestimmt. Er ordnet Schelling gerade deshalb der Gnosis, d. h. einem »gegenständliche[n] Erkennen des Übersinnlichen« zu, weil dieser die ›Chiffern‹ der Transzendenz für die Transzendenz selbst hält (Jaspers 1955, 130). Schelling habe es versäumt, die »Objektivitäten, die selber Gott zu sein beanspruchen, zu Chiffern« herabzusetzen, und habe dadurch »[d]ie Transzendenz […] verschleiert« (Jaspers 1955, 216, 210). Er habe »den Gottesgedanken eigentlicher Transzendenz zum Verschwinden« gebracht, da »Gott absolut verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit entzieht« (Jaspers 1955, 218, 184). 66 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110. 67 Eschenmayer 1803, 44 (§ 52), 41 (§ 50); Herv. v. Verf. 68 Darin scheint Eschenmayer in der Tat mit Jacobi einig, insofern dieser »die Bedingungen, an welche die begriffliche Erkenntnis gebunden ist, […] absichtlich so reformuliert« hat, dass »der Gottesgedanke solchem Denken nicht mehr zugänglich ist«. Damit wird die »Annahme der Unerreichbarkeit des Gottesgedankens für das Denken […] zum Kriterium der Richtigkeit […] des Gottesbegriffs« (Kauttlis 1994, 2). Obwohl Eschenmayer behauptete, Jacobi zur Zeit der Abfassung seiner Schrift noch 65

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

sein und ist damit einer philosophischen Überprüfung ausgesetzt. Während der Begriff Gottes ›der Spekulation entrückt‹ ist und dementsprechend nicht im strengen Sinne bewiesen werden kann, so gilt dies nicht vom Begriff des Absoluten. Hier ist auch der Nichtphilosoph zu Beweisen bzw. Argumente verpflichtet, die ohne Rekurs auf den Glauben überzeugen können müssen. Es entspricht denn auch durchaus Eschenmayers Absicht, wenn Schelling im ersten Abschnitt die Unterscheidung von Gott und Absolutem oder die Idee des Absoluten ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt. Schelling fängt mit zwei Hinweisen an. Erstens kann es »über dem Absoluten nichts höheres geben«, da »diese Idee nicht zufälliger Weise, sondern ihrer Natur nach jede Begränzung ausschliesse«. 69 Die Behauptung, dass es etwas Höheres als das Absolute gibt, lässt sich nicht aufrechterhalten, ohne auch die Implikation zu unterschreiben, dass es durch jenes begrenzt oder eingeschränkt wird. Die Implikation jener Behauptung erweist sich aber als mit dem, was analytisch in der Idee eines Absoluten enthalten ist, in Widerspruch. Deshalb bemerkt Schelling, dass er sich nicht vorstellen kann, was Eschenmayer unter einem Absoluten, das doch nicht Gott wäre, versteht, da man einen Widerspruch nicht denken kann. 70 Zweitens bemerkt Schelling, dass Eschenmayer nicht vermeiden kann, auch Gott das Merkmal der Absolutheit zuzusprechen. Damit gäbe es zwei Entitäten, von welchen dieses Merkmal zu prädizieren wäre. Dies ist nur insofern möglich, als man die Absolutheit als einen Gattungsbegriff versteht, der eine Klasse von Dingen bezeichnet. Wenn sich auch zeigen würde, dass in diese Klasse nur ein einziges Ding fällt, dann käme diesem Ding die Einzigkeit doch nur zufälligerweise zu. Der Begriff selbst schlösse nicht aus, dass es mehrere Dinge gäbe, denen die Absolutheit zugesprochen werden könnte. 71 Angenommen, dass es zwei Absolute gibt, stellt sich demnach die Frage nach der differentia specifica beider. Die Bestimmung der Absolutheit gestattet aber überhaupt keine Verwendung als Gattungsbegriff. 72 Das Argument läuft demnach in zwei Richtungen: Zum einen wird gefragt, wie die Gleichsetzung des Absoluten mit Gott zu verhindern wäre, zum anderen wird gezeigt, nicht gelesen zu haben, hat man ihm bei deren Erscheinung die Absicht einer Versöhnung zwischen Schelling und Jacobi zugeschrieben (vgl. Jantzen 1994, 82). 69 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; Herv. v. Verf. 70 Schelling 1804, 54 / SW VI, 51. 71 Vgl. Schelling 1802b, 43, 54 / SW IV, 367, 375. 72 Vgl. Schelling 1804, 8 / SW VI, 21.

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wie sich nicht verhindern lässt, die Absolutheit von Gott zu prädizieren. Beide Argumente zielen darauf ab, einen Widerspruch aufzudecken zwischen dem, was eine Begriffsanalyse der Idee des Absoluten ergibt, und den Implikationen, die Eschenmayer dennoch damit verbinden will. Daraus geht nach Schelling klar hervor, »dass Eschenmayer bey dem Absoluten etwas ganz anderes denkt als ich dabey denke«. 73 Bereits diese Begriffsanalyse bringt Widersprüche ans Licht, die in Eschenmayers Unterscheidung impliziert sind. Diese Widersprüche sind offensichtlich, 74 da sie sich aus einer bloßen Analyse von Eschenmayers Behauptungen und deren Implikationen ergeben. Nun begnügt Schelling sich nicht damit, diese Widersprüche aufzudecken. Wenn diese derart ›offenbar‹ sind, dann fragt sich, weshalb Eschenmayer sie dennoch hat übersehen können. Er hat sie wohl deshalb nicht bemerkt, weil er einer »Täuschung« unterlegen ist. 75 Diese Täuschung hat zunächst einen subjektiven Grund, der in Eschenmayers »Absicht« besteht, »ausser der Philosophie einen leeren Raum zu erhalten, welchen die Seele durch Glauben und Andacht ausfüllen könnte«, oder die Subjektivität zu retten. 76 Dieser Absicht kommt die eschenmayersche These auch entgegen. Trotz ihrer offensichtlichen Falschheit scheint jene Unterscheidung auf den ersten Blick nämlich nicht ganz unplausibel. Dies deutet darauf hin, dass jene Täuschung auch einen ›objektiven‹, in der Sache selbst wurzelnden Grund hat: Die Idee des Absoluten ist gleichursprünglich mit einem natürlichen Schein, der zur genannten Täuschung verführt und darauf aufbauenden Behauptungen eine gewisse Plausibilität verleiht. Schelling 1804, 54 / SW VI, 51. Vgl. »Nun ist zwar an sich offenbar« (Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; Herv. v. Verf.). 75 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21. 76 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; vgl. Schelling 1802c, IX, XIV / SW V, 7, 11. An anderer Stelle sieht Schelling im »Eschenmayersche[n] Glaube[n] nur ein[en] Versuch, die Subjektivität zu retten« (SW VI, 153). Diese Formulierungen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit einigen Sätzen aus Hegels Abhandlung über Glauben und Wissen auf, wo ebenfalls von einem »unendliche[n] leere[n] Raum des Wissens« die Rede ist, der »nur mit der Subjectivität des Sehnens und Ahndens erfüllt werden kann« (GuW, TWA 2, 289; vgl. GuW, TWA 2, 376, 382). Besonders diese Abhandlung hat Schelling mehrmals zustimmend zitiert (vgl. Schelling 1806a, 25 / SW VII, 36; Schelling 1812, 54, 60 / SW VIII, 49, 52). Bereits der Titel der Schrift über Philosophie und Religion entspricht wenigstens formal dem Titel der hegelschen Abhandlung. 73 74

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Deshalb kann Schelling auch sagen, dass man dem »Irrthum«, wozu diese Täuschung verführt, »fast nothwendig« unterliegt, was bei einer bloß subjektiven Täuschung nicht der Fall wäre. 77 Die Sache selbst ist demnach von der Art, dass sie von Natur aus zu einer solchen Täuschung verführt, der man, wenn man nicht äußerste Vorsicht übt, ›fast nothwendig‹ erliegt. Damit ist dreierlei gesagt: Erstens resultiert die Unterscheidung von Absolutem und Gott aus einer Täuschung, der man dann erliegt, wenn man nicht genügend beachtet, wie man zur Idee des Absoluten gelangt. Zweitens muss es möglich sein, diese Täuschung als eine solche zu durchschauen und ihr somit nicht zu verfallen. Schließlich muss man davon Rechenschaft geben können, weshalb man ihr dennoch so leicht verfällt, dass man jene offenbar widersprüchlichen Behauptungen nicht bemerkt. Es stellt sich daher die Frage, was »es also seyn [mag], das der Idee des Absoluten in derjenigen Vorstellung anhängt, welche es zwar als absolut, aber doch nicht zugleich als Gott anerkennt?« 78 Allerdings dürfte man bereits der Rede von einem Absoluten und von einer besonderen Erkenntnisart eine gewisse Skepsis entgegenbringen. Vor allem der Gedanke, in der Philosophie oder im Wissen ein Absolutes zu suchen, dürfte befremden. Indessen wäre zu fragen, ob diese Skepsis, falls sie sich gegen die Idee des Absoluten überhaupt und als solche richtet, nicht verfehlt wäre. Wenn Schelling bemerkt, dass die Philosophie »von dem Unbedingten auszugehen habe«, 79 dann knüpft er damit lediglich an die kantische Behauptung an, dass die Metaphysik einer Naturanlage des Menschen entspringt und dass sie sich mit Fragen beschäftigt, die die »menschliche Vernunft […] nicht abweisen kann« (KrV, AA 4, 7; Herv. v. Verf.). Dem entspricht auch, dass Schelling zu jenem Satz lediglich durch eine Begriffsanalyse der konstitutiven Aufgabe der Philosophie gelangt. Falls es Aufgabe der Philosophie ist, die Realität unseres Wissen zu begründen, kann sie diese Aufgabe auf keine andere Weise zu erledigen hoffen, als dass sie von einem Unbedingten oder Absoluten anfängt. Wer die Skepsis gegen die Idee eines Absoluten schlechthin richten möchte, müsste somit behaupten, dass die Metaphysik sich mit Scheinfragen beschäftigt, die wir abweisen könnten, statt dass die Schelling 1804, 9 / SW VI, 21; Herv. v. Verf. Schelling 1804, 8 f. / SW VI, 21. 79 Schelling 1802b, 21 / SW IV, 353; vgl. bereits F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 2. April 1795, AA III,1, 22. 77 78

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metaphysischen Fragen aus einer Naturanlage des Menschen erwachsen und mit der Vernunft selbst gegeben sind. Dem hält Schelling entgegen, dass der Mensch von sich aus ein Absolutes sucht oder setzt. Wer metaphysische Fragen als sinnlos oder unlösbar zurückweist und stattdessen auf die Erfahrung verweist, hätte damit die Erfahrung selbst als ein Absolutes gesetzt, worüber es nichts Höheres gibt und das als unausgesprochener »Maasstab der Wahrheit« gilt. 80 So wenig muss er jedenfalls behaupten, wenn er die Behauptung eines Absoluten überhaupt unterminieren möchte. 81 Es dürfte nicht ohne Bedeutung sein, dass dieses auch durch den Skeptiker angesetzte Absolute durchwegs unausgesprochen bleibt. Auch der Skeptiker scheint demnach das Absolute nicht so leicht loszuwerden. Wohl deshalb versucht er vielmehr Zweifel an der Lösbarkeit dieser Fragen anzumelden. Bezweifelt wird dann nicht, dass diese Fragen mit der Natur der Vernunft verwoben sind, sondern nur dass diese über die geeigneten Mittel verfügt, sie auch einer Lösung zuzuführen. Die These Schellings, die Philosophie habe vom Absoluten anzufangen, ist also mit einer solchen Skepsis nicht unvereinbar. Nichts verhinSchelling 1802b, 1 / SW IV, 339. In der Philosophie hat man »nicht so sehr auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, welche nichts von einer solchen [absoluten Erkenntnisart, R. S.] wissen, und zu wissen vorgeben, als auf diejenigen, welche sich rühmen, sie zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben, und denen mit der wahren Idee von ihr nothwendig auch sie selbst mangelt. Wollten wir unter absoluter Erkenntniss überhaupt nur eine solche verstehen, über welche es in irgend einer Beziehung keine höhere giebt, so müssten wir zugeben, dass jeder, auch der gemeine Verstand, im Besitz einer solchen seye« (Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339). Und: »Jeder ist von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen« (SW IV, 357; Zusatz im Handexemplar; Herv. v. Verf.). 81 In den Ferneren Darstellungen nimmt Schelling durchgängig Rücksicht auf solche skeptischen Einwände (vgl. Schelling 1802b, 18, 40 / SW IV, 351, 365 f.). Bereits in Vom Ich stellt er seinen eigenen Lösungsvorschlag als Glied einer Alternative auf: »Entweder muß unser Wissen schlechthin ohne Realität […] seyn […], oder – Es muß einen lezten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt« (AA I,2, 85; Herv. v. Verf.). Wenn nachher nur das zweite Glied dieser Alternative verfolgt wird, so darf die Alternative darüber doch in keinem Augenblick vergessen werden. Die einzig konsequente Alternative zu Schellings Ansatz wäre somit im Skeptizismus zu finden. Alle Zwischenformen müssen in letzter Instanz zu einer dieser beiden zurückführen. Deshalb bemerkt Schelling, dass »dieser Kriticismus mit der leichtesten Mühe unmittelbar zum Skepticismus umgearbeitet werden konnte« (Schelling 1802b, 18 / SW IV, 351); sein eigenes System hingegen sieht er als eine Umarbeitung in der anderen Richtung. Deshalb heißt es auch, dass die Philosophie »eben dadurch, daß sie von jenem absoluten Erkennen ausgeht, zugleich ihren Selbstbeweis [führt]« – gegen die skeptische Alternative (SW IV, 371; Zusatz im Handexemplar). 80

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dert, zuzugeben, dass die Philosophie, wenn sie denn ihre Aufgabe erfüllen soll, von einem Unbedingten auszugehen habe, dem aber gleich hinzuzufügen, dass es der menschlichen Vernunft nicht gegeben ist, den Zugang zu diesem Absoluten zu finden. Die Frage ist demnach nicht, ob die Philosophie vom Absoluten anzufangen habe oder nicht, sondern vielmehr, wie wir den Zugang zu diesem Absoluten finden und, damit zusammenhängend, wie wir uns dessen vergewissern können, dass dasjenige, das wir als Absolutes setzen, auch tatsächlich ein solches ist. Es bedarf somit eines Kriteriums, durch welches wir versichert sein können, dass unser Anfangspunkt auch wirklich das Absolute ist und das uns gleichzeitig erlaubt, unzutreffende Begriffe des Absoluten als solche einzusehen und als unrechtmäßig zurückzuweisen. Es ist somit nicht so, dass Schelling sich gleich anfangs sozusagen im Absoluten ansiedelt und sich damit begnügt, sich auf eine – schwer nachvollziehbare – Anschauung zu berufen, um die Richtigkeit seiner Idee des Absoluten zu behaupten. Vielmehr gewinnt die Frage nach dem Zugang zum Anfang an Dringlichkeit. 82 Es ist demnach nicht möglich, sich gleich anfangs auf diesen Punkt zu stellen, sondern es gilt nur, den Weg dahin so schnell wie möglich zu finden. Diese Frage meint Schelling mittels einer Begriffsanalyse lösen zu können. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass es genügt, eine Frage nur ausreichend klar zu formulieren, um auch die Antwort zu entdecken, oder dass die Frage in sich bereits die Elemente ihrer Lösung enthält. Wenn es zutrifft, dass die Metaphysik eine Naturanlage ist, dann muss jeder wenigstens eine vage, noch unentwickelte Idee des Absoluten haben. Eine solche vage Idee des Absoluten kann auch der Skeptiker zugeben, solange er allein die Lösbarkeit der metaphysischen Fragen bestreitet. Von dieser vagen Idee ausgehend, untersucht Schelling, welche formalen Merkmale sich aus derselben gewinnen lassen. Diese Begriffsanalyse zielt somit zunächst lediglich darauf ab, solche formalen Merkmale herauszuarbeiten. Diese Merkmale erlauben es, uns darüber zu vergewissern, dass das von uns angesetzte Absolute auch ›wirklich‹ das Absolute ist, und falsche Prätendenten auf diesen Titel auszuscheiden. 83 An diesem Punkt könnte die Skepsis So auch Korsch 1980, 106. In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Bedeutung, dass Schelling in seiner Auseinandersetzung mit Eschenmayer ständig schwankt zwischen der Annahme, dass sie auf bloßen Missverständnissen, also auf bloß terminologischer Unklarheit beruht,

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ansetzen. Aus der vagen Idee können wir folgende Kriterien gewinnen: Erstens muss aus der (entwickelten) Idee selbst einsehbar sein, dass sie eine adäquate Idee des Absoluten ist. Dadurch gibt sie uns, zweitens, auch ein Kriterium an die Hand, zwischen solchen, die sie wirklich haben, und falschen Prätendenten, »welche sich rühmen, sie zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben« zu unterscheiden. 84 Schließlich muss sich aus der adäquaten Idee selbst ergeben, dass von ihr auszugehen sei und dass das Absolute nicht als Resultat, als Noumenon oder als bloßes Gedankending gedacht werden kann. Zunächst ist zu bemerken, dass Schelling nicht nur eine Reihe von Behauptungen über die Idee des Absoluten aufstellt, sondern dass er diese durchgängig mit Anweisungen darüber verknüpft, wie man zu derselben gelange und wie man mit ihr umzugehen habe. 85 Wenn Eschenmayer somit das Absolute von Gott unterscheiden zu müssen glaubt, dann ist dies in erster Linie auf einen Mangel an Aufmerksamkeit und Vorsicht zurückzuführen. 86 Schelling stellt denn auch nicht Eschenmayers Auffassung vom Absoluten schlechthin die eigene entgegen, sondern er versucht ihn vielmehr darauf aufmerksam zu machen, wie er dazu gekommen ist, das Absolute so zu denken, dass er es als von Gott verschieden ansehen zu müssen meint. Die zur Konstruktion der Idee des Absoluten zu durchlaufenden Schritte sind deshalb mit einer Reflexion über das, was man dabei tut, verwoben. Damit hat Schelling dem Leser zugleich einen Fingerzeig gegeben, wie er mit dessen früheren Darstellungen umzugehen habe (s. u.). Obwohl der widersprüchliche Charakter von Eschenmayers Behauptungen offensichtlich ist, so dürften sie so lange plausibel scheinen, und dem Verdacht, dass Eschenmayer unter dem Begriff des Absoluten etwas ganz anderes denkt, als Schelling darunter verstanden haben will, in welchem Fall es sich in der Debatte um eine sachliche Differenz handelt. 84 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. 85 »Diejenigen, welche zu der Idee des Absoluten durch die Beschreibung, welche der Philosoph davon giebt, gelangen wollen, fallen fast nothwendig in diesen Irrthum« (Schelling 1804, 9 / SW VI, 21). Und: »weil man […] durch Vermittlung seiner [sc. Spinozas, R. S.] – Definitionen und Beschreibungen, zur Erkenntniss dessen gelangen wollte, was von allen Gegenständen allein nur unmittelbar erkannt werden kann« (Schelling 1804, 13 / SW VI, 24). 86 Vgl. Schelling 1804, 10 f. / SW VI, 23: »So wenig sie bemerken«, »so wenig fällt es ihnen auf«, »Es entgeht ihnen nicht minder«: Dieser dreifachen Unachtsamkeit entsprechen drei Überlegungen, die bei der Suche nach einer adäquaten Idee des Absoluten anzustellen sind (s. u.).

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

als man die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Verfahren missachtet. Zwischen Absolutem und Gott könnte man nur insofern unterscheiden, als man das Absolute mit den (negativen) Ausdrucksformen gleichsetzt, Gott aber mit dem Wesen, das sich in diesen Formen ausdrückt. Wenn Eschenmayer seine Unterscheidung so verstanden haben will, so ist ihm Recht zu geben, dass das negative Verfahren einer Ergänzung bedarf. 87 Es wäre allerdings irreführend, diese Ergänzung als Glauben zu bezeichnen. 88 Die Unterscheidung zwischen negativ und positiv soll dazu beitragen, den Schein zu durchschauen, und dies sowohl in dem Sinne, dass man ihn als Schein durchschaut (statt ihm zu erliegen), als auch, dass man versteht, wie er entstehen kann und muss. Der Schein besteht nun darin, das Absolute als Produkt oder Synthese zu betrachten. Diese Ansicht enthält den Hauptfehler, gegen welchen Schelling sich in dem ersten Abschnitt von Philosophie und Religion immer wieder richtet. Das Verständnis dieses ersten Abschnitts wird nun allerdings dadurch erheblich erschwert, dass Schelling ›negativ‹ und ›positiv‹ in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. So besteht das negative Verfahren zunächst darin, etwas mittels Negation zu beschreiben oder dem Beschriebenen das Gegenteil von bestimmten Prädikaten zuzuschreiben. Die Beschreibung bezeugt also vielmehr die Unmöglichkeit einer Beschreibung, da wir es nur per oppositum beschreiben können. Deshalb bringt sie denn auch »nie das Absolute selbst, in seiner wahren Wesenheit, vor die Seele«, da sie uns nur lehrt, wie wir es auf jeden Fall nicht zu denken haben. 89 Das Verfahren ist demnach auch insofern negativ, als es das Falsche zurückweist oder eine Reihe von möglichen positiven Bestimmungen auszuschließen erlaubt. 90 Die Beseitigung solcher Hypothesen schränkt aber gleichzeitig die Richtung ein, in welcher das Absolute, ›seiner wahren Wesenheit‹ nach, zu suchen ist. Das negative Verfahren ist somit keineswegs überflüssig, sondern hat einen eigenen informativen Wert. Durch es wird die Richtung, in welcher wir zu suchen haben, präziser und be-

Vgl. Schelling 1804, 16 / SW VI, 26. Vgl. Schelling 1804, 18 / SW VI, 27. 89 Schelling 1804, 9 / SW VI, 22. 90 So auch Fischbach, 2000, 146, 151: »Ce sur quoi Schelling insiste cependant particulièrement, c’est sur l’idée que ce procédé de division est en même temps un procédé d’élimination«; »la dialectique progresse en supprimant les hypothèses« (Herv. v. Verf.). 87 88

109 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

stimmter. Durch es erhalten wir die formalen (oder negativen) Bedingungen, denen das Absolute zu genügen hat. Dies stellt Schelling gleich in einer ersten Überlegung heraus. 91 Er unterscheidet zwei mögliche Erkenntnisweisen des Absoluten. Die erste nennt er die Erkenntnis durch Beschreibung. Eine solche liefert nur negative oder extrinsische Eigenschaften, d. h. solche, die einem Ding zwar aufgrund seiner Natur zukommen, ohne jedoch diese Natur selbst oder ›seine wahre Wesenheit‹ auszudrücken. Sie beschreiben bloß, ohne uns das Beschriebene erkennen zu lassen. Deshalb können sie auch nicht dazu verwendet werden, zwei Dinge voneinander zu unterscheiden. Diese extrinsischen Merkmale dienen nun zugleich als formale Kriterien: Wenn sie auch nicht das Wesen selbst ausdrücken, so müssen sie sich in der Folge doch als aus der Wesensbestimmung notwendig folgend erweisen. Dadurch scheidet eine solche angebliche Wesensbestimmung, aus welcher sich die negativen Bestimmungen nicht als notwendig ergeben, als geeigneter Kandidat von vornherein aus. Anders gesagt: Das Absolute ist nicht durch diese negativen Bestimmungen dasjenige, was es ist (eben absolut), aber es kann dies (sc. absolut) nicht sein ohne dieselben. Diese formalen Kriterien lassen sich nun allerdings durch einen Vergleich mit dem Nicht-Absoluten gewinnen. Dabei ist zu beachten, dass Schelling diese Beschreibung mittels Reflexionsbegriffen durchführt. Diese unterrichten uns nicht von der Beschaffenheit eines Dings, sondern drücken das Verhältnis einer Vorstellung zu unserem Erkenntnisvermögen aus. Absolutes und Nicht-Absolutes unterscheiden sich durch ein unterschiedliches Verhältnis zu unserem Erkennen. Dies erhellt auch aus den Beispielen, die Schelling anführt: So wird das Nichtabsolute z. B. als dasjenige erkannt, in Ansehung dessen der Begriff dem Seyn nicht adäquat ist, denn eben, weil hier das Seyn, die Realität nicht aus dem Denken folgt, vielmehr zu dem Begriff noch etwas nicht durch selbigen Bestimmtes hinzukommen muss, wodurch erst das Seyn gesetzt wird, ist es ein Bedingtes, Nichtabsolutes. 92 In der Erstausgabe werden die erste und zweite Überlegung in einem einzigen langen Absatz behandelt (der dritte Absatz des ersten Abschnitts). In den Sämmtlichen Werken ist der Abschnitt anders gegliedert. Hier findet sich die erste Überlegung im dritten bis fünften Absatz, während der Übergang zur zweiten Überlegung und diese selbst sich im sechsten Absatz finden. Die dritte Überlegung findet sich in der Erstausgabe in den Absätzen 4 bis 9, in den Sämmtlichen Werken in den Absätzen 7 bis 12 (hier stimmt die Gliederung der beiden Ausgaben wieder überein). 92 Schelling 1804, 9 / SW VI, 22. 91

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Das Nicht-Absolute zeichnet sich dadurch aus, dass zu seinem Begriff immer noch die Erfahrung hinzukommen muss, um ihm seine objektive Realität zu sichern. Die Eigenschaften, welche ein Nicht-Absolutes vollständig bestimmen, lassen sich nicht erschöpfend aus seinem Begriff gewinnen. Vielmehr sind wir auf die Erfahrung angewiesen, da ein solches Nicht-Absolutes nur insofern vollständig bestimmbar ist, als wir auch die Verhältnisse mit berücksichtigen, in welchen es zu anderen Dingen steht. Alles, was sich so zu unserem Erkenntnisvermögen verhält, dass wir auf die Erfahrung angewiesen sind, um die Realität seines Begriffs zu sichern, ist eben dadurch nicht absolut. Denken und Sein, aber auch Allgemeines und Besonderes, Subjektives und Objektives, Ideales und Reales sind solche Reflexionsbegriffe, die lediglich das Verhältnis einer Vorstellung zu unserem Erkenntnisvermögen anzeigen. Auf diese Weise lässt sich durch die Negation dieser Reflexionsbegriffe ein formales Kriterium der Absolutheit gewinnen: Ein Absolutes kann nicht von der Art sein, dass es ein solches Verhältnis zu unserem Denken hätte. 93 Diese Verfahrensweise legt allerdings das Missverständnis nahe, dass das Absolute als Synthese oder Produkt jener Gegensätze zu verstehen sei. Hierin liegt nach Schelling der Hauptfehler. Dieser unterläuft einem immer dann, wenn der negative Charakter des beschreibenden Verfahrens übersehen wird. Dies führt Schelling zu einer zweiten Überlegung. Das negative oder beschreibende Verfahren kann nur insofern einen Beitrag zur Bestimmung des Absoluten liefern, als es mit der intellektuellen Anschauung verbunden wird. Ohne dieselbe führt das negative Verfahren selbst in die Irre. Nur insofern dieses in die intellektuelle Anschauung eingebunden wird, liefert es einen Beitrag zur Bestimmung der Idee des Absoluten. Beim bloß negativen Verfahren könnte es nämlich noch scheinen, als ob dadurch die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung oder Synthese nicht ausgeschlossen wäre. Die negative Beschreibung und die intellektuelle Anschauung sind demnach nicht zweierlei Verfahren, die unabhängig voneinander angewandt werden könnten. Nach einer solchen Deutung wäre es möglich, die negative Beschreibung ohne

Das negative Verfahren scheint demnach dem »Scheitern der Kategorien« zu entsprechen; daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass sich »im Scheitern des Denkens durch Denken« dasjenige zeigt, »was nicht gedacht werden kann«, es sei denn, man nimmt die Subjekt-Objekt-Spaltung als »Grundtatbestand unseres Denkens« an (Jaspers 1955, 145, 195; vgl. Jaspers 1955, 191, 205).

93

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Rekurs auf die intellektuelle Anschauung anzuwenden, so wie es möglich wäre, das Absolute direkt anzuschauen ohne Rekurs auf das negative Verfahren. Dies wird noch am deutlichsten durch die dritte Überlegung. Diese macht sich die Beobachtung zu Nutze, »wie die sämmtlichen Formen, in denen das Absolute ausgesprochen werden kann, und in denen es ausgesprochen ist, sich auf die drey einzig möglichen reduciren, die in der Reflexion liegen, und die in den drey Formen der Schlüsse ausgedrückt sind«. 94 Die Art von Schellings Vorgehen verdient hier besondere Beachtung: »Die erste Form des Setzens der Absolutheit ist die categorische«. 95 Diese erste Form behandelt Schelling recht knapp, wohl deshalb, weil er diese bereits in der ersten Überlegung ausführlich behandelt hatte. Diese hatte nämlich ergeben, dass »das Absolute […] uns nur als die Negation jener Gegensätze die absolute Identität beyder« ist. 96 Damit war, erstens, gesagt, dass das Absolute nicht als ›Identificirung‹ oder Synthese jener Gegensätze die absolute Identität beider ist: Das Absolute ist nicht deren Identität, insofern es beide zugleich wäre. Wenn, zweitens, das Absolute nur als Negation der Gegensätze die absolute Identität derselben ist, so kann es nur, insofern es weder das eine noch das andere ist, als Identität beider bestimmt werden. Dies ist so zu verstehen: Das kategorische Urteil verfährt nach der Kategorie von Substanz und Akzidens. In der kategorischen Setzungsform haben wir den Versuch, das Absolute als eine Substanz zu denken. Gesucht wird, welche Akzidenzien demselben zugesprochen werden können. Als mögliche Prädikate komSchelling 1804, 11 / SW VI, 23. Hiermit greift Schelling ein Ergebnis der kantischen transzendentalen Dialektik auf. Dort wurden die Schlussarten als Leitfaden zur Auffindung der Ideen genommen, in Analogie zur transzendentalen Analytik, wo die Urteile als Leitfaden zur Auffindung der Kategorien dienten. Dadurch finden wir nur die Ausdrucksformen des Absoluten, nicht das Absolute selbst. – Dies geht auch hervor aus der Behandlung der Lehre von den Schlussformen in den Würzburger Vorlesungen, wo es von Kants Lehre der Antinomien heißt, diese ist »ohne allen Zweifel der speculativste Theil seiner Kritik« (SW VI, 527). – Schelling verweist in einer Fußnote (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) selbst auf eine Stelle im Bruno, wo er den »unseligste[n] Misgriff« darin sieht, »diese dem Verstand untergeordnete Vernunft« (in den Schlussformen) »für die Vernunft selbst zu halten«, d. h. zu meinen, dass die Ausdrucksformen des Absoluten im Verstand bzw. der Reflexion uns eine Erkenntnis des Wesens des Absoluten selbst geben könnten (Schelling 1802a, 165 / SW IV, 300). Es ist dies der erste Hinweis auf eine präzise Bruno-Stelle in Philosophie und Religion. 95 Schelling 1804, 11 / SW VI, 23. 96 Schelling 1804, 10 / SW VI, 22. 94

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

men die Reflexionsbegriffe (subjektiv-objektiv, ideal-real usw.) in Betracht. Keines dieser Prädikate verträgt sich aber mit der Forderung der Absolutheit, da man dem Absoluten dadurch ein Verhältnis zu unserem Denken zuschreiben würde, das mit dem Begriff der Absolutheit nicht verträglich ist. In dieser Form kann das Absolute demnach nur negativ, dadurch dass Bestimmungen von ihm negiert werden, beschrieben werden. 97 Von dieser Form sagt Schelling auch, dass sie den Gegensatz durch Verneinung desselben aufhebt. 98 Der Gegensatz ist der zwischen Subjektivem und Objektivem, die als einander kontradiktorisch entgegengesetzt gedacht werden, sodass hier ein Entweder-Oder stattfindet. Es scheint zunächst, dass alles, was ist, sich nur auf eine dieser beiden Weisen zu unserem Denken verhalten kann, sodass damit eine erschöpfende Alternative gegeben ist. Alles, was ist, soll sich zu unserem Denken entweder als ein Subjektives (als ein bloßes Gedankending) oder als ein Objektives (das eine Unabhängigkeit gegenüber demselben behauptet oder als etwas außer demselben sich bekundet) verhalten, wenn der Gegensatz ein kontradiktorischer ist. Wenn wir das Absolute aber als ein Subjektives betrachten, entsteht ein Widerspruch: Diese Verbindung hebt die Absolutheit auf. Handelt es sich bei jener Alternative um einen kontradiktorischen Gegensatz, dann wäre aus jenem Widerspruch unmittelbar auf die Wahrheit des Entgegengesetzten zu schließen. Dann müsste das Absolute sich als ein Objektives zu unserem Denken verhalten. Auch hier entsteht jedoch ein Widerspruch. Wenn nun beide Fälle in einem Widerspruch resultieren, dann ist der Gegensatz zwischen Subjektivem und Objektivem wenigstens kein kontradiktorischer und erschöpfender: Wir können nicht von der Falschheit des einen auf die Wahrheit des anderen schließen. Oder, wie Schelling es formuliert: der Gegensatz (als ein kontradiktorischer) wird aufgehoben durch die Verneinung, dass hier ein kontradiktorischer Gegensatz stattfindet. 99 Der Gegensatz In der Darstellung schließt Schelling daraus, dass die absolute Vernunft sich zu ihrem Gegenstand nicht als ein Subjektives zu einem Objektiven verhält, dass dieser Gegenstand unter dem formellen Gesetz A = A steht (vgl. AA I,10, 116 (§ 1), 118 (§ 4)). 98 Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 24. 99 So auch Tilliette 1992, 485: »L’identité prédiquée de l’Absolu peut être déterminée négativement comme un Weder … noch des contraires issus de la réflexion. Cette définition négative a pour but d’éliminer la conception de l’Absolu comme synthèse, composition, produit« (Herv. v. Verf.). 97

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

findet auf das Absolute keine Anwendung. Es gibt demnach einen dritten Fall, den wir zunächst nur negativ beschreiben können, nämlich dass das Absolute sich weder als ein Subjektives noch als ein Objektives zu unserem Denken verhält. Diese Bestimmung des Absoluten ist nun insofern negativ, als durch sie das Falsche ausgeschlossen wird: Das Absolute als ein Subjektives oder als ein Objektives zu bestimmen, ist beides gleich falsch. Es ist demnach als Identität aller Gegensätze zu bestimmen, wenn auch nur in dem Sinne, dass alle Entgegengesetzten, vom Absoluten prädiziert, zu gleich falschen Aussagen Anlass geben. Nur im Zusammenhang mit der intellektuelle Anschauung sind wir berechtigt, daraus zu schließen, dass das Absolute weder das eine noch das andere ist. Sonst wäre es ebensowohl möglich, daraus zu schließen, dass es beide zugleich, sowohl das eine als auch das andere ist. Nur die intellektuelle Anschauung verhindert, dass wir das Absolute als eine Synthese denken. Dies führt uns zur zweiten Schlussart. In dieser soll ein Mittel gefunden werden, zu einer positiven Bestimmung des Wesens dessen, dem die Eigenschaft des Absoluten zugeschrieben werden muss, zu gelangen. Diese zweite Form ist die hypothetische, nach Grund und Folge. Die Prädikate subjektiv und objektiv können dem Wesen nicht zugeschrieben werden (nach der ersten Form). Die Zurückstoßung dieser Prädikate durch das Wesen kann selbst nur eine Folge desselben sein und muss somit ihren Grund in diesem Wesen selbst haben. Wenn demnach »ein Subject und ein Object ist« und wenn das Wesen, wie wir aus dem ersten Fall wissen, an sich weder Subjekt noch Objekt ist, dann kann das Wesen nur »das gleiche Wesen beyder« sein, dasjenige, was die Identität beider begründet. 100 Von diesem Wesen können wir nur die Identität prädizieren. Subjektivität und Objektivität sind danach keine Prädikate, die unmittelbar vom Wesen ausgesagt werden können, sondern vielmehr Ausdrucksformen desselben. Während im ersten Fall der Gegensatz dadurch aufgehoben wurde, dass er verneint wurde (auf das Absolute nicht anwendbar ist), so wird er hier »durch Bejahung seines Gegentheils« aufgehoben. 101

Schelling 1804, 12 / SW VI, 23. Wir haben hier erst eine Identität von Subjektivität und Objektivität, noch keine Identität ohne alle weitere Bestimmung (vgl. Schelling 1802b, 58 / SW IV, 378; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; vgl. auch die »Recapitulation« im Handexemplar der Ferneren Darstellungen, SW IV, 391). 101 Schelling 1804, 12 / SW VI, 24. 100

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Nur im Unterschied zur ersteren kann Schelling diese Bestimmung an dieser Stelle als eine ›positive‹ bezeichnen. In einem dritten Schritt schließlich gelangen wir zu der Einsicht, dass diese Ausdrucksformen nicht etwas sind, das wir an das Absolute herantragen, oder dass sie demjenigen, was sich in ihnen ausdrückt, nicht irgendwie äußerlich wären, sondern dass dieses absolut identische Wesen selbst nicht sein könnte, was es ist (nämlich absolut identisch), wenn es sich nicht in solchen gleichen Formen ausdrückte. Nur ein solches, das sich in zwei gleich möglichen Formen ausdrückt, sich zugleich aber als das sich in diesen Ausdrückende von denselben unterscheidet, erfüllt die Anforderungen, die im Begriff der Absolutheit enthalten sind. Die Idee des Absoluten ist demnach eine Mannigfaltigkeit, an welcher immer drei Aspekte zu unterscheiden sind: a) das Wesen oder das Sich-Ausdrückende (das nur als absolute Identität bestimmt werden kann), b) die Form, in welcher es sich ausdrückt, c) dasjenige, als was es sich in diesen Formen ausdrückt (andernorts auch ›das Seyn‹ genannt: subjektiv oder objektiv). Es ist denn auch nicht zufällig, wenn Schelling die Schlussarten, die ursprünglich am Leitfaden der Relationskategorien gewonnen wurden (wie aus der Bezeichnung als kategorischer, hypothetischer und disjunktiver Schluss hervorgeht), mit den Modalitätskategorien in Verbindung bringt. 102 Dies ist insofern berechtigt, als an dieser Stelle besonders das Verhältnis des Absoluten zu unserem Denken betrachtet wird. So haben wir es in der ersten Schlussform mit einer reinen Denkmöglichkeit zu tun: Wenn es ein Absolutes gibt, dann kann es dies nur insofern sein, als es sich seinem Wesen nach weder als ein subjektives noch als ein objektives zu unserem Denken verhält. Da in den beiden ausgeschlossenen Fällen sich ein Widerspruch ergibt, so besteht die einzige Möglichkeit, überhaupt ein Absolutes zu denken, darin, es als dem Wesen nach weder das eine noch das andere zu denken. Diese negative Bestimmung kann aber nur als ein Moment angesehen werden, das von sich aus auf ein weiteres Moment drängt. In der zweiten Form denken wir es als eine Wirklichkeit oder als eine positive Bestimmung. Es wird geschlossen, dass ein Wesen, das sich in solchen Formen (Subjekt – Objekt) ausdrückt, nur dasselbe Dies wird dort besonders deutlich, wo Schelling den kategorischen Schluss als die »Form der durch Möglichkeit gesetzten Wirklichkeit«, den hypothetischen als »die Form der durch Wirklichkeit gesetzten Möglichkeit« und den disjunktiven als »die Form der durch Möglichkeit und Wirklichkeit gesetzten Nothwendigkeit« bestimmt (SW VI, 526).

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Wesen sein kann, das sich einmal als Subjekt, das andere Mal als Objekt zeigt. In der dritten Form werden beide ersten Formen zusammengeführt, woraus sich eine Denknotwendigkeit ergibt. Etwas kann nur auf eine solche Weise weder das eine (subjektiv) noch das andere (objektiv) sein und dennoch das gleiche Wesen beider, dass es sich in beiden gleicherweise ausdrückt, dass man beide als seine Attributen versteht und dass diese beiden (subjektiv und objektiv) auch die einzig möglichen sind (d. h. dass die Disjunktion erschöpfend ist). Hiermit haben wir eine Denknotwendigkeit gefunden und zugleich die Natur des Absoluten, nämlich dass es dem Wesen nach eine absolute Identität ist, die sich ausschließlich in der Form von zwei gleich absoluten Formen darstellen kann und muss. Subjekt und Objekt sind völlig gleiche Ausdrucksweisen dieses Wesens: Das Absolute selbst ist somit nur, indem es sich auch in diesen Formen ausdrückt und darstellt. Das Absolute muss bald ganz subjektiv, bald ganz objektiv gedacht werden. Hieran zeigt sich auch, wie die drei Ausdrucksformen nicht einfach nebeneinander stehen, als drei alternative Ausdrucksmöglichkeiten des Absoluten, sondern dass sie in eine Denkbewegung eingebunden sind. Die Beschreibung mittels der drei Schlussarten zerlegt die Idee des Absoluten in Momente. Das Positive erhält man erst dann, wenn man sieht, dass es sich in der Tat bloß um Momente handelt, durch welche ein und dasselbe bestimmt wird. Der unerlässliche Beitrag der intellektuellen Anschauung besteht darin, diese Momente eben als Momente zu verstehen. Eine Undeutlichkeit entsteht allerdings daraus, dass Schelling die Unterscheidung von negativ und positiv hier noch in einem anderen Sinn als oben angegeben einsetzt. Zum einen wird die Beschreibung als negativ, die intellektuelle Anschauung als positiv unterschieden. Das heißt: Alle drei Schlussarten sind negativ, da sie alle nur formal sind und zudem jeweils nur ein Moment der Idee des Absoluten enthalten. Erst aufgrund der intellektuellen Anschauung, die diese drei Formen als Momente in der Bestimmung jener Idee zusammenbringt, erhalten sie eine positive Bedeutung. Zum anderen wird die erste Schlussart als negativ, die zweite als positiv unterschieden. Zu beachten ist schließlich, dass entsprechend jeder Schlussart ein anderer Begriff von Identität hervortritt. Die Reflexion über die erste Schlussart ergibt eine Identität als Negation von Gegensätzen, die zweite als das Gegenteil eines Gegensatzes, die dritte als eine innere, unmittelbare Identität. 103 103

Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 23 f.

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Die Einsicht in die Negativität der Beschreibung oder des negativen Verfahrens ist nichts anderes als die Einsicht in die Notwendigkeit einer Ergänzung desselben durch ein Verfahren, das nicht nur extrinsische Merkmale des Absoluten zu Tage fördert, sondern es seiner inneren Artikulation nach erfasst. Aus der Einsicht in jene Negativität ergibt sich bereits, dass jene Ergänzung nur den Charakter einer Anschauung haben kann, d. h. derartig verfasst sein muss, dass die Erkenntnis der formalen Struktur des Absoluten zugleich eine Erkenntnis des Wesens, d. h. eines Singulären, ist, während die durch das negative Verfahren erfassbaren formalen Charakteristika diese in der Abstraktion des dadurch bestimmten Wesens erfassen. Dass diese Charakteristika in der Tat die Erkenntnis eines Singulären liefern, zeigt sich durch die Überlegung, dass das Absolute kein Gattungsbegriff sein kann und dass die durch die Analyse des Begriffs der Absolutheit gewonnenen Merkmale nur einem Einzigen zukommen können. Die Beschreibung muss somit durch irgendeine Anschauung ergänzt werden, wenn die beschriebene Sache überhaupt Realität haben und mehr als ein bloßes Gedankending sein soll, das nur im Verhältnis zu demjenigen, der sie denkt, Realität hat. Ohne eine solche Anschauung würde sich der Denkende zu dieser ›Sache‹ bloß subjektiv als zu einem Gedachten verhalten. Zugleich kann diese Anschauung nur eine intellektuelle sein, da nur das Nicht-Absolute in einer sinnlichen Anschauung gegeben sein kann. Anschauung heißt sie, weil sie sich auf ein Singuläres bezieht, intellektuell, da dieses Singuläre nicht in der Erfahrung gegeben ist, sondern die Vernunft von sich aus auf ein solches bezogen ist. Auf diese Weise kann auch derjenige, der der intellektuellen Anschauung nicht fähig ist oder dem sie sozusagen nicht aus eigener Erfahrung vertraut ist, dennoch zur Einsicht darin gebracht werden, dass nur unter Voraussetzung einer solchen Anschauung die Aufgabe der Philosophie erfüllt werden kann. 104 Eschenmayers Unterscheidung zwischen dem Absoluten und Gott hat demnach einen gewissen Grund. Sie zeigt an, dass auch er die Notwendigkeit gesehen hat, das negative Verfahren durch ein anderes Verfahren zu ergänzen. Ihm fehlt indessen die Einsicht in den eigenen Charakter des negativen Verfahrens. Nur deshalb kann er die Ergänzung als Glauben bezeichnen. Um die angegebenen formalen Kriterien zu gewinnen, bedarf es Damit ist das Verfahren charakterisiert, das Schelling in den Ferneren Darstellungen anwendet, vgl. Schelling 1803c, 34 f. / SW IV, 412.

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somit noch keiner intellektuellen Anschauung. Das Verfahren geschieht hier durch bloße Begriffsanalyse. Es erlaubt indessen nur, die formalen Kriterien zu gewinnen, denen das Absolute zu genügen hat. Das negative Verfahren ist demnach weder als ungenügend zurückzuweisen noch als eine Alternative zum positiven Verfahren denkbar, sondern es ist unabdingbar und muss dem positiven Verfahren vorangehen. Zugleich dient es dazu, die gewohnte Denkeinstellung, in welcher wir »gleichsam verhärtet« sind, schrittweise abzubauen und so eine Dimension des Denkens freizulegen, die in der gewohnten Denkeinstellung verborgen bleibt (AA I,10, 131; vgl. AA I,10, 117). 105 Dadurch soll es auch verhindern, in den ›Irrthum‹ zu verfallen, Gott als vom Absoluten verschieden zu denken, in den man sonst ›fast nothwendig‹ verfällt. Solange man das Absolute nämlich sucht, ohne hinlänglich über die zulässigen und zielführenden Mittel zu reflektieren, bringt man bei dieser Suche Reflexionsbegriffe zur Anwendung, ohne zu bedenken, dass ein Absolutes, das ein solches Verhältnis zu unserem Denken hätte, nicht mehr als ein Absolutes bezeichnet werden könnte. Hieraus ergibt sich auch, dass die Reflexionsbegriffe nur eine negative Anwendung erlauben. Diese Einsicht verbindet sich unmittelbar mit derjenigen, wonach das Absolute nur für eine andere Erkenntnisart erschließbar ist. 106 In derselben verhalten wir uns zum Gedachten nicht mehr als zu einem Gegenstand, sondern als zur Materie oder Stoff unseres Denkens. 107 Diesen hat es nicht erst außer sich, sondern entdeckt es in sich, wenn es vom objektivierenden Verhalten abstrahiert oder dieses abbaut. Es sind dies, wie wir im nächsten Kapitel noch ausführlicher sehen werden, die Ideen oder

Vgl. dazu Buchheim 1990, 327–331, 334–336. Den engen Zusammenhang zwischen der Einsicht in den negativen Charakter des ersten Verfahrens und der notwendigen Ergänzung durch die intellektuelle Anschauung signalisiert Schelling durch die Parallele »So wenig […] so wenig« (Schelling 1804, 10 / SW VI, 23). 107 Dies hat Karl Jaspers richtig bemerkt, scheint es dann aber bei seinen weiteren Ausführungen wieder zu vergessen (vgl. Jaspers 1955, 78). – Deshalb konzentriert sich Schellings Auseinandersetzung mit Reinhold fast ausschließlich auf dessen Behauptung, dass der ›Stoff‹, auf welche die absolute Identität angewendet wird, dieser äußerlich ist (Schelling 1802b, 3 f. / SW IV, 341; Schelling 1803c, 25 / SW IV, 406; Schelling 1802d, 42, 45, 48, 54 f., 60 f., 77 f. / SW V, 45, 47, 49, 53 f., 57, 69). Auch Temilo van Zantwijk hat hierin einen »wirklich tragfähiger Kritikpunkt an Reinholds eigenem Programm« gesehen, der, »auch gemessen an Reinholds eigenem Ausgangspunkt, berechtigt« ist (van Zantwijk 2002, 176). 105 106

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Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Potenzen. 108 Die Vernunft hat es dabei mit lediglich virtuellen ›Gegenständen‹ zu tun. 109 Diese Virtualisierung geht nicht mit einem Verlust der Realität des Denkens einher, sondern eröffnet erst den Bereich einer in diesem präzisen Sinn absoluten Realität, d. h. einer Realität des Gedachten, die durch das Denken desselben unmittelbar gewährleistet wird. Hiergegen, so Schelling, könnte nur der oben referierte fichtesche Einwand geltend gemacht werden. 110 Deshalb ermöglicht die Einsicht in die Struktur der Idee des Absoluten auch eine Wissenschaft, vgl. Schelling 1803, 3–33 / SW IV, 391–411. 109 Darauf hat besonders Thomas Buchheim insistiert: »Die Nichtunterscheidung von virtuellen und wirklichen Gegenständen des Denkens bei Schelling führt zu gravierenden Mißverständnissen seiner Philosophie« (Buchheim 1992, 68 f.). Vgl. damit eine Stelle wie: »Wesentlich zur Erkenntniss der wahren Philosophie ist dieses absolute Getrennthalten der erscheinenden Welt [worin wir es ausschließlich mit wirklichen Gegenständen zu tun haben, R. S.] von der schlechthin realen [d. h. die Welt der Ideen oder der virtuellen Gegenstände, R. S.]« (Schelling 1802b, 73 / SW IV, 388; von Schelling 1804, 52 / SW VI, 49 f. zitiert). Nach Louis van Bladel kann man Schelling nur dann eine schöpfungstheologische Intention unterschieben, wenn man »immerwährend den […] Unterschied zwischen der ewig-realen und der raum-zeitlichen, wirklichen Welt [vernachlässigt]« (van Bladel 1965, 53). Diese Konfusion von wirklichen und virtuellen Gegenständen schreibt Schelling Reinhold zu: Sie zeigt sich insbesondere an dessen Gleichsetzung von ›Konstruktion‹ und ›Ableitung‹ (vgl. Schelling 1802b, 3 f. / SW IV, 340 f.; Schelling 1803c, 4 f., 10 f. / SW IV, 392 f., 396 f.). Reinhold sucht ein Prinzip, aus welchem sich die wirkliche Welt ableiten ließe; diese ist aber gar nicht Gegenstand oder Ziel der Konstruktion. Ihren Grund hat diese Verwechslung in der Verwechslung einer absoluten oder Vernunftidentität mit einer bloß logischen oder Verstandesidentität (vgl. Schelling 1802b, 10 / SW IV, 345). Vgl auch die Hauptthese von Pierre Lévy: »le virtuel ne s’oppose pas au réel mais à l’actuel [das wirklich Existierende, R. S.]« (Lévy 1995, 13). Gerade die Mathematik dient Schelling als Beispiel eines Denkens, das es lediglich mit solchen virtuellen Gegenständen zu tun hat. So bemerkt Karl Jaspers zu Recht, dass die intellektuelle Anschauung als das »Konstruktionsfeld« zu denken ist, »in dem die metaphysischen Denkfiguren wie die geometrischen im Raum entwickelt werden« (Jaspers 1955, 78). 110 Vgl. Schelling 1802b, 44, 55 f. / SW IV, 368, 376. Auch das Argument, das Karl Jaspers wiederholt gegen Schelling vorbringt, ist im Grunde kantisch-fichtescher Provenienz. So z. B.: »Wie auch immer ich die Transzendenz denke oder vorstelle, ich ziehe sie durch Denkbarmachen und Bildwerden in diese Welt der gegenständlichen Dinge«. Und: »[D]ieses, eine Sache als sie selbst ergreifende Denken kann das Sachwerden dessen, was keine Sache ist, nicht ohne Täuschung erzwingen. Es kann in Kategorien nicht einfangen, was über alle Kategorien hinaus liegt« (Jaspers 1955, 176). Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Denken unvermeidbar vergegenständlichend oder objektivierend ist. Es müsste somit gezeigt werden, dass es die von Schelling behauptete ›andere Erkenntnisart‹ nicht gibt, was Jaspers jedenfalls bloß behauptet, nicht begründet. Insbesondere hätte er zu zeigen gehabt, dass Schelling in der Tat Reflexionsbegriffe auf das Absolute anwendet und damit dem trans108

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen Wenn Schelling bemerkt, dass »[d]iejenigen, welche zu der Idee des Absoluten durch die Beschreibung, welche der Philosoph davon giebt, gelangen wollen, […] fast nothwendig in diesen Irrthum [fallen]«, dann darf man darin auch eine Warnung sehen an solche, die sich des Gegenstandes der Philosophie über den Weg der Texte bemächtigen wollen, in welchen der Philosoph diesen verhandelt. 111 Schelling gibt dem Leser indessen deutlich genug zu verstehen, dass Philosophie und Religion zunächst als eine Erläuterung zu früheren Schriften gedacht ist. Dabei geht er von den Missverständnissen eines einzelnen Lesers aus, der in dieser Hinsicht allerdings als exemplarisch gelten kann. Philosophie und Religion enthält somit keine wissenschaftliche Darstellung von Schellings System. Dieses soll hier nicht seiner immanenten Logik nach dargestellt werden, sondern Schelling geht hier vielmehr elenktisch vor, indem er ständig auf mögliche Missverständnisse und Einwände Rücksicht nimmt. Auch Philosophie und Religion soll demnach das System der Philosophie »genäherter auch dem Verständniss der noch weniger Eingeweihten« darstellen. 112 Solche Darstellungen ›mit beständigen kritischen Beziehungen‹ oder eben im Verhältnis zu anderen Positionen hatte Schelling bereits mehrere veröffentlicht. Als genuin wissenschaftliche Darstellung hat er sogar nur eine einzige Schrift ausgezeichnet, die Darstellung meines Systems der Philosophie. 113 Schelling hat immer wieder auf den wissenschaftlichen Charakter der Darstellung von 1801 insistiert und ihr gerade deswegen einen besonderen urkundlichen Wert zugeschrieben. 114 Der wissenschaftzendentalen Schein unterliegt. Stattdessen unterschlägt Jaspers den Unterschied zwischen Begriffen und Ideen, ohne ein Argument dafür aufzubieten, dass auch das Denken von Ideen das Gedachte objektiviere. Auch deshalb ist es so bedeutsam, dass Schelling das kantische Theoriestück des transzendentalen Scheins integriert. 111 Schelling 1804, 9 / SW VI, 21; vgl. Schelling 1804, 9, 17 / SW VI, 22, 26 f. 112 Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361. 113 Die Würzburger Vorlesungen wie auch die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst scheinen eine Mischform zu sein: Der Anlage nach wird auch hier das System seiner immanenten Logik nach entfaltet, begleitet aber von ständigen kritischen Beziehungen, die in Anmerkungen und Erläuterungen ausgelagert werden. Die Vorlesungsform nötigt zwangsläufig dazu, auf die Vormeinungen der Zuhörer Rücksicht zu nehmen. 114 Vgl. Schelling 1812, 6 / SW VIII, 25. Alle späteren Hinweise auf die Darstellung sind gesammelt in AA I,10, 73–75 (Ed. Bericht).

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Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

liche Charakter derselben liegt in erster Linie darin, dass hier die einzelnen Schritte, die man bei der Darstellung dieses Systems zu durchlaufen habe, ihrem inneren Zusammenhang nach präsentiert werden. Er ist somit nicht so sehr in der Nachahmung der von Spinoza geborgten Darstellungsform zu suchen, der doch als Muster nur für die »Weise der Darstellung« des Systems dient (AA I,10, 115; Herv. v. Verf.). Wenigstens war Schelling der Meinung, dass diese Darstellungsweise am meisten dazu geeignet war, eine wissenschaftliche Darstellung seines Systems zu bieten, weil sie »die größte Kürze der Darstellung verstattet« und dadurch »die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10, 115). 115 In einer späten Erklärung erkennt Schelling der Darstellung meines Systems zudem deshalb als der einzig »streng wissenschaftliche[n]« Darstellung eine Sonderstellung zu, weil in ihr »das Wort intellektuelle Anschauung gar nicht vorkommt« (SW X, 147; erste Herv. v. Verf.). In der Tat muss auffallen, wie in allen Darstellungen aus dieser Zeit mehr oder weniger ausführlich die intellektuelle Anschauung erörtert wird, außer in der genannten wissenschaftlichen Darstellung. Man könnte deshalb leicht geneigt sein, in jener späten Erklärung einen Widerruf jener anderen, sich auf eine intellektuelle Anschauung angeblich berufenden Darstellungen zu sehen, zu Gunsten eines Verfahren, das angeblich ohne dieselbe auskommt. 116 Allerdings hat Schelling bereits in den Ferneren Darstellungen die Darstellung von 1801 als die »strengwissenschaftliche« bezeichnet, und zwar weil in ihr, wie in jeder streng wissenschaftlichen Konstruktion (wofür ihm an dieser Stelle besonders die Geometrie als Modell dient), »die intellectuelle oder Vernunftanschauung etwas Entschiednes« ist, »worüber kein Zweifel statuirt oder Erklärung nöthig gefunden wird«. 117 In einer streng wissenschaftlichen Darstellung wird an der intellektuellen Anschauung, als der Voraussetzung, auf welcher sie beruht und ohne welche sie gar nicht erst durchführbar ist, kein Zweifel geäußert. Es wird nicht für nötig erachtet, diese Voraussetzung in derselben zu Die brevitas hatte auch Spinoza mehrmals als Vorzug des mos geometricus hervorgehoben. Vgl. dazu Audié 2007, 13–19. 116 So z. B. Marquet 1979, 435. 117 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361. Vgl. die entsprechende Stelle in der Darstellung: »Es giebt keine Philosophie, als vom Standpunct des Absoluten, darüber wird bey dieser ganzen Darstellung gar kein Zweifel statuirt […]. [D]er gegenwärtige Satz gilt mithin bloß unter dieser Voraussetzung« (AA I,10, 117 (§ 2 Anm.)). Im Beweis des § 2 wird die im § 1 aufgestellte Erklärung als eine ›Voraussetzung‹ bezeichnet. 115

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

rechtfertigen. Ebenso wenig ist in derselben eine ausdrückliche ›Erklärung‹ darüber nötig: Eine Definition oder auch nur die Erwähnung derselben wird man demnach vergeblich in einer solchen suchen. Die späte Erklärung ist demnach kein Widerruf, da Schelling in ihr nichts anderes behauptet als was er bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung der Darstellung erklärt hatte. Allerdings lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Darstellungen. Halten wir uns zunächst an die Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802. Bereits der Titel stellt eine Beziehung zur kurz zuvor veröffentlichten Darstellung meines Systems der Philosophie her. Teils ist er ähnlich gebaut, teils weist er einige signifikante Abweichungen auf. Zunächst erweckt die Rede von ferneren Darstellungen die Erwartung einer Fortsetzung der früheren Darstellung, die ja »unterbrochen« wurde und demnach eine Fortsetzung verlangt (AA I,10, 211 Anm. F). Diese Erwartung scheint Schelling auch absichtlich wecken zu wollen, indem er sie in Briefen in der Tat für eine »Fortsetzung meiner Darstellung« ausgibt. 118 Diese Erwartung wird durch die Schrift selbst allerdings sofort enttäuscht: Sie führt die Darstellung des Systems eben nicht über den Punkt hinaus, der in der früheren erreicht war. Aus mehreren Erklärungen geht zudem hervor, dass sie die Darstellung nicht so sehr fortführen, als vielmehr »dem Verständniß der noch weniger Eingeweihten« näherbringen will. 119 Wir können sie somit noch am ehesten als eine Erläuterungsschrift zur ersten Darstellung lesen. In der Tat lautet der Titel nicht Fernere Darstellung(en) meines Systems der Philosophie, sondern Darstellungen aus dem System der Philosophie. Es kann Schelling nämlich kaum entgangen sein, dass die streng wissenschaftliche Darstellung wegen ihrer Kürze dem Leser nicht geringe Verständnisschwierigkeiten bereitet, da er diese in ihr selbst bereits in zwischengeschalteten Anmerkungen und Erläuterungen wiederholt hervorgehoben, wenn nicht sogar verschärft hatte. 120 BeF. W. J. Schelling an J. G. Fichte, 3. Oktober 1801, AA III,2,1, 378; F. W. J. Schelling an G. E. A. Mehmel, 4. Juli 1801, AA III,2,1, 357. 119 Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361. 120 So heißt es z. B. lakonisch: »Wir bitten den Leser uns in diesen Demonstrationen indessen wenigstens mit dem Zutrauen zu folgen, daß sie vollkommen verständlich seyn werden, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe subjectiv und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem Satz genau eben das denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Erinnerung, die wir hiemit ein für allemal machen« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)), oder: »Es ist kaum zu zweifeln, daß nicht diese 118

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Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

reits bei der Verfassung der Darstellung meines Systems war Schelling sich somit durchaus darüber im Klaren, dass sie für die meisten Leser – wegen ihrer »bisher […] gefaßten Begriffe« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)) – unverständlich bleiben musste. Bestimmter formuliert: Die Darstellung muss für die meisten Leser deshalb unverständlich bleiben, weil sie die Annahmen, mit welchen diese an sie herantreten, nicht mitmacht und stattdessen auf eine Voraussetzung aufbaut, von welcher Schelling annehmen konnte, dass sie nicht derart selbstverständlich ist, dass sie nicht für die meisten umständliche Erklärungen erfordert. Gerade über diese Voraussetzung wurde in der Darstellung weder ein »Zweifel statuirt« noch auch nur eine »Erklärung« für »nöthig gefunden«, obwohl Schelling annehmen konnte, dass man gerade hier Zweifel anmelden und Erklärungen verlangen würde. 121 Die Wissenschaftlichkeit der streng wissenschaftlichen Darstellung besteht demnach darin, dass sie so schnell wie möglich zum Prinzip der Philosophie führt, um dann die immanente Logik dieses Prinzips weiter zu verfolgen, ohne sich um mögliche Bedenken oder Einwände zu kümmern. Um zu diesem Prinzip hinzuführen, benötigt Schelling aufgrund der in der »Erklärung« vorausgesetzten intellektuellen Anschauung lediglich sechs Paragraphen (AA I,10, 116 (§ 1)). Es gehört somit gar nicht zum Aufgabenbereich einer wissenschaftlichen Darstellung, solchen Verständnisschwierigkeiten zu begegnen oder zu zeigen, wie sie zu beheben sind. Stattdessen setzt sie von Anfang an voraus, dass der Leser über all diejenigen Kompetenzen und Mittel verfügt, die für ein Verständnis derselben erforderlich sind. 122 Auf solche unangemessen zugerüsteten Leser kann die wissenschaftliche Darstellung keine Rücksicht nehmen. Dies heißt allerdings nicht, dass der Philosoph überhaupt keine Rücksicht auf solche Beweise für manche Leser einige Dunkelheiten zurückließen« (AA I,10, 147 (§ 54 Anm.)). Vgl. auch AA I,10, 130 f. (§ 32 Anm.). 121 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361. 122 Dies macht Schelling in den Ferneren Darstellungen unmissverständlich klar: »Zu begreifen ist auch nicht, warum die Philosophie eben zu besonderer Rücksicht auf das Unvermögen verpflichtet sey, es ziemt sich vielmehr, den Zugang zu ihr scharf abzuschneiden, und nach allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu isoliren, dass kein Weg oder Fusssteig von ihm aus zu ihr führen könne. Hier fängt die Philosophie an, und wer nicht schon da ist, oder vor diesem Punct sich scheut, der bleibe auch entfernt oder fliehe zurück«. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern für alle Wissenschaften, insofern die intellektuelle Anschauung »die Bedingung des wissenschaftlichen Geistes überhaupt und in allen Theilen des Wissens« ist (Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362; Herv. v. Verf.).

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Leser zu nehmen hätte und sich damit begnügen könnte, unverständliche Sätze aufzustellen. Die frühere Darstellung verweist demnach von sich aus auf ein notwendiges Komplement, das den Leser imstande setzt, sich die erforderlichen Kompetenzen und Mittel zu erwerben. Die Unverständlichkeit der wissenschaftlichen Darstellung, die von Schelling, wie einigen bereits zitierten beiläufigen Bemerkungen zu entnehmen ist, absichtlich noch gesteigert wurde, soll einen solchen Leser nur dahingehend irritieren, dass er sich des Bedarfs der vorausgesetzten Einstellung erst recht bewusst wird. Als ein solches Komplement sind die Ferneren Darstellungen gedacht: Diese sollen dem Leser dabei behilflich sein, sich diese Einstellung zu erarbeiten, damit er angemessen zugerüstet sich die Einsicht in das System seinem inneren Zusammenhang nach erarbeiten kann. Daraus erklärt sich nun auch der zweite Teil des Titels: Es ist nicht so sehr das System selbst, das hier seiner immanenten Logik nach dargestellt wird, sondern es werden lediglich einzelne Probleme, die dieses System dem unvorbereiteten Leser bereitet, herausgegriffen und für sich und »mit beständigen kritischen Beziehungen« erörtert. 123 Dies erlaubt es Schelling auch, zu zeigen, inwiefern dieses System fähig ist, sich gegen andere Prätendenten zu behaupten. Deshalb wird er in einem ersten Schritt stets versuchen, die immanenten Schwierigkeiten solcher alternativen Systeme nachzuweisen. Um diese einzusehen braucht man sich noch gar nicht auf seinen Standpunkt gestellt zu haben. So kann zugleich auch das kritische Potential, das dieses System bereithält, zur Entfaltung gelangen. 124 Nur wenn man der unterschiedlichen Absicht, die Schelling mit diesen Schriften verfolgt, Rechnung trägt, wird auch einsichtig, weshalb in der Darstellung meines Systems »das Wort intellektuelle Anschauung gar nicht vorkommt«, nicht vorzukommen braucht und nicht vorkommen darf (SW X, 147), und weshalb es in den Ferneren Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361. Den Ausdruck ›Verhältnis‹ verwendet Schelling häufig in Titeln: Ueber das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere, Ueber das absolute Identitäts-System und sein Verhältniß zu dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus, Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre. In allen diesen Fällen sollen von dem System der Philosophie »nur einzelne Seiten«, »und auch diese oft nur in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung« dargestellt werden, um zu zeigen, wie es sich gegen Alternativen zu behaupten weiß (Schelling 1809a, X / SW VII, 334).

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Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

Darstellungen hingegen nicht nur vorkommt, sondern auch vorkommen muss. 125 Genauso wie in der Geometrie die Raumanschauung schlechthin vorausgesetzt wird und sich darüber in ihr keine Erklärungen finden, so ist dem Philosophen in der strengwissenschaftlichen Construction die intellectuelle oder Vernunftanschauung etwas Entschiednes, und worüber kein Zweifel statuirt, oder Erklärung nöthig gefunden wird. Sie ist das, was schlechthin, und ohne alle Foderung voraus gesetzt wird […]. Dass sie nichts seye, das gelehrt werden könne, ist klar; alle Versuche sie zu lehren sind also in der wissenschaftlichen Philosophie völlig unnütz, und Anleitungen zu ihr, da sie nothwendig einen Eingang vor der Philosophie, vorläufige Expositionen und dergleichen bilden, können in der strengen Wissenschaft nicht gesucht werden […]. 126

Die Voraussetzung der intellektuellen Anschauung ist nicht von der Art einer theoretischen Annahme, sondern vielmehr von der Art einer Fähigkeit oder einer Denkeinstellung. Schelling bezeichnet sie deshalb auch als »unveränderliches Organ« des »wissenschaftlichen Geistes«. 127 Als Organ oder Medium, in welchem sich der ganze dort entfaltete Argumentationsgang bewegt, oder als die Einstellung, aus welcher heraus sie sich vollzieht, kann sie innerhalb derselben nicht selbst wieder thematisiert und zum Gegenstand eigener theoretischer Erörterungen gemacht werden. Diese Art der Darstellung erwartet demnach vom Leser, dass dieser bereits imstande ist, sich in diesem Medium des Denkens frei zu bewegen, und sich desselben als eines Werkzeugs oder Organs zu bedienen. Die Erklärung, mit welcher die Darstellung meines Systems anfängt, verlangt vom Leser, dass dieser über diese seine Fähigkeit selbst reflektiert, sich auf eine bestimmte Eigenart dieser Fähigkeit richtet. Aus einer solchen Reflexion ergibt sich, dass derjenige, der dieser Denkart fähig ist, insofern er sie auch vollzieht, sich nicht als ein Subjekt zu einem Objektiven verhält. Damit hat derjenige, der der intellektuellen Anschauung fähig ist, beZu diesem Ergebnis kommt auch Dietrich Korsch: »Ernötigt wird dieser Begriff [sc. der intellektuellen Anschauung, R. S.] aber erst dann, wenn die Frage nach jener Einheit [von Wesen und Form, R. S.] gestellt wird, wenn also über den Indifferenzpunkt reflektiert wird: daher ist es nicht verwunderlich, daß der Begriff in der ›Darstellung‹ von 1801 nicht auftaucht, obwohl die Sache immer präsent ist. – Hier ist also dasselbe Phänomen zu beobachten wie bei Fichte im Verhältnis der WL 94 zu den ›Einleitungen‹ von 1797« (Korsch 1980, 112). 126 Schelling 1802b, 33 f. / SW IV, 361; Herv. v. Verf. 127 Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362. 125

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

reits de facto »vom Denkenden abstrahirt« (AA I,10, 116 (§ 1)). 128 Daran knüpft Schelling folgende Überlegung an: Subjektives und Objektives sind Wechselbegriffe. Das eine kann nicht ohne das andere vorkommen, ist also stets im anderen impliziert. Wenn in der intellektuellen Anschauung vom Denkenden oder Subjektivem abstrahiert wird, dann kann auch dasjenige, worauf das Denken sich dabei richtet oder womit es dabei zu tun hat, nicht von der Art eines Objekts sein. Die ganze Darstellung richtet sich nun auf dieses Gedachte, auf diesen dem Denken immanenten ›Gegenstand‹ oder diesen im Denken enthaltene ›Stoff‹ und versucht, diesen ›Stoff‹ seiner inneren Verfassung nach zu entwickeln (vgl. AA I, 10, 117 (§ 2)). In den Ferneren Darstellungen hingegen wird die intellektuelle Anschauung ausführlich thematisiert. Damit ist auch gesagt, dass sie in denselben nicht vorausgesetzt wird. Beide Darstellungen richten sich, wie aus dieser Erklärung hervorgeht, an unterschiedliche Typen von Adressaten, die sich gerade durch ihre Verstehenskompetenzen voneinander unterscheiden. Während die Darstellung nur für solche Leser verständlich ist und sein will, die jener Anschauung bereits fähig sind, versuchen die Ferneren Darstellungen erst zu einem solchen Verständnis hinzuleiten. Indem diese die intellektuelle Anschauung eigens thematisieren, können sie nur insofern hoffen, verständlich zu sein, als sie sich für die Evidenz ihrer Darlegungen nicht auf diese zu stützen brauchen. Sie bewegen sich denn auch durchgängig im Bereich einer ›nicht-absoluten‹ Erkenntnisart (der Reflexion), gerade dann, wenn sie versuchen deren Grenzen sichtbar zu machen. Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Lektüre der Ferneren Darstellungen die Lektüre der Darstellung nicht ersetzen kann, da sie nur dazu dienen sollen, auf diese vorzubereiten. Dieses Problem der initia philosophiae, d. h. sowohl des Anfangs der Philosophie als auch des Findens des eigentlichen Zugangs zu ihr, hat Schelling auch weiterhin beschäftigt. Es ist dies zum einen die Frage nach dem, womit die Philosophie anzufangen habe, d. h. nach dem, was als Prinzip derselben fungieren kann, zum anderen aber auch die Frage danach, wie wir, die wir ein solches Prinzip suchen, es auch finden können bzw. uns dessen vergewissern können, dass dasEs sei nochmals darauf hingewiesen, dass diese Abstraktion vom Denkenden oder Subjektiven dem Philosophen nicht eigentümlich ist, sondern dass auch der Geometer oder jeder, der im eigentlichen Sinn wissenschaftlich tätig ist, eine solche Abstraktion bei sich feststellen würde, wenn er über das, was er tut, reflektiert.

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Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

jenige, was wir als Prinzip ansetzen, auch wirklich sich dazu eignet, als Prinzip zu dienen. Das Besondere an Schellings Vorgehen liegt somit nicht so sehr in seiner Behauptung, dass vom Unbedingten ausgegangen werden oder dass die Idee des Absoluten Prinzip der Philosophie sein muss, sondern vielmehr in der Frage, wie wir dieses Unbedingte finden können bzw. wie wir dessen gewiss sein können, dass wir eine angemessene Deutung der Idee des Absoluten zum Prinzip machen. Das Finden des Anfangs erfordert eine Umwandlung der gewohnten Einstellung. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass der Erkennende das Erkannte zum Gegenstand macht und damit in eins sich selbst in die Stellung eines Subjekts versetzt. Diese natürliche Einstellung wird dadurch noch nicht geändert, dass der Erkennende nicht nur die ihm in der Erfahrung erschlossenen Dinge, sondern nun auch sich selbst zum Gegenstand macht. In der Reflexion ändert sich zwar der Gegenstand des Denkens, das nun nicht länger ein bloßes Objekt, sondern ein Subjekt-Objekt ist, aber nicht die Grundhaltung des Erkennenden, der sich diesem Subjekt-Objekt gegenüber weiterhin als Subjekt verhält. So unterscheidet dasjenige, was Eschenmayer als intellektuelle Anschauung bezeichnet, sich nur durch seinen Gegenstand (das Ich selbst), nicht aber durch die zugrundeliegende Einstellung von sonstigen Erkenntnisweisen. Dasjenige, was Schelling als intellektuelle Anschauung bezeichnet, impliziert hingegen eine solche Aufgabe oder Umwandlung jener Grundhaltung, die er als eine ›Abstraktion vom Subjektiven‹ charakterisiert. In der Darstellung wird demnach schlechthin vorausgesetzt, dass der Leser bereits dazu fähig ist, eine solche Abstraktion zu vollziehen. 129 Die nicht-wissenschaftlichen Darstellungen hingegen verfolgen eine durchaus propädeutische oder pädagogische Absicht, insofern als sie einen Beitrag dazu leisten sollen, den Leser zu jenem Punkt hinzuführen, wo die wissenschaftliche Darstellung anfängt. Daraus, dass in der wissenschaftlichen Darstellung das Wort ›intellektuelle AnVgl. dazu Buchheim 1990, 334–336; Jähnig 1975, 58 f. – Die Umwandlung der natürlichen Einstellung, die unabdingbar ist, um den Zugang zum System zu finden, nötigt somit auch zu ganz besonderen darstellerischen Veranstaltungen. Diese haben durchgängig auf die natürliche Einstellung Rücksicht zu nehmen, wenn auch in der Absicht, sie zu erschüttern. Aus diesem Grund müssen sie auch der natürlichen Einstellung Widerstand leisten. Erst das Scheitern der natürlichen Einstellung eröffnet die Chance einer Umwandlung. Es geht dabei darum, das in jener Einstellung beanspruchte Wissen als ein Nicht-Wissen oder eine Unwissenheit erfahrbar zu machen (vgl. Schelling 1802b, 6 f., 14 f. / SW IV, 342 f., 349).

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2. Kapitel. Glaube und Anschauung

schauung‹ nicht vorkommt, ist somit keineswegs zu schließen, dass sie auch ohne eine solche durchkommt. Vielmehr wird sie in derselben, wie Schelling bemerkt, schlechthin vorausgesetzt. Gerade weil sie schlechthin vorausgesetzt wird, kommt das Wort in ihr nicht vor. Umgekehrt kann man daraus, dass in den nicht-wissenschaftlichen Darstellungen das Wort öfters vorkommt, nicht schließen, dass diese dieselbe als Argument für die dort aufgestellten Behauptungen bemühen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil jene Darstellungen ständig um die intellektuelle Anschauung kreisen, können sie dieselbe nicht voraussetzen und sich für die Gültigkeit der dort aufgestellten Behauptungen auch nicht auf sie berufen. Die unterschiedliche Rolle, die die intellektuelle Anschauung in den verschiedenen Darstellungen spielt, lässt sich noch auf folgende Weise erläutern. Es wurde gesagt, dass die Darstellung die intellektuelle Anschauung als Medium oder Organ der Konstruktion, und d. h. durchgängig, voraussetzt. Diese Voraussetzung ist somit nicht auf einzelne punktuelle Schritte des Gedankengangs fixierbar. 130 Dennoch kommt die intellektuelle Anschauung, wenn nicht dem Ausdruck nach, so doch der Sache nach auch an einem präzisen Punkt des Beweisgangs vor, wo Schelling auf sie zurückgreift, um eine bestimmte Behauptung zu beweisen. Für seine Behauptung nämlich, dass die Selbsterkenntnis ein konstitutives Merkmal der Idee des Absoluten ausmacht, stützt Schelling sich durchaus auf die intellektuelle Anschauung (vgl. AA I,10, 123 (§ 17)). Dabei geht Schelling an dieser Stelle nicht so vor, dass er die Notwendigkeit dieser Selbsterkenntnis unmittelbar aus der absoluten Identität ableitet. Stattdessen führt er den Nachweis über einen Umweg, nämlich ausgehend von unserer Erkenntnis. Die Abstraktion vom Denkenden hatte uns einen neuen Bereich des Denkens eröffnet und im Zuge des Zugangs zu diesem Bereich durchstreifen oder erkunden wir denselben nach seinen verschiedenen Dimensionen. Im Laufe dieser Erkundung hat sich gezeigt, dass wir, solange wir in dieser Einstellung des Denkens verharren, alles nach dem Gesetz der Identität erkennen, dass sich in demselben eine absolute Identität ausdrückt und dass die Erkenntnis derselben eine unbedingte ist (vgl. AA I,10, 119 (§ 7)). Eine weitere Reflexion zeigt nun, dass nicht wir Subjekt dieser Erkenntnis sein können, sondern dass das Subjekt dieser Erkenntnis nur die absolute Identität selbst sein kann und diese Erkenntnis deshalb eine Selbst130

Vgl. Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362.

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Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

erkenntnis derselben ist. Erst daraus folgert Schelling, dass die Form der Subjekt-Objektivierung wesentlich zur absoluten Identität gehört. Die Argumentation lässt sich in folgende Schritte zerlegen: (1.) Wir, die wir uns, mittels der Abstraktion vom Denkenden, in die als ›absolute Vernunft‹ bezeichnete Lage des Denkens versetzt haben, haben darin die Erkenntnis einer absoluten Identität überhaupt (vgl. AA I,10, 119 (§ 7)). Der Genitiv ist hier als genitivus obiectivus zu verstehen: Insofern wir uns in die genannte Lage des Denkens versetzen, entdecken wir die absolute Identität als eigentlichen Gegenstand oder Gehalt dieses Denkens, das, weil es darin einen Gegenstand hat, kein bloßes Denken, sondern Erkenntnis genannt werden kann. An dieser Stelle ist es allerdings noch durchaus denkbar, dass dieser Gegenstand von einer Instanz außer ihr erkannt wird und aus dritter Warte heraus als das, was sie ist, zu erkennen wäre. Darauf verweist Schelling in der ersten Hälfte des Beweises (vgl. AA I,10, 123 (§ 17)). (2.) Diese Erkenntnis kann aber nicht bloß unsere Erkenntnis sein, in dem Sinne, dass wir die absolute Identität hier als bloßes Objekt unseres Erkennens oder als ein rein Erkanntes hätten. Der Genitiv kann demnach kein bloß objektiver sein. Der ›Gegenstand‹ muss selbst das Prinzip seines Erkennens enthalten. Die absolute Identität ist demnach sowohl Inhalt als Prinzip dieser Erkenntnis. Erst hier wird also gezeigt, dass eine solche Erkenntnis nur sozusagen von innen heraus möglich ist. Der Gegenstand dieser Erkenntnis hat die Eigentümlichkeit, dass er gar nicht aus dritter Warte, sondern nur von innen heraus erkennbar ist. Dies formuliert Schelling gelegentlich auch so, dass im Denken der absoluten Vernunft nicht ich es bin, der erkennt, sondern es nur die absolute Identität selbst ist, die sich selbst erkennt: »Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir, wenn das Wissen, das ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wahres Wissen ist« (SW VI, 140 (§ 1)). Diese ein wenig sonderlich anmutende Formulierung will auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns nicht unvertraut sein dürfte. Schelling will damit nämlich nicht leugnen, dass alles Wissen für seine Erarbeitung auf eine subjektive Instanz angewiesen ist. Diese Abhängigkeit von einer subjektiven Instanz betrifft indessen nur die Art der Erarbeitung des Wissens. Das Eigentümliche der wissenschaftlichen Praxis besteht jedoch darin, dass sie in einem Wissen resultiert, das als solches gar nicht mehr auf jene subjektive Instanz angewiesen ist. Die gewonnenen Inhalte lassen sich auch rein als solche erwägen, ohne Berücksichtigung der 129 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

subjektiven Instanz, die für ihre Erarbeitung zuständig war. Auch wenn ich selbst an der Erarbeitung eines Wissensinhalts beteiligt gewesen bin, erhält dieser eine gewisse Eigenständigkeit, die mir eine Distanz zu demselben erlaubt. Die Möglichkeit einer solchen Distanz zu den Wissensinhalten oder eben einer Abstraktion vom Subjektiven ist kennzeichnend für die theoretischen Wissenschaften. 131 Deshalb kann man auch sagen, dass ich mich selbst, insofern ich mich als forschendes Subjekt an der Erarbeitung von Wissen beteilige, in ein bloßes Organ des Wissens verwandle. (3.) Diese beiden Schritte bilden allerdings nur den ersten Teil des Beweises. Das Gewicht liegt auf dem Schluss, den Schelling daraus zieht. Daraus, dass in der Erkenntnis der absoluten Identität ein doppelter Genitiv liegt, folgt, dass es sich hier um eine ursprüngliche Erkenntnis handelt. Das heißt zunächst nur, dass diese Erkenntnis nicht weiter ableitbar und nicht weiter bedingt ist oder dass ihr im Vergleich zu anderen Formen der Erkenntnis eine Eigenart zukommt. Nur in zwei Fällen kann von einer ursprünglichen Erkenntnis die Rede sein: Entweder wenn diese unmittelbar aus dem Wesen oder wenn sie unmittelbar aus dem Sein der absoluten Identität folgt. (a.) Diese »Erkenntniß folgt nicht unmittelbar aus ihrem Wesen, denn aus demselben folgt nur, daß sie ist« (AA I,10, 123 (§ 17); Herv. v. Verf.). Das ›Sein‹ folgt insofern unmittelbar aus dem Wesen der absoluten Identität, als dieses nicht ohne die im Satz A = A ausgedrückte Artikulation oder Minimalkonsistenz gedacht werden kann. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass sie sich selbst als diesem Gesetz der Minimalkonsistenz unterworfen auch erkennen muss. (b.) Die Erkenntnis der absoluten Identität durch sich selbst ›muß also unmittelbar aus ihrem Seyn folgen‹. Dieses Sein oder diese Artikulation in den verschiedenen Dimensionen des Subjekts, Prädikats und der Indifferenz beider kann also nicht gedacht werden, ohne dass diese Struktur auch für sich selbst erkennbar wäre. Die eigentliche Pointe des Satzes sowie des Beweises liegt darin, dass diese Wolfgang Wieland sieht darin das Wesensmerkmal der theoretischen Wissenschaften, das sie von den praktischen Wissenschaften trennt. Der Unterschied theoretisch/praktisch ist die Trennlinie der Wissenschaften, die alle anderen vorgenommenen Unterschiede (Theorie/Empirie, Natur- und Geisteswissenschaften) durchkreuzt (Wieland 1986, 33 f.). Auch Schelling sieht in der Operation der Abstraktion vom Subjektivem die Grundoperation einer rein theoretischen Wissenschaft (vgl. AA I,10, 89). In der Wissenschaftslehre wären theoretische und praktische Wissenschaft demnach auf eine eigentümliche Weise vermischt.

131

130 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

Selbsterkenntnis Form der absoluten Identität ist. Das heißt, dass eine absolute Identität ohne diese Form der Selbsterkenntnis gar keine absolute Identität mehr wäre. Dadurch soll zum einen der Fall ausgeschlossen werden, dass die absolute Identität von außen erkennbar wäre. Für eine solche Außenposition wäre eine absolute Identität kein möglicher Gegenstand des Erkennens. Eine absolute Identität ist nur für solches erkennbar, das selbst eine Instanz von ihr ist, so wie auch der Raum nur durch solches erkannt werden kann, das selbst ein Räumliches und im Raum ist. Dies formuliert Schelling auch so, dass die Erkenntnis einer absoluten Identität sich bei näherer Überlegung nur als eine Selbsterkenntnis derselben enthüllen kann (vgl. AA I,10, 119 (§ 7), 123 f. (§§ 19 f.)). Zum anderen wird dadurch ebenso der Fall ausgeschlossen, dass eine absolute Identität sein könnte, auch wenn sie nicht als solche von sich selbst erkannt würde. Dies wäre der Fall, wenn die absolute Identität einfach ist, ohne sich auch als das, was sie ist, zu erkennen. Der Beweis, dass das Selbsterkennen die notwendige Form des Absoluten ist, stützt sich demnach auf eine Erkenntnis, die wir haben, nämlich auf die intellektuelle Anschauung. Dass Schelling, auch wenn er den Ausdruck hier nicht verwendet, dennoch auf die intellektuelle Anschauung anspielt und sie für den Beweis in Anspruch nimmt, geht zudem noch mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit aus einer Parallelstelle in den Würzburger Vorlesungen hervor. Nachdem er dort für den Satz »Es ist eine unmittelbare Erkenntniß Gottes oder des Absoluten« (SW VI, 150 (§ 8)) einen Beweis geführt hat, der völlig dem in der Darstellung gegebenen parallel verläuft, schiebt Schelling einige Überlegungen zur intellektuellen Anschauung ein (vgl. SW VI, 153–155 (§ 8)). Auch hier wird sie dazu bemüht, die Behauptung zu untermauern, dass Wesen und Form zwar unterschiedliche Momente sind, jenes Wesen aber nicht ohne diese (absolute) Form vorkommt. Dadurch soll die Bezeichnung der Form als eines Selbsterkennens des Absoluten gerechtfertigt werden. Dazu verweist Schelling darauf, dass wir eine Erkenntnis des Absoluten haben oder dass es eine Erkenntnis des Absoluten gibt. Bezeichnenderweise hatte Schelling sich kurz zuvor abermals von Eschenmayers Auffassung distanziert (vgl. SW VI, 152 (§ 8)). Die Bemerkung macht zum einen klar, dass Schelling sich über die Deutung der intellektuellen Anschauung mit Eschenmayer nicht einig ist. Er weist diejenige Auffassung zurück, wonach die intellektuelle Anschauung sich 131 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

dadurch von der sinnlichen unterscheide, dass jene sich auf einen »Gegenstand des inneren Sinns« statt wie diese auf einen »Gegenstand des äußeren Sinns« richtet (SW VI, 154 (§ 8)). Die intellektuelle Anschauung ist demnach nicht mit der bloßen Selbstanschauung des Ichs zu verwechseln, wie Schelling sie hier Fichte zuschreibt, wie aber auch Eschenmayer sie aufgefasst hatte. 132 Nur weil Eschenmayer diese Verwechslung unterläuft, sieht dieser sich zum anderen dazu genötigt, auf den Glauben oder die Ahnung als Komplement zurückzugreifen (vgl. SW VI, 152).

5. Anschauung und Glaube Damit hat Schelling die Auffassung der intellektuellen Anschauung, auf welche Eschenmayer die Notwendigkeit eines Übergangs zur Nichtphilosophie zu stützen suchte, zurückgewiesen und zugleich den Weg zu einer angemessenen Idee derselben aufgezeigt. Dabei hält er sich durchgängig an eine starke Lesart von Eschenmayers Unterscheidung zwischen Glauben und Erkennen. Nach derselben handelt es sich dabei nicht lediglich um unterschiedliche Aktmodi, sondern sie unterscheiden sich besonders dadurch, dass jedem derselben ein eigener Gegenstandsbereich korrespondiert. Die Folgen, die Eschenmayer mit dieser Unterscheidung verbindet, lassen sich auch nur mittels einer solchen starken Lesart aufrechterhalten. Gleich anfangs hatte er betont, nur deshalb den Glauben gegen das Erkennen stark machen zu wollen, weil nur so sich ein »Gegenstand« erschließen lasse, der »sich von selbst der Spekulation entrückt«. 133 Er rekurriert somit gerade deshalb auf den Glauben, weil dieser einen ›Gegenstand‹ zugänglich mache, der der intellektuellen Anschauung prinzipiell verschlossen bleibt. Allerdings ließe jene Unterscheidung noch eine schwache Lesart zu, wonach lediglich zwei Aktmodi als zwei differente Zugangsweisen zu ein und demselben Gegenstand unterschieden werden sollen. Die entscheidende Frage ginge dann aber dahin, ob beide Zugangsweisen diesem Gegenstand gleich angemessen sind und ihm gleich gerecht werden oder nicht. Sowohl Schelling als auch Eschenmayer sind demnach dazu genötigt, sich auf die starke Lesart festzulegen. Das Gelin132 133

Vgl. Eschenmayer 1803, 1 (§ 2). Eschenmayer 1803, I (Vorbericht); Herv. v. Verf.

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Anschauung und Glaube

gen ihres jeweiligen Unternehmens hängt damit davon ab, inwiefern sie imstande sind, das gegenteilige Unterfangen zu integrieren. Nachdem Schelling gezeigt hat, mit welchen grundsätzlichen Schwierigkeiten das Vorhaben Eschenmayers sich konfrontiert sieht bzw. welche Inkonsistenzen oder Widersprüchlichkeiten es aufweist, und nachdem er ferner gezeigt hat, wie der Einwand Eschenmayers Schelling insofern nicht treffen kann, als er auf einer unzutreffenden Interpretation beruht, bleibt ihm jetzt noch übrig, eine eigene Erklärung der Position Eschenmayers anzubieten. Es steht zu erwarten, dass dieser Erklärungsversuch nicht mit dem Selbstverständnis Eschenmayers übereinstimmen wird. Jedenfalls sieht die Philosophie sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine eigene Erklärung des Glaubens aufzubieten. Diesen muss sie einer eigenen Sphäre zuweisen, innerhalb welcher er eine beschränkte Gültigkeit behaupten kann. 134 Schelling wird demnach den Glauben anerkennen wie auch den Anspruch, dass dieser sich auf das Absolute bezieht, wird aber bestreiten, dass diese Zugangsweise ihrem Gegenstand gerecht wird und ihn in dem, was er ist, zu fassen vermag. Damit bestreitet er das Selbstverständnis, mit welchem diese Erkenntnisart sich verbindet. Er hat demnach zu zeigen, aus welcher Verfassung das Verständnis des Absoluten bzw. Gottes, wie Eschenmayer es dargelegt hat, notwendigerweise erwächst und wie es überhaupt zur Ausbildung einer solchen Position kommen kann. Zu diesem Zweck richtet er sich auf die Beschreibungen, die Eschenmayer selbst von dem Zustand gibt, den er als ›Glaube‹ bezeichnet. Eschenmayer spricht von einem »Zustand, der in Begeisterung, Entzücken und Anbetung sich ergiesst«, in welchem man »ein[en] geheime[n] Schauder« fühlt, »vor dem Gott, der sich in unserem Wissen ausgebiert, die Knie zu beugen«, und stattdessen »die Nähe Gottes« »in seiner Brust« »fühlt« und »in stummer Anbetung nieder[sinkt]«. 135 Dieser Zustand »ist die ächte Weise der Offenbarung Gottes«, und zwar, weil darin Gott sich als unerkennbar bekundet. 136 Die ganze Theologie spricht somit nach Eschenmayer nur eine symbolische Sprache, die die unmittelbare Offenbarung Gottes oder jenen Zustand der Verzückung ersetzt bzw. Mittel liefert, ihn Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Eschenmayer 1803, 37 (§ 47), 32 (§ 41), 33 (§ 42). 136 Eschenmayer 1803, 38 (§ 47). Auch Karl Jaspers spricht davon, dass »Gott absolut verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit entzieht« (Jaspers 1955, 184). 134 135

133 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

festzuhalten oder wieder hervorzurufen. 137 Damit wird der Wahrheitsanspruch für die ›Behauptungen‹ der Theologie fallengelassen; diese sollen nur dazu dienen, einen bestimmten Zustand zu evozieren. Jener Gefühlszustand der ›ächten Weise der Offenbarung‹ dient indessen zugleich als Kriterium, um die wahre Religion von der falschen zu unterscheiden. 138 Wie gesagt braucht Schelling den Glauben und die Zustände, auf welche Eschenmayer verweist, gar nicht zu leugnen. Vielmehr vermag er sie ›in ihrer Sphäre‹ anzuerkennen. Sie dienen dadurch als eine zusätzliche Bestätigung für seine Behauptung der Metaphysik als einer Naturanlage. 139 Die Idee des Absoluten ist danach keine Idee, die sich der Philosoph ausdenkt, sondern eine solche, die mit der menschlichen Vernunft gleichursprünglich ist. In jedem ist demnach eine vage Idee des Absoluten. Der Nicht-Philosoph unterscheidet sich vom Philosophen dadurch, dass er diese Idee mit solchen Mitteln zu explizieren versucht, die sich bei näherer Überlegung als zu diesem Zweck ungeeignet erweisen. Deshalb bemerkt Schelling auch, dass dem Nicht-Philosophen, indem er die Idee des Absoluten »für die Reflexion« und mit den Mitteln der Reflexion »fixiren will«, diese Der Begriff des Symbolischen, den Eschenmayer hier verwendet, unterscheidet sich grundlegend vom schellingschen Begriff. Vielmehr weist er Merkmale dessen auf, was Daniel Whistler leicht missverständlich das ›romantische Symbol‹ nennt: Dieses verweist auf etwas, das in seiner Bedeutung jeden Versuch, es auszudrücken, übersteigt oder transzendiert; es ist deshalb bloß ›evokativ‹. Das Symbol in diesem Sinn deutet auf etwas hin, das sich aufgrund seiner Natur unserem Verstehen widersetzt; es bezieht sich auf ein von sich aus Unbegreifliches. Deshalb verfährt das Symbol mittels Analogien, da es nur so die Unbegreiflichkeit des Angedeuteten zu wahren vermag (Whistler 2013, 25, 27, 28). Vgl. damit Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47): »Dies ist die ächte Weise der Offenbarung Gottes; alle übrige ist symbolisch und vorhanden als ein Bedürfniss, den Umgang mit Gott durch bildliche Sprache zu ersetzen«, d. h. ein Mittel, den unbeschreiblichen »Zustand der Begeisterung« zu evozieren. Ferner Eschenmayer 1803, 35 (§ 44): »so geht die an Ausdruck schon so arme Sprache der Ideen jenseits des Absoluten über in Gebet, d. i. in eine Sprache, die gar keine Worte mehr hat«; und Eschenmayer 1803, 36 (§ 46); »Da jenseits des Absoluten die Sprache keines Ausdrucks mehr fähig ist, so tritt das Symbol an ihre Stelle, d. h. eine aus der Sprache unserer Erkenntnisse übertragene [d. h. analogisch verfahrende, R. S.] bildliche Darstellung«. Dementsprechend gewährt die Idee der Dreieinigkeit keine Einsicht in das Wesen Gottes, sondern ist nur ein bildlicher oder analogischer Ausdruck (ebd.). Hierher gehört auch die Verwendung des Bilds der Asymptote (Eschenmayer 1803, 31 f. (§ 40), 52 (§ 59)). Beachte insbes. Eschenmayer 1803, 44 f. (§ 53), 59 (§ 66). 138 Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49). 139 »Jeder, auch der noch übrigens in der Endlichkeit befangne, ist von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen« (Schelling 1804, 6 / SW VI, 19; Herv. v. Verf.). 137

134 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Anschauung und Glaube

Idee wieder verschwindet: »Es umschwebt ihn ewig, aber es ist, wie Fichte sehr bezeichnend sich ausdrückt, nur da, inwiefern man es nicht hat, und indem man es hat, verschwindet es«. 140 Zum Absoluten ist ein Verhältnis der Habe ausgeschlossen. 141 Den Nicht-Philosophen zeichnet ein Zustand der Zerrissenheit aus, eine Unvereinbarkeit dessen, was er will, und der Art, wie er diesen seinen Willen zu realisieren sucht. Indessen ist nicht ganz auszuschließen, dass in einem solchen Zustand nicht eine plötzliche und unerwartete, weil nicht auf überlegte Weise gesuchte Harmonie eintritt: Nur in Augenblicken dieses Streits, wo die subjective Thätigkeit sich mit jenem Objectiven in eine unerwartete Harmonie setzt, die ebendesswegen, weil sie unerwartet ist, vor der freyen, sehnsuchtslosen Erkenntniss der Vernunft, diess voraus hat, als Glück, als Erleuchtung oder als Offenbarung zu erscheinen, tritt es vor die Seele. 142

Diesen Widerstreit von Subjektivem und Objektivem bezeichnet Schelling an dieser Stelle auch als das Charakteristikum der Sehnsucht. 143 Das einzige, was jene Erfahrung der Harmonie vor der Vernunft- oder philosophischen Erkenntnis voraushat, besteht darin, dass sie als ein Glück empfunden wird. Die Verwendung des Ausdrucks ›Glück‹ ist zweideutig. Zum einen kann er den Charakter der Harmonie, der Aufhebung eines Zwiespalts hervorheben, zum anderen geht daraus auch hervor, dass es sich um eine Glückssache handelt: Die orientierungslose Suche nach dem Absoluten, ohne genaueres Wissen darüber, wie es zu finden sei, und ohne Einsicht in die Ungeeignetheit der verwendeten Mittel, trifft irgendwann unerwarteterweise ins Schwarze. Dieser ›Vorzug‹ ist in Wahrheit also ein Mangel. Der Philosoph hingegen weiß, wie er das Gesuchte zu suchen Schelling 1804, 6 / SW VI, 19. In seinem Handexemplar der Ferneren Darstellungen hat Schelling eine mit der oben zitierten Stelle fast gleichlautende Anmerkung eingetragen. Sie bezieht sich auf eine Stelle im Haupttext, wo von einem Schein die Rede ist, »der den philosophirenden gemeinen Menschenverstand äfft, und zwingt, immer nach dem An sich zu laufen, indem es ihm immer entgeht, wenn er eben darnach greifen will« (Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357). Darmit greift Schelling das Theoriestück des transzendentalen Scheins auf (vgl. KrV, AA 4, 188–191, 214 f.) und stellt zugleich eine Beziehung zum Schein her, wovon bei Fichte die Rede ist (vgl. GA I,2, 414). Vgl. zum »Bestreben der Reflexion, das Absolute, als Absolutes, gleichwohl als Objectives zu fixiren« auch Schelling 1802b, 40 / SW IV, 365. 142 Schelling 1804, 6 / SW VI, 19. 143 Schelling 1804, 5 f. / SW VI, 19 ist zweimal von Sehnsucht bzw. sehnsuchtslos die Rede. 140 141

135 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

hat, und kann sich dessen sicher sein, es zu finden. 144 Im Zustand der Zerrissenheit wird nicht nur das Absolute verfehlt, sondern demjenigen, der sich in diesem Zustand befindet, mangelt es auch an Selbsterkenntnis, die in jenem Glückszustand mehr geahnt als wirklich erlangt wird. Die Erkenntnis des Absoluten, die der Philosoph besitzt, ist hingegen zugleich Selbsterkenntnis. Deshalb sagt Schelling auch, dass man diese Idee nicht haben kann, ohne dass zugleich »das Wesen als das An-sich der Seele selbst ein[tritt]«, oder dass die intellektuelle Anschauung »eine Erkenntniss ist, die das An-sich der Seele selbst ausmacht«. 145 Nach Eschenmayers Deutung ist jene Glückserfahrung vielmehr die Erfahrung einer Transzendenz oder eine Offenbarung Gottes. Vgl. Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Zur Sehnsucht siehe Wieland 1956, 63: »In der Struktur der Sehnsucht selbst liegt daher schon der Grund ihres Scheiterns«. Übrigens lässt sich an diesem Fall exemplarisch demonstrieren, wie sich ein Konzept bei Schelling bildet, entwickelt und wieder verschwindet. Die allgemeine Struktur der Sehnsucht hat Schelling spätestens 1802 aufgedeckt bzw. von Kant und Fichte übernommen (vgl. Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357). Hinsichtlich des Ausdrucks, der diese Struktur bezeichnen soll, hat er sich damals noch nicht festgelegt. Wenn zwar bereits 1802 (vgl. Schelling 1802f, 25 / SW V, 124) und 1804 (vgl. Schelling 1804, 5 f. / SW VI, 19) von Sehnsucht die Rede ist, so scheint Schelling sich noch 1805 nicht auf einen einzigen Ausdruck festlegen zu wollen, sondern verwendet ›Sehnsucht‹, ›Andacht‹, ›Gefühl‹ und ›Glaube‹ als weitgehend gleichbedeutend. Alle diese Ausdrücke bezeichnen dieselbe Struktur der Zerrissenheit oder des Zwiespalts von Subjektivität und Objektivität, in welcher die Identität nur im Modus ihrer Verneinung oder Abwesenheit erfahren wird (vgl. Schelling 1805a, XIV / SW VII, 135 f.). In der Zeit von 1804 bis 1806 scheint Schelling ›Glaube‹ und ›Ahnung‹ zu bevorzugen (vgl. SW VI, 152, 558 f.; Schelling 1805b, 17 f. / SW VII, 150; Schelling 1807b, 287 / SW VII, 248). Erst in der Freiheitsschrift entscheidet er sich für die ›Sehnsucht‹ (vgl. Schelling 1809a, 431–435 / SW VII, 358–362). Wenn auch dieser Ausdruck erst 1809 eine prominente Rolle erhält, so verfügt Schelling doch seit längerem über den entsprechenden Begriff. Den Ausdruck behält er bis ungefähr 1815 bei (vgl. Schelling 1815, 11 f., 14 f., 53–55, 57, 60–63 / SW VIII, 352, 354, 377 f., 379, 382–384; SW VIII, 200, 233, 239–241, 297); nachher kommt er nur noch sporadisch vor – was jedoch nicht bedeutet, dass auch der entsprechende Begriff verschwindet. In Clara kommt der Ausdruck übrigens nur sehr selten und kaum in einer signifikanten Verwendung vor (dies würde für eine Datierung vor der Freiheitsschrift oder den Weltaltern sprechen); stattdessen ist prononzierter von ›Gefühl‹ die Rede. Die spätere Bevorzugung von ›Sehnsucht‹ wäre so zu deuten, dass diese die allgemeinste Struktur alles Gefühls deutlicher hervorstreicht. Schließlich ist zu bemerken, dass dort, wo das Gefühl oder die Sehnsucht als »Mutter der Erkenntniss« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 433 / SW VII, 360), im Hintergrund die Frage nach der Bedeutung des φιλεῖν und der φιλία in der Philosophie mitschwingt. Beachte auch GuW, TWA 2, 387, 389, 390. 145 Schelling 1804, 11, 23 / SW VI, 23, 31. 144

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Anschauung und Glaube

Deshalb bemerkt er, dass die intellektuelle Anschauung in Gewissen übergeht. 146 Im Übergang zur höheren Potenz (derjenigen des Glaubens) zeigt sich die intellektuelle Anschauung als Gewissen oder Gewissenhaftigkeit, in welcher sich die Stimme einer höheren Instanz bekundet, die über unsere Handlungen und Gedanken urteilt. Für das Gewissen werden alle theoretischen Überzeugungen gleichgültig, da es dabei nur auf die Richtigkeit des Handelns bzw. die Aufrichtigkeit der Gesinnung ankommt. Am Gewissen hat jeder ein Kriterium, das ihm erlaubt, die wahre von der falschen Religion zu unterscheiden. Die Position Eschenmayers scheint demnach in erster Linie durch eine praktische Absicht geleitet zu sein. 147 Schelling hebt mehrmals die Absicht hervor, die Eschenmayer mit seinem Unternehmen verfolgt. 148 Auf diese Absicht bezogen sind seine Stellungnahmen durchaus konsequent, da sie sich folgerichtig aus derselben ergeben. Damit sind sie aber von einer praktischen Absicht abhängig gemacht. So hat auch die Behauptung der Transzendenz Gottes in erster Linie eine praktische Absicht, nämlich als die Voraussetzung, die ein tugendhaftes Handeln erst möglich oder wenigstens sinnvoll macht. Sie dient nämlich dazu, auch andere Gegenstände – besonders die Tugend, die Freiheit des Willens und die Unsterblichkeit der Seele – der Jurisdiktion der Philosophie definitiv zu entziehen. Auf diese Weise soll die Nichtphilosophie ein gegen die Philosophie gerichtetes kritisches Potential entfalten. Alle Behauptungen, die über jene Gegenstände aufgestellt werden, können höchstens noch als symbolische Ausdrücke gelten. Ferner sind solche BehaupVgl. Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 35 (§ 44), 38 (§ 48), 40 f. (§ 49). Diese Absicht ist auch bei Karl Jaspers offensichtlich. Die »Existenzerhellung, die uns erweckt zu uns selbst«, stellt er der »Gnosis, die uns betäubt mit Visionen eines Scheinwissens«, »die ein gegenständliches Erkennen des Übersinnlichen […] behauptet und dieses Wissen als das Heil der Seele erfährt«, entgegen. Folgende Stelle dürfte die Grundhaltung, aus welcher eine solche Kritik erwächst, am prägnantesten zum Ausdruck bringen: Jaspers beabsichtigt eine »Herabsetzung aller Objektivitäten, die selber Gott zu sein beanspruchen, zu Chiffern. Damit wird bewahrt, was über und vor allen Chiffern ist [d. h. Gott als höher als das Absolute, R. S.]. Daß Schelling sein Gottdenken nicht als Sprache in Chiffern meint, sondern als Gotteserkenntnis, muß gegen diese Chiffern die Empörung wecken, die aus dem Gottesgedanken selber kommt. Schelling tastet das Unantastbare an«. Jaspers schließt: »Das ist in Schellings Gedankenwelt etwas radikal zu Bekämpfendes, nicht aus irgendeiner Erkenntnis, sondern aus dem Bewußtsein der Transzendenz, die solche Chiffern verwehrt« (Jaspers 1955, 9, 130, 216 f.; Herv. v. Verf.). 148 Vgl. Schelling 1804, III f., 4, 8 / SW VI, 13, 18, 21. 146 147

137 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

2. Kapitel. Glaube und Anschauung

tungen auch insofern gleichgültig, als sie nach Eschenmayer keinen wirklichen Einfluss auf das Handeln haben können: So hat nach seiner Einschätzung z. B. die theoretische Leugnung der Existenz Gottes keine Folgen für das Handeln des Atheisten, sondern dieser handelt weiterhin so, als ob es einen Gott gebe. 149 Welcher Ansicht der Sittlichkeit und des tugendhaften Handelns eine solche Idee Gottes angemessen ist und durch welche sie gefordert wird, werden wir erst im vierten Kapitel untersuchen können. Wie wir gesehen haben, waren die Ergebnisse von Schellings bisheriger Auseinandersetzung nämlich bloß negativ. Dadurch wurde nur die Aufgabe präzisiert oder richtiggestellt, aber noch nicht gezeigt, wie sein Programm einzulösen sei. Der Lösung dieser Aufgabe dient der zweite Abschnitt von Philosophie und Religion, der Gegenstand des nächsten Kapitels ist. Bereits jetzt ist allerdings zu vermuten, dass die Zurückweisung einer auf dem Glauben basierenden Idee Gottes auch für die Sittlichkeit weitreichende Folgen haben wird. 150

Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49). Vgl. auch die von Schelling zitierte Äußerung Rückerts: »Ich glaube an einen Gott heißt: ich thue, als wäre ein Gott«. Schelling fügt hinzu: »– welches denn philosophisch betrachtet die allerschlechteste und niederträchtigste Sorte von Atheismus ist« (Schelling 1802e, 88 / SW V, 88). Die Stelle findet sich in: Rückert 1801, 51. Die Hervorhebung stammt von Schelling. 150 Vgl. als Ergänzung zu diesem Kapitel Scheerlinck 2016b. 149

138 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Nachdem ich im zweiten Kapitel Schellings negative Vorgehensweise umrissen habe, gehe ich in diesem Kapitel zum positiven oder im eigentlichen Sinne konstruktiven Verfahren über. Die Absicht des negativen Verfahrens bestand darin, durch eine Abhebung vom Nicht-Absoluten extrinsische Eigenschaften herauszuarbeiten, deren man sich bei der Konstruktion als einer Norm bedienen kann. Die Konstruktion kann nur dann als gelungen angesehen werden, wenn sie dadurch zur Einsicht in den Grund jener negativen Eigenschaften führt, dass sie die innere Verfassung oder Artikulation der Idee des Absoluten aufdeckt. Nur indem man die Idee des Absoluten als eine Mannigfaltigkeit versteht, die sich in drei unterschiedliche ›Dimensionen‹ auseinanderlegen lässt, die erst zusammengenommen einen vollständigen und positiven Begriff des Absoluten ausmachen, ist der durch das negative Verfahren formulierten Anforderung Genüge getan. Besonderes Gewicht fällt dabei auf die Verfassung des dritten Moments, das Schelling als das Reale bezeichnet, da in derselben die Möglichkeit eines ›Abfalls‹ eingeschrieben ist. Da Schelling die Frage nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniss zu ihm‹ in Philosophie und Religion am Leitfaden des Begriffs des ›Abfalls‹ entfaltet, werde ich in diesem Kapitel insbesondere diesen Begriff in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Plastizität zu entwickeln versuchen. Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff des ›Abfalls‹ zunächst nur eine formelle Anforderung bezeichnet. Das Verhältnis von negativem und positivem Verfahren, wie wir es bereits in der Erörterung der Idee des Absoluten festgestellt hatten, kehrt hier im Zusammenhang der Frage nach der Endlichkeit wieder. Zu dieser Anforderung führt Schelling zudem auf einem doppelten Weg: Zum einen indem er die unlösbaren Schwierigkeiten herausstreicht, mit welchen sich jeder Ansatz konfrontiert sieht, der sich über diese Anforderung hinwegsetzen zu können meint, zum anderen durch eine immanente Entwicklung seines eigenen Systemprin139 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

3. Kapitel. Absolutes und Abfall

zips. Ferner ist insbesondere Schellings Unterscheidung zweier Fragen, nämlich der nach der Entstehung potentieller und der nach der Entstehung wirklicher Differenzen, durchgängig im Auge zu behalten, wenn auch nur, weil bereits Eschenmayers Bedenken, Schelling vermöge die Endlichkeit nicht zu erklären, sich auf die Verwischung dieser Unterscheidung stützt. Der Anforderung, das Endliche als einen Abfall vom Absoluten zu denken, meint Schelling dadurch entsprechen zu können, dass er auf die fichtesche Lehre der Ichheit als einer Tat-Handlung zurückgreift und, sie verwandelnd, in sein System integriert. Dieses Theoriestück, das bei Schelling die Gestalt einer Lehre von der Seele annimmt, ist somit als Schellings Lösung der gestellten Aufgabe anzusehen. Anschließend werde ich zeigen, wie Schelling diese Lehre in ihren wesentlichen Umrissen bereits im Bruno entfaltet hatte. Der Begriff eines ›Abfalls‹ ist somit, selbst wenn der Ausdruck im Bruno nicht vorkommt, integraler Bestandteil der Ansicht, die Schelling in diesem Gespräch dargestellt hatte, und keineswegs eine Neuerung der Schrift von 1804. Im Laufe dieser Erörterung werde ich die subjekt-objektive Verfassung der Seele oder ihre Bestimmung als eine Tat-Handlung, den ihr innewohnenden strebsamen Charakter sowie das Auseinandertreten von Möglichkeit und Wirklichkeit an allem wirklich Existierendem als die drei konstitutiven Züge von Schellings Begriff der Seele herausarbeiten. Indem diese drei Strukturmerkmale sich ebenfalls an dem Begriff des Willens, der in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit in den Vordergrund tritt und den Begriff der Seele zu verdrängen scheint, nachweisen lassen, zeigt sich auch hier, wie Schelling im Gewand einer anderen Terminologie dieselben Begriffe entwickelt. Eine aufmerksame Beachtung der sich durch solche terminologischen Verschiebungen durchhaltenden Strukturähnlichkeiten dürfte die von Schelling behauptete Kontinuität zwischen Philosophie und Religion und der Freiheitsschrift als weniger unwahrscheinlich erscheinen lassen als bislang angenommen. Es ist noch zu bemerken, dass Schelling mit der Lehre von der Seele allerdings insofern noch keinen vollständigen Begriff des Abfalls geliefert hat, als sie auf alles endliche Seiende anwendbar ist. Das Spezifische der höchsten Potenz kann erst im nächsten Kapitel entwickelt werden.

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Die Präambel

1. Die Präambel Nach den elenktischen oder negativen Überlegungen im ersten Abschnitt geht Schelling im zweiten Abschnitt dazu über, zu zeigen, welcher positive Gebrauch von den auf jene Weise gewonnenen Elementen zu machen sei. Auch hier orientiert er sich in der Darstellung, besonders am Anfang, an den Bedenken Eschenmayers. Bereits die Überschrift fasst Eschenmayers »Haupteinwurf« 1 als die Frage nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniss zu ihm‹ zusammen. Der zweite Abschnitt zeichnet sich dadurch vor den anderen aus, dass er von einer Art Präambel eingeleitet wird, die vom Hauptteil durch einen Strich getrennt ist. Der Überschrift fügt Schelling sogleich mittels eines Platon-Zitats eine Reflexion über die Art der durch ihn angedeuteten Frage an. 2 DaEschenmayer 1803, 65 (§ 72). Schelling zitiert eine Stelle aus dem Zweiten Brief Platons. Die Stelle wird von Jacobi in der ersten Auflage seiner Briefe Ueber die Lehre des Spinoza nach dem Vorbericht als Motto dem Haupttext vorangestellt (vgl. Jacobi 1785, 6); allerdings fängt das Zitat Jacobis früher an und bricht früher ab. Eine erste deutsche Übersetzung der Briefe war von J. G. Schlosser 1795 vorgelegt worden. Diese Übersetzung veranlasste Kant zu seinem im Mai 1796 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 8, 387–406), auf welchen Schelling im Vorbericht anspielt. – Dass die Echtheit der platonischen Briefe seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr unumstritten war, hatte Schelling bei Wilhelm Gottlieb Tennemann lesen können, der für die Echtheit eintritt (vgl. Tennemann 1791, 17–29; Tennemann 1792, 106–111). Dieterich Tiedemann hingegen hielt wenigstens den Zweiten Brief für offensichtlich unecht (vgl. Tiedemann 1791, 119 f.). Für instruktive Einzelheiten zur Echtheitsfrage, vgl. Steinhart 1866, 279–291; Harward 1932, 164–175; Souilhé 1949, V–XVI, LXXV–LXXXII. Die Echtheitsfrage dürfte nicht ganz ohne Bedeutung sein, insofern Schelling gerade in Philosophie und Religion, und zwar nachdem er kurz zuvor wieder an den Zweiten Brief erinnert hatte, die Unechtheit des Timaios wenigstens suggeriert (vgl. Schelling 1804, 31 f. / SW VI, 36). In einem Brief an K. J. H. Windischmann vom 1. Februar 1804 heißt es noch entschiedener: »Aber was werden Sie denn sagen, wenn ich behaupte, daß der Timäos kein Werk des Plato ist? – Es raubt ihm nichts von seinem wahren Werth, wenn er diesen Namen nicht trägt, aber wir erlangen durch jene Kenntniß doch einen ganz neuen Gesichtspunkt der Beurtheilung, und ein neues Document für die Einsicht in den Unterschied des Antiken und Modernen. Ich möchte fast unerachtet der Citation des Platonischen Timäos durch Aristoteles und andere Schriftsteller ihn sogar für ein ganz spätes, christliches Werk erklären, das den Verlust des ächten ersetzen sollte, wenn es ihn nicht veranlaßt hat« (F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 1. Februar 1804, Plitt II, 8 f.). Interessanterweise behandelt Tennemann den Timaios, insbesondere das Verhältnis zum Timaeus Locrus, ausführlichst bevor er auf die Echtheit der Briefe eingeht (vgl. Tennemann 1792, 93–106).

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

durch scheint Schelling die Gesprächssituation zwischen Platon und Dionysios als vordergründigem Adressaten des Platon-Briefes auf die Situation zwischen ihm selbst und Eschenmayer übertragen zu wollen. Jedenfalls hatte Dionysios Platon genau diejenige Frage gestellt, die Eschenmayer als seinen ›Haupteinwurf‹ formuliert, nämlich »was der Grund sey alles Uebels?« 3 Weder in der zitierten Stelle noch im restlichen Brief gibt Platon allerdings auch nur ansatzweise eine Antwort auf diese Frage, sondern begnügt sich stattdessen damit, auf die Art der Frage selbst wie über die Natur des Fragenden zu reflektieren, indem er bemerkt, dass »der Stachel derselben der Seele eingebohren [ist], so dass wer ihn nicht ausreisst, niemals der Wahrheit wahrhaft theilhaftig werden möchte«. 4 Obwohl er in keiner seiner Schriften die genannte Frage derart ausführlich und deutlich berührt hat, dass wenigstens Dionysios die Lösung dort hätte finden können, erklärt Platon, dass er auf dieselbe »viele Nachforschungen« verwendet und sich »viele Bemühung um diese Sache gegeben« habe und bekräftigt dadurch abermals die entscheidende Bedeutung, die er selbst dieser Frage zuerkennt. 5 Statt seine Antwort in diesem Brief mitzuteilen, fügt er einige Andeutungen über die Art hinzu, wie Dionysios die Frage verstanden haben möchte. Dieser hätte diese Frage nämlich für seine eigenste Einsicht und »Erfindung« gehalten. 6 Diesen Anspruch scheint Platon mit seiner eigenen Behauptung, dass ›der Stachel‹ jener Frage ›der Seele eingebohren‹ ist, zurückweisen zu wollen. Wäre sie in der Tat nur die ›Erfindung‹ eines Einzelnen, dann hätten sich damit die ›vielen Nachforschungen‹, die Platon ihr gewidmet hat, als überflüssig erwiesen. Schließlich kontrastiert Platon seine eigenen ›Nachforschungen‹ und seine ›Bemühung um diese Sache‹ mit der Art, wie Dionysios zu jener Frage gelangte, indem er suggeriert, dass dieser sie nur vom Hörensagen hat oder »durch göttliche Schickung dazu gelangt« ist. 7 Während Schelling die Echtheit des Timaios »wegen seiner Annäherung an moderne Begriffe« in Zweifel zieht, knüpft er durch die Erwähnung des Ersten, Zweiten und Dritten an genau diejenige folgenschwere Stelle des Zweiten Briefes an (vgl. Platon, Zweiter Brief, 312d–e), die ihm in der Geschichte des Platonismus deshalb eine besondere Stelle sicherte, weil man darin eine Antizipation der Idee der Dreieinigkeit gesehen habe (vgl. Schelling 1804, 22, 32, 45, 47 / SW VI, 30, 36, 45, 46). 3 Schelling 1804, 18 / SW VI, 28. 4 Schelling 1804, 18 f. / SW VI, 28; vgl. Schelling 1804, 31 / SW VI, 36. 5 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28. 6 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28. 7 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.

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Die Präambel

Schelling scheint sich der Platon-Stelle dazu zu bedienen, um darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur sein eigenes System, sondern jede philosophische Ansicht über die Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und nach dem Bösen als ein dem Menschen mögliches Verhältnis zu demselben Aufschluss zu bieten hat. 8 Demnach »scheint es eben nicht billig, die ganze Last dieser Schwierigkeit nur auf Ein System zu werfen«. 9 Es handelt sich denn auch nicht um eine solche Frage, die von außen an sein System herangetragen zu werden brauchte, als ob Schelling diese sonst leicht hätte übersehen können. Vielmehr führt das philosophische Nachdenken, indem es seiner eigenen Bewegung folgt, wie von selbst auf jene Frage. 10 So lässt Schelling auch im Bruno die Figur des Lucian an Bruno jene Frage stellen, worauf dieser antwortet, dass jener »mit Recht forder[t] […], daß ich hiervon rede. Denn du zwar, indem du die absolute Einheit ursprünglich schon in der Beziehung auf die relative Einheit des Wissens erkannt wissen willst, entgehst jener Frage«. 11 Nach Bruno hat Lucian demnach einen Standpunkt eingenommen, der es ihm erlaubt, jener Frage auszuweichen, da er die Endlichkeit bereits voraussetzt. Erst vom Standpunkt, zu welchem Bruno Lucian hingeführt hat, gewinnt die Frage nach der Abkunft des Endlichen ihre eigentliche Urgenz. Im zweiten Absatz der Präambel zitiert Schelling selbst jene Stelle des Bruno, um Eschenmayer zu verstehen zu geben, dass jene Frage nichts weniger als dessen eigene Vgl. Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.; Schelling 1804, 30–33 / SW VI, 35–38. Schelling 1809a, 426 f. / SW VII, 356. 10 Ähnlich erinnert er Friedrich Schlegel, der gegen Schelling eingewendet hatte, sein System vermöge die Frage nach dem Bösen nicht zu lösen, daran, dass dieses Problem »nicht bloss dieses oder jenes System, sondern, mehr oder weniger, alle trifft«. Deshalb ist mit einem solchen Einwand nicht viel gewonnen, wenn man nicht »seine eigne Ansicht vom Ursprung des Bösen und seinem Verhältniss zum Guten« mitteilt (Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.). Eschenmayer ist zugute zu halten, wenigstens versucht zu haben, eine eigene Ansicht von der Abkunft der Endlichkeit zu entwickeln. 11 Schelling 1802a, 81 / SW IV, 257; Herv. v. Verf. Die ganze Stelle wird zitiert in: Eschenmayer 1803, 68 f. (§ 72). – Das Recht der Frage nach der Endlichkeit erkennt Schelling auch dadurch an, dass er bemerkt, dass gerade diese Frage einen Zweifel an der Gültigkeit des Prinzips aufkommen lässt. Dieses wird sich nur insofern bewähren, als es gelingt, diesen Zweifel zu beheben (vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29). Damit ist zugegeben, dass die Endlichkeit das wichtigste Argument gegen die Gültigkeit jenes Prinzips zu sein scheint, weil es einen Zweifel an demselben entstehen lässt. Wäre das System außerstande, diese Frage zu lösen, dann wäre das Prinzip damit widerlegt. Damit gewinnt diese Frage für dieses System eine ganz besondere Urgenz. 8 9

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

›Erfindung‹ ist. Zugleich deutet er an, an welcher Stelle er selbst im Bruno die Auflösung jener Frage wenigstens »für den Kenner klar und bestimmt genug niedergelegt« hat. 12 Auch die zum Schluss des ganzen Abschnitts zitierten Stellen suchen den Leser davon zu überzeugen, dass die Frage nach der Endlichkeit Schelling so wenig hat überraschen können, dass er sie ›für den Kenner‹ wenigstens bereits längst beantwortet hat. Das heißt allerdings auch, dass Schelling den Begriff des Abfalls, durch welchen er jene Frage zu lösen sucht, nicht für die eigentliche Neuigkeit von Philosophie und Religion hält. Die einzige Neuigkeit, die er für Philosophie und Religion reklamiert, liegt bloß darin, die Darstellung seines Systems zum Gebiet der praktischen Philosophie fortzuführen, da die Frage nach der Endlichkeit erst und nur in diesem Bereich ihre vollständige Auflösung finden kann. 13 Der Hinweis macht zudem klar, dass Schelling mit dieser Schrift keine vollständige Darstellung seines Systems zu geben beabsichtigt, sondern nur so viel erörtern wird, als für die Beantwortung der Leitfrage unbedingt erforderlich ist. Deshalb hebt die Überschrift nur die Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge und ihr Verhältnis zum Absoluten hervor, obwohl in diesem zweiten Abschnitt ebenfalls ausführlichst von der Idee des Absoluten gehandelt wird. 14 Aus der Leitfrage ergibt sich jedenfalls bereits eine ganz andere Gewichtung als in früheren Darstellungen, die zur Lösung einer ganz anderen Frage gedacht waren und in welchen die jetzt in den Vordergrund gerückte Frage entweder ausgeblendet und für später ausgespart 15 oder nur versteckt behandelt wurde. 16 Die Herstellung der Parallele zwischen Dionysios und Eschenmayer erinnert den Leser zudem abermals an den Charakter des vorSchelling 1804, 19 / SW VI, 28. Vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. 14 Vgl. Schelling 1804, 20–30 / SW VI, 29–35. 15 Vgl. AA I,10, 130 (§ 30 Erl.). Vgl. Korsch 1980, 109: »Die ›Darstellung‹ läßt hier mit Bewußtsein eine Lücke offen«. 16 Dass es Schelling nicht zuwider war, solche wichtigen Theoriestücke zu verstecken, geht aus einer beiläufigen Bemerkung während einer früheren Auseinandersetzung mit Eschenmayer hervor. Dort heißt es, dass die »idealistische« »Ansicht«, »anstatt, wie sich gebührte, in den Anfang des Werks gezogen zu werden, in die Mitte desselben versteckt, und ohne Zweifel absichtlich dahin verbannt ist« (AA I,10, 86). So wird in den Ferneren Darstellungen die Frage nach den endlichen Dingen immer wieder berührt, aber nur in der Gestalt von vorgreifenden Folgerungen, die an bestimmten Stellen des Argumentationsgangs eingeschaltet werden (vgl. Schelling 1802b, 4 f., 42 f., 58, 70 f. / SW IV, 341, 367, 378, 386 f.; Schelling 1803c, 8–12 / SW IV, 395–397). 12 13

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Die Präambel

dergründigen Adressaten der ganzen Schrift. Platon sah sich nämlich nicht dazu genötigt, Dionysios seine Lösung jener Frage mitzuteilen, da er Zweifel daran hegte, ob dieser sich aufgrund seiner Natur überhaupt dazu eignete, sich mit solchen Fragen zu befassen. Der Zweite Brief als Ganzes ist nämlich eine eingehende Reflexion über die Frage nach der Mitteilung philosophischer Lehren. Obwohl der Brief sich naturgemäß nur an eine einzelne Person richtet, so erinnert Platon daran, dass er dennoch als Schriftstück von allen gelesen werden kann und durch Zufall auch solchen in die Hände fallen kann, für die er nicht geschrieben war. Dadurch rechtfertigt er seinen Gebrauch rätselhafter Ausdrücke und Formulierungen. Zugleich vermag er dadurch zu rechtfertigen, weshalb er Dionysios die Antwort auf die Frage nach dem Übel vorenthält, ohne ihm den eigentlichen Grund mitteilen zu müssen. 17 Obwohl Dionysios somit der vordergründige Adressat des Briefes ist, so ist er dadurch allein doch noch nicht der eigentliche Adressat. Obwohl an einen einzigen geschrieben, so nimmt der ganze Brief doch durchgängig auf andere mögliche Leser unterschiedlichster Natur Rücksicht. Gerade durch die Kunst des Schreibens vermag Platon, seine Leser zu sondern und dafür zu sorgen, dass nur die eigentlichen Adressaten seine eigentliche Lehre vernehmen. Auf diese Weise vermag er den Zufall zu beherrschen, der den Brief jedem, der lesen kann, zugänglich zu machen scheinen könnte (312d). 18 Schließlich gilt es zu bemerken, dass der vordergründige Adressat des Zweiten Briefes, wie Platon deutlich genug zu erkennen gibt, nicht nur ein Nicht-Philosoph, sondern zugleich auch ein Tyrann ist, der sich deshalb mit der Philosophie zu verbinden sucht, da er wenigstens eingesehen hat, dass ein Herrscher, um sich Ansehen zu verschaffen, wenigstens den Eindruck zu erwecken suchen muss, zu etwas hinaufzublicken, das er höher achtet als sich selbst. Dadurch scheint bereits hier eine politische Rücksicht von Philosophie und Religion auf, die jedoch erst im »Anhang« explizit wird. Beachtet man den Hinweis, den Schelling mittels des Platon-Zitats hier ›niedergelegt‹ hat, dann dürfte die plötzliche Erwähnung des Staats sowie die direkte Anrede namenlos gelassener Adressaten im »Anhang« weniger überraschen, als dies sonst vielleicht der Fall wäre.

Vgl. Platon, Siebter Brief, 330a–b, 338d–e, 345a. Damit gibt Schelling abermals zu erkennen, dass er Eschenmayer eben nicht für »[son] lecteur [le] plus attentif« hält (Tilliette 1992, 479).

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2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten Im zweiten Abschnitt greift Schelling auf die Ergebnisse des ersten Abschnitts zurück. Wenn diese zwar insofern negativ blieben, als sie lediglich auf extrinsische Eigenschaften des Absoluten führten, die durch eine Negation der Eigenschaften von Nicht-Absolutem gewonnen wurden, so stellte dieses negative Verfahren doch eine Norm bereit, die einer positiven Konstruktion zum Leitfaden dienen kann. Indem diese dazu befähigt, solche Behauptungen zurückzuweisen, die ihr widersprechen, erlaubt sie es, das Absolute sozusagen von außen her einzugrenzen oder zu umschreiben. Jene Bestimmungen des Absoluten waren dreierlei: Das Absolute war zuerst zu bestimmen als weder subjektiv noch objektiv, sodann als das gleiche Wesen des Subjektiven und Objektiven, schließlich als die absolute Identität beider. Das Subjektive und das Objektive waren danach als zwei Präsentationsweisen des Absoluten aufzufassen, während das Wesen hingegen so zu denken war, dass es nur dadurch ist, was es ist, dass es sich notwendigerweise auf zweierlei Weisen präsentieren kann. Diesen drei Bestimmungen voraus liegt die Absolutheit als die einzige Bestimmung, die sich vom Absoluten aussagen lässt. 19 Der Beweisgang im ersten Abschnitt diente dem Nachweis, dass es sich hierbei um ein einzigartiges Prädikat handelt. Dieses kann nun in einem weiteren Beweisgang zum Ausgangspunkt einer näheren Bestimmung des Absoluten verwendet werden. Dieser zielt darauf ab, die innere Artikulation des Absoluten aufzudecken. Die Konstruktion der inneren Artikulation der Idee des Absoluten muss zugleich den Grund der negativen Bestimmungen einsichtig machen: Aus ihr soll ersichtlich werden, weshalb das Absolute notwendig auf jene negative Weise beschrieben werden muss. Eine positive Bestimmung, die uns Einsicht in das Wesen des Absoluten verschafft, so wie es an sich und nicht Dieser Gedanke, dass die Absolutheit das einzige Prädikat ist, das sich vom Absoluten aussagen lässt, ist eine Konstante (vgl. Schelling 1802b, 58 / SW IV, 378; SW IV, 391; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; SW VI, 143, 496). Es ist demnach zu unterscheiden zwischen der absoluten Identität ohne alle weitere Bestimmung und der absoluten Identität, insofern sie als Identität des Idealen und Realen, des Subjektivem und Objektivem weiter bestimmt werden kann. Vom Wesen des Absoluten kann nur die Identität ohne alle weitere Bestimmung ausgesagt werden. Erst in einem weiteren Moment oder erst in ihrer Darstellung (was Schelling als das Sein oder das Reale, als das dritte Moment der Idee des Absoluten bezeichnet) kann die Identität als eine solche des Idealen und Realen weiter bestimmt werden.

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Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

bloß im Vergleich ist, erfordert allerdings eine andere Zugangsweise als die bloße Beschreibung. 20 Als eine solche gilt die intellektuelle Anschauung. Während die Argumentation im ersten Abschnitt somit ohne Rekurs auf die intellektuelle Anschauung auskam, setzt Schelling sie im zweiten Abschnitt durchgängig voraus. Deshalb wird sie, außer in den einleitenden Absätzen, nachher auch nicht mehr erwähnt. Gleich zu Beginn erinnert Schelling daran, dass er für die weiteren Überlegungen weiter nichts voraussetzt als die »reine Absolutheit, ohne alle weitere Bestimmung«. 21 An dieser Stelle ist auf eine betonte Weise von einer Voraussetzung die Rede: Wir setzen vorerst überall nichts voraus, als das Eine, ohne welches alles Folgende unbegriffen bleiben muss, die intellectuelle Anschauung. Wir setzen so gewiss als in ihr selbst keine Verschiedenheit und keine Mannichfaltigkeit seyn kann, so gewiss voraus, dass jeder, soll er das in ihr Erkannte aussprechen, es nur als reine Absolutheit, ohne alle weitere Bestimmung, aussprechen könne. 22

Aus unserem zweiten Kapitel dürfte hinlänglich klar geworden sein, dass dies eine argumentative Rechtfertigung nicht ausschließt, da Schelling eine solche im ersten Abschnitt eben versucht hatte. 23 Die dort angestellten Überlegungen sind demnach aus gutem Grund von den jetzt durchzuführenden abgetrennt. Die Beweisführung, dass die Absolutheit das einzige Prädikat sei, das sich vom Absoluten aussagen lässt, und dass dieses Prädikat sich nur von einem Einzigen aussagen lässt, kann nämlich nur negativ, d. h. in der Auseinandersetzung mit Alternativen geschehen, und zwar durch den Nachweis, dass diese sämtlich auf Widersprüche hinauslaufen, die sich nur durch die genannte Voraussetzung vermeiden lassen. Dieses Ergebnis soll nun für die Konstruktion der inneren Artikulation des Absoluten fruchtbar gemacht werden. Diese wird hier allerdings nicht in ihrer ganzen Vollständigkeit durchgeführt, da Schelling diese Aufgabe, weFür den Unterschied zwischen einer Bestimmung des Absoluten im Vergleich mit Anderem (im Verhältnis zum nichtabsoluten Erkennen) und einer Bestimmung des Absoluten ›an sich selbst‹, also eine ›immanente‹ Bestimmung desselben, vgl. Holz 1970, 41 f., 43. 21 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29. 22 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; Herv. v. Verf. 23 Ganz analog verfährt Schelling in den Ferneren Darstellungen: In § II werden die negative Bestimmungen gewonnen, in § III soll dann die innere Artikulation dieser Idee konstruiert werden. 20

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

nigstens was die reelle Reihe anbelangt, andernorts bereits durchgeführt hatte, sondern sie soll hier nur insoweit wiederholt werden, als dies für die Beantwortung der Leitfrage nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten‹ erforderlich ist. 24 Wer sich an einer umfassenden Erörterung der Frage nach der Entstehung der potentiellen Differenzen aus der Absolutheit interessiert, wird auf die anderen Schriften Schellings verwiesen. 25 Ausgangspunkt bildet die Behauptung, dass von dem Wesen, auf welches sich die intellektuelle Anschauung bezieht, nicht mehr ausgesagt werden kann als die Absolutheit. Daraus schließt Schelling, dass dem Wesen »kein Seyn zukommen [kann], als das durch seinen Begriff«, da es sonst »durch etwas anders ausser sich bestimmt seyn [müsste]«. 26 Ihm kann nur ein solches Sein zukommen, das der Absolutheit völlig angemessen ist und somit gleich absolut wie das Wesen ist. Im Unterschied zu allem sonstigen Seienden, zu dessen vollständiger Bestimmung wir deshalb immer auch auf Erfahrung angewiesen sind, da nur diese uns über die Verhältnisse, in welchen es steht, unterrichten kann, ist das Wesen des Absoluten durch den Begriff oder durch das Denken vollständig bestimmbar. Zur durchgängigen Bestimmung eines Nicht-Absoluten muss somit »zu dem Begriff noch etwas nicht durch selbigen Bestimmtes hinzukommen«, »wodurch erst das Seyn gesetzt wird«. 27 Es gilt zu beachten, dass ›Seyn‹ hier nicht das wirkliche Vorkommen von irgendetwas meint, sondern den Inbegriff aller Eigenschaften oder Bestimmungen, die Vgl. auch: »Wir können noch nicht sogleich zur eigentlichen Beantwortung jener Frage gehen: noch stellen sich uns andre Zweifel in den Weg, deren Auflösung jener vorangehen muss« (Schelling 1804, 20 / SW VI, 29; Herv. v. Verf.). Ferner der Hinweis auf zwei ganz verschiedene Fragen, die »nach der Möglichkeit des Selbsterkennens der Absolutheit« und die »nach Entstehung der wirklichen Differenzen aus ihr«, wobei die Auflösung der ersteren derjenigen der zweiten vorangehen muss (Schelling 1804, 25 / SW VI, 32). 25 Ähnlich geht Schelling in der Freiheitsschrift vor. Auch dort wird von der Potenzenkonstruktion nur so viel entwickelt, als für die Lösung der zentralen Fragen jener Schrift (das Wesen der menschlichen Freiheit, das Böse, die Persönlichkeit) unbedingt erforderlich ist. Selbst für die Rechtfertigung der Unterscheidung, »auf welche die gegenwärtige Untersuchung sich gründet«, begnügt Schelling sich mit einem Hinweis auf die Darstellung meines Systems (Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357). Jene grundlegende Unterscheidung wird in der Freiheitsschrift selbst also nicht begründet, sondern bloß erläutert. Zudem wird sie auf eine solche Weise erläutert, dass fast nur das eine Glied derselben (sc. der Grund von Existenz) erläutert wird. 26 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29 f.; vgl. Schelling 1802b, 43 / SW IV, 367 f. 27 Schelling 1804, 9 / SW VI, 22. 24

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Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

ein Ding zu dem machen, was es ist, und durch welche es auch erst sich zu erkennen gibt. Als ›Wesen‹ bezeichnet Schelling hingegen dasjenige, wovon etwas ausgesagt wird oder dem gewisse Bestimmungen beigelegt werden können. Wenn das Wesen auch immer »nur im Verein mit einer logisch komplexen Form anzutreffen« ist, so ist es doch als ein von dieser unterschiedliches Moment zu betrachten. 28 Das Wesen ist »seiner eigenen Binnenstruktur« nach zwar einfach, kommt aber dennoch nicht vor ohne eine solche komplexe Form. 29 Die Idee des Absoluten wird sich dementsprechend als eine Mannigfaltigkeit erweisen, an welcher drei Momente unterscheidbar sind, die alle für die Vollständigkeit der Idee erforderlich sind. Es ist somit unzulässig, das Absolute mit einer dieser Momente gleichzusetzen. Jenen Satz, wonach dem Absoluten ›kein Seyn zukommen kann, als das durch seinen Begriff‹, verwendet Schelling nun jedoch noch nicht sogleich, um jenes ›Seyn‹ weiter zu bestimmen, sondern zieht aus ihm zunächst nur eine Folgerung hinsichtlich des Wesens. Aus ihm folgt nämlich, dass das Wesen »an sich selbst nur ideal« ist. 30 Es ist somit weder etwas Wirkliches, das unter anderem Wirklichem auch vorkommt, noch ist es an sich real, da es dasjenige ist, wovon alle Realität ausgesagt wird. 31 Deshalb heißt es auch, dass das Wesen »ausser aller Form« ist oder aller Form gegenüber eine Eigenständigkeit behauptet. 32 Auch dieser Satz wird nur ex absurdo contrario bewiesen: Die kontradiktorisch entgegengesetzte Behauptung, wonach jenem Wesen noch ein anderes Sein als nur durch seinen Begriff zukäme, impliziert nämlich, dass es durch etwas anderes außer ihm bestimmt wäre, was der einzig leitenden Bestimmung der Absolutheit geradezu widerspricht. Gerade weil diese Anforderung, die das ›Seyn‹ des Absoluten erfüllen muss, unmittelbar aus der Absolutheit des Buchheim 1992, 28. Ebd. 30 Schelling 1804, 21 / SW VI, 30. Nichts betont Schelling auf diesen Seiten so oft, als dass das Wesen sich mit dem Sein nicht vermengt (vgl. Schelling 1804, 22, 24, 25, 27 / SW VI, 30, 31, 32, 33), beide also als zwei unterschiedliche Momente der Idee des Absoluten strengstens auseinanderzuhalten sind. Thomas Buchheim umschreibt dies so, dass »die Identität einer Sache nicht aufgeht in den sie beschreibenden Prädikaten, und weiter, daß sie schon feststehen muß auch ohne die in Frage kommenden und sie tatsächlich treffenden Prädikate« (Buchheim 1992, 71). 31 Vgl. dazu die Überlegungen zur logischen Möglichkeit in Buchheim 1992, 27–31. Ähnlich, allerdings im Zusammenhang der Weltalter, Hogrebe 1989, 49 f., 64 f. 32 Schelling 1804, 21 / SW VI, 30. 28 29

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Wesens folgt, kann Schelling beide Behauptungen als gleich gewiss ansehen. 33 Nur jene Annahme eines Seins, das lediglich aus dem Begriff des Absoluten folgt, ist mit der Absolutheit verträglich. Damit ist allerdings noch nichts Inhaltliches über dieses Sein ausgesagt, sondern nur eine formelle Anforderung angegeben, die etwas erfüllen muss, um als ›Seyn‹ dieses Wesens gelten zu können. Dem Absoluten können also nur solche Bestimmungen zukommen, die seinem Wesen völlig adäquat sind, wenn nicht seine Absolutheit aufgehoben werden soll. Dennoch können wir nicht bei diesem schlechthin idealen Wesen stehenbleiben. Es selbst nötigt uns, sogleich zu einem zweiten Moment fortzugehen. Wenn wir auch mit dem rein-idealen Wesen anfangen müssen, so genügt dieses doch noch nicht der Norm, die wir mit der negativen Bestimmung der Idee des Absoluten gewonnen hatten. Diese Bestimmung des Wesens erfüllt nämlich zwar die Anforderung, dass das Wesen an sich betrachtet weder subjektiv noch objektiv ist, lässt uns aber noch nicht einsehen, weshalb es auch das gleiche Wesen des Subjektiven und Objektiven ist. Dadurch wird die Bestimmung des Wesens als schlechthin ideal zum bloßen Moment der vollständigen Idee herabgesetzt. Das Wesen kann nicht sein ohne eine Beschreibungsform, durch welche es ein Sein erhält. Deswegen ist die Form »gleich ewig mit dem schlechthin-Idealen«. 34 Das Schlechthin-Ideale steht allerdings nicht »unter dieser Form«, da sonst die Form das Erste wäre, sondern die Form ist das Zweite, da das Schlechthin-Ideale der Form »doch dem Begriff nach, vorangeht« und die Form dem schlechthin idealen Wesen völlig adäquat sein soll: »Diese Form ist, dass das schlechthin-Ideale, unmittelbar als solches, ohne also aus seiner Idealität herauszugehen, auch als ein Reales sey«. 35 Dass dem Wesen nur ein Sein durch seinen Begriff zukomme, macht, erstens, die ihm auszeichnende Form aus, durch welche es sich von allem sonst Seienden unterscheidet. Die Form ist als ein eigenständiges Moment vom Wesen und von dessen Sein zu unterscheiden. Zweitens gilt es zu beachten, dass das Ideale unmittelbar als Reales sei. Es hält somit seine Idealität an sich, die durch das Reale

Vgl. Schelling 1804, 21 / SW VI, 29: »So gewiss […]: so gewiss«. Schelling 1804, 21 / SW VI, 30. 35 Schelling 1804, 21 f. / SW VI, 30. Vielleicht ist dies eine geeignete Stelle, darauf hinzuweisen, dass die völlige Entsprechung zwischen Idealem und Realem oder des Wissens und des Handelns eine ziemlich genaue Definition der Weisheit ist. 33 34

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Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

nicht aufgehoben wird. Das erste Moment (das Wesen oder das schlechthin Ideale) lässt sich somit nicht setzen, ohne sogleich auch das zweite (die Form) und das dritte Moment (das Reale) zu setzen, weil sich nur so die vollständige Idee des Absoluten konstruieren lässt, die der negativen Norm wirklich adäquat ist. Deshalb heißt es, dass die Form und das Reale »bloße Folge« des ersten sind: Sie können selbst nur insofern gesetzt werden, als auch das Erste gesetzt ist; und sobald dieses gesetzt ist, müssen auch das Zweite und Dritte gesetzt werden. 36 Bei der Konstruktion der Idee des Absoluten ist somit eine Ordnungsfolge zu beachten, die sich aus dem negativen Beweisgang ergibt. Hierbei zeigt sich abermals die Unerlässlichkeit desselben. Diese Ordnungsfolge hebt Schelling auch dadurch hervor, dass er betont, dass das Erste sich nicht mit dem Dritten »vermengt«. 37 Das Dritte ist »ewig ein anderes, der ideellen Bestimmung nach« oder in der Ordnungsfolge. 38 Damit erweist die Idee des Absoluten sich als eine Mannigfaltigkeit. Die genetische Konstruktion der Idee genügt erst dann der auf negativem Weg gewonnenen Norm, wenn in ihr diese drei Momente in dieser Ordnungsfolge unterschieden werden. 39 Deshalb verbietet es sich auch, diese als Teile zu denken, aus welchen das Absolute zusammengesetzt wäre. Nach einer solchen Auffassung würde der Unterscheidung unterschiedlicher Momente eine Unterscheidung im Gegenstand selbst entsprechen oder man würde die bloß ideelle Unterscheidung für eine reelle halten. Die Unzulässigkeit dieser Gleichsetzung hebt Schelling noch dadurch hervor, dass er sie, trotz der Ordnungsfolge, in welcher sie zueinander stehen, als gleich absolut bezeichnet. Schelling widmet zunächst dem zweiten Moment einige ausführlichere Überlegungen, da auch Eschenmayers Einwände sich insSchelling 1804, 22 / SW VI, 30. Schelling 1804, 22, 24, 25, 27 / SW VI, 30, 31, 32, 33. 38 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. 39 So auch Holz 1970, 43 f.: »Das Absolute ist daher in dreifacher Weise von ihm selbst her charakterisiert, und zwar so, daß zwischen diesen drei Weisen eindeutige, nicht umkehrbare Bezüge herrschen« und: »Die ›ganze Wesenheit‹ des Absoluten konstituiert sich eben in mehreren Momenten«. Auch Gert Blanchard spricht von einer »Folge im Absoluten«, die darin besteht »a) eine Folge dreier selbständiger [also gleich absoluter, R. S.] Glieder zu denken, die aber b) in das Eine Absolute eingebettet ist. Die drei Glieder gehören in ihrer ›Reihenfolge‹ doch untrennbar zusammen als verschiedene Gestalten des Absoluten, in die nicht das Absolute sich verändert, indem es seine ›vorherige‹ Gestalt aufhebt, sondern deren Zusammenbestehen allein das Absolute selbst ausmacht« (Blanchard 1979, 431). 36 37

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besondere auf dasselbe bezogen. 40 Erst danach geht er zum dritten Moment über. 41 Die Form kann man, Schelling zufolge, auch als ein Selbsterkennen beschreiben. 42 Die Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge erfordert, dass man zunächst diesen Charakter der Form als ein Selbsterkennen des Wesens einsieht. Eschenmayers ›Haupteinwurf‹ ergibt sich aus folgender Überlegung: Er unterscheidet zwei Weisen, wie Gegensätze zu einer absoluten Identität verbunden werden können. Entweder werden sie in eine höhere Potenz aufgenommen, so wie die Potenz des Endlichen und die des Unendlichen in der des Ewigen enthalten sind, oder sie werden mit einander synthesiert, »wodurch das Produkt bey einem wahren Gegensatz der mittlere Exponent beyder wird«. 43 Im letzteren Fall können wir an diesem Produkt dreierlei unterscheiden: die beiden entgegengesetzten Glieder sowie das beide Verknüpfende. Insofern haben wir in diesem Fall »eine absolute Einheit und einen absoluten Gegensatz«. 44 Das verknüpfende Dritte kann seine Funktion allerdings nur insofern erfüllen, als es die beiden Gegensätze in der Indifferenz in sich enthält. Die zweite ›Verknüpfungsweise‹ lässt sich demnach auf die erste zurückführen. 45 Durch diese Überlegungen lässt sich nun zwar einsehen, wie die Differenz »in den niedern Stufen« »in der höchsten« »verschwindet«, 46 nicht aber, wie aus der höchsten Stufe die Differenzen der ›niedern Stufen‹ wieder abgeleitet werden können oder »wodurch […] dann aus dieser Identität der erste Gegensatz oder die erste Duplicität hervorgerufen [wird], oder was […] denn überhaupt das Bestimmende der Differenz [ist]«. 47 Eschenmayers ›Haupteinwurf‹ zielt somit darauf ab, Schelling folgendes für unausweichlich gehaltene Dilemma vorzuhalten: Entweder »[l]iegt dieses Bestimmende in der absoluten Identität, so wird sie offenbar dadurch getrübt«, oder es liegt »ausser Vgl. Schelling 1804, 24–28 / SW VI, 31–34. Vgl. Schelling 1804, 28–30, 36–39 / SW VI, 34 f., 39–41. 42 Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 31. 43 Eschenmayer 1803, 63 (§ 71). 44 Eschenmayer 1803, 63 (§ 71). 45 Dies bezeichnet Schelling als die absolute Indifferenz. Eschenmayer unterscheidet zu Recht das Indifferenzierende als ein drittes, eigenständiges Moment vom Produkt dieser Synthese. Diese Indifferenz setzt er aber mit der absoluten Identität gleich. Daher Schellings Aufforderung, dass »dieser geistreiche Forscher sich selbst deutlich machen [möge], wozu in seiner Vorstellung unser Absolutes herabgesunken ist und wodurch« (Schelling 1804, 54 / SW VI, 51). 46 Eschenmayer 1803, 64 (§ 71). 47 Eschenmayer 1803, 69 f. (§ 73). 40 41

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ihr, so ist der Gegensatz absolut«. 48 Damit versucht er Schelling eines Widerspruchs zu überführen zwischen dem Prinzip und demjenigen, was dieses zu leisten habe, oder zwischen demjenigen, was als Prinzip angesetzt wird (die absolute Identität), und dessen Funktion als Prinzip. Danach würde die absolute Identität sich deshalb nicht als Prinzip eignen, weil es dasjenige, was ein solches zu leisten hätte, nämlich die Ableitung der Differenz aus ihm, gar nicht zu leisten vermag. 49 Auf diesen Einwurf hat Schelling jedoch bereits mit der oben referierten Konstruktion der Idee des Absoluten geantwortet. Es ist nämlich zu beachten, dass es sich, erstens, um eine komplexe Idee handelt, in welcher die drei genannten Momente zu unterscheiden sind, und dass die absolute Identität, zweitens, nicht das wäre, was sie ist, wenn sie Eschenmayer 1803, 70 (§ 73). Dies ist seitdem das klassische Argument gegen Schellings Ansatz. Zum ersten Mal wurde es von Fichte in dessen – erst posthum veröffentlichten – Randbemerkungen zur Darstellung meines Systems formuliert: »Er kann überhaupt durch blosses Denken nicht aus der Indifferenz heraus kommen. Jedes andere Wort, das er nun noch vorbringt, ist erschlichen«. Der Vorwurf bildet das Leitmotiv seiner Auseinandersetzung. Der Grund dieses Vorwurfs liegt wohl in der Annahme Fichtes, dass man nur so »aus der Indifferenz heraus kommen« könnte, dass man »durch eine Analyse jener Erklärung« oder Definition neue »Prädikate« ableitet oder gewinnt (GA II,5, 484, 485, 492, 498; Herv. v. Verf.). Das Argument wurde seitdem öfters wiederholt. Adolf Schurr formuliert es so: »Ein Indifferenzpunkt könnte nur dann zum Ausgangspunkt des Systems der Philosophie gemacht werden, wenn er nicht die bereits erörterte Unmöglichkeit implizierte, aus ihm überhaupt deduzieren zu können. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder wird in den Indifferenzpunkt ›absolute Identität‹ gesetzt – aber in diesem Fall kann nicht deduziert werden; oder wird der Indifferenzpunkt als ›untrennbares Beisammenseyn des Endlichen mit dem Unendlichen‹ begriffen, also nicht absolute Identität gesetzt – aber dann läge der Ausgangspunkt der Philosophie auch nicht im ›totalen Indifferenzpunkt‹«; »Aus dieser Widersprüchlichkeit seines Ansatzes, dass entweder nicht aus dem deduziert wird, was als Ausgangspunkt der Philosophie gesetzt wird, nämlich aus einem Indifferenzpunkt qua absoluter Identität – oder dass nur behauptet wird, es werde deduziert, weil aus der absoluten Identität einsichtigerweise nicht deduziert werden kann, vermag Schelling nicht herauszukommen«; »Die schellingsche Grundlegung der Philosophie scheitert notwendig an ihrer selbstgestellten Aufgabe: aus einem absoluten Indifferenzpunkt deduzieren zu müssen« (Schurr 1974, 167–169). Ähnlich Jürgens 2000, 115, 119, 121: »Aus diesem Punkt muss folglich die Differenz der entgegengesetzten Richtungen im Parallelismus von Transzendental- und Naturphilosophie abzuleiten sein«; »Nachdem die Reflexion bis auf die Selbigkeit des einfachen A als Identität der Identität zurückgegangen ist, kann der Unterschied nicht mehr in oder aus dieser Identität entfaltet werden. Er muss in sie hineingetragen werden, weil sie aus sich den Unterschied nicht hervorbringen kann«; »Diesen Widerspruch kann die DSP [Darstellung meines Systems, R. S.] nicht vermitteln«.

48 49

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sich nicht auch darstellen würde. Die absolute Identität muss danach auch zu erkennen sein, wobei dieses Erkennen doch nur ein Selbsterkennen sein kann, weil das Wesen sonst als ein Objekt oder Erkanntes für eine außer ihm befindliche Instanz gedacht würde, was mit dessen Absolutheit in Widerspruch wäre. Deshalb legt Schelling ein solches Gewicht auf das Selbsterkennen oder auf die Form als notwendiges (und zweites) Moment der Idee des Absoluten. Eschenmayers Einwand beruht denn auch auf einer Annahme bezüglich der Natur der Selbsterkenntnis: Sagt man etwa, die absolute Form der Vernunft ist das Selbsterkennen, sie kann aber nicht sich selbsterkennen, ohne aus sich herauszutreten, und kann nicht aus sich heraustreten, ohne sich zu theilen, so ist dies immer einerley, und das Problem kommt immer wieder in einer neuen Gestalt. 50

Schellings Erwiderung richtet sich denn auch gegen die Annahme, wonach ein Selbsterkennen ohne ein Heraustreten oder ohne eine Differenz zwischen sich selbst als Erkennendem und als Erkanntem nicht zu denken wäre. Der Einwurf übersieht, dass die Form als ein konstitutives Moment zur Idee des Absoluten gehört. Die Hauptfrage dieses Abschnitts kann somit erst dann »mit einiger Hoffnung, über die Antwort nicht wieder missverstanden zu werden, beantwortet werden«, wenn zunächst das Bedenken zurückgewiesen ist, dass ein Selbsterkennen nicht anders denn als »ein Herausgehen der Absolutheit aus sich selbst, ein Sich-theilen derselben, ein Differenziirtwerden, verstanden« werden kann. 51 Es gilt somit zu zeigen, dass das Selbsterkennen oder die Form ein notwendiges Moment der Idee des Absoluten selbst ist. Schelling erwägt dazu ausführlichst alle möglichen Annahmen, wonach das Selbsterkennen als ein Herausgehen der Identität aus sich selbst zu denken wäre. 52 Den »Grund des Misverständnisses« sieht Schelling darin, dass »der Begriff einer realen Folge […] auf diese Verhältnisse übergetragen wird, welche ihrer Natur nach bloss die einer idealen Folge seyn Eschenmayer 1803, 70 (§ 73). Schelling 1804, 24 / SW VI, 31. 52 Vgl. Schelling 1804, 25–28 / SW VI, 32–34. Solche Einwände hatte Schelling in den Ferneren Darstellungen antizipiert und dort auch mittels der Behauptung der Indifferenz von Wesen und Form im Fall des Absoluten zu erwidern gesucht (vgl. Schelling 1802b, 44 f., 50, 60 f. / SW IV, 368, 373, 380; Schelling 1803c, 4 f. / SW IV, 392). 50 51

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können«. 53 Man hat, anders gesagt, diese Verhältnisse als Kausalitätsverhältnisse interpretiert oder den Begriff des Grundes mit dem der Ursache verwechselt. 54 Das Wesen ist hier aber bloßer Grund (Idealgrund), nicht Ursache (Realgrund). Auf diese Bestimmung des Wesens als Idealgrund oder der Form und des Realen als bloß idealer Folgen beruhen auch sämtliche Bestimmungen, die nach Schelling von diesen Verhältnissen ferngehalten werden müssen. So folgt daraus, dass die Form das Zweite und das Reale das Dritte ist, dass diese also in dieser bestimmten Ordnungsfolge gedacht werden müssen, noch nicht, dass sie auch nacheinander sind. Dieser Schluss ist nur im Falle eines Realgrundes gültig, in dem die Wirkung in der Tat nach der Ursache gedacht werden muss. 55 Dies hängt auch damit zusammen, dass man ungenügend beachtet hat, dass diese ganze Konstruktion keineswegs zu erklären versucht, wie die Form und das Reale tatsächlich entstanden sind, sondern dass sie diese lediglich als notwendige Momenten der Idee des Absoluten erweisen will. 56 Nachdem er Eschenmayers Einwand zurückgewiesen hat, geht Schelling zur Beantwortung der ersten Frage nach der Entstehung potentieller Differenzen über, also zu einer Betrachtung des Realen. 57 Schelling 1804, 26 / SW VI, 32 f. Für Spinoza ist Wissenschaft: Erkenntnis der causae; damit sind nicht so sehr Ursachen, sondern vielmehr Gründe gemeint. Auch die causae efficientes sind keine Wirkursachen im üblichen Sinne, sondern im Zusammenhang von Spinozas Verständnis der genetischen Definition zu verstehen (vgl. dazu De Dijn 1973, 716, 718, 727). Wenn Jacobi die Unterscheidung zwischen Grund und Ursache besonders hervorhebt, dann dürfte dies nicht so sehr gegen Spinoza gerichtet sein, als vielmehr nur auf einen Grund eines Missverständnisses von dessen Lehre aufmerksam machen, dem man allerdings durch die Zweideutigkeit des lateinischen causa leicht verfällt (Jacobi 1789, 247–265, bes. 255–257). 55 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. Dies wird in Schelling 1804, 28 / SW VI, 34, nochmals bekräftigt: »dass auch in Bezug auf die Form das schlechthin-Ideale in seiner reinen Identität bleibt«. 56 Dies gilt auch für geometrische Konstruktionen, die ebenfalls nicht zu erklären versuchen, »wie ein Ding tatsächlich hervorgebracht wird, sondern wie die Hervorbringung desselben gedacht werden kann, damit wir seine wesentliche Struktur einsehen« (De Dijn 1973, 716). Hierher dürfte auch Schellings Versicherung gehören, dass er »weiß, daß ich durchgängig nur mit meiner eignen Construction zu thun habe« (AA I,10, 95). Dadurch soll diese keine bloß subjektive Bedeutung erhalten (als ob diese Konstruktion im Belieben des konstruierenden Subjekts standen), sondern Schelling will nur betonen, dass er hier kein tatsächliches Geschehen konstruiert, sondern nur eine Struktur aufdeckt, die es erlaubt, alle Eigenschaften des Konstruierten daraus abzuleiten und damit diese als notwendig dazugehörig einzusehen. 57 Schelling 1804, 28 f. / SW VI, 34 f. 53 54

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Auch hier geht er zunächst wieder negativ vor, indem er mit solchen Merkmalen des Absoluten operiert, die sich aus einem Vergleich mit Nicht-Absolutem ergeben. Der für das endliche Vorstellen oder Erkennen gültige Schluss, wonach das Reale oder Erkannte vom Erkennen verschieden sein muss, da das Erkennen nur ideal ist, gilt in Ansehung des absoluten Selbsterkennens nicht. Das Reale oder das Dritte kann somit kein bloßes Objekt sein, sondern ist als SubjektObjekt zu denken, so wie die Objektivierung des Wesens als ein »Hineinbilden, Hineinschauen seiner selbst in das Reale«. 58 Nur als Subjekt-Objekt ist das dritte Moment auch selbst absolut und selbständig, was es nach der Anforderung sein soll. Umgekehrt impliziert die Form in diesem Fall kein Außer-sich-Sein des sich darstellenden Wesens, da es sich in die Form einbildet und statt in einem Objekt sich in einem Subjekt-Objekt darstellt. Auch die Selbsterkenntnis impliziert in diesem Fall kein Aus-sich-Herausgehen, kein Sich-Teilen oder -Differenzieren des Absoluten. Zugleich erhält das Wesen oder das Ideale, indem es sich mittels der Form in dem Realen einbildet, selbst dadurch eine neue Qualität, nämlich die eines Subjekts. 59 Erst mit diesem dritten Moment ist die Idee vollständig, da diese erst hier der auf negativem Wege gewonnenen Norm genügt. Im Gegensatz zum Wesen ist das Dritte oder das Reale nicht einfach, sondern selbst eine Mannigfaltigkeit: Es ist nicht ein einfach Reales, sondern »das Ideale dargestellt im Realen«, es ist per definitionem Darstellung des Idealen. 60 Demnach gibt es »kein Reales an sich, sondern nur ein durch Ideales bestimmtes Reales«. 61 In ihrer Eigenschaft als Moment der Idee des Absoluten kommt jedem dieser Momente die Absolutheit zu. Deshalb bestimmt Schelling das Reale auch als »ein anderes Absolutes«. 62 Dies ist es insofern, als das Wesen in ihm eingebildet ist, dieses in dieser Einbildung aber, wie gesagt, die Qualität des Subjekts oder auch des Grundes annimmt. Das Verhältnis des ersten, zweiten und dritten Moments in der Idee des Absoluten wiederholt sich somit im Fall des dritten Moments, indem dieses selbst ein (anderes) Absolutes ist: Wie jenes, so Schelling 1804, 28 f. / SW VI, 34. Vgl. Schelling 1804, 26 / SW VI, 33. 60 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. 61 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. In der Darstellung meines Systems wird das Dritte oder Reale auch als »absolute Totalität« bestimmt (AA I,10, 127 (§ 26)). Vgl. dazu auch: Schelling 1803c, 4–21 / SW IV, 392–403. 62 Schelling 1804, 23, 28 / SW VI, 31, 34. 58 59

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ist auch dieses als selbst produktiv von besonderen Formen zu denken, von welchen es selbst die Totalität ist. Dadurch verhält das Dritte sich zu seinen ›Produktionen‹ oder Darstellungen selbst wie das Erste oder wie ein Subjekt. Es macht sich selbst zum Subjekt, insofern es sich auch selbst objektiviert. »Dieses zweyte Produciren ist das der Ideen« oder der Potenzen. 63 Diese Ideen verhalten sich zum Dritten, insofern dieses sich zum Ersten oder Subjekt macht, selbst wieder als das Dritte oder Subjekt-Objekt: Auch die Ideen sind relativ auf ihre Ureinheit [relativ auf das Reale, das im Verhältnis zum schlechthin-Idealen Dritte, R. S.] in sich selbst, weil die Absolutheit der ersten in sie übergegangen ist, aber sie sind in sich selbst, oder real, nur sofern sie zugleich in der Ureinheit, also ideal sind […]. Auch die Ideen sind nothwendig wieder auf gleiche Weise productiv […]. 64

Diesen Prozeß bezeichnet Schelling auch als »die wahre transcendentale Theogonie«, als einen Prozeß der Zeugung oder als einen Prozeß einer »ewigen Geburt«. 65 Diese Bezeichnung ist deshalb zutreffend, weil »das Gezeugte von dem Zeugenden abhängig und nichts destoweniger selbständig ist«. 66 Schelling 1804, 29 / SW VI, 35. Schelling 1804, 29 f. / SW VI, 35; erste Herv. v. Verf. 65 Schelling 1804, 3, 30, 33 / SW VI, 17, 35, 37. 66 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. In der Freiheitsschrift spricht Schelling deshalb von einer »derivirten Absolutheit«: »Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes«, da »eine Folge, die nicht Zeugung, d. h. Setzen eines Selbstständigen ist«, der »Idee« des »göttlichen Wesens« »völlig widersprechen« würde (Schelling 1809a, 413 f. / SW VII, 346 f.). In Philosophie und Religion und früher spricht Schelling stattdessen von einem Selbsterkennen des Absoluten (vgl. Schelling 1804, 24 / SW VI, 31; AA I,10, 124 (§ 19 Zus.; § 20)). Das Selbst der Selbstoffenbarung ist zugleich Subjekt und Objekt des Offenbar-Werdens, indem es sich selbst als es selbst offenbar wird oder eben: sich selbst erkennt. Schelling fährt fort: »Allein die göttliche Imagination, welche die Ursache der Spezifikation der Weltwesen ist, ist nicht wie die menschliche, dass sie ihren Schöpfungen bloss idealische Wirklichkeit ertheilt. Die Repräsentationen der Gottheit können nur selbstständige Wesen seyn […]. Der Begriff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit ist so wenig widersprechend, dass er vielmehr der Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche Göttlichkeit kommt der Natur zu« (Schelling 1809a, 414 f. / SW VII, 347; vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34). Wenn Schelling dazu bemerkt, dass »eine so allgemeine Deduktion« »für den tiefer sehenden« »ungenügend« ist, dann betrifft dies nur die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit. Die allgemeine Deduktion zeigt zwar, dass »die Läugnung formeller Freyheit mit dem Pantheismus nicht nothwendig verbunden« ist, 63 64

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3. Der Abfall als formelle Anforderung Wie gesagt führt Schelling die vollständige Potenzenkonstruktion an dieser Stelle nicht durch. Dieser Aufgabe hatte er sich in früheren Schriften besonders gewidmet. Im Hinblick auf die hier zu lösende Aufgabe (die Abkunft der endlichen Dinge) genügt es, an das »Gesetz« oder Prinzip zu erinnern, wonach eine solche Konstruktion zu verfahren hat, nämlich dass »sich die ganze absolute Welt, mit allen Abstufungen der Wesen auf die absolute Einheit Gottes reducirt«. 67 Damit ist gesagt, dass alle nach diesem Prinzip konstruierbaren Potenzen sämtlich als Präsentationsweisen des Absoluten oder Gottes gelten können, die zwar untereinander quantitativ different sind, in Bezug auf Gott jedoch insofern alle gleich sind, als sie alle die Struktur des Absoluten gleicherweise in sich ausdrücken. Schelling kann denn auch schließen, dass »demnach in jener [absoluten Welt, R. S.] nichts wahrhaft Besonderes« ist und nach jenem Prinzip keine konkreten, individuellen Dinge konstruiert werden können, sondern lediglich bestimmte Seinstypen, die indessen jedes jeweils eigene Individuationsprinzipien implizieren, und dass also »bis hierher nichts ist, das nicht absolut, ideal, ganz Seele, reine natura naturans wäre«. 68 Bereits aufgrund ihres Prinzips kann die Potenzenkonstruksondern dass die schellingsche Version des Pantheismus mit dem Begriff formeller Freiheit sehr wohl verträglich ist (Schelling 1809a, 415 / SW VII, 347). Damit ist aber das Spezifische der menschlichen Freiheit (vgl. Schelling 1809a, 419 f. / SW VII, 350 f.), als »Vermögen des Guten und des Bösen« (Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352), noch ungenügend erfasst. Jenen Zeugungsprozess wiederholt Schelling erneut im Rahmen des eigentlichen Gedankengangs der Abhandlung (Schelling 1809a, 432– 435 / SW VII, 359–362). »Theogonie« definiert Schelling als eine Zeugung, als »die einzige Art der Abhängigkeit, bei welcher das Abhängige gleichwohl in sich absolut bleibt« (SW V, 405). 67 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. 68 Vgl. auch die wichtige Bemerkung Schelling 1803c, 8 / SW IV, 395: »jene Schematismen [der Weltanschauung; gemeint sind die Ideen oder Potenzen, R. S.] sind nur dadurch möglich, dass sie die ungetheilte Fülle der Einheit in sich aufnehmen können, also als besondere vernichtet werden«. Alle Potenzen sind sich demnach darin gleich, dass sie alle die dreieinige Struktur des Absoluten aufweisen und dadurch alle als Darstellungen desselben gelten können. Schelling fährt fort: »Denn als solche [als Besondere, R. S.] würden sie das absolute Wesen beschränken, indem sie andere Formen von sich ausschlössen«. Für das Verhältnis der Potenzen zum absoluten Wesen gilt der Satz determinatio est negatio demnach nicht: Die Potenzen sind keine solche Bestimmungen, die eine Negation implizieren. Dies zeigt sich daran, dass das Absolute oder die dreieinige Struktur es von sich aus nicht ausschließt, auf unendlich viele

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Der Abfall als formelle Anforderung

tion auch auf gar kein anderes Resultat führen als ein solches, das selbst unendlich ist. 69 Auf diese Weise soll die Konstruktion der »absolute[n] Welt, mit allen Abstufungen der Wesen« der Forderung, dass die absolute Identität gleich der absoluten Totalität ist, Genüge tun. 70 In diesem System der Vernunftwissenschaft wird demnach, wie bereits 1801 bemerkt, durchgängig von der ›Absondrung‹ abstrahiert. 71 Die Grenze, die Schelling hier andeutet (vgl. ›bis hierher‹), gibt zu erkennen, dass jetzt die zweite der Fragen, die Eschenmayer vermischt hatte, behandelt werden soll. Die erste Frage, die ›bis hierher‹ Thema war, war die »nach der Möglichkeit des Selbsterkennens der Absolutheit«. 72 Insofern jene Darstellungen dem Sich-Darstellenden völlig angemessen sind, bilden sie das geeignete Medium seiner Selbsterkenntnis. Jetzt soll die Frage »nach Entstehung der wirklichen Differenzen aus ihr, (welche zu begreifen etwas ganz anders erfordert wird)« behandelt werden, und damit, so können wir schließen, die Weisen repräsentiert zu werden. Die Potenzen werden erst dann zur Negation, wenn sie aufeinander bezogen werden und sich dadurch gegenseitig ausschließen oder in einem Gegensatz gesetzt werden. 69 Hier ist an die von Spinoza übernommene Unterscheidung zu erinnern zwischen dem, was »an sich« oder »Kraft seiner Definition« unendlich ist und dem, was »nicht unendlich ist Kraft seines Wesens, sondern Kraft seiner Ursache (vi causae suae)« (Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Die erste Unendlichkeit kommt dem Wesen zu und, indem dieses im Realen eingebildet wird, auch dem subjektiven oder idealen Moment im Realen. Die zweite Form der Unendlichkeit kommt dem Realen zu, insofern dieses nur als Darstellung des Wesens unendlich ist. Wird die ›Ursache‹ seiner Unendlichkeit oder die Beziehung auf das Wesen, dem es seine Unendlichkeit verdankt, weggenommen, so schließt es die Endlichkeit nicht aus. Schelling greift hier auf Spinozas Epistola de Infinito zurück (Spinoza 1677, Bd. IV, 52–62; dazu Gueroult 1968, 500–528). Vgl. AA I,10, 120 (§ 10): »Die absolute Identität ist schlechthin unendlich«, schlechthin, d. h. »so gewiß als sie ist« oder aufgrund ihres Wesens. Der dort gegebene Beweis zeigt, dass es dem Begriff einer absoluten Identität widerstreitet, als endlich gedacht zu werden. Dem Begriff des Realen aber widerstreitet es nicht, endlich zu sein, da es nur aufgrund seiner Ursache oder seiner Beziehung auf das Wesen unendlich ist. 70 Schelling 1804, 22 / SW VI, 35. Vgl. AA I,10, 127 (§ 26). 71 »Wie es aber möglich sey, daß von dieser absoluten Totalität irgend etwas sich absondere oder in Gedanken abgesondert werde, dieß ist eine Frage, welche hier noch nicht beantwortet werden kann, da wir vielmehr beweisen, daß eine solche Absondrung nicht an sich möglich, und vom Standpunct der Vernunft aus falsch, ja, (wie sich wohl einsehen läßt) die Quelle aller Irrthümer seye« (AA I,10, 130 (§ 30 Erl.)). Dass jene Absonderung ›nicht an sich möglich‹ ist, heißt noch nicht, dass sie schlechthin unmöglich wäre, sondern nur, dass dazu ›etwas ganz anders erfordert wird‹, als durch das Prinzip der Potenzenkonstruktion zur Verfügung gestellt wird. 72 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.

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Frage nach einer wirklichen Selbsterkenntnis oder nach den Bedingungen, unter welchen die göttliche Selbsterkenntnis sich zu aktualisieren vermag. 73 Obwohl das einzige ›Gesetz‹ der Potenzenkonstruktion bereits für sich genommen genügte, um einzusehen, dass es zwischen der »Intellectualwelt und der endlichen Natur« keine Stetigkeit geben kann, so nähert Schelling sich der Beantwortung der zweiten Frage so an, dass er zunächst einige alternative Versuche, die sich auf die Annahme einer solchen Stetigkeit stützen, einer kritischen Prüfung unterzieht. 74 Schelling führt somit auf einem doppelten Weg zum Begriff des Abfalls hin: zunächst insofern das Scheitern bisheriger Erklärungsversuche der Endlichkeit auf den Verstoß gegen jene Anforderung zurückzuführen ist, sodann insofern der Begriff sich notwendig aus dem Prinzip der Potenzenkonstruktion ergibt. Auch hier können wir somit einen negativen und einen positiven Beweisgang unterscheiden. Die bisherigen Versuche haben nach Schelling gemeinsam, dass sie »vergeblich« »zwischen dem obersten Princip der Intellectualwelt« oder zwischen dem »Einen ersten Gesetz der Form der Absolutheit« und »der endlichen Natur eine Stetigkeit hervorzubringen« suchen. 75 Sie (müssen) scheitern, weil sie sich eben dies zum Ziel gesetzt haben, ohne zu sehen, dass es zwischen beiden eben keine Stetigkeit geben kann. Das Problematische an diesen Versuchen liegt somit nicht so sehr in der Weise, wie sie diese Stetigkeit, sondern darin, dass sie überhaupt eine solche hervorzubringen suchen. Die Formulierung der Aufgabe beruht bereits auf einer falschen Ansicht des Verhältnisses zwischen Prinzip und endlicher Natur. Die ›unzähligen Versuche‹ lassen sich nach Schelling auf zwei Grundoptionen zurückbringen. (1.) Nach der ersten Option, die Schelling als Emanationslehre bezeichnet, wird »das Absolute zum positiv Hervorbringenden des Endlichen« gemacht. 76 Es handelt sich um solche Theorien, die das Absolute als Ursache der Endlichkeit denken, statt es – wie Schelling – bloß als Grund zu denken. Das Vorgehen ist insofern widersprüchlich, als zum einen die »Ausflüsse der Gottheit« letztendlich ihre Göttlichkeit und Vollkommenheit verlieren, zum anderen alle »Ausflüsse« nur als gleich vollkommen ge73 74 75 76

Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf. Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; Herv. v. Verf. Schelling 1804, 34 / SW VI, 37.

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Der Abfall als formelle Anforderung

dacht werden können: »so ist nothwendig jede folgende Effulguration wieder absolut«, »nirgends aber ist ein stetiger Uebergang in das gerade Gegentheil«. 77 Von den referierten Versuchen ist dieser jedenfalls nach Schellings Ansicht der am wenigsten falsche. 78 Der Versuch, das Verhältnis der Sinnenwelt zum Absoluten als eine »Entfernung« zu denken und dadurch nur eine indirekte Beziehung zwischen beiden zuzulassen, ist zwar im Prinzip nicht unrichtig, wenn auch nicht konsequent durchgeführt. 79 Der Versuch, dieses Verhältnis als eine Entfernung zu denken, bleibt noch an die Forderung, eine Stetigkeit zwischen beiden hervorzubringen, gebunden, statt die Entfernung konsequent als ein »Abbrechen« oder einen »Sprung« zu denken. 80 (2.) War in der Emanationslehre noch ein Keim der richtigen Ansicht zu entdecken, wird die Lehre einer Schöpfung als der »roheste Versuch« bezeichnet, weil er, anders als jener, »eine directe Beziehung des göttlichen Wesens, oder seiner Form, auf das Substrat der Sinnenwelt annimmt«. 81 Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1805b, 77–80 / SW VII, 191 f. Das zeigt sich auch daran, dass er den Begriff, durch welchen er diesen Versuch charakterisiert (»Entfernung«: Schelling 1804, 31 / SW VI, 35 f.), wenig später (Schelling 1804, 35 / SW VI, 38) für seine eigene Position vindiziert. – In der Freiheitsschrift wird Schelling diese Kritik an der Emanationslehre wiederholen (vgl. Schelling 1809a, 426, 505 / SW VII, 355, 411). Diese scheitert daran, die Endlichkeit und a fortiori das Böse zu erklären, d. h. gegen diese Lehre lässt sich genau jener Einwand vorbringen, den Eschenmayer und Friedrich Schlegel gegen Schelling vorgebracht hatten. Sie scheitert an dieser Erklärung aber nicht, weil sie eine Form des Pantheismus ist, sondern weil sie den Pantheismus mit einer mit ihm nicht verträglichen Voraussetzung (nämlich der Realität der Endlichkeit) verknüpft oder auch weil sie nicht ›pantheistisch‹ genug ist. 79 Schelling 1804, 31 / SW VI, 35. »Nur der wird den Stachel jener Frage, wie Plato sagt, aus der Seele sich reissen, der alle Stetigkeit des erscheinenden Alls mit der göttlichen Vollkommenheit abbricht« (Schelling 1804, 31 / SW VI, 36). Schelling ruft hier das Platon-Zitat aus der Präambel in Erinnerung (vgl. Schelling 1804, 18 f. / SW VI, 28). 80 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. 81 Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Wenig später ordnet Schelling den Begriff einer »Schöpfung, als ein positives Hervorgehen aus der Absolutheit« der »Volksreligion« zu und setzt dieser die platonische Lehre eines Abfalls entgegen (Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 39). Da sich auf die Lehre des Abfalls auch eine »practische Lehre« gründet, so impliziert die Kritik am Schöpfungsbegriff auch die Zurückweisung der dazu gehörigen praktischen Lehre. Diese Folgerung wird erst später expliziert (vgl. Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55). – Auch die folgende Bemerkung, die erste der »Ramificationen« des »zum Princip der Welt gemachten Nichts der Ichheit« betreffend, scheint gegen den Schöpfungsbegriff gerichtet: »Das erscheinende Universum ist nicht dadurch abhängig, dass es einen Anfang in der Zeit 77 78

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Gegen diese Versuche führt Schelling zwei Argumenttypen an. Der erste Typ geht immanent vor: Die Kritik wird nicht aus der Warte seines eigenen Systems geführt, sondern Schelling macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, mit welchen die referierten Theorien sich zwangsläufig konfrontiert sehen. Indem sie Gott zur Ursache der Materie machen, machen sie ihn auch zum »Urheber des Bösen«. 82 Diese Folge, auf welche solche Theorien Schelling zufolge zwangsläufig hinauslaufen, ist das Indiz eines Defizits ihrer Erklärung der Endlichkeit, da ein Gott, der Ursache des Bösen wäre, mit allen vernünftigen Begriffen der Göttlichkeit in Widerspruch ist. Dies scheinen die Urheber solcher Theorien auch selbst eingesehen zu haben, da sie sich dazu genötigt sahen, den Folgen ihres Ausgangspunkts auszuweichen, ohne diesen selbst revidieren zu müssen. Nach Schelling erwächst die ganze Fragestellung der Theodizee aus einer solchen unzulänglichen Erklärung der Endlichkeit. 83 Erkennt man dem Endlichen selbst Realität zu, dann scheint es kaum noch vermeidbar zu sein, auch dem Bösen Realität zuzuschreiben. Der Folge, Gott zum Urheber des Bösen zu erklären, lässt sich dann konsequenterweise nur dadurch ausweichen, dass man sich für den Dualismus entscheidet. 84 Dieser Bemerkung kann man bereits entnehmen, dass Schellings eigener Versuch der Anforderung genügen muss, diese Klippe – Gott zum Urheber der Endlichkeit bzw. des Bösen zu machen – zu vermeiden. Der zweite Typ besteht darin, den Grund dieser immanenten Schwierigkeiten anzugeben. Dieser liegt darin, dass man gegen das ›Gesetz‹ der Potenzenkonstruktion verstößt oder nicht gehörig zwischen den beiden Fragen nach der Entstehung potentieller und wirklicher Differenzen oder zwischen Potenzen und endlichen Dingen unterscheidet. Aus dem Scheitern der referierten Versuche schließt Schelling: »[V]om Absoluten zum Wirklichen giebt es keinen stetigen Uebergang«. 85 Anders gesagt: die Abkunft des Wirklichen aus dem Absoluten bzw. ihr Verhältnis zu diesem kann nur als ein »Abbrechen«, ein »Sprung«, eine »Entfernung« oder ein »Abhat, es ist vielmehr der Natur oder dem Begriff nach abhängig und hat wahrhaft weder angefangen noch auch nicht angefangen, weil es ein blosses Nichtseyn ist, das Nicht-seyn aber eben so wenig geworden als nicht geworden seyn kann« (Schelling 1804, 43 f. / SW VI, 44; vgl. Schelling 1804, 48, 49 / SW VI, 47, 48). 82 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. 83 Vgl. Jacobs 1986, 233. 84 Vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. 85 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf.

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Der Abfall als formelle Anforderung

fall« gedacht werden. 86 Die Erörterung jener ›Versuche‹ führt also auf dasselbe Resultat wie die immanente Logik des Prinzips. Erst nach dem Referat der überlieferten Lehren kehrt Schelling zur eigentlichen Fragestellung zurück. Er hatte behauptet, dass »bis hierher«, also in der absoluten Welt, »nichts ist, das nicht absolut, ideal, ganz Seele, reine natura naturans wäre«. 87 Durch das ›Eine erste Gesetz der Form der Absolutheit‹ ist alles, was innerhalb der absoluten Welt konstruiert werden kann, insofern es im Absoluten ist, auch selbst absolut, d. h. »absolut in sich selbst«. 88 Dies ist eine Folge des Obigen und nach Schelling auch mit der platonischen Lehre in Übereinstimmung. Schelling formuliert dies nochmals so: »Das ausschliessend Eigenthümliche der Absolutheit ist, dass sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit verleiht. Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität des ersten Angeschauten ist Freyheit«. 89 Im Absoluten sind demnach Notwendigkeit und Freiheit absolut identisch. Die Formen können das Absolute nur insofern zum Ausdruck bringen, als sie auch selbst absolut sind. Die Potenzen sind demnach absolute Formen. Schelling fügt hinzu: [V]on jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes [von dieser absoluten Freiheit, R. S.] fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 90

Wenn es so ist, dass das (absolute) Gegenbild frei ist, dann muss die Freiheit auch in der Erscheinungs- oder Sinnenwelt, in der natura naturata, ebenso auftreten. Die Freiheit muss somit selbst erscheinen können. In einer solchen Erscheinung der Freiheit hätten wir ›die letzte Spur‹ oder das ›Siegel‹ der absoluten Freiheit. Zweierlei gilt es danach zu erklären: Erstens, dass die endlichen Dinge in den Ideen ihren Ursprung haben, oder die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten; zweitens, wie sie aus den Ideen entspringen und damit wie sie sich zum Absoluten verhalten, oder ihr Verhältnis zu ihm. Dabei wird sich zeigen, dass den nicht-menschlichen endlichen Dingen nur ein mögliches Verhältnis zum Absoluten offensteht, nämlich 86 87 88 89 90

Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

nur ein indirektes oder nur ein Verhältnis zu ihm als zu ihrem Grunde. Umgekehrt verhält sich das Absolute dadurch zu ihnen als der Grund ihrer Existenz oder Realität. Erst den menschlichen Wesen ist ein doppeltes Verhältnis zum Absoluten möglich. Aus den bisherigen Betrachtungen zieht Schelling, wie gesagt, den Schluss: »[V]om Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang«. 91 Dies war bereits dem Prinzip der Potenzenkonstruktion abzulesen, da nach demselben die Potenzen untereinander nur quantitativ different sein können und sie auch im Verhältnis zum Absoluten nicht wirklich oder qualitativ von diesem verschieden sein können. Damit hat Schelling bloß wiederholt, dass zur Lösung dieser Frage »nach Entstehung der wirklichen Differenzen« aus dem Absoluten »etwas ganz anders erfordert wird«, als für die Potenzenkonstruktion erforderlich war. 92 Wenn es zwischen dem Absoluten bzw. dessen Potenzen und dem Wirklichen bzw. den endlichen, einzelnen Dingen keine Stetigkeit geben kann, dann kann man dies auch so formulieren, dass »der Ursprung der Sinnenwelt […] nur als ein vollkommnes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar« ist. 93 Wie gesagt geht Schelling hier ganz analog vor wie in der Darstellung meines Systems. Dort hatte er gezeigt, wie das Selbsterkennen wesentlich zur Idee einer absoluten Identität gehört, jenes Selbsterkennen aber eine Differenz von Subjektivität und Objektivität erfordert, die nur quantitativer Art sein kann, weil die Annahme einer andersgearteten Differenz zu einem Widerspruch mit dem Prinzip der absoluten Identität und damit einer Aufhebung der Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf. So soll der Satz, dass »der Ursprung keines endlichen Dings unmittelbar auf das Unendliche zurückgeführt, sondern nur durch die Reihe der Ursachen und Wirkungen begriffen werden kann«, »dass nämlich kein Endliches unmittelbar aus dem Absoluten entstehen und auf dieses zurückgeführt werden kann« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41; Herv. v. Verf.), andeuten, dass die hier durchgeführte Konstruktion der Forderung, keine Stetigkeit zwischen Absolutem und Wirklichem anzunehmen, auch wirklich genügt. Dies zeigt sich daran, dass das Absolute nur »nach dem Einen ersten Gesetz der Form der Absolutheit«, also nach dem Gesetz der Identität gedacht werden kann, das Endliche aber gar nicht nach diesem Gesetz abgeleitet werden kann, sondern vielmehr nach dem Gesetz der Kausalität, nämlich ›nur durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen begriffen werden kann‹, die endlos ist (Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. AA I,10, 127 (§§ 27 f.) u. 132 f. (§§ 35–38)). Das Endliche ist also gar nicht durch das Gesetz der Identität, sondern durch das Kausalitätsgesetz bestimmt. Bereits dieses Gesetz drückt »ein absolutes Abbrechen vom Unendlichen« aus (Schelling 1804, 39, 34 / SW VI, 41, 38). 92 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf. 93 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. 91

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Der Abfall als formelle Anforderung

Idee des Absoluten führen würde (vgl. AA I,10, 125 (§ 23)). Es ist also zunächst gezeigt worden, dass das Selbsterkennen wesentlich zur Idee des Absoluten gehöre, diese Idee ohne jenes Selbsterkennen selbst aufgehoben wäre. Wenn es also eine zum Selbsterkennen erforderliche Differenz von Subjektivität und Objektivität geben soll, dann muss diese als eine quantitative gedacht werden, weil sonst erneut die leitende Idee aufgehoben wäre. Daraus entsteht die Aufgabe, wie eine solche quantitative Differenz zu denken sei. 94 So ist auch mit der Einführung des Ausdrucks des Abfalls nur eine Konstruktionsanforderung oder eine Präzisierung der Aufgabe formuliert. Jeder Versuch, das Verhältnis von Absolutem und endlichen Dingen nicht als einen Abfall zu denken, führt, so Schellings Behauptung, auf Widersprüche. Der ganze Zusammenhang der Einführung dieses Ausdrucks macht deutlich genug, dass Schelling mit ihm zunächst nur eine formelle Anforderung bezeichnet haben will. So kommt er erst ganz am Ende eines Absatzes vor, nachdem Schelling dort vorher andere Ausdrücke verwendet hatte, wie ›Abbrechen‹, ›Sprung‹, ›Entfernung‹, als Gegenstücke zur Annahme einer Stetigkeit oder Mitteilung. Wenn die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten erklärt werden soll, dann muss diese Erklärung der Anforderung genügen, dass sie keine Stetigkeit beider impliziert, sondern als ein Abfall gedacht wird. Dadurch ist somit noch nichts darüber gesagt, wie diese Anforderung zu erfüllen sei. Damit argumentiert Schelling dafür, dass jeder Lösungsversuch der Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge diese Anforderung zu erfüllen hat, wenn er die Widersprüche vermeiden will, auf welche die bisherigen Versuche nach dem Vorhergehenden unweigerlich führen. Damit ist also nur die Richtung angezeigt, in welcher zu suchen sei, sowie die Richtungen, die von vornherein auszuschließen sind, da sie gegen die Anforderung verstoßen. Wie die Aufgabe zu lösen sei, ist erst in der Folge zu zeigen. Man hat demnach strengstens zwischen zwei Thesen zu unterscheiden. Nach der ersten These ist die gestellte Aufgabe nur so zu lösen, dass die Abkunft der endlichen Dinge als ein Abfall gedacht wird. Diese These ließe sich nur dadurch bestreiten, dass man nachweist, wie eine Stetigkeit zwischen dem Absoluten und den endlichen Dingen angenommen werden kann, ohne dass sich daraus die In der Darstellung meines Systems dienen die §§ 24–29 (AA I,10, 126 f.) dazu, diese Aufgabe weiter zu präzisieren, während Schelling in den §§ 30–50 (AA I,10, 127–143) zeigt, wie sie seiner Meinung nach zu lösen ist.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

referierten Widersprüchen ergeben. Diese These ist insofern von Schellings eigenem System unabhängig, da er zu ihr durch eine immanente Kritik der bisherigen Versuche gelangt. Die zweite These betrifft Schellings eigenen Lösungsvorschlag, auf den wir erst weiter unten eingehen können. Wer diese Lösung bestreiten will, bräuchte dazu noch nicht das Abfalltheorem zu leugnen. Er hätte stattdessen lediglich zu zeigen, dass Schellings Lösung die Anforderung, die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als einen Abfall zu denken, entweder nicht erfüllt oder dass es eine alternative Möglichkeit gibt, einen solchen Abfall zu denken. Es wäre jedenfalls eine allzu starke inhaltliche Aufladung dieses Begriffs, in ihn sogleich eine christliche Sündenfallslehre hineinzuinterpretieren. 95 Unbestreitbar ist, dass der Ausdruck zu einer solchen Interpretation geradezu einlädt. Auch sonst, allem voran in den Philosophischen Untersuchungen, übernimmt Schelling gerne eine theologisch aufgeladene Terminologie, wie z. B. ›Schöpfung‹, ›Offenbarung‹ oder ›Vorsehung‹, um damit Begriffe zu bezeichnen, die mit den theologischen Begriffen, insbesondere mit der Art, wie diese begründet werden, nicht übereinzustimmen brauchen. Gerade bei der So van Bladel 1965, 52, 59 f. Mit einem anderen kritischen Vorzeichen findet dieselbe Interpretationslinie sich bspw. auch bei Hans-Jörg Sandkühler, der Schelling eine »Wendung zur theologischen Sündenfallslehre« bescheinigt und daraus schließt: »Schellings Geschichtsphilosophie ist eine eschatologische Fortschrittstheorie mit dem Kriterium der Offenbarung des Absoluten. Sie ist eine verfallstheoretische Fortschrittskonzeption, denn unter den Bedingungen des Absoluten degeneriert die endliche Geschichte des Menschen zu einem notwendigen Medium der Seinsgeschichte, notwendig in ihrer Depraviertheit« (Sandkühler 1968, 166, 168). Ebenso wenig können wir Heideggers Diagnose zustimmen, wonach Sünde bei Schelling ein Indiz für eine »Verweltlichung des theologischen Begriffs der Sünde und eine Verchristlichung des metaphysischen Begriffes des Bösen« darstellt (Heidegger 1988, 251). Wenn Schelling den Ausdruck gelegentlich auch verwendet, so stets im Zusammenhang eines Begriffs des Bösen, wovon noch zu untersuchen wäre, inwiefern er sich mit dem christlichen Sündenbegriff vereinigen ließe. In Philosophie und Religion jedenfalls ist genau besehen nur ein einziges Mal von Sündenfall die Rede, und zwar um die Philosophie Fichtes zu charakterisieren (vgl. Schelling 1804, 42 / SW VI, 43). Xavier Tilliette bemerkt denn auch zu Recht, dass der Begriff »n’est pas emprunté à la théologie, malgré l’emploi incident du terme ›péché originel‹ […]. [I]ci la signification chrétienne de la chute, et corrélativement de la création, est écartée« (Tilliette 1992, 490). Hier wie sonst werden dieser und verwandte Ausdrücke höchstens als bildliche Ausdrücke verwendet, teils um zu einer christlich-orthodoxen Lektüre zu verführen, teils um dem aufmerksamen Leser anzudeuten, wogegen das gerade entwickelte Theoriestück sich richtet, teils um den sittlichen Charakter hervorzuheben, der dem Abfall im Menschen zuwächst.

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Der Abfall als formelle Anforderung

Wahl solcher Ausdrücke ist die Frage nach Schellings Intention mit denselben von entscheidender Bedeutung, die Frage also, ob er eine philosophische Rechtfertigung der christlichen Lehre intendiert oder ob er durch solche Ausdrücke nicht vielmehr signalisiert, gegen welche Alternative sein eigener Entwurf sich im Grunde richtet. 96 Da es So unterstellt Michael Theunissen Schelling zwar die Intention, sowohl die Lehre vom Sündenfall als auch der Schöpfung philosophisch zu legitimieren, kommt aber dennoch nicht umhin, festzustellen, dass Schellings Begriffe von ›Sünde‹, ›Abfall‹ und ›Schöpfung‹ sich nur schwer mit christlichen Begriffen zur Deckung bringen lassen, und ist z. B. dazu genötigt, von »Schellings, christlich gesehen, defizientem Schöpfungsbegriff« zu sprechen (Theunissen 1965, 181 f.). Sein Fazit lautet, dass »die Verknüpfung der neuen Lehre vom Menschen mit der biblischen Sündenfallgeschichte nur äußerlich ist« (Theunissen 1965, 185). Am schwerwiegendsten ist wohl, dass der Sündenfall nach der christlichen Lehre eine Erbsünde ist, d. h. eine solche, der »zufolge sich in Adam das ganze Menschengeschlecht für das Böse entschieden hat« (Theunissen 1965, 186), während nach dem Theorem der intelligiblen Tat jeder einzelne sich für oder wider das Böse entscheidet. Nach dem christlichen Dogma ist die Entscheidung für das Böse für die übrige Menschheit außer Adam notwendig, weil durch diesen notwendig gemacht. Die Erkenntnis dieses Aspekts der christlichen Sündenfallslehre setzt keine mehr als nur gewöhnliche Bekanntschaft mit der christlichen Lehre voraus. Nur weil er Schelling jene Intention zudichtet, sieht Theunissen sich dazu genötigt, dessen Vorhaben als gescheitert anzusehen. Aufschlussreich sind ferner noch folgende Äußerungen, aus welchen auch erhellen dürfte, inwieweit die Lesart Theunissens sich der Position Eschenmayers annähert: »[E]s könnte sogar sein, daß sich in der Abwegigkeit des Weges das Recht der Philosophie durchsetzt, die nicht zu denken vermag, was Schelling ihr zu denken aufgibt: die derivierte Absolutheit im schöpfungstheologischen Sinne. Dann wäre Schellings Scheitern das notwendige Schicksal des Philosophen, der die geglaubte Geschöpflichkeit des Menschen zu denken versucht, obwohl er sie nur glauben kann« (Theunissen 1965, 188; Herv. v. Verf.). Auch Eschenmayer hatte behauptet, dass sich im Glauben eine Abhängigkeit des Menschen von Gott zeigt oder offenbart, die nicht mehr demonstriert werden kann, sondern die nur durch das Scheitern jeder Demonstration beglaubigt werden kann, eine Abhängigkeit, die nur geglaubt, nicht erkannt werden kann. Zum Schluss verweist auch Theunissen auf Kierkegaard und unterschreibt damit das jaspersche Diktum, dass man Schelling nur im Ausgang von Kierkegaard wirklich verstehen kann. Selbst in der Spätphilosophie verstünde Schelling die Gesetztheit oder Faktizität der Freiheit als »Geschöpflichkeit«, aber »daß sie Geschöpflichkeit ist, das läßt er sich von der Erfahrung vorgeben […]. Damit läßt sich der späte Schelling das Wissen von der Geschöpflichkeit des Menschen zwar gerade nicht durch die Offenbarung vermitteln. Aber seine These, wonach das Faktum der Schöpfung von der bei sich verbleibenden Vernunft nicht begriffen werden kann, macht doch immerhin Platz für die Erkenntnis, daß dieses Faktum allein dem Glaubenden gewiß ist« (Theunissen 1965, 189; zweite u. dritte Herv. v. Verf.). Anlässlich der Interpretation Fuhrmans’ bemerkt Louis Van Bladel: »Die Schwierigkeiten aber, die Fuhrmans befürchtet, die Widersprüche, die er entdeckt […] scheinen uns nur dann zu entstehen, wenn man Schellings Philosophie um jeden Preis als einen transzendenten, explikativschöpferischen Theismus

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Schelling jedoch kaum verborgen geblieben sein konnte, dass der Ausdruck eines ›Abfalls‹ eine Deutung nach dem Modell der Sündenfallslehre nicht nur nahelegt, sondern geradezu herausfordert, scheint es sicherer, anzunehmen, dass Schelling mittels dieser Terminologie unaufmerksamere Leser dazu verführen möchte, eine christliche Lehre hineinzulesen oder seine Ansicht mit einer solchen wenigstens für verträglich zu halten, während er den aufmerksameren Leser vielmehr auf die Unverträglichkeit beider aufmerksam machen will. 97 So geht gerade aus dem Zusammenhang, in welchem er den Abfall einführt, hervor, dass dieser als Gegenbegriff zum Begriff der Schöpfung gemeint ist, den er als den »roheste[n] Versuch« bezeichnet, sowohl die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als auch ihr Verhältnis zu ihm zu bestimmen. 98 interpretieren will«, d. h. sie entstehen aus der Intention, die man Schelling zuschreibt (van Bladel 1965, 53). 97 Vgl. Brouwer 2011, 172 f.: »Jedoch muss dieser Beruhigung, die mit dem bloßen Aufscheinen von Trinität einsetzt, der beunruhigende Befund entgegensetzt werden: Das Wort Trinität begegnet ebenso wie sein deutsches Äquivalent Dreieinigkeit in der gesamten Freiheitsschrift kein einziges Mal. Auch das Wort Vater gibt es hier nicht! Vom Sohn hingegen ist an zwei Stellen die Rede, jedoch nicht im Sinne trinitarischer Verhältnisbestimmung in einem immanenten Sinne. Und schließlich taucht auch das trinitarisch bedeutende Wort Person nicht in differenzierender Verwendung auf. Wir müssen also feststellen: wenn Schelling trinitarisch spricht, so tut er dies, ohne von Trinität zu sprechen, ja sogar noch weiter müssen wir es treiben: wenn es so sein soll, dass Schelling trinitarisch argumentiert, dann tut er dies auf ganz und gar untrinitarische Weise«. Von der Idee der Dreieinigkeit behauptet Schelling, dass sie, »nicht speculativ aufgefaßt, überhaupt ohne Sinn ist« (Schelling 1803a, 192 / SW V, 297; vgl. SW V, 430 f.). Brouwer beobachtet ferner, dass Schelling »an keiner Stelle der Freiheitsschrift von Christus« spricht. In dem Licht ist es schwer zu sehen, inwiefern sie in der Folge die Begründung einer Christologie liefern soll, die sie höchstens »aufscheinen« lässt (Brouwer 2011, 274). Um mehr als um ein solches ›Aufscheinenlassen‹ oder eine Aktivierung gewisser Assoziationen scheint es Schelling in der Tat nicht zu tun zu sein. Es ist denn auch zu bezweifeln, ob er mit dem Begriff des Absoluten, bes. der drei Momente, die in demselben unterschieden werden, »ganz bewußt an ein christliches Theorem […] angeknüpft hat« (so Holz 1970, 60). Vgl. ferner Mokrosch 1976, 310: »Die Themen und Begriffe, die Schelling in dieser Schrift [sc. Philosophie und Religion, R. S.] aufgreift, sind auf den ersten Blick rein theologischer Natur. Er möchte offensichtlich alle theologischen Hauptloci mit einem einzigen Schlag einfangen: die Lehre von Gott, vom Ursprung des Bösen, von der Versöhnung, von der Ewigkeit und von der Unsterblichkeit. Aber dieser theologische Tenor ist situationsbedingt. Die Schrift stellt nämlich eine Antwort Schellings auf den theologisch-philosophischen Traktat seines Würzburger Mediziner- und Philosophen-Freundes E. A. [sic, R. S.] Eschenmayer […] dar«. 98 Schelling 1804, 31 f. / SW VI, 36; vgl. Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 39; und Schel-

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Der Abfall als formelle Anforderung

Aufgrund dieser Überlegungen wäre es leicht irreführend, wenn man, wie öfters geschieht, den Abfall zu einem, dazu noch zu dem zentralen terminus technicus dieser Schrift hochstilisiert. Schelling selbst gesteht ein, dass die Wahl dieses Ausdrucks vielleicht ungeschickt, jedenfalls missverständlich war, dass er auch nicht als terminus technicus gedacht, sondern nur durch die ursprünglich symbolische Darstellungsweise motiviert war. 99 Der spätere Verzicht auf den Ausdruck braucht demnach noch nicht zu bedeuten, dass Schelling auch den durch ihn bezeichneten Begriff fallen lässt. Zudem bemerkt Schelling genau an dem Ort, wo er diesen Ausdruck auf eine auffällige Weise verwendet, dass der entsprechende Begriff sich bereits an solchen Stellen, wie im Gespräch Bruno, findet, wo der Ausdruck selbst überhaupt nicht vorkommt. Am Anfang und am Ende des Abschnittes, wo der Ausdruck so prominent vorkommt, hebt Schelling ausdrücklich hervor, dass dasjenige, was er hier zu erörtern suchte, keineswegs ›neu‹ ist, sondern bereits in früheren Schriften entwickelt wurde. 100 So heißt es in der dem Hauptteil des Abschnittes über die ›Abkunft der endlichen Dingen‹ vorgeschalteten Präambel: Eschenling 1809a, 403 / SW VII, 339: »Absolute Kausalität in Einem Wesen lässt allen andern nur unbedingte Passivität übrig«. 99 In einem Brief an K. J. H. Windischmann vom 5. September 1805 bemerkt Schelling, dass die Idee des Abfalls »unbequem für den wissenschaftlichen Vortrag der Philosophie [ist], daher ich sie für diesen auch fallen lasse, wie ich sie ursprünglich nur für die Darstellung eines philosophischen Gesprächs aufgenommen hatte« (F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. September 1805, Fuhrmans, Briefe III, 252; Herv. v. Verf.). Es wird demnach nicht »die Abfallslehre relativiert«, sondern es werden nur die Vor- und Nachteile des Ausdrucks diskutiert (Vergauwen 1975, 96). In der von Vergauwen zitierte Briefstelle bemerkt Schelling: »[W]as gegen sie [die Idee bzw. die Lehre des Abfalls, R. S.] gesagt worden ist, ist leicht zu beantworten«, anders gesagt: Von den bisher vorgebrachten Einwürfen gegen die Idee selbst meint Schelling, dass sie allesamt leicht zu beantworten sind. Er gesteht aber, dass der Ausdruck leicht ›zu vielen Mißverständnissen‹ Anlass geben kann und ›daher unbequem für den wissenschaftlichen Vortrag der Philosophie‹ ist. Es darf hier offenbleiben, inwiefern er solche Missverständnisse hatte voraussehen können und inwiefern er sie somit in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt hat. – Ebenso verfehlt scheint es mir, den Begriff des Abfalls dadurch zu ›erklären‹, dass man ihn auf christliche, neuplatonische oder gnostische Quellen zurückzuführen sucht. Dort, wo Schelling den Ausdruck zum ersten Mal einführt, verweist er eben nicht auf solche Quellen, sondern behauptet nur, dass diese Ansicht mit der »wahrhaft Platonische[n] [Lehre]« übereinstimmt (Schelling 1804, 35 / SW VI, 38). – Für frühere Verwendungen des Ausdrucks vgl. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; SW V, 424, 429, 437, 453, 467. 100 So auch Tilliette 1992, 487: »la clef de la solution, la théorie de la chute, n’est pas une hypothèse soudaine, étrangère, et amenée pour les besoins de la cause«. Noch

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

mayer »findet ganz natürlich in den nächstfolgenden Stellen die befriedigende Auflösung nicht«; dennoch kommt »im Verlauf« Brunos die Auflösung wirklich vor. 101 Am Ende des Abschnittes fasst Schelling dann die bisherigen Erörterungen nochmals in drei thesenhaften Sätzen zusammen, die er an Hand von Zitaten aus früheren Schriften und mittels Hinweisen auf weitere Stellen nochmals ausdrücklich als alles andere als neu hervorhebt. 102 Das wirklich Neue dieser Schrift findet sich somit ausschließlich darin, dass die Darstellung des Systems hier »bis zu demjenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie), fortgeführt« werden soll, den er andernorts noch nicht behandelt hatte. 103 Dies geschieht nun offensichtlich erst ab dem dritten, nicht aber bereits im zweiten Abschnitt. Wir können hier also bereits festhalten, dass der ›Abfall‹ zwar eine terminologische, jedoch keine begriffliche oder systematische Neuerung darstellt. Jedenfalls kann er nicht in dem Sinn als ein terminus technicus angesehen werden, als er zum einen nur durch die symbolische Darstellungsweise motiviert war, zum anderen nur eine formelle Anforderung und noch nicht die wirkliche Auflösung der Frage bezeichnet. Wir werden noch Gelegenheit haben, auf die Vorzüge hinzuweisen, die der Ausdruck dennoch bereithält. Wenn Schelling es demnach unternimmt, das »relative Nichtseyn der Besonderheit, d. h. ihr Seyn als nicht-absoluter […] in seinen nähern Bestimmungen zu zeigen« (SW VI, 189 (§ 35 Folges.)) oder eine »vollständige Ableitung aller Bestimmungen des einzelnen Dings« durchzuführen (SW VI, 196 (§ 40 Zus.)), dann sind alle diese Bestimmungen in genau demselben Sinne negativ oder extrinsisch wie auch die Bestimmungen des Absoluten, wie diese im ersten Abschnitt von Philosophie und Religion abgeleitet wurden. 104 Auch diese Ableitung geschieht im Vergleich, nun mit dem Absoluten. Auch von diesen Bestimmungen gilt, dass nichts endlich oder einzeln sein kann, ohne diese Bestimmungen aufzuweisen, dass sie es aber nicht durch diese Bestimmungen sind, oder, anders gesagt: dass sie nicht das Prinzip der Endlichkeit der Dinge enthalten. Die wichtigsten dieser Bestimmunstärker: »la chute n’a jamais été absent de l’horizon intellectuel de Schelling […] l’Abfall est une constante de la pensée mouvante de Schelling« (Herv. v. Verf.). 101 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28. 102 Vgl. Schelling 1804, 52 / SW VI, 49 f. 103 Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. 104 Dies geschieht in den Würzburger Vorlesungen in den §§ 36–41 (SW VI, 189– 199).

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Die Möglichkeit des Abfalls

gen sind folgende: 1) Ein Endliches oder Einzelnes ist datierbar und lokalisierbar oder zeitlich und räumlich verortbar; es nimmt einen bestimmten räumlich-zeitlichen Ausschnitt ein. Diese Bestimmung ist, wie die andere auch, nicht auf das, was man gewöhnlicherweise ›Ding‹ oder materielle Entität nennt, eingeschränkt, sondern ebenso für Ereignisse gültig. So ist beispielsweise die Überschreitung des Rubikons durch Caesar ebenso lokalisierbar und datierbar wie Caesar oder der Rubikon selbst. 2) Es steht in kausalen Verhältnissen zu anderen Dingen. So bildet die Überschreitung des Rubikons ein Ereignis, das in einer Kette von Ursachen und Wirkungen eingebunden ist. Wir können sowohl die Ursachen untersuchen, die zu diesem Ereignis geführt, als auch die Folgen, die sich aus ihm ergeben haben. 3) Ein Einzelnes ist durch die ›Differenz von Wesen und Form‹ gekennzeichnet. Keine der Ursachen, die zu jenem Ereignis geführt haben, ist derart, dass es sich zwangsläufig aus ihnen ergeben hat. Dasselbe gilt auch von den Wirkungen, die sich an es angeknüpft haben. Diese tatsächlichen Wirkungen sind sozusagen nur ein Ausschnitt der möglichen Wirkungen, die sich daran hätten anknüpfen können. 105

4. Die Möglichkeit des Abfalls Damit haben wir die negative Anforderung näher präzisiert, die durch den Ausdruck ›Abfall‹ angezeigt wird. Nachdem Schelling die Notwendigkeit dieser formellen Anforderung in der Auseinandersetzung mit alternativen Lösungsvorschlägen nachgewiesen und auf ihre Übereinstimmung mit der platonischen Lehre hingewiesen hat, 106 geht er dazu über, seinen eigenen Lösungsvorschlag zu präsentieren. 107 Diese Absätze enthalten den spekulativen Kern dieses Abschnitts. Dem schließen sich Erläuterungen an, die zum einen die Nähe zu Fichte nachweisen sollen, 108 zum anderen noch einige naturphilosophische ›Ramificationen‹ dieses Prinzips aufzeigen. 109 AbVgl. Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386. Vgl. dazu Davidson 1969, der zu dem Ergebnis kommt, dass die Individuation von Ereignissen sich nicht wesentlich von der Individuation von Individuen oder materiellen Dingen unterscheidet. 106 Vgl. Schelling 1804, 28–36 / SW VI, 35–39. 107 Vgl. Schelling 1804, 36–40 / SW VI, 39–42. 108 Vgl. Schelling 1804, 41–43 / SW VI, 42–44. 109 Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49. 105

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

schließend verweist er den Leser noch auf einige Stellen in seinen früheren Schriften, aus welchen hervorgeht, dass die Idee des Abfalls keinen neuen Ertrag darstellt, sondern sich dort bereits findet. 110 Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen war Folgendes: Wenn die endlichen, einzelnen Dinge aus dem Absoluten abgeleitet werden sollen, dann kann dies nur gelingen, wenn sich daraus ergibt, dass jene als ein Abfall von diesem zu betrachten sind. Die Ideen oder Potenzen sind hingegen nicht aus einem Abfall zu erklären, weil sie mit dem Absoluten die gleiche Realität haben. Zwischen den Potenzen gibt es allerdings verschiedene Realitätsgrade: sie sind untereinander nur quantitativ different. Diese quantitative Differenz zeigt sich aber erst an den Dingen, die Fall von ihnen sind. 111 Die endlichen Dinge müssen demnach so gedacht werden, dass sie mit dem Absoluten nicht die gleiche Realität teilen und es zwischen ihnen und ihm und untereinander nicht bloß eine quantitative Differenz der Realität gibt. Dazu kehrt Schelling nun auf den Punkt zurück, an welchem er die Konstruktion der Potenzen oder Ideen unterbrochen hatte. Er wiederholt deren Ergebnis: »Durch dieselbe stille und ewige Wirkung der Form, durch welche die Wesenheit des Absoluten sich im Object abund ihm einbildet, ist dieses auch, gleich jenem, absolut in sich selbst«. 112 Nachdem er das Unzureichende bisheriger Versuche, die Endlichkeit aus dem Absoluten abzuleiten, dargetan hat, kommt Schelling noch einmal auf die Verfassung des Realen zurück. Eine nähere Betrachtung jener Verfassung zeigt nämlich, wie im Begriff des Realen oder des Subjekt-Objekts die Möglichkeit einer Abkunft endlicher Dinge, insofern diese als ein Abfall gedacht werden soll, bereits enthalten ist. Das Gegenbild wäre nicht im eigentlichen Sinn selbst ein Absolutes, »könnte es nicht sich in seiner Selbstheit ergreifen«, d. h. wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wäre, selbst die Subjektstelle zu besetzen und sich selbst zu objektivieren. 113 Diese Besetzung der Subjektstelle durch das Dritte ist indes nicht möglich, ohne dass es »sich eben dadurch von dem wahren Absoluten« trennt. 114 In der Notwendigkeit, dass das Absolute sich darstellt und

110 111 112 113 114

Vgl. Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f. Vgl. AA I,10, 126 (§ 25); Schelling 1803c, 35 f. / SW IV, 413 f. Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Schelling 1804, 37 / SW VI, 39. Schelling 1804, 37 / SW VI, 40.

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Die Möglichkeit des Abfalls

in der damit korrespondierenden Verfassung der Darstellung desselben (des Realen), liegt die Möglichkeit eines Abfalls vorgezeichnet. Erst damit wird der Begriff des Dritten oder der Drittheit vervollständigt. Bislang hatten wir nämlich nur zwei Komponenten dieser Idee und das Absolute damit noch nicht als Drittheit: das Reale als Objektivierung oder Darstellung des Schlechthin-Idealen (des Ersten) und dasselbe in seiner Bestimmtheit durch die Form (das Zweite). Wie gesagt kommt das Absolute (das Wesen) nicht ohne eine komplexe Form aus. Diese ewige (oder absolute) Form ist, dass »das schlechthin-Ideale, unmittelbar als solches, ohne also aus seiner Idealität herauszugehen, auch als ein Reales sey«. 115 Dadurch ist das Reale als das Dritte bestimmt, insofern nur dasjenige als ein Absolut-Reales angesehen werden kann, das jener Form gemäß ist. 116 Dabei ist zu beachten, dass die drei Momente nicht einfach nebeneinander stehen, sondern dass das vorhergehende Moment immer in das nachfolgende Moment mit hineingenommen wird, ihm dabei jedoch auch eine neue Qualität zuwächst. Deshalb ist das »Gegenbild« »zugleich es [das Wesen oder das Ideale, R. S.] selbst« und dadurch »ein wahrhaft anderes Absolutes«. 117 Erneut heißt es: Das Reale ist »dasselbe« als das Ideale »dem Wesen nach«, »aber ewig ein anderes, der ideellen Bestimmung nach«, nämlich als Folge des Idealen. 118 Gerade wegen dieser Andersheit, der ideellen Bestimmung nach, vermengt es sich nicht mit dem Idealen, obwohl es dem Wesen nach dasselbe ist. Und so heißt es denn auch, dass das Reale selbst »ein Absolutes und Unabhängiges seyn muss«, wenn es sich nicht mit dem Idealen vermengen soll. 119 Das Ideale muss sich somit in das Reale einbilden und selbst in ihm präsent sein, damit dieses absolut sei – da es nur als absolut das Reale jenes Idealen sein kann. Nur durch die Hineinbildung des Wesens in das Reale ist dieses selbst »selbstständig und gleich dem ersten Absoluten in sich selbst«. 120 Es handelt sich hierbei um Darstellungsverhältnisse oder um die Frage, wie das Wesen so abgebildet werden kann, dass die Abbildung dem sich Abbildenden völlig gleich ist oder Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. Deshalb heißt es Schelling 1804, 22 / SW VI, 30: »Dieses Reale ist nun eine blosse Folge der Form, so wie die Form eine stille und ruhige Folge des Idealen, des schlechthin-Einfachen ist«. 117 Schelling 1804, 28 / SW VI, 34. 118 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. 119 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31; Herv. v. Verf. 120 Schelling 1804, 29 / SW VI, 34. 115 116

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

eine völlige Isomorphie oder Identität zwischen beiden besteht, ohne dass die Selbständigkeit der Abbildung dadurch aufgehoben wird. Diese Gleichheit von Realem und Idealem impliziert zugleich eine grundlegende Differenz beider, da die Absolutheit des Realen nur eine derivierte Absolutheit ist, 121 die es nicht aus sich selbst hat, sondern nur in seiner Qualität als Abbildung des Idealen: »[E]s ist doch nur absolut und selbstständig in der Selbstobjectivirung des Absoluten, und demnach wahrhaft in sich selbst, nur sofern es zugleich in der absoluten Form und dadurch im Absoluten ist«. 122 Dieses Verhältnis bezeichnet Schelling auch als ein solches der Zeugung: Das Gezeugte ist »von dem Zeugenden abhängig und nichts destoweniger selbstständig«. 123 Es ist durch die »Wirkung der Form«, dass das Reale, »gleich jenem, absolut in sich selbst« ist. 124 Die Absolutheit des Realen beruht somit auf dessen Idealität, sodass es nur wirklich absolut ist, insofern es ganz ideal ist. Das Wesen (oder das Ideale), insofern es im Realen eingebaut ist, ist demnach in ihm als Grund seiner Realität. Dementsprechend unterscheidet Schelling zwei Seiten des Realen. 125 Er spricht von einer idealen, subjektiven Seite, woraus wir schließen können, dass die andere Seite als die reale, objektive zu beVgl. Schelling 1809a, 414 / SW VII, 347. – Die ›derivirte Absolutheit‹ kommt dem Realen oder den Ideen, nicht erst den endlichen Dinge zu. Dies scheint z. B. Michael Theunissen übersehen zu haben. Er setzt nämlich die derivierte Absolutheit schlechthin mit dem Erschaffensein des Menschen gleich. Aus der einzigen Stelle, wo der Ausdruck in der Freiheitsschrift vorkommt, geht jedoch klar hervor, dass diese derivierte Absolutheit vorzugsweise der Natur zukommt, d. h. auch auf den Menschen nur insofern zutrifft, als dieser ein Naturwesen ist. Der Begriff dient demnach gar nicht dazu, das Spezifische der menschlichen Freiheit zu fassen. Dies muss Theunissen letztlich auch selbst eingestehen, wenn er sagt, dass »Schelling hier noch jene Unabhängigkeit von Gott im Auge [hat], die auch der nicht-menschlichen Kreatur eignet«; »In diesem Zusammenhang tritt die menschliche Freiheit zunächst sozusagen nur als ein besonders eklatanter Fall von Selbständigkeit auf« (Theunissen 1965, 180 f.). 122 Schelling 1804, 29 / SW VI, 34. 123 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. 124 Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. 125 Statt von einer »gedoppelte[n] Seite« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41) kann man auch von zwei Prinzipien sprechen: eines, durch welches es selbst absolut ist (ein anderes Absolutes ist), ein anderes, durch welches es ›im An-sich‹ ist, also eine nur derivierte Absolutheit hat. Insofern das Reale zum einen nur durch die Idealität absolut ist, zum anderen zwei Prinzipien oder eine gedoppelte Seite in sich hat, ist ihm und allem, was in ihm begriffen ist, ein »doppeltes Leben verliehen« (Schelling 1804, 40 / SW VI, 41). Dies bezeichnet Schelling später als Eigen- und Universalwillen (vgl. Schelling 1809a, 436–440 / SW VII, 363–365). 121

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Die Möglichkeit des Abfalls

stimmen ist. Letztere ist diejenige, wonach das Wesen oder das Ideale im Realen eingebildet ist und dieses dadurch absolut und selbständig. Das Reale hat nur durch die Einbildung des Idealen in ihm Realität. Die erste Seite ist die, wonach diese Absolutheit doch nur bedingungsweise vom Realen gilt, nämlich nur insofern es zugleich in der absoluten Form und im Absoluten ist. Jene Realität hat es nur, insofern es ganz ideal ist. Am Realen können demnach diese beiden Seiten – Realität und Idealität – unterschieden werden, obwohl sie in ihm zunächst in der Indifferenz oder der völligen Übereinstimmung sind. Es wurde gesagt, dass das Ideale (das Wesen) sich in das Reale einbildet. Als wesentlich für das Wesen hatten wir hervorgehoben, dass es sich darstellt oder objektiviert. Demnach muss auch dem Realen diese Möglichkeit der Darstellung zukommen oder es muss darstellungsfähig sein: Das Reale muss »gleich ihm [dem Idealen, R. S.] seine Idealität in Realität« umwandeln können. 126 Hier wiederholt sich somit das Verhältnis zwischen Realem und Idealem. Die Objektivierungen des Realen verhalten sich jetzt genau so zum Realen, wie dieses sich zum Idealen verhielt, und umgekehrt verhält das Reale sich zu seinen Objektivierungen wie deren Ideale. Auch die Objektivierungen sind »real nur, sofern sie zugleich in der Ureinheit, also ideal sind«. 127 Realität wird hier auch mit ›in-sich-Seyn‹ oder Selbständigkeit gleichgesetzt. Diese Doppelung des Realen oder des Dritten überhaupt gilt von allen Ideen. So wie das Gegenbild oder das Reale überhaupt diese doppelte Möglichkeit hat, genau so kommt diese auch allem in ihm Begriffenem, d. h. allen Ideen, zu. Die Ideen sind danach als Selbstrepräsentationen des Gegenbilds zu denken. Diese können indessen nur insofern als angemessene Darstellungen des Absoluten bestimmt werden, als sie selbst, wie jenes, ebenfalls die Struktur eines Selbsterkennens aufweisen und d. h. indem sie auch selbst wieder fähig sind, sich darzustellen. Der Prozess der Darstellung wiederholt sich demnach im Falle der Potenzen. Hieraus ergeben sich folgende Forderungen: 1) Die Ideen können nur insofern als Darstellungen des Absoluten gelten, als ihnen auch selbst die Darstellungsfähigkeit zukommt. 2) Die Darstellung einer Idee kann indessen nicht wieder unendlich sein, da sie dadurch selbst wieder eine Idee und damit eine Darstellung des Absoluten wäre. Von den Ideen ist

126 127

Schelling 1804, 29 / SW VI, 35. Schelling 1804, 29, 36 / SW VI, 35, 39.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

demnach nur eine indirekte Darstellung möglich, d. h. durch solches, was nur Fall von ihnen ist (vgl. KrV, AA 4, 199 f., 202). 128 3) Diese Forderung kann so präzisiert werden, dass die Darstellungen einer Idee diese mit einer Negation darstellen. Genau dies drückt auch der Begriff eines Abfalls oder einer defectio aus. Deshalb spricht Schelling diesbezüglich auch von der Schein- oder Nicht-Realität der endlichen Dinge. 129 Damit ist also keineswegs gesagt, dass es die endlichen Dinge eigentlich nicht gibt. 130 4) Schelling wird demnach zu zeigen haben, wie die endlichen Dinge mit einem Schein gleichursprünglich sind, d. h. woher es kommt, dass solches, was an sich keine Realität hat, dennoch so auftritt, dass es sich als Realität manifestiert. 131 Das Gegenbild oder das Reale ist nur insofern ein wahres Gegenbild, als es auch selbst absolut ist. Nur als ein ›anderes Absolutes‹ kann es Gegenbild oder Objektivierung des Wesens sein. Dies ist es nur insofern, als auch ihm die Möglichkeit zukommt, sich selbst zu objektivieren oder darzustellen. Es ist also zwar die Objektivierung des Wesens, das sich zu ihm als Subjekt verhält, aber es muss zugleich auch selbst Subjekt sein oder sich objektivieren können. Dies ist die

Damit hat Kant allerdings nur ein Merkmal einer Idee hervorgehoben. Vgl. Schelling 1804, 37 f., 44, 47 / SW VI, 40, 44, 46. 130 So Shikaya 2000, 96, 98: »Das endliche Ding und auch der es betrachtende reflektierende Verstand dürfen in diesem System demnach nicht sein«. Träfe dies zu, dann müsste es verwundern, dass Schelling behauptet, dass »alle diese Bestimmungen«, nämlich der endlichen Dinge oder der »wirkliche[n] Welt, die es«, nach Shikaya, »identitätsphilosophisch eigentlich nicht gibt«, »selbst erst abgeleitet werden müssen« (Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386). 131 Mit der Behauptung einer Schein-Realität nimmt Schelling das kantische Theorem des transzendentalen Scheins verwandelnd auf. Dies geht am deutlichsten aus Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357, hervor, wo er eine kantische Formulierung aufgreift (vgl. KrV, AA 4, 215). – Die endlichen Dinge sind insofern mit einem Schein verwachsen, als sie zwar nur ihren Eigenwillen oder ihre Selbstheit verfolgen, dabei außerstande sind, einzusehen, dass dieser im Universalwillen eingebunden bleibt. Dies lässt sich auf exemplarische Weise am tierischen Instinkt zeigen, wonach die Tiere zwar vernünftig, aber nicht aus Vernunft handeln (vgl. SW VI, 457–470, bes. 459, 460, 462 f.). Gerade deshalb bleiben sie im Schein befangen: ihnen ist nicht die Möglichkeit gegeben, diesen Schein als einen solchen zu durchschauen. Die Möglichkeit, den Schein als Schein zu durchschauen, ist erst dem Menschen gegeben. Hier dürfte auch der Grund liegen, weshalb Schelling hier auch von einem »Leben der Lüge« spricht (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; SW VI, 541): Der Schein wird dort zur Lüge, wo auch die Möglichkeit gegeben ist, ihn als einen solchen zu durchschauen. Der Mensch hat diesen Schein zu verantworten, er kann ihm zugeschrieben werden. Dazu ist es nicht erforderlich, eine Intention zu lügen zu unterstellen. 128 129

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Die Möglichkeit des Abfalls

Doppelseitigkeit des Realen oder des Gegenbilds. Diese Doppelseitigkeit gilt sowohl vom Gegenbild überhaupt als auch von allen in ihm begriffenen Ideen. Während aber das Absolute sich in einem Gegenbild objektiv wird, so kann das Gegenbild sich nur in Scheinbildern objektivieren, d. h. in solchen, die keine adäquaten Darstellungen von ihm sind. Das Ideale wird sich im Realen nicht nur überhaupt objektiv; vielmehr kann es, da es zu seiner Idee gehört, sich zu objektivieren, nur in solchem objektiv werden oder sich in ihm wiedererkennen, das selbst wieder ein Vermögen zur Objektivierung oder zur Selbsterkenntnis hat. Das Vermögen der Selbstanschauung muss also im Angeschauten mit enthalten sein. Deshalb kann die Objektivierung des Idealen nur als ein Subjekt-Objekt gedacht werden. 132 Genau genommen können auch die Darstellungen oder Objektivierungen des Realen kein Rein-Objektives sein, sondern sie müssen ebenfalls die subjekt-objektive Struktur aufweisen (Seele, Wille, Ich). Das Unendliche (oder das Ideale) muss somit wieder in die Seele als Objekt eingebildet werden. Erst dadurch verhält das endliche Ding sich zum Gegenbild so, wie das Gegenbild sich zum Absoluten verhält. Damit ist in der Verfassung des Realen der Grund einer doppelten Möglichkeit enthalten: zum einen der Möglichkeit, dass es ganz in sich, damit aber auch ganz im Grund, in der Natur, ist und dadurch eine Freiheit von Gott behauptet; zum anderen der Möglichkeit, dass es ganz im An-Sich oder im Absoluten ist, wodurch es eine Freiheit von der Natur behauptet. Ihrer idealen Verfassung nach hat jede menschliche Seele diese doppelte Möglichkeit, wenn sich beide auch nicht zugleich aktualisieren lassen. Die Aktualisierung der einen Möglichkeit impliziert somit zugleich den Ausschluss der anderen Möglichkeit. Diese Doppelung enthält indessen von sich aus die Möglichkeit einer Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses in sich, durch welche die beiden Seiten auch als solche und d. h. in ihrer Unterschiedlichkeit oder Differenz hervortreten können. Dadurch, dass der Grund der Möglichkeit des Abfalls oder der Endlichkeit zwar im Absoluten, der Grund der Wirklichkeit desselben jedoch stets im Ab-

»Wie Gott in dem ersten Gegenbild, durch die Form, nicht nur überhaupt sich objectiv wird, sondern auch sein Anschauen selbst wieder in jenem anschaut, damit es ihm vollkommen ähnlich und gleich sey« (Schelling 1804, 51 / SW VI, 49). Nur durch die Einbildung der Selbstanschauung im Angeschauten (im Realen) ist dieses ein anderes Absolutes.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

gefallenen oder Endlichen selbst liegt, ist die Anforderung erfüllt, die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als einen Abfall zu denken. Diese Unterscheidung bedeutet nicht mehr, als dass alle Dinge in irgendeinem Grad eine Form der Ichheit aufweisen. Damit ist nachgewiesen, dass die Möglichkeit eines Abfalls in der Idee des Realen oder Dritten notwendig enthalten ist. 133 So wie der Konstruktion der Idee des Absoluten ihrer inneren Artikulation nach eine negative Betrachtung voranging, so lässt sich auch das Auffinden des Prinzips der Absonderung weiter negativ präzisieren. Es ist, erstens, gezeigt worden, wie das Reale notwendigerweise zwei Seiten hat, obwohl diese in ihm nur ideell unterscheidbar sind. Damit ist die Möglichkeit eines Abfalls in der Verfassung des Realen selbst angelegt. Jetzt gilt es zu zeigen, wie diese beiden Seiten auseinandertreten oder in einem reellen Gegensatz zueinander treten können, wodurch die Wirklichkeit des Abfalls nachgewiesen wäre. Bis zum Menschen sind sie zwar in Differenz, aber noch nicht in einem wahren Gegensatz; ihr Verhältnis lässt sich ja noch gar nicht umkehren. Bevor wir darauf eingehen können, wie der Abfall sich wirklich aktualisiert, haben wir noch einige propria des Abgefallenen zu beachten. (1.) Vom ›Abfall‹ wie von dessen Folge behauptet Schelling, dass sie in Beziehung auf das Absolute bzw. auf die Ideen »ein blosses Accidens« sind. 134 Ein Akzidenz ist eine solche Eigenschaft, die von einem Ding weggenommen werden kann, ohne dass sich dadurch et-

Gert Blanchard weist darauf hin, dass Schelling mit dieser Konstruktion des Absoluten als einer Mannigfaltigkeit oder mit dem Nachweis dreier Momente, die in der Idee des Absoluten enthalten sind, »sich die Basis [schafft], die Entstehung des Endlichen seiner Möglichkeit nach im Absoluten selbst zu begründen« (Herv. v. Verf.) und dass die Konzeption des Absoluten als von seiner Objektivierung abgehoben »fruchtbar gemacht [wird] für die Deduktion des Prinzips der Möglichkeit von Freiheit« (Blanchard 1979, 433, 448). Die Abhebung des Wesens von den Potenzen oder Ideen, in welchen es objektiv wird, berechtigt Schelling dazu, die selbstische Seite der Ideen als ›Freiheit‹ zu bezeichnen. Wolfgang Wieland hat in Schellings Philosophie »einen großangelegten Versuch« gesehen, »die natürliche Welt […] so zu konstruieren, wie sie sich für ein ›moralisches Wesen‹, d. h. unter der Bedingung, daß Freiheit möglich sein soll, darstellen muß« (Wieland 1967, 413). Vgl. Buchheim 1992, 29 f. 134 Schelling 1804, 40 / SW VI, 41. Es sei darauf hingewiesen, dass ›Ab-fall‹ auch als Übersetzung von accidens (accidere) gelesen werden kann: Die Eigenschaften, die einer Idee dadurch zuwachsen, dass das ihr Entsprechende auch existiert, sind in Hinsicht auf die Idee bloß akzidentell. – Ein weiteres Assoziationsfeld ist das der Bewegung, vgl. Schellings Unterscheidung von Fall- und Umlaufbewegung (vgl. Schelling 1803c, 68–77 / SW IV, 435–441). 133

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Die Möglichkeit des Abfalls

was am Wesen dieses Dings ändert. So hat sich gezeigt, dass nur die Möglichkeit eines Abfalls oder einer Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses der beiden Seiten des Gegenbildes zur Verfassung desselben und damit zur vollständigen Idee des Absoluten gehört, nicht aber die Realisierung dieser Umkehrung. In der Verfassung des Realen ist die Darstellungsfähigkeit, nicht aber die wirkliche Darstellung eingeschlossen. Ferner »verändert« der Abfall »nichts in beyden«, weder im Absoluten noch im Urbild. 135 Dies kann man sich durch eine Analogie näherbringen. In jeder Idee oder Potenz ist eine Unendlichkeit von möglichen Positionen oder Realisierungen enthalten, ähnlich wie die Spielregeln des Schachspiels eine Unendlichkeit an möglichen Spielabläufen enthalten, ohne dass dadurch ein einziger wirklicher Spielablauf festgelegt ist. Keiner der wirklichen Spielabläufe ändert etwas an den Spielregeln. Damit ist behauptet, dass weder dem Absoluten noch dem Urbild (den Ideen) dadurch etwas fehlt, dass das ihnen Entsprechende nicht existiert oder es sich nicht darstellt. Dem Urbild wohnt demnach auch keine Tendenz ein, von der Potenz zum Aktus überzugehen. 136 Die Darstellung des Urbildes in einem ihm entsprechenden Existierenden ändert im Urbild selbst ebenso wenig etwas, wie die Spiegelung eines Objekts etwas an diesem Objekt ändert. Gott bringt nur die ewigen Begriffe oder die Ideen der Dinge hervor, ist aber nicht die Ursache davon, dass ein dieser Idee entsprechender Modus auch wirklich existiert, da das Dasein eines Dings von anderen Dingen abhängt als von den Umständen, die es ihm erlauben, ins Sein zu treten. (2.) Obwohl ein bloßes Akzidens, so bezeichnet Schelling den Abfall dennoch als »ewig«. 137 Dabei handelt es sich erneut um ein proprium oder eine extrinsische Eigenschaft, d. h. eine solche, die zwar zu einer Sache gehört, aber nicht deren Wesen erklärt, sondern erst aus der Erkenntnis dieses Wesens geschlossen werden kann. Das Ding wäre zwar nicht das, was es ist, ohne diese Eigenschaft, aber es ist nicht das, was es ist, durch oder aufgrund derselben. Ein solches proprium liefert denn auch keine besondere inhaltliche Information über

Schelling 1804, 40 / SW VI, 42. Thomas Buchheim hat zu Recht gegen die »schon lange fest eingewurzelte Fehlbeurteilung von Schellings Potenzbegriff« protestiert, wonach einer Potenz die Tendenz, »a potentia ad actum« überzugehen, einwohnen würde (vgl. Buchheim 1992, 15, 41–47). 137 Schelling 1804, 39 / SW VI, 41. 135 136

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

dasjenige, was durch es qualifiziert wird. Deshalb muss immer nach dem Grund gefragt werden, weshalb einem Ding ein solches proprium zukommt. 138 Der Abfall ist ewig, insofern er als Möglichkeit in der Verfassung des Realen vorgezeichnet ist. (3.) Der Abfall und seine Folge sind notwendig. Auch diese Bezeichnung drückt eine Modalität des Wesens aus. Damit ist nicht gesagt, dass sich der Abfall für jedes einzelne Ding bzw. dass sich eben jedes einzelne Ding aus dem Absoluten ableiten ließe. Eine solche Behauptung würde gegen die Forderung verstoßen, dass es zwischen Unendlichem und Endlichem keinen Übergang geben kann, da man dann behaupten würde, dass der Abfall auch wirklich erklärt werden könnte oder dass sich Gründe dafür anführen ließen, weshalb er in diesem oder jenem einzelnen Fall unausweichlich ist und stattfinden musste. 139 Eine solche Erklärung würde aber den Charakter des Neuen oder des Unerwarteten verdecken, der dem einzelnen Abfall innewohnt. Damit haben wir aber bereits ein Charakteristikum des Abfalls: Er soll als unerklärbar gedacht werden oder eben mit dem Charakter des Neuen, Unerwarteten, Unberechenbaren, Unvorhersehbaren. 140 Dies hindert nicht daran, dass die Struktur des Abfalls sich konstruieren lässt. Der Abfall und seine Folge sind nur insofern als notwendig zu bezeichnen, als die Struktur, die sie aufweisen, eine notwendige ist. Es ist zuerst gezeigt worden, dass das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen nur als Abfall von letzterem gedacht werden kann, dass die Annahme einer Stetigkeit zwischen beiden also aufgegeben werden muss. Nun soll die Frage präzisiert werden, wie sich denn ein solcher Abfall genau denken lässt oder welche Struktur der bzw. das Abfallende oder Abgefallene aufweisen muss.

Dies gilt übrigens noch deutlicher vom proprium der Unendlichkeit: Es macht einen Unterschied, ob diese einem Ding aufgrund seiner Definition oder aufgrund seiner Ursache zukommt (vgl. Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Zu den propria: Deleuze 1981, 132 f. 139 Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42. 140 Vgl. Schelling 1804, 40, 56 / SW VI, 42, 52. 138

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

5. Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele In dem Augenblick, in dem Schelling zur Frage nach der Wirklichkeit des Abfalls übergeht, macht er erneut auf eine Grenze aufmerksam: Denn die Selbstständigkeit, welche das andre Absolute in der SelbstBeschauung des ersten [Absoluten, R. S.], [d. h. in, R. S.] der Form, empfängt, reicht nur bis zur Möglichkeit des realen In-sich-selbst-Seyns, aber nicht weiter; über diese Gränze hinaus liegt die Strafe, welche in der Verwicklung mit dem Endlichen besteht. 141

An anderer Stelle ist von einer »absoluten Unterscheidung« oder auch von einer »schneidende[n] Gränze« die Rede. 142 Bis zu diesem Punkt seiner Darlegungen war somit nur die Möglichkeit des Abfalls Gegenstand der Erörterung. Der Grund derselben wurde im Absoluten selbst nachgewiesen, und zwar in der Art, wie es sich in einem Gegenbild objektiviert bzw. in der Verfassung, die einem solchen Gegenbild notwendig zukommen muss, damit es das ist, was es ist, nämlich eine adäquate Darstellung oder Objektivierung des SchlechthinIdealen. Wie bereits durch die Überschrift des zweiten Abschnitts angedeutet, sieht Schelling sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt, nämlich zum einen die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten nachzuweisen, zum anderen aber auch zu zeigen, in welchem Verhältnis sie zu ihm stehen oder in welchem es zu ihnen steht oder stehen kann. Auch das Wort ›Abfall‹ selbst fängt diese Doppelung geschickt ein. Wenn die Einführung desselben auch »nur für die Darstellung eines philosophischen Gesprächs« gedacht war und »für den wissenschaftlichen Vortrag« zugestandenermaßen »unbequem« ist, so kommen dem Ausdruck doch auch gerade wegen dieses Mangels an wissenschaftlicher Präzision oder wegen dieser Unbestimmtheit unbestreitbare Vorzüge zu, die Schelling auch geschickt auszunutzen weiß: Das Wort ist offen für verschiedene Bedeutungsrichtungen, die in ihm selbst sozusagen in einem Zustand der Indifferenz enthalten sind, so dass erst der jeweilige Zusammenhang seines Auftretens eine derselben aktualisiert. 143 Dementsprechend verschiebt sich im Lauf Schelling 1804, 40 / SW VI, 42; Herv. v. Verf. Schelling 1804, 42, 54 / SW VI, 43, 50. 143 F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. September 1805, Fuhrmans, Briefe III, 252. 141 142

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

des Argumentationsgangs auch die Bedeutung des Ausdrucks, indem im jeweiligen Zusammenhang jeweils andere Bedeutungsschichten angebohrt werden. Auch sonst gibt Schelling ein Faible für solche unterbestimmten, mehrschichtigen oder auch indifferenten Ausdrücke zu erkennen. 144 Bei seinem ersten Auftreten wird ›Abfall‹ als letzter einer Reihe von Ausdrücken eingeführt: ›Abbrechen‹, ›Sprung‹, ›Entfernung‹. Bei dieser seiner ersten Einführung ist ›Abfall‹ somit in erster Linie als Gegenteil der Stetigkeit zu verstehen. Das Verhältnis der endlichen Dinge zum Absoluten ist als ein indirektes (nichtstetiges) zu denken. 145 In diesem Zusammenhang tritt er somit als Bezeichnung der oben erörterten formellen Anforderung auf, die es Schelling erlaubt hatte, jede Lösung im Voraus zurückzuweisen, die ein direktes Verhältnis von Absolutem und endlichen Dingen voraussetzt oder impliziert und damit letzteren eine mit der des Absoluten gleiche Realität zuerkennt. Während ›Abfall‹ bei seiner ersten Erwähnung als Schlussglied einer Reihe auftritt, dafür aber in der Folge in den Vordergrund rückt, finden jene alternativen Ausdrücke in der Folge nur noch spärlich Verwendung. 146 Dies dürfte gerade durch die größere Plastizität des Ausdrucks ›Abfall‹ motiviert sein, da die zuerst eingeführten Ausdrücke eben nur eine einzige Bedeutungsschicht festhalten. Jedenfalls deutet die Art seiner Einführung an, welche Bedeutungsschicht zunächst als die herrschende anzusehen ist. Wenn die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten auch als ein Abfall von ihm zu denken ist, so besagt dies noch nicht, dass das Abgefallene damit überhaupt kein Verhältnis mehr hat zu dem, wovon es abgefallen ist. Vielmehr unterhält das Abgefallene zu dem, wovon es abfällt, immer noch eine Beziehung, wenn es auch ihm Dies ist auch Xavier Tilliette nicht entgangen: »il s’empare volontiers des mots polyvalents, scintillants, dont les flexions de sens reproduisent en pointillé son itinéraire mental. Potenz est évidemment le plus riche, le plus malléable, mais Wurzel, par exemple, comporte une signification arithmétique, une sémantique, une botanique, une philosophique […]. Les vocables électifs et leurs sens modifiables sont une pierre de touche de l’évolution schellingienne« (Tilliette 1992, 345 f.). 145 Vgl. Schelling 1804, 39, 48, 57 / SW VI, 41, 47, 52, 53. So auch Tilliette 1992, 495: »Ce qui est exclu par la chute, c’est la relation directe à Dieu et à l’idée«. 146 ›Sprung‹ kommt nachher nicht mehr, ›Abbrechen‹ nur noch ein einziges Mal vor (vgl. Schelling 1804, 39 / SW VI, 41). Nur von einer ›Entfernung‹ ist in der Folge wiederholt die Rede (vgl. Schelling 1804, 41, 56, 64, 71 / SW VI, 42, 52, 57, 62). Auffälligerweise wird dieser Ausdruck aber zunächst im Zusammenhang mit einem der »[u]nzählige[n] Versuche« eingeführt, die Schelling einer kritischen Überprüfung unterzieht, und zwar der Emanationslehre (Schelling 1804, 30 f. / SW VI, 35 f.). 144

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

gegenüber eine Eigenständigkeit behauptet. So erweist es sich gerade als ein Vorzug des ›Abfalls‹, dass in ihm auch die – später aktualisierte – Bedeutung eines Treuebruchs, eines Vertragsbruchs oder eines Verrats mitschwingt. 147 Auch im Treuebruch wird die Beziehung zu dem, womit gebrochen oder dem, was oder der verraten wird, nicht einfach aufgehoben, sondern er erhält seinen Sinn gerade dadurch, dass die Beziehung weiter aufrechterhalten bleibt, wenn auch in der Umkehrung ihrer ursprünglichen Gestalt. 148 Genauso ist ein Vertragsbruch keine Auflösung eines Vertrags mit beiderseitigem Einverständnis der Parteien, sondern ein Verstoß gegen den Vertrag durch eine der Parteien, mit förmlichem Fortbestand desselben, wobei es zudem gleichgültig ist, ob er einer der beiden Parteien durch die andere aufgezwungen wurde oder ob beide ihn aus freien Stücken eingegangen sind. Ganz ähnlich hebt dasjenige, das sich zu etwas als zu seinem Grund verhält, sich damit von diesem ab, um als solches, in seiner eigenständigen Bedeutung, hervortreten zu können, bleibt aber eben wegen dieses Hervortretens dennoch auf den Grund angewiesen, von dem es sich abhebt. Hieraus wird auch ersichtlich, weshalb der Beantwortung der Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten die Beantwortung der Frage nach der Entstehung potentieller Differenzen vorangehen muss. Die Potenzen oder Ideen bilden eben jeweils unterschiedliche Seinstypen, die als Grund fungieren, wovon die endlichen Dinge (als Fall der jeweiligen Potenz) sich abheben können. Damit ist auch gesagt, dass wir uns nie unmittelbar auf Einzelnes beziehen können, sondern dass die Beziehung darauf immer durch die Beziehung auf die jeweilige Potenz vermittelt ist, von welcher es ein Fall ist. Dies führt uns zu einer weiteren Bedeutungsschicht. Die von Schelling gewählten Bezeichnungen (Entfernung, Sprung, Abbrechen, Abfall) haben nämlich gemeinsam, dass sie sämtlich einen Handlungscharakter beinhalten. 149 Insbesondere handelt es sich daVgl. auch Walch 1775, 12 f., s. v. »Abfall«. Vgl. Schelling 1809a, 448 / SW VII, 371: »Denn es ist nicht die Trennung der Kräfte an sich Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben, die nur beziehungsweise auf die wahre eine Trennung heissen kann«. – Die sittliche Bedeutungsschicht, die ebenfalls im Ausdruck angelegt ist, wird von Schelling erst später in Philosophie und Religion angebohrt. 149 Fichte hat das »Princip des endlichen Bewusstseyns nicht in einer That-Sache, sondern in einer That-Handlung gesetzt« (Schelling 1804, 41 / SW VI, 42). Der Abfall ist somit eine Handlung oder hat Handlungscharakter. – So auch der in der wis147 148

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bei stets um solche Handlungen, die unmittelbar in einer neuen Lage resultieren und denen von daher ein performativer Charakter innewohnt. Für solche performativen Handlungen hatte Fichte den Ausdruck einer ›Tat-Handlung‹ geprägt. Eine solche ist zum einen eine Handlung oder eine Form des Tätigseins, die zum anderen immer in bestimmten Taten resultiert. In der Formulierung Fichtes: Es ist eine »reine Thätigkeit, die kein Object voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt«, wodurch »das Handeln unmittelbar zur That«, also zur Hervorbringung eines Objekts wird (GA I,4, 221). 150 Etwas ist demnach insofern als eine Tat-Handlung zu bezeichnen, als es sich zum einen um eine Handlung oder Tätigkeit handelt, die als solche unendlich ist und durch keine ihrer Ergebnisse definitiv eingeschränkt wird, die jedoch zum anderen zugleich eine solche ist, die etwas Beschränktes oder Endliches hervorbringt. Zwar sind alle Produkte, in welchen die Tätigkeit resultiert, als Darstellungen der letzteren anzusehen, dennoch ist keine derselben eine ihr angemessene Darstellung, da keine sie in ihrer Unendlichkeit darzustellen vermag. Schließlich haben diese Taten oder die Produkte dieser Handlung, abstrahiert von ihr, keine Realität. Sie haben somit nur eine relative Realität, relativ nämlich auf die handelnde Instanz, die sie hervorbringt. Die Ichheit wird nun als eine solche Instanz bestimmt, die sich nur in solchem darstellt oder zu erkennen gibt, was, abstrahiert von ihr, keine Realität hat. Diese ›Taten‹ sind also wesentlich gebundene: Sie haben nur in der Bindung an ein Subjekt Realität. Gerade diesen Charakter der Ichheit als einer Tat-Handlung greift Schelling hier deshalb auf, da er in ausgezeichneter Weise der Anforderung genügt, die Abkunft des Endlichen aus dem Absoluten sowie sein Verhältnis zu ihm als Abfall zu denken. Die Erörterungen dieses ganzen Abschnitts zielen insgesamt auf die Einführung der Ichheit als Lösung der Frage nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem senschaftlichen Darstellung gewählte Ausdruck einer ›Absonderung‹, was Schelling noch ganz besonders herausstreicht, indem er von einem ›Absonderungsakt‹ spricht (vgl. z. B. AA I,10, 129 f. (§ 30 mit Anm. im Handexemplar), 166 (§ 95 mit Anm. im Handexemplar)). 150 Nach einer früheren Formulierung aus dem System der gesammten Wissenschaftslehre: Das Ich »ist zugleich das Handelnde [oder Produzierende, R. S.], und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird [die Tat oder die Tatsache, R. S.]; Handlung, und That [das Produkt der Handlung, R. S.] sind Eins und eben dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruk einer Thathandlung« (GA I,2, 259).

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Absoluten und ihr Verhältniß zu ihm‹ und erreichen in ihr einen Höhepunkt. Dies heißt allerdings auch, dass Schelling seinen eigenen Lösungsvorschlag ohne Anspruch auf Originalität einführt, da er damit nur ein fichtesches Theoriestück aufzugreifen vorgibt. 151 Darüber darf indessen nicht übersehen werden, dass Schelling dem fichteschen Theoriestück in der Übernahme eine weitreichende Verwandlung widerfahren lässt. Jedenfalls erlaubt die polare Verfassung der TatHandlung oder der Ichheit zwei konträre Möglichkeiten, sie zu aktualisieren. Vorher war gezeigt worden, wie die Möglichkeit eines Abfalls in die Verfassung des Realen überhaupt und jeder Idee insbesondere eingeschrieben ist, insofern diese polar strukturiert ist. Insofern das Reale als bloße Darstellung des Wesens betrachtet wird, befinden jene Man darf also vermuten, dass dieser Punkt im fast vollendeten Gespräch bereits behandelt wurde und in einer Auseinandersetzung mit Lucian vorgetragen worden wäre. In der Tat war der Gedanke der Ichheit als allgemeines und als höchstes Prinzip der Endlichkeit, Vereinzelung oder Individuierung im Bruno nicht abwesend, wie aus der Unterredung hervorgeht, die mit der in der Präambel zitierten Stelle anfängt (vgl. Schelling 1804, 19 f. / SW VI, 28 f.; Schelling 1802a, 131 f. / SW IV, 282) und in Lucians Nennung des ›Ich‹ gipfelt (Schelling 1802a, 143 / SW IV, 288). Während der erste Teil der Unterredung darauf abzielte, die Relativität des fichteschen Prinzips darzutun und zu zeigen, dass es sich nicht zum Prinzip des gesamten Systems der Philosophie eignet (vgl. Schelling 1802a, 46–81 / SW IV, 239–257), soll jetzt gezeigt werden, wie es sich in dieses System integrieren lässt (vgl. Schelling 1802a, 130–136 / SW IV, 282–285). Ähnlich auch: AA I,10, 166 (Anm. im Handexemplar zu § 95); Schelling 1802b, 75 / SW IV, 389; Schelling 1803c, 12 f. / SW IV, 398; SW VI, 123. (Aus letzterer Stelle wird auch klar, dass Schelling sich dessen bewusst ist, dass seine eigene Deutung des fichteschen Begriffs wohl nicht mit Fichtes Selbstverständnis übereinstimmt.) Im Reinhold-Gespräch (1802) findet sich zudem folgende Stelle: »Das Ich, welches nichts anders, als der höchste Ausdruck jenes Absonderungsacts ist, ist nach ihm [Fichte, R. S.] reiner Act, nichts als sein eigenes Thun, nichts, unabhängig von seinem Handeln, überhaupt bloß durch und für sich selbst, nichts also an sich oder in Ansehung des Absoluten, eben so auch alles, was mit dem Ich und eben deßwegen auch nur für das Ich abgesondert ist von der Allheit« (Schelling 1802d, 13 f. / SW V, 26; Herv. v. Verf.). Damit ist der zentrale Gedanke von Philosophie und Religion, dass bei Fichte die Ichheit als Prinzip des Abfalls zu verstehen sei, hier bereits formuliert. Und Schelling fügt hinzu: »Mehr als diese negative Seite der Philosophie kann im Idealismus als Idealismus nicht dargestellt werden«. Dies scheint Xavier Tilliette übersehen zu haben, wenn er die eigentliche Leistung und »le trait génial de Philosophie et Religion« nicht in »l’intervention de la chute«, sondern in »l’assimilation, le téléscopage du thème et de la philosophie criticiste« sieht: »On reconnait là sa marque, l’acuité interprétative. Par une sorte de métaschématisme ou de ›péritrope‹, il s’empare de la pensée qui le contredit, celle de Fichte […], pour la retourner contre ellemême« (Tilliette 1992, 487).

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Pole sich in ihm in einem Zustand der Indifferenz. Nach dem ursprünglichen Verhältnis der Pole ist das Reale nur ganz real, insofern es zugleich ganz ideal ist. Das Reale kann nur als das andere Absolute sein, indem es die Möglichkeit hat, sich in seiner Selbstheit zu ergreifen. Die Seite der Selbstheit, die dem Realen bzw. den Ideen zukommt, ist von einem ausdrücklichen »Ergreifen« derselben zu unterscheiden. 152 Zu unterscheiden ist somit zwischen der Zertrennlichkeit beider Seiten, durch welche die Identität oder Isomorphie beider Seiten noch nicht aufgehoben ist und die als bloße Möglichkeit in der Struktur des Realen angelegt ist, und der tatsächlichen Zertrennung beider. Dieses Ergreifen oder diese Aktualisierung der Selbstheit ist jedoch nicht durchzusetzen, ohne dass sie sich vom Wesen trennt, diesem gegenüber ihre Eigenständigkeit behauptet, und sie ist damit auch notwendigerweise mit einem Verlust der Absolutheit erkauft: »[E]s kann nicht als das andere Absolute seyn, ohne sich eben dadurch von dem wahren Absoluten zu trennen, oder von ihm abzufallen«. 153 Das Ergreifen der Selbstheit lässt sich nicht denken, ohne eine Folge, die unmittelbar sich daraus ergibt. Darin ist somit bereits die oben umrissene Struktur einer Tat-Handlung angelegt. Zwischen beiden Modi besteht somit eine deutliche Asymmetrie, indem beide zwar gleichmöglich sind, dafür aber doch nicht gleichwertig. Dass der Grund der Möglichkeit eines Abfalls im Absoluten bzw. im Realen angelegt sein muss, war bereits in der formellen Anforderung enthalten, die Abkunft der endlichen Dinge als einen Abfall zu denken. Die Ichheit hingegen wird eingeführt, um die Frage nach der Wirklichkeit des Abfalls oder nach der Form, in welcher dieser sich aktualisiert, zu beantworten. 154 Allerdings beinhaltet die Art, wie Schelling 1804, 37 / SW VI, 39. Vgl. Blanchard 1979, 440: »[D]as, was schon seinem Wesen nach Selbstheit ist, erfaßt sich in dieser seiner Selbstheit auf die Weise, daß dieses sich-Erfassen zugleich die Möglichkeit beinhaltet, sich als die Selbstheit, die es ist, ausdrücklich selbst zu setzen«. Schelling unterscheidet also zwischen der Selbstheit, die dem Realen seinem Wesen nach (als der einen Seite seiner selbst) zukommt, und dem tatsächlichen Ergreifen oder Aktualisieren dieser Selbstheit. 153 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39 f. 154 Dass gerade die Ichheit der Anforderung, die Abkunft der Endlichkeit aus einem Abfall zu erklären, genügt, geht aus folgender Stelle hervor: »[D]rittens ist jederzeit die Ichheit als der eigentliche Absonderungs- und Uebergangspunct der besondern Formen aus der Einheit, als das wahre Princip der Endlichkeit aufgestellt und von ihr dargethan worden, dass sie nur ihr eigne That und unabhängig von ihrem Handeln, ebenso wie das Endliche, das mit ihr und nur für sie abgesondert ist vom All, wahrhaftig Nichts sey« (Schelling 1804, 53 / SW VI, 50; erste Herv. v. Verf.). Während 152

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Schelling den fichteschen Begriff der Ichheit hier einführt, zugleich eine Distanznahme zu Fichte, indem er ihn auf eine solche Weise bestimmt, die eine tiefgreifende Verwandlung des fichteschen Konzepts bedeutet. Schelling bezeichnet die Ichheit nämlich zum einen als »das allgemeine Princip der Endlichkeit«, zugleich aber auch als Ausdruck dieses allgemeinen Prinzips »in seiner höchsten Potenz«. 155 Beide Charakterisierungen weisen auf das Motiv für die verwandelnde Aufnahme des Begriffs. Derjenige Aspekt der Ichheit, durch welchen diese verallgemeinerungsfähig ist, ist ihr Charakter einer TatHandlung: Alles ist nur insofern eine Tatsache und hat nur insofern Realität, als es sich auf die Handlung einer ichhaften Instanz zurückführen lässt. Unabhängig von dieser Handlung, oder an sich, hat es indessen überhaupt keine Realität. 156 Schelling verwendet den Ausdruck ›Ichheit‹ in zweierlei Hinsicht, einmal als Bezeichnung des allgemeinen Prinzips, sodann als Bezeichnung des höchsten Ausdrucks desselben. In der ersten Verwendungsweise ist jedoch ›alles Ich‹. Damit droht das Spezifische der menschlichen Ichheit aus dem Blick zu geraten. 157 Die Aufnahme des Begriffs der Ichheit verbindet sich also mit einer doppelten These: (1.) die Ichheit ist die höchste Form der Selbstheit der Ideen; (2.) in jeder Potenz gibt es ein Analogon der Ichheit, ein eigenes Prinzip der Individuation. Jeder Potenz entspricht demnach ein eigener Modus der Ichheit oder des Für-sich-selbst-Seins oder eben der Tathandlung. Jedes endliche Seiende ist demnach zugleich das Handelnde und die Tat, das Produzierende und das Produkt dieser Handlung. Mit jedem Wesen korrespondiert eine eigens verfasste ›Welt‹. 158 Während Schelling zunächst nur kurz auf denjenigen Aspekt der Ichheit abhebt, der sie dazu geeignet macht, als allgemeines Prinzip zu fungieren, so lenkt er die Erörterung sofort auf die Frage hin, weshalb die Ichheit Ausdruck der Endlichkeit in der höchsSchelling als Beleg für die erste und zweite These jeweils nur eine Stelle angeführt hatte, so führt er hier gleich drei Fundorte an: erstens »viele[…] Stellen in Bruno«, dann eine Stelle aus den Ferneren Darstellungen (vgl. Schelling 1803c, 13 / SW IV, 398), schließlich eine Stelle aus dem Reinhold-Gespräch (vgl. Schelling 1802d, 13 / SW V, 26). 155 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1802a, 143 / SW IV, 288. 156 Dies bezeichnet Schelling später auch als den Begriff der formellen Freiheit (vgl. Schelling 1809a, 420 f., 463–471 / SW VII, 351 f., 382–389). 157 Vgl. Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351. 158 Vgl. dazu Plessner 1954, 90.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

ten Potenz ist. Erst in einigen nachgeschalteten »Ramificationen« und »Folgerungen« geht er näher auf den allgemeinen Charakter der Ichheit ein. 159 Dasjenige Prinzip, das sich in der höchsten Potenz als Ichheit zu erkennen gibt, bezeichnet Schelling in seiner allgemeinen, nicht spezifizierten Gestalt auch als ›Seele‹. Dieser Ausdruck ist somit nicht von vornherein auf die menschliche Seele festgelegt, 160 sondern bezeichnet das Individuationsprinzip oder das Individualisierende schlechthin. 161 Die Lehre von der Seele ist gerade dasjenige Theoriestück, mittels welchem Schelling die anfangs aufgestellte Forderung Schelling 1804, 43, 50 / SW VI, 44, 48. Eine vollständige Darstellung derselben findet sich besonders in den Würzburger Vorlesungen (vgl. SW VI, 215–494). Die Kosmologie, in welcher diese Erörterungen gipfeln, wurde auch in einem langen Monolog Brunos entwickelt (vgl. Schelling 1802a, 82–135 / SW IV, 258–285), wonach die Unterredung mit Lucian wieder aufgenommen wird, in welcher die Ichheit als höchster Ausdruck der Absonderung bezeichnet wird. 160 Die Seele zeigt sich erst in der höchsten Potenz, im Menschen, als Ichheit oder Wille. Deshalb geht dem berühmten Satz aus der Freiheitsschrift: »Wollen ist Urseyn« die Einschränkung vorab: »Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein andres Seyn als Wollen« (Schelling 1809a, 419 / SW VII, 350; Herv. v. Verf.). D. h. nur ›in der letzten und höchsten Instanz‹ gibt es kein anderes Sein als Wollen. Dadurch sieht Schelling sich berechtigt, die Bezeichnung ›Wille‹ oder ›Ichheit‹ auch auf die niedrigeren Stufen zu übertragen und diese als Vorstufen oder Analoga des Willens oder der Ichheit auszulegen, obwohl ihnen gerade dasjenige fehlt, wodurch sie im eigentlichen Sinne zum ›Willen‹ oder zur ›Ichheit‹ werden. Was solchen ›Willen‹ noch fehlt, damit sie im eigentlichen Sinn ›Wille‹ sind, ist das Wissen – das Wissen-wasman-will ist nur im Menschen möglich. Michael Theunissen hingegen setzt bei der Auslegung von Schelling 1809a, 435 f. / SW VII, 362, »die Seele« schlechthin mit dem »eigentlich Menschliche[n] im Menschen« gleich (Theunissen 1965, 182), obwohl aus dem Zusammenhang klar hervorgeht, dass mit ›Seele‹ hier nichts spezifisch Menschliches gemeint ist, sondern schlechthin das Individuationsprinzip. Durch die Seele hat alles Seiende eine Unabhängigkeit von Gott. Erst im Menschen wird die Selbstheit, die in allem Seienden ist, zum Geist, d. h. aber auch zur Möglichkeit der Selbstsucht. 161 Den Ausdruck der ›Individuation‹ oder der Subjektivierung verwendet Schelling zu dieser Zeit nur sehr spärlich und oft in einem konzeptuell nicht relevanten Sinn. Daraus lässt sich indes noch nicht schließen, dass damit auch die dadurch bezeichnete Problematik abwesend ist (so Shikaya 2000, 93). Als »Individualität« bezeichnet Schelling »die Verwicklung der Seele mit dem Leib« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61); die Kraft, durch welche die Seele auch Leib ist, ist die »Kraft der Individuation« (SW V, 386). Ferner: »[D]er Magnetismus ist der allgemeine Akt der Beseelung oder der Individuation als Akt, als Thätigkeit angeschaut« (SW VI, 326). (Später verwendet Schelling ›Seele‹ auch, um dasjenige, wodurch man sich über die Selbstheit erhebt, zu bezeichnen, im Gegensatz zum Prinzip der Individualität (vgl. Schelling 1809a, 368 f. / SW VII, 312).) Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Individualität und Persönlichkeit, die hierdurch möglich wird: »Die Individualität ist zwar nicht die Per159

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zu erfüllen gedenkt, die Abkunft der endlichen Dingen aus dem Absoluten und ihr Verhältnis zu ihm als Abfall zu denken. Der Sinn des Begriffs des Abfalls erschließt sich somit erst aus Schellings Lehre von der Seele. Auch ist es gerade diese Lehre, auf welche Schelling sich in den Abschnitten, die die Darstellung seines Systems zum Gebiet der praktischen Philosophie fortführen, ausschließlich stützt. 162 Schelling führt hier somit zwei Terminologien oder Register zusammen: Zum einen versucht er, insbesondere in Philosophie und Religion, deutlich zu machen, wie er einige wesentliche Einsichten Fichtes in sein System zu integrieren vermag, und hält sich dabei oft an die fichtesche Terminologie (›Ichheit‹, ›Tathandlung‹), während er zum anderen zugleich auch diejenige Terminologie beibehält, die insbesondere im platonisierenden Gespräch Bruno vorherrschte, wo öfters von der ›Seele‹ und vom ›Wesen der Seele‹ die Rede war. 163 Nachdem wir Schellings Lehre von der Seele, wie sie sich aus Philosophie und Religion erschließen lässt, umrissen haben, werden wir deshalb jetzt zeigen, wie diese sowohl mit der Lehre von der Seele im Bruno als auch mit der Lehre vom Willen in der Freiheitsschrift in Übereinstimmung ist. Unter »Seele« ist, so Schelling, »die Idee« zu verstehen, »sofern sönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam ihr Organ« (Schelling 1809b, 110 / SW VII, 528). 162 Bereits Eschenmayer hat auf diese Bedeutung hingewiesen (vgl. Eschenmayer 1803, 78–80 (§ 79)). Seine Kritik richtet sich teilweise gegen den schellingschen Seelenbegriff. So stützt Schelling sich sowohl für seine Zurückweisung von Eschenmayers Einwand, das System Schellings habe keinen wirklichen Ort für die Freiheit des Willens und die Tugend (dritter Abschnitt), als auch für seine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele (vierter Abschnitt) fast ausschließlich auf diese Lehre von der Seele (vgl. Schelling 1804, 55 f., 61, 68 / SW VI, 51 f., 55, 60). 163 Es kann denn auch kaum verwundern, dass nach Schelling die fichtesche Lehre der Ichheit, jedenfalls in seiner eigenen verwandelnden Aufnahme derselben, mit der platonischen in Übereinstimmung ist: »Wie rein spricht sich die uralte Lehre der ächten [sc. der platonischen, R. S.] Philosophie in diesem zum Princip der Welt gemachten Nichts der Ichheit aus« (Schelling 1804, 43 / SW VI, 43 f.). – In der Freiheitsschrift hebt Schelling hervor, wie in diese Aufnahme des fichteschen Begriffs der Ichheit kantische Motive, besonders der kantische Begriff einer intelligiblen Tat, hineinspielen. Daraus dürfte hervorgehen, dass Schelling die fichtesche Ichheit von Anfang an als die Aufnahme dieses kantischen Begriffs aufgefasst hatte. Während Fichte die Tat-Handlung nur formell entfaltet und damit eine Verallgemeinerung derselben ermöglicht, so ist die Entwicklung der intelligiblen Tat in der Religionsschrift von Anfang an im Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung des Bösen eingebunden. Formeller und reeller Begriff der Freiheit sind dabei also durchgängig verschlungen (vgl. Schelling 1809a, 472 f. / SW VII, 388 f.).

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sie bestimmt ist, Endliches zu produciren, in ihm sich anzuschauen«. 164 Auch hier haben wir demnach eine Subjekt-Objektivierung oder ein Darstellungsverhältnis, wenn diese auch nicht mehr dem Gesetz der Identität gemäß stattfinden, sondern in einer nur relativen, eine Differenz voraussetzenden Identität resultieren. ›Seele‹ ist somit Schellings Ausdruck für die Ichheit, insofern er diese als allgemeines Prinzip ansieht. Die Ichheit war als Tat-Handlung zu denken, als eine Handlung oder Tätigkeit, die unmittelbar in bestimmten Taten resultiert. Kennzeichnend für die Ichheit ist demnach die subjekt-objektive Verfassung. Die Ichheit weist damit zum einen eine selbstbezügliche Struktur auf, durch welche sie erst und nur dasjenige ist, was sie ist, insofern sie sich dazu macht. Zum anderen hat der Begriff der Ichheit das Besondere, dass er kein Synonym für ›Subjekt‹ ist, sondern als Subjekt-Objekt zu denken ist. Ebenso wesentlich wie das subjektive oder selbstbezügliche Moment ist also das objektive Moment: Das Ich ist nicht, ohne dass es sich auch zu etwas macht. Damit wird die doppelte Struktur, die sich zunächst am Bewusstsein als der Entdoppelung von Bewusstsein-von und Selbstbewusstsein nachweisen lässt, zu einer allgemeinen Struktur erweitert. Man könnte demnach auch von der Intentionalität als einer ontologischen und nicht bloß auf das Bewusstsein eingeschränkten Struktur sprechen. Gerade diese beiden Momente berechtigen dazu, statt von ›Seele‹ auch von einem ›Willen‹ zu sprechen. Alles endliche Seiende hat diesen willenhaften oder beseelten Charakter. 165 Dies drückt Schelling Schelling 1804, 38 / SW VI, 41. »Muß nicht eben darum an allen endlich erkannten Dingen der Ausdruck des Unendlichen, aus welchem, und des Endlichen, in welchem sie reflektiert werden, und des Dritten, worin diese Eins sind, erkannt werden?« (Schelling 1802a, 145 / SW IV, 290; Herv. v. Verf.). Hier will Schelling somit im Ausgang vom Standpunkt der Wissenschaftslehre oder der Reflexion über das Ich zur Notwendigkeit einer Naturphilosophie hinführen. In derselben soll dann gezeigt werden, dass die Natur kein bloß Objektives ist, sondern dass auch in ihr jene drei Momente, die er hier unterscheidet, erkannt werden müssen. Diese drei Momente sind: (1.) das »Unendliche, aus welchem […] sie [die endlich erkannten Dinge, R. S.] reflektiert sind«: das subjektive Prinzip, das sich objektiviert, sich in einem Objektivem anschaut; (2.) das »Endliche, in welchem sie reflektiert sind«; das Objektive, in welchem sich jenes Subjektive anschaut, objektiviert oder reflektiert; (3.) das »Dritte, worin diese Eins sind«, die Indifferenz oder das Gleichgewicht von Subjektivem und Objektivem. Wenn es heißt: »Die Seele schaut in allen Dingen einen Abdruck dieses Princips ein« (Schelling 1804, 41 / SW VI, 42), dann ist dieser Satz gewollt zweideutig: Er kann so gelesen werden, dass die menschliche Seele in allen Dingen ein Analogon dessen, was in ihr die Ichheit ist, anschaut oder hineinsieht. Die Seele kann aber auch das abgefallene Gegenbild über-

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auch so aus, dass er die Seele »als identisch mit dem [von ihr, R. S.] Producirten« bestimmt. 166 Was Schelling hier ›Seele‹ nennt, weist die gleiche Struktur auf wie das, was er später als ›Willen‹ bezeichnet. 167 Dies geht daraus hervor, dass er der Seele nicht nur eine subjekt-objektive Verfassung zuschreibt, sondern immer wieder ihren produktiven, strebenden, trachtenden Charakter hervorhebt. 168 Daraus dürfte auch klar werden, weshalb er behaupten kann, dass die ichhafte Verfassung des Bewusstseins ein allgemeines ontologisches Prinzip ist, das in allen Dingen nachweisbar ist: Alle endlichen Dinge weisen diese Doppelung auf, die Selbstbezüglichkeit und die Richtung auf anderes als es selbst, oder verknappt gesagt: Alles Endliche ist Subjekt-Objekt. Sowohl die Seele als auch das durch sie Produzierte sind nur »Werkzeuge der Ideen«. 169 Hier ist auch immer von einem ›indirekten‹ Verhältnis die Rede: Das Absolute oder die Idee verhält sich dabei lediglich als Grund. Das impliziert zugleich die Frage nach der Möghaupt meinen. Dann meint der Satz, dass das Gegenbild in allen Dingen ein Analogon jenes Prinzips der Ichheit einbaut, dass es sich selbst nicht zur Darstellung bringen oder objektivieren kann, ohne in dem, durch welches es zur Darstellung gelangen soll, ein solches Subjektivierungsprinzip einzubauen. Man könnte auch von einer idealistischen (subjektivistischen) und realistischen (objektivistischen) Lesart sprechen. Beide sind hier gleich möglich. Zwar ist es so, dass wir fähig sind, in allen Dingen ein Analogon dieses Prinzips anzuschauen, aber dies ist nicht lediglich Sache unserer Anschauung oder Betrachtungsweise, so als ob dem in den Dingen selbst nichts entspräche. Sondern wir schauen ein Analogon dieses Prinzips in allen Dingen an, weil diese Dinge auch wirklich so verfasst sind, dass ein Analogon desselben in ihnen eingebaut ist. – Nach Dieter Jähnig besteht die Absicht von Schellings Naturphilosophie darin, zu beweisen, dass »die organische Natur […] willens-analog« ist (Jähnig 1975, 42; vgl. auch Jähnig 1966, 55–72; 133–154). Dies hat Schelling auch selbst rückblickend als die eigentliche Absicht seiner Naturphilosophie hervorgehoben (vgl. Schelling 1809a, VII f., 419, 429, 482 f. / SW VII, 333, 350, 357, 395 f.). 166 Schelling 1804, 57 / SW VI, 52. 167 Deshalb kann Schelling am Anfang des dritten Abschnitts einen Satz Eschenmayers zitieren, wonach es diesem »immer ein unauflösliches Problem zu seyn [schien], den Willen […] aus der absoluten Identität […] zu entwickeln« (Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58); vgl. Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50). Diese ›Entwicklung‹ hatte er nämlich im vorhergehenden Abschnitt geleistet. 168 So übrigens auch bereits in den Ferneren Darstellungen: Alle ›erscheinenden‹ oder endlichen ›Dinge‹ zeichnen sich durch ein ›Bestreben‹, ein ›Trachten‹, einen ›doppelten Trieb‹ aus (vgl. Schelling 1803c, 9 / SW IV, 395 f.). – Schelling bezeichnet die »Ichheit«, genauer: die »aktivirte Selbstheit« als »Lust und Begierde«, als »Trieb, sich nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Daseyn zu erhalten«, und sieht darin »eine Art von Freyheit« (Schelling 1809a, 455 / SW VII, 376). 169 Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.

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lichkeit eines direkten Verhältnisses: In einem solchen wäre das Absolute nicht mehr bloß als Grund, sondern als selbst Existierendes. 170 Diese Verallgemeinerung des Prinzips der Ichheit erlaubt es, solche Erscheinungen rational durchsichtig zu machen, die zwar vernünftig sind, ohne dass jedoch das Handelnde aus Vernunft handelt. Von den »beyden Einheiten der Idee« hieß es, dass diese »in ihrer Idealität Eine Einheit« sind. 171 Es besteht eine völlige Entsprechung zwischen diesen Einheiten oder Seiten der Idee, insofern sie in ihrer bloßen Idealität betrachtet werden. Dasjenige, was diese ideale Einheit darstellen soll, wird also so verfasst sein, dass darin die Einheiten in eine Differenz treten. Dadurch wird, wie Schelling schreibt, die Einheit beider selbst »zu einem Drey«. 172 Diese Einheit ist nicht etwas Gegebenes, sondern kann nur noch durch das Endliche hervorgebracht werden oder ist Gegenstand eines Strebens desselben. 173 Gerade durch diesen strebenden oder triebhaften Charakter bezeugt das Endliche im Abfall seine Beziehung auf dasjenige, wovon es abgefallen ist (die Idee). Damit ist ihm in seine Existenz eine Tendenz, ein Streben nach der Hervorbringung oder Wiederherstellung der Identität eingeschrieben: Alles endlich Seiende ist demnach willenhaft oder strebend. Dadurch wird die Identität zu einer vom Endlichen zu erbringenden Aufgabe. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine solche Aufgabe, die es gegebenenfalls auch nicht auf sich nehmen könnte, sondern vielmehr ist es, sobald es existiert, darauf ausgerichtet, diese Identität wiederherzustellen. In diesem Streben bezeugt die Identität gerade in ihrem Verlust noch ihre Präsenz. Während die Idee durch ihre bloße Verfassung eine Darstellung des Absoluten bildet, ist dies im Fall des Vgl. damit Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364, wo erst »in dem ausgesprochnen Wort«, im Geist oder in der realen, an ein Subjekt gebundenen Vernunft Gott »actu existirend« ist. 171 Schelling 1804, 45 / SW VI, 44. 172 Schelling 1804, 45 / SW VI, 45. 173 In diesem Streben als Ausdruck des Verhältnisses des Endlichen zu seinem Grund zeigt sich die Endlichkeit auch als ein Leiden, der Abfall als die kontinuierliche Geburt des Endlichen als Ur-Schmerz. Vgl. die Bemerkung, dass »unglücklich zu seyn oder sich zu fühlen die wahre Unsittlichkeit selbst ist« (Schelling 1804, 61 / SW VI, 55). Da einzig die Erhebung über die Endlichkeit als wahrhaftes ›Glück‹ oder als Seligkeit bestimmt werden kann, so ist die Endlichkeit überhaupt als ein Zustand der Unseligkeit oder des Unglücklichseins zu bezeichnen. Dieses Unglück zeigt sich auch daran, dass die endliche Seele nur »Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit« produzieren kann (Schelling 1804, 37 / SW VI, 40; vgl. Schelling 1804, 44 / SW VI, 44). Diese ›Produktionen‹ entspringen einem Leiden, sind aber nicht dazu geeignet, es zu lindern. 170

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Endlichen nicht der Fall. Hier ist eine doppelte Modalität des Darstellens möglich. Ob es die Idee darstellt, wird hier zu einer eigenen Leistung, die es demnach auch verfehlen kann. Ob es ihm gelingt, die Idee zur Darstellung und zum Ausdruck zu bringen, hängt vom Endlichen selbst ab. Auf welche Weise eine solche Darstellung gelingen kann, liegt aber nicht mehr in seiner Macht. Das Endliche wird dadurch zu einer Darstellung der Idee, zu einem »Bild des An-sich«, insofern es ihm gelingt »die beyden Einheiten der Substanz als blosse Attribute« unterzuordnen. 174 Als einen dritten Aspekt des Begriffs der Seele oder des Willens hebt Schelling hervor, dass in diesem Fall das »In-sich-selbst-Seyn […] unmittelbar das Seyn mit Differenz der Wirklichkeit von der Möglichkeit« impliziert: »[D]ie allgemeine Form dieser Differenz ist die Zeit«. 175 So heißt es gelegentlich, dass Möglichkeit und Wirklichkeit sich an einander abtrennen oder unterscheiden. 176 Damit ist gemeint, dass es sich um korrelative Begriffe handelt. Die Rede von Möglichkeit hat nur Sinn, insofern diese von sich aus auf eine bestimmte Wirklichkeit verweist, so wie die Rede von Wirklichkeit nur sinnvoll ist, insofern sie mit bestimmten Möglichkeiten verknüpft ist. 177 Jede Möglichkeit ist demnach an ein bereits Wirkliches gebunden und ist erst aufgrund dieser Bindung denkbar. Dies ist so möglich, dass irgendetwas Wirkliches eine Möglichkeit hat oder über ein bestimmtes Vermögen verfügt, etwas hervorzubringen. Dies setzt voraus, dass es sich in einem Geflecht von Verhältnissen befindet, das ihm immer mehrere Handlungsmöglichkeiten offenlässt. Andererseits ist auch jede Wirklichkeit an eine Möglichkeit geknüpft: Es gibt kein Wirkliches, das nicht selbst wieder als die Realisierung einer bestimmten, aber nicht einzig möglichen Möglichkeit gelten muss und Schelling 1804, 45 / SW VI, 45. Schelling 1804, 45 / SW VI, 45. 176 Vgl. Schelling 1802a, 66 f. / SW IV, 250. 177 Damit reserviert Schelling den Ausdruck ›Möglichkeit‹ ausschließlich für die ›reelle Möglichkeit‹. Den Ausdruck ›Potenz‹ behält er der ›materialen Möglichkeit‹ vor. Vgl. dazu Buchheim 1992, 37: Die »reelle Möglichkeit« ist stets an ein Wirkliches als an einen »Fixpunkt« gebunden: »Nur insofern die Möglichkeit durch ein in seiner Identität verwahrtes Wirkliches lizensiert wird, ist sie als reelle Möglichkeit zu bezeichnen«. Diese lässt sich »in mehreren Versionen spezifizieren, nämlich entweder so, daß das betreffende Wirkliche die Möglichkeit hat, so und so beschaffen zu sein oder sich so und so zu verhalten (was Vermögen heißt), oder auch in der anderen Version, daß es mit eben diesem Wirklichen anders bestellt sein könnte, als es tatsächlich der Fall ist (kontrafaktische Möglichkeit oder Kontingenz)«. 174 175

193 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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umgekehrt gibt es kein Wirkliches, das nicht für anderes als Möglichkeit gilt. Dies heißt, erstens, dass jedes endliche Ding, solange es existiert, immer auf Dinge außer sich angewiesen ist, um sich behaupten zu können. In dieser Hinsicht lässt ein endliches Ding sich auch nicht verstehen, wenn man nicht die Umstände mit in Betracht zieht, unter welchen es existiert und auf welche es für seine Existenz angewiesen ist. Dies formuliert Schelling so, dass ein endliches Ding »die vollkommne Möglichkeit seines Seyns nicht« und nie »in sich selbst, sondern in einem andern hat«. 178 Erst damit sind auch reelle Möglichkeiten gegeben oder solche, die man einem Ding zuschreiben kann und die es insofern hat. Damit treten Möglichkeit und Wirklichkeit auseinander. Die Potenzen hingegen waren keine solchen Möglichkeiten, die einem Ding zugeschrieben werden könnten. Diese allgemeine Verfassung eines endlichen Dings bringt Schelling nun mit der Zeitlichkeit in Verbindung. Aufgrund der angegebenen Struktur ist ein Ding zeitlich. Dies drückt Schelling auch noch mittels eines Rückgriffs auf die Differenz von Sein und Begriff aus: Das Sein eines endlichen Dings ist nicht vollständig durch seinen Begriff bestimmt oder es ist »nicht auf einmal«, was es »dem Begriff nach seyn« könnte, d. h. es wird erst oder höchstens nach und nach seinem Begriff immer mehr angemessen (SW VI, 275). Erst wenn die Potenzen sich an endlichen Dingen darstellen, entsteht eine wirkliche Einschränkung: Die endlichen Dinge sind in ihrer Potenz eingeschlossen. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung der Bestimmung des Menschen als des Potenzlosen, als des aus aller Potenz Losgelassenen. Erst an den endlichen Dingen wird die Potenz zur Negation oder zum Ausschluss der anderen Potenzen: Ihr Welteintritt ist auf dasjenige eingeschränkt oder ist auf jene Bedingungen festgelegt, die sich aus der Potenz ergeben, zu welcher sie gehören oder deren Fall sie sind. Die Potenz legt somit einen Spielraum fest, innerhalb dessen das Ding sich bewegen kann, der aber zugleich eine Schranke bildet, die es nicht zu überschreiten vermag. Dennoch wird diese Negation nicht als eine Einschränkung seiner Freiheit empfunden. Diese Negation ist somit keine Beraubung: Ihm sind dadurch keine Eigenschaften oder Möglichkeiten geraubt, die ihm eigentlich zukommen müssten. Während z. B. das Tier in eine gewisse Lebensform eingebunden bleibt, ohne dass es das Wesen selbst direkt zur Darstellung gelangen lassen kann, ist der Mensch als Vernunftwesen 178

Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.

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nicht länger an eine Potenz, deren Fall er ist, gebunden. Aus diesem Grund bezeichnet Schelling die Vernunft auch als das Potenzlose, das allen Potenzen gegenüber Freie oder das nicht an irgendeine Potenz Gebundene. Deshalb spricht Schelling hier auch von einer Absonderung: Dadurch haben die Dinge eine Eigenständigkeit oder Abgeschlossenheit dem All gegenüber, indem ihnen Bestimmungen zuwachsen können, die ihnen nicht aufgrund ihrer Idee zukommen. Die Negation oder die Absonderung ist indessen eine doppelte: Die Potenzen können sich voneinander absondern oder die zu einer und derselben Potenz gehörigen Dinge können sich voneinander absondern. Das Prinzip dieser Absonderung ist die Ichheit oder die Selbstheit. Manche Dinge sondern sich nur minimal vom All ab, heben sich nur geringfügig von ihrem Grund ab, behaupten diesem gegenüber nur ein minimales Maß an Eigenständigkeit. Je höher aber der Realitätsgrad der Potenz, desto ausgeprägter auch das Bewusstsein, die Individualität, die Absonderung. Abstrahiert von einem in seiner Identität verwahrten Wirklichen gibt es jene Trennung indessen nicht. Die Trennung hat nur Realität, insofern die Potenz an ein bereits Wirkliches gebunden ist. Es handelt sich demnach um solche Eigenschaften, die einem Ding (als Fixpunkt) zuschreibbar sind. Dennoch ist die Rede von ›Eigenschaften‹ oder ›Bestimmungen‹ insofern ein wenig irreführend, als Schelling bemerkt, dass diese nur in Bezug auf ein Bewusstsein Realität haben und somit eine Tat sind. Alle diese ›Eigenschaften‹ wären danach als Taten oder als Ergebnisse einer Tathandlung anzusehen. Der Schein liegt darin, dass dasjenige, was nur in Bezug auf diesen Fixpunkt Realität hat, dennoch als eine Realität an sich, unabhängig vom Ich, angesehen wird. Das Ich ist somit gleichursprünglich mit diesem Schein, da es die Dinge als bloße Objekte betrachtet und sich als bloßes Subjekt. Schelling sieht die Leistung der Wissenschaftslehre darin, dass sie gezeigt hat, wie dasjenige, was als reine Objektivität erscheint, doch nur für das Ich oder unter Voraussetzung des Subjekts Objekt ist. Damit ist konstruiert, wie allen endlichen Dingen eine Innenperspektive zukommt, die nur für sie selbst zugänglich ist und die von außen nicht erreichbar ist. Hier ist daran zu erinnern, dass die Potenzenkonstruktion der Behandlung der Frage nach dem Abfall oder der Individuation voranzugehen hat. Nichts betont Schelling so sehr wie die Priorität der Naturphilosophie oder der Konstruktion der Potenzen. 179 In dieser 179

Vgl. AA I,10, 92; Schelling 1803c, 51 / SW IV, 424; SW VII, 427.

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Konstruktion sind alle Potenzen gleichzeitig und gleich reell. Sie ist deshalb mit einigem Recht auch als eine ›statische‹ Konstruktion zu bezeichnen. 180 Anschließend ist in einer weiteren Untersuchung die Entstehung wirklicher Differenzen auf der Grundlage dieser potentiellen Differenzen zu klären oder die Frage, wie die Potenzen sich voneinander absondern bzw. in einen Gegensatz zueinander gesetzt zu werden vermögen, damit sie als Ideen gesonderter Seinsbereiche gedacht werden können. Insofern die Potenzen in Beziehung auf einander gedacht werden, ergibt sich die Möglichkeit, einen Prozess zu denken. Jeder Potenz entspricht eine ihr eigentümliche Form der Ichheit bzw. der Individuation. Entsprechend dem Realitätsgrad der Potenzen ist in jeder höheren Potenz die Individualisierung dessen, was Fall von ihr ist, ausgeprägter. So ist an dem, was Fall der niedrigsten Potenz (der Schwere) ist, zwar noch ein Analogon von Individualität zu erkennen, das Schelling als die Starrheit oder Kohäsion bezeichnet. 181 Diese ist jedoch wie eine Minimalform oder der niedrigste Grad von Individualität. Mit jeder Potenz korrespondiert somit ein eigentümliches Prinzip der Individuation, und damit auch der Verräumlichung und Verzeitlichung. So gibt es im Planetensystem eine immanente Zeitlichkeit. Die körperlichen Dinge hingegen sind bloß in der Zeit, während Pflanzen und Tiere bereits in einem bestimmten Grade eine eigene Zeit haben. Dagegen hat nur der Mensch eine geschichtliche Zeit oder eine solche Zeit, die nicht bloß nach drei Dimensionen strukturiert ist, sondern zudem die Möglichkeit enthält, die Zeitlichkeit in ihrer Dimensionalität auch als solche zu erfahren. 182 Für den Unterschied zwischen einer statischen und einer dynamischen Konstruktion oder Genese, vgl. Hartkopf 1986, 210 f. 181 Vgl. AA I,10, 153 (§ 67); Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; SW VI, 287 f. (§ 124). 182 Zu beachten sind folgende Andeutungen: Die Kohäsion wird als eine »Form des in-sich-selbst-Seyns«, der »Absonderung« und des »Beseeltseyns« gedacht (SW VI, 287). Und: »Wir können auch sagen, die Cohäsion in gerader Linie sey der Ausdruck der Ichheit der Dinge – der allgemeine Akt der Absonderung von der Totalität, des Abfalls von der Schwere« (SW VI, 288). Zugleich ist die Kohäsion auch »Ausdruck der Zeit an dem Ding« (SW VI, 287). Im Zusammenhang der Behandlung der anderen Potenzen finden sich immer wieder Hinweise auf eine für jede Potenz unterschiedliche Verzeitlichung: »Durch den Magnetismus ist jedem Ding mehr oder weniger die Zeit eingebildet, daß es sie in sich selbst hat« (SW VI, 327 f.); »die Pflanze lebt ganz in der Zeit« (SW VI, 396). Im Zusammenhang des tierischen Organismus wird auf eine periodische Zeit hingewiesen, d. h. eine solche, die dadurch entsteht, dass etwas sich ständig, nach einem bestimmten Rhythmus, wiederholt – so z. B. der Blutkreislauf oder das Atmen, ein ständiges Pulsieren oder ein Kreis, der ständig in sich selbst zurückläuft, aber nie auf eine höhere Ebene gelangt. Vgl. auch den Hinweis auf die 180

196 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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Die »Dinge« sind demnach nach dem »Grade« ihres »Belebtseyns« oder des Beseeltseins zu unterscheiden – entsprechend den Realitätsgraden der Potenzen. 183 Daraus geht auch hervor, weshalb es hier keine Stetigkeit gibt: Die Endlichkeit ergibt sich nicht am Ende des Prozesses der Hervorbringung der Potenzen oder des Prozesses, welcher durch die Potenzenkonstruktion rekonstruiert wird, sondern sie ereignet sich in jeder Potenz. Und der Grad des Belebt- oder Beseeltseins eines Dings ist von der Potenz abhängig, von welcher es ein ›Fall‹ ist. Hiermit hängt Schellings Lehre vom Instinkt zusammen, die diese Zusammenhänge am deutlichsten einsehen lässt: »Je mehr aber ein Ding einzeln ist und in seiner Einzelnheit beharret, desto mehr trennt es sich von dem ewigen Begriff aller Dinge, welcher in dem Licht außer ihm fällt, wie der unendliche in der Zeit, es selbst aber gehört dem an, was nicht ist, sondern Grund von Existenz ist«. 184 Die meisten Dinge erlangen somit nur einen relativ niedrigen Grad der Individualisierung und sie vermögen keine weitgehende Eigenständigkeit dem ›ewigen Begriff aller Dinge‹ gegenüber zu behaupten, sondern sie realisieren, indem sie in ihrer Einzelheit beharren und sich in ihrer Existenz zu behaupten suchen, doch nur das durch ihre Natur mitgegebene ›Programm‹. Auch organische Wesen bleiben für ihre Existenz auf einen Grund angewiesen, der außer ihnen liegt und den sie nie völlig in ihre Gewalt zu bringen vermögen. Dies ist die Fragilität der organischen Wesen, die mit ihrer Verfassung notwendig mitgegebene Heteronomie: Ihre Existenzbedingungen gestatten ihnen nur eine gewisse Variationsbreite, mit einem Minimum und Maximum. Gehen die Bedingungen unter dieses Minimum oder über das Maximum hinaus, dann können sie nicht mehr existieren. 185 Solche Wesen »sind in ihren Handlungen zwar vernünftig, nicht aber durch die in ihnen selbst, sondern durch die in dem Universum wohnende Vernunft«. 186 Wenn diese Wesen auch bloß der Erhaltung im Zugvögel, die ebenfalls eine eigene Zeit in sich haben, die dem periodisch Wiederkehrendem der Zeit gehorchen (auch hier also nur eine rotatorische Zeit). Diese periodische Zeit ist letztlich nur eine Darstellung oder Wiederholung der kosmischen Zeit, der Zeit des Umlaufs der Planeten bzw. der Erde um die Sonne. – Für eine erste allgemeine und von daher vorläufige Deduktion der Zeit, vgl. SW VI, 220–227, 270– 277. 183 Vgl. Schelling 1802a, 124 / SW IV, 279. 184 Schelling 1802a, 123 f. / SW IV, 278. 185 Vgl. Schelling 1802a, 125 f. / SW IV, 279. 186 Schelling 1802a, 126 / SW IV, 280.

197 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

3. Kapitel. Absolutes und Abfall

eigenen Sein nachstreben, so zeichnen sich dennoch sowohl im Handeln des einzelnen Wesens als auch in dem der Gattung vernünftige Muster ab. Ihr Handeln als Einzelne ist deshalb vernünftig, weil »alle ihre Handlungen auf die Einheit gerichtet [sind], nicht aber durch sie selbst, sondern durch das göttliche Princip, welches sie lenkt«. 187 Sie sind also nicht selbst Urheber dieser Ausrichtung auf die Identität, weshalb Erreichen oder Verfehlen dieses Ziels ihnen auch nicht zugerechnet werden kann und wird. Diese Wesen sind insofern nur im Grund und vermögen sich nicht vollkommen abzusondern. Dabei wird auch die Identität selbst nicht offenbar oder existierend. Sie bleibt bloß im Grunde oder wirkt nur als Grund der existierenden Dinge, ohne selbst etwas Existierendes zu sein. Damit die absolute Identität existiert und offenbar wird, ist ein endliches Wesen erforderlich, durch welches es diese Existenz erhält. 188 Ferner stellt jede Potenz sich durch eine Verdoppelung in und eine Einheit von Seele und Leib dar. Jede impliziert somit eine eigene Form der Leiblichkeit, die auch eine eigene Form der Seele impliziert. So gibt es keine Seele ohne eine ihr entsprechende Welt, so wie es auch keine Welt gibt ohne ein besonders verfasstes Subjekt, das diese anschaut. Die Welt ist hier wesentlich Umwelt: Das Subjekt, das diese Welt wahrnimmt, steht dieser nicht so sehr gegenüber, als dass es vielmehr Teil derselben ist; andererseits hat diese Welt keine Realität unabhängig oder abstrahiert von einem sie wahrnehmenden Subjekt. 189 Es gibt demnach »eine gedoppelte Ansicht der Seele«: einerseits die Seele als Seele eines bestimmten Leibes, die aber, insofern sie Schelling 1802a, 126 / SW IV, 280. Die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Religion und der Freiheitsschrift in diesem Punkt tritt in folgender Stelle klar hervor: »Jedes der auf die angezeigte Art in der Natur entstandnen Wesen hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im Grunde nur Ein und das nämliche ist, von den beyden möglichen Seiten betrachtet« (Schelling 1809a, 436 / SW VII, 362; vgl. Schelling 1804, 45 / SW VI, 44 f.). Statt von zwei ›Seiten‹ ist hier von zwei »Prinzipien« die Rede, die nachher auch als zwei »Willen« präzisiert werden (Schelling 1809a, 454 f. / SW VII, 375 f.). Auch hier ist der »Eigenwille« (oder die Dinge als rein endliche) bloßes Werkzeug (hier vom Verstand oder Universalwillen) (vgl. Schelling 1809a, 436 / SW VII, 363). Erst im Menschen zeigt sich der Eigenwille oder die Selbstheit in ihrer wahren Bedeutung – als finsteres, nachher als böses Prinzip; die Selbstheit gelangt also ebenfalls erst im Menschen zu ihrer wahren Bedeutung, da sie ja in den anderen Wesen immer im Universalwillen eingebunden blieb. Deshalb bezeichnet die Ichheit als »Punct der äussersten Entfernung« zugleich »wieder de[n] Moment der Rückkehr zum Absoluten, der Wiederaufnahme ins Ideale« (Schelling 1804, 41 / SW VI, 42). 189 Vgl. Deleuze 1969, 122–130. 187 188

198 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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die Vernunft aktualisiert, die Wirklichkeit des unendlichen Denkens oder Erkennens ist, andererseits das Wesen der Seele, das insofern nur die unendliche Möglichkeit eines solchen Denkens enthält. 190 Das Wesen der Seele kann selbst nur mittels eines Gegensatzes existieren oder insofern es jene doppelte Seele gibt: Diese ist die Seele einerseits als Begriff des Leibes, andererseits als Begriff der Seele. Zu beachten ist, dass beide Ansichten der Seele einander wechselseitig ausschließen und nicht zugleich gesetzt oder vollzogen werden können: [S]etzen wir sie bloß als sich beziehend auf dieses, dessen Begriff sie ist [den Leib, R. S.], so setzen wir sie nicht als unendliches Erkennen, und [setzen wir sie umgekehrt, R. S.] bloß als unendlich, so setzen wir sie nicht als Begriff eines existirenden Dinges, mithin selbst nicht als existirend. 191

Hier geht es um die Frage, unter welcher Form das unendliche Erkennen auch existieren oder erscheinen kann: »Nur diese Idee ist in Gott, der Gegensatz aber von Differenz und Indifferenz, nur in der Seele selbst, sofern sie existirt« (also nicht im Wesen der Seele). 192 Nach Schellings Behauptung stellt die Lehre vom Abfall keine sonderliche Neuigkeit der Schrift über Philosophie und Religion dar, sondern er hatte sie »für den Kenner klar und bestimmt genug« im Bruno »niedergelegt«. 193 Dort wird der Begriff der Seele in einem Zusammenhang entwickelt, in dem es Schelling darum geht, »den Ursprung des Bewußtseins aus der Idee des Ewigen selbst und seiner inneren Einheit« abzuleiten, ohne gegen die Anforderung, dabei »einigen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen zuzugeben oder anzunehmen«, zu verstoßen. 194 Auch hier soll demnach vermieden werden, eine Stetigkeit zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen anzunehmen. Es sei hier zudem noch an die beiden Fragen erinnert, die Schelling strengstens unterschieden wissen wollte, nämlich einerseits die Frage nach der Entstehung potentieller, andererseits die Frage nach der Entstehung wirklicher Differenzen. 195 Die Aufgabe einer Ableitung des »Ursprungs des Bewußtseins« aus der Idee des Absoluten, ohne dazu zur Annahme des genannten Übergangs ge190 191 192 193 194 195

Schelling 1802a, 137 / SW IV, 285; vgl. Schelling 1802a, 130 / SW IV, 282. Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285 f. Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286. Schelling 1804, 19 / SW VI, 28; vgl. Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f. Schelling 1802a, 131 / SW IV, 282. Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.

199 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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nötigt zu sein, präzisiert Schelling auch so, dass die »Trennung« oder die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit mit dem Bewußtsein gleichursprünglich ist. 196 Diese Trennung ist somit für das Bewusstsein konstitutiv. Sie hat aber nur in Ansehung des Bewusstseins selbst oder nur für es Realität, nicht »in Ansehung des Absoluten«. 197 Das Bewusstsein vollzieht sich demnach als ein ›Losriss‹ vom Absoluten. Dabei bemerkt Schelling, dass wir »auch uns [zu] erinnern [haben], wie allem, was aus jener Einheit hervorzugehn, oder von ihr sich loszureißen scheint, in ihr zwar die Möglichkeit für sich zu seyn vorher bestimmt sey«, oder dass die Ichheit oder die Seele ihrer Möglichkeit oder idealen Struktur nach im Absoluten vorgezeichnet sein muss, »die Wirklichkeit aber des abgesonderten Daseyns nur in ihm selbst liege, und selbst blos ideell, als ideell aber nur in dem Maaße statt finde, als ein Ding durch seine Art im Absoluten zu seyn, fähig gemacht ist, sich selbst die Einheit zu seyn«: »[W]ir haben also notwendig eine gedoppelte Ansicht der Seele«. 198 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine solche doppelte Optik aus dem Absoluten zu konstruieren, wenn es gilt, einen vollständigen Begriff der Seele zu gewinnen. Jede der beiden Ansichten für sich genommen liefert noch keinen Begriff von dem, was wir gewohnt sind, ›Seele‹ zu nennen. Darauf macht Lucian aufmerksam, wenn er sagt: »[S]etzen wir sie [die Seele, R. S.] bloß als sich beziehend auf dieses, dessen Begriff sie ist [den Leib, R. S.], so setzen wir sie nicht als unendliches Erkennen«. 199 Die Seele wird dann lediglich in ihrem ›objektiven‹ oder repräsentativen Charakter ins Auge gefasst, während die Selbstbezüglichkeit ausgeblendet wird, durch welche alles, was für sie Objekt ist, zugleich nur in Beziehung auf sie gesetzt ist. Setzen wir die Seele aber »bloß als unendlich, so setzen wir sie nicht als Begriff eines existirenden Dinges, mithin selbst nicht als existirend«, sondern bloß als Idee oder Wesen der Seele, wie diese in Gott sind. 200 Wenn gesagt wird, dass beide »nothwendig vereinigt« sind, »die Seele insofern sie mit dem Leib Eins, ja er selbst ist, und die Seele, in so fern sie das unendliche Erkennen ist«, dann ist damit Schelling 1802a, 131 / SW IV, 282. Schelling 1802a, 130 / SW IV, 282. 198 Schelling 1802a, 131 f., 137 / SW IV, 282, 285. Oliver Florig verweist zwar zu Recht auf diese doppelte Ansicht oder Optik, unterlässt es aber, zu zeigen, inwiefern diese für die Seele konstitutiv ist (vgl. Florig 2008, 77, 92 f.). 199 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285. 200 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286. 196 197

200 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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gemeint, dass beide gleichursprünglich sind. 201 Die Seele macht nur mit dem Leib zusammen ein Individuum aus, so dass dieses sich auf zwei Weisen zu erkennen gibt. Umgekehrt kann die Seele kein unendliches Erkennen sein, wenn sie nicht zugleich mit einem ihr entsprechenden Leib gesetzt ist. Sie kann ja nur als ein Erkennen bestimmt werden, wenn es auch etwas gibt, das durch sie erkannt wird. Das erste, was die Seele erkennt, ist aber der Leib. Die Seele muss somit in zwei Hinsichten betrachtet werden: Erstens insofern sie der Begriff von etwas ist oder ihrer ›repräsentativen‹ Seite nach, andererseits als bloßer Modus des Erkennens. Diese beiden Seiten sind notwendig vereinigt. Dies verweist auf ein Drittes, das beide vereinigt und die Identität beider garantiert und das Schelling die Idee oder den »ewigen Begriff« der Seele nennt: »Nur diese Idee ist in Gott, der Gegensatz aber von Differenz und Indifferenz«, also die Unterscheidbarkeit der Seele als Begriff des Leibes und die Seele als bloßer Erkenntnismodus, ist »nur in der Seele selbst, sofern sie existirt«. 202 Dieser Gegensatz gehört also lediglich zur Erscheinung; zugleich ist er aber die Bedingung, damit die Idee selbst erscheinen kann. Das Verhältnis von der Seele als unendlichem Erkennen zu der Seele als Begriff des Leibes ist die Reflexion. Dieses reflexive Moment gehört ebenso wesentlich zum Begriff einer (existierenden) Seele. Hier wird die Seele, als Begriff des Leibes, zum Objekt der Seele selbst. Diese drei Momente lassen sich an allen »endlich erkannten Dingen« nachweisen: Denn auch die nicht existirenden Dinge und die Begriffe dieser Dinge sind in dem Ewigen nicht anders als wie die existirenden Dinge und die Begriffe dieser Dinge, nämlich auf eine ewige Weise enthalten. Hinwiederum sind auch die existirenden Dinge, und die Begriffe dieser Dinge im Absoluten doch auf keine andre Weise, als auch die nicht existirenden Dinge und ihre Begriffe, nämlich in ihren Ideen […] Der Begriff keines Einzelnen ist in Gott getrennt vom Begriff aller Dinge, die sind, waren oder seyn werden […]. 203

Sowohl die nicht-existierenden als auch die existierenden Dinge wie auch die ihnen entsprechenden Begriffe sind im Absoluten auf gleiche Weise. Die Eigenschaften, die einem Ding dadurch zukommen, dass 201 202 203

Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286. Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286. Schelling 1802a, 69 f. / SW IV, 251; vgl. SW VI, 534 (§ 297).

201 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

3. Kapitel. Absolutes und Abfall

es auch existiert, und durch welche es sich von anderem Existierendem unterscheidet, haben in Ansehung des Absoluten keine Realität, da sie ihm von den Verhältnissen und Beziehungen zuwachsen, in welchen es zu Anderem steht, von welchen im Absoluten durchaus abstrahiert ist. Weil jedes Ding seiner Idee nach eine unmittelbare Darstellung des Absoluten ist, sind alle Dinge sich darin gleich. Sie kommen alle darin überein, dass sie alle das gleiche Verhältnis zum Absoluten haben. Das nicht existierende Ding ist keine bloße Möglichkeit, sondern etwas, wovon die Idee genauso gut im Absoluten enthalten ist wie die Idee von solchen Dingen, die auch wirklich existieren. Dadurch dass dieses Ding nicht existiert, fehlt ihm dennoch nichts. Im Absoluten »ist nichts von dem andern unterscheidbar, denn die Dinge unterscheiden sich nur durch ihre Unvollkommenheiten und die Schranken, welche ihnen durch die Differenz des Wesens und der Form gesetzt sind«. 204 Wir haben gesehen, wie die Ichheit sich nach Schelling gerade wegen ihrer Bestimmung als Tat-Handlung als ›allgemeines Princip der Endlichkeit‹ geeignet erwies. Er bezeichnet die Ichheit allerdings zugleich auch als höchsten Ausdruck jenes allgemeinen Prinzips. In dieser Hinsicht ist der Begriff nicht verallgemeinbar, sondern bezeichnet etwas für das menschliche Wesen Spezifisches. Die Naturphilosophie endigt nämlich damit, dass die Natur ein mögliches Subjekt der Vernunft hervorbringt. Die ideelle Reihe fängt dementsprechend damit an, dass die Vernunft »in der Relation auf ein besonderes Ding« (SW VI, 495 (§ 260); vgl. SW VI, 498 (§ 265)), nämlich in Beziehung auf den Menschen als mögliches ›Subjekt der Vernunft‹ betrachtet wird (vgl. SW VI, 496), für welches umgekehrt die Vernunft als ein Vermögen anzusehen ist. 205 Deshalb kann Schelling behaupten, daß die Ichheit und die Vernunft, genauer: die »reale Vernunft«, »Ein und dasselbe« sind. 206 Der paradoxe Charakter des Abfall-Begriffs zeigt sich auf eine besonders prägnante Weise an dessen höchstem Ausdruck. Dieses Paradoxe ist eigens hervorzuheben, da es das Verständnis dieses Begriffs Schelling 1802a, 83 / SW IV, 258. Vgl. AA I,10, 116 f. (§ 1); SW VI, 137–140, 142–145, 496, wo damit angefangen wird, »vom Subjektivem zu abstrahiren«. Die Vernunft soll hier also eben nicht als ein solches Vermögen, das an einem Subjekt als deren Träger gebunden ist, betrachtet werden. Diese ›nicht-gebundene‹ Vernunft bezeichnet Schelling dort als die ›absolute Vernunft‹. 206 Schelling 1804, 42 / SW VI, 43. 204 205

202 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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besonders erschwert. Zugleich dürfte dadurch noch klarer werden, welche neue Bedeutung ihm in der höchsten Potenz zuwächst. Wir haben bereits auf den plastischen Charakter dieses Ausdrucks aufmerksam gemacht. In der Tat verschiebt sich die Bedeutung des Ausdrucks bei seiner späteren Verwendung. Dort tritt er vielmehr mit Ausdrücken wie ›Schuld‹ und ›Strafe‹ verbunden auf, 207 später auch im Sinne einer ›Abwendung‹ oder eines ›Absehens von‹. 208 Diese Ausdrücke sind sämtlich der sittlichen Sphäre entnommen. Der Ausdruck ›Abfall‹ erlaubt, wie es auch die lateinische Übersetzung nahelegt, die Schelling ihm gelegentlich hinzufügt (defectio), eine sittliche Deutung, und zwar als Treubruch, Vertragsbruch, Verrat, als die Kündigung eines Vertrags. 209 In diesem sittlich qualifizierten Sinn wird der Ausdruck indessen nur dort verwendet, wo von dem »Punct der äussersten Entfernung« die Rede ist. 210 Nur in der höchsten Potenz oder nur im Fall der Ichheit im engeren Sinne könnte man den Abfall auch als einen ›Sündenfall‹ bezeichnen oder als etwas, das dem Abgefallenen zugeschrieben und wofür er verantwortlich gemacht werden kann. 211 In dieser Verwendung tritt der paradoxe Charakter des Begriffs am deutlichsten hervor. Dieser zeigt sich besonders daran, dass er geradezu zu der Frage einlädt, wie ein Vorgang als Strafe oder als Schuld angesehen werden kann, wenn das Subjekt, das für schuldig erachtet oder gestraft wird, noch gar nicht dabei sein konnte, da es erst in dessen Folge überhaupt zustande kommt. Auch der Begriff des Abfalls verlockt zu der Frage, wer als dessen Urheber zu gelten hat. Die Behauptung, dass der Abgefallene selbst Urheber des Abfalls sei, scheint paradox, da er erst im Zuge des Abfalls konstituiert wird. Es scheint, dass dann nur das Absolute selbst als Urheber jenes Vorgangs angesehen werden könnte. Dem steht allerdings entgegen, dass Schelling den Ausdruck gerade dazu einführt, um zu verhindern, Gott oder das Absolute als »Urheber des Bösen« oder als »Urheber Vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 f. / SW VI, 42, 47, 52, 61. Vgl. Schelling 1805b, 39, 50 / SW VII, 165 (§ 120), 173 (§ 155). 209 Vgl. SW VI, 552; Schelling 1805b, 50 / SW VII, 173. 210 Schelling 1804, 41, 64 / SW VI, 42, 57; vgl. SW VI, 124. 211 Die Zuschreibungs- oder Zurechnungsfähigkeit ist das unterscheidende Merkmal von Persönlichkeit. Der Begriff der intelligiblen Tat dient gerade dazu, die Zurechnungsfähigkeit der Handlungen einsichtig zu machen, d. h. zu zeigen, wie jene Tat eben als eine Schuld oder ›Sünde‹ bezeichnet werden kann (vgl. Schelling 1809a, 467, 470, 472 / SW VII, 385, 387, 388). 207 208

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

der Privation« ansehen zu müssen. 212 Wenn man sich dadurch nun darin bestätigt sehen möchte, dass der ›Abfall‹ nur eine Nothilfe und Verlegenheitslösung darstellt, dann bleibt doch zu erwägen, dass beides – die Einführung des Ausdrucks sowie deren Grund – sich im Text so nah bei einander findet, dass der Verfasser der Schrift dies wohl kaum hätte übersehen können. Der Abfall ist nicht von der Art, dass ich ihm gegenwärtig hätte sein können, da ich selbst erst in Folge desselben überhaupt hervortrete. Er ist demnach nicht von der Art einer Tatsache, die sich feststellen ließe. Stattdessen sucht Schelling Argumente dafür, dass irgendetwas von der Art hat statthaben müssen, und zwar in solchen Gefühlen, die eine einzigartige Verfassung aufweisen. So heißt es z. B. von der intelligiblen Tat, dass sie in »dem Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch ist, […] freylich nicht vorkommen [kann], da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der dem Menschen überall kein Bewusstseyn geblieben«. 213 Das ›Bewusstseyn‹ jener Tat geschieht in der Form bestimmter Gefühle oder auch von sittlichen Urteilen, in welchen jenes sich bekundet. Es sind dies Gefühle, in welchen sich eine Spur der Freiheit nachweisen lässt. 214 Wie wir gesehen haben, hatte Schelling mit dem fichteschen Begriff der Ichheit zugleich die Bestimmung des Endlichen als TatHandlung übernommen und auf alles endliche Seiende ausgeweitet. Diesen Charakter des Seins des Endlichen bezeichnet Schelling in der Freiheitsschrift als den formellen Begriff der Freiheit. Dies geht aus einer Stelle hervor, wo es heißt, dass wir dem Idealismus Fichtes »den ersten vollkommnen Begriff der formellen Freyheit verdanken«. 215 An diesem bemängelt Schelling allerdings, dass Fichte es unterlassen hat nachzuweisen, dass »alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe, oder im Fichte’schen Ausdruck, dass nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey«. 216 So geht in Philosophie und Religion, wie wir gesehen haben, die Aufnahme des fichteschen Begriffs der Ichheit mit dem Nachweis einher, dass die Ichheit »das allgemeine Schelling 1804, 34, 48 / SW VI, 38, 47. Schelling 1809a, 469 / SW VII, 386. 214 Eine analoge Argumentationsweise findet sich auch hinsichtlich der Vergangenheit (vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59; vgl. dazu auch SW VII, 459 f.). 215 Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351. 216 Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351; Herv. v. Verf. 212 213

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Princip der Endlichkeit« ist. 217 Diesen Begriff der formellen Freiheit des nicht-menschlichen Seienden behandelt Schelling in der Freiheitsschrift nicht ausführlich, sondern er begnügt sich mit einigen Hinweisen. So ist es die »Aufgabe einer vollständigen Naturphilosophie«, nachzuweisen, dass das allerinnerste Band der Kräfte nur in einer stuffenweise geschehenden Entfaltung sich löst; und bei jedem Grade der Scheidung der Kräfte ein neues Wesen aus der Natur entsteht, dessen Seele um so vollkommner seyn muss, je mehr es das, was in den andern noch ungeschieden ist, geschieden enthält. 218

Dort, wo in der Freiheitsschrift ausführlich von diesem formellen Freiheitsbegriff die Rede ist, ist diese Behandlung von vornherein auf den Menschen zugeschnitten. 219 Nachdem im Vorhergehenden besonders der reale Begriff der Freiheit erörtert wurde, und zwar in der Gestalt, die er in der höchsten Potenz, d. h. im Menschen, annimmt, nämlich als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, ist auch die gesonderte Behandlung des formellen Begriffs bereits auf den vorher gewonnenen realen Begriff zugeschnitten. Der reale Begriff der Freiheit bestand darin, sie als Vermögen zum Guten und zum Bösen zu denken. Diese Handlungsvielfalt ist aber erst dann ein wirklicher Begriff der Freiheit oder Komponente eines solchen, wenn auch der formelle Aspekt betrachtet wird, nämlich dass die Realisierung des einen oder anderen Modus dem einzelnen Menschen auch tatsächlich zugeschrieben werden kann. Schelling bemerkt zu Recht, dass dies bislang nur »weniger in’s Auge gefasst« wurde. 220 So war bereits früher die Rede von der Unentschiedenheit und der Unmöglichkeit, in derselben zu bleiben, also der Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Der »gewöhnliche Begriff der Freyheit« nun hebt nur auf diesen formellen Aspekt ab, wonach die Freiheit in die Freiheit der Wahl gesetzt wird. Dies ist aber eine ungenügende Erfassung dessen, was besser Entscheidung hieße. 221 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; Herv. v. Verf. Schelling 1809a, 435 f. / SW VII, 362. 219 Vgl. Schelling 1809a, 463–473 / SW VII, 382–389. 220 Schelling 1809a, 463 / SW VII, 382. 221 Diesen setzt Schelling dort von dem »gewöhnliche[n] Begriff der Freyheit, nach welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei kontradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andre zu wollen, schlechthin bloss, weil es gewollt wird«, ab (Schelling 1809a, 463 / SW VII, 382). Die Kritik am ›gewöhnlichen Begriff der Freyheit‹ als Willkür bildet auch den 217 218

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Während Schelling diesen Begriff in Philosophie und Religion im Anschluss an Fichte entwickelt, entfaltet er ihn in der Freiheitsschrift hingegen in Anlehnung an die kantische Lehre der intelligiblen Tat, wie diese in der Religionsschrift entwickelt wurde. 222 Sowohl der fichtesche Begriff der Ichheit als der kantische einer intelligiblen Tat werden dazu eingesetzt, den formellen Begriff der Freiheit zu explizieren. Die Deduktion des Begriffs der formellen Freiheit wird durch das Theoriestück der intelligiblen Tat geleistet. Dieser Begriff ist indessen mit dem einer »höhere[n] Nothwendigkeit« gleichbedeutend, d. h. einer solchen, die sich von der empirischen Notwendigkeit, dem notwendigen Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, unterscheidet. 223 Schelling bezeichnet sie auch als »eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende, Nothwendigkeit«: Das intelligible Wesen kann daher, so gewiss es schlechthin frey und absolut handelt, so gewiss nur seiner eignen innern Natur gemäss handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freyheit ist: denn frey ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäss handelt, und von nichts anderem weder in noch ausser ihm bestimmt ist. 224

Im Anschluss an die Frage, »was […] denn jene innere Nothwendigkeit des Wesens selber [ist]?«, bringt Schelling den Begriff der TatHandlung zum Tragen: Das Wesen des Menschen ist eine Tat-Handlung. 225 »Die That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, geroten Faden in der Behandlung der Potenz des Handelns in den Würzburger Vorlesungen (vgl. SW VI, 539, 540, 541, 558, 560). Als exemplarischer Vertreter dieses Begriffs galt Schelling Reinhold. – Für den Unterschied zwischen Entscheidung und Wahl, vgl. Wieland 1956, 33. 222 Aus einer Bemerkung im System des transscendentalen Idealismus geht hervor, dass Schelling bereits 1800 beide Lehren miteinander in Verbindung gebracht hat (vgl. AA I,9,1, 279). Vgl. dazu Leinkauf 1998, 171, 178. 223 Schelling 1809a, 465 / SW VII, 383. 224 Schelling 1809a, 465, 466 f. / SW VII, 383, 384. 225 Vgl. Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385: »das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne That«; »Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That«. Kurz vorher hatte Schelling bemerkt, dass er hier die kantische Lehre »nicht eben genau mit seinen Worten« ausdrückt (Schelling 1809a, 466 / SW VII, 384). Diese Formulierung erinnert an die Maxime von Schellings Kant-Deutung, die er 1797 in einer Abhandlung formulierte (vgl. AA I,4, 102), die er in einer überarbeiteten Fassung unter dem neuen Titel Abhandlungen zur Erläuterungen des Idealismus der Wissenschatfslehre in dem Band der Philosophischen Schriften veröffentlichte, in welchem auch die Freiheitsschrift erstveröffentlicht wurde. An der zitierten Stelle wird nun deutlich, dass er

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

hört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit, (unergriffen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That«. 226 In dem Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene freye That, die zur Nothwendigkeit wird, freylich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der dem Menschen überall kein Bewusstseyn geblieben. 227

Das Wesen des Menschen darf kein »ihm bloss gegebenes« sein, das er einfach vorfindet und hinzunehmen hätte, sondern es muss der Mensch an diesem seinem Wesen selbst beteiligt sein. 228 Formell ist die kantische Lehre nicht mit Kants eigenen, sondern mit den Worten Fichtes ausdrückt. Schellings erklärte Absicht mit den erwähnten Abhandlungen bestand darin, die kantische Lehre dadurch konsistent darzustellen, dass er sie in die fichtesche Begrifflichkeit übersetzt. Vgl. Leinkauf 1998, 160, 169 f., 183 f. Für die unterschiedliche Aufnahme dieses Begriffs durch Schelling und Schopenhauer vgl. Hühn 1998, 85, 92 f. 226 Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385 f. Vgl. dazu Leinkauf 1998, 158, 187, 159, 170, 160 f.: Es handelt sich nicht so sehr um eine besondere Tat, sondern um eine Tat oder Tathandlung, die angenommen werden muss, um alle anderen Taten erklären zu können, demnach um einen ›formalen Grund‹. Deshalb betont Schelling, dass diese Tat allen Taten nicht der Zeit, sondern dem Begriff nach vorangeht und dass die Tathandlung eine ewige Handlung ist. Man kann also alle Taten nicht chronologisch als nach dieser Tat und aus ihr folgend darstellen, sondern man kann nur ausgehend von jenen Taten auf sie zurückschließen. Nur so können wir auch alle nachfolgenden Taten als frei und d. h. von sittlicher Bedeutung und zurechnenbar begreifen. Deshalb spricht Leinkauf zutreffend von einem »unhintergreifbare[n] unkorrigierbare[n] Perfekt des sich-Zugezogenhabens«, von einer »nur ex post zu konstatierende[n] Tatsache«, von einem »immer schon geschehen seienden Akt«, kurz: von einer absoluten Vergangenheit. Die Geschichte selbst, die Verwicklung mit dem Endlichen, stellt sich zunächst als ein Verhängnis dar, das einfach aus dieser ursprünglichen Tat folgt; wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, kann ihr aber auch eine andere Qualität zuwachsen. 227 Schelling 1809a, 469 / SW VII, 386. Gegen den ›gewöhnlichen Begriff der Freyheit‹ führt Schelling folgendes an: (1.) Ein solches Handeln wäre unvernünftig; man wäre nicht imstande, seine Handlungen zu rechtfertigen; (2.) der einzig mögliche Beweis für eine solche Freiheit sind immer nur ganz triviale Beispiele; (3.) das Nichtwissen eines Grundes vermag noch nicht auszuschließen, dass nicht im Verborgenen doch ein Grund wirksam ist; vielmehr ist es wahrscheinlich, dass man gerade dann durch unbekannte Gründe bestimmt werde; (4.) der Haupteinwand ist jedoch, dass »dieser Begriff eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen einführt«, d. h. die Handlungen sind nicht länger Ausdruck eines Charakters oder der Person (Schelling 1809a, 464 / SW VII, 383). 228 Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385.

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

das Wesen zwar Notwendigkeit: Die einzelnen Handlungen folgen aus ihm notwendig, nach dem Gesetz der Identität und sind dementsprechend nur Bekundungen oder Darstellungen dieses Wesens. An sich aber ist das Wesen Freiheit, insofern es die eigene Tat eines Menschen ist und ein sich selbst gegebenes Wesen. Hier widersetzt sich Schelling der Gleichsetzung jenes Wesens mit Bewusstsein. Zwar können wir uns dieses Wesens – in bestimmten Gefühlen – bewusst werden. Dennoch fällt es nicht mit dem, was ins Bewusstsein fällt, zusammen. Dieses Bewusstsein setzt ein »Seyn« voraus, das kein bloßes Sein ist und dennoch nicht selbst wiederum Bewusstsein oder Erkennen, sondern ein »Ur- und Grundwollen«. 229 Wenn wir jetzt noch einmal auf die höchste Form der Individuation zurückkommen, dann können wir dem nächsten Kapitel vorgreifend bereits sehen, wie Schelling hierin ein Mittel sieht, zwischen Individualität und Persönlichkeit zu unterscheiden. 230 Die Individualität beruht auf der »Verwicklung der Seele mit dem Leib«. 231 Individualität ist demnach jedem in der Zeit geborenen Wesen zuzuschreiben. Persönlichkeit hingegen zeigt sich erst und nur in der höchsten Potenz und ist daher etwas für den Menschen Spezifisches. Dabei gilt es zu beachten, dass Schelling mit dieser Entwicklung der Persönlichkeit zweierlei will: Zum einen will er sie als etwas spezifisch Menschliches herausstellen, zum anderen soll sie so gedacht werden, dass einsichtig wird, wie sie auch beim Menschen etwas sehr Seltenes ist. Deshalb verwenden wir das Wort auch als Lob und um Bewunderung Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385. Vgl. den berühmten Satz, dass es »gar kein andres Seyn als Wollen« gibt, dass »Wollen […] Urseyn« ist; dies gilt allerdings nur »in der letzten und höchsten Instanz«, d. h. im Menschen (Schelling 1809a, 419 / SW VII, 350). 230 Vgl. Leinkauf 1998, 199: »Diese positive, ja konstitutive Bedeutung [des Charakters als Quelle von Freiheit, R. S.] kann er […] nur aus der Wurzel seines Zustandekommens haben, aus der Tatsache, daß die charakterliche Individuation einerseits die Bedingung jeder Individuation teilt, d. h. der singuläre inverse Ausdruck der Negation aller anderen Faktoren einer Totalität oder Ganzheit zu sein, und andererseits diese passiv ausfüllende, kombinatorische Bedingung dadurch transzendiert, daß in der Einzigkeit des Charakters durch diese Negation die Positivität von Freiheit vermittelt ist, die darin besteht, daß für bewußtes, intelligentes Sein das negierte Andere aufgehoben ist in einen aktiven Horizont von Realisierungsmöglichkeiten. Diese allerdings sind, indem sie frei sind, zugleich gebunden an den Index des Individuellen. Das genau ist ja Charakter: einen potentiell unendlichen Handlungsreichtum dennoch unter die unerbittliche Schranke eines durch nichts substituierbaren individuellen Kerns zu versammeln«. 231 Schelling 1804, 69 / SW VI, 61. 229

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Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

auszudrücken. Der Mangel an Persönlichkeit oder der defiziente Modus ist jedoch weit üblicher. 232 Ohne Individualität gibt es zwar auch keine Persönlichkeit, aber dies heißt nicht, dass die Individualität selbst bereits Persönlichkeit ist. Persönlichkeit liegt in einem bestimmten Verhältnis zu dem, was unsere Individualität ausmacht. 233 Wir sind unserer Individualität gegenüber deshalb frei, weil es zwei mögliche Verhaltensweisen zu derselben gibt: Die eine wäre als Persönlichkeit, die andere als Mangel an Persönlichkeit zu bezeichnen. Die Individualität ist nämlich nicht bloß eine Mitgabe, sondern auch und vor allem eine Aufgabe. Sie soll nicht bloß hingenommen, sondern umgewandelt werden. Die Individualität soll bloß Grund sein, kann aber danach streben, selbst das Existierende zu sein oder sich für sich selbst und um ihrer selbst willen nach Anerkennung als selbst etwas Reelles bemühen. Es ist noch daran zu erinnern, dass dasjenige, was wir bisher über den Abfall erörtert haben, uns noch keineswegs den vollständigen Begriff desselben liefert. Diesen erhalten wir erst, indem wir zum Gebiet der praktischen Philosophie übergehen. Es ist zu vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Unvollständigkeit des Begriffs des Abfalls, so wie er im zweiten Abschnitt entwickelt wurde, und der Unvollständigkeit der Idee Gottes, der bis hierher nur insofern betrachtet wurde, als er als Grund der Realität der endlichen Dinge auftritt. Die Vervollständigung beider Begriffe ist Gegenstand des nächsten Kapitels. * * * Wir können die Vorzüge des Begriffs des Abfalls wie folgt zusammenfassen: Erstens verführt er den unaufmerksameren Leser dazu, in ihn die Sündenfallslehre hineinzulesen und damit eine Übereinstimmung zwischen Schellings Lehre und der christlichen Lehre anzunehmen. Die Rezeption hat gezeigt, dass Schelling in dieser Hinsicht nicht ganz ohne Erfolg geblieben ist. Zweitens kann der Begriff auch leicht als eine bloße Verlegenheitslösung aufgefasst werden, sodass es sich kaum lohnt, sich näher mit ihm zu befassen. Auch auf diese Weise gelingt es, solche Leser, für welche Schellings Lehre nicht Es scheint mir, dass dieser Umstand in den Untersuchungen zum Thema nicht ausreichend beachtet wurde. Vgl. Shibuya 2005; Florig 2010a. 233 Vgl. Buchheim 2004, 23–27. 232

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3. Kapitel. Absolutes und Abfall

bestimmt ist, von dem ›brennenden Stoff‹ fernzuhalten. Drittens ist der Begriff jedoch als eigentlicher Gegenbegriff zum Begriff eines Sündenfalls gedacht. Damit ist auch gesagt, dass eine Erklärung des Bösen in ihm wenigstens impliziert ist. Diese Erklärung geht allerdings, viertens, nicht von der Annahme der Realität des Bösen aus, in welchem Fall man Gott zum Urheber des Bösen machen würde. Er bezeichnet somit die Aufgabe, das Böse zu erklären, ohne ihm eine ontologische Dignität zuzuschreiben. Schließlich erlaubt der Begriff es, im Zusammenhang mit dem Begriff der Potenz, unterschiedliche Individuationsprinzipien zu denken, sodass sich mit jedem höheren Grad der Potenz auch eine ausgeprägtere Form der Individualität zeigt. Insofern das Reale als Drittheit eine Beweglichkeit der drei es ausmachenden Momente erlaubt, erhält das Absolute durch das Reale eine Natur oder eine Materie, die es zu einem Werkzeug auch seiner eigenen Manifestation umwandeln oder umfunktionieren kann.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

In der »Vorrede« zu seinen Philosophischen Schriften gibt Schelling als die »Hauptpunkte«, welche in den dort zum ersten Mal gedruckt erscheinenden Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände »zur Sprache kommen«, »Freyheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit u. s. w.« an. 1 In der Tat dürfte die Freiheitsschrift das Interesse, das man ihr seit längerem, oft zu Ungunsten anderer Schriften, entgegengebracht hat, außer der Autorität Heideggers, insbesondere der ausführlichen Behandlung dieser ›Hauptpunkte‹ zu verdanken haben, in welcher man einen bedeutenden Fortschritt im Vergleich zu früheren Darstellungen hat sehen wollen. Weniger Beachtung hat jedoch Schellings Erklärung gefunden, dass er sich über die genannten Hauptpunkte ebenfalls bereits in der Schrift Philosophie und Religion erklärt hatte. Zweimal erwähnt er in dieser »Vorrede« beide Schriften in einem Atemzug, während er in der Abhandlung selbst Philosophie und Religion abermals zu einer den Philosophischen Untersuchungen »verwandten Schrift« erklärt. 2 Es ist kaum zu viel gesagt, dass man diese Erklärung fast allgemein für derart offenkundig unzutreffend und bloß durch apologetische Gründe motiviert angesehen hat, dass man es kaum für nötig gehalten hat, ihre Falschheit auch noch ausdrücklich nachzuweisen, geschweige denn, dass man, umgekehrt, versucht gewesen wäre, ihr Glauben zu schenken und zu untersuchen, inwiefern jene ›Hauptpunkte‹ in Philosophie und Religion bereits zur Sprache gekommen wären. Es ist nämlich offensichtlich, dass die Freiheit, wenn Schelling sie dort auch in einer Überschrift nennt, doch nur am Rande erörtert wird, dass Gut und Böse nur derart beiläufig Erwähnung finden, dass es nach einem fast allgemeinen Urteil in dem in jener Schrift skizzierten Sys1 2

Schelling 1809a, IX / SW VII, 334. Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

tem für das Böse überhaupt keinen Platz gibt, um von der Persönlichkeit ganz zu schweigen, die sogar kein einziges Mal auch nur erwähnt wird. Die Erklärung scheint somit nur dadurch motiviert, dass Schelling den Neuansatz, den er mit der Freiheitsschrift gemacht hätte, für seine Leser, vielleicht sogar für sich selbst, hat verschleiern wollen, um eine Kontinuität vorzutäuschen, für welche es in der Sache keinen Grund gibt. Dennoch ist es befremdlich, dass es für Freiheit, Gut und Böse und Persönlichkeit in dem System, von welchem Philosophie und Religion die ideelle Seite wenigstens darzustellen anfangen möchte, keinen Ort geben würde, da die Schrift doch in erster Linie einen Einwand Eschenmayers zu widerlegen beabsichtigt, wonach das schellingsche System der Philosophie ›die Tugend ausschließe‹. Da die Rede von Tugend ohne Freiheit, ohne einen Unterschied von Gut und Böse und ohne Persönlichkeit oder Zuschreibbarkeit von Handlungen gegenstandslos scheint, ist kaum zu ersehen, wie Schelling jenen Einwand zu widerlegen vermöchte, wenn er nicht die genannten Hauptpunkte zur Sprache brächte. Im dritten und vierten Abschnitt von Philosophie und Religion führt Schelling die Darstellung seines Systems endlich »bis zu demjenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie)« fort, das in früheren Darstellungen noch nicht beschritten wurde. 3 Obwohl er versprochen hatte, im zweiten Abschnitt den »Schleyer« von der Frage nach der Endlichkeit »ganz hinwegzuheben«, so ist die vollständige Lösung dieser Frage doch erst auf dem Gebiet der praktischen Philosophie zu suchen. 4 Dementsprechend erhält auch der Begriff des Abfalls, den er zur Lösung der Frage nach der Endlichkeit eingeführt Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Schelling verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf die Ferneren Darstellungen: »[A]uch die neueren Darstellungen in der Zeitschrift [sind] noch nicht bis zu demjenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie), fortgeführt worden […], auf welchem allein die Auflösung vollständig gegeben werden kann« (Schelling 1804, 20 / SW VI, 29). Allerdings enthalten diese die bis dahin einzige veröffentlichte Darstellung eines Umrisses der ideellen bzw. praktischen Philosophie (vgl. Schelling 1803c, 42–50 / SW IV, 418–423), ohne dass es jedoch Schellings Absicht war, die Ferneren Darstellungen zum Gebiet der ideellen Philosophie fortzuführen. Dies geht zum einen aus der Bezeichnung der zweiten Hälfte dieser Abhandlungen als deren ›anderer Theil‹ hervor, mit welchem die Schrift also vollendet war. Zum anderen kündigt Schelling noch in dieser zweiten Hälfte eine im nächsten Heft seiner Zeitschrift erscheinende Abhandlung an (vgl. Schelling 1803c, 101, 102 / SW IV, 457, 458); die ausführliche Darstellung der ideellen Reihe war dort also nicht vorgesehen.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

hatte und dem bereits innerhalb der Naturphilosophie besondere Bedeutung zukam, ebenfalls erst innerhalb der praktischen Philosophie seinen vollständigen Sinn. 5 Die Ausführungen im zweiten Abschnitt lieferten dem Leser somit erst einen halbierten Begriff des Abfalls. Obwohl nach Schellings ausdrücklicher Erklärung erst im dritten und vierten Abschnitt der im Vergleich zu früheren Schriften substantiell neue Beitrag von Philosophie und Religion zu suchen ist, haben gerade diese seltsamerweise bislang kaum die Beachtung gefunden, die sie bereits aus diesem Grund verdienten. Dies dürfte, wie Schelling ebenfalls erklärt, insbesondere der Art der Darstellung geschuldet sein. 6 In der Tat macht diese im dritten und vierten Abschnitt einen womöglich noch undurchsichtigeren und zusammenhangloseren Eindruck, wie von auseinander gerissenen Teilen, als in den vorangegangenen. Mehr noch als sonst verlangt Schelling hier vom Leser, dass er Verstreutes zusammenbringt und zusammendenkt und selbst die Folgerungen aus seinen oft höchst summarischen Andeutungen zieht, wenn er daran interessiert ist, Schellings Denken auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund werden wir in einem ersten Abschnitt erneut auf das Problem der Darstellung zurückzukommen haben und einige Beobachtungen über die Weise der Darstellung und insbesondere über den Aufbau des dritten und vierten Abschnitts anstellen, die bei den nachfolgenden Ausführungen durchgängig zu beachten sind. Als passender Einstieg in Schellings Darstellung des ideellen Teils seines Systems dient eine Darlegung von Eschenmayers Einwand, der sich als durchaus mehrdeutiger und vielschichtiger erweisen wird, als er auf den ersten Blick scheinen dürfte. Obwohl der Einwand alles in allem nicht sonderlich originell ist, da die Zeitgenossen in Schellings Philosophie schon seit längerem für Moral und Religion gefährliche Konsequenzen vermuteten, so verdient er doch auch insofern Beachtung, als er so wenig unplausibel scheint, dass auch zeitgenössische Kommentatoren ihn noch zu unterschreiben scheinen. Die Darstellung von Schellings eigener Ansicht wird sich dann insbesondere auf das Problem der Freiheit und vor allem auf den Begriff des Bösen konzentrieren. Obwohl das Problem des Bösen allem Anschein nach Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49 mit Schelling 1804, 20, 64, 73 / SW VI, 29, 57, 63. 6 Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197; Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334, 410. 5

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

in Philosophie und Religion überhaupt nicht verhandelt wird, finden sich doch vereinzelte Sätze und Bemerkungen dazu, die, zusammengelesen und weitergedacht, bereits einen profilierten Begriff des Bösen hervortreten lassen, der, auch wenn er nicht in gleicher Ausführlichkeit entfaltet wird, mit dem Begriff desselben in der Freiheitsschrift durchaus verträglich ist. Dabei hat es sich als hilfreich erwiesen, Schellings deutlichere Äußerungen in den Würzburger Vorlesungen mit heranzuziehen, um die Auffassung, wonach hier am deutlichsten zu sehen wäre, wie sich aus Schellings System der Philosophie folgerichtig eine Leugnung des Bösen ergibt, entgegenzutreten. Dazu greifen wir auch auf den kantischen Begriff der negativen Größe zurück, der gerade hier und weiterhin in der Freiheitsschrift für Schelling von größter Bedeutung war. Schelling hat mehrmals erklärt, dass »eine Sittenlehre in [seinem, R. S.] Sinne noch nicht existirt«. 7 Damit ist auch gesagt, dass seine Äußerungen zur praktischen Philosophie nicht an geläufigen Vorstellungen derselben gemessen werden dürfen, wonach sie zwangsläufig als defizient erscheinen muss. Von dort ist es nicht weit, ihm daraus, wie auch Eschenmayer es zu tun scheint, einen Vorwurf zu machen. Wie sich nämlich bereits aus der Überschrift des dritten Abschnitts ergibt, zielt die ›Sittenlehre‹, wie sie Schelling vorschwebt, auf das Problem der Geschichtlichkeit oder auf die Frage nach ›Anfang und Endabsicht der Geschichte‹ ab. Die Aussagen zur Freiheit, Sittlichkeit, Seligkeit und Unsterblichkeit betreffen somit Theoriestücke untergeordneter Bedeutung, die im Begriff der Geschichte zusammenlaufen und in demselben ihren Zusammenhang finden. Aus diesem Grund zielt auch dieses Kapitel auf die Konstruktion der Perioden der Geschichte ab, deren unterschiedlichen Versionen wir eine ausführliche Auslegung widmen werden. Wie leicht festzustellen ist, weisen diese Versionen nämlich untereinander signifikante Unterschiede auf, ohne dass diese bislang für die Interpretation fruchtbar gemacht worden sind. In dem abschließenden Abschnitt werde ich dann zu zeigen versuchen, wie erst die vorangegangenen Erörterungen den Begriff sowohl des Abfalls als auch des Absoluten zu vervollständigen vermögen, der so lange unvollständig bleibt, als die Darstellung nicht bis zum Gebiet der praktischen Philosophie fortgeführt wird. Dabei werden wir immer wieder Gelegenheit haben, auch auf die Philosophischen Untersuchungen hinzuweisen, insbesondere auf die dort 7

Schelling 1803a, 146 / SW V, 277.

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Das Problem der Darstellung

durchgeführte Konstruktion der Perioden der Geschichte, die in den bisherigen Interpretationen der Freiheitsschrift befremdlicherweise kaum einige Aufmerksamkeit gefunden hat, obwohl nach Schellings ausdrücklicher Erklärung gerade sie auf die »höchste Frage« und den »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« hintreibt. 8

1. Das Problem der Darstellung Der Anlass für die Weiterführung der Darstellung des Systems auf dem Gebiet der praktischen Philosophie scheint zunächst ein polemischer. Im Zentrum des dritten Abschnitts steht Eschenmayers kritische Bemerkung, dass Schelling »den intelligiblen Pol oder die Gemeinschaft vernünftiger Wesen […] in keiner seiner Schriften deutlich und ausführlich berührt, und dadurch die Tugend als eine der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 9 Der Einwand enthält zwei Behauptungen. Die erste gibt sich als eine einfache Beobachtung, nämlich dass Schelling »in keiner seiner Schriften deutlich und ausführlich« von der ideellen Philosophie oder dem »intelligiblen Pol« gehandelt habe. Es scheint also nicht die Rede davon, dass Schelling nirgends und überhaupt nicht Themen der praktischen Philosophie ›berührt‹ habe. In der Tat zeigt sich einer genaueren Betrachtung, dass Schelling immer wieder auf solche Themen zu sprechen kommt, wenn auch in der Tat nicht mit aller vielleicht wünschenswerten Deutlichkeit und Ausführlichkeit. So hatte er sich 1802 in einer Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt besonders gegen die praktischen Konsequenzen der fichteschen Philosophie gewandt und einige wichtige Andeutungen über die sich aus der Naturphilosophie ergebende Ansicht der Sittlichkeit und der Religion hinzugefügt. 10 Auch in den gleichzeitig gehaltenen und ein Jahr später veröffentlichten Vorlesungen über die Methode des academischen Studium nehmen ethische Fragen einen großen Raum ein. 11 Besonders am Schluss des gleichzeitigen Reinhold-Gesprächs treten die ethische Fragen, die den Hintergrund des Schelling 1809a, 480, 496 / SW VII, 394, 406. Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86). Schelling 1804, 59 / SW VI, 54, zitiert die Stelle und unterstreicht dabei zusätzlich »und dadurch« und »Vernunft ausgeschlossen«. 10 Vgl. Schelling 1802f, 3 f., 14–25 / SW V, 108, 116–124. 11 So z. B. Schelling 1803a, 18–26, 104–118, 145–151 / SW V, 218–222, 258–265, 276–279. 8 9

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Gesprächs bilden, deutlicher hervor und werfen ihr Licht auf das vorangegangene Gespräch zurück. Dort gibt Schelling nämlich zu verstehen, dass insbesondere die Tatsache, dass Reinhold, wie es ein kurz zuvor von ihm veröffentlichter Aufsatz belegte, weiterhin an seiner »heillose[n] Theorie« der Willkür festhielt und es nicht für nötig hielt, auf die von Schelling dagegen bereits 1797 vorgebrachten kritischen Bedenken einzugehen, ihn dazu bewegt hat, dieses Gespräch zu verfassen und zu veröffentlichen. 12 Zu der ebenfalls 1802 veröffentlichten Rezension einiger Werke von Joseph Rückert und Christian Weiß, deren Umfang kaum durch den philosophischen Gehalt ihrer Schriften gerechtfertigt ist, scheint Schelling in erster Linie ihr Programm einer ›durchaus praktischen Philosophie‹ bewegt zu haben. Wo in den genannten Schriften Fragen der praktischen Philosophie nur in polemischem Zusammenhang und punktuell behandelt werden, da konstruieren die Ferneren Darstellungen parallel zur reellen Reihe den Umriss der ideellen Reihe, deren zweite Potenz die des Handelns ist. 13 Wenn die ideelle Reihe dort auch nicht ausgeführt wird, so war daraus wenigstens ersichtlich, dass sie wesentlich zum System der Philosophie gehört. Im Bruno schließlich deutet Schelling an, dass die dort entwickelte Naturphilosophie auch den »Antrieb eines seligen und göttlichen Lebens« enthalte. 14 Die Behauptung, wonach Schelling bis dahin ›in keiner seiner Schriften‹ die praktische Philosophie auch nur ›berührt‹ hätte, erweist sich damit als nachweislich falsch. Allerdings scheint Eschenmayer sich auch nicht auf eine solche starke These festlegen zu wollen, da er seine Behauptung sogleich durch die Bemerkung präzisiert und abschwächt, dass Schelling diese Fragen nur nicht ›deutlich und ausführlich berührt‹ hat. Er bemängelt somit nur die Art und Weise, wie Schelling diese Fragen bislang behandelt hat. 15 Dieser Version des Einwands ist nun vollends zuzustimmen. Schelling selbst scheint sie Schelling 1802d, 87–90 / SW V, 75–77. Vgl. Schelling 1803c, 42–50 / SW IV, 418–423. 14 Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234. Dies nimmt er in Philosophie und Religion dort wieder auf, wo er bemerkt, dass auf die »Lehre des Absoluten« und auf die von der »ewigen Geburt der Dinge« (nur diese waren im Bruno behandelt worden) »die ganze Ethik als die Anweisung zu einem seligen Leben […] erst gegründet« ist (Schelling 1804, 3 / SW VI, 17; vgl. Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 38 f.). 15 Schelling selbst macht darauf aufmerksam: Weil er »die sittliche Gemeinschaft vernünftiger Wesen in seinen Schriften nicht ausführlich und deutlich berührt, (also nur nicht auf diese Weise berührt) hat, hat er die Idee der Tugend positiv ausgeschlossen« (Schelling 1804, 60 / SW VI, 54). 12 13

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Das Problem der Darstellung

zu unterschreiben, wenn er bei einer späteren Gelegenheit bemerkt, dass er, außer in Philosophie und Religion, »seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie« nirgends »mit völliger Bestimmtheit« vorgelegt und sich stattdessen »bloss auf naturphilosophische Untersuchungen beschränkt hat«. 16 Ein ›System der Sittlichkeit‹ als Gegenstück des Systems der Naturphilosophie oder auch nur ein ›erster Entwurf‹ dazu findet sich in den genannten Schriften kaum. 17 In denselben begnügt er sich mit Winken und Andeutungen oder auch mit polemischen Behandlungen des Themas, indem er die Unhaltbarkeit anderer Lösungsvorschläge herausstellt, ohne seine eigenen vorzulegen. Daraus erhellt allerdings schon so viel, dass die Naturphilosophie für Fragen der praktischen oder ideellen Philosophie durchaus ein kritisches Potential bereitstellt, da sie es ermöglicht, bestimmte Lösungsvorschläge als verfehlt zurückzuweisen, ohne sich dazu bereits auf eine eigene inhaltliche Entwicklung der ideellen Philosophie stützen zu müssen. Auch Philosophie und Religion scheint keine geschlossene Darstellung der ideellen Reihe zu bieten. Auch hier sind die Ausführungen zur praktischen Philosophie durch einen polemischen Anlass motiviert und weder als deutlich noch als ausführlich anzusehen. 18 Gerade die Undeutlichkeit und die sehr gewagten Ellipsen und Abkürzungen, die nur den skelettierten Umriss eines Gedankengangs bieten, dürften dafür verantwortlich sein, dass man Eschenmayers kritische Bemerkung in einem stärkeren Sinn aufgefasst hat, als er selbst sie gemeint hatte. Danach wäre die Darstellungsweise nämlich als ein Symptom dafür anzusehen, dass das System die praktische Philosophie »ausgeschlossen« habe und Fragen der praktischen Philosophie in demselben überhaupt »keinen wirklichen Ort haben«. 19 Allerdings hat man es versäumt, diese Einschätzung durch Schelling 1809a, IX / SW VII, 334; Herv. v. Verf. Vgl. auch Vetö 1998, 251–255. – In einem Brief an Eschenmayer vom 22. Dezember 1804 bemerkt Schelling: »Wenn ich mir einzelne Theile der Philos. zur Behandlung auslese: so ist dies kein Ausschließen der andern; ein solches müßte in den Prinzipien liegen« (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157). Diese Bemerkung scheint Überlegungen zu beschließen, die Schelling in der ersten – leider verlorenen – Hälfte des Briefes über Philosophie und Religion und Eschenmayers Kritik angestellt hatte; in der erhaltenen Hälfte geht er näher auf eine Rezension von Eschenmayers Schrift ein. 18 Wenn die Freiheitsschrift das Problem der menschlichen Freiheit auch in aller Ausführlichkeit behandelt, so kann man dennoch bezweifeln, ob sie dadurch auch in aller Hinsicht ›deutlich‹ ist oder es auch nur zu sein beabsichtigt. 19 So beispielsweise Florig 2010a, 12, 43 f. Auch Horst Fuhrmans meint, dass das 16 17

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

eine eingehende Interpretation des dritten und vierten Abschnitts zu untermauern. Dadurch entsteht zudem leicht der Eindruck, dass die Philosophischen Untersuchungen, weil Schelling in denselben die ideelle Reihe angeblich zum ersten Male ausgearbeitet hat, allein dadurch bereits einer Absage an seine frühere Position gleichkommen. Die Voraussetzung für eine tragfähige Einschätzung, inwiefern der in der Freiheitsschrift ›mit völliger Bestimmtheit vorgelegte‹ ›Begriff des ideellen Teils der Philosophie‹ mit Schellings Begriff desselben in früheren Schriften verträglich sei oder ihn vielmehr ausschließe und damit einer Verabschiedung seiner früheren Position gleichkomme, wäre erst dann geschaffen, wenn die zum System der Philosophie gehörige ideelle Philosophie rekonstruiert ist. Die Darstellung der praktischen Philosophie in Philosophie und Religion ist weder deutlich noch ausführlich. So trifft auf den dritten und vierten Abschnitt noch am meisten zu, wovor Schelling den Leser im »Vorbericht« gewarnt hatte, nämlich dass in dieser Schrift nur einzelne, aus »einer höheren organischen Verbindung« gerissene Teile zu finden sind und es nur einem »aufmerksame[n] Leser« möglich sein wird, daraus die anvisierte praktische Philosophie zu erschließen. 20 Insbesondere die praktische Philosophie scheint in einem ausgezeichneten Sinne solche aufmerksamen Leser zu verlangen, weshalb Schelling gerade hier die Schwierigkeiten, die die Darstellung dem Leser bereitet, zu steigern scheint. Es dürfte deshalb vielleicht hilfreich sein, gleich anfangs auf einige Eigenheiten der Darstellung in diesen Abschnitten hinzuweisen. Die Überschrift des dritten Abschnitts lautet Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit: Endabsicht und Anfang der Geschichte. 21 Während von ›Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit‹ wie auch vom ›Anfang der Geschichte‹ in der Tat in diesem Abschnitt die Rede ist, wird die Frage nach der ›Endabsicht der Geschichte‹ hingegen lediglich kurz gestreift, im Wesentlichen erst im System Schellings »überhaupt keinen Raum habe für eine eigentliche Ethik« (Fuhrmans 1954, 168). Auf welche Vorstellung von ›Ethik‹ sich solche ›Beobachtungen‹ stützen, lässt er unerörtert. Schelling gibt jedoch mehrmals zu erkennen, dass eine Ethik oder Sittenlehre, wie er sie versteht, »noch nicht existirt« und somit kaum etwas mit den geläufigen Vorstellungen von ›Ethik‹ gemeinsam haben dürfte (Schelling 1803a, 146 / SW V, 277; vgl. Schelling 1802f, 15, 22 / SW V, 116, 122; Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55; SW VI, 556, 559). 20 Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. auch Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334, 410. 21 Schelling 1804, 53 / SW VI, 50.

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Das Problem der Darstellung

nächsten Abschnitt wirklich entwickelt. 22 Auch der vierte Abschnitt behandelt nur in seiner ersten Hälfte das durch die Überschrift angegebene Thema der Unsterblichkeit der Seele, während Schelling in der zweiten Hälfte das durch die Überschrift des dritten Abschnitts versprochene Thema der ›Endabsicht der Geschichte‹ erörtert. Die Frage nach ›Endabsicht und Anfang der Geschichte‹ scheint demnach das die beiden Abschnitte überspannende und sie verklammernde Thema zu bilden. Die Erörterung dieser Frage verlangt jedoch, dass sie in den beiden Themenfeldern von ›Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit‹ einerseits und ›Unsterblichkeit der Seele‹ andererseits auseinandergelegt wird. Auch bei genauerer Betrachtung des Textes kann man feststellen, dass die Behandlung der angesprochenen Themen äußerst fragmentarisch ist. Der Text erweckt, wie im »Vorbericht« versprochen, den Eindruck einer Kollage von Fragmenten, die oft ohne allmähliche Übergänge nebeneinander gestellt sind. Am Anfang des dritten Abschnitts referiert Schelling kurz einige kritische Äußerungen Eschenmayers, 23 macht anschließend einige Andeutungen in Bezug auf seine eigene Lehre von der Freiheit, die allerdings weitgehend nur Erörterungen aus dem zweiten Abschnitt aufgreifen und lediglich ein wenig anders gewendet darstellen; 24 dann geht er wieder umständlich auf den Haupteinwand Eschenmayers ein und fertigt bei dieser Gelegenheit auch einige andere namenlos bleibende Kritiker ab, 25 um schließlich, nach einige Bemerkungen zum Thema Gott, 26 zur Frage der Geschichte überzuführen. 27 Der vierte Abschnitt fängt mit einem Satz zur ›Geschichte des Universums‹ an, der an einen früheren Satz anknüpft, ohne dass Schelling in den nächsten Absätzen auf ihn eingeht. 28 Stattdessen behandelt er die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, ein Thema, das zunächst lediglich durch einige höchst beiläufige Bemerkungen Eschenmayers motiviert scheint. 29 Erst zum Schluss des Abschnitts und damit des Hauptteils der ganzen Schrift Schelling 1804, 64 / SW VI, 57. Vgl. Schelling 1804, 53–55 / SW VI, 50 f. (1. bis 4. Absatz). 24 Vgl. Schelling 1804, 55–59 / SW VI, 51–54 (5. bis 13. Absatz). 25 Vgl. Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54 f. (14. bis 17. Absatz). 26 Vgl. Schelling 1804, 62 f. / SW VI, 56 f. (18. bis 20. Absatz). 27 Vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59 (21. bis 26. Absatz). 28 Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60 mit Schelling 1804, 64 / SW VI, 57. 29 Vgl. Schelling 1804, 68–73 / SW VI, 60–63 (2. bis 11. Absatz). Vgl. Eschenmayer 1803, 81 (§ 80). 22 23

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

kommt Schelling dann wieder auf das anfangs angedeutete Thema der ›Endabsicht der Geschichte‹ zu sprechen. 30 Es dürfte denn auch besonders, wenn auch nicht ausschließlich, der »Begriff des ideellen Teils der Philosophie« sein, der in Philosophie und Religion »durch Schuld der Darstellung undeutlich geblieben ist«. 31 Allerdings äußert Schelling die Vermutung, dass weniger »die Darstellungsart« als vielmehr der »Inhalt selbst« oder der »Stoff« die Missachtung gerade dieses Teils der Schrift von 1804 motiviert habe. 32 Jedenfalls bleibt es dem Leser selbst überlassen, aus diesen fragmentarischen Andeutungen eine Einsicht in den Zusammenhang zu gewinnen, aus welchen jene gerissen wurden. Da Schelling seine Ansicht besonders in der polemischen Auseinandersetzung mit Eschenmayer entwickelt, bietet es sich an, seine Position zunächst im Ausgang von dieser Polemik zu entwickeln. Wenigstens dürfte dadurch vorläufig schon deutlicher werden, was Schelling jedenfalls nicht will.

2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹ Im dritten Abschnitt behandelt Schelling Eschenmayers Einwand, das schellingsche System schließe die Tugend aus. Besonders diese »Ausschließung der Tugend, die Sie mir schuldgeben«, hat Schelling »etwas härter nehmen müssen, wie ich sie härter für mich empfunden habe«. 33 In diesem Einwand dürfte somit ein Motiv für das Verfassen der Schrift zu suchen sein. Dieser nach Schellings Empfinden schwerwiegendste Einwand Eschenmayers wird allerdings erst in der Mitte des dritten Abschnitts behandelt. Dies gibt uns die Gelegenheit, die Beobachtungen zum Aufbau des dritten Abschnitts durch eine weitere wichtige Beobachtung zu ergänzen. In der ersten Hälfte des Abschnitts bringt Schelling nämlich im Vergleich zum ersten und zweiten Abschnitt kaum etwas Neues. Vielmehr folgt die erste Hälfte einer aufsteigenden Bewegung, die in der Bestimmung der Religion als »Erkenntniss des schlechthin-Idealen« und damit als »erste[r] Grund der Sittlichkeit« gipfelt. 34 Mit dieser Bestimmung verbindet

30 31 32 33 34

Vgl. Schelling 1804, 73 f. / SW VI, 63 f. (12. bis 13. Absatz). Schelling 1809a, IX / SW VII, 334. Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71 f. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.

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Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

Schelling zwei Folgerungen oder Korollarien: Erstens weist er eine an die kantische erinnernde Konzeption der Ethik zurück, die den Kern der Sittlichkeit im Gesetz und im Gebot sieht und die auch Eschenmayer als einen »Missgriff« erachtete. 35 Zweitens schließt er daraus, dass es »Ein und derselbe Geist ist, der die Wissenschaft und das Leben unterrichtet«. 36 Sowohl in der Wissenschaft wie auch im Leben geht es darum, »die endliche Freyheit zu opfern, um die unendliche zu erlangen und der Sinnenwelt zu sterben, um in der geistigen einheimisch zu seyn«. 37 Aus dieser Lehre folgt, dass eine Lehre, die Philosophie zu sein beansprucht, aber Sittlichkeit ausschließt, ein widersprüchliches Gebilde oder ein »Unding« wäre. 38 Eschenmayer hatte jedoch durchaus behauptet, dass es für die Erhellung der Existenz eines anderen ›Geistes‹, nämlich des Glaubens, bedarf, da die Philosophie oder die Spekulation sich nur mit dem Erkennen beschäftigt. In der Wiederholung früherer Behauptungen gewinnt Schelling also die Mittel, um den Einwand Eschenmayers zurückzuweisen. Erst nachdem er diese Mittel gewonnen bzw. sie nochmals herausgestellt hat, geht er in der zweiten Hälfte des Abschnitts direkt auf diesen Einwand ein. Der Aufbau der zweiten Hälfte des Abschnitts ist noch am schwersten durchschaubar. Nachdem er Eschenmayers Einwand zurückgewiesen hat, verschärft Schelling den polemischen Ton noch, indem er sich nun gegen ›Andere‹ richtet. Im Laufe dieser Auseinandersetzung leitet er zu einer mehr positiven Ansicht der Sittlichkeit über. Erst damit gelangt er endlich zu der durch die Überschrift angekündigten Thematik. Möglichst knapp zeigt er, welche Konzeption der Tugend sein System impliziert, um baldigst zum Thema der Geschichte überzugehen und eine nebensächliche Detailfrage umständlichst zu erörtern. Da Schelling später erklärt, dass es die Absicht des vierten Abschnitts sei, zu zeigen, »wie die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird«, so können wir annehmen, dass der Schluss des dritten Abschnitts das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit thematisiert. 39 Vgl. Eschenmayer 1803, 35 (§ 45), 43 (§ 51). Schelling 1804, 58 / SW VI, 53. 37 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53. 38 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54. 39 Schelling 1804, 70 / SW VI, 61. Vgl. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61: »[D]er nothwendige Begriff, durch welchen allein die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird, ist der der Schuld oder der Reinheit von der Schuld«. Aus der ersten Hälfte des Satzes geht hervor, dass durch den Begriff der Strafe die Gegenwart mit der Vergangenheit 35 36

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Im Rahmen seiner Erwiderung von Eschenmayers Einwand wirft Schelling die Frage auf, ob »auch die Idee der Tugend nach ihm in die Sphäre der Nichtphilosophie [gehört]?« 40 Diese Möglichkeit erwähnt er dort, wo er Eschenmayer auf Widersprüche aufmerksam machen will. Dieser hatte nämlich einerseits behauptet, dass Schelling »die Tugend als eine der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 41 Die Tatsache, dass Schelling die Tugend und überhaupt alle Fragen, die sich auf die Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele beziehen, ›in keiner seiner Schriften deutlich und ausführlich berührt‹ hat, impliziert nach Eschenmayer, dass nach Schelling die Tugend keine Vernunftidee ist und dementsprechend keinen wirklichen Ort innerhalb der Philosophie haben kann. Insofern ist es, nach Eschenmayers Einschätzung, Schelling selbst, der behauptet oder wenigstens implizit zugesteht, dass die Tugend zur Nichtphilosophie gehört. Andererseits bemerkt er aber, dass »Fichte und Schelling […] die höchsten Probleme der Philosophie auf eine Art vorbereitet und eingeleitet, auch zum Theil selbst gelöst [haben], dass uns für die gegenwärtige Epoche nichts zu wünschen übrig bleibt«. 42 Obwohl oder gerade weil Schelling ›die höchsten Probleme der Philosophie‹ so ›gelöst‹ habe, dass uns ›nichts zu wünschen übrig bleibt‹, hat er die Tugend aus der Philosophie ausgeschlossen. In diesen beiden Behauptungen sieht Schelling einen »Widerspruch«. 43 Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn man annimmt, dass eine Philosophie, die die Tugend ausschließt, ein ›Unding‹ ist. Diese Annahme scheint Eschenmayer nicht zu unterschreiben, da er vielmehr auch selbst behauptet, dass die Tugend zur Nichtphilosophie gehört. Diese Behauptung scheint er, wenigstens nach seinem eigenen Urteil, mit Schelling zu teilen. In der Tat scheint Eschenmayer selbst eine ›Ausschließung der Tugend‹ aus der Philosophie zu wollen, wenigstens müsste sie ihm verknüpft wird (vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 / SW VI, 42, 47, 52, 61; s. u.). So bezieht auch das ›Schicksal‹ sich in erster Linie auf die Vergangenheit, während die ›Vorsehung‹ auf die Zukunft geht. Daraus ist auch zu ersehen, weshalb Schelling hier nur zwei Begriffe unterscheidet und entsprechend an der Geschichte nur »zwei Hauptpartien« unterscheidet, während er sonst immer drei Perioden unterscheidet (Schelling 1804, 64 / SW VI, 57). 40 Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54. 41 Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86). 42 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); von Schelling 1804, 59 / SW VI, 54, zitiert. 43 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

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Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

willkommen sein. Es ist allerdings nicht ohne weiteres klar, was Echenmayer unter einer solchen ›Ausschließung‹ verstanden haben will. Im Laufe seiner Ausführungen kommt er mehrmals auf solche ›Ausschließungen‹ zu sprechen. So heißt es von Kant, dass dieser die Vernunft »vom Gebiete der Spekulation aus[schloss]«, während Fichte hingegen »das Ding an sich in der Erkenntnisssphäre auf[hob]«, zugleich aber »die ideelle Seite« des »allgemeinen Systems«, »welche unter die Idee der Freyheit fällt, davon ausgeschlossen« hat. 44 Nach solchen Stellen scheinen die Gegenbegriffe zu ›ausschließen‹ ›erweitern‹ und ›aufheben‹ zu sein. Die ›Ausschließung der Tugend‹ scheint jedoch von anderer Art als die soeben genannten, da diese sich insofern als willkürlich erweisen, als gezeigt werden kann, wie eine Erweiterung des ›Gebiets‹ der Philosophie um das zunächst Ausgeschlossene oder eine Aufhebung des letzteren in jenem sehr wohl realisierbar ist. Die Integration der Tugend in die Philosophie hingegen scheint nur insofern möglich, als das Gebiet der Philosophie zunächst auf den Glauben oder die Nichtphilosophie hin überschritten wird. Da Eschenmayer behauptet, Schelling habe alle Gegensätze aufgehoben, entsteht zunächst der Eindruck, als ob jetzt nichts mehr aus der Vernunft ausgeschlossen und alles nun in ihr aufgehoben oder aufgenommen ist. Die jetzt vollständige Besitznahme des der Philosophie zustehenden Gebiets soll sie aber auf eine Grenze aufmerksam machen, die sie nicht mehr zu überschreiten vermag, oder auf ein Gebiet, das von ihr ausgeschlossen bleiben muss und das sie nicht zu integrieren vermag. Dennoch meint Eschenmayer, dass zwar nicht der Glaube, aber doch die Tugend als eine Idee in der Vernunft ›aufgehoben‹ oder ›aufgenommen‹ werden kann, allerdings unter der Voraussetzung einer Überschreitung des Erkennens und einer Bewusstwerdung der Transzendenz. Diese Integration ist jedenfalls nicht so zu leisten, dass man versuche, »Gott […] in die Erkenntnisssphäre zu ziehen«. 45 Wenigstens Gott ist unzweideutig von der Vernunft und von der Erkenntnissphäre ausgeschlossen. 46 Eschenmayer 1803, 6 (§ 10), 8 (§ 12). Auch § 23 scheint von einer solchen ›Ausschließung‹ die Rede zu sein, wenn Eschenmayer bemerkt, dass die »Idee der Ewigkeit […] bisher blos ein ausschliessender Besitz der Religion [war]« und die »Spekulation […] vor ihr zurück[floh]«, während Schelling diese unrechtmäßige Ausschließung aufhob, »indem er die Idee der Ewigkeit als ihre [sc. der Spekulation, R. S.] höchste Potenz aufstellte« (Eschenmayer 1803, 16 f.). 45 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41). 46 Vgl. Eschenmayer 1803, 32 f. (§ 41), 34 (§ 43), 52 f. (§ 59), 75 (§ 76). 44

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Bei Eschenmayer finden sich sowohl Stellen, die für eine positive, als auch solche, die für eine negative Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Integration der Tugend in der Philosophie sprechen. Aus mehreren Stellen geht eindeutig hervor, dass die Tugend für Eschenmayer zur Philosophie gehört und sogar den Gegenstand einer eigenen philosophischen Disziplin (der Moralphilosophie) bildet. 47 Allerdings behauptet Eschenmayer auch mehrmals und ebenso eindeutig, dass nur das Erkennen Gegenstand der Spekulation ist und alles, was über es hinausgeht, nur dem Glauben zugänglich ist und dadurch zur Nichtphilosophie gehört. Wenn er außerdem behauptet, dass der Wille nicht aus dem Erkennen ableitbar ist, sondern nur durch eine Überschreitung desselben einsichtig wird, dann scheint er damit zuzugeben, dass der Wille und damit auch die Tugend nicht zur Philosophie gehören. Dessen ungeachtet ordnet er den Willen mit dem Erkennen zusammen dem ›Diesseits‹ zu und setzt beide dem Glauben als zum ›Jenseits‹ gehörig entgegen. Der zugrundeliegende Gedanke scheint folgender zu sein: Während das Erkennen sich ausschließlich innerhalb des ›Diesseits‹ bewegt und demnach ohne eine Überschreitung des ›Diesseits‹ vollständig erschließbar und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen ist, so bewegt auch der Wille sich zwar im ›Diesseits‹, enthält aber ein Element, das sich aus diesem allein nicht einsehen lässt. Während der Glaube sich ausschließlich auf das ›Jenseits‹ bezieht und dadurch gänzlich »der Spekulation entrückt« ist, 48 so geht im Willen zwar ein Element aus dem ›Jenseits‹ ein, das daran hindert, ihn bloß aus dem ›Diesseits‹ abzuleiten, durch seine Beziehung auf dieses dennoch eine philosophische Durchdringung erlaubt. Anders als der Glaube ist der Wille nicht gänzlich ›der Spekulation entrückt‹. Um bestimmte Dimensionen des menschlichen Daseins wie z. B. den Willen zu erschließen, muss man somit zwar aus dem Glauben entlehnte Elemente in Anspruch So z. B. Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne, was Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Universum als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegenstände der Nichtphilosophie solche seyn, welche weder für das Wollen noch Erkennen erreichbar sind« (Herv. v. Verf.); und 24 (§ 30): »Die höchsten Systeme sind das System der Naturphilosophie und das System der Moralphilosophie. Das erste hängt in der Idee der Nothwendigkeit, das andere in der Idee der Freyheit zusammen – aber beyde sind verknüpft in dem System aller Systeme – in der Vernunft« (Herv. v. Verf). Vgl. auch 62 (§ 69), 75–78 (§§ 76–79). 48 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht). 47

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Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

nehmen, ohne dass sie dadurch eine philosophische Durchdringung ganz ausschließen. Vielmehr hat letztere auf solche Spuren der Transzendenz besonders Acht zu geben, wie sie sich beispielsweise im Willen oder im tugendhaften Handeln manifestieren. Auf diese Weise lässt sich die Tugend doch noch als eine Vernunftidee in die Philosophie integrieren und als Gegenstand einer Teildisziplin behaupten. Die Eschenmayer dabei vorschwebende Konzeption der Philosophie wäre wohl nicht unzutreffend als eine Form der ›Existenzerhellung‹ zu bezeichnen, die solche Bezüge aufzuklären sucht, die sie vorfindet, nicht aber selbst hervorbringt. 49 Damit ist der Zusammenhang umrissen, der Eschenmayer zu einer Bemerkung geführt haben mag, die Schelling als für dessen ganzen Position charakteristisch am Anfang des dritten Abschnitts zitiert. Dort heißt es: »Es schien mir immer ein unauflösliches Problem zu seyn, sagt Eschenmayer, den Willen, der alle Spuren von einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich trägt, aus der absoluten Identität und noch mehr aus dem absoluten Erkennen zu entwickeln«. Und ferner: »So wahr es ist, daß alle Gegensätze der Erkenntnißsphäre in der absoluten Identität aufgehoben sind, so wenig möglich ist es, über den Hauptgegensatz des Diesseits und Jenseits hinauszukommen«. 50

Das erste Zitat ist dem Teil von Eschenmayers Abhandlung entnommen, wo dieser noch auf seinen ›Haupteinwurf‹ hinarbeitet, wonach es unmöglich ist, aus der absoluten Identität irgendeine Differenz abzuleiten, und wo somit von der Sittlichkeit noch gar nicht die Rede ist. Auf diesen ›Haupteinwurf‹ hatte Schelling, wie wir gesehen haben, bereits im zweiten Abschnitt geantwortet, indem er darauf hinweist, dass er einer »Vermischung zweyer ganz verschiedene[r] Fragen« entspringt. 51 Die erste dieser zwei ›ganz verschiedenen Fragen‹ hatte Schelling im Ausgang von einem Satz Eschenmayers erörtert, den er dadurch direkt auf jene Frage bezog. 52 Den jetzt zitierten Satz 53 So auch Florig 2008, 86. Vgl. dazu Jaspers 1955, 208–213. Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50. Das erste Zitat findet sich Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58). Dort steht »und noch weniger« statt »und noch mehr«. Schelling lässt den Schluß des Satzes: »da dies letztere [das absolute Erkennen, R. S.] nach unserer Ansicht vielmehr als ein Modus des Willens erscheint« aus. Das zweite Zitat findet sich Eschenmayer 1803, 54 (§ 60). 51 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32. 52 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31. Vgl. Eschenmayer 1803, 70 (§ 73). 53 Vgl. Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58). 49 50

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

scheint er vielmehr auf die zweite jener beiden Fragen zu beziehen. Bei Eschenmayer ist jedenfalls so viel klar, dass er die Frage nach der Ableitung des Willens aus der Identität nur als einen besonderen Fall der allgemeineren Frage nach der Endlichkeit versteht; allerdings auch einen Fall, an welchem sich das genannte Problem vielleicht am unverkennbarsten sichtbar machen lässt. Während das erste Zitat das Problem auf prägnante Weise formuliert, enthält der zweite Satz 54 mit der Unterscheidung von ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ Eschenmayers Lösungsvorschlag. Da Schelling der Meinung ist, auf diesen Einwand bereits geantwortet zu haben, so greift er in seiner kritischen Behandlung der zitierten Sätze in der Tat nur solche Elemente auf, die er im zweiten Abschnitt bereits behandelt hatte. Denjenigen Kritikpunkt Eschenmayers, der für das durch die Überschrift angegebene Thema unmittelbar relevant ist, führt er hingegen nicht vor der Mitte des Abschnitts an. 55 Diese seltsame Wiederholung und Verzögerung scheint durch die Überlegung motiviert, dass die Art, wie die Frage nach der Freiheit und der Sittlichkeit zu erörtern ist, von der Art abhängt, wie man die Frage nach der Endlichkeit überhaupt löst. Dies stimmt jedenfalls mit Schellings späterer Erklärung überein, dass »[w]ir [nicht] läugnen, dass auf diese Art die metaphysische Endlichkeit sich begreiflich machen lasse; aber wir läugnen, dass die Endlichkeit für sich selbst das Böse sey«. 56 Wenn das malum metaphysicum und das malum morale zwar nicht einerlei sind, so setzt die Erklärung des letzteren doch die Erklärung des ersteren voraus, derart, dass eine ungenügende Lösung des Problem des malum metaphysicum sich in der Behandlung des moralisch Bösen auswirkt. Deshalb kann Schelling sich auch bei seiner Erörterung der leibnizischen Lösung für das Problem des Bösen darauf beschränken, dessen Lösung der Frage nach dem metaphysischen Übel zu referieren, und es dem Leser überlassen, selbst die weiteren Folgerungen daraus zu ziehen. 57 Wie dem auch sei, nach dem ersten der von Schelling zitierten Sätze scheint es Eschenmayer ein ›unauflösliches Problem‹, ›den Willen aus der absoluten Identität zu entwickeln‹ und ein noch unauflöslicheres Problem, ihn aus dem absoluten Erkennen zu entwickeln. 54 55 56 57

Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50. Vgl. Eschenmayer 1803, 54 (§ 60). Vgl. Eschenmayer 1803, 89 (§ 86). Schelling 1809a, 446 f. / SW VII, 370. Vgl. Schelling 1805b, 83–86 / SW VII, 195 f.; vgl. Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.

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Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

Den Grund der Unauflöslichkeit dieses Problems sieht er darin, dass der Wille ›alle Spuren einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich trägt‹, während dem Zitat nicht zu entnehmen ist, welche diese Spuren sind. So viel ist jedenfalls klar, dass die Ableitung deshalb unauflöslich ist, weil der Wille gewisse Merkmale aufweist, die sich nicht aus einer absoluten Identität gewinnen lassen. Dem genauen Grund kommen wir erst auf die Spur, wenn wir das Zitat in seinen ursprünglichen Zusammenhang zurückzustellen. Eschenmayer schreibt: Die Entwickelung dieser Potenzen, welche ich in der ersten Ansicht konstruirte, und in der zweyten Ansicht rekonstruirte, ist, wie ich glaube, der skeletirte Umriß aller Philosophie und die Basis aller Konstruktionen, in deren Besitz Schelling bisher so vieles geleistet hat. In der ersten Ansicht war die absolute Identität ausser aller Indifferenz und Differenz. In der zweyten Ansicht wurde sie durch die höhere Potenz des Seligen selbst wieder zur Indifferenz des Erkennens und Glaubens. Nur in der letztern Ansicht schien es mir möglich, den Willen als den absoluten Anfangspunkt aller divergirenden Reihen in der erscheinenden Welt, und die Vernunft als den absoluten Endpunkt aller konvergirenden Reihen aus der erscheinenden Welt zu charakterisiren. Es schien mir immer ein unauflösliches Problem zu seyn, den Willen, der alle Spuren von einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich trägt, aus der absoluten Identität und noch weniger aus dem absoluten Erkennen zu entwickeln, da dies letztere nach unserer Ansicht vielmehr als ein Modus des Willens erscheint. 58

Fangen wir mit einigen äußerlichen Beobachtungen an. Eschenmayer ist davon überzeugt, dass seine eigene Potenzenkonstruktion der schellingschen entspricht. Er selbst unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Vorgehensweisen oder ›Ansichten‹ : Die erste Ansicht führt eine Konstruktion, die zweite eine Rekonstruktion der Potenzen durch. Erstere ist die der Spekulation, die unser Erkennen in einen systematischen Zusammenhang bringt. 59 In der zweiten Ansicht hingegen ist die Überschreitung der Spekulation auf den Glauben hin bereits vollzogen, da in derselben die nur dem Glauben sich erschließende ›Potenz des Seligen‹ bereits mitberücksichtigt wird. Durch diese Überschreitung entsteht eine ›veränderte Ansicht‹ der Philosophie, die uns einsehen lehrt, was die Philosophie ist und kann Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58). Die Konstruktion oder die Entwicklung der ›ersten Ansicht‹ scheint mit § 29 weitgehend abgeschlossen. Ab § 34 wird der Übergang zum Glauben und damit zur ›zweiten Ansicht‹ eingeleitet. 59 Vgl. Eschenmayer 1803, 1 (§ 2). 58

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und zugleich, was sie aus eigener Kraft nicht zu leisten vermag. Die Philosophie ist danach auf die Instanz der Nichtphilosophie angewiesen, um Einsicht in ihr eigenes Wesen zu erlangen. Während nach der ersten Ansicht alle Gegensätze aufgehoben sind, erschließt die zweite Ansicht einen weiteren Gegensatz, der von allen Reflexionsgegensätzen dadurch verschieden ist, dass er durch die Spekulation nicht mehr vermittelt werden kann. Da die Philosophie zu dieser Einsicht in ihre eigene Natur nicht aus eigener Kraft gelangen kann, muss es ihr zwangsläufig so erscheinen, als ob mit der absoluten Identität alle Gegensätze aufgehoben sind, während sich erst für die veränderte Ansicht zeigt, dass durch die Aufhebung dieser Gegensätze nicht alle Gegensätze aufgehoben sind. Ohne Rekurs auf die Nichtphilosophie vermag die Philosophie dieses unvermittelbaren Gegensatzes nicht ansichtig zu werden, den Eschenmayer als den Gegensatz zwischen »Diesseits« und »Jenseits« oder zwischen der »sichtbaren« und »unsichtbaren« Welt bezeichnet. 60 Wenn Eschenmayer behauptet, der Wille trägt ›alle Spuren von einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich‹, dann sind diese nur aus diesem Gegensatz zu erklären. Erstens ist der Wille nicht ohne Freiheit denkbar. Der Wille, der nur auf das »Diesseits« gerichtet oder »ans Endliche gefesselt« ist, 61 kennt jedoch nur eine Richtung, weshalb Eschenmayer auch behaupten kann, dass in einem solchen Willen die Notwendigkeit überwiegt. Dies ist der Wille im Modus des Erkennens. Das Erkennen oder die ›Fesselung‹ des Willens am Endlichen im Erkennen ist also nur ein Modus des Willens. 62 Zweitens kann ein Wille ohne den Gegensatz von Diesseits und Jenseits nicht als frei bezeichnet werden, da die Freiheit nicht ohne eine doppelte Richtung denkbar ist. Der Wille selbst ist die Indifferenz beider Richtungen. Die ›Spuren‹, wonach eine Ableitung des Willens aus der absoluten Identität undurchführbar erscheinen muss, entstammen Eschenmayer zufolge zuallererst der Möglichkeit dieser doppelten Richtung, während im Erkennen »die Richtung nur gegen einen Punkt möglich ist«: »Der Wille bringt daher aus der unsichtbaren Welt die Möglichkeit aller Richtungen oder die Freyheit mit, und erhält erst in der diesseitigen Welt den Zwang nach einer Richtung

60 61 62

Eschenmayer 1803, 53 (§ 59), 54 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 46 (§ 54). Eschenmayer 1803, 54 (§ 60). Vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56), 52 (§ 58).

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oder die Nothwendigkeit«. 63 Sowohl Erkennen als auch Handeln sind nach Eschenmayer nur quantitativ differente Modi des Willens. Dementsprechend gibt es auch in allem Erkennen ein willenhaftes Moment, so wie es in allem Handeln ein erkenntnishaftes Moment gibt. 64 Aus dem Erkennen selbst ist sein willenhafter Charakter nicht ableitbar, so wie nur das erkenntnishafte Moment in allem Handeln dieses doch nicht zu erklären vermag. Dies scheint zutreffend, wenn beide, Erkennen und Wollen, sich nur durch ihre Richtung unterscheiden. Die Richtung zum Diesseits charakterisiert Eschenmayer als »nothwendig«, die zum Jenseits als »frey«. 65 Erst durch die Richtung auf das Diesseits erhält der Wille den notwendigen Charakter, der ihn zum Erkennen macht. In seiner Richtung auf das Jenseits hingegen ist der Wille zugleich Glied einer »Gemeinschaft vernünftiger Wesen«, und somit ohne intersubjektives Moment nicht denkbar. 66 »Das Diesseits ist das ziehende Gewicht des Willens, der im Erkennen ans Endliche gefesselt ist, und auch für sein freyeres Streben im Erschaffen und Vernichten gehemmt ist. Es bewirkt das Altern der Kräfte, das Verzehren des Lebens und das Zerfallen des Organismus«. 67 Dem Willen erscheint das ›Diesseits‹, die Erkenntnissphäre oder die Sphäre der sichtbaren, endlichen Dinge als ein ziehendes Gewicht. Im Erkennen ist der Wille ›ans Endliche gefesselt‹, während der nicht mehr erkennende Wille sich von diesen Fesseln befreit, indem er sich auf die unsichtbare Welt richtet. Da das Erkennen nur ein Modus oder ein integrierender Teil des Willens ist, so ist der Bereich des Willens weiter als der des Erkennens. Hieraus erklärt sich, weshalb nach Eschenmayer der Wille, erstens, nicht aus der absoluten Identität ableitbar ist, da er diese als die Eschenmayer 1803, 48 (§ 56). Vgl. bes. Eschenmayer 1803, 48 f. (§ 56), wo von einem »Uebergewicht« die Rede ist. Wille und Vernunft unterscheiden sich nur durch ihre Richtung, vgl. Eschenmayer 1803, 47 (§ 55): »Der Wille und die Vernunft sind ein und ebendasselbe, und nur in der Richtung unserer Reflexion verschieden«. Vgl. auch 88 (§ 85). Dazu Florig 2010a, 85. Eschenmayers Begriff der quantitativen Differenz unterscheidet sich allerdings dadurch vom schellingschen, dass jener nur den formellen Charakter dieser Differenz (das Überwiegen) aufnimmt und die entscheidende Komponente des schellingschen Begriffs, dass nämlich dasjenige, was in Bezug aufeinander nur quantitativ different ist, Präsentationsweise von ein und demselben ist (also das Verhältnis von Form und Wesen), unterschlägt. 65 Eschenmayer 1803, 48 (§ 56). 66 Eschenmayer 1803, 81 (§ 80), 89 (§ 86), 93 (§ 90); vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56). 67 Eschenmayer 1803, 54 (§ 60). 63 64

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Aufhebung aller Reflexionsgegensätze definiert hatte. 68 Es erklärt sich, zweitens, weshalb der Wille sich auch nicht aus dem absoluten Erkennen ableiten lässt. Dieses hatte Eschenmayer dadurch definiert, daß in ihm »das Erkannte […] ein integrirender Theil des Erkennenden selbst ist«, während das Erkennen sich bei seiner Überschreitung nun selbst als nur ein ›Modus des Willens‹ zeigt. 69 Damit wird das bzw. der Erkennende nun selbst zu einem ›integrirenden Theil‹ des Willens oder der Seele, während für das absolute Erkennen zwar das Erkannte ein ›integrirender Theil‹ des Erkennenden ist, dieses selbst aber das Ganze ist, dessen Modi oder Potenzen das Erkennen (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft) wie auch das Erkannte (die endlichen Dinge, die Begriffe, die Ideen) sind. 70 Aus dem absoluten Erkennen lässt der Wille sich deshalb nicht ableiten, weil es selbst nur ein Modus des Willens ist. Nur für den Glauben erweist sich auch die Vernunft oder das absolute Erkennen als »in Gott«. 71 Dem absoluten Erkennen ist es nicht möglich, sich in oder außer Gott zu erkennen. 72 So meint Eschenmayer das ›unauflösliche Problem‹, den Willen aus der absoluten Identität abzuleiten, lösen zu können, nämlich durch Heranziehung des Glaubens. Solange die höhere Potenz des Seligen, die sich nur dem Glauben erschließt, nicht berücksichtigt wird, ist jene Ableitung nicht durchführbar. Die Unterscheidung zwischen dem Gegensatz von ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ und den Reflexionsgegensätzen ist für Eschenmayer von entscheidender Bedeutung. Während im Falle der letzteren »jede vorhergehende Stufe die Bedingung der nachfolgenden seyn musste«, kehrt sich das Verhältnis für den Glauben um, da hier die höhere Potenz (der Glaube) Bedingung einer niedrigeren Potenz (Wille) Vgl. Eschenmayer 1803, 14 (§ 20), 16 (§ 22), 25 (§ 32). Eschenmayer 1803, 24 (§ 31), 26 (§ 34). 70 Vgl. Eschenmayer 1803, 80 (§ 79). 71 Eschenmayer 1803, 53 (§ 59). 72 Dies stellt Eschenmayer in seinen Briefen noch deutlicher heraus: »Will der Philosoph ein getreues Nachbild von dem Wesen der Vernunft als dem Urbild entwerfen, was vermittelst der intellectuellen Anschauung zu Stande kommt, so muß ihm die Vernunft (oder das Urbild oder die Indifferenz im Ewigen) ganz und völlig zum Object werden. Wird aber die Vernunft als das Urbild ganz zum Object, wo ist alsdann das Auge noch, das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem Nachbilde – oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absoluten erkennt und anschaut?« Und: »Unmittelbarer ist das, was ich hier meyne, in dem Unterschiede beider folgender Fragen enthalten: Ist Gott in Uns? oder – sind wir in Gott« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109 f.). 68 69

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ist. 73 Dieser Gegensatz ist nach Eschenmayer ein Postulat der Philosophie, eine Voraussetzung, zu welcher sie genötigt werden kann, ohne sie doch selbst begründen und dadurch einholen zu können: Er ist »blos durch Offenbarung vorhanden«. 74 Dieses Postulat entlehnt die Philosophie der Nichtphilosophie: »So wahr es ist, daß alle Gegensätze der Erkenntnißsphäre in der absoluten Identität aufgehoben sind, so wenig möglich ist es, über den Hauptgegensatz des Diesseits und des Jenseits hinauszukommen«. 75 Das Erkennen vermag diesen Gegensatz nur als gegeben anzuerkennen. Zudem vermag auch der Glaube nicht, darüber hinauszugehen: Der Glaube besteht gerade in der Anerkennung dieses Gegensatzes und seiner Unaufhebbarkeit. Es ist Eschenmayer somit nicht lediglich darum zu tun, auf die Eigenständigkeit des Glaubens im Verhältnis zum Erkennen hinzuweisen, so, als ob beide Bereiche nebeneinander bestehen könnten: Der Übergang der Philosophie zur Nichtphilosophie vollzieht sich als die Einsicht in die Abhängigkeit des Erkennens vom Glauben und der Philosophie von der Nichtphilosophie. Mit ihm behauptet Eschenmayer ein Primat des Glaubens vor dem Wissen. 76 Durch die ›zweite Ansicht‹ erfährt die absolute Identität, die für die ›erste Ansicht‹ als das Höchste gilt, in welchem die Spekulation ihre Erfüllung findet und wonach für diese ›nichts zu wünschen übrig bleibt‹, eine Herabsetzung oder Depotenzierung: Die für die Spekulation höchste Potenz erweist sich als ein bloß »Vermitteltes«. 77 Durch die Anerkennung der Unaufhebbarkeit dieses Gegensatzes und damit der Grenze der Philosophie verwandelt die intellektuelle Anschauung sich in Gewissen, das Eschenmayer als das Vermögen bestimmt, das »uns von dem jenseits des Absoluten unterrichtet«. 78 Für diese Weiterbestimmung findet sich bei Schelling kein Beispiel; es findet sich auch keine einzige Stelle, die eine solche Umdeutung auch nur veranlasst haben könnte: Eschenmayer 1803, 2 (§ 4). Eschenmayer 1803, 55 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 59 (§ 66), 106 (§ 100). 75 Eschenmayer 1803, 54 (§ 60); von Schelling 1804, 54 / SW VI, 50, zitiert. 76 Vgl. auch Eschenmayer 1803, 56 (§ 62): »Für das Diesseits ist die Vernunft absolut […]; für das Jenseits […] hört die Absolutheit der Vernunft auf«; und 57 (§ 63): »[S]ie [die Spekulation, R. S.] erblickt sich abhängig«. Vgl. auch 57 (§ 64), 59 (§ 66), 76 (§ 77). C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 30. März 1804, Fuhrmans, Briefe III, 69: »[I]ch gestehe, noch keine befriedigendere Auflösung der höchsten Probleme in der Philosophie zu kennen, als durch die Annahme der Abhängigkeit des Wissens vom Glauben«. 77 Eschenmayer 1803, 56 (§ 62). 78 Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 35 (§ 44). 73 74

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Sie ist Eschenmayers eigener Zusatz. Dadurch erhält die intellektuelle Anschauung einen moralischen Charakter. Vielleicht lässt sich das Motiv für diese Weiterbestimmung noch am ehesten aus Eschenmayers Erklärungen ersehen, wonach das Gewissen »jedem Menschen zugetheilt« ist und »ein allgemeiner Antheil der Menschen«, »das in allen Menschen ein und ebendasselbe ist«. 79 Die Einführung des Gewissens ermöglicht es ihm, den im Bereich der Theorie aufbrechenden Unterschied zwischen solchen, die der intellektuellen Anschauung fähig sind, und solchen, die es nicht sind, wieder einzuebnen. 80 Aus diesem Grund muss er auch alle Bemühungen, Gott »in die Erkenntnisssphäre zu ziehen«, disqualifizieren und für »irrige Bekenntnisse« ausgeben, die höchstens als Versuch, die Erfahrung des Glaubens symbolisch zu artikulieren, anerkennenswert sind, wenn sie nur jeglichen Wahrheitsanspruch aufgeben. 81 Das »Grübeln über solche Gegenstände« ist nämlich nicht zu verhindern und nur mittels »des grausamen Arms der Intoleranz« zu vertilgen: »Aber alle Eschenmayer 1803, 38 (§ 48), 40 (§ 49); Herv. v. Verf. Vgl. dazu auch Florig 2008, 86. 80 Dieses Motiv hat Schelling noch deutlicher in seiner Auseinandersetzung mit Rückert und Weiß ausgemacht: »›Jetzt ist die Aussicht eröffnet zu einer andern nicht auf Theorie gebauten Philosophie,‹ welche also auch alle die Fehler vermeidet, die an den andern gerügt worden sind, nämlich, daß sie diejenigen ausschließt, die nicht Gaben genug haben, um sich zur Einsicht in Principien zu erheben« (Schelling 1802e, 82 / SW V, 83). Schelling bezieht sich dabei auf folgenden Satz, der seiner Ansicht nach das Motiv oder die Triebfeder des Programms von Rückert und Weiß am deutlichsten erkennen lässt: »Alle bisherige Philosophie hat die Eigenthümlichkeit gehabt, daß man ihre Grundsätze mit dem Verstande aufgefaßt haben oder wissen mußte, bevor man zu ihrem vollen Besitze gelangen konnte. So richtig dieser Weg scheinen mag, so hat er doch dieß gegen sich, daß alle diejenigen übel berathen bleiben, welche bei dem besten Willen nicht im Stande sind, sich mit ihrem Verstande zu jener Einsicht in die Wahrheit der Principien zu erheben. Soll dann die Philosophie Weisheitslehre seyn, und zwar zu der Weisheit der einzige richtige Weg, so scheint allen denen die Weisheit versagt zu seyn, welche nicht theoretisch genug gebildet sind, um durch das Wissen der Principien der Philosophie zu ihr zu gelangen« (Weiß 1801, III f.). 81 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41), 40 (§ 49). Vgl. auch 42 (§ 51): »Der Glaube ist in allen Menschen und die Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann sich keines bessern rühmen, als der Laye. Wenn der wahre Glaube sich zuweilen unter verschiedene irrige Bekenntnisse versteckt, so ist es nicht so häufig die Schuld der Doctrin desselben als des Klügerseynwollens der Leute, welche dem Glauben durch ihre vage Begriffe aufhelfen wollen« (Herv. v. Verf.). Dazu Schelling 1809a, 400 / SW VII, 337, wo es heißt, dass »der Philosoph eine solche (göttliche) Erkenntniss behaupte«, die nur »der Grammatiker und der Unwissende […] als aus Prahlerei und Erhebung über andre Menschen entspringend vorstellen [können]«. 79

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

diese Bekenntnisse sind in jeder Rücksicht ganz unschädlich«, denn das Gewissen »löscht in allen Handlungen, wo es darauf ankommt, die verschiedenen Bekenntnisse von selbst aus, und gehorcht nur seinem eignen innern Ruf, den falsche Lehren und üble Grundsätze zwar weniger bemerklich machen, aber nie aus der Seele verbannen können«. 82 Der Atheismus ist, wie jede andere Form des Irrglaubens, ein bloser Irrthum und daher keiner Strafe fähig, er ist sogar auf derjenigen Stufe der Reflexion, die nicht über das Begreifliche hinausgeht, nothwendig, aber ganz unschädlich im praktischen Leben. Es gab gewiss noch keinen Menschen, der sein böses Gewissen durch Grundsätze des Atheismus zu beruhigen wusste. 83

Wenn Eschenmayer bemerkt, dass es »ein grosser Missgriff der Philosophie [war], die Religion aus der Moral abzuleiten«, dann gibt er damit zu erkennen, dass er selbst umgekehrt die Moral aus der Religion bzw. dem Glauben abzuleiten beabsichtigt. 84

3. Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube Den Sinn seiner eigenen Konzeption der Sittlichkeit lässt Schelling nur soweit aufscheinen als nötig, um sie von der eschenmayerschen abzugrenzen. Dazu geht er jetzt direkt auf Eschenmayers Einwand ein, wonach Schellings System »die Tugend als eine der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 85 In der ersten Hälfte des dritten Abschnitts hat Schelling die Gründe zurückgewiesen, auf welche Eschenmayer seinen Einwand stützen zu können meinte. Dabei hat er diesen vielleicht stärker gemacht, als er möglicherweise gemeint war. Wenn er nun ausdrücklich auf ihn eingeht und auf eine Zweideutigkeit aufmerksam macht, lässt er jedenfalls durchscheinen, dass er vielleicht von Eschenmayer nicht so gemeint war. Die Behauptung,

Eschenmayer 1803, 40 (§ 49); Herv. v. Verf. Eschenmayer 1803, 41 (§ 49); Herv. v. Verf. Es ist durchaus merkwürdig, dass Schelling diese Stelle übergeht, da sie bereits eins der Vorwürfe Jacobis, gegen welche Schelling 1812 so scharf reagieren wird, vorwegzunehmen scheint (vgl. Schelling 1812, 20 f. / SW VIII, 31 f.). 84 Eschenmayer 1803, 35 (§ 45). 85 Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86). 82 83

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dass die Philosophie die Tugend ausschließe, kann nämlich auf zweierlei Weise verstanden oder verwendet werden. Sie kann zum einen dazu gebraucht werden, um gegen ein bestimmtes philosophisches System, im Grunde aber gegen die Philosophie überhaupt, moralische Gründe geltend zu machen und sie als immoralisch zu verdächtigen. Dass die Philosophie die Tugend ausschließt, wäre dann so zu verstehen, dass das philosophische Leben grundsätzlich immoralisch ist und kein tugendhaftes Handeln gestattet. Damit wird die argumentative Auseinandersetzung durch die moralische Verdächtigung ersetzt. Die Person des Philosophen wird angriffen und in ein moralisch bedenkliches Licht gerückt, um beim Publikum an bestimmte Gefühlen zu appellieren. Wenn dieses Verfahren auch auf Argumente verzichtet, so stützt es sich dennoch auf eine für selbstverständlich gehaltene Konzeption von Sittlichkeit, die ihrerseits einer kritischen Analyse und Überprüfung unterzogen werden kann. Ferner kann auch der Gebrauch, der von jener Ansicht der Sittlichkeit gemacht wird, selbst analysiert oder eher, wie Schelling sagt, »charakterisirt« werden. 86 Jedenfalls erspürt Schelling auch bei Eschenmayer Anklänge dieses entrüsteten Tons. Dies ist auch der Grund, weshalb er besonders diesen Einwand »etwas härter [hat] nehmen müssen«. 87 In der Tat wird Schelling hier ungemein scharf. So ist die Rede von einer »platte[n] Unwissenschaftlichkeit«, die »sich für ihre Nullität durch herzbrechende Aeusserungen über die Nichtsittlichkeit einer Philosophie an dieser rächt«. 88 Zwar nimmt Schelling im folgenden Satz Eschenmayer sogleich gegen diese Beschuldigung in Schutz – die Tatsache aber, dass sie sich gleich im Anschluss an ein Eschenmayer-Zitat findet, legt es geradezu nahe, sie zunächst auf diesen zu beziehen. Damit möchte Schelling suggerieren, dass es einen mehr als zufälligen Zusammenhang gibt zwischen solchen Verdächtigungen an die Adresse Schelling 1802d, 5 / SW V, 20. Die Möglichkeit einer solchen Analyse signalisiert Schelling dadurch, dass er sie als Ausdruck eines Ressentiments gegen die Wissenschaft charakterisiert (Schelling 1802d, 87 f. / SW V, 75; Schelling 1802f, 22 / SW V, 122). Deshalb auch die Qualifizierung einer solchen Haltung als ›unwissenschaftlich‹ (vgl. Schelling 1804, 59 / SW VI, 54). Aus diesem Grund nimmt auch im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Fichte und Jacobi deren Charakterisierung einen derart großen Raum ein, da auch diese »das Unglück hat[ten], in denselben Ton zu fallen« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54; vgl. dazu Schelling 1806a, 145–151 / SW VII, 113–117; Schelling 1812, 16–21 / SW VIII, 30–32). 87 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72. 88 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54. 86

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

der Person des Philosophen und dem Einwand bzw. der Position Eschenmayers. 89 Wenn Schelling den Gebrauch des Einwands auch »andre[n]« zuschreibt, d. h. solchen, die im Verhältnis sowohl zu Schelling als zu Eschenmayer als »andre« zu bezeichnen sind, so legt er es nahe, dass letzterer leicht mit diesen zu verwechseln wäre und dass er vielleicht selbst sich leicht mit solchen verwechseln dürfte. 90 Schelling nimmt Eschenmayer dadurch von jener Beschuldigung aus, dass er zunächst darauf hinweist, dass dieser so »nur in Widerspruch mit sich selbst [geräth]«. 91 Wichtiger dürfte sein, dass sich in dieser Behauptung ein zwar ungeschickt formulierter, dennoch eine ernsthafte Erwiderung verdienender Einwand verbirgt. Wie gesagt hat Eschenmayers Hauptthese Schelling wohl kaum überrascht, da er in ihr nur eine weitverbreitete Tendenz wiedererkennt, wonach sie »die Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 92 Es handelt

Auch in Jaspers’ Formulierungen schwingt unterschwellig ein moralischer Ton mit, z. B. wenn er bemerkt, dass der Anspruch einer Erkenntnis Gottes »ein Antasten der Gottheit«, »ein Herabziehen des Unantastbaren« impliziert. Die »Unantastbarkeit der Gottheit« soll »dadurch gewahrt« werden, dass »wir sie in keine Gestalt der von uns erfahrenen Realitäten bannen dürfen«. Ferner: »Es gilt beides: Du sollst dir kein Bildnis und Gleichnis machen, und: Du sollst hören auf die Sprache der Chiffern«. Nach Jaspers verstößt Schelling gegen dieses Verbot und beugt sich damit »vor etwas, das nicht Gott ist«. Kurz: Diese Philosophie ist Götzendienst (Jaspers 1955, 182, 185, 197; Herv. v. Verf.). Vgl. damit Eschenmayer 1803, 32 (§ 41): »Es liegt ohnedies ein geheimer Schauder in unserer Seele, vor dem Gott, der sich in unserem Wissen ausgebiert, die Knie zu beugen, und gleichsam seine eigene Idee anzubeten«. Vgl. auch 106 (§ 100), wo von den »Götzen unseres Verstandes« die Rede ist. Jaspers moniert Schellings »unerträgliche Anmaßung« und »Hochmut« (Jaspers 1955, 218, 342). Ist es Zufall, wenn solche, die die Unerkennbarkeit Gottes behaupten, sich dazu berechtigt sehen, die Person des Denkers anzugreifen? Ähnliche Verdächtigungen finden sich nämlich auch bei Zeitgenossen Schellings wie z. B. Johann Jakob Wagner: »die Wissenschaft zum Wahne der Absolutheit gebracht«, »der Wahnsinn der Spekulation, sich selbst für absolut zu halten«, »leere Spekulation […], die sich die Absolutheit anmaßt«; ferner ist noch von Schellings »Hochmuthe« und »Uebermuth« die Rede (Wagner 1804, VII, XVIII, XXI, XXIV). – Diesbezüglich stellt Jürgen Habermas die Frage: »Wer indes gibt uns, gibt Jaspers den Maßstab und die Methode und den göttlichen Blick, um zu sagen, wer und was ein Mensch wirklich ist und in seiner Existenz ausdrückt?« (Habermas 1971a, 96). Und: »Die Philosophie einer polemischen Toleranz verliert ihr Bestes, wo sie insgeheim vollziehen muß, was sie vor sich nicht eingesteht: Gottes Gericht über Menschen« (Habermas 1971b, 107). 90 Schelling 1804, 60 / SW VI, 55. Vgl.: »Eschenmayer wenn er das Unglück hat, in denselben Ton zu fallen« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54). 91 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54. 92 Schelling 1804, III f. / SW VI, 13. 89

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sich demnach um eine bloße Neuauflage der mit der Reflexionsphilosophie notwendig verbundenen Ergänzungsbedürftigkeit der Philosophie. Das ›Merkwürdige‹ dürfte lediglich darin liegen, dass Eschenmayer meint, dass auch Schellings eigene Philosophie zu einer solchen Ergänzung nötigt. Dadurch hat er gerade den Punkt übersehen, durch welchen sich Schellings System von anderen, besonders zeitgenössischen Systemen unterscheidet. Auch wenn Eschenmayer gelegentlich in diesen Ton der Entrüstung verfällt, möchte Schelling ihn in diesem Punkt doch nicht so leicht abfertigen. Die Deutung des Einwands, die Philosophie schließe die Tugend aus, als Ausdruck eines Ressentiments der Nicht-Philosophen gegen die Philosophen würde nicht zu einer eingehenden wissenschaftlichen Behandlung nötigen. Stattdessen zieht Schelling es vor, den Einwand stärker zu machen, als er vielleicht gemeint war. Er weist nämlich, wie ungeschickt er auch formuliert sein mag, auf ein wichtiges Problem. Nach Eschenmayers Behauptung haben das System Schellings insbesondere und die Spekulation im Allgemeinen als ihren Gegenstand das Erkennen. Eschenmayer sieht die Aufgabe der Spekulation darin, das Erkennen zu begründen und zu rechtfertigen. Danach gehört die Tugend nicht zum Gegenstands- und Aufgabenbereich der Spekulation. Eschenmayers Absicht besteht demnach darin, Erkennen und Handeln gänzlich zu trennen. Der Bereich der Ethik, des Handelns und des Willens bleibt der Philosophie verschlossen oder, anders gesagt, die Philosophie kann keinen Beitrag zur Orientierung bzw. Bestimmung des Willens liefern. Diese Orientierungshilfe kann nur durch den Glauben geleistet werden. Damit ist die Moral, als die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben, auf die Religion gegründet, auf ein ›Wissen‹ von Gott bzw. auf das Wissen der Nichterkennbarkeit und Transzendenz Gottes. Diese Gründung der Moral auf die Religion ist auch Eschenmayers erklärte Absicht, da er es als einen ›Missgriff‹ ansieht, die Religion aus der Moral abzuleiten. Dies ist nur dadurch möglich, dass das tugendhafte Handeln als Gehorsam oder als Unterwerfung unter das Gesetz gedacht wird. Der Versuch jener Trennung stützt sich auf eine Annahme bezüglich des Wesens des sittlichen Handelns, die Eschenmayer als derart selbstverständlich erachtet, dass er sie kaum noch expliziert. Insbesondere aufgrund dieser Annahme muss die philosophische Ansicht, wonach die Sittlichkeit über das Gesetz hinausgeht, notwendigerweise als immoralisch erscheinen. Deshalb heißt es bei Schelling:

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Nur ein gänzliches Miskennen der Richtung unserer Philosophie kann daraus, daß wir die religiöse und sittliche Beziehung, welche der Philosophie in den bisherigen Systemen gegeben wird, absolut verwerfen müssen, den Schluß ziehen, daß wir diese Beziehung überhaupt verwerfen. 93

Nach der bisher geläufigen ›sittlichen Beziehung‹ der Philosophie wird die Tugend »als ein Befolgen göttlicher Gebote, Gott selbst als Gesetzgeber vorgestellt. Wir müssen das Gute wollen, sagte man, weil es göttliches Gesetz ist« (SW VI, 556 (§ 310)). Die ›sittliche Beziehung, welche der Philosophie gegeben wird‹, besteht darin, »Gott […] aus der Sittlichkeit« abzuleiten, »als ein nothwendiges Postulat der Moral« (SW VI, 556 (§ 310)). Sowohl von jenem Begriff der Tugend als auch von einem philosophischen Vorhaben, ihn zu rechtfertigen, bemerkt Schelling, dass er »gern allen zugeben« will, dass in diesem Sinn »die Sittlichkeit aus meinem System ausgeschlossen sey« (SW VI, 556 (§ 310)). Er führt dagegen folgende Argumente an: Zum einen setzt ein solcher Begriff die Realität des Bösen voraus, zum anderen impliziert er einen Gegensatz von Sittlichkeit und Seligkeit. 94 Für diejenigen allerdings, welchen ›die religiöse und sittliche Beziehung, welche der Philosophie in den bisherigen Systemen gegeben wird‹, nie fragwürdig geworden ist, muss eine Philosophie, die eben diese Beziehung bzw. den darin implizierten Begriff von Sittlichkeit und Tugend nicht anerkennt, notwendigerweise als immoralisch erscheinen. Es entspricht denn auch völlig den Erwartungen, wenn gegen eine solche Philosophie moralische Argumente angeführt werden. 95 Das moralische Argument gegen die Philosophie betrifft nicht bloß einen spezifischen Punkt, sondern es richtet sich gegen die Philosophie überhaupt. Dies ermöglicht es Schelling, gegen Eschenmayer ein Ad-hominem-Argument anzuführen: Durch seine Behauptung gerät Eschenmayer »in Widerspruch zu sich selbst«, insbesondere zu seiner Behauptung, dass das System Schellings nichts mehr zu wünschen übrig lässt. 96 Diese Behauptung stützte sich auf die Annahme, Schelling 1802f, 15 / SW V, 116. Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55. 95 »Enge Geister […] mögen über die Naturphilosophie vorerst das Urtheil der Irreligion sprechen oder hervorrufen […]. Noch wohlfeiler ist der Vorwurf der Nichtoder Unsittlichkeit, mit dem ein mark- und kraftloses Reden von Moralität, aus dem alle Idee Gottes entfernt ist, erst die Religion verdrängt hat, und nun auch die Philosophie zu verdrängen versucht« (Schelling 1802f, 22 / SW V, 122). 96 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54. 93 94

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

dass die Aufgabe der Philosophie lediglich in der Begründung der Erkenntnis besteht. Diese Aufgabe hatte Schelling, laut Eschenmayer, auf eine befriedigende Weise gelöst. Insofern Schelling aber diese Aufgabe der Philosophie gelöst hat, eignet eine Auseinandersetzung mit dessen System sich auf eine ausgezeichnete Weise dazu, auf die Grenze der Philosophie überhaupt aufmerksam zu machen. Nicht nur Schellings System, sondern die Philosophie überhaupt schließt die Tugend aus, wie dies am vollkommensten System am augenfälligsten werden dürfte. Nach dieser Auslegung ist der Widerspruch zwischen Eschenmayers beiden Behauptungen zwar aufgehoben; damit hätte er sich aber zugleich vollends auf die Seite der ›anderen‹ geschlagen. Nach Schellings Behauptung, dass es einen Widerspruch bedeute, zugleich zu behaupten, dass ein System die Tugend ausschließe und dennoch als System der Philosophie nichts mehr zu wünschen übriglasse, gibt es nur zwei konsequente, sich nicht widersprechende Positionen: Entweder man gibt die Behauptung auf, dass dieses System die Tugend ausschließt. Wenn es nichts mehr zu wünschen übriglässt, so muss es auch eine eigene Konzeption der Sittlichkeit enthalten, auch dann, wenn es diese nicht deutlich und ausführlich darstellt. Oder man gibt die zweite Behauptung auf: Wenn es zutrifft, dass dieses System die Tugend ausschließt, dann ist es als Ganzes zu verwerfen. Dann müsste man dem moralischen Argument gegen die Philosophie beipflichten. Darin sind die anderen somit konsequenter als Eschenmayer, da jene in der Tat diesen Schluss ziehen. 97 Hätten sie aber Recht, dann hätte die Philosophie insgesamt keinen Wert. Es handelt sich hierbei somit nicht lediglich um ein Theoriedefizit, insofern sie von etwas, das wir als zur Wirklichkeit gehörig ansehen, keine Rechenschaft abzulegen vermag, weshalb wir dafür auf andere Quellen angewiesen wären. Wenn die Philosophie von Freiheit und Tugend keine Rechenschaft abzulegen vermag, dann ist sie völlig ohne Wert. Dann bedürfte es streng genommen nicht der Philosophie – da die Aufmunterung zum sittlichen Handeln viel besser durch andere Instanzen geleistet werden könnte. 98 Wahrscheinlich hat Schelling sich gerade wegen dieses Widerspruchs durch Eschenmayers Schrift, nicht aber durch andere »öffentlichen Ausserungen«, die ähnliche »Auffoderungen« enthielten, dazu veranlasst gesehen, sich »über eben diese Verhältnisse zu erklären« (Schelling 1804, III f. / SW VI, 13). Gerade der widersprüchliche Charakter von Eschenmayers Stellungnahme könnte eine Erziehung zum konsequenten philosophischen Gesichtspunkt in dieser Frage begünstigen. 98 »Die Philosophie soll sie lehren, im Leben ihre Pflicht zu thun; dazu bedürfen sie 97

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Nachdem er den Sinn erörtert hat, in welchem Eschenmayer die Formel einer ›Ausschließung der Tugend‹ verwendet, kehrt Schelling zu denjenigen zurück, die sie in einem moralisch verdächtigenden Sinn verstehen und verwenden möchten, und führt diese redend ein: »›Das lautet alles vortrefflich‹ werden nun andre sprechen: ›ohngefähr sagen wir das auch […], aber wir denken etwas ganz Anders dabey‹«. 99 Sie verstehen die ›Ausschließung der Tugend‹ nämlich nicht in dem Sinne, dass diese kein besonderes Thema der Philosophie bilde, sondern in dem Sinne, dass das Philosophieren in der Person des Philosophen ein tugendhaftes Handeln ausschließe. Die philosophische Lebensführung selbst wird als moralisch fragwürdig qualifiziert. Gegen diese Verdächtigung der Immoralität nun führt Schelling seinen ›Glauben‹ an. Allein schon aus diesem Grund verdient diese polemisch zugespitzte Auseinandersetzung, die man sonst wegen ihres scharfen Tons vielleicht lieber übergehen möchte, besondere Aufmerksamkeit. Obwohl wir im zweiten Kapitel Schellings Auseinandersetzung der Philosophie mit dem Glauben in fast allen ihren Windungen verfolgt haben, haben wir dabei allerdings eine einzige Stelle, wo von einem ›Glauben‹ die Rede ist, absichtlich übergangen. Es ist das einzige Mal in der ganzen Schrift, dass ›glauben‹ als Verb, und nicht als Substantiv, Verwendung findet, weshalb man leicht darüber hinwegliest. Dennoch verwendet Schelling den Ausdruck hier derart emphatisch, dass es den Leser, der ihm bis hierher gefolgt ist, überraschen und verwundern müsste. 100 Dabei handelt es sich keineswegs um eine zufällige Verwendung dieses Ausdrucks. In dem Augenblick, in dem die Ausführung seines Programms, die Rechte der Philosophie gegen den Glauben zu behaupten, ihrem Ende zusteuert, beruft Schelling sich plötzlich und mit Nachdruck auf einen Glauben. Nachdem er die Religion zunächst als eine Form der Erkenntnis bestimmt hatte, definiert er sie im Rahmen dieser polemischen Ausschweifung auf einmal als Glauben. 101 Er schreibt:

also der Philosophie: sie thun solche nicht aus freyer Nothwendigkeit, sondern als Unterworfne eines Begriffs, den ihnen die Wissenschaft an die Hand giebt« (Schelling 1803a, 23 f. / SW V, 221). Vgl. auch die Überlegungen zur Idee einer »durchaus praktischen Philosophie« (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105). 99 Schelling 1804, 60 / SW VI, 55. 100 Es ist dies die vorletzte Erwähnung von ›Glauben‹ in der ganzen Schrift. 101 Vgl. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Wir wollen es also unverhohlen bekennen und deutlich sagen: Ja! wir glauben, dass es etwas Höheres giebt, als eure Tugend und die Sittlichkeit, wovon ihr, armselig und ohne Kraft, redet: wir glauben, dass es einen Zustand der Seele giebt, in welchem für sie so wenig ein Gebot, als eine Belohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwendigkeit ihrer Natur gemäss handelt. 102

Bekennt Schelling sich damit in letzter Instanz doch noch zur eschenmayerschen These, nachdem er diese bereits hinlänglich widerlegt zu haben meinte? Sieht er sich schließlich, und bezeichnenderweise dort, wo von Moral und Sittlichkeit die Rede ist, doch noch dazu genötigt, auf einen Glauben zurückzugreifen, wo die Vernunft nicht mehr weiterhilft? Läuft diese Berufung auf den Glauben auf ein Scheitern des gesamten Programms hinaus? Steht hier ›Glaube‹ gegen ›Glaube‹ ? Schauen wir genauer hin. Die emphatische Rede von einem ›Glauben‹ findet sich in einem polemischen Zusammenhang. Gegen die Gleichsetzung der Tugend mit dem Gehorsam und der Unterwerfung unter das Gesetz führt Schelling den Glauben als einen höheren »Zustand der Seele« an, »in welchem für sie so wenig ein Gebot, als eine Belohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwendigkeit ihrer Natur gemäss handelt«. 103 Das Gesetz hingegen wäre eine nur äußerliche Norm, der wir unser Willen und Handeln zu unterwerfen hätten. Stattdessen sucht Schelling eine immanente Normativität, die er darin findet, dass das Handeln oder der Wille von sich aus auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. Dieses Ziel ist die Wiederherstellung der Identität. Es ist dies kein Ziel, das man sich setzen könnte oder auch nicht, da alle besonderen Ziele nur Mittel sind, jenes ursprüngliche Ziel zu erreichen. Insofern handelt es sich um eine innere Notwendigkeit oder um eine Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur des menschlichen Willens erwächst. Schicksal und Vorsehung wären zwei Exponenten, unter welchen diese innere Notwendigkeit sich zu erkennen geben kann. Sittlichkeit besteht somit darin, diese Natur und damit zugleich das Wesen Gottes zum Ausdruck gelangen zu lassen. Die Seligkeit oder die erfüllte Existenz besteht darin, der eigenen Natur entsprechend zu handeln. Schelling charakterisiert diesen Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55; erste u. letzte Herv. v. Verf. Die nachdrückliche zweimalige Wiederholung von ›glauben‹ im 17. Absatz bildet eine Parallele zur auffälligen viermaligen Wiederholung von ›erkennen‹ im 11. Absatz (vgl. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53). In beiden Absätzen handelt es sich um die Bestimmung von Religion, laut dem Titel eine der zentralen Themen der ganzen Schrift. 103 Schelling 1804, 61 / SW VI, 55. 102

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Zustand mehrmals bloß negativ, als einen Zustand, in welchem man der endlichen Notwendigkeit entzogen ist und jeglichen Realkontext überragt, oder auch als ein Verschwinden der Negation. 104 Diesen Zustand höchster Erfüllung, in welchem man außer sich nichts mehr braucht, setzt Schelling deshalb auch der absoluten Freiheit gleich. 105 Absolute Freiheit, Seligkeit, Tugend und Sittlichkeit werden hier ineinander geschoben: Es sind alles nur Bezeichnungen für ein und dasselbe. Die Sittlichkeit ist nur die »Tendenz«, »mit Gott Eins zu seyn«. 106 Das »Urbild dieses Eins-seyns«, das ›Ideal‹ oder Optimum der Existenz »ist in Gott«. 107 Indem wir in unserer Existenz eine Entsprechung jenes Urbilds hervor- und es dadurch zum Ausdruck bringen, bringen wir in einem solchen Zustand wie in den Handlungen, die daraus erwachsen mögen, Gott selbst zum Ausdruck. Dies hätte Schelling als eine ›Offenbarung‹ bezeichnen können. Mit dieser Polemik will Schelling die philosophische Lebensführung scharf von der Moral abgrenzen. Der höhere Zustand scheint dementsprechend auch nur dem Philosophen zugänglich zu sein, und zwar desto mehr, da er eine »Erkenntniss des schlechthin-Idealen« erfordert, die nur die Wenigsten erlangen können. 108 Philosoph ist ein solcher, der alles dem Bestreben unterordnet, seiner Natur zu folgen bzw. zum Ausdruck zu bringen. Da es nur den wenigsten gegeben ist, diese natürliche Möglichkeit auch tatsächlich zu realisieren, stellt sich die Frage, ob es nicht auch den Nicht-Philosophen möglich ist, jene Identität von Sittlichkeit und Seligkeit zu erfahren, ob jene Übereinstimmung mit der eigenen Natur auch ohne den Weg über das Denken erreichbar ist. 109 Diese Frage können wir erst im nächsten Kapitel erörtern. Zweierlei haben wir noch nachzutragen. (1.) Wir hatten behauptet, dass die emphatische Verwendung des ›Glaubens‹ in der zitierten Stelle nicht zufällig ist. Dies zeigt sich besonders daran, dass Schelling in den Würzburger Vorlesungen in einem ähnlichen Zusammenhang ebenfalls auf den Glauben verweist und ganz klar formuliert: ReliVgl. Schelling 1804, 56 f., 63 / SW VI, 52, 56; SW VI, 556 (§ 310). Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55. 106 Schelling 1804, 62 / SW VI, 55 f. 107 Schelling 1804, 62 / SW VI, 56. 108 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53; vgl. auch Schelling 1804, 69 / SW VI, 60. 109 Beachte auch Schelling 1804, 6 / SW VI, 19, wo von einer »Harmonie«, einem Verschwinden der Sehnsucht, einem Zustand der Sehnsuchtslosigkeit die Rede ist, die nicht lediglich den Philosophen vorbehalten ist. 104 105

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

gion ist Glaube (vgl. SW VI, 558 (§ 310)). 110 Auch hier weist Schelling, als Vorbereitung auf diese These, die Auffassung einer »Moralität, die das Individuum als Individuum sich geben« könnte, zurück und schließt sie ausdrücklich aus seinem System aus, um stattdessen eine »göttliche Beschaffenheit der Seele« zu behaupten (SW VI, 557 (§ 310)). Diese Behauptung erläutert er durch den Hinweis, dass unter »Glaube« kein »Fürwahrhalten« oder bloßes Meinen verstanden werden darf, »überhaupt nicht ein Fürwahrhalten, welches in irgend einer Beziehung zweifelhaft ist«, nämlich insofern das Fürwahrgehaltene ja eine philosophische Begründung ausschließt (SW VI, 559 (§ 310)). Wenn Schelling an dieser Stelle Religion als Glauben definiert, dann schließt er dabei genau diejenige Bedeutung von Glauben aus, die er Eschenmayer zuschreibt. Wenn sie dennoch als Glauben bestimmt werden kann, dann in einem ganz anderen Sinn, nämlich als »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle Wahl aufhebt« (SW VI, 559 (§ 310)). Die Rede von einem Glauben bezieht sich somit nicht auf bestimmte Inhalte, insofern diese für wahr gehalten werden, sondern hebt nur ihren Einfluss auf den Lebenswandel hervor. Die zweite Potenz, deren Konstruktion Schelling hier abschließt und die er anfangs als die Potenz des Handelns bzw. der Sittlichkeit bezeichnete, ist im eigentlicheren Sinn als die Potenz der Religion zu bezeichnen. Das »Absolute dieser Sphäre« nämlich »ist Religion, es ist Heroismus, es ist Glaube, es ist Treue gegen sich selbst und Gott« (SW VI, 558 (§ 310)). 111 In seiner Erläuterung dieser Behauptung weist Schelling Punkt für Punkt alle zentralen Thesen Eschenmayers zurück. 112 1. »Unter Religion verstehe ich […] nicht das, was man In diesen Vorlesungen steht die Auseinandersetzung mit Eschenmayer weiterhin im Hintergrund (vgl. SW VI, 152 f. (§ 7), 212 (§ 59)). Vgl. auch: Schelling 1805b, 69– 71 / SW VII, 186 f. 111 Eine gleichlautende Stelle findet sich Schelling 1809a, 477–480 / SW VII, 392– 394. Nachdem Schelling dort die Erscheinung des Bösen im einzelnen Menschen beschrieben hatte (Schelling 1809a, 474–476 / 389–391), beschreibt er anschließend die Erscheinung des Guten im einzelnen Menschen (Schelling 1809a, 476–480 / 391– 394). Die Stelle ist eine Umarbeitung einer Stelle im Würzburger System (vgl. SW VI, 558 f. (§ 310)). Die einzige signifikante Neuigkeit in der Umarbeitung der Stelle ist die wohl einmalige Anführung eines Beispiels, das das geschilderte Ideal verkörpert: Marcus Porcius Cato Uticensis, der entschiedenste Gegner Caesars. 112 Wie in den bereits zitierten Stellen den ›Glauben‹, so greift Schelling mit der ›Andacht‹ einen weiteren zentralen Ausdruck Eschenmayers auf, nicht ohne ihn jedoch in einem tiefgreifenden Sinn zu verwandeln, und zwar in den Aphorismen zur 110

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Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Ahndung des Göttlichen, was man Andacht nennt«; »Religion ist höher als Ahndung und als Gefühl« (SW VI, 558). Glaube ist danach keine Ahnung oder Gefühl, sondern ein Wissen, insofern es nicht müßig lässt, sondern unmittelbar in einem Handeln resultiert. 2. »Die erste Bedeutung dieses oft mißbrauchten Worts ist Gewissenhaftigkeit, es ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu widersprechen« (SW VI, 558). 113 »Religiosität bedeutet schon dem Ursprung nach ein Gebundenseyn des Handelns, keineswegs aber eine Wahl zwischen Entgegengesetztem […], sondern die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne Wahl« (SW VI, 558). 114 Hier wird die Art des Handelns näher bestimmt, das aus jenem Wissen erfolgt: Gemeint ist ein Handeln, das mit dem Erkennen in Einklang ist; 3. »Wahre Religion ist Heroismus, nicht ein müßiges Brüten, empfindsames Hinschauen oder Ahnden. Diejenigen nennt man Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar zur Handlung wird« (SW VI, 559). 115 4. Schließlich: Religion ist Glaube, d. h. »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle Wahl aufhebt«, ist »Treue gegen sich selbst und das Göttliche« (SW VI, 559). 116 Dieser Glaube nun, so fährt Schelling fort, ist auch »die einzige wahre Frucht der Philosophie« (SW VI, 559). Es ist also ein Glaube, der der Philosophie nicht entgegengesetzt ist, sondern eine motivierende Kraft, die aus der Kontemplation erwächst. Es ist ein Glaube, der nur auf dem Weg der Philosophie überhaupt zugänglich ist und gewonnen werden kann. 117 Einleitung in die Naturphilosophie, die sich nach seiner Erklärung ebenfalls auf Eschenmayer beziehen (vgl. Schelling 1805b, 5 / SW VII, 141 (§ 9)). Die Übernahme eines Ausdrucks beinhaltet somit keinesfalls eine Zustimmung zu den zentralen Thesen desjenigen, von dem Schelling ihn übernimmt. 113 Vgl. Schelling 1809a, 478 / SW VII, 392. 114 Vgl. Schelling 1809a, 477 / SW VII, 392. 115 Vgl. Schelling 1809a, 477, 480 / SW VII, 392, 393 f. 116 Vgl. Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. Beachte Schelling 1813b, 121 / SW VIII, 185: »Das Wort Glaube […] drückt eigentlich nur die Zuversicht in der Ueberzeugung, die Einstimmigkeit des Herzens mit der gewissen Erkenntniß aus. Aechter Glaube ist selbst nichts anders, als ein glaubendes, d. h. zuverzichtliches Wissen, in welchem, wie in allem wahren Wissen, Herz und Geist in Einklang sind; keineswegs aber ist er, wie Sie und einige Andere wollen, eine gänzliche Negation alles Wissens«, sondern vielmehr eine Folge des Wissens. 117 Vgl. auch F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. April 1812, Plitt II, 301: »Das Thema, das Sie [sc. Windischmann, R. S.] sich zu bearbeiten vorgesetzt, ist von der größten Wichtigkeit, ich meine das von der Kraft der Wissenschaft in Bezug auf

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

(2.) Die Bestimmung der Tugend als einer Identität von Sittlichkeit und Seligkeit bleibt allgemein. Was auch immer als ›Tugend‹ gelten soll, es muss eben diese Identität aufweisen. Daraus folgt unmittelbar, dass allem, was für Tugend ausgegeben oder gehalten wird, was diese Identität jedoch nicht aufweist oder einen Gegensatz beider impliziert, im Voraus, ohne weitere Untersuchung, das Prädikat ›Tugend‹ abgesprochen werden kann. Auf eine Konstruktion solcher konkreten Tugenden lässt Schelling sich aber weder hier noch in den Philosophischen Untersuchungen ein. Dennoch heißt es an anderer Stelle, dass eine Sittenlehre die Gestalt einer Konstruktion von Tugenden anzunehmen habe und dass »die Moral eine nicht minder spekulative Wissenschaft« ist »als die theoretische Philosophie«, insofern es ihre Aufgabe ist, »besondere Pflicht[en]« zu konstruieren. 118 Dazu bemerkt Schelling ebendort, dass »eine Sittenlehre in diesem Sinne noch nicht existirt«. Gerade in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, wo er dies behauptet, gibt Schelling indessen ein Beispiel davon, wie eine Konstruktion konkreter Tugenden oder besonderer Pflichten aussähe, indem er ebendort die Pflichten und Tugenden konstruiert, die zu einer besonderen Lebensform gehören, nämlich der des Gelehrten und des Lehrers. So heißt es: »Wer sein besonderes Lehrfach nur als besonderes kennt, und nicht fähig ist, weder das Allgemeine in ihm zu erkennen, noch den Ausdruck einer universell-wissenschaftlichen Bildung in ihm niederzulegen, ist unwürdig, Lehrer und Bewahrer der Wissenschaften zu seyn«. 119 Ferner zeigt er, dass das Lehren als bloße Vermittlung oder Mitteilung von Lehrinhalten nicht möglich ist: Die Vermittlung ist nur insofern möglich, als der Lehrende imstande ist, die zu lehrende Wissenschaft für sich selbst wieder zu erfinden oder nachzuerfinden: »Jemand, der bloß überliefert, wird also in vielen Fällen falsch überliefern«. 120 Ein solcher kann deshalb nicht lehren, weil man nur von einem solchen lernen kann, der nicht nur Resultate mitteilt, son-

das Leben«. Gleich anschließend unterscheidet er diese »Kraft der Wissenschaft in Bezug auf das Leben« vom Glauben, dem nie eine solche (motivierende) Kraft innewohnt. Diesen Zusammenhang berührt Schelling auch in der »Vorrede« der Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche (vgl. Schelling 1813a, V f., X f. / SW VIII, 140, 142). 118 Schelling 1803a, 146 / SW V, 277. 119 Schelling 1803a, 42 f. / SW V, 231. 120 Schelling 1803a, 47 / SW V, 233.

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Das Spezifische der menschlichen Freiheit

dern zugleich auch »die Art zu ihnen zu gelangen« vorführt. 121 Die Konstruktion dieser Pflichten und Tugenden wird zugleich mit der Konstruktion der Art der Einrichtung der dieser Aufgabe gewidmeten Institution durchgeführt. So zeigt Schelling, wie die Akademien ihr Ziel – Überlieferung und Produktion von Wissenschaft – nur insofern erfüllen können, als sie zwar durch den Staat eingerichtet und gefördert werden, dieser aber darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu nehmen. Zu beachten ist noch, dass diese Konstruktion Aufgabe der Philosophen ist. Dadurch verhelfen sie z. B. den Lehrern zur Selbsterkenntnis: Erst mittels der Konstruktion erlangen diese Einsicht in die Pflichten und Tugenden, die in ihrem Amt impliziert sind, und in die Weise, wie sie dieses erfüllen können. Darin ist die Unterscheidung impliziert zwischen den Freien und Unfreien einerseits und den Philosophen andererseits, die über beiden stehen. 122 Der polemische Ton, der hier immer wieder anklingt, richtet sich dabei nur gegen solche, die in der Rangordnung, die dadurch bezeichnet ist, eine höhere Stelle beanspruchen, als ihnen aufgrund ihrer Fähigkeiten zukommt, da in der Konstruktion diese Rangordnung zugleich impliziert ist. So erfährt der Lehrer, insofern sich seine wirkliche Existenz jener Idee des Lehrers annähert, eine erfüllte Existenz, ohne dass ihm dadurch schon die noch höhere des Philosophen zu Teil wird.

4. Das Spezifische der menschlichen Freiheit Von den zwei Sätzen Eschenmayers, die Schelling zitiert, deutete der erste das Problem, der zweite Eschenmayers Lösung an. Letztere scheint Schelling zu billigen, indem er erklärt, dass Eschenmayer in der im zweiten Abschnitt angegebenen »absoluten Unterscheidung« »die vollkommene Bestätigung seines Gegensatzes finden« wird. 123 Schelling 1803a, 49 / SW V, 234. Vgl. die Unterscheidung zwischen dem »Lehrer und Bewahrer der Wissenschaft« und dem »Physiker«, der sich »mit Errichtung von Blitzableitern«, dem »Astronom«, der sich »mit Kalendermachen« usw. »nützlich machen k[ann]« (Schelling 1803a, 43 / SW V, 231, vgl. Schelling 1803a, 110 / SW V, 261). – Auf die Unterscheidung zwischen Freien, Nicht-Freien und Philosophen kommen wir im 5. Kapitel noch ausführlicher zu sprechen. Wie wir sehen werden, beruht auf dieser Unterscheidung auch die Notwendigkeit, Philosophie, Religion und Wissenschaft in Mysterien einzurichten (vgl. Schelling 1804, 73a f. / SW VI, 65). Die Aufgabe dieser Einrichtung wird den Philosophen zugewiesen. 123 Schelling 1804, 54 / SW VI, 50 f. Vgl. auch Schelling 1804, 42 / SW VI, 43: Es gibt 121 122

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Allerdings kann es ihm kaum entgangen sein, dass Eschenmayer mit seinem Gegensatz einen ganz anderen Sinn verbindet. 124 Wenn Schelling vielleicht noch Eschenmayers Formulierung, wonach das ›Diesseits‹ als ›das ziehende Gewicht des Willens, der im Erkennen ans Endliche gefesselt ist‹, zustimmen könnte, wenn unter ›Diesseits‹ nichts weiter als die Erscheinungswelt zu verstehen sei und ein am Endlichen gefesseltes oder sich nur mit Erscheinungen beschäftigendes Erkennen für den Willen in der Tat ein ›ziehendes Gewicht‹ wäre, so würde er doch nicht zugeben, dass das Erkennen eo ipso an das Endliche gefesselt ist. Wenigstens richtet seine kritische Bemerkung sich nicht so sehr gegen diesen Satz, sondern vor allem gegen die Behauptung eines ›jenseits des Absoluten‹. Er geht denn auch sofort wieder auf das erste Zitat ein, da er bereits in der Formulierung des Problems einen falschen Begriff des Absoluten mutmaßt. Die erste Hälfte des dritten Abschnitts bringt im Vergleich zum ersten und zweiten Abschnitt kaum etwas Neues. Vielmehr werden Argumente, die Schelling dort ausführlich entwickelt hatte, hier bis zur äußersten Gedrängtheit ineinandergeschoben, um so mit der größten Kürze zum entscheidenden Punkt hinzuführen. Dabei wird vorausgesetzt, dass dem Leser jene Argumente noch präsent sind. 125 eine »schneidende Gränze«, die »das Reich des Nichts [die Sinnenwelt, R. S.] vom Reiche der Realität« [der Ideen, R. S.] scheidet. 124 Obwohl Schelling und Eschenmayer im Briefwechsel wiederholt die Vermutung aussprechen, dass ihre Differenz fast nur terminologischer Art ist (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 10. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe I, 321; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201), so erhält man aus ihrer Auseinandersetzung vielmehr den umgekehrten Eindruck, dass es zwar nicht unmöglich wäre, die Position des einen in die Terminologie des anderen zu übersetzen, aber nur um den Preis, dass die Termini dabei einen ganz anderen Sinn annähmen. So wäre auf terminologischer Ebene zwar eine Aussöhnung möglich, nicht aber in der Sache: Durch bloß terminologische Akkommodationen ist die sachliche Differenz nicht lösbar; vielmehr drohen diese die sachliche Differenz ständig zu verschleiern. Das Verständnis dieser Auseinandersetzung wird nicht unerheblich dadurch erschwert, dass Eschenmayer sich durchgängig schellingscher Termini bedient, diese in seiner Verwendung aber wesentliche Modifikationen erfahren, und Schelling seinerseits sich der eschenmayerschen Terminologie anzunähern versucht. 125 Dies ist mit dem Verfahren in der Freiheitsschrift zu vergleichen, wo Passagen, die äußerst gedrängt die spekulative Konstruktion durchführen, mit weitläufigen Abschweifungen abwechseln, die nur dazu dienen, das Gesagte zu erläutern oder durch Beispiele zu veranschaulichen. So wird z. B. zunächst die Frage nach der »Zertrennlichkeit der Prinzipien« behandelt (Schelling 1809a, 438–441 / SW VII, 364–366). Daran schließen sich Beispiele, Erläuterungen und Folgerungen ans (Schelling 1809a,

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Das Spezifische der menschlichen Freiheit

(1.) Gegen Eschenmayers Formulierung des Problems macht Schelling geltend, dass diese mit der Annahme einer »Abkunft jenseits des Absoluten« einen Begriff enthält, dessen widersprüchlichen Charakter Schelling gleich zu Anfang des ersten Abschnitts nachgewiesen hatte. 126 Die ganze Formulierung des Problems stützt sich damit bereits auf eine Annahme, die einer eingehenderen Prüfung nicht standhält. Zudem ist daran zu erinnern, dass zu »unser Absolutes« der Gedanke einer Selbstobjektivation gehört und damit eine unendliche Folge von potentiellen Differenzen. 127 (2.) Mit der jeweiligen Idee des Absoluten hängt unmittelbar die unterschiedliche Bedeutung von Wissen und Glauben zusammen. Hier hebt Schelling klar den Unterschied zwischen »seiner«, Eschenmayers, »Vorstellung« und »unserer Vorstellung« hervor: »[W]ir« »besitzen« »in klarem Wissen und eben so klarem Bewusstseyn dieses Wissens« die »Absolutheit« selbst. Dieses Wissen aber ist »[n]ach unserer Vorstellung […] eine Einbildung des Unendlichen in die Seele als Object oder als Endliches«. 128 Dieser Satz greift unmittelbar einen früheren auf, wo es hieß: »[W]enn die Form der Bestimmtheit des Realen durch das Ideale als Wissen in die Seele eintritt, so tritt das Wesen als das Ansich der Seele selbst ein, und ist Eins mit ihm, so dass die Seele, sich unter der Form der Ewigkeit anschauend, das Wesen selbst anschaut«. 129 Dies wurde dort nur bedingungsweise behauptet (vgl. ›wenn …‹). In der Folge des zweiten Abschnitts hat Schelling gezeigt, unter welchen Bedingungen ein solches ›Eintreten‹ der ›Form der Bestimmtheit des Realen durch das Ideale‹ ›in die Seele‹ oder eine Einbildung des Unendlichen in der Seele als Objekt möglich ist. Der erste Schritt bestand in dem Nachweis, dass das Absolute selbst sich in Ideen (oder Potenzen) darstellt oder repräsentiert: Diese sind Einbildungen des Unendlichen in einem Endlichen oder in einer bestimm-

441–450 / 366–373). Dann werden die Bedingungen der Aktualisierung des Bösen behandelt (Schelling 1809a, 451–455 / 373–376), wonach der auf diese Weise gewonnene Begriff erneut erläutert wird (Schelling 1809a, 455–463 / 376–382). Hier droht die Darstellung durch Ausführlichkeit statt, wie in Philosophie und Religion, durch allzu große Kürze undeutlich zu werden. 126 Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58); Schelling 1804, 53 / SW VI, 50. 127 Schelling 1804, 54 / SW VI, 51; vgl. Schelling 1804, 22 f., 28 f. / SW VI, 30 f., 34 f. 128 Schelling 1804, 54 f. / SW VI, 51. 129 Schelling 1804, 23 / SW VI, 31. Dieser Satz ist selbst nur eine Umformulierung des vorher zitierten Spinoza-Satzes (vgl. Schelling 1804, 13 / SW VI, 24; vgl. Spinoza 1677, Bd. II, 299 (Ethica, V 30)).

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ten unterscheidbaren Form. 130 Diesen Charakter der Potenzen als Präsentationsweisen des Absoluten hat Eschenmayer in seiner Abhandlung unterschlagen. In einem zweiten Schritt hatte Schelling gezeigt, dass es den endlichen Dingen bzw. einer bestimmten ›Klasse‹ derselben möglich ist, auch selbst wieder die Ideen zu denken und der Vernunft fähig zu sein. 131 Wo auch immer »die Ureinheit, das erste Gegenbild, in die abgebildete Welt selbst hereinfällt, erscheint sie als Vernunft; denn die Form, als das Wesen des Wissens, ist das Urwissen, die Urvernunft selbst«. 132 Und: »Durch dieselbe stille und ewige Wirkung der Form, durch welche die Wesenheit des Absoluten sich im Object ab- und ihm einbildet, ist dieses [das Objekt, R. S.] auch, gleich jenem [dem Absoluten selbst, R. S.], absolut in sich selbst«. 133 Gerade die Einbildung des Unendlichen in einem Endlichen als Wissen gibt diesem Endlichen die Möglichkeit »ganz in sich selbst zu seyn, so wie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 134 (3.) Diese Möglichkeit, »ganz in sich selbst zu seyn« oder »ganz im Absoluten zu seyn«, kommt nicht jeglichem endlichem Ding als solchem zu. Die nicht-menschlichen oder nicht-vernunftfähigen Wesen haben keine andere Möglichkeit, im Absoluten zu sein, als im Grund ihrer Existenz. Sie können demnach nie ganz im Absoluten sein, da dasjenige, wodurch sie angesichts dieses Grundes ihre Selbstheit behaupten, einer solchen Aufnahme in das Absolute nicht fähig ist. Umgekehrt können sie indessen ebenso wenig ganz in sich sein, da sie gerade durch ihre Selbstheit an jenen Grund gebunden bleiben. Dementsprechend sind sie nur Werkzeuge oder Organe, durch welche das Absolute sich selbst – sei es nur indirekt – zu erkennen zu geben vermag. Hier liegt die »absolute Unterscheidung beyder, der erscheinenden und der absoluten Welt«, die Schelling im zweiten Abschnitt im Zusammenhang des Begriffs des Abfalls erörtert hatte. 135 (4.) Nach den zwei Zitaten am Anfang des Abschnitts zitiert Schelling noch einen dritten Satz Eschenmayers: Der göttliche Funke der Freyheit, welcher aus der unsichtbaren Welt sich der unsrigen mittheilt, durchbricht die absolute Identität, und erst

130 131 132 133 134 135

Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34. Schelling 1804, 37 f. / SW VI, 40. Schelling 1804, 41 / SW VI, 42. Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Schelling 1804, 55 / SW VI, 51. Schelling 1804, 54 / SW VI, 50 f.

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Das Spezifische der menschlichen Freiheit

jetzt entsteht nach Maasgabe seiner Vertheilung auf einer Seite Denken und Seyn (Form und Wesen), und auf der andern Wollen und Handeln, jetzt erst entsteht mit einem Worte Leben und Weben durch die ganze Sinnen- und intellektuelle Welt. 136

Diesen Gedanken greift er dort wieder auf, wo es heißt, dass »der Grund der Erscheinung der Freyheit« zwar »unerklärbar« ist, »deren erster Ausgangspunct aber, von dem sie in die Erscheinungswelt erst herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden kann und muss«. 137 In diesem Satz klingt bis in die Formulierung hinein ein Satz aus dem zweiten Abschnitt an: »Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität des ersten Angeschauten ist Freyheit und von jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 138

Zudem antizipiert Schelling mit der Verwendung des Ausdrucks einer ›Spur‹ der ›Göttlichkeit‹ in der ›abgefallenen Welt‹ (oder im ›Diesseits‹) die Stelle Eschenmayers, die er an den Anfang des dritten Abschnitts gestellt hatte. 139 (5.) Damit haben wir den für die Beantwortung der Frage nach der menschlichen Freiheit entscheidenden Punkt erreicht, auf welchen diese gerafften Überlegungen zulaufen: die Unterscheidung zwischen dem Grund der Möglichkeit und dem Grund der Wirklichkeit des Abfalls. Im zweiten Abschnitt hatte Schelling gezeigt, dass diese Unterscheidung eine allgemeine, für alles endliche Seiende gültige Unterscheidung ist. Relativ zur Potenz, von welcher das jeweilige Seiende einen ›Fall‹ ist, ändert sich allerdings der Sinn derselben: Erst in der höchsten Potenz, wo das Unendliche in die Seele als Objekt eingeEschenmayer 1803, 90 (§ 86). Schelling 1804, 55 / SW VI, 51, zitiert den Satz mit einigen geringfügigen Änderungen. Obwohl von einer Seitenangabe begleitet und von einem »wenn er sagt« eingeleitet, ist der Satz doch nicht durch Anführungszeichen als Zitat kenntlich gemacht 137 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. 138 Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39. 139 Der Gedanke einer solchen ›Spur‹ des ›Jenseits des Absoluten‹ im ›Diesseits‹ kehrt unter unterschiedlichen Ausdrücken wieder, vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56): »Der Wille bringt daher aus der unsichtbaren Welt die Möglichkeit aller Richtungen oder die Freyheit mit«; 88 (§ 85): »Die Freyheit ist ein Geschenk der unsichtbaren Welt«; 90 (§ 86): »Der göttliche Funke der Freyheit, welcher aus der unsichtbaren Welt sich der unsrigen mittheilt«. 136

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

bildet wird und das Endliche dadurch die Fähigkeit zum Wissen erhält, erhält es auch die Möglichkeit, sich »in die Ureinheit« aufzulösen und »ihr gleich« zu werden. 140 Erst in der höchsten Potenz ist der Seele somit die Möglichkeit gegeben, »ganz in sich selbst zu seyn, sowie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 141 Diese beiden Möglichkeiten sind eigentlich nur eine Möglichkeit oder zwei Ausdrucksweisen für eine und dieselbe Möglichkeit. Den sonstigen Seienden ist nämlich weder die Möglichkeit gegeben ›ganz in sich selbst zu seyn‹ noch die Möglichkeit ›ganz im Absoluten zu seyn‹. Sie sind nämlich nur, insofern sie im Absoluten als im Grund ihrer Existenz sind und demnach nie ganz im Absoluten, da sie sich zu diesem nur als zu ihrem Grund verhalten können. Nur solchen Wesen, die der Vernunft fähig sind, ist diese doppelte Möglichkeit gegeben. Ob sie diese auch aktualisieren, liegt indessen ganz bei ihnen selbst. Nur deshalb kann sich nur in der höchsten Potenz das Verhältnis der Ureinheit oder des Gegenbildes wiederholen. »Dieses Verhältniss von Möglichkeit und Wirklichkeit« ist Bedingung dafür, dass die Freiheit auch erscheinen kann. 142 Wenngleich die »Erscheinung der Freyheit« oder ihre tatsächliche Aktualisierung »unerklärbar« ist, da der Grund derselben nirgends als in der Seele selbst liegt, so »kann und muss« doch der »erste Ausgangspunct« derselben, »von dem sie in die Erscheinungswelt erst herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden«. 143 Schelling kann und muss somit zeigen, dass die Verfassung des Universums eine solche Erscheinung der Freiheit in demselben nicht ausschließt. Insofern diese nur im wahren Wissen stattfindet, dieses nur durch den Philosophen realisiert wird, muss das Universum so gedacht werden, dass ihre Verfassung die Erscheinung des Philosophen nicht unmöglich macht und ihn zudem als höchste Möglichkeit erscheinen lässt. Die Erinnerung an die Hauptpunkte aus dem zweiten Abschnitt soll den Leser darauf aufmerksam machen, dass die für die Lösung der Frage nach der menschlichen Freiheit unabdingbaren Elemente dort bereits niedergelegt waren, auch wenn Schelling es dort und sonst unterlassen hat, ihr Potential für die praktische Philosophie

Schelling 1804, 55 / SW VI, 51. Schelling 1804, 55 / SW VI, 51. Diese höchste Potenz bezeichnet Schelling andernorts auch als das Potenzlose, vgl. SW VI, 486 (§ 257). 142 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. 143 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. 140 141

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zur Entfaltung zu bringen. Dasselbe, was er in der Präambel zum zweiten Abschnitt von seinen früheren Schriften, insbesondere vom Bruno behauptet hatte, dass er nämlich die zur Lösung der Frage nach der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniss zu ihm« erforderlichen Elemente darin so versteckt hatte, dass seine Leser, in erster Linie Eschenmayer, »ganz natürlich in den nächstfolgenden Stellen die befriedigende Auflösung« nur nicht gefunden haben, gilt auch vom zweiten Abschnitt von Philosophie und Religion. 144 Dies stellt Schelling dadurch heraus, dass er am Anfang des dritten Abschnitts eine Reihe von vorher umständlicher entwickelten Behauptungen zusammendrängt und so dem aufmerksamen Leser zu verstehen gibt, wie die Lösung sich aus diesen Elementen ergibt. Der Kern der Lösung der Frage nach der menschlichen Freiheit ist Schelling zufolge in der Unterscheidung zwischen dem Grund der Möglichkeit und dem Grund der Wirklichkeit des Abfalls zu suchen. Diese Unterscheidung hatte Schelling bereits dadurch eigens betont, dass er diejenige Stelle aus dem Bruno, in welcher er diese Unterscheidung entwickelt hatte, an einem besonders exponierten Ort, in der Präambel des zweiten Abschnitts, die durch einen Strich vom eigentlichen Hauptteil des Abschnitts abgehoben ist, gesperrt gedruckt zitiert. In dieser Stelle fordert Bruno seinen Gesprächspartner Lucian, der früher bereits die Frage nach der Abkunft der Endlichkeit aufgeworfen hatte, dazu auf, sich zu erinnern, wie allem, was aus jener Einheit hervorzugehen oder von ihr sich loszureissen scheint, in ihr zwar die Möglichkeit, für sich zu seyn, vorher bestimmt sey, die Wirklichkeit aber des abgesonderten Daseyns nur in ihm selbst liege und selbst bloss ideell, als ideell aber nur in dem Masse statt finde, als ein Ding durch seine Art, im Absoluten zu seyn, fähig gemacht ist, sich selbst die Einheit zu seyn. 145

Diese Unterscheidung ist keine andere als die zwischen dem Wesen, sofern es Grund von Existenz ist, und dem Wesen, sofern es existiert, insofern sie sich an den Dingen zeigt.

Schelling 1804, 18 f. / SW VI, 28. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Die Stelle ist in Philosophie und Religion in Gänze gesperrt abgedruckt. Schelling hat Orthographie und Interpunktion leicht verändert, zudem einige Wörter kursiv drucken lassen. Die Stelle findet sich Schelling 1802a, 131 f. / SW IV, 282, und zwar gegen Ende von Brunos langem Monolog, in welchem er seine Kosmologie darlegt: Sie bildet den Übergang zur Wiederaufnahme des Gesprächs zwischen Bruno und Lucian.

144 145

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Dadurch dürfte jetzt auch deutlicher werden, weshalb die Frage nach der Entstehung potentieller Differenzen aus dem Absoluten notwendig der Beantwortung der Frage nach der »Entstehung der wirklichen Differenzen aus ihr« vorangehen muss: Die Potenzen oder Ideen sind sich darin gleich, dass sie sämtlich Darstellungen, Objektivierungen oder Repräsentationen des Absoluten sind. 146 In jeder derselben ist die dreieinige Struktur des Absoluten ausgedrückt. Bezieht man sie auf das Absolute, dessen Präsentationsweise sie sind, so sind sie sich alle gleich. Vergleicht man sie jedoch untereinander, dann sind sie quantitativ different: Sie unterscheiden sich durch einen unterschiedlichen Grad von Realität. 147 Während Schelling die Konstruktion der Potenzen als andernorts durchgeführt in Philosophie und Religion ausspart und sich darauf beschränkt, an das allgemeine ›Gesetz‹ zu erinnern, wonach diese verfährt, so fügt er jetzt Überlegungen zur Frage der Individuation in der Naturphilosophie hinzu, die als Erläuterungen des Begriffs des Abfalls gedacht sind. 148 ›Abfall‹ ist nur ein bildlicher Ausdruck für Individuation oder ›Absonderung‹. Entsprechend den differenten Realitätsgraden der Potenzen nimmt die Individuation eine stets ausgeprägtere Gestalt an, um erst im Menschen oder in der höchsten Potenz einen sittlichen Sinn anzunehmen. Schelling changiert dabei hin und wieder zwischen der Ichheit oder dem Abfall als allgemeiner Kategorie oder »allgemeine[m] Princip der Endlichkeit«, das einen formellen Begriff der Freiheit als Unterscheidung der Dinge vom Absoluten bezeichnet, und der Ichheit als »höchste[r] Potenz« dieses allgemeinen Prinzips. 149 Erst in der höchsten Potenz erhält die Tat-Handlung die Qualität einer Entscheidung, insofern sie dem einzelnen Seienden auch zuschreibbar ist. 150 Drei Komponenten des Begriffs des Abfalls in der höchsten Potenz sind dabei zu berücksichtigen, um diesen EntscheiSchelling 1804, 25 / SW VI, 32. Vgl. SW VI, 212–214 (§ 61). Diesem Lehrsatz kommt übrigens im Zusammenhang der Erörterung der Frage nach dem Bösen ein besonders Gewicht zu (s. u.). 148 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. Schelling 1804, 53–52 / SW VI, 44–49. Vgl. auch AA I,10, 128–130 (§ 30 Erl.), wo die Frage nach der Absonderung ausdrücklich ausgespart wird. In den Anmerkungen im Handexemplar hebt Schelling dies besonders nachdrücklich hervor. 149 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42. 150 Erst in der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling diese auch ausdrücklich als »Persönlichkeit«: Nur im Menschen zeigt sich die Selbstheit oder der Eigenwille, in der Verbindung »mit dem idealen Prinzip« (dem Universalwillen), als »Persönlichkeit«, d. h. als ein solcher Wille, der »nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden 146 147

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dungscharakter einsichtig zu machen: Erstens liegt der Grund der Aktualisierung des Abfalls im Abgefallenen, im Menschen selbst; zweitens ist im Menschen eine doppelte Möglichkeit gegeben, den Abfall zu vollziehen; drittens sind beide Vollzugsmodi ungleich qualifiziert. Der erste Punkt ist für die höchste Potenz nicht spezifisch, da die Unterscheidung zwischen Grund der Möglichkeit und Grund der Wirklichkeit des Abfalls zum Begriff der Ichheit als allgemeinem Prinzip gehörte, den wir im dritten Kapitel erörtert haben. Mit dem zweiten und dritten Punkt kommen jedoch zwei für die höchste Potenz spezifische Momente hinzu, die es ermöglichen, den Grund der Wirklichkeit des Abfalls dem Abgefallenen auch in einem prägnanten Sinn zuzuschreiben, wodurch der Abfall erst einen sittlichen Sinn erhält. Wir halten uns zunächst an den zweiten Punkt. Nach Philosophie und Religion ist es das Spezifikum der menschlichen Freiheit, dass nur der Mensch »aufs Neue die Möglichkeit erhält, sich in die Absolutheit herzustellen, oder aufs Neue in die Nicht-Absolutheit zu fallen«. 151 Diese Möglichkeit, den Abfall sozusagen zu wiederholen oder stattdessen rückgängig zu machen, ist erst dem Menschen gegeben. Dadurch erhält auch nur er die Möglichkeit, sich zum Absoluten nicht lediglich als zu seinem Grund zu verhalten. Den nicht-menschlichen Dingen steht es hingegen nicht frei, den Abfall zu wiederholen oder nicht. Diese haben somit keine andere Möglichkeit, als bloß Werkzeuge des Absoluten zu sein. Dem Menschen hingegen ist eine alternative Möglichkeit des Vollzugs des Abfalls gegeben, da er wenigstens die Möglichkeit hat, sich wieder ›in die Absolutheit herzustellen‹, wenn er diese auch nicht notwendigerweise aktualisiert. Wenn Gott insofern nicht als Urheber der Endlichkeit angesehen werden kann, als der Grund der Verwirklichung des Abfalls überhaupt im Abgefallenen selbst liegt, so kann er noch weniger als ›Urheber des Bösen‹ gelten, da der Grund der Aktualisierung einer der beiden Vollzugsmodi ebenfalls nur im Menschen liegt. Damit erfüllt diese Konstruktion auch die Anforderung, die Schelling gleich anfangs für jede Theorie aufgestellt hatte, die die Endlichkeit und das Böse zu erklären sucht. 152 Selbst wenn das Böse der ›ursprüngliche‹ Vollzugsmodus ist und der Mensch in diesem Sinn den defizienten Modus des Abfalls Universalwillens« ist (Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364; vgl. Schelling 1809a, 448 f. / SW VII, 371 f.). 151 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f.; Herv. v. Verf. 152 Vgl. Schelling 1804, 34 f. / SW VI, 38.

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notwendig vollziehen müsste, dann kann dies doch nicht als ein Argument für Gottes Urheberschaft der Privation und des Bösen gelten, insofern der ›ursprüngliche‹ Vollzugsmodus nicht die Möglichkeit ausschließt, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn man diese Entscheidung als so vor aller Zeit erfolgt annimmt, dass dadurch alles zeitliche Handeln ein für allemal festgelegt ist. Eine »durch das Absolute begründete Möglichkeit zum Abfall wirft« denn auch nur dann »einen Schatten auf die Gottheit«, wenn diese Möglichkeit sich nur als eine Entscheidung für das Böse aktualisieren kann. 153 Das Abfalltheorem ist aber gerade dazu gedacht, diese Folgerung zu vermeiden: Die Aktualisierung kann im Menschen noch auf eine andere Art erfolgen als durch die Entscheidung zum Bösen. Die beiden möglichen Vollzugsmodi sind, drittens, unterschiedlich gewertet: Es gibt eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen denselben. Dies zeigt sich besonders an den Folgen, die sich mit dem jeweiligen Vollzugsmodus verbinden. Im Absoluten ist nicht im Voraus festgelegt, wofür dieser oder jener sich entscheidet. In ihm ist jedoch sehr wohl vorherbestimmt, welche Art von Folgen sich aus der jeweiligen Entscheidung ergeben: So kann die Seele, die den Abfall aufs Neue vollzieht, nur Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit hervorbringen. Zwar ist es ihr möglich, sich anders zu entscheiden, nicht aber, sich für diesen defizienten Modus zu entscheiden und dennoch dessen Folge, der Produktion der Bilder der eigenen Nichtigkeit, zu entgehen, die ihm deshalb wie ein ›Verhängnis‹ folgt. Umgekehrt ist es ebenso unmöglich, sich in die Absolutheit wiederherzustellen und dennoch Bilder der eigenen Nichtigkeit hervorzubringen. Die Ergreifung der Selbstheit ist nämlich nur auf die Weise möglich, dass das Unendliche dem Endlichen untergeordnet wird und jenes (die Idee) nur noch indirekt zur Darstellung gelangt. 154 In dem Fall, dass das Endliche dem Unendlichen untergeordnet wird, gelangt dieses selbst zur Darstellung. Die derart strukturierte Seele produziert demnach notwendigerweise Ideen oder Darstellungen von Ideen. In Schellings Worten:

Vgl. hiermit Hermanni 1994, 75. »Das unmittelbare Verhängniß der Freiheit als Willkür, als in-sich-selbst-Seyn, ist also die Verwicklung mit der Nichtigkeit, der Endlichkeit mit derjenigen Nothwendigkeit, welche dem Seyenden selbst nur ein zufälliges Daseyn läßt, d. h. mit der empirischen« (SW VI, 552 (§ 307)).

153 154

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Die Seele, die, sich in der Selbstheit ergreifend, das Unendliche in sich der Endlichkeit unterordnet, fällt damit von dem Urbild ab, aber die unmittelbare Strafe, die ihr als Verhängniss folgt, ist, dass das Positive des in-sich-selbst-Seyns ihr zur Negation wird und dass sie nicht mehr Absolutes und Ewiges, sondern nur Nicht-Absolutes und Zeitliches produciren kann. 155

Die Belohnung oder die Strafe des jeweiligen Modus liegt demnach in diesem selbst. Der Lohn des Tugendhaften ist die Tugend selbst, die Seinsvollkommenheit oder die Seligkeit, die mit der Tugend gleichursprünglich und dasselbe ist, da sie ja einen höheren Realitätsgrad impliziert. Die Strafe desjenigen, der im defizienten Modus verharrt, ist eben dieser Modus selbst oder dass er durch ihn der Seligkeit oder der Seinsvollkommenheit beraubt ist. Wenn auf diese Weise der Abfall im Menschen aus den drei genannten Gründen eine ethische Bedeutung erhält, dann fehlt es nur noch an der ausdrücklichen Bezeichnung, dass damit die Freiheit als ein Vermögen des Guten und des Bösen gedacht wird. 156 Gerade weil es dem Menschen offensteht, den Abfall rückgängig zu machen, kann ihm auch das Unterlassen derselben als ›Schuld‹ angelastet werden. Dem Eigenwillen wächst erst hier eine ›sündhafte‹ Qualität zu. 157 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52; vgl. Schelling 1804, 40, 44, 71 / SW VI, 42, 44, 61 f. In der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling dies als die Erhebung des Eigenwillens über den Universalwillen: Der Eigenwille kann sich unmöglich ganz vom Universalwillen losreißen, sondern wird dadurch, dass er sich über diesen zu erheben versucht, zum Vollzug einer Notwendigkeit, die er nicht in seine Gewalt bringen kann (Schelling 1809a, 441, 475 f. / SW VII, 366, 390 f.). 156 So auch Mokrosch 1976, 316, 371. Nach Friedrich Hermanni ist die Tatsache, dass der Wille »innerhalb zweier Freiheitsmodi tätig werden« kann, ausreichend, um die Freiheit als »ein Vermögen des Guten und des Bösen« zu bezeichnen (Hermanni 1994, 127). Wie aber Christian Brouwer bemerkt, »scheint der Freiheitsvollzug – als Möglichkeit des Guten und Bösen – von vornherein eingebettet zu sein in einen Horizont, der über die Verfehlung urteilt, also in einen sittlichen Horizont, dessen Maßstab unmöglich aus dem Freiheitsvollzug selbst erschlossen werden kann«. Er fügt hinzu: »Ohne diese zweite Beobachtung würde Schellings Theorie wenig mehr behaupten als die Unerklärbarkeit der Freiheit wie auch des Sündigwerdens«. Damit ist Gott zwar nicht Urheber des Bösen, aber sehr wohl Urheber der »Strafe«, die also ebenfalls »die Entfaltung einer göttlich konstituierten Wesensgesetzlichkeit« ist (Brouwer 2011, 230). 157 Dies scheint Friedrich Hermanni übersehen zu haben, wenn er auf die Frage: »Welcher Typ von Freiheit ist es, der dem Besonderen durch seine Immanenz im Absoluten eröffnet wird?« antwortet: »Freiheit als unbedingte Selbstbestimmung, das heißt als eine in ihren Äußerungen nicht fremdbestimmte Macht« und damit die Folgerung verbindet: »Freiheit steht demnach nicht vor alternativen Möglichkeiten 155

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Deshalb ist Schelling auch berechtigt, den Abfall in diesem Zusammenhang mit ethisch qualifizierten Ausdrücken wie Sündenfall oder Schuld zu bezeichnen. Im Fall der nicht-menschlichen Seienden wären solche Bezeichnungen höchstens in einem metaphorischen oder bildlichen Sinn zu nehmen. 158 Die ›Entfaltung der Wesensgesetzlichkeit‹ ist nichts, was sich im Menschen von selbst ereignet, sondern erfordert eine eigene Leistung, d. h. sie bildet selbst nur eine der alternativen Möglichkeiten der Äußerungen der Freiheit. 159 ihrer Äußerungen, sondern sie wird spinozistisch als alternativlose Entfaltung der Wesensgesetzlichkeit verstanden«. Das besondere Leistungspotential des Abfallbegriffs liegt gerade darin, dass es einerseits die Erscheinung jener Freiheit als »Entfaltung der Wesensgesetzlichkeit« auch innerhalb der Erscheinung oder der endlichen Welt einsichtig macht, andererseits aber solch eine »alternative Möglichkeit ihrer Äußerungen« impliziert (Hermanni 1994, 74 f.). 158 Vgl. damit Hermanni 1994, 203 f.: »Damals [1804, R. S.] bestand keine Differenz zwischen der Schöpfung und dem Fall der Ideen, jetzt [1809, R. S.] dagegen nimmt Schelling eine supralapsarische Schöpfung an, in der es erst nachträglich zum Fall kommt. Damals wurde die endliche Welt selbst als Folge des Falls verstanden, jetzt dagegen wird ›nur‹ ihre gegenwärtige, üble Verfassung auf den Sündenfall zurückgeführt«. 159 Dadurch wird der Begriff des Abfalls zum entscheidenden Gegenbegriff des Willkürbegriffs, wonach in der Neuzeit der Wille vorzüglich interpretiert wird. Als exemplarischer Vertreter einer solchen Theorie gilt für Schelling Reinhold. Deshalb durchzieht die kritische Auseinandersetzung mit Reinhold alle Darstellungen von Schellings Freiheitsbegriffs, am offensichtlichsten in den Würzburger Vorlesungen (vgl. SW VI, 539–555): Während Schelling in der Kette der Lehrsätze und Beweise ausschließlich der immanenten Logik seines Prinzips folgt, werden die auf diesem Wege gewonnenen Einsichten in den anschließenden Anmerkungen und Erläuterungen unmittelbar auf die zentralen Begriffe der reinholdschen Morallehre angewendet. So werden der Reihe nach der »gewöhnliche Begriff einer freien Selbstbestimmung« (SW VI, 539), der Begriff von Seelenvermögen (vgl. SW VI, 540 f.) und die als »individuelle Freiheit« bestimmte Willkür (SW VI, 551) zurückgewiesen. An letzterer Stelle greift Schelling übrigens nicht auf die Argumente, die er auch früher bereits gegen diesen Begriff geltend gemacht hatte, zurück, sondern führt stattdessen einen anderen Argumenttyp an: »[S]elbst die bloße Erfahrung« könnte bereits »lehren«, dass »diese Willkür keine Freiheit sey«. Eine genauere Reflexion der Erfahrung würde nämlich lehren, dass diejenigen, die meinen, bloß nach eigenem Belieben zu handeln, in Wahrheit »gerade am meisten durch Affektionen der Lust, des Hasses, der Leidenschaft überhaupt zum Handeln getrieben« werden. Die Kritik richtet sich hier demnach nicht direkt gegen den Begriff der Selbstbestimmung, sondern behauptet vielmehr, dass ein solches Gefühl, sich selbst zu bestimmen und nach eigenem Belieben zu handeln, nur eine Täuschung sei, hinter welcher sich ein Bestimmtwerden durch bestimmte Affektionen verbirgt. Was hier für Freiheit ausgegeben wird, ist nach Schelling nur eine Gestalt der Selbstsucht, eine Form der »Tendenz absolut in sich selbst zu seyn«. Siehe dazu Stolzenberg 2004; Schmidt 2012.

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Der Begriff des Bösen

5. Der Begriff des Bösen Das wesentliche Ergebnis der bisherigen Ausführungen ist in der Unterscheidung zu suchen, die Schelling vornimmt zwischen dem Grund der Möglichkeit des Abfalls, der im Absoluten liegt, und dem Grund der Wirklichkeit desselben, der im Abgefallenen selbst liegt. Diese nimmt Schelling aus dem zweiten Abschnitt auf. Dort hatte er sich bemüht, zu zeigen, wie diese Unterscheidung bereits in seinen früheren Schriften enthalten war. Wenn er ihr im dritten Abschnitt von Philosophie und Religion auch eine neue Wendung gibt, indem er einige der Folgen derselben auf dem Gebiet der praktischen Philosophie aufweist, so muss man feststellen, dass er in diesem Zusammenhang doch nicht alle Folgerungen, die daraus zu ziehen wären, herausarbeitet, da er beispielsweise das Problem des Bösen zwar gelegentlich streift, ohne es jedoch wirklich zu entwickeln. Vielmehr scheint er sich sogar bemüht zu zeigen, dieses Problem in den Hintergrund zu drängen. An dieser Stelle ist nochmals auf einen Grundgedanken Schellings hinzuweisen, dass nämlich die Naturphilosophie weitreichende Folgen auch für die praktische Philosophie impliziert, ohne dass Schelling sich dazu genötigt sieht, diese auch explizit zu machen. Aus diesem Grund hatte er sich in der ersten Hälfte des dritten Abschnitts darauf beschränkt, Einsichten aus dem ersten und zweiten Abschnitt in gedrängtester Kürze aufzunehmen. Dafür wurde im dritten und vierten Abschnitt, wo er schließlich zur praktischen Philosophie übergeht, das Problem des Bösen kaum erwähnt. Bei genauerer Beachtung zeigt sich indessen, dass sich umgekehrt im zweiten Abschnitt immer wieder eingestreute und seltsam deplatziert wirkende Bemerkungen finden, die wie vorschnell und in gewagten Abkürzungen auf die ideelle Reihe vorgreifen. 160 So dürfte es vor dem Hintergrund der Bedeutung, die Schelling der Naturphilosophie zuschreibt, kaum zufällig sein, dass zwei Drittel aller Erwähnungen des Bösen sich im zweiten Abschnitt finden, in einem Zusammenhang, wo man sie nicht sogleich suchen würde, und zudem derart vereinzelt und wie beiläufig, dass man nur allzu leicht darüber hinwegliest. Jedenfalls unterlässt Schelling es, diese vereinzelten und Das Böse wird in Philosophie und Religion insgesamt neun Mal an sieben Stellen erwähnt: an fünf Stellen im zweiten Abschnitt (vgl. Schelling 1804, 33, 34, 43, 47, 48 / SW VI, 37, 38, 43, 46, 47) und nur an zwei Stellen im dritten Abschnitt, dazu in weniger bedeutenden Zusammenhängen (vgl. Schelling 1804, 61, 67 / SW VI, 55, 59).

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

verstreuten Bemerkungen zu einer systematischen Behandlung des Problems zusammenzuführen, und überlässt diese Aufgabe vielmehr dem Leser, hatte er doch selbst im »Vorbericht« von den »aufmerksame[n] Leser[n]« verlangt, dass sie gerade solchen »einzelnen Theile[n]«, die wie aus »einer höheren organischen Verbindung […] gerissen« wirken, ihre Aufmerksamkeit zuwendeten, um aus diesen den ausgesparten, bloß angedeuteten und nur indirekt dargestellten Zusammenhang zu erschließen. 161 Vielleicht ist der Grund dieser Unterlassung darin zu suchen, dass Eschenmayer in seiner Kritik das Problem des Bösen nirgends auch nur berührt hatte. 162 Wir werden deshalb einen raschen Überblick über diese Stellen bieten, um die in derselben angedeuteten Grundgedanken in der Folge durch Äußerungen aus den Würzburger Vorlesungen zu substantiieren und mittels des kantischen Begriffs der negativen Größe, der es erst erlaubt, Schellings Begriff des Bösen zu konturieren, die Brücke zu den Philosophischen Untersuchungen zu schlagen. Vielleicht dürfte sich auf diese Weise auch Schellings spätere Erklärung, dass das Problem von ›Gut und Bös‹ bereits in Philosophie und Religion zur Sprache gekommen ist, als weniger haltlos erweisen, als zumeist angenommen wird. (1.) Das Böse wird in Philosophie und Religion zum ersten Mal im Zusammenhang einer Erörterung des »Parsische[n] Religionssystem[s]« erwähnt, das hier als exemplarischer Vertreter einer dualistischen Erklärung des Bösen auftritt. 163 Dieses erklärt das Böse aus einem »Princip des Nichts«, das als solches »gleich-ewig« wäre mit dem »Allguten«. 164 Den Fehler scheint Schelling nicht so sehr in der Annahme zweierlei Prinzipien zu sehen, sondern eher darin, dass Schelling 1804, III / SW VI, 13. Auch als Schelling das Thema in einer langen und wichtigen Anmerkung zu den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie mit einem ausdrücklichen Hinweis auf die Schrift von 1804 wieder aufnimmt, lenkt er die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Frage nach dem Übel, dem malum metaphysicum oder der Endlichkeit, und scheint die Folgen für die Frage nach dem (moralisch) Bösen erneut absichtlich in den Hintergrund zu drängen, während die dort geführte Auseinandersetzung mit Leibniz und dessen Theodizee ein genaueres Eingehen auf diese Frage geradezu herauszufordern scheint (vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197). Erst die Veröffentlichung von Friedrich Schlegels Indien-Buch scheint ihm dann den polemischen Anlass zu geben, das Problem des Bösen so in den Vordergrund zu rücken, dass kaum jemand es noch übersehen konnte. 163 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. 164 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. 161 162

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Der Begriff des Bösen

man beiden Prinzipien den gleichen Realitätsstatus beilegt und dadurch dem Nichts und dem Bösen die gleiche ontologische Dignität wie dem Absoluten und dem Guten zuerkennt. Irgendein Dualismus scheint wenigstens erforderlich, um die »Mischung des unendlichen und endlichen Princips in den sinnlichen Dingen« zu erklären, da bereits der Begriff eines Abfalls auf einen solchen Dualismus hinzudeuten scheint. 165 (2.) Im Rahmen der Behandlung der bisherigen Versuche, »zwischen dem obersten Princip der Intellectualwelt und der endlichen Natur eine Stetigkeit hervorzubringen«, bemerkt Schelling, dass jene auch den Mangel aufweisen, »Gott zum Urheber des Bösen« zu machen und zwar, weil sie ihn vorher schon zum Urheber der Endlichkeit gemacht haben. 166 Daraus können wir schließen, dass ein System, das das Verhältnis zwischen Gott und den endlichen Dingen stattdessen als einen Abfall denkt, auch diesen Vorzug hat, dass in ihm Gott nicht zum ›Urheber des Bösen‹ gemacht wird. Dass dies nur um den Preis geschehen könnte, dazu das Böse zu ›leugnen‹ oder zu ›verharmlosen‹, ist damit noch nicht entschieden. Jedenfalls bemerkt Schelling anschließend, dass die »Materie, das Nichts […] für sich durchaus keinen positiven Charakter« hat, einen solchen vielmehr erst annimmt und damit »zum bösen Princip« wird, »nachdem der Abglanz des guten mit ihm in Conflict tritt«. 167 Dem ist zu entnehmen, dass Schelling es als einen Vorzug seines Systems ansieht, eine ›Entlastung‹ Gottes zu leisten, ohne dazu das Böse einfach leugnen zu müssen. Auch setzt er ›das böse Princip‹ nicht schlechthin der ›Materie‹ oder dem ›Nichts‹ gleich, sondern betont ausdrücklich, dass das Böse eine neue ›Qualität‹ ist, die der Materie zuwächst oder die diese ›annimmt‹. (3.) Als ein Verdienst der fichteschen Wissenschaftslehre hebt Schelling hervor, dass sie »das Princip des Sündenfalls […] zu ihrem eignen Princip macht«. 168 Wenn sie dadurch auch nur negativ bleibt und noch keine Einsicht in das »einzig positive« ermöglicht, so hat sie damit doch die Voraussetzung dafür geschaffen, einen Irrtum zu vermeiden: »Wer das gute Princip ohne das böse zu erkennen meynt, befindet sich in dem grössten aller Irrthümer«. 169 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Damit scheint Schelling übrigens bereits den Einwand Friedrich Schlegels antizipiert zu haben (vgl. Schelling 1809a, 424 f., 501 f. / SW VII, 354, 409). 166 Schelling 1804, 30, 34 / SW VI, 35, 38; vgl. Schelling 1804, 48 / SW VI, 47. 167 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. 168 Schelling 1804, 42 / SW VI, 43. 169 Schelling 1804, 43 / SW VI, 43. Vgl. dazu SW VII, 468: »Wer mit den Mysterien 165

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Das fichtesche Prinzip lässt sich demnach als ein Korrektiv gegen andere Ansätze verwenden, die sich nur mit dem guten Prinzip beschäftigen und dadurch weder zu einer wahren Erkenntnis des Guten noch zur Selbsterkenntnis gelangen, solange ihnen die Erkenntnis des bösen Prinzips, die Fichte bereitstellt, fremd bleibt. (4.) Immer noch im zweiten Abschnitt findet sich die Bemerkung, dass das »Producirte« ein »Mittelwesen« ist, »welches an der Natur der Einheit und der Zweyheit, des guten und des bösen Princips, gleicherweise Theil nimmt«. 170 Die endliche Seele (als das ›Producirende‹) kann danach nichts anders als solches hervorbringen, das an beiden Prinzipien teilhat. In welchem Verhältnis beide Prinzipien zueinander stehen oder stehen können, sagt Schelling nicht. Die endlichen Dinge sind jedenfalls nicht schlechthin Nichts, sondern vielmehr ein Konkretes oder Zusammengewachsenes, ein Gemischtes, das sich nur aus einem Zusammengehen zweier Prinzipien erklären lässt. (5.) Nachdem Schelling an einer bereits zitierten Stelle darauf aufmerksam gemacht hatte, dass alle Systeme, die zwischen Gott und Schöpfung eine Stetigkeit annehmen, statt ihr Verhältnis als einen Abfall zu denken, Gott zwangsläufig zum ›Urheber des Bösen‹ machen, behauptet er jetzt, dass dies seinen Grund darin hat, dass sie »Gott selbst zum Urheber der Privation, der Beschränkungen und des daraus resultirenden Uebels« machen. 171 Die Fragestellung der Theodizee als die »Aufgabe einer Rechtfertigung und gleichsam Vertheidigung Gottes wegen der Verhängung oder Zulassung« der Endlichkeit und des moralischen Bösen beruht auf dieser irrtümlichen Annahme, durch welche man die »Privationen des Uebels und des moralischen Bösen nicht erklären konnte«. 172 Abermals betont Schelling dadurch den engen Zusammenhang zwischen der Erklärung der Endlichkeit und der des Bösen. Schellings Absicht scheint danach nicht so sehr darin zu bestehen, eine andere, leistungsfähigere Lösung der Theodizee-Frage anzubieten, sondern vielmehr die ganze Fragestellung, wegen der Voraussetzungen, auf welchen sie beruht, als inadäquat zurückzuweisen. Dann verfügte Schelling, gerade indem er es vermag, die Enddes Bösen nur einigermaßen bekannt ist (denn man muß es mit dem Herzen ignoriren, aber nicht mit dem Kopf)«. 170 Schelling 1804, 47 / SW VI, 46. 171 Schelling 1804, 48 / SW VI, 47. 172 Schelling 1804, 48 f. / SW VI, 47. Vgl. Schelling 1804, 71 / SW VI, 62: die »nach Fichte unbegreiflichen Schranken«. Gerade in diesem Punkt behandelt Schelling Leibniz und Fichte ganz parallel (vgl. SW VI, 115, 122 f.).

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lichkeit mittels des Abfallbegriffs zu erklären, auch über die Mittel, das Böse zu erklären, auch dann, wenn er es unterlässt, diese Erklärung en détail durchzuführen. (6.) Der Erklärungsversuch kann nicht von der Annahme der Realität des Bösen ausgehen (vgl. 1., 2. und 3.). Diese Annahme hält Schelling nun auch der geläufigen Vorstellung der Tugend und den sich daran orientierenden Sittenlehren vor: »Um das Böse euch gleichwohl zu erhalten, (denn es ist nach dem Vorhergehenden der Grund eurer sinnlichen Existenz), wollt ihr die Tugend lieber als Unterwerfung, denn als absolute Freyheit, begreifen«. 173 Nach der geläufigen Vorstellung wäre Tugend nur als Unterwerfung unter das Gesetz begreiflich. Das »Gebot« oder das »Sollen« jedoch »setzt den Begriff des Bösen neben dem des Guten voraus« und erkennt durch diese Nebenordnung beiden den gleichen Realitätsstatus zu. 174 Vorher hatte Schelling bereits gezeigt, dass dies nur um den Preis eines ›vollkommenen Dualismus‹ zu haben ist. (7.) Die letzte Erwähnung deutet auf das Hervortreten des Bösen innerhalb der Geschichte hin und bringt es zugleich mit einem kosmologischen Ereignis, mit der »allmälige[n] Deterioration der Erde« in Verbindung: »Mit der wachsenden Erstarrung griff die Macht des bösen Princips in gleichem Verhältniss um sich, und die frühere Identität mit der Sonne, welche die schöneren Geburten der Erde begünstigte, verschwand«. 175 Damit deutet Schelling auf das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart: In der Gegenwart zeigt das böse Prinzip seine allgemeine Wirksamkeit, während es im goldenen Zeitalter völlig abwesend zu sein scheint. 176 Gleichzeitig mit Philosophie und Religion hat Schelling in Würzburg Vorlesungen über das System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere gehalten, die sich vor anderen Darstellungen dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur eine ausführliche systematische Darstellung der ideellen Reihe bieten, sondern innerhalb derselben auch auf die Frage nach dem Bösen eingehen. Wir sind demnach nicht bloß auf die zusammengelesenen Stellen aus Philosophie und Religion angewiesen, sondern wir können uns zusätzlich jener Darstellung bedienen, die zugleich deutlicher hervor-

Schelling 1804, 61 / SW VI, 55. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55. 175 Schelling 1804, 67 / SW VI, 59. 176 Vgl. dazu Schelling 1803c, 165–174 / SW IV, 499–508; Schelling 1809a, 451–463, bes. 455 / SW VII, 373–382, bes. 376; SW VII, 459. 173 174

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treten lässt, gegen welche Konzeption der Ethik sich Schelling insbesondere richtet: Als ein roter Faden zieht sich durch die Behandlung der ideellen Reihe, besonders der zweiten Potenz (der des Handelns), die Auseinandersetzung mit solchen Theorien, die die menschliche Freiheit als Willkürfreiheit denken, da es ohne dieselbe nicht möglich sei, dem Unterschied zwischen Gut und Böse gerecht zu werden. Eine genauere Erörterung der Frage nach dem Bösen ist allein schon deshalb berechtigt, da man besonders die Aussparung derselben oder auch das Unvermögen, sie auf eine angemessene Art zu entwickeln, des Öfteren als ein bereits hinreichendes Indiz für den unzulänglichen Charakter von Philosophie und Religion und damit für die Notwendigkeit eines Neuansatzes gesehen hat, wie man ihn in der Freiheitsschrift hat erkennen wollen. 177 Man hat gemeint, in den Würzburger Vorlesungen eine ›Negationstheorie‹ des Bösen zu entdecken, und zwar im Sinne einer Radikalisierung einer Privationstheorie, da dem Bösen als Privation noch zu viel Realität zuerkannt wäre. 178 Wenn diese Bezeichnung auch vor allem durch polemische Motive eingegeben sein mag, so nötigt sie doch zu einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Negation, mit welchem Schelling in diesen Vorlesungen immer wieder operiert. Er führt den Begriff im Zusammenhang einer Kritik jeglicher Privationstheorie ein. Die Kritik richtet sich gegen eine mit dem alltäglichen Bewusstsein gleichursprüngliche Annahme, die jedoch in einigen philosophischen Theorien ohne eingehende Prüfung übernommen wird. Eine solche möchte Schelling durchführen, um festzustellen, ob jene Annahme mit Recht in eine philosophische Theorie aufgenommen werden kann. Sie bezieht sich nicht auf die Frage, ob es überhaupt Phänomene wie die Privation oder das Böse gibt, sondern bloß auf die ontologische Dignität, die man diesen zuzuerkennen beSo meint Robert F. Brown daraus, dass Schelling die Frage nach dem Bösen in Philosophie und Religion nicht deutlich und ausführlich berührt hat und das Böse mit der Endlichkeit schlechthin gleichsetzt, schließen zu dürfen, dass Schelling es deshalb als Privation gedacht hat. Gerade in diesem Punkt, so meint er, »our two treatises are very far apart«. Er behauptet »a quite dramatic advance« zwischen beiden Schriften. Dabei operiert er allerdings mit einem Gegensatz zwischen einem Privationsbegriff des Bösen und einem positiven Begriff des Bösen, wonach das Böse selbst eine positive Realität hätte (Brown 1996, 121, 123). Auch nach Oliver Florig sei es Schelling »1804 nicht gelungen, das Böse angemessen zu fassen«. Dabei scheint auch er den Abfall oder die Endlichkeit mit dem Bösen schlechthin gleichzusetzen (Florig 2010a, 43). 178 So z. B. Hermanni 2002, 144–146. 177

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rechtigt ist. Aus Schellings Analyse wird sich ergeben, dass gerade das alltägliche Bewusstsein das Böse unwillkürlich für eine Privation hält. Wenn Schelling denn auch schreibt: »Wir setzen eine Privation in dem Ding nur, inwiefern wir urtheilen, daß etwas, das ihm fehlt, zu seiner Natur gehöre, ihm zukomme. Aber wir urtheilen dieß bloß, indem wir das Ding mit andern Dingen oder mit einem allgemeinen Begriff vergleichen« (SW VI, 543 (§ 305 Anm.); Herv. v. Verf.), dann bezieht das ›wir‹ in diesen Sätzen wie in dem ganzen Absatz sich nicht auf Schelling selbst als Subjekt, sondern auf das allgemeine Bewusstsein. Dieses will Schelling an dieser Stelle charakterisieren und auf ontologische Annahmen aufmerksam machen, die in solchen spontanen Urteilen impliziert sind. Die Stelle hat somit lediglich eine vorbereitende Funktion: Das Phänomen, das es zu erklären gilt, soll zunächst einmal in den Blick gebracht werden, da bereits das alltägliche Bewusstsein es verschleiert und nicht in seinem eigentlichen Charakter zur Erscheinung kommen lässt. Die Zurückweisung der Deutung, mit welcher es im alltäglichen Bewusstsein verwachsen zu sein scheint, ist noch keiner Leugnung des Phänomens gleichzusetzen. Nur indem man jener ›natürlichen‹ Deutung zustimmt und sie für keiner Kritik bedürftig hält, kann man aus der Bestimmung der Endlichkeit und des Bösen als Nicht-Realität unmittelbar darauf schließen, dass es Schellings Absicht sei, die Phänomene selbst zu leugnen. Deshalb fängt Schelling hier mit dem an, womit eine jede philosophische Theorie anzufangen hat, nämlich mit einer Prüfung der alltäglichen Meinung und mit einer Trennung von ›Phänomen‹ und ›Meinung‹, und zwar so, dass er zeigt, wie ›selbst der gemeine Verstand‹ bereits zu der Einsicht geführt werden kann, dass das, was es für eine Privation hält, im Grunde nur eine Negation ist. Dazu macht Schelling auf solche »Beispiele« aufmerksam, an welchen sich zeigt, dass der »gemeine Verstand« in einigen Fällen selbst jener Annahme, dass das Fehlen einer Eigenschaft notwendig eine Privation sei, gar nicht zustimmt (SW VI, 543). Diese Beispiele sind ein Indiz dafür, dass der gemeine Verstand in diesem Punkt mit sich selbst uneinig ist. Der geläufige Begriff der Privation beruht auf die Annahme, dass die Eigenschaft, die einem Ding fehlt oder der es beraubt ist, »zu seiner Natur gehöre« (SW VI, 543). Schelling orientiert sich weiterhin an diesem Begriff. Zugleich zeigt er auf, wie der Begriff einen Widerspruch impliziert. Dazu greift er auf seine Unterscheidung von zweierlei Typen von Eigenschaften zurück. Eigenschaften, die einem Ding aufgrund seiner Natur zukommen, können ihm nicht 263 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

4. Kapitel. Tugend und Geschichte

fehlen, da das Ding selbst damit aufgehoben wäre. Es handelt sich somit um invariante Eigenschaften, die einem Ding lediglich insofern zukommen, als es Fall einer bestimmten Potenz ist. So kommt einem Dreieck z. B. die Eigenschaft, dass die Summe seiner Winkel gleich 180° ist, bloß qua Dreieck zu: Ohne diese Eigenschaft wäre die gemeinte Figur gar kein Dreieck mehr. Das Beispiel zeigt, dass der Begriff der Privation auf solche Fälle gar nicht anwendbar ist: Ein Ding kann solcher invarianten Eigenschaften gar nicht beraubt werden, da es dadurch selbst unmittelbar aufgehoben wäre. Einem Ding können mithin nur solche Eigenschaften fehlen, die nicht zu seiner Natur gehören. Dies ist der Sinn von Schellings Behauptung, dass das, was wir in unseren spontanen Urteilen für eine Privation halten, in Wahrheit nur eine Negation ist: Die ›Beraubung‹ von solchen Eigenschaften, die zur Natur eines Dinges gehören, ist zugleich die Negation des Dinges. Entsprechend den beiden Prädikattypen kann man allerdings mehrere Hinsichten unterscheiden, in welchen einem Ding eine Eigenschaft fehlen kann. Privation und Negation beruhen auf einer Vergleichung der Dinge. Wir können die Dinge untereinander aber in unterschiedlicher Hinsicht vergleichen. So können wir sie, erstens, miteinander vergleichen, insofern sie Fälle von unterschiedlichen Potenzen sind. So kommen einem Ding als Fall einer bestimmten Potenz Eigenschaften zu, die einem anderen Ding als Fall einer anderen Potenz nicht zukommen. So kommen einem Dreieck aufgrund seiner Natur bestimmte Eigenschaften zu, die unmittelbar andere Eigenschaften ausschließen, wie z. B. die Eigenschaft, dass alle Punkte gleich entfernt vom Mittelpunkt sind, ohne dass man deshalb sagen kann, dass ihm dadurch etwas fehlt. Zweitens können wir ein Ding mit der Potenz vergleichen, von welcher es ein Fall ist. Jedes Ding ist als Einzelding nur eine inadäquate Darstellung seiner Potenz oder eine Darstellung mit Negation. Schließlich können wir auch zwei Dinge miteinander vergleichen, die zu derselben Potenz gehören. Wenn diese wirklich verschieden sind, können sie nicht in allen Eigenschaften miteinander übereinstimmen. Aus diesen Überlegungen ist zu ersehen, weshalb Schelling sagen kann, dass der Blinde keiner Eigenschaft beraubt ist (vgl. SW VI, 543). Das Fehlen der Eigenschaft des Sehens hebt nämlich sein Menschsein nicht auf. Nur wenn dies der Fall wäre, könnte von einer Beraubung die Rede sein. Da von einer Privation nur dann die Rede sein kann, wenn das Fehlen einer Eigenschaft das Wesen eines Dings selbst aufhebt, kann im Fall des 264 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Der Begriff des Bösen

Blinden nicht von einer Privation gesprochen werden, da dieser auch ohne Sehvermögen noch sehr wohl ein Mensch ist. 179 Wenn Schelling demnach behauptet, dass dasjenige, was für eine Privation gehalten wird, »nur Negation« sei, dann ist damit nicht gesagt, dass es noch weniger und noch nichtiger als die Privation ist, sondern er will dadurch vielmehr auf den Unterschied bzw. die Verwechslung zweier Typen von Prädikaten oder Eigenschaften aufmerksam machen (SW VI, 544). Diese Verwechslung bezeichnet er auch als einen Schein: Dieser liegt demnach lediglich darin, dass man solche Eigenschaften, die aus den Verhältnissen eines Dings zu anderen folgen, für solche Eigenschaften hält, die aus der Natur oder idealen Verfassung des Dings folgen. Damit ist noch nicht behauptet, dass ›es das Endliche oder das Böse nicht gibt‹. Dieser Schluss beruht teils darauf, dass man die von Schelling durchgeführte Kritik der Phänomene unterlassen hat, teils darauf, dass man ›Realität‹ mit Existenz oder wirklichem Vorkommen verwechselt. Die bisherigen Betrachtungen haben somit lediglich eine vorbereitende Funktion, indem sie das Phänomen, das es zu erklären gilt, näher in den Blick zu bekommen versuchen. 180 Sie können somit auch nicht dazu herangezogen werden, um Schellings eigenen Begriff der Endlichkeit oder des Bösen zu illustrieren. Die von Schelling angeführten Beispiele sind denn auch bloß dazu gedacht, im alltäglichen Bewusstsein Zweifel an der Anwendbarkeit dieser Kategorie für die Deutung ethischer Phänomene zu wecken und ihm bewusst zu machen, dass gar nicht so leicht feststellbar ist, was es denn eigentlich ist, das eine Handlung zu einer bösen oder guten macht. Im Anlauf zu seiner Behandlung der »Begriffe des Bösen, der Sünde, der Schuld, der Strafe u. s. w.« (SW VI, 542) wendet Schelling nun Wenn Martin Heidegger gegen die Privationstheorie das Zeugnis des »Erblindete[n], der das Augenlicht verloren hat« anruft, der »heftig bestreiten [wird], daß Blindheit nichts Seiendes und nichts Bedrängendes und Lastendes sei«, dann ist dies nicht besonders überzeugend. Fragwürdig ist, ob dieses Zeugnis von einer höheren philosophischen Bedeutung ist als das des »Straßenbahnschaffner[s]«, den er anschließend zitiert, der meint: »Das Nichts ist eben nichts« (Heidegger 1988, 177). Die Privationstheorie zielt nicht darauf ab, die Privation als eine Illusion zu entlarven, sondern sie fragt nach der ontologischen Bedeutung des Nichts. Es soll demnach gezeigt werden, wie Phänomenen wie dem Irrtum, dem Bösen usw. zwar keine ontologische Realität zukommt, dass sie dennoch auf ontischer Ebene den Schein von Realität annehmen. 180 Es scheint mir denn auch verfehlt, zu behaupten, dass die »Reduktion der Privation auf eine bloße Negation […] eine Elimination des Malum« bedeutet, in dem Sinne, dass »es in der Wirklichkeit Übles und Böses« gar nicht gibt, sondern dass dies »nur eine menschliche Fiktion« sei (Hermanni 2002, 144). 179

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diese allgemeinen ontologischen Begriffe auf eine bestimmte Klasse von Phänomenen an, nämlich die der Handlungen. Es geht ihm darum, überhaupt erst sichtbar zu machen, worin der böse Charakter bestimmter Handlungen denn genau besteht. Auch diese Überlegungen bleiben durchaus vorbereitend: Die Deutung bzw. Bewertung von Handlungen, wie sie vom natürlichen Bewusstsein geleistet wird, soll kritisch erörtert werden, um dadurch das eigentliche Phänomen von der Auslegung zu sondern, mit welcher es in jenem verwachsen ist. Da vorher das Handeln als eine Potenz oder Ausdrucksweise des Absoluten konstruiert war, ist die Realität des Handelns überhaupt gesichert. Daran erinnert Schelling mit dem Satz: »Jedes Handeln […] schließt nothwendig etwas Positives in sich« (SW VI, 544). Gute und böse Handlungen unterscheiden sich somit nicht so voneinander, dass erstere etwas Positives in sich schließen, letztere aber überhaupt nichts Positives enthalten. In einer Handlung können wir folgendes erkennen: (1.) die Aktivität, die Fähigkeiten usw. des handelnden Subjekts, die sich in einer Handlung bekunden. Die Handlung, durch welche diese sich bekunden, bzw. diese selbst sind etwas Positives. Darin kann somit nicht der böse Charakter der Handlung liegen. So erfordert es z. B. eine oft nicht geringe Klugheit, Schlauheit sowie das Vermögen, vieles und viele für sich wirken zu lassen, um jemandem schaden zu können. Solche Fähigkeiten lassen sich sowohl in guten als in bösen Handlungen erkennen. Es liegt denn auch nahe, das Böse einer Handlung in der Absicht zu suchen, die das handelnde Subjekt mit ihr verfolgt bzw. in dem Ziel, wozu es solche Fähigkeiten oder Mittel einsetzt. (2.) Aber auch die »Lust und die Absicht andern zu schaden«, wären etwas Positives, insofern solche Handlungen notwendig aus der Natur oder der besonderen Verfassung dieses Subjekts erfolgen, wenn auch nicht aus der idealen Verfassung des Menschen überhaupt (SW VI, 544). Sowohl die guten als auch die bösen Handlungen folgen nach dem Gesetz der Identität aus der Natur des handelnden Subjekts. Hier wird also doch wieder das Subjekt der Handlung berücksichtigt. Der zugrundeliegende Gedanke scheint zu sein, dass das Böse einer Handlung nicht lediglich in den Absichten, die das handelnde Subjekt mit ihr verfolgt, zu suchen sei. Der Böse braucht nicht notwendig durch böse Absichten geleitet zu sein. Wäre dies der Fall, dann wäre nur derjenige als ›böse‹ zu bezeichnen, der sich seiner Bosheit auch bewusst ist und der das Böse als Böses will. Dies wäre aber ein teuflisches Wollen. Wenn dies auch wie eine Radikalisierung des Begriffs des Bösen aussieht, so ist sie genau betrach266 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Der Begriff des Bösen

tet vielmehr eine Verharmlosung des Bösen, indem die Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um eine Handlung oder ein Subjekt als ›böse‹ bezeichnen zu können, dadurch so hoch gesteckt werden, dass sie nur in ganz seltenen Fällen erfüllt sind. Die Frage geht vielmehr dahin, ob es auch dann möglich ist, bestimmte Handlungen als ›böse‹ zu bezeichnen, wenn das handelnde Subjekt weder Böses beabsichtigt noch sich des bösen Charakters seines Handelns bewusst ist. Dann wird die ethische Qualifizierung notwendig zu einer vollständigen Beschreibung des Universums bzw. erhält einen objektiven Charakter. Das heißt aber auch, dass dieser böse Charakter nicht leicht zu erkennen ist. 181 Schelling legt hier zwei vorläufige, negative und in ihrer Verbindung zunächst paradox anmutende Thesen zugrunde: Erstens zielt die Qualifikation einer Handlung als gut oder böse nicht auf eine objektive, der Handlung von sich aus einwohnende Eigenschaft. Achten wir lediglich auf die Handlung selbst, in Absehung vom handelnden Subjekt und von den Absichten, die es mit ihr verfolgt, so ist die Handlung etwas Positives. Darin scheint kein Grund für eine sittliche Bewertung derselben als gut oder böse zu liegen. Dieselbe Handlung kann bald als gut, bald als böse qualifiziert werden. Eine fundierte Bewertung erfordert die Berücksichtigung weiterer Umstände. Zweitens ist damit allerdings noch nicht gesagt, dass diese Bewertung nur Sache einer subjektiven Entscheidung ist. Die gute oder böse Qualität einer Handlung steht nicht zur Disposition des handelnden Subjekts. Dieses kann sich für diese oder jene Handlung entscheiden, nicht aber über die moralische Qualität der Handlung, für welche es sich entscheidet. Dadurch erhält diese Qualifikation wieder eine gewisse ›Objektivität‹. Diese beiden Thesen dienen nicht dazu, sich der Qualifizierung bestimmter Handlungen als gut, anderer als böse zu entledigen, sondern vielmehr den Blick dafür zu schärfen, worin denn genau die Güte oder das Böse einer Handlung bestehe. Wie Schelling selbst hervorhebt, muss es allerdings zunächst so aussehen, als ob durch beide negativen Thesen der Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen guten und bösen Handlungen einfach verschwindet. Erst nachdem er so gezeigt hat, dass eine Handlung nicht lediglich aufgrund von objektiven ihr innewohnenden Qualitäten als gut oder böse qualifiziert werden kann und auch die Berücksichtigung des Vgl. Schelling 1809a, 400 / SW VII, 337: Nur der, der »den Verstand rein und unverdunkelt von Bosheit« erhält, vermag auch das Böse zu erkennen.

181

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

handelnden Subjekts nicht dazu ausreicht, fragt Schelling in einem dritten Schritt, ob denn damit nicht der Unterschied zwischen Gut und Böse, guten und bösen Handlungen und dem Gerechten und dem Ungerechten aufgehoben ist. Bislang hat er bloß gezeigt, wie sowohl gute als böse Handlungen etwas Positives in sich schließen und somit beide Realität haben. Das Bisherige hatte insofern eine bloß vorbereitende Funktion, als es hauptsächlich dazu gedacht ist, inadäquate Ansichten zurückzuweisen, wie aus folgender Zwischenbemerkung hinlänglich deutlich werden dürfte: »Aber fällt denn nun hiemit nicht, wie diese Lehre sonst und auch jetzt wieder gemißdeutet wurde, aller Unterschied des Rechten und des Unrechten, also eben damit auch aller Unterschied des Recht- und Unrecht-Handelns, alles Verdienst und alle Schuld hinweg?« (SW VI, 546) Im Vorhergehenden hatte Schelling besonders die »Betrachtung des Bösen als eines Positiven« zurückgewiesen (SW VI, 545). Genau diese These verleitet zu dem Bedenken, dass dadurch jeder Unterschied des Guten und Bösen geleugnet wird. Obwohl die Behauptung der Positivität des Bösen den Vorteil zu haben scheint, das Böse nicht zu leugnen oder zu verharmlosen, hat sie den großen Nachteil, dass sie nur mittels der Behauptung eines Dualismus oder dadurch, dass Gott zum Urheber des Bösen gemacht wird, aufrecht erhalten werden kann. 182 Schelling hat demnach zu zeigen, wie die Leugnung der Positivität des Bösen nicht die Leugnung eines Unterschieds von Gut und Böse mit sich führt. Dies heißt indessen auch, dass er zu zeigen hat, in welchen Fällen wir dazu berechtigt sind, Begriffe wie Schuld, Strafe, Verdienst u.dgl. anzuwenden. Wenn nämlich Handlungen ethisch indifferent wären, dann hätten wir auch kein Recht, solche Begriffe für die Deutung von Handlungen zu verwenden. Damit sollen zwar »die gewöhnlichen Begriffe unserer Sittenlehre«, aber nicht die Sittlichkeit überhaupt wegfallen (SW VI, 546). 183 Dazu kehrt Schelling jetzt das Argument der differenten »Grade[n] der Vollkommenheit« oder der Realität hervor (SW VI, 547). Obwohl dieses Argument in den vorbereitenden Überlegungen bereits präsent war, indem Schelling dort wiederholt betonte, dass »jedes Handeln […] einen gewissen Grad der Realität«, die gute Handlung im Vergleich zur bösen allerdings »einen höheren Grad der Realität« einschließt und dass in der Natur alles, »wenn gleich in verschiedenen Graden, […] die unendliche Rea182 183

Vgl. Schelling 1804, 34 / SW VI, 38. Vgl. Schelling 1802f, 14 / SW V, 116; Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.

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lität ausdrückt« (SW VI, 544 f.; Herv. v. Verf.), so hat er es dort doch noch nicht zur Entfaltung gebracht, da er lediglich hervorhob, dass unerachtet solcher gradueller Differenzen jede Handlung irgendetwas Positives einschließe. Im folgenden Textstück, das von einer extremen Dichte ist, unterscheiden wir zur größeren Deutlichkeit sechs Teilargumente. (1.) Schelling fasst zunächst das Ergebnis des Bisherigen zusammen: »In jeder Handlung drückt sich, absolut betrachtet, eine Perfektion aus, absolut betrachtet ist daher nichts unvollkommen, sondern nur in Vergleichung« (SW VI, 546). Sowohl in der guten als in der bösen Handlung ist etwas Positives, sodass der sittliche Wert einer Handlung nicht auf dieses Positive zurückgeführt werden kann. Nur im Vergleich zeigt sich die eine Handlung als unvollkommener als die andere. Fraglich ist noch, inwiefern diese Vergleichung berechtigt ist. (2.) Wir haben oben auf zwei Vergleichsweisen aufmerksam gemacht: Man kann Dinge vergleichen, die zu einer und derselben Potenz gehören, oder man kann auch Dinge vergleichen, die zu verschiedenen Potenzen gehören. Das zweite Argument bezieht sich auf letzteren Fall: Gott schafft »die Dinge nicht in Vergleichung miteinander, sondern jedes für sich als eine besondere Welt« (SW VI, 546). Der Ausdruck ›als eine besondere Welt‹ bezieht sich offenkundig auf die Potenzen. Unbeschadet der differenten Realitätsgrade drückt das Absolute sich seiner Struktur nach in jeder Potenz ganz aus, sodass keiner in Bezug auf das Absolute etwas fehlt: »[V]or Gott [ist] nichts unvollkommen« (SW VI, 546). (3.) Dies wird durch die dritte These noch deutlicher, wenn Schelling bemerkt, dass »der relativ geringere Grad der Vollkommenheit, den z. B. der Stein relativ auf die Pflanze […] ausdrückt, […] in Ansehung des Steins […] gerade seine Vollkommenheit« ist (SW VI, 546 f.). Weil (wegen 2.) alle Potenzen in Bezug auf Gott gleich absolut sind, so ist die Potenz, wozu ein Ding gehört, für dieses ›seine Vollkommenheit‹ selbst: Dadurch, dass ihm nicht solche Eigenschaften zukommen, die Dingen, die zu anderen Potenzen gehören, zukommen, fehlt jenem Ding nichts, wie dem Dreieck dadurch nichts fehlt, dass es nicht auch die Eigenschaften eines Kreises hat. Die Potenz stellt für jedes zu ihr gehörige Ding ein Optimum dar, das es mehr oder weniger ausdrücken kann. So drückt z. B. der Stein zwar relativ auf oder in Vergleichung zur Pflanze einen geringeren Grad der Realität aus, aber dieser Grad der Realität ist »in Ansehung des Steins« seine Vollkommenheit (SW VI, 547). Diese Grade werden hier also nicht auf Gott bezogen. Merkwürdig ist aller269 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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dings, dass Schelling beide genannten Vergleichsweisen hier ineinander zu schieben scheint, indem er die Realitätsgrade zwischen Stein, Pflanze, Tier und Mensch (denen jeweils eine Potenz entspricht) mit den zwischen dem schlechteren und besseren Menschen in einer Reihe stellt. In letzterem Fall werden nicht zwei Potenzen hinsichtlich ihres Realitätsgrades verglichen, sondern man vergleicht zwei Fälle einer und derselben Potenz, die diese in unterschiedlichen Graden ausdrücken. (4.) Das vierte Argument scheint die Verwischung beider Vergleichsweisen weiterzuführen. Wenn auch der Realitätsgrad einer Potenz für dasjenige, was Fall von ihr ist, dessen Vollkommenheit bildet, so ist damit doch nicht gesagt, dass alles gleich vollkommen ist oder den gleichen Realitätsgrad ausdrückt. Auf Gott bezogen weisen die Potenzen differente Realitätsgrade auf: »[J]e größer der Grad der Realität oder Perfektion eines Dings ist, desto mehr nähert es sich dem Göttlichen an« (SW VI, 547). Indem die Potenzen hier auf das Absolute bezogen werden, wird danach gefragt, welche derselben es am meisten oder am angemessensten zum Ausdruck bringt: »Der Grad der Realität, den jedes Ding für sich hat, steht im Verhältniß seiner Annäherung zur absoluten Identität« (SW VI, 212 (§ 61)). Schon in seiner Besonderheit, aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Potenz, kann ein Ding »einen höheren Grad von Realität« ausdrücken (SW VI, 212 f.). Diese Differenz ist somit keine solche, die lediglich für unsere Imagination besteht, sondern eine solche, die es in der Natur gibt. (5.) Jetzt kommt Schelling auf den signifikanten Fall zu sprechen, in dem zwei Fälle einer und derselben Potenz miteinander verglichen werden: die Differenz zwischen dem schlechteren und besseren Mensch. Auch »der Unrechthandelnde [drückt] einen gewissen Grad der Perfektion« aus (SW VI, 547). Wenn nicht zu leugnen ist, dass auch im Bösen etwas Positives sei, so bleibt doch die Frage, was ihn vom ›Rechthandelnden‹ unterscheidet. (6.) Der Unterschied ist Schelling zufolge in der Weise zu suchen, wie beide die Perfektion oder Realität ausdrücken, die ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Potenz zukommt. Er liegt darin, ob man diesen Realitätsgrad wissend oder unwissend ausdrückt. Den Unterschied zwischen guten und bösen Handlungen macht Schelling daran fest, ob eine Handlung mit einem Wissen verbunden ist. Auch in der bösen Handlung ist ein Positives. Aber dieses Positive in der bösen Handlung ist im Handelnden nicht mit einem Wissen verbunden und ihm demnach auch nicht als seine Handlung zuzuschreiben. 270 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Der Begriff des Bösen

So drückt »freilich auch der Unrechthandelnde einen gewissen Grad der Perfektion aus«, aber »den Grad von Realität; den er wirklich ausdrückt, drückt er unwissend aus« (SW VI, 547). Die graduelle Differenz zwischen Realitätsgraden wird dadurch nicht aufgehoben, dass sowohl gute als böse Handlungen einen gewissen Grad von Realität ausdrücken. Der Unrechthandelnde irrt sich somit hinsichtlich dessen, was er wirklich tut. Schelling führt einige Beispiele von solchen Handlungen an, die wir unwissend ausführen und durch welche die »materielle Substanz« zeigt, »was sie für sich vermöge« (SW VI, 549). 184 Dies gilt, nach dem Parallelismus, sowohl vom Leib als von der Seele: Sowohl das Handeln des Leibes als das der Seele sind nicht unser Handeln, indem in beiden die Substanz handelt. Nur durch das Wissen wird eine Handlung zur Handlung eines Individuums (vgl. SW VI, 550 f.). Nur der ›Teil‹ einer Handlung kann dem Handelnden zugeschrieben werden, der auch mit Wissen verbunden ist. Das Positive, das auch in den Handlungen des Bösen ist, wie z. B. die Aktivität, Intelligenz usw., die er darin zu erkennen gibt, kann ihm nicht zugeschrieben werden, da es in ihm nicht mit Wissen verbunden ist, sondern da in ihm nur die Substanz handelt. Diese »wirkt in ihm [dem Bösen, R. S.] ohne sein Wissen das Gute« (SW VI, 551). Das Gute in seinen Handlungen ist eben nicht seine Handlung, sondern darin ist er lediglich Werkzeug oder Instrument anonymer Gesetzlichkeiten. Die Tugend zeichnet sich somit durch ein Reflexionsmoment aus oder dadurch, dass sie nicht ohne Wissen ist, was sie ist. Nur durch das Wissen findet eine Identifikation des Handelnden mit seiner Handlung statt oder kann sie ihm zugeschrieben werden. 185 Vgl. auch Schelling 1809a, 459 f. / SW VII, 379, wo die erste Epoche der Geschichte als eine solche bestimmt wird, »in welcher der Grund zeigte, was er für sich vermöchte«, und wo dies so erläutert wird, dass die zu dieser Epoche gehörende Menschengattung handelt, ohne zu wissen, was sie tut: »Damals kam den Menschen Verstand und Weisheit allein aus der Tiefe; die Macht erdentquollner Orakel leitete und bildete ihr Leben«. In einer Verschärfung nimmt dies die Gestalt eines Handelns an, das auf »falsche Magie sammt Beschwörungen und theurgischen Formeln« zurückgreift. Es ist dies zugleich eine Zeit, da der Mensch ohne eigentliches Bewusstsein über Gut und Böse ist (vgl. Schelling 1803a, 175 f. / SW V, 290). Vgl. auch solche »Zustände, durch welche der Mensch den Thieren ähnlicher wird«, insofern in dem, was er tut, nicht aber in ihm selbst Vernunft ist (SW VI, 468 (§ 238); vgl. SW VI, 462 f., wo Schelling auf den Somnambulismus und die »Gabe der Prophezeiung« verweist). 185 Man könnte geneigt sein, darin einen Unterschied mit den Würzburger Vorlesungen zu sehen, dass Schelling in der Freiheitsschrift behauptet, dass verhindert werden 184

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Schellings Bestimmung des Unterschieds zwischen Gut und Böse als einer graduellen Differenz der Realität dürfte schärfere Konturen gewinnen, wenn wir sie vor dem Hintergrund von Kants Begriff der negativen Größe betrachten. Mit jener Bestimmung greift Schelling einige Einsichten auf, die Kant in seinem Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen entwickelt hatte und an denen Schelling auch noch in der Freiheitsschrift festhält. 186 Wir heben insbesondere diejenigen Züge des kantischen Begriffs hervor, die Schelling in den Würzburger Vorlesungen aufgreift, und werden nachher zeigen, inwiefern diese in dem Begriff des Bösen erhalten bleiben, so wie Schelling ihn in der Freiheitsschrift entwickelt. Zum Begriff der negativen Größe bemerkt Kant zunächst folgendes: [E]s sind die negative Größen nicht Negationen von Größen, wie die Aehnlichkeit des Ausdrucks ihn [sc. Crusius, R. S.] hat vermuthen lassen, sondern etwas an sich selbst warhaftig Positives, nur was dem andern entgegengesetzt ist. Und so ist die negative Anziehung nicht die Ruhe wie er davor hält, sondern die wahre Zurückstoßung. (NG, AA 2, 169)

Auf die uns interessierende Frage angewendet, wäre letzterer Satz so umzuformulieren, dass das negative Gute (das Böse) sich nicht so sehr an einem Ausbleiben von guten Handlungen zeigt, sondern vielmehr an einer dem Guten entgegengesetzten Kraft, die sich in bösen Handlungen äußert. 187 Damit ist allerdings nicht behauptet, dass das Böse selbst ein Positives ist. Das Böse einer Handlung ist eine Qualifizierung, die ihr nur insofern zukommt, als sie als in einem Gegenmuss, dass der Mensch in den bösen Handlungen »selbst nur leidend« gedacht wird (Schelling 1809a, 449 / SW VII, 372), während er in Vorlesungen zu behaupten scheint, dass die böse Handlung »kein Handeln, sondern ein Leiden« ist (SW VI, 551). Diese Behauptung bezieht sich indessen ausschließlich auf das Gute oder Positive, das auch in der bösen Handlung ist: Relativ auf dieses verhält der Böse sich leidend, da es sich ohne sein Wissen und ohne seine Absicht aus seinem Handeln ergibt; relativ auf dasjenige, was in seiner Handlung böse ist, gilt dieser passive Charakter jedoch nicht. Die böse Handlung ist also keine solche, die einem nur widerfährt. 186 Für die Bedeutung dieser Schrift für Schellings Naturphilosophie vgl. Rang 2000, 194–198. Hermanni 1994, 130, sieht zwar den Ursprung des schellingschen Begriffs des Bösen als einer positiven Verkehrtheit aus dem kantischen Begriff der Realopposition, lässt aber gerade das Moment des Realitätsunterschiedes beider fallen. 187 Im zweiten Abschnitt seiner Schrift führt Kant selbst eine Vielzahl an Beispielen solcher Anwendungen an, auch auf dem Feld der Ethik (NG, AA 2, 179–188, bes. 182– 184).

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Der Begriff des Bösen

satz zu anderen möglichen Handlungen betrachtet wird. Der Satz besagt also, dass es zwar in der bösen Handlung, wie in jeder Handlung, etwas Positives geben muss, die Handlung aber nur im Gegensatz zu anderen die Qualität des Bösen erhält. Das negative Gute ist also nicht bloßer Mangel an Güte, sondern das Böse eine dem Guten entgegengesetzte Kraft (vgl. NG, AA 2, 182). Kant erläutert den Unterschied zwischen einer negativen Größe und der Negation einer Größe mit Hilfe des Unterschieds zwischen realem und logischem Gegensatz. Beide finden zwischen zwei Prädikaten statt. Im Fall eines logischen Gegensatzes ist das eine Prädikat die Negation des anderen: Beide Prädikate sind sich kontradiktorisch entgegengesetzt. Sie unterscheiden sich demnach dadurch, dass das eine Prädikat bejahend, das andere verneinend ist. »Die Realrepugnanz beruht auch auf einer Beziehung zweyer Prädikate eben desselben Dinges gegen einander; aber diese ist von ganz anderer Art« als im Fall der logischen Repugnanz (NG, AA 2, 172). Denn »beyde Prädikate A und B sind bejahend«, nur heben die Folgen des Prädikats A (= a) die Folgen des Prädikats B (= b) auf (NG, AA 2, 172). Das Plus und Minus drückt nichts aus, das den Prädikaten an sich anhaften würde, da beide bejahend (oder positiv) sind. Das Plus und Minus kommt ihnen nur insofern zu, als sie in Beziehung zueinander gesetzt werden: »Eine Größe ist in Ansehung einer andern negativ, in so ferne sie mit ihr nicht anders als durch die Entgegensetzung kann zusammen genommen werden, nemlich so, daß eine in der andern so viel ihr gleich ist aufhebt« (NG, AA 2, 174). Man kann denn auch »keine Größe schlechthin negativ nennen« (NG, AA 2, 174; Herv. v. Verf.). Eine negative Größe ist immer die negative Größe einer andern. Die Negativität bedeutet somit nicht »eine besondere Art Dinge ihrer inneren Beschaffenheit nach« oder ihrem Wesen nach, sondern zeige bloß »dieses Gegenverhältnis« an, »mit gewissen andern Dingen die durch + bezeichnet werden in einer Entgegensetzung zusammen genommen zu werden« (NG, AA 2, 174). 188 Auch ›gut‹ und ›böse‹ sind Prädikate, nämlich solche, die Handlungen qualifizieren. Fraglich ist allerdings die Realität dieser PrädiVgl. Wolff 1981, 67 f.: »Das Negativsein ist demnach keine Eigenschaft von Größen; in Wirklichkeit ist es ein bestimmtes Verhältnis und zwar ein Verhältnis der Entgegensetzung zwischen Gliedern eines Paares, die für sich genommen nicht negativ, sondern positiv sind. Nur im Verhältnis zum anderen kann man jeweils eins der beiden positiven Glieder ›negativ‹ nennen«; »Negativität [ist] keine innere Beschaffenheit von Gegenständen, sondern das Bestehen einer Relation«.

188

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

kate bzw. dieser Unterscheidung. Zwar ist es so, dass wir Handlungen durchgängig danach unterscheiden, wenigstens daraufhin befragen, ob sie gut oder böse sind. Damit ist noch nicht gesagt, dass diese Bewertung auch einen Grund in der Sache selbst oder Realität hat. Das Böse ist nicht an sich böse, sondern nur in Beziehung auf das Gute oder im Gegensatz zum Guten. Deshalb war Schelling auch so viel daran gelegen, zu zeigen, dass sowohl die (böse) Handlung an sich betrachtet, in der Abstraktion vom handelnden Subjekt, als auch die (bösen) Absichten und Triebfedern der Handlung etwas Positives sind, dass aber ihre böse Qualität nicht in diesem Positiven liegt, wodurch sie sich nicht von guten Handlungen bzw. Absichten unterscheiden, sondern ihnen von anderswoher zuwächst. Eine negative Größe ist einer anderen nicht kontradiktorisch entgegengesetzt. Zwischen einer Größe und ihrer negativen Größe besteht kein logischer Gegensatz, sondern ein ›positiver Gegensatz‹ oder eine ›Real-Opposition‹. Die negative Größe hebt die andere nicht auf, sondern lediglich deren Folgen: »Demnach müssen in jeder Realentgegensetzung die Prädikate alle beyde positiv seyn, doch so, daß in der Verknüpfung sich die Folgen in demselben Subjekte gegenseitig aufheben« (NG, AA 2, 176). Die Prädikate, die uns hier besonders interessieren, sind Handlungen, die man einem Subjekt zuschreibt. Diese Prädikate sind im Fall guter sowohl als böser Handlungen positiv. Das Böse zeigt sich nicht so sehr an einem Mangel oder Ausbleiben bestimmter Handlungen, sondern besonders da, wo es wirklich zu Handlungen kommt. Aus diesem Grund ist es auch möglich, von einem Vermögen zum Guten und zum Bösen zu sprechen, insofern das Vermögen zum Bösen bloß die Folgen des Vermögens zum Guten aufhebt, nämlich die Handlungen, die sonst aus demselben folgen würden, und nicht dieses Vermögen selbst, so wie das Vermögen zum Guten bloß die Folgen des Vermögens zum Bösen aufhebt. Aus diesem Grund auch müssen beide Vermögen in einem und demselben Subjekt vorkommen (vgl. NG, AA 2, 176). Das Vermögen zum Guten hebt zwar die bösen Handlungen auf, nicht aber das Vermögen zum Bösen selbst in dieser Person, sondern überführt es lediglich in einen Zustand der Latenz, der es daran hindert, sich zu aktualisieren. Kant spricht auch von der »Negative[n]« (NG, AA 2, 177). 189 Die Negative einer Sache ist die Umkehrung derselben, insofern sie die So kann »ein Ding die Negative (Sache) von dem andern« sein, also etwas, »was in einer Realentgegensetzung mit dem andern steht« (NG, AA 2, 175). Hier dürfte auch

189

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Der Begriff des Bösen

Folgen der anderen aufhebt, oder die umgekehrte Abbildung derselben. 190 Diesen Begriff verwendet Kant zu einer Kritik des Privationsbegriffs, den er besonders mit Leibniz in Verbindung bringt. 191 Er unterscheidet zwischen einer bloßen Verneinung (Negatio) und einer Beraubung als dem Fehlen einer Eigenschaft aufgrund eines positiv entgegengesetzten Grundes (vgl. NG, AA 2, 181). So ist z. B. der Hass eine negative Liebe, nicht ein Mangel an Liebe, sondern ein der Liebe real entgegengesetztes Gefühl, dem es zuzuschreiben ist, dass solche Handlungen, die aus Liebe erfolgen würden, daran gehindert werden, hervorzutreten. Das Böse bezeichnet er ferner als ein »negatives Gute[s]«, als eine Kraft, die die Folgen des Guten aufhebt oder die Handlungen, durch welche dieses sich manifestiert (NG, AA 2, 182). Ähnlich wird der Irrtum als eine negative Wahrheit, die Untugend (oder das Laster) als eine negative Tugend bestimmt: »Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung […]. Es ist also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht bloß ein Mangel« (NG, AA 2, 182 f.). Auch das Unterlassen einer guten Handlung ist eine negative Tugend, weil diese Unterlassung eine positive Kraft erfordert, die das Erfolgen der guten Handlung wirklich verhindert. Zwar kann man das Böse vorläufig auch als das Fehlen oder Ausbleiben von guten Handlungen definieren, aber das Böse selbst besteht nicht so sehr in diesem Ausbleiben von guten Handlungen, sondern in der Kraft, die daran hindert, dass diese Handlungen erfolgen. Die Rede von einer Beraubung ist hier denn auch ganz zutreffend, da die Gegenkraft (das Böse) das Gute daran hindert, sich in Handlungen zu zeigen und es insofern seiner Folgen beraubt. Erst wenn man die Beraubung mit dem Begriff der Realopposition in Verbindung bringt, erhält sie einen guten Sinn. Kant bemerkt dazu: »Die Verneinung, in so ferne sie die Folge einer realen Entgegensetzung ist, will ich Beraubung (privatio) nennen; eine jede die Wurzel von Schellings Rede von einer Umkehrung oder Verkehrtheit zu suchen sein. 190 Der Ausdruck wurde der Optik entlehnt: So ist das Bild auf der Retina die Umkehrung des wirklichen Gegenstands; von daher auch ein Negativ, wie in der Photographie. 191 So Wolff 1981, 64. – Gerade den Hauptpunkt seiner Leibniz-Kritik: die Privation sei nur Negation, hat Schelling demnach von Kant übernommen, genauso wie einige seiner Beispiele (vgl. z. B. NG, AA 2, 173, 184 f. mit Schelling 1809a, 445 f. / SW VII, 369 f.). Zu beachten ist, dass diese Kritik mit dem Begriff der Realopposition zusammenhängt.

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Verneinung aber, in so ferne sie nicht aus dieser Art von Repugnanz entspringt, soll hier ein Mangel (defectus, absentia) heissen« (NG, AA 2, 177 f.). Auf das Beispiel Schellings angewendet, kann man fragen, wie das Nicht-rund-Sein des Quadrats zu beurteilen ist (vgl. SW VI, 544). Auf keinen Fall handelt es sich um eine Privation, weil das Fehlen dieser Eigenschaft nicht auf eine reale Entgegensetzung zurückzuführen ist. Eigentlich handelt es sich also um einen bloßen Mangel, der zudem nichts Positives über das Ding aussagt. Wir haben hier nur eine negative Beschreibung einer positiven Eigenschaft, und zwar einer solchen, die unmittelbar aus dem Wesen des Dings folgt. Aus dem Wesen des Quadrats folgt unmittelbar die Eigenschaft des Quadratisch-Seins, die unmittelbar das Rund-Sein ausschließt. Als ein weiteres Beispiel führt Schelling die Blindheit an: Auch diese drückt nur das Fehlen einer Eigenschaft aus, die sich unmittelbar aus dem Zustand dieses Menschen ergibt. Die Aufhebung der Folgen von etwas nennt Kant auch seine Herabsetzung auf einem geringeren Grad (vgl. NG, AA 2, 180). Die Negative resultiert stets in eine Verminderung des Realitätsgrades. Nur insofern zeigt sie sich als eine wahrhaft entgegengesetzte Kraft. Auch diesen Gedanken nimmt Schelling auf, wenn er behauptet, dass zwischen dem Bösen und dem Guten eine graduelle Differenz der Realität nach besteht. 192 Zunächst dürfte es so erscheinen, als ob Schelling in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit sich kritisch auf einen solchen Begriff des Bösen bezieht. In seinen einleitenden Überlegungen hebt er hervor, dass jedes System sich mit der Schwierigkeit konfrontiert sieht, die Freiheit als »ein VerEs scheint mir demzufolge keine entscheidende Differenz zu sein, ob »diese Ordnungsverkehrung gradualistisch als Beraubung von Ordnung oder konträr als Versuch zur Konstituierung einer Gegenordnung gedeutet wird« (Hermanni 1994, 129). Beide Deutungen gehen, jedenfalls für Schelling, zusammen: Die zwei möglichen Vollzugsmodi des Willens sind konträre Möglichkeiten; sie sind sich nicht kontradiktorisch entgegengesetzt und die eine ist nicht die bloße Negation der anderen. Sie können aber nichtsdestoweniger nicht zugleich in einem Subjekt realisiert werden: Das Subjekt hat zwar die Möglichkeit, beide zu realisieren, nicht aber gleichzeitig. Außerdem hat der eine Vollzugsmodus einen niedrigeren Realitätsgrad als der andere. Dies wird mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in den Würzburger Vorlesungen herausgearbeitet, bleibt auch in der Freiheitsschrift weiterhin in Kraft. Sonst wäre nicht zu erklären, wie Schelling behaupten kann, zwar einen positiven Begriff des Bösen zu entwickeln, wonach das Böse nicht als bloße Negation oder Beraubung des Guten, sondern als eine konträre Möglichkeit gelten soll, zugleich aber daran festhält, dass dem Bösen keine eigentliche Realität oder Wesentlichkeit zukommt.

192

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Der Begriff des Bösen

mögen des Guten und des Bösen« zu denken. 193 »Am auffallendsten« tritt dieses Problem in solchen Systemen zu Tage, die sich auf einen »Begriff der Immanenz« stützen. 194 Diese Bemerkung enthält jedoch keine Absage an den Begriff der Immanenz, da Schelling zum einen im Vorhergehenden diesen Begriff gegen mögliche Einwände zu sichern gesucht hatte, zum anderen nur darauf hinweist, dass die Schwierigkeit hier nur sehr auffällig wird, d. h. in anderen Systeme vielmehr verdeckt bleibt, obwohl sie genauso durch jene Schwierigkeit getroffen werden. 195 Die Schwierigkeit tritt hier nun deshalb so klar hervor, da jener Begriff folgende Alternative unausweichlich macht: Entweder wird die Realität des Bösen behauptet oder nicht. Im ersten Fall muss Gott unvermeidlich zum Urheber des Bösen gemacht werden, »oder es muss auf irgend eine Weise die Realität des Bösen geläugnet werden, womit aber zugleich der reale Begriff von Freyheit verschwindet«. 196 Aus der Folge wird klar, dass Schelling für diese zweite Möglichkeit optiert. 197 Während es ihm im Fall einer Behauptung der Realität des Bösen unmöglich scheint, zu vermeiden, Gott für das Böse verantwortlich zu machen, so scheint es ihm nicht schlechthin unvermeidlich, dass mit der Leugnung der Realität des Bösen auch ›der reale Begriff von Freyheit verschwindet‹, da dies nur ›auf irgend eine Weise‹ zu geschehen habe. Es kommt somit darauf an, auf welche Weise die Realität des Bösen ›geleugnet‹ wird. Wenn es unter Annahme der Immanenz eine Chance geben soll, das Böse zu erklären, dann ›muss auf irgend eine Weise die Realität des Bösen geläugnet werden‹. Man kann dieser Schwierigkeit dadurch zu entgehen suchen, dass man die Annahme der Immanenz aufgibt oder korrigiert. Solche Korrekturversuche erlauben es indessen nicht, der grundsätzlichen Alternative auszuweichen, die im Falle der Immanenzsysteme nur ›am auffallendsten‹ zu Tage trat. Auch hier erSchelling 1809a, 422 / SW VII, 352. Schelling 1809a, 422 / SW VII, 353. 195 Wenn Schelling später bemerkt, das »[z]uerst […] der Begriff der Immanenz völlig zu beseitigen [ist]«, dann schränkt er diese entschiedene Absage doch sogleich insofern wieder ein, als nur die Immanenz, »inwiefern etwa dadurch ein todtes Begriffenseyn der Dinge in Gott ausgedrückt werden soll«, davon betroffen ist. Diesen Begriff der Immanenz hatte er aber bereits vorher »völlig beseitig[t]« (Schelling 1809a, 431 / SW VII, 358; vgl. Schelling 1809a, 405 f., 409–415, bes. 412 / SW VII, 340 f., 343–347, bes. 345). 196 Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353. 197 Schelling hebt wiederholt hervor, dass das Böse »nichts Wesenhaftes« sei (Schelling 1809a, 441, 447 / SW VII, 366, 370). 193 194

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

scheint »Gott unläugbar als Miturheber des Bösen«. 198 Um diese Folge zu umgehen, »muss« auch hier »auf die eine oder die andere Art die Realität des Bösen geläugnet werden«. 199 Gleich anschließend skizziert Schelling, wie die Realität des Bösen geleugnet werden kann, ohne dass das Böse und damit der reale Begriff der Freiheit dadurch verschwinden. Durch die Annahme, dass im Bösen etwas Positives sei, dieses Positive von Gott komme, dieses Positive im Bösen aber nicht selbst das Böse, sondern gut ist, »verschwindet das Böse nicht, ob es gleich auch nicht erklärt wird«. 200 Damit ist die Aufgabe bezeichnet, die Herkunft der »Basis«, »das, worin dieses Seyende ist«, zu erklären. Diese Frage nach der Herkunft dieser ›Basis‹ wird Schelling in der Folge mittels der Unterscheidung von Grund von Existenz und Existierendem sowie der Behauptung der Zertrennlichkeit der Prinzipien im Menschen zu lösen versuchen. Nachdem er diese Aufgabe formuliert hat, sucht er noch die Behauptung, wonach das Positive im Bösen gut ist, d. h. die Leugnung der Realität des Bösen, gegen mögliche Missverständnisse zu wahren. Die Leugnung der Realität des Bösen bedeutet nicht, dass »im Bösen überall nichts Positives sey« oder dass »es gar nicht […] existire«. 201 Schelling hält sich hier somit an die Ergebnisse, die er bereits in den Würzburger Vorlesungen mitgeteilt hatte: In allem Handeln, sowohl in guten als in bösen Handlungen, ist ein Positives. Aber die böse Handlung ist nicht durch dieses Positive böse. Den Unterschied zwischen guten und bösen Handlungen bringt er dort mit den differenten Realitätsgraden der Handlungen in Verbindung. Auf diese Lösung scheint Schelling sich nun in der Freiheitsschrift kritisch zu beziehen, wenn er die Behauptung, dass »im Bösen überall nichts Positives sey« oder dass »es gar nicht […] existire«, dadurch erläutert, dass »alle Handlungen mehr oder weniger positiv, und der Unterschied derselben ein blosses Plus und Minus der Vollkommenheit sey, wodurch kein Gegensatz begründet wird, und also das Böse gänzlich verschwindet«. 202 Und er fügt noch hinzu: Dann wäre die Kraft, die im Bösen sich zeigt, zwar vergleichungsweise unvollkommner, als die, welche im Guten; an sich aber, oder ausser der 198 199 200 201 202

Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353. Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353; Herv. v. Verf. Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353; Herv. v. Verf. Schelling 1809a, 423 f. / SW VII, 353. Schelling 1809a, 424 / SW VII, 353 f.

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Der Begriff des Bösen

Vergleichung betrachtet, doch selbst eine Vollkommenheit, die also, wie jede andre, von Gott abgeleitet werden muss. Das, was wir Böses daran nennen, ist nur der geringere Grad der Perfektion, der aber bloss für unsre Vergleichung als ein Mangel erscheint; in der Natur keiner ist. 203

Die Realitätsdifferenzen waren aber nicht lediglich solche für unsere Betrachtung, sondern in der Natur begründete oder ›objektive‹ Differenzen. Die bisherigen Erklärungsversuche sind, Schelling zufolge, bereits daran gescheitert, dass sie sich an einem unzureichenden Begriff des Bösen orientierten. 204 Der Fehler liegt somit nicht erst in der Art, wie man das Problem zu lösen gesucht habe, sondern bereits in der Formulierung der Aufgabe, die man dabei zugrunde gelegt hat. Der geläufige Begriff des Bösen ist ungenügend, gerade weil er dem Bösen Realität zuschreibt. Dies dürfte verwundern, da nach einer geläufigen Ansicht das Verdienst der Freiheitsschrift gerade darin besteht, zum ersten Mal die Positivität des Bösen hervorgehoben zu haben. Die Rede von einem ›positiven Bösen‹ zur Charakterisierung des schellingschen Begriffs ist indessen leicht irreführend, da er nahelegt, dass damit eine Realität des Bösen behauptet wird. Diese Missverständlichkeit ist desto gravierender, da er eine grundlegende Unterscheidung verschleiert, die den Blick auf die hier von Schelling formulierte Aufgabe zu verstellen droht, und damit an einer richtigen Einschätzung seines Lösungsversuchs insgesamt hindern könnte. Schelling bemerkt in der Tat, dass das Böse »als positive[r] Gegensatz« des Guten gedacht werden muss und ferner, dass »der Grund des Bösen« »in dem höchstem Positiven liegen [muss]«. 205 Damit ist indessen nicht gesagt, dass das Böse selbst etwas Positives, geschweige denn das höchste Positive wäre. Vielmehr heißt es unzweideutig und wiederholt, dass das Böse »kein Wesen [ist], sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität hat, nicht an sich«. 206 So bildet die Krankheit gerade deshalb ein ausgezeichnetes Modell für das Böse, weil auch sie »nichts Wesenhaftes und eigentlich nur ein Scheinbild des Lebens und bloss meteorische Erscheinung desselben« ist, »nichts destoweniger aber dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankün-

203 204 205 206

Schelling 1809a, 424 / SW VII, 354. Vgl. Schelling 1809a, 442–450 / SW VII, 367–373. Schelling 1809a, 443, 445 / SW VII, 367, 369; Herv. v. Verf. Schelling 1809a, 501 / SW VII, 409; Herv. v. Verf.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

digt«. 207 Zwar kündigt das Böse sich dem Gefühl als ›etwas sehr Reelles‹ an, dieses Gefühl darf dennoch nicht dazu verführen, dem Bösen auch wirklich Realität zuzuschreiben, statt in ihm ein bloßes ›Unwesen‹ oder ›Scheinbild‹ zu sehen. Außerdem würden wir durch die Annahme der Realität des Bösen jenes Gefühl selbst unangemessen interpretieren – und eine solche sachgerechte Interpretation des Gefühls hat die Freiheitsschrift sich u. a. zum Ziel gesetzt. 208 Damit hat die Aufgabe sich bereits erheblich kompliziert: Zwar muss das Böse so erklärt werden, dass deutlich wird, weshalb es an sich keine Realität hat und ihm nur ein Schein von Realität zukommt, zugleich muss aber ebenso erklärt werden, weshalb es sich dem Gefühl dennoch als ›etwas sehr Reelles ankündigt‹. 209 Gelingt es jedoch, auch letztere Aufgabe zu lösen, dann hat man, außer den systematischen Schwierigkeiten, die man an solchen Erklärungsversuchen, die die Realität des Bösen voraussetzen, nachweisen kann, ein zusätzliches Argument darin, dass man gezeigt hat, woher diese Voraussetzung selbst ihren Ursprung hat. So kann man dem Gefühl Recht widerfahren lassen, indem man zeigt, woher es kommt und worauf es deutet, ohne dazu genötigt zu sein, das Selbstverständnis zu akzeptieren, das dieses Gefühl zunächst und zumeist begleitet. Zur Lösung dieser Aufgabe führt Schelling nun eben den Begriff eines positiven Gegensatzes ein, d. h. er greift hier, genauso wie in den Würzburger Vorlesungen, auf den kantischen Begriff der Realopposition zurück. Wenn es in der Freiheitsschrift heißt: Es entspringt diese Erklärungsart überhaupt aus dem unlebendigen Begriff des Positiven, nach welchem ihm nur die Beraubung entgegenstehen kann. Allein es giebt noch einen mittleren Begriff, der einen reellen Gegensatz desselben bildet, und von dem Begriff des bloss Verneinten weit absteht[,]

dann fasst Schelling damit den Kerngedanken der kantischen Schrift über die negative Größe zusammen. 210 Es gibt einen unlebendigen Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.; vgl. Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379. Vgl. Buchheim 1997, 132 zu dieser Stelle: »›Meteorisch‹ bedeutet ›schwebend‹ ; ohne eigene Fundamente: das Böse kann sich nur durch den Mißbrauch fremder Kräfte ein Fundament für seine parasitäre Wirklichkeit verschaffen«. 208 Vgl. Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336. 209 Dieses Gefühl ist, insofern es das Böse betrifft, ein solches der Abscheu (vgl. Schelling 1809a, 456 / SW VII, 376) und des Schreckens und des Horrors (vgl. Schelling 1809a, 476 / SW VII, 391). 210 Schelling 1809a, 447 / SW VII, 370. 207

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Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

Begriff des Positiven, dessen unlebendiger Charakter sich daran zeigt, dass man es nur der Beraubung entgegensetzt. Zwischen dem unlebendigen Positiven und der Beraubung gibt es jedoch nur eine logische Opposition: A und – A. Der ›reelle Gegensatz‹ hingegen bildet einen ›mittleren Begriff‹ zwischen dem unlebendigen Positiven und der Beraubung: Wenn das Positive (A) in einem reellen Gegensatz zu etwas stehen soll, dann kann dieses nicht = – A, sondern es muss ein anderes Positives sein (B): A – B. Dabei muss B als die Umkehrung des A gedacht werden, insofern B derart verfasst ist, dass es die Folgen von A (partiell oder auch vollständig) aufzuheben vermag. Die Verfassung von B muss somit – nur unter einem negativen Zeichen – der Verfassung von A entsprechen, da es sonst dessen Folgen gar nicht aufzuheben vermöchte. Von einem mittleren Begriff kann auch deshalb die Rede sein, weil der reelle Gegensatz selbst (nach Kant) in einer Beraubung resultiert: Der reelle Gegensatz zwischen 100 Talern Schulden und 100 Talern Gewinn ist 0, also in der Tat ein Mangel (Zero) an Geld. Doch ist dieser Mangel oder diese Beraubung kein bloßer Mangel, sondern Resultat eines Gegensatzes. Zwar ist im Bösen ein Mangel oder eine Privation festzustellen, nämlich der Mangel eines Strebens nach dem Guten. Aber, so könnte man mit Kant sagen: Dieser Mangel muss einen positiven Grund haben. Um dies zu erläutern, führt Kant folgendes Beispiel an: Wenn ich vorher nie an die Sonne gedacht habe, dann ist das jetzige Fehlen des Gedankens der Sonne nur als ein Mangel zu beschreiben. Wenn ich aber vorher an die Sonne gedacht habe, dann ist das jetzige Fehlen dieses Gedankens nicht aus einer bloßen Privation zu erklären. Zwar bin ich jetzt dieses Gedankens beraubt; für diese Beraubung muss es einen positiven Grund geben, ein anderer Gedanke, der jenen aus meinen Geist verdrängt hat (vgl. NG, AA 2, 190).

6. Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit Nachdem Schelling im dritten Abschnitt von Philosophie und Religion zunächst Eschenmayers Einwände referiert hat, geht er dazu über, seine eigene »Vorstellung« zu entwickeln oder vielmehr einige der im ersten und zweiten Abschnitt entwickelten Theoriestücke in Erinnerung zu rufen, die sich gegen jene Einwände anführen lie-

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ßen. 211 Als wichtigstes Ergebnis des Vorhergehenden streicht er dabei erneut das »Verhältniss von Möglichkeit und Wirklichkeit« des Abfalls heraus. 212 Diese Unterscheidung ermöglicht es, die Erscheinung der Freiheit in der Erscheinungswelt zu erklären. Um dies nachzuweisen, geht Schelling unvermittelt zu einer Erörterung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit über. Die Formel einer Identität von Freiheit und Notwendigkeit ist dem Leser aus früheren Schriften Schellings geläufig, wenn sie dort auch unterbestimmt bleibt. Jedenfalls lässt Schelling keinen Zweifel daran, dass die Freiheit sich nur insofern in einem philosophischen System integrieren lässt, als es gelingt, ihre Identität mit der Notwendigkeit nachzuweisen. Damit hat er zunächst nur eine Anforderung formuliert, die jedoch bereits einen kritischen Gebrauch erlaubt, indem sie sich gegen solche Erklärungsversuche wenden lässt, die einen Gegensatz beider annehmen oder implizieren. 213 Ein solches kritisches Verfahren lässt allerdings noch offen, wie Schelling selbst diese Identität verstanden haben will. Zur Erläuterung unterscheidet Schelling einen dreifachen Sinn von ›Notwendigkeit‹ und ›Freiheit‹. Zunächst geht er auf die Notwendigkeit ein, die im »Seyn der Seele in der Ureinheit« oder in der Idee impliziert ist: Ihrer Möglichkeit oder idealen Verfassung nach ist die Seele in der Idee vorgezeichnet. 214 Ihr kommen insofern, bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Idee oder Potenz, invariante ›Eigenschaften‹ zu. Insofern jede Idee als Darstellung des Absoluten zugleich von diesem abgehoben ist, kann man sie auch als eine Form von Freiheit bezeichnen, die man eine noch ungebundene Freiheit nennen kann, da es noch keine Instanz gibt, der die Freiheit als ein Prädikat zugeschrieben werden könnte. 215 Die Rede von Freiheit ist jedoch bereits hier berechtigt, indem jede Potenz einen Spielraum umreißt, in welchem ein Einzelding, wenn es auch wirklich existiert, eingebunden ist, und der zugleich die Spannweite absteckt, in welcher es sich entfalten kann. So sind einer Pflanze als Fall einer Potenz zwar gewisse Möglichkeiten Schelling 1804, 55 / SW VI, 51. Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. 213 Vgl. die Auseinandersetzung mit Joseph Rückert und Christian Weiß. Da diese ebenfalls eine Identität von Freiheit und Notwendigkeit behaupten, erlaubt die Deutung dieser Identität Schelling, zu zeigen, wie er sie jedenfalls nicht verstanden haben möchte (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105). 214 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. 215 Vgl. Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39. 211 212

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Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

eröffnet, zugleich aber auch andere Möglichkeiten geraubt, wie z. B. solche, die in der Potenz eines tierischen Organismus impliziert sind. Diese Sphäre kann sie zwar nicht überschreiten, ohne dass dies als eine Beschränkung anzusehen ist. Diese Notwendigkeit kann deshalb für die Seele »keine reale Nothwendigkeit« sein. 216 ›Notwendigkeit‹ und ›Freiheit‹ sind hier identisch. Für die Betrachtungsweise, die die Seele nicht nur, insofern sie in der Idee enthalten ist, betrachtet, sondern auch insofern das der Idee »entsprechende Endliche« auch wirklich existiert, treten Freiheit und Notwendigkeit auseinander. 217 Daraus ergeben sich zwei weitere Bedeutungen von ›Notwendigkeit‹ und ›Freiheit‹, da beide nach der Figur der quantitativen Differenz in zweierlei Verhältnisse zueinander treten können. Die Freiheit erscheint hier, zum einen, als an ein Subjekt gebunden. Dieses ist für die Behauptung seiner Freiheit darauf angewiesen, sich auf die Umstände, in welchen es sich findet, einzulassen und in sie einzugreifen. Das handelnde Subjekt ist als Ursache einer Handlung Teil einer Kette von Ursachen und Wirkungen. Deshalb nimmt die Notwendigkeit hier die Gestalt einer Negation oder Einschränkung der Freiheit an, sodass die Rede von einer ›endlichen Freiheit‹ für diese Betrachtungsweise berechtigt ist. Zudem zeichnet sich in seinen Handlungen nach und nach eine ihm verborgene, nicht in das Bewusstsein eintretende Notwendigkeit ab, insofern es die Folgen seiner Handlungen nicht vollständig kontrollieren kann und seine Handlungen eine Art Eigenleben entfalten. Gerade dieses Nicht-Erscheinen oder dieser Rückzug der Notwendigkeit ermöglicht die Überzeugung, frei zu handeln. Insofern wäre diese Gestalt der Freiheit (die Willkür) auch als eine Täuschung zu bezeichnen oder als ein mit dem Bewusstsein gleichursprünglicher Schein. 218 Gegen den ›scheinhaften‹ Charakter dieser Gestalt der Freiheit lassen sich demnach keine Argumente anführen, die sich auf das Bewusstsein, auf die Introspektion oder auf die Selbsterfahrung des Menschen stützen. 219 Vielmehr droht die Frage nach der Freiheit selbst Schelling 1804, 56 / SW VI, 52. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. 218 Interessanterweise erweist dieses Problem sich für Schelling erst im Zusammenhang der Geschichte als besonders dringlich, und nicht, wie durch die Art, wie die heutige Debatte über menschliche Freiheit meistens geführt wird, nahegelegt, im Zusammenhang der Natur (vgl. AA I,9,1, 292–303). 219 Eine aufmerksamere Selbstbeobachtung kann allerdings bereits zur Einsicht in den scheinhaften Charakter der Willkürfreiheit gelangen (vgl. SW VI, 551 (§ 307)). 216 217

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ihr Gewicht und ihre Dringlichkeit zu verlieren, sobald man die Verwicklung der Freiheit als Willkür mit der Notwendigkeit auf irgendeine Weise herunterspielt. Eine Freiheit, die sich durch eine solche Notwendigkeit nicht mehr beunruhigen lässt, wird dadurch zur bloßen Beliebigkeit, die darum nicht weniger eine Notwendigkeit vollzieht, von der sie nichts zu wissen vorzieht. Dass jene Überzeugung sich als täuschend oder wenigstens überzogen erweist, braucht allerdings noch nicht zu besagen, dass die Notwendigkeit, die sich auf jene Weise durchsetzt, auch ohne jene Überzeugung sich durchsetzen könnte. Nur insofern die Individuen von der Freiheit ihres Handelns überzeugt sind, kann jene Notwendigkeit selbst sich überhaupt durchsetzen. In diesem Sinne kann somit immer noch von einer Identität von Freiheit und Notwendigkeit gesprochen werden, da die Notwendigkeit die Freiheit keineswegs direkt aufhebt oder überflüssig macht. Jene ›Illusion‹ ist somit ein Phänomen eigenen Rechts. Zum anderen stellt sich jedoch die Frage, ob und wie »die Seele […] sich der endlichen Nothwendigkeit entziehe[n]« kann, ob und wie sie eine Distanz gewinnen kann zu den Kontexten, in welchen sie sich findet. 220 Wenn die endliche Notwendigkeit mit der Freiheit als Willkür gleichursprünglich ist, dann bedeutet die Frage zugleich, wie die Seele in den Genuss einer anderen Freiheit als derjenigen der Willkür gelangen kann. Um diese Frage zu beantworten, erläutert Schelling das Verhältnis der endlichen zur absoluten Notwendigkeit. Diejenige Seele, die »in der Identität mit dem Unendlichen« ist, »erhebt sich« dadurch über diejenige »Nothwendigkeit, die der Freyheit entgegenstrebt«, und zwar zu derjenigen Notwendigkeit, »welche die absolute Freyheit selbst ist«. 221 Die Zusammengehörigkeit von Freiheit als Willkür und endlicher Notwendigkeit lässt sich somit nur auf eine Identität von absoluter Freiheit und absoluter Notwendigkeit hin überschreiten. Diese ›Identität mit dem Unendlichen‹, die zugleich Erhebung über die endliche zur absoluten Notwendigkeit ist, vollzieht sich in erster Linie im Wissen. Dieses Wissen oder diese Erkenntnis bezeichnet Schelling hier auch als Religion. Der von Schelling in der ersten Hälfte des dritten Abschnitts skizzierte Gedankengang gipfelt befremdlicherweise in einer Bestimmung der Religion. Diese wird zudem überraschenderweise als eine Form der Erkenntnis bestimmt. Schelling schreibt: »Religion, als Er220 221

Schelling 1804, 56 f. / SW VI, 52. Schelling 1804, 57 / SW VI, 52 f.

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Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

kenntniss des schlechthin-Idealen schliesst sich nicht an diese Begriffe an, sondern geht ihnen vielmehr voraus und ist ihr Grund«. 222 Die von Schelling gemeinten ›Begriffe‹ beziehen sich auf den Unterschied zwischen der Seele samt dem durch sie Produziertem (oder der Seele als bloßem »Werkzeug der Ideen«) und der Seele in ihrer »Identität mit dem Unendlichen«. 223 Dementsprechend unterscheidet Schelling zwei Gestalten oder Potenzen von Religion oder Religiosität: Nach der ersten wird Gott oder das schlechthin Ideale als Schicksal erkannt, nach der anderen als Vorsehung. (1.) Wie gesagt wird die Seele als ein wesentlich produktives Prinzip verstanden, wenn Schelling auch zwei Modi des Produzierens unterscheidet. Im ersten Modus bringt die Seele nur Endliches hervor. Das Schlechthin-Ideale wird gerade dann als Schicksal erkannt, wenn die Seele ihre Verwicklung mit dem Endlichen selbst dadurch erkennt, dass ihr zum Bewusstsein kommt, dass sie in der Produktion von Endlichem, durch welche sie nur ihre eigene Freiheit zu realisieSchelling 1804, 57 / SW VI, 53. Innerhalb des 11. Absatzes, der dieser Bestimmung gewidmet ist, kommt das Substantiv ›Erkenntniss‹ einmal, das Verb ›erkennen‹ viermal vor. Diese Bestimmung der Religion richtet sich gegen Eschenmayers Behauptung, dass »sich die Philosophie in der Religion [endigt]« (Eschenmayer 1803, 104 (§ 98)). In den Würzburger Vorlesungen tritt die Bezugnahme noch klarer hervor, da Schelling seine Bestimmung der Religion dort von solchen Bestimmungen absetzt, die er mit für Eschenmayer typischen Ausdrücken charakterisiert (vgl. SW VI, 558 (§ 310)). Dort wird auch die Bedeutung der Erkenntnis oder der Idee Gottes als Achse oder Wendepunkt noch deutlicher als in Philosophie und Religion (vgl. SW VI, 561– 565 (§ 312 f.)). Die Betonung der Bedeutung der Erkenntnis fehlt übrigens auch in den Philosophischen Untersuchungen nicht: »Wir haben gesehen, wie durch falsche Einbildung und nach dem Nichtseyenden sich richtende Erkenntniss der Geist des Menschen dem Geist der Lüge und Falschheit sich öffnet, und bald von ihm fascinirt der anfänglichen Freyheit verlustig wird. Hieraus folgt, dass im Gegentheil das wahre Gute nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden könne, nämlich durch die unmittelbare Gegenwart des Seyenden im Bewusstseyn und der Erkenntniss. Ein willkührliches Gutes ist so unmöglich als ein willkührliches Böses. Die wahre Freyheit ist im Einklang mit einer heiligen Nothwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen Erkenntniss empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden, freywillig bejahen, was nothwendig ist« (Schelling 1809a, 476 f. / SW VII, 391 f.; Herv. v. Verf.). Unter »Religiosität« versteht Schelling »nicht, was ein krankhaftes Zeitalter so nennt, müssiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlen-wollen des Göttlichen. Denn Gott ist in uns die klare Erkenntniss oder das geistige Licht selber, in welchem erst alles andre klar wird, weit entfernt, dass es selbst unklar seyn sollte; und in wem diese Erkenntniss ist, den lässt sie wahrlich nicht müssig seyn oder feyern« (Schelling 1809a,: 477 f. / SW VII, 392; Herv. v. Verf.). 223 Schelling 1804, 57 / SW VI, 52. 222

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ren meinte, doch nur Werkzeug der Notwendigkeit ist, die durch sie hindurch wirkt. 224 Die Seele oder der Wille für sich betrachtet ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet, nämlich die Identität des Individuums mit sich selbst hervorzubringen (vgl. SW VI, 562 (§ 313)). Alle Ziele, die es sich setzt, erweisen sich letztlich nur als Mittel zur Erreichung jenes einen Ziels. Das in diesem Sinne ›höchste Ziel‹ kann sie indessen nur indirekt intendieren. Es ist nie das direkte Ziel des Willens, sondern alles Wollen ist als solches auf dieses Ziel ausgerichtet. 225 Auch noch als irrender Wille bleibt der Wille auf jenes Ziel ausgerichtet. Es steht demnach gar nicht zu seiner Disposition, sich dieses Ziel zu setzen oder nicht. Aus diesem Grund ist übrigens auch die »Disharmonie« nicht als eine »Privation« oder als ein Fehlen der Harmonie, sondern als »die falsche Einheit derselben« zu denken. 226 Jedenfalls ist die Welt so eingerichtet, dass sie das Erreichen jenes Ziels der Identität zwar nicht schlechthin verhindert, wohl aber, dass es auf bestimmte Wege zu erreichen sei. So schließt das Vorherrschen des Eigenwillen die Seligkeit oder Identität schlechthin aus. 227 Der so strukturierte Wille verfehlt notwendigerweise sein eigentliches oder höchstes Ziel, die Identität mit sich selbst, und resultiert demnach notwendigerweise in einem falschen Leben. Gerade darin, dass ein derart strukturierter Wille daran scheitert, sein eigentliches Ziel zu erreichen, zeigt sich noch eine Spur der Identität auch in der abgebildeten Welt. Die Einsicht in den notwendigen Charakter dieses Scheiterns ist die Erfahrung der Identität als Schicksal. Die Erfahrung der Identität als Schicksal setzt somit den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit voraus (vgl. SW V, 688). Insofern beide im Einklang sind und alle äußeren Umstände sozusagen zusammenlaufen, um die Absichten der Freiheit zum glücklichen Erfolg zu führen, erscheint die Notwendigkeit nicht als Schicksal, sondern eher als Glück, Gunst, als glück-

Im System des transscendentalen Idealismus wurde diese Verwicklung ausführlich erörtert (vgl. AA I,9,1, 255–279). 225 Es ist unschwer zu sehen, wie bereits diese Analyse des Wollens eine bestimmte Zeitkonzeption impliziert: Insofern der Wille auf jene Identität ausgerichtet ist, ist diese dadurch als etwas Vergangenes und als etwas Zukünftiges gesetzt. Die Gegenwart ist dadurch als ein Abfall oder ein Verlust einer ursprünglichen Identität gesetzt, die nur durch eigene Leistung wiedererlangt werden kann. 226 Schelling 1809a, 448 / SW VII, 371. 227 Schelling scheint sich auch hier der platonischen Lehre anzuschließen, die Wolfgang Wieland als einer solchen des irrenden Willens analysiert hat (vgl. Wieland 1982, 263–280). 224

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Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

licher Zufall, insofern sie dasjenige, was die Freiheit aus eigener Kraft nicht zu leisten fähig ist, hinzubringt, da der Erfolg ihrer Unternehmungen immer auch von äußeren Umständen abhängt, die sie nicht in ihrer Gewalt hat. Als Schicksal wird die Notwendigkeit dort erfahren, wo sie der Freiheit entgegengesetzt ist und sie durchkreuzt. Sie wird demnach als eine Art Zwang empfunden. Die Erfahrung des Schicksals geht insofern bereits darüber hinaus, als darin zugleich der Gegensatz und die Identität empfunden wird. Diese Verwicklung zu erkennen heißt, dass die Seele zugleich zu einer Erkenntnis ihrer selbst (als endlich) und des Absoluten (als Schicksal) gelangt. Insofern die Seele Werkzeug des Absoluten ist, hat sie zum Absoluten nur ein indirektes Verhältnis, nämlich als zum Grund ihrer Existenz: Die »absolute Identität« ist »unabhängig von allem Handeln, […] als das Wesen oder An-sich alles Handelns«. 228 Im Handeln selbst bekundet sich die Identität und gibt sich zugleich als von allem Handeln unabhängig zu erkennen. (2.) Die Identität von Freiheit und Notwendigkeit zu erkennen ist der »erste Grund der Sittlichkeit«. 229 Die beiden Weisen, wie jene Identität erkannt werden kann, stehen nämlich in einem bestimmten Verhältnis, sodass die Erkenntnis der ersten Weise Grundlage und Voraussetzung der Erkenntnis der zweiten ist. Von der Erkenntnis jener Identität als Schicksal ist es nur ein Schritt, jene Identität auch als Vorsehung zu erfahren. Die Erkenntnis jener Identität als Vorsehung vollzieht sich als die Einsicht, dass der Wille nur aufgrund seiner widersprüchlichen Verfassung daran scheitert, sein ›höchstes Ziel‹ zu erreichen, oder als die Einsicht, dass in der Einrichtung auch der ideellen Welt Weisheit oder Vernunft waltet. Auch insofern sie als Vorsehung erkannt wird, ist die Identität von Freiheit und Notwendigkeit in dieser Gestalt vom Handeln unabhängig. Dort, wo Schelling seine Konzeption der Tugend näher präzisiert, wird klar, dass die Vorsehung in der Identität oder Entsprechung von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht. Der Begriff einer ›Vorsehung‹ verlangt, wie wir noch sehen werden, zu seiner Vervollständigung, dass nicht nur der Einzelne, sondern die ganze Gattung in derselben einbezogen ist. Mit dieser Bestimmung der Religion verknüpft Schelling im folgenden Absatz die Folgerung, dass in keinem der beiden Fälle Gott als 228 229

Schelling 1804, 57 / SW VI, 53. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53; Herv. v. Verf.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

eine »Foderung« oder Postulat der Moral gedacht wird. 230 Nachdem er sich bislang sittlicher Begriffe bedient hatte, hebt Schelling jetzt hervor, dass Religion die eigentliche Grundlage derselben ist. Den beiden Formen der Sittlichkeit entsprechen zwei Gestalten von Religion. Beachtet man die doppelte Weise, wie Gott erkannt werden kann, nämlich als Schicksal oder als Vorsehung, dann dürfte es auch weniger verwundern, wenn Schelling ein wenig später bemerkt, dass nur der, der Gott, »auf welche Weise es sey«, und das heißt hier: gleichgültig, ob er ihn auf die erste Weise, als Schicksal, oder auf die zweite Weise, als Vorsehung, »erkennt«, »erst wahrhaft sittlich« ist. 231 Der Unterschied der Erkenntnisweise und demnach zwischen Schicksal und Vorsehung ist für die Sittlichkeit somit zunächst indifferent. Derjenige, der Gott so oder so erkennt, ist wahrhaft sittlich, erstens, »weil das Wesen Gottes und das der Sittlichkeit Ein Wesen ist«, und, zweitens, »weil dieses [dieses Wesen als gleiches Wesen Gottes und der Sittlichkeit, R. S.] in seinen Handlungen ausdrücken eben so viel ist als das Wesen Gottes ausdrücken«. 232

7. Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte Bislang hat Schelling gezeigt, wie die Freiheit und die Tugend sich mittels der grundlegenden Unterscheidung des Grundes der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Abfalls in sein System integrieren lassen: Ob die einzelne Seele den Abfall rückgängig macht und die in ihrer Natur vorbehaltene Wesenserfüllung auch realisiert, kann nur ihr selbst zugeschrieben werden. Dadurch erhält die doppelte Möglichkeit auch eine sittliche Bedeutung. Die Verwirklichung des eigenen Wesenspotentials geschieht demnach aus Freiheit. Diese Möglichkeit tendiert somit nicht aus sich selbst zu ihrer Verwirklichung. An diesem Punkt von Philosophie und Religion gibt Schelling diesem Gedanken eine überraschende neue Wendung: Wenn der Grund der Wirklichkeit des Abfalls bzw. der Wiederherstellung der Absolutheit nicht ausschließlich in der einzelnen Seele läge, sondern im Absolu-

In seinem System wird also nicht »die Religion aus der Moral« abgeleitet, wie bei Eschenmayer 1803, 35 (§ 45), 43 (§ 51): Die Religion ist »Grund der Sittlichkeit« und nicht umgekehrt (Schelling 1804, 57 / SW VI, 53). 231 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53. 232 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53. 230

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Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

ten selbst, dann würde diese Möglichkeit sich eo ipso verwirklichen, ohne eigenen Beitrag der einzelnen Seele. Stattdessen ist der Mensch zwar der Möglichkeit nach vernünftig, aber durch seine bloße Existenz noch nicht auch wirklich vernünftig. Vielmehr bedarf er der Erziehung, um diese in seiner Natur liegende Möglichkeit auch realisieren zu können. Damit scheint nun das Gelingen oder Nicht-Gelingen nicht mehr nur vom einzelnen Menschen, sondern von der ganzen Gattung abzuhängen. Gerade an diesem Punkt zeigt sich eine enge Verflechtung des Individuums mit der ganzen Gattung. Für diese Behauptung stützt Schelling sich auf die Beobachtung der Menschheit in ihrer gegenwärtigen Gestalt: Die Erfahrung spricht zu laut aus, dass der Mensch, wie er jetzt erscheint, der Bildung und Gewöhnung durch schon Gebildete bedarf, um zur Vernunft zu erwachen und dass Mangel der Erziehung zur Vernunft in ihm auch bloss thierische Anlagen und Instincte sich entwickeln lässt: als dass der Gedanke als möglich erschiene: das gegenwärtige Menschengeschlecht habe sich von sich selbst aus der Thierheit und dem Instinct zur Vernunft und zur Freyheit emporgehoben. 233

Schelling erwägt damit die Hypothese, wonach das Menschengeschlecht in seiner jetzigen Verfassung, wie diese sich der genaueren Beobachtung oder der Erfahrung erschließt, ›sich von sich selbst aus der Thierheit und dem Instinct zur Vernunft und zur Freyheit emporgehoben‹ hätte. Nähere Überlegung zeigt jedoch, dass diese Hypothese nicht genügt. In der Erfahrung zeigt sich nämlich keine solche natürliche Tendenz von der ›Thierheit‹ zur Vernünftigkeit. 234 Dies Schelling 1804, 65 / SW VI, 57 f.; Herv. v. Verf. Vgl.: »daß der erste Ursprung der Religion überhaupt, so wie jeder andern Erkenntniß und Cultur allein aus dem Unterricht höherer Naturen begreiflich ist, alle Religion also in ihrem ersten Daseyn schon Ueberlieferung war« (Schelling 1803a, 167 / SW V, 286). 234 »Es wäre hier nicht der Ort, mit allen Gründen, deren diese Behauptung fähig ist, zu beweisen, daß alle Wissenschaft und Kunst des gegenwärtigen Menschengeschlechts eine überlieferte ist. Es ist undenkbar, daß der Mensch, wie er jetzt erscheint, durch sich selbst sich vom Instinct zum Bewußtseyn, von der Thierheit zur Vernünftigkeit erhoben habe. Es mußte also dem gegenwärtigen Menschengeschlecht ein anderes vorgegangen seyn, welches die alte Sage unter dem Bilde der Götter und ersten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts verewigt hat. Die Hypothese eines Urvolks erklärt bloß etwa die Spuren einer hohen Kultur in der Vorwelt, von der wir die schon entstellten Reste nach der ersten Trennung der Völker finden, und etwa die Uebereinstimmung in den Sagen der ältesten Völker […]: aber sie erklärt keinen ersten Anfang und schiebt, wie jede empirische Hypothese, die Erklärung nur weiter zurück« (Schelling 1803a, 31 f. / SW V, 224 f.; Herv. v. Verf.). Ferner Schelling 1803a, 233

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zeigt sich bereits am Einzelnen, der ohne Erziehung nur »thierische Anlagen und Instincte« entwickelt. 235 Dieser kann somit nur so »zur Vernunft erwachen« und des vernünftigen Denkens fähig werden, wenn er von anderen dazu angeleitet und erzogen wird. 236 Aus eigener Kraft und ohne Anleitung und Hilfe von Anderen ist er dazu nicht fähig: Jeder Einzelne wird in eine bereits bestehende Kultur hineingeboren. Diese Überlegung lässt sich verallgemeinern: Wenn der Einzelne auf Erziehung durch Andere angewiesen ist, dann gilt dies genauso für diese selbst. Auch sie müssen irgendwann erzogen worden sein. Diese sich an der Erfahrung orientierenden Überlegungen führen damit zu einem regressus in infinitum. Dieser lässt sich nur durch die Annahme vermeiden, es habe irgendwann eine Menschheit gegeben, die keiner Erziehung bedürftig war, sondern die »durch sich selbst«, durch eine natürliche und kontinuierliche Entwicklung, von der Tierheit zur Vernünftigkeit übergegangen ist. 237 Es gibt somit nur zwei Möglichkeiten: entweder einen regressus in infinitum oder die Annahme eines der Erziehung nicht bedürftigen Menschengeschlechts. Letztere Annahme vermag sich allerdings nicht mehr auf Erfahrung zu stützen, sondern sie ist eine bloße Hypothese, die die Erfahrung erklären soll. 238 Diese Annahme versucht Schelling so konsequent und radikal möglich zu durchdenken, da nur mittels ihrer die Beschaffenheit des Menschen, ›wie er jetzt erscheint‹, erklärbar scheint, ohne in einen Regressus zu verfallen. Ein solches nicht der Erziehung bedürftiges Menschengeschlecht müsste von Natur aus 168 / SW V, 287, wonach der Naturzustand nicht als ein »Zustand der Barbarey« gedacht werden kann, sondern die Barbarei selbst sich nur als ein Zustand nach dem Untergang einer Kultur denken lässt. Ferner Schelling 1809a, 510 / SW VII, 415: »Wir hegen die grösste Achtung für den Tiefsinn historischer Nachforschungen, und glauben gezeigt zu haben, dass die fast allgemeine Meynung, als habe der Mensch erst allmälig von der Dumpfheit des thierischen Instinkts zur Vernunft sich aufgerichtet, nicht die unsrige sey«. Die Stellen, wo Schelling dies in der Freiheitsschrift gezeigt hat, können nur die sein, wo er mittels des Begriffs der ›Zertrennlichkeit der Prinzipien‹ den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nachgewiesen hat (vgl. Schelling 1809a, 450 / SW VII, 372) sowie die, die vom Wesensunterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart handeln (vgl. Schelling 1809a, 459–461 / SW VII, 379 f.). 235 Schelling 1804, 65 / SW VI, 58. 236 Schelling 1804, 65 / SW VI, 58. 237 Schelling 1804, 66 / SW VI, 58. 238 Beachte: »weist auf«, »anzunehmen« (Schelling 1804, 65 / SW VI, 58), »überzeugt uns alles« (Schelling 1804, 66 / SW VI, 59), »gern vorstellen« (Schelling 1804, 67 / SW VI, 59).

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Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

mit allen Mitteln der Kultur und der Wissenschaft ausgestattet sein. Nur dann würde es sich auch als Erzieher der gegenwärtigen Menschengattung eignen. Für diese Hypothese führt Schelling Belege aus mythischen Erzählungen und Sagen an. 239 So haben »die Sagen aller Völker in dem Mythos des goldnen Zeitalters« jenen »Zustand bewusstloser Glückseligkeit« »erhalten«. 240 Allerdings können nur solche Mythen und Sagen als Belege für jene Hypothese gelten, wofür sich bei allen Völkern Parallelen auffinden lassen. 241 Damit ist eine grundsätzliche Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart behauptet. Dieser entspricht eine eigene Erkenntnisart. Während die Verfassung der gegenwärtigen Menschengattung sich durch Erfahrung erschließt, sind wir für eine Vorstellung der vergangenen Menschheit auf Hypothesen angewiesen. Der Mensch der Vergangenheit ist der Mensch im Naturzustand. 242 Dieser entspricht, so wie er wirklich ist, ganz seiner idealen Verfassung oder dem, was er seiner Natur nach sein könnte. Das Eigentümliche dieses Naturzustandes besteht darin, dass dieser nicht dem Kulturzustand entgegengesetzt ist, der, nach der entgegengesetzten Hypothese, erst am Ende eines Prozesses eintreten könnte, sondern dass der Naturzustand, so wie ihn Schelling konzipiert, durch und durch Kulturzustand ist: Der Mensch ist in diesem Zustand von Natur aus mit Kunst, Wissenschaft und Religion ausgestattet, ohne dass er dazu eine besondere Leistung zu erbringen braucht. Dort ist »die Möglichkeit der Vernunft« zugleich auch »die Wirklichkeit« derselben: Dieser Mensch bedarf keiner Erziehung oder Überlieferung, sondern er ist »der Vernunft unmittelbar durch sich selbst theilhaftig«. 243 Vor allem ist er alles, was er ist, ohne Bewusstsein, »in Schelling 1804, 64 f. / SW VI, 57: Nachdem über diesen »Gegenstand« bislang »nur die Religion Unterricht ertheilte«, so wird jetzt die »Philosophie« »in jenen gränzenlos dunkeln Raum das Licht der Wahrheit zu verbreiten« suchen, »den Mythologie und Religion für die Einbildungskraft mit Dichtungen angefüllt haben« (Herv. v. Verf.). Sie tut dies dadurch, dass sie eine konsistente Hypothese aufstellt, die nicht nur imstande ist, die Verfassung der gegenwärtigen Menschengattung, sondern auch den Grund solcher mythologischen Dichtungen einsichtig zu machen. 240 Schelling 1804, 67 / SW VI, 59; Herv. v. Verf. 241 Vgl.: »allerwärts und nach den Ueberlieferungen der ersten und ältesten Völker« (Schelling 1804, 68 / SW VI, 59; Herv. v. Verf.). 242 Damit positioniert Schelling sich in der Debatte über den Naturzustand, der spätestens seit Hobbes, Spinoza und Rousseau ein zentrales Theoriestück jeglicher politischer Philosophie bildet. 243 Schelling 1804, 66 / SW VI, 58. 239

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unbewusster Herrlichkeit« und »bewusstloser Glückseligkeit«. 244 Das Besondere der gegenwärtigen Periode hingegen ist, dass Kultur sich nur mittels eigener Leistung erarbeiten lässt. Erst in dieser zweiten Periode gibt es somit eine Trennung von Natur- und Kulturzustand. 245 Diese Erwägungen richten sich, erstens, insbesondere gegen die Annahme einer linearen und kontinuierlichen, ununterbrochenen Entwicklung der Geschichte. Aus dieser Konzeption lässt sich, zweitens, die Folgerung ziehen, dass der gegenwärtige Kulturzustand, wenn er nur durch Überlieferung und Erziehung in Stand gehalten wird, ständig gefährdet ist: Während die Kultur in der ersten Epoche den Menschen von Natur mitgegeben ist und sie demnach nicht auf Überlieferung angewiesen ist, da droht der Faden im Kulturzustand der gegenwärtigen Epoche ständig abzureißen. 246 Das Ende der ersten Epoche kann, drittens, nur durch ein zufälliges Ereignis von außen erklärt werden, da in ihr selbst kein Grund enthalten sein kann, der ihr Ende herbeiführt. Der Übergang von der ersten zur zweiten Epoche lässt sich somit nur durch eine Naturkatastrophe erklären. Schelling schließt: Nach diesen Prämissen, bleibt nichts anders übrig, als anzunehmen, dass die gegenwärtige Menschengattung die Erziehung höherer Naturen genossen, sodass dieses Geschlecht, in dem bloss die Möglichkeit der Vernunft, aber nicht die Wirklichkeit wohnt, sofern es nicht dazu gebildet wird, alle seine Kultur und Wissenschaft nur durch Ueberlieferung und durch Lehre eines früheren Geschlechtes besitzt, von dem es die tiefere Potenz oder das Residuum ist, und welches, der Vernunft unmittelbar durch sich selbst theilhaftig, nachdem es den göttlichen Samen der Ideen, der Künste und Wissenschaften auf der Erde ausgestreut von ihr verschwunden ist. 247

Schelling 1804, 66 f. / SW VI, 58 f. Schelling knüpft damit an die in der damaligen Geschichtswissenschaft virulent diskutierte Frage nach den Ursachen des Untergangs Roms an. Zur Erklärung dieses Phänomens wurden Katastrophentheorien entwickelt, die eine »teilweise oder vollständige Veränderung der Erde und der auf ihr angesiedelten menschlichen Kultur durch geologische bzw. kosmologische Ereignisse«, wie beispielsweise eine Veränderung des Klimas durch Verschiebung der Erdachse, erwogen (Petri 1990, 30 f.). Vgl. auch Schelling 1803c, 161–174 / SW IV, 497–508. 246 Diesem Kulturzustand scheint aber die Schrift zu fehlen bzw. er scheint ihrer gar nicht zu bedürfen. Jedenfalls gibt es aus jener Epoche keine schriftliche Zeugnisse; nur Sagen berichten davon, die erst in einer späteren Epoche schriftlich fixiert wurden. 247 Schelling 1804, 65 f. / SW VI, 58. 244 245

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Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Diese Konstruktion der Vergangenheit soll plausibel machen, dass die Verfassung des ›gegenwärtigen Menschengeschlechts‹ als ein Abfall von einem ursprünglicheren Zustand gedacht werden muss. Dadurch wird erneut der allgemeine Charakter des Abfalls betont. 248 Die ganze Konstruktion ist jedoch nur der erste Teil des Nachweises, dass Gott »eben so in Bezug auf die Gattung das gleiche Wesen der Freyheit und der Nothwendigkeit« ist, wie er dies in Bezug auf den Einzelnen war. 249 An den Nachweis der gegenwärtigen Verfassung der Menschheit als nicht-ursprünglich muss sich allerdings, wie sich weiter unten noch zeigen wird, eine Konstruktion der Zukunft anschließen, durch welche Gott sich als Identität von Freiheit und Notwendigkeit bewährt. Die Überlegungen zu ›Endabsicht und Anfang der Geschichte‹ bilden somit die genaue Entsprechung zu jener Konstruktion der Perioden der Geschichte, wie Schelling sie zu diesem Zeitpunkt bereits andernorts skizziert hatte. 250 Obwohl der Mensch der Entwicklung des Abfall-Begriffs im zweiten Abschnitt zufolge aus der Naturordnung herausgefallen ist, heißt dies somit noch nicht, dass er damit aus jeglicher Ordnung herausgefallen ist. Vielmehr tritt er durch jenen Abfall in die Ordnung der Geschichte oder in eine geschichtliche Ordnung ein. Der Nachweis einer Periodizität der Geschichte soll dazu beitragen, den Gedanken plausibel zu machen, dass die Geschichte als eine Ordnung zu denken ist und nicht gänzlich von der Beliebigkeit oder dem Zufall regiert wird. Schelling hat diese Perioden der Geschichte mehrmals dargestellt. Diese Darstellungen erweisen sich dadurch besonders geeignet, den Leser zu verwirren, dass sie erheblich voneinander abweichen. Es ist sogar nicht leicht zu ersehen, ob Die Aufgabe ist also analog zur Aufgabe, die »universelle Wirksamkeit« des Bösen oder das Böse »als ein unverkennbar allgemeines […] Prinzip« zu erweisen (Schelling 1809a, 451 / SW VII, 373; Herv. v. Verf.). 249 Schelling 1804, 63 / SW VI, 56. 250 Vgl. Heidegger 1988, 260: »Für uns Spätergekommene haben diese Entwürfe der Weltgeschichte etwas Befremdliches, so daß wir uns bezüglich ihrer eigentlichen Absicht nicht sogleich zurechtfinden und leicht in Mißdeutungen verfallen«. Was besonders an einem rechten Verständnis dieser ›Entwürfe‹ hindert, ist, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, das Vorherrschen eines positivistischen, historistischen oder hegelschen Vorbegriffs von Geschichte. Heideggers Beobachtung wird indirekt dadurch belegt, dass z. B. Christian Brouwer in einem ausführlichen Kommentar zur Freiheitsschrift die Konstruktion der Perioden der Geschichte weitgehend übergeht und lediglich eine eschatologische Deutung der dritten Periode durchführt (Brouwer 2011, 272–295). Auch in Höffe/Pieper 1995 wird diese Stelle übergangen. 248

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sie überhaupt kompatibel sind. Obwohl Schelling selbst die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf diese Abweichungen lenkt, hat man diese bislang überspielt oder einfach ignoriert. Hinzu kommt, dass Schelling es für nötig gehalten hat, als Belege für diese Periodizität einige – nur höchst summarisch ausgearbeitete – Beispiele aus der ›wirklichen‹ Geschichte anzuführen, die den Sinn dieser Konstruktionen zusätzlich vernebeln. Jedenfalls verdienen die verschiedenen Darstellungen der Periodizität der Geschichte die genaueste Beachtung. Eine erste Konstruktion der Perioden der Geschichte findet sich im System des transscendentalen Idealismus. 251 Die Beschreibung der ersten Periode ist insofern merkwürdig, als sie suggeriert, dass noch eine weitere ihr vorangehende Periode anzunehmen sei, da es von der ersten Periode heißt, sie sei diejenige, »in welcher das Herrschende nur noch als Schicksal, d. h. als völlig blinde Macht kalt und bewußtlos auch das Größte und Herrlichste zerstört« (AA I,9,1, 302; Herv. v. Verf.). 252 Dies impliziert, dass es eine Periode gegeben haben muss, wo das Herrschende noch nicht nur als Schicksal waltete, eine solche, wozu eben ›das Größte und Herrlichste‹ gehört, das in der ersten Periode zerstört wird. Nach dieser Konstruktion fängt die Geschichte mit Untergang und Zerstörung an. Die Schwierigkeit ließe sich lösen, wenn man annimmt, dass jene ›Periode‹ noch nicht im eigentlichen Sinne zur Geschichte gehört, sondern vielmehr als eine vor-geschichtliche Periode zu denken ist. Diese Annahme wird auch dadurch unterstützt, dass zur ersten Periode »der Untergang des Glanzes« gehört und der Wunder der alten Welt, der Sturz jener großen Reiche, von denen kaum das Gedächtniß übrig geblieben, und auf deren Größe wir nur aus ihren Ruinen schließen, der Untergang der edelsten Menschheit, die je geblüht hat, und deren Wiederkehr auf die Erde nur ein ewiger Wunsch ist. (AA I,9,1, 302)

Vor der ersten Periode gab es somit bereits eine ›alte Welt‹. Insofern wir auf diese nur schließen können, scheint es durchaus berechtigt, Eine noch frühere Konstruktion der Geschichte findet sich in Antiquissimi de Prima Malorum Humanorum Origine Philosophematis Genes. III. explicandi Tentamen Criticum et Philosophicum (vgl. AA I,1, 93–99). Dazu Jacobs 1993, 187–210. 252 Vgl. Marquet 2012, 25: »[S]i le premier moment de l’Histoire est celui du destin, si le destin se résume à l’événement unique de la ruine du monde antique, faut-il en conclure que ce monde antique n’appartient pas lui-même à l’Histoire? On ne saurait, en tout cas, l’identifier à ›l’âge d’or‹«. 251

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sie als eine vor-geschichtliche Welt zu bezeichnen. Die Identifizierung dieser ›alten Welt‹ mit dem antiken Griechenland wird dadurch erschwert, dass von ›großen Reichen‹ die Rede ist. Das römische Imperium ist insofern ein unwahrscheinlicher Kandidat, als es heißt, dass uns davon ›kaum das Gedächtniß übrig geblieben‹. Die zweite Periode zeichnet sich dadurch aus, dass das Schicksal sich jetzt als Natur zeigt. Da Schelling das Schicksal als eine ›völlig blinde Macht‹ bezeichnete, muss die Natur als eine nicht völlig blinde Macht gedacht werden: Das anfangs »dunkle Gesetz« verwandelt sich in ein »offenes Naturgesetz« (AA I,9,1, 303). Allerdings ist nicht leicht zu ersehen, wie die »mechanische Gesetzmäßigkeit in der Geschichte« sich vom Schicksal unterscheidet (AA I,9,1, 303). Die Schwierigkeit ließe sich lösen, wenn man annimmt, dass sich vor allem das Verhältnis des Menschen zu jener ›Gesetzmäßigkeit‹ gewandelt hat: Was dieser anfangs als Schicksal empfand, empfindet er nun als ein Naturgesetz oder als eine solche Gesetzmäßigkeit, die er auch zu durchschauen und nach welchem er sein Handeln auszurichten vermag. Eine zweite Natur kann eingerichtet werden, die solchen Gesetzmäßigkeiten Rechnung trägt. Diese Periode setzt Schelling nun mit der Entwicklung des römischen Imperiums und damit mit einer bestimmten Staatsordnung gleich. Dies war auch in der ersten Periode der Fall, in dem von ›großen Reichen‹ die Rede war, deren Entstehung und Einrichtung vielmehr dem Zufall und trial and error zu verdanken waren (vgl. AA I,9,1, 283). Ihr Untergang und Sturz wurde zwar dem Schicksal zugeschrieben, könnte aber seinen Grund auch darin haben, dass diese Reiche nicht den Naturgesetzmäßigkeiten gemäß eingerichtet waren. In den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium gibt Schelling eine weitere Darstellung der Periodizität, die indessen von derjenigen im System signifikant abweicht. Indem Schelling an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweist, dass er »schon anderwärts (im System des transcendentalen Idealisums) gezeigt [habe], daß wir überhaupt drey Perioden der Geschichte […] annehmen müssen«, lädt er den Leser förmlich dazu ein, die entsprechende Stelle nachzuschlagen und beide Konstruktionen der drei Perioden der Geschichte miteinander zu vergleichen. 253 Leistet der Leser dieser Anweisung Folge, dann können ihm die Abweichungen der neueren von der früheren Durchführung kaum entgehen. Da Schelling selbst auf die frü253

Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.

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here Darstellung verweist, können wir füglich annehmen, dass auch ihm selbst die Unterschiede nicht entgangen sind. In der neueren Durchführung unterscheidet Schelling als die »drey Perioden der Geschichte« jetzt »die der Natur, des Schicksals und der Vorsehung«. 254 Die Bezeichnung der dritten Periode ist somit in beiden Darstellungen dieselbe. Die Bezeichnungen der ersten und der zweiten Periode werden jedoch vertauscht. »Diese drey Ideen [gemeint sind die ›Perioden der Geschichte‹, R. S.] drücken dieselbe Identität, aber auf verschiedene Weise aus«. 255 Jede der drei Perioden bezeichnet ein unterschiedliches Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Nimmt man letztere als Potenzen, dann lassen sie unterschiedliche Verhältnisse oder quantitative Differenzen zu. Die Perioden der Geschichte lassen sich somit als unterschiedliche Zeitmodi a priori konstruieren – da es nur drei mögliche Verhältnisse jener Potenzen gibt: eine ursprüngliche Identität, den Gegensatz oder die Entzweiung und eine auf Entzweiung beruhende oder wiederhergestellte Identität. Auffällig ist nun, wie Schelling den Unterschied der Perioden mit der unterschiedlichen Art, wie jene Identität erkannt wird, in Verbindung bringt: »Auch das Schicksal ist Vorsehung, aber im Realen erkannt, wie die Vorsehung auch Schicksal ist, aber im Idealen angeschaut«. 256 Dem Schicksal entspricht ein Erkennen, der Vorsehung hingegen ein Anschauen. Zur der ersten Periode entsprechenden Erkenntnisart äußert Schelling sich nicht. Wenn Schelling die erste Periode jetzt als die der Natur bezeichnet, dann fällt sie nicht mehr mit der ersten Periode zusammen, wie sie im System charakterisiert wurde. Sie wird nicht als die Periode des Untergangs und des Sturzes charakterisiert, sondern vielmehr scheint mit ihr jetzt die im System bloß implizierte vor-geschichtliche Periode gemeint, da Schelling als Beispiel die »Zeit der schönsten Blüthe der griechischen Religion und Poesie« anführt. 257 Allerdings scheint auch dies erneut kontraintuitiv, da diese Blüte schon zur geschichtlichen Zeit zu gehören scheint, es sei denn, man sieht in den Früchten dieser Blüte, wie beispielsweise in Homer, nur die Erinnerung an jene vorgeschichtliche Zeit. Auch der Naturbegriff, mit welchem Schelling hier operiert, ist ein anderer als noch im System, da er die zweite 254 255 256 257

Schelling 1803a, 175 / SW V, 290. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; Herv. v. Verf. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.

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Periode dort deshalb als die der Natur bezeichnete, weil sie die Periode der mechanischen Naturgesetzmäßigkeit ist. In der Charakterisierung sowohl der ersten als auch der zweiten Periode tritt eine befremdliche grammatikalische Unklarheit auf, indem es bezüglich der ersten Periode heißt, dass die »ewige Nothwendigkeit […] sich, in der Zeit der Identität mit ihr, als Natur [offenbart]«, ohne dass unmittelbar klar ist, worauf sich dieses ›ihr‹ bezieht. 258 Es kann sich eigentlich nur auf die ›ewige Nothwendigkeit‹ beziehen, nur bleibt dann undeutlich, wer oder was sich in der Identität mit ihr befindet. Die Schwierigkeit ließe sich so lösen, dass in diesem Satz der Mensch ausgeklammert, aber dennoch stillschweigend mit begriffen ist, so, dass die ›ewige Nothwendigkeit‹ in der Zeit, da der Mensch sich mit ihr in Identität befindet, sich diesem Menschen als Natur offenbart. Gemeint ist also die Zeit, in der der Mensch noch bloß als Naturwesen ist. 259 Ähnlich heißt es zur Charakterisierung der zweiten Periode, dass die ewige Notwendigkeit sich »[m]it dem Abfall von ihr […] sich als Schicksal [offenbart], indem sie in den wirklichen Widerstreit mit der Freyheit tritt«. 260 Gerade der Abfall von ihr lässt eine neue Dimension der ›ewigen Nothwendigkeit‹ in Erscheinung treten. Damit scheint gesagt, dass auch in der ersten Periode Freiheit sein muss. Die zweite Periode bezeichnet Schelling in den Vorlesungen als die des Schicksals, mit einer Bezeichnung also, die er im System der ersten Periode vorbehalten hatte. Zudem charakterisiert er sie auf ähnliche Weise, indem er sagt, dass dies »das Ende der alten Welt« war, »deren Geschichte eben deswegen im Ganzen genommen als die tragische Periode betrachtet werden kann«. 261 Es muss verwundern, dass Schelling die ›alte Welt‹ jetzt plötzlich als die ›tragische Periode‹ bezeichnet. Eher würde man meinen, dass vielmehr die zweite Periode die tragische ist, da die Notwendigkeit sich erst hier als Schicksal zeigt. In der Charakterisierung der ersten Periode war auch nichts, was ihre Kennzeichnung als eine tragische zu rechtfertigen scheint. Es ist auch kaum wahrscheinlich, dass die erste Periode nachträglich erst vom Standpunkt der zweiten Periode aus als tragisch empfunden wird, da jene gerade dann erst recht als das goldene Zeitalter erscheinen müsste, nämlich als eine Zeit, da das Bewusstsein der ›Sünde‹ 258 259 260 261

Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; ähnlich auch SW V, 429. Vgl. Schelling 1809a, 459 / SW VII, 378. Schelling 1803a, 175 f. / SW V, 290. Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.

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noch fehlte, als eine Zeit der bewusstlosen Hingabe an die Natur. Die Charakterisierung der dritten Periode, die der Vorsehung, ist genauso befremdlich. Sie wird als eine »freywillige Unterwerfung« bezeichnet, »in der die Freyheit als besiegt und siegend zugleich aus dem Kampf hervorgeht«. 262 Mit genau solchen Ausdrücken hatte Schelling in den Philosophischen Briefen aber eben das Wesen des Tragischen charakterisiert (vgl. AA I,3, 107). 263 Jedenfalls wird die dritte Periode, den früheren und späteren Darstellungen entsprechend, als die der »bewußte[n] Versöhnung« charakterisiert. 264 Während das Christentum im System nicht erwähnt wurde, heißt es jetzt, dass es »in der Geschichte jene Periode der Vorsehung ein[leitet]«. 265 Das Christentum ist demnach nicht die dritte Periode selbst, sondern leitet sie bloß ein oder vollzieht nur den Übergang von der zweiten zur dritten Periode. Es ist somit nicht selbst die Versöhnung. Vielmehr behauptet Schelling von ihm, dass es für den Abfall oder für das »Abbrechen des Menschen von der Natur« verantwortlich ist, indem es die »Hingabe« an die Natur mit dem Bewusstsein der Sünde verknüpft und sie als sündhaft zu empfinden lehrt. 266 Nur das Bewusstsein der Sündhaftigkeit kann erst überhaupt ein Verlangen nach Versöhnung entstehen lassen. Präziser formuliert: Jenes Bewusstsein und dieses Verlangen sind ein und dasselbe. Deshalb bemerkt Schelling, dass das »Bewußtseyn darüber […] die Unschuld auf[hebt] und […] daher auch unmittelbar die Versöhnung« fordert. 267 Während er somit das Christentum zunächst in unmittelbarer Verbindung mit der dritten Periode der Vorsehung und der Versöhnung bringt, da zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es vielmehr mit der zweiten Periode, der des Abfalls, in Verbindung zu bringen ist. Insofern die zweite Periode die dritte einleitet und nur der Übergang zu ihr ist, ist auch das Christentum ›nur‹ Übergang. In dieser Konstruktion werden ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹, aber auch ›Gegenwart‹ und ›Vergangenheit‹ näher aneinander herangerückt. Dies dürfte darauf hinweisen, Schelling 1803a, 176 / SW V, 290. Genauso in den gleichzeitig gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst mit ausdrücklichem Hinweis auf die Briefe (vgl. SW V, 697); dies belegt, dass Schelling diese Bezeichnung und ihren Zusammenhang zu dieser Zeit keineswegs aus dem Gedächtnis verloren hatte. 264 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290. 265 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf. 266 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290. 267 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf. 262 263

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dass keine der Perioden für sich gesetzt werden kann, sondern dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen denselben sowie in ihrer Aufeinanderfolge gibt: Erst durch die Gegenwart ist auch die Vergangenheit wirklich gesetzt, während erstere nicht gesetzt werden kann, ohne zugleich die Öffnung auf eine Zukunft hin zu setzen. Aus diesem Grund sind gerade die Anspielungen auf die ›reale‹ Geschichte irreführend, da es Schelling hier überhaupt nicht um eine Konstruktion der ›wirklichen‹ Geschichte zu tun ist, sondern vielmehr um eine solche der Geschichtlichkeit oder der Dimensionalität der Geschichte. Eine weitere und die bei weitem ausführlichste Darstellung der Periodizität der Geschichte findet sich schließlich in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit. Wenn es auch hier nicht an Anklänge an die früheren Darstellungen fehlt, so unterscheidet sie sich dennoch erheblich von denselben. Dessen ungeachtet fordert Schelling den Leser in einer Fußnote ausdrücklich dazu auf, »mit diesem ganzen Abschnitt des Verfassers Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. VIIIte Vorles. über die historische Konstruktion des Christenthums« zu vergleichen. 268 Der Leser, der die Stelle nachschlägt, findet sich dort, wie erwähnt, wieder auf das System des transscendentalen Idealismus verwiesen. Schelling stellt somit ausdrücklich und absichtlich eine Verbindung zwischen diesen drei Darstellungen her und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers dadurch selbst auf die Abweichungen zwischen denselben. Zwar ist die Darstellung im Vergleich zu den früheren ausführlicher und bedeutend komplizierter, zugleich ist sie aber auch verschwommener und weniger klar gegliedert. So ist die Dreiteiligkeit hier nicht so deutlich durchgehalten wie früher. Auch scheint die erste Periode eine feinere Gliederung aufzuweisen. Bevor wir auf die Konstruktion selbst eingehen können, ist es nötig, kurz den Zusammenhang anzudeuten, in welchem sie hier vorkommt. An den drei Orten, wo Schelling eine solche Konstruktion durchführt, kommt sie nämlich in einem unterschiedlichen Zusammenhang und mit einer unterschiedlichen Absicht vor. Bei der Konstruktion in den Untersuchungen steht, wie in Philosophie und Religion, die Frage nach der Gattung im Hintergrund. Nachdem Schelling das Böse als ein allgemeines Prinzip in Bezug auf den Einzelnen nachgewiesen hat, stellt er sich die Frage, ob es auch in Bezug auf die

268

Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380.

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Gattung ein allgemeines Prinzip ist. 269 Während er vorher gezeigt hatte, wie »die ungetheilte Macht des anfänglichen Grundes erst im Menschen als Inneres (Basis oder Centrum) eines Einzelnen erkannt wird«, gilt es jetzt zu zeigen, dass die Verhältnisse in Bezug auf die Gattung denen in Bezug auf den Einzelnen analog sind und dass »auch in der Geschichte das Böse anfangs noch im Grunde verborgen [bleibt]«. 270 Die Geschichte muss danach so konstruiert werden, dass »dem Zeitalter der Schuld und Sünde […] eine Zeit der Unschuld oder der Bewusstlosigkeit über die Sünde voran[geht]«, oder so, dass »sich auch in der Geschichte der Geist der Liebe nicht alsbald geoffenbaret«. 271 Aus dieser Anforderung, dass Gott sich auch in der Geschichte offenbaren muss, aber zunächst nicht als Er selbst, schließt Schelling: »so konnten es nur einzelne göttliche Wesen seyn, die in diesem Für-sich-wirken des Grundes walteten«. 272 Damit ist die erste Periode ihrer allgemeinsten Verfassung nach bereits charakterisiert. Die nachfolgende Konstruktion soll zeigen, wie der genannten Anforderung genügt werden kann. Auch hier geht Schelling, wie in Philosophie und Religion, ganz ›hypothetisch‹ vor. 273 Da die erste Periode, damit sie der angegebenen Anforderung genügt, nicht anders gedacht werden kann als so, dass ›nur einzelne göttliche Wesen‹ in ihr ›walteten‹, so muss die »uralte Zeit […] daher mit dem goldnen Weltalter« anfangen, »vom welchem dem jetzigen Menschengeschlecht nur in der Sage die schwache Erinnerung geblieben, einer Zeit seliger Unentschiedenheit, wo weder Gutes noch Böses war«. 274 Dies erinnert an die Charakterisierung der ersten Periode in den Vorlesungen als eine solche der »Hingabe« an die Natur, »ohne

Vgl. Schelling 1809a, 451–458 / SW VII, 373–378. Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378; Herv. v. Verf. 271 Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378. 272 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 378 f. 273 Wie auch vorher in den Untersuchungen in Bezug auf die Natur: »Der Anblick der ganzen Natur überzeugt uns von dieser geschehenen Erregung« (Schelling 1809a, 455 / SW VII, 376; Herv. v. Verf.). Nebenbei sei bemerkt, dass die erklärtermaßen für die gesamte Schrift tragende Unterscheidung von Grund von Existenz und Existierendem gerade an dieser Stelle zum Tragen kommt, indem die Geschichtskonstruktion damit anfängt, wie Gott, insofern er bloß Grund ist, sich offenbart und damit beschließt, wie »Gott als Geist, d. h. als actu wirklich sich offenbart« (Schelling 1809a, 458 f., 461 / SW VII, 378, 380). Vgl. dazu Schelling 1804, 57 f., 63 f. / SW VI, 53, 57, zur Offenbarung des Absoluten als Schicksal und als Vorsehung. 274 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379; Herv. v. Verf. 269 270

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Bewußtseyn des Gegentheils«. 275 Schelling belässt es nicht bei dieser Charakterisierung, sondern fährt fort: »[D]ann folgte die Zeit der waltenden Götter und Heroën, oder der Allmacht der Natur, in welcher der Grund zeigte, was er für sich vermöchte«. 276 Sieht es zunächst so aus, als ob gerade das ›goldne Weltalter‹ sich durch das Walten der Götter auszeichnet, so wird auch noch die darauf folgende Zeit als eine Zeit ›der waltenden Götter‹ bestimmt. Diese scheint denn auch noch keine wirklich neue Periode einzuleiten. Vielmehr scheint Schelling hier wieder auf das Verhältnis von vor-geschichtlicher und geschichtlicher Zeit hinzudeuten: Während er ›die Zeit der waltenden Götter und Heroën‹ zwar als Vergangenheit, aber doch bereits als zur geschichtlichen Zeit gehörig denkt, so scheint er das ›goldne Zeitalter‹ als wesenhaft vor-geschichtlich aufzufassen. Nur durch Sagen ragt es in die geschichtliche Zeit hinein. Das Walten der Götter, das die erste geschichtliche Periode auszeichnet, manifestiert sich auf zweierlei Weise: Zum einen in der Weise, wie die Menschen ihr Leben führen, oder durch die ihr Leben führende Instanz: »Damals kam den Menschen Verstand und Weisheit allein aus der Tiefe; die Macht erdentquollner Orakel leitete und bildete ihr Leben«. 277 Zum anderen in der Organisation der Sozialität oder durch das Prinzip, das der Bildung von Gemeinschaften vorsteht: »[A]lle göttlichen Kräfte des Grundes herrschten auf der Erde, und sassen als mächtige Fürsten auf sichern Thronen«. 278 Die erste Periode scheint nun noch weiter gegliedert zu werden, indem die Zeit der höchsten Verherrlichung der Natur in der sichtbaren Schönheit der Götter und allem Glanz der Kunst und sinnreicher Wissenschaft [erschien], bis das im Grunde wirkende Prinzip endlich als welteroberndes Prinzip hervortrat, sich alles zu unterwerfen und ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen. 279

Zum einen scheint dem Grund oder der Natur als Prinzip oder als dem Auszeichnenden dieser Periode eine Tendenz innezuwohnen, sich auch als Prinzip von Kunst und Wissenschaft zu entfalten, zugleich aber auch sich zum ›welterobernden Prinzip‹ zu entwickeln Schelling 1803a, 176 / SW V, 290. Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379. 277 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379. Spuren solchen mantischen Wissens deckt Hogrebe 1992 auf. 278 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379. 279 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379. 275 276

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und ›ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen‹. Zum anderen hebt Schelling sogleich hervor, dass dieses Prinzip wegen seiner inneren Verfassung daran scheitern muss, das Ziel zu erreichen, auf welches es gerichtet ist. Das Scheitern, und damit auch das Ende der ersten Periode, ist in diesem Prinzip eingebaut. Die erste Periode scheint aufgrund ihrer Verfassung wesenhaft instabil zu sein, und damit auf eine zweite Periode hin geöffnet. Das Scheitern leitet eine Umwandlung ein, die die erste Periode dazu fähig macht, in die zweite überzugehen oder als deren Grundlage zu dienen. Dem sind die jetzt folgenden Überlegungen gewidmet. Hierin treten die bereits referierten kennzeichnenden Elemente der ersten Periode wieder auf, aber in verwandelter Gestalt. So »nehmen die in jenem Ganzen waltenden Mächte die Natur böser Geister an«. 280 Die ›waltenden Götter und Heroën‹, die den Menschen ›Verstand und Weisheit aus der Tiefe‹ zukommen ließen und ihr Leben leiteten und bildeten und damit zu ihnen im Verhältnis ›wohlthätiger Schutzgeister‹ standen, büßen diese wohltätige Wirkung jetzt ein und nehmen einen ›bösen‹, ›dämonischen‹, schließlich ›teuflischen‹ Charakter an. 281 Die erste Periode scheint damit selbst dreifach gegliedert zu sein in ein vor-geschichtliches ›goldenes Weltalter‹, ein historisches Zeitalter, da die Götter sich als geschichtliche Macht zeigen, und schließlich in ein Zeitalter des Übergangs, in welchem das Prinzip der gesamten Periode ihr Maximum erreicht und sich zugleich als ungenügend enthüllt. Damit hat Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379. Vgl. Schelling 1809a, 460, 461 / SW VII, 379, 380. Obwohl weder der Teufel noch Christus an dieser Stelle wie auch sonst kaum in der Freiheitsschrift namentlich erwähnt werden, so scheinen sie gerade hier gemeint. So heißt es: »Daher erst mit der entschiedenen Hervortretung des Guten auch das Böse ganz entschieden und als dieses hervortritt« (Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379 f.). Das Gute ist der Gute, da es nur »in persönlicher, menschlicher Gestalt« erscheinen kann, wie auch »das Böse«, insofern es »als dieses hervortritt«, nur als der Böse erscheinen kann, weshalb es als ein »persönliche[s] und geistige[s] Böses« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 460 / SW VII, 380). Durch die Verwendung des Dativs bleibt unentscheidbar, ob ›das‹ oder ›der‹ Böse gemeint ist. Die Qualifizierung als ›persönlich‹ enthält indes einen Wink. Die Gestalt des Teufels ist hiernach als das Ergebnis einer Transformationslogik zu denken, an dessen Anfang die Götter stehen. – Auf die soeben zitierte Stelle spielt Schelling an, wenn er an späterer Stelle den »umgekehrte[n] Gott« erwähnt als »jenes durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisirung erregte Wesen, das nie aus der Potenz zum Aktus gelangen kann, das zwar nie ist, aber immer seyn will«. Von diesem Wesen bemerkt er zudem, dass es »mit Recht nicht nur als ein Feind aller Kreatur […] und vorzüglich des Menschen, sondern auch als Verführer desselben vorgestellt« wird (Schelling 1809a, 474 f. / SW VII, 390).

280 281

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Schelling die Herkunft des bösen Prinzips in der Geschichte dargetan, ohne dazu zur Annahme eines ›anfänglichen Bösen‹, ebenso wenig aber zu einer Leugnung oder Verharmlosung des Bösen genötigt gewesen zu sein. 282 Damit ist der Punkt erreicht, wo wir die zweite Periode charakterisieren können. Diese zeichnet sich, genau wie in den Vorlesungen, durch ihren Übergangscharakter aus. Schelling hatte nachgewiesen, wie das in der ersten Periode herrschende Prinzip letztlich als ein ›welteroberndes Prinzip‹ hervortreten muss und ihm die Tendenz eignet, ›ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen‹, dieses Streben wegen der Verfassung des Prinzips jedoch zum Scheitern verurteilt ist. Damit ist auch der Endzustand dieser Periode angegeben, die Schelling hier mit teils biblischen Ausdrücken evoziert: Es ist »der Moment, wo die Erde zum zweytenmal wüst und leer wird«, die Zeit der turbae gentium, »wie einst die Wasser des Anfangs die Schöpfungen der Urzeit wieder bedeckten«. 283 Diese Lage ist die Bedingung dafür, dass das gute Prinzip auch »in persönlicher, menschlicher Gestalt« erscheinen kann. 284 Die Erscheinung in dieser Gestalt wird offensichtlich mit einer bestimmten historischen Lage verknüpft. 285 Vgl. Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380. Schelling 1809a, 460 f. / SW VII, 380. 284 Schelling 1809a, 460 / SW VII, 380. 285 So auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst: »Dieß war das Gefühl der Welt in jener Periode der tiefsten Umwandlung, als das Schicksal an allem Schönen und Herrlichen des Alterthums seine letzte Tücke übte. Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die Orakel schwiegen, die Feste verstummten und ein bodenloser Abgrund voll wilder Vermischung aller Elemente der gewesenen Welt schien sich vor dem menschlichen Geschlecht zu öffnen. Ueber diesem finstern Abgrund erschien als das einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts der Kräfte das Kreuz, gleichsam der Regenbogen einer zweiten Sündfluth, wie es ein spanischer Dichter nennt, – zu einer Zeit, wo keine Wahl übrig blieb, an dieses Zeichen zu glauben« (SW V, 429). Und kurz vorher: »Ein solches Gefühl [sc. der Heimatlosigkeit und der Verlassenheit von Gott, R. S.] war über die Welt verbreitet, als das Christenthum entstand. Griechenlands Schönheit war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf sich gehäuft hatte, erlag unter seiner eignen Größe; die vollste Befriedigung durch alles Objektive führte von selbst den Ueberdruß und die Hinneigung zum Ideellen herbei. Ehe noch das Christenthum seine Macht nach Rom erstreckt hatte, schon unter den ersten Kaisern, war diese sittenlose Stadt mit orientalischem Aberglauben erfüllt, Sterndeuter und Magier selbst die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der Götter hatten ihr Ansehen verloren, noch eh’ sie gänzlich verstummten. Das allgemeine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht weiter fortschreiten konnte, lag gleich einer schwülen Luft, die eine große Bewegung der Natur voraus verkündet, auf der ganzen damaligen Welt, und eine allgemeine Ahndung 282 283

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Damit ist die Gegenwart oder die »jetzige Zeit« als eine Zeit des »fortdauernde[n] Streit[s] des Guten und des Bösen« bestimmt, eben damit aber auch als eine Zeit des Übergangs, die auf eine Zukunft als »Ende der jetzigen Zeit« und damit des für sie charakteristischen Streits hin geöffnet ist. 286 Nachdem die Konstruktion der Vergangenheit gezeigt hat, wie das Böse kein ›anfängliches Prinzip‹ ist, so bleibt an dieser Stelle noch übrig, durch die Konstruktion der Zukunft den Nachweis zu erbringen, dass das Böse ebenso wenig ein letztes Prinzip sei. Diese Aufgabe nimmt Schelling sich erst an einer späteren Stelle der Untersuchungen vor. 287 Die Geschichtskonstruktion ist an dieser Stelle dazu gedacht, die ›Wirklichkeit‹ des Bösen zu belegen, und zwar »seine universelle Wirksamkeit, oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Prinzip aus der Schöpfung habe hervorbrechen können«. 288 Aufgrund dieser Geschichtskonstruktion kann Schelling schließen, dass es »daher ein allgemeines […] Böses [gibt], das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber beständig dahin strebt«. 289 Die Geschichtskonstruktion dient demnach dazu, erstens, die ›universelle Wirksamkeit‹ des Bösen zu belegen. Dadurch wird zugleich der Begriff einer »Angst des Lebens« begründet und sowohl in der Natur als in der Geschichte nachgewiesen. 290 Zweitens will Schelling dadurch die ›parsische‹ oder manichäische Hypothese zweier gleichursprünglicher Prinzipien zurückweisen, da die Konstruktion zeigt, dass das allerdings allgemeine Böse dennoch kein ›anfängliches‹ Böses ist. 291 Stattdessen nimmt die Materie die Qualität des schien alle Gedanken nach dem Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kommen würde« (SW V, 427 f.). Damit bezieht Schelling sich auf die Debatte über die Ursachen des Untergangs Roms, eine Debatte, die besonders mit den Namen Eduard Gibbon, Montesquieu und Rousseau verbunden ist (vgl. Petri 1990, 26–30). Schelling verweist an anderer Stelle auf Gibbon (vgl. Schelling 1803a, 225 / SW V, 312). Werke von Montesquieu sowie die (fast vollständigen) Œuvres complètes Rousseaus befanden sich in Schellings Bibliothek (vgl. Müller-Bergen 2007, 135, 249). 286 Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380. Vgl.: »Es ist, als ob Christus als das in die Endlichkeit gekommene und sie in seiner menschlichen Gestalt Gott opfernde Unendliche den Schluß der alten Zeit machte; er ist bloß da, um die Grenze zu machen« (SW V, 432). 287 Vgl. Schelling 1809a, 493–496 / SW VII, 403–406. 288 Schelling 1809a, 451 / SW VII, 373. 289 Schelling 1809a, 461 f./ SW VII, 380 f.; Herv. v. Verf. 290 Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381. 291 Es scheint, dass ein allgemeines Böses nur durch einen »allgemeine[n] Grund der Solicitation«, dieser aber nur durch ein »böse[s] Grundwesen« erklärt werden kann.

304 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Bösen erst nachträglich an: Das Böse ist eine Qualität der Materie oder des Grundes, die erst nachträglich ›erweckt‹ oder ›erregt‹ wird. Schließlich soll die Konstruktion auch belegen, dass das Böse ›nie zur Verwirklichung kommt‹, obwohl es ›beständig dahin strebt‹. Sie zeigt nämlich, wie das Böse nur »durch das Für-sich-wirken des Grundes endlich zum allgemeinen Prinzip entwickelt worden« ist und damit nur ein Erregtes, nicht ein Ursprüngliches ist. 292 Dies ist Schellings Alternative zur Erklärung der Sollizitation durch ein ursprünglich böses Wesen. Im Unterschied zu den früheren Durchführungen scheint die Konstruktion der Geschichte in den Philosophischen Untersuchungen mit der Charakterisierung der zweiten Periode abgeschlossen. Trotz einiger Andeutungen bleibt die dritte Periode oder die Zukunft hier jedenfalls weitgehend ausgeblendet. 293 In jeder Konstruktion werden zwar drei Perioden oder Zeitalter konstruiert, die Geschichte selbst hat jedoch nach Schellings Erklärung nur zwei »Hauptpartien«. 294 Die erste Periode wurde aber, wie wir gesehen haben, in keiner der drei Fassungen ohne einen Hinweis auf eine dieser noch voDabei verweist er auch auf »jene Auslegung der Platonischen Materie«, wonach diese »ein ursprünglich Gott widerstrebendes und darum an sich böses Wesen ist« (Schelling 1809a, 452 / SW VII, 374). Vgl. Schelling 1804, 32 f. / SW VI, 36 f. 292 Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381. 293 Sie wird erst viel später ausdrücklich thematisiert: »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig: endet das Böse und wie? Hat überhaupt die Schöpfung eine Endabsicht und wenn diess ist, warum wird diese nicht unmittelbar erreicht, warum ist das Vollkommne nicht gleich von Anfang?« (Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403). Der Zusammenhang mit der Frage nach Tod und Unsterblichkeit sowie die Anklänge an den vierten Abschnitt von Philosophie und Religion auf den folgenden Seiten sind unübersehbar. So heißt es z. B.: »Gott giebt die Ideen, die in ihm ohne selbständiges Leben waren, dahin in die Selbstheit und das Nichtseyende, damit, indem sie aus diesem in’s Leben gerufen werden, sie als unabhängig existirende wieder in ihm seyen« (Schelling 1809a, 494 f. / SW VII, 404; Herv. v. Verf.). Schelling fügt dem Satz eine Fußnote hinzu, die den Leser auf folgende Stelle in Philosophie und Religion verweist: »Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten die Selbstheit verleiht, giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben waren, ins Leben gerufen, ebendadurch aber fähig werden, als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn« (Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf.). So wie Schelling hier anschließend die »Indifferenz« näher als »Liebe« bestimmt (Schelling 1804, 73 f. / SW VI, 63), so schließen sich auch an den aus den Philosophischen Untersuchungen zitierten Satz Überlegungen zum Verhältnis von Indifferenz und Liebe an (Schelling 1809a, 498–501 / SW VII, 407–409). 294 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

rausliegenden vor-geschichtlichen Zeiten konstruiert. Die erste Periode war nämlich die des ›Bösen‹, aber insofern dieses noch nicht die Qualität des Bösen angenommen hat, die ihm erst durch das Erscheinen seines Gegenteils zuwächst. Sie scheint damit die Zeit des »Urgrund[s] zur Existenz, inwiefern er im erschaffnen Wesen zur Aktualisirung strebt«, zu sein. 295 Die Absicht der Konstruktion besteht somit darin, zu zeigen, dass das Böse ›nie zur Verwirklichung gelangen‹ kann, weil es in der ersten Periode zwar nur nach Aktualisierung strebt, die Einheit jedoch nicht hervorzubringen vermag, wie der notwendige Zusammensturz der auf diesem Prinzip gegründeten Reiche zeigte, in der zweiten Periode hingegen nur im Gegensatz Realität gewinnt und diese nur so lange behält, als es sich mit seinem Anderen im Kampf befindet. Die Vermutung scheint denn auch berechtigt, dass das dritte Zeitalter oder die Zukunft nicht mehr im eigentlichen Sinn zur Geschichte gehören wird, sondern vielmehr eine Art nachgeschichtliches Zeitalter darstellt. Der Nachweis zweier ›Hauptpartien‹ der Geschichte war auch die Absicht des Schlusses des dritten Abschnitts von Philosophie und Religion. Der erste Satz des vierten Abschnitts ruft dem Leser in Erinnerung, zu welchem Zweck die vorhergehenden und jetzt folgenden Überlegungen angestellt werden: »Die Geschichte des Universum ist die Geschichte des Geisterreichs und die Endabsicht der ersten, kann nur in der der letzten erkannt werden«. 296 Jetzt hat Schelling somit zunächst zu zeigen, dass die ›Geschichte des Geisterreichs‹ eine Endabsicht habe und nachher, dass diese auch die Endabsicht der Geschichte des gesamten Universums ist. Die folgenden Überlegungen versprechen damit etwas wirklich Neues, da in den bisherigen, die sich auf das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit bezogen, Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. Der Ausdruck ›Geisterreich‹ findet sich auch bei Eschenmayer 1803, 81 (§ 80). Vgl. ferner 48 (§ 56), 89 (§ 86), 93 (§ 90) (»Gemeinschaft vernünftiger Wesen«) und 81 (§ 80) (»Gemeinschaft der Geister«). Schelling spricht sonst meistens von der ›Geisterwelt‹. – Eine anschauliche Vorstellung dieser Geisterwelt erhält man aus der ›allegorischen Vision‹, die das Jacobi-Denkmal abschließt. Besonders zu beachten ist die Ordnung, die hier stattfindet, insofern Gleiches zu Gleichem in Gruppen zusammengebracht ist, während Schelling Jacobi als herumirrende Figur im Geisterreich charakterisiert, der von Gruppe zu Gruppe irrt, ohne in eine derselben seinen Ort zu finden. Dieser Teil des Jacobi-Denkmals, der mit 100 von 215 Seiten knapp die Hälfte des Werkes ausmacht, hat bislang kaum Beachtung gefunden (vgl. Schelling 1812, 115–215 / SW VIII, 83–136). Für einen der seltenen Kommentaren zu diesem Teil vgl. Horn 1954, 88–101.

295 296

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Die Unsterblichkeit der Seele

die Konstruktion ganz parallel zu derjenige der Natur verlief. Erst hier ist die Geschichte »symbolisch« für die »Schicksale[…] des Universums« »zu fassen, die sich in ihr ganz wiederholen und deutlich abspiegeln«. 297 Die nächste Aufgabe besteht darin, zu untersuchen, ob sich in der Geschichte eine Endabsicht entdecken lässt. Schelling scheint die Lösung dieser Aufgabe jedoch dadurch zu verzögern, dass er an dieser Stelle Überlegungen einschaltet, deren Bezug auf die Frage nach der Endabsicht der Geschichte jedenfalls nicht offen zu Tage liegt.

8. Die Unsterblichkeit der Seele Der vierte Abschnitt von Philosophie und Religion ist überschrieben Unsterblichkeit der Seele. Wir werden zunächst versuchen, uns diesem ausdrücklichen Thema anzunähern, und erst im nächsten Abschnitt darauf eingehen können, aus welchem Grund und mit welcher Absicht Schelling die Ausführungen zu diesem Thema an dieser Stelle für erforderlich erachtete. Da Eschenmayer das Thema nur ganz beiläufig berührt, scheint das Gewicht, das Schelling ihm allein schon dadurch beimisst, dass er ihm einen ganzen Abschnitt widmet, kaum durch die polemische Absicht allein erklärbar. 298 Es dürften somit eher systematische Gründe gewesen sein, die ihn dazu motivierten, gerade diesen Fragenkomplex an dieser Stelle aufzugreifen. 299 Die BeSchelling 1804, 64 / SW VI, 57. Vgl.: »Dieselben Perioden der Schöpfung, die in diesem [im Reich der Natur, R. S.] sind, sind auch in jenem [im Reich der Geschichte, R. S.]; und eines ist des anderen Gleichniss und Erklärung« (Schelling 1809a, 457 / SW VII, 377 f.). Danach fängt die Konstruktion der Perioden der Vergangenheit und der Gegenwart an. 298 Vgl. Eschenmayer 1803, 59–61 (§§ 67–68). 299 In den Würzburger Vorlesungen tritt der systematische Ort der Frage sowohl nach dem Bösen als auch nach der Unsterblichkeit etwas deutlicher hervor. Wir können jedenfalls vermuten, dass letztere Frage auch bereits im Gespräch, dessen Umarbeitung Philosophie und Religion ist, eine zentrale Rolle spielte. Sie dürfte mit zu den Gegenständen gehören, die »in den Mysterien gelehrt werden müsse[n]« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234; vgl. Schelling 1802a, 33 f., 132, 190 f. / SW IV, 233, 283, 312). Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele steht auch im Hintergrund von Schellings Auslegung des Demeter-Mythos im Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie (vgl. Schelling 1802f, 24 f. / SW V, 123 f.), die dort parallel an einer Auslegung des platonischen Mythos im Phaidon durchgeführt wird und die Schelling 1804 wieder aufnimmt (vgl. Schelling 1804, 36, 69, 71 / SW VI, 39, 60, 62). Gerade diese Stelle zog Carl Ludwig Michelet als Beleg dafür heran, dass die Kerngedanken 297

307 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

4. Kapitel. Tugend und Geschichte

merkungen Eschenmayers waren ihm höchstens eine willkommene Veranlassung, sich darüber zu erklären. Allerdings hätte es auch systematische Gründe gegeben, die Frage nach dem Bösen zu erörtern. Hier scheint Eschenmayers Übergehen dieser Frage Schelling dazu veranlasst zu haben, sie nur versteckt zu behandeln. In den Philosophischen Untersuchungen kehren die Verhältnisse sich geradezu um: Während die Frage nach dem Bösen die Schrift derart dominiert, dass man darin nichts weniger als eine ›Metaphysik des Bösen‹ zu finden gemeint hat, so ist die Frage nach der Unsterblichkeit dort keineswegs gänzlich abwesend, sei sie auch weniger bemerkbar. Die Erörterung der Frage nach der »Endabsicht der Schöpfung«, nach der »Nothwendigkeit der Geburt und des Todes« sowie nach der »endlichen Scheidung des Guten vom Bösen« scheint wenigstens irgendeine Konzeption von Unsterblichkeit zu erfordern, ohne welche auch die Konzeption des Bösen, wie sie in dieser Schrift entwickelt wird, haltlos wäre. 300 Schellings Behandlung dieses Themas und der vierte Abschnitt von Philosophie und Religion insgesamt haben bislang kaum Beachtung gefunden. Selbst Kommentatoren, die sich mit Schellings Unsterblichkeitslehre beschäftigt haben, übergehen diese erste Erörterung derselben oder erwähnen sie nur beiläufig. Diese Nicht-Beachtung dürfte darin ihren Grund haben, dass Schelling sich hier einem Thema widmet, das in der heutigen philosophischen Diskussion als erledigt angesehen wird und höchstens noch ein historisches Interesse beanspruchen darf. 301 Man begnügt sich mit der Feststelvon Philosophie und Religion nicht erst 1804 entwickelt wurden (vgl. Michelet 1839, 34 f.). 300 Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404. 301 Wohl deshalb fühlen mehrere Kommentatoren sich dazu genötigt, ihr Interesse eigens zu rechtfertigen, vgl. Beckers 1865, 15; Grau 1997, 592, 609 f.; Schalow 1997, 244 f. Wilhelm Diltheys Rezension eines Separatdrucks der Clara ist insofern höchst aufschlussreich, als sie zu zeigen vermag, woher dieser Rechtfertigungsdruck stammt. So bemerkt er: »Dieser Dialog über die jenseitige Welt in ihrem Zusammenhang mit der Natur spricht wie aus fernen Zeiten zu uns herüber«. Das Befremdliche ist dabei nicht erst in den in diesem Dialog diskutierten Thesen zu suchen, sondern betrifft bereits die Themenwahl selbst. Mit dieser weiß die »praktische Richtung unserer Zeit« und »die resolute Lebensfreudigkeit derselben« nichts mehr anzufangen. Vor dem Hintergrund der für selbstverständlich gehaltenen historischen Erledigung des Christentums bzw. der Religion lässt sich das Interesse eines Philosophen für solche »halb-poetischen, halb-religiösen, kaum aber philosophischen« Themen nur noch aus dessen religiöser oder konfessioneller Voreingenommenheit oder aus überholten modischen Vorlieben erklären. Thema und Form lassen sich somit hinlänglich aus Schel-

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Die Unsterblichkeit der Seele

lung, Schelling übernehme hier lediglich überliefertes platonischchristliches Gedankengut. Dabei übersieht man, dass Schelling nach seiner erklärten Absicht die »Gegenstände«, die die Religion sich seiner Ansicht nach unberechtigterweise zugeeignet hat, wieder »der Vernunft und der Philosophie zu vindiciren« sucht und diese dazu zunächst von der entstellenden Deutung, die sie in dieser Ent- bzw. Zueignung erfahren haben, wieder befreien muss. 302 Wenn Schelling den Anspruch erhebt, zur ursprünglichen platonischen Lehre zurückzukehren, dann heißt dies somit auch, dass er diese von einer christlichen Umdeutung des Platonismus befreien will. 303 Dazu wird er auch die ursprünglichen Erfahrungen, aus welchen jene Vorstellungen zunächst erwachsen sind und die durch sie artikuliert werden sollen, wieder freizulegen und so erst wieder ein Verständnis für die zugrundeliegenden Probleme zu erwecken suchen. Um Eschenmayers Konzeption der Unsterblichkeit der Seele zurückzuweisen, glaubt Schelling nicht mehr zu bedürfen als einer einzigen begrifflichen Unterscheidung, die er bereits im zweiten Abschnitt dargelegt hatte. 304 Durch dieses Vorgehen gibt er dem Leser abermals zu verstehen, dass er auch mit der hier entwickelten Unlings Verbindungen zur »schwärmerische[n] Schule« der Romantik erklären, die sich, wie hinlänglich bekannt, in »phantastische[n] Stimmungen« bewegte. Solche Vormeinungen machen nicht nur eine Prüfung des Wahrheitsanspruchs, den Schelling vielleicht mit einigen der von ihm aufgestellten Behauptungen verbunden haben dürfte, obsolet, sondern sie sind zudem dafür verantwortlich, dass man sich der Bemühung um eine hermeneutische Durchdringung des Textes für enthoben hält, damit aber auch die Mittel aus der Hand gegeben hat, mögliche Differenzen zu den vermeintlich ›romantischen‹ Autoren überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Damit erübrigt es sich, auf Schellings These einzugehen, dass solche Themen nicht über die Religion in die Philosophie gelangt sind, sondern vielmehr umgekehrt. Der Dialog empfiehlt sich damit nur noch dem ästhetischen Genuss: »Was aber den Leser an diesem Dialog fesseln wird, ist die Form« oder die »Poesie« und »Kunst«, die Dilthey in demselben zu entdecken meint (Dilthey 1862, 407–409). 302 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20; vgl. Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f. 303 »Wie dagegen die erhabnen Lehren, welche jene [die Religion, R. S.] aus dem gemeinschaftlichen Eigenthum der Philosophie sich einseitig angemasst hatte, mit der Beziehung auf ihr Urbild auch ihre Bedeutung verloren und, auf einen ganz andern Boden versetzt, als dem sie entsprossen waren, ihre Natur völlig umwandelten« (Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f.; Herv. v. Verf.). 304 Obwohl die Absicht des Abschnitts darin besteht, die »Endabsicht der Geschichte« aufzudecken und dadurch nachzuweisen, wie Gott »eben so in Bezug auf die Gattung das gleiche Wesen der Freyheit und der Nothwendigkeit« ist (Schelling 1804, 63 / SW VI, 56; Herv. v. Verf.), so fokussiert Schelling zunächst doch wieder ausschließlich die einzelne Seele (vgl. Schelling 1804, 68–72 / SW VI, 60–62).

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sterblichkeitslehre nichts prinzipiell Neues zu bieten beansprucht, sondern lediglich einige Folgerungen aus einer Unterscheidung zieht, die ein integraler Bestandteil der Naturphilosophie ist. 305 Da wir Schellings Lehre von der Seele im dritten Kapitel bereits ausführlich dargestellt haben, können wir uns hier auf eine knappe Wiederholung des Wesentlichen beschränken. Schelling unterscheidet zwischen der Seele, insofern sie »sich unmittelbar auf den Leib bezieht«, der Seele, insofern »sie das Princip des Verstandes ist«, und dem »Ansich oder Wesen der bloß erscheinenden Seele«. 306 Diese drei ›Dimensionen‹ der Seele oder diese drei Hinsichten, in welchen von ›Seele‹ gesprochen werden kann, lassen sich nur an der wirklich existierenden Seele unterscheiden. 307 Die ersten beiden ›Dimensionen‹ gehören bloß zu den Bedingungen, unter denen das Wesen der Seele auch erscheinen kann, ohne selbst zu diesem zu gehören. Dieses ist allerdings auf jene angewiesen, damit es sich bekunden oder ausdrücken kann, ohne dass diese dem sich darin Ausdrückenden selbst gleichzusetzen sind. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, dann ist das Sich-Ausdrückende dadurch bloß der Möglichkeit beraubt, sich auszudrücken oder sich als das zu zeigen, was es ohnehin ist. Deshalb kann Schelling sagen, dass die »nicht-existirenden Dinge und die Begriffe dieser Dinge« im Absoluten auf gleiche Weise enthalten sind wie die »existirende[n] Dinge und die Begriffe dieser Dinge« (SW VI, 534 (§ 297)). Die Eigenschaften, die einem Ding dadurch zuwachsen, dass es auch existiert, d. h. räumlich und zeitlich verortbar ist und in einen Zusammenhang mit anderen Dingen tritt, haben nämlich nur für es selbst und nur insofern es auf sich selbst bezogen wird, Realität, während sie für das Wesen oder die Idee bloß akzidentell sind. Für das Wesen kommt es somit nicht in Betracht, ob »das ihm entsprechende Endliche« auch existiert oder nicht. 308 Damit nun von einer Seele gesagt werden kann, dass sie wirklich existiert, muss sie sich auf einen Leib beziehen. Erst dadurch erhält auch die Seele einen individuellen Charakter: Individualität ist die »nothwendige Form aller Existenz« So war Schelling auch im zweiten Abschnitt vorgegangen, wo er das dort Erörterte auf drei Thesen zurückbringt, für welche er Belegstellen aus früheren Schriften anführt (Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.; vgl. Schelling 1804, 19 / SW VI, 28). 306 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. 307 An dieser Stelle scheint Schelling nun in der Tat nur die menschliche Seele zu meinen. Jedenfalls trifft dasjenige, was er hier von der Seele behauptet, nur auf Menschen zu. 308 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. 305

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Die Unsterblichkeit der Seele

(SW VI, 502 (§ 273)). Die »Verwicklung der Seele mit dem Leib« ist es, »welche eigentlich Individualität heisst«. 309 Der »Begriff des Individuums« besteht darin, dass »ein und dasselbe Ding als ein und dasselbe, das eine und das andere sey«, d. h. sich auf zweierlei Weise, als leiblich und seelisch manifestiert (SW VI, 502 (§ 273)). Der Seele kommt Individualität nur insofern zu, als sie sich auf einem Leib bezieht, dessen »unmittelbare[r] Begriff« sie ist (SW VI, 531 (§ 292 Erl.)). Alles, was im Leib vorgeht, findet eine Entsprechung im Idealen oder in der Seele. Die Seele ist das Erkennende oder Subjekt, dessen Objekt der Leib ist. Dieses Subjekt-Objekt kann demnach auch als Leib-Seele bezeichnet werden. Dieses Subjekt-Objekt ist jedoch selbst wieder Objekt eines Subjekts höherer Stufe, das Schelling als die Seele, »sofern sie das Princip des Verstandes ist«, 310 oder auch als »Princip des Bewußtseyns« bezeichnet (SW VI, 509). In dieser zweiten Verwendungsweise von ›Seele‹ wird somit insbesondere auf das der Seele innewohnende reflexive Moment gezielt. Schelling bezeichnet sie öfters auch als ›Begriff der Seele‹, nämlich der Seele ihrer ersten Dimension nach. Insofern die Seele in diesem zweiten Sinne den Leib-Seele-Komplex als ihr Objekt hat, ist auch sie selbst mittelbar endlich und hat eine Beziehung auf die Zeit. Schließlich unterscheidet er noch das Wesen oder die Idee der Seele. Von jeder Seele gibt es eine Idee in Gott. Insofern »das ihm entsprechende Endliche« auch wirklich existiert, ist jene Idee in ihm »das Princip der ewigen Erkenntnisse«. 311 Diese dritte Dimension ermöglicht es der Seele, nicht bloß über sich selbst reflektieren zu können, sondern zudem auch zeitunabhängige Gesetze zu denken, Ideen zu bilden und eine Erkenntnis Gottes zu haben, wenn auch nicht jede Seele diese Möglichkeit aktualisiert (vgl. SW VI, 561 (§ 312)). Die ersten beiden Dimensionen der Seele nennt Schelling auch zusammenfassend die »bloß erscheinende Seele«. 312 Die wirklich existierende Seele ist somit eine Mannigfaltigkeit, an welcher drei Dimensionen zu unterscheiden sind. Diese Mannigfaltigkeit darf demnach nicht einfach mit der ›Seele, welche sich unmittelbar auf den Leib bezieht‹, gleichgesetzt werden. Wenn auch aus dem Wesen der Seele nicht notwendig folgt, dass damit auch das ihm entsprechende Endliche existiert, kann umgekehrt die wirklich 309 310 311 312

Schelling 1804, 69 / SW VI, 61. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

existierende Seele nicht existieren, ohne dass das Wesen der Seele existiert (vgl. SW VI, 536). Wenn Schelling an diese Unterscheidung erinnert, dann geschieht dies zunächst, um auf die mehrfache Verwendungsweisen von ›Seele‹ aufmerksam zu machen und damit klar wird, was es ist, wovon die Unsterblichkeit prädiziert wird. Er wendet die Unterscheidung insbesondere gegen den Gegensatz von Leib und Seele, mit welchem Eschenmayer durchgängig operiert. Die Unterscheidung lässt es nicht zu, Leib und Seele als Potenzen zu bezeichnen, wie Eschenmayer dies tut. Wenn Eschenmayer die Potenz des Endlichen als Leib bzw. Sinnlichkeit bestimmt, dann versteht er darunter das rein Endliche, nicht das von Schelling so genannte »unendlich Endliche«. 313 Da nur Präsentationsweisen des Absoluten füglich als Potenzen zu bezeichnen sind, so sind diese eo ipso unendlich. Danach verbietet es sich geradezu, das rein Endliche zu einer Potenz zu erklären. Außerdem impliziert Eschenmayers Bezeichnung des Leibes als einer Potenz eine Kontinuität oder Stetigkeit zwischen Endlichem und Unendlichem, die gegen das Konstruktionsgesetz der Potenzen verstößt. 314 Wenn es gelegentlich so aussieht, als ob Schelling selbst mit diesem Gegensatz von Leib und Seele operiert, so kann es sich dabei nur um eine etwas lässige Ausdrucksweise handeln, da gerade das Hauptargument, auf welches er seinen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele stützt, einem solchen Gegensatz zuwiderläuft. 315 Bei der lässigen Verwendung von ›Leib‹ und ›Seele‹ ist erstere nur ein verkürzter Ausdruck für das Ganze der Leib-Seele, während letztere das Wesen der Seele meint. Das ›Wesen der Seele‹ ist jedoch zugleich Wesen des Leibes. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Lehre des Parallelismus oder der Identität von Idealem und Realem. So heißt es: »Jeder Weise des Affirmirtseyns im realen All entspricht eine gleiche Weise des Affirmirens im idealen All« (SW VI, 204 (§ 46)). Dies gilt auch umgekehrt: Es kann nichts im idealen All, also auch keine Seele geben, ohne eine Entsprechung im realen All oder in einem Leib. Wie dem zeitlichen und endlichen Leib eine zeitliche und endliche Seele korSchelling 1802a, 65, 82 / SW IV, 249, 258. Vgl. Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. 315 Dies erhellt am deutlichsten aus jener Stelle, wo Schelling einerseits behauptet, dass die Seele »als unmittelbarer Begriff des Leibes« endlich und zeitlich ist, da »die Existenz des Leibes […] eine zeitliche, eine vergängliche« ist, wo er dann aber andererseits eine Ewigkeit des Wesens der Seele behauptet, weil dieses der »im Absoluten auf ewige Weise ausgedrückte Begriff des Leibes« ist (SW VI, 535 f. (§ 299)). 313 314

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Die Unsterblichkeit der Seele

respondiert, so muss auch dem (ewigen) Wesen der Seele ein (ebenso ewiges) Wesen des Leibes entsprechen. 316 Nur vom Wesen der Seele, das zugleich Wesen des Leibes ist, kann die Ewigkeit und damit die Unsterblichkeit prädiziert werden. 317 Schelling erinnert Eschenmayer an diese Unterscheidung und deren Folgen, da dieser Ewigkeit und Unsterblichkeit der Seele unterschieden und letztere von der Seele in ihrer Individualität ausgesagt hatte. 318 Eschenmayer versteht nämlich unter der Unsterblichkeit der Seele eine individuelle Fortdauer der Seele: Erstens ist es das Individuum, das fortdauert, und zweitens wird der Zustand nach dem Tode bzw. das Verhältnis zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Zustand als ein Fortdauern gedacht. Es ist schwer zu sehen, wodurch dieser Begriff der Unsterblichkeit sich merklich vom geläufigen ›dogmatischen‹ Begriff der Unsterblichkeit unterscheiden würde. Diesen Begriff übereignet er gänzlich einer ›von aller Spekulation befreyten Theologie‹ und verzichtet damit auf jeglichen Versuch, ihn noch rational zu rechtfertigen. Er behält den aus der Überlieferung stammenden Begriff als Gegenstand eines Fürwahrhaltens oder als eine zwar theoretische Annahme bei, ohne aber für ihn Vernunftgründe anzuführen. Wenn sich inzwischen auch das kritische Vorzeichen geändert haben mag, so scheint diese Position insofern auf einen Kon»Im Absoluten ist also auch der Begriff des menschlichen Leibes nicht auf eine bloß vorübergehende, sondern auf eine ewige Weise enthalten als nothwendige Folge der Idee« (SW VI, 534 (§ 298)). »Ist nun die Seele der Idee oder dem Wesen nach ewig, so ist auch der Begriff des Leibes ewig und auf eine ewige Weise enthalten im Absoluten« (SW VI, 535 (§ 298)). »Dieser ewige Begriff des Leibes oder die Idee der menschlichen Existenz ist dasjenige von der Seele, was selbst ewig ist« (SW VI, 535 (§ 299)). 317 »Das wahre Wesen der Dinge […] ist weder Seele noch Leib, sondern das Identische beider« (SW VI, 217 (§ 65 Zus.)); »der Leib [ist] nur in der unvollkommenen Erkenntniß Leib und von der Seele verschieden, in dem An-sich aber dasselbe mit ihr« (SW VI, 213 (§ 61)). 318 »Es ist daher Miskennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit über die Ewigkeit der Seele und ihr Seyn in der Idee zu setzen und wie uns scheint, klarer Misverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl individuell fortdauern lassen« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61). Dass Eschenmayer ›die Unsterblichkkeit über die Ewigkeit der Seele‹ gesetzt hat, schließt Schelling daraus, dass er die Unsterblichkeit als von einer »höhern Dignität, als diese der Ideen« bezeichnet (Eschenmayer 1803, 59 (§ 67)). Dass Eschenmayer den Tod als ein ›Abstreifen‹ der Sinnlichkeit versteht, geht ohne weiteres aus Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68), hervor. Wie er die Unsterblichkeit als eine individuelle Fortdauer bestimmt, scheint mir allerdings nicht ganz klar aus dieser Stelle hervorzugehen. 316

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sens rechnen zu können, als die Philosophie selbst sich von dem Begriff verabschiedet zu haben scheint. 319 Für Eschenmayer ist die Unsterblichkeit der Seele Gegenstand des Glaubens, nicht des Wissens: [D]as Leben ist nur der mittlere Exponent von Tod und Unsterblichkeit. Diese beyden sind die Gränzen, welche keiner Konstruktion und keiner Demonstration mehr fähig, nur durch die unmittelbare Sprache Gottes an unser Herz, durch das Licht, das nur in die Seele scheint, d. h. durch Offenbarung vorhanden seyn können. Der erste Willensakt und der erste Erkenntnissakt setzt beyde schon voraus, und sie sind mithin die unveränderlichen Postulate, welche die Nichtphilosophie der Philosophie darbietet. 320

Weder Tod noch Unsterblichkeit sind einer Konstruktion fähig und können somit nicht als notwendig erwiesen, sondern nur geglaubt werden. Eschenmayer spricht diesbezüglich auch von einem »Postulat«. 321 Darunter scheint er nicht so sehr die »Foderung«, eine Idee »praktisch zu realisiren«, zu verstehen, als in der Tat nur eine »Foderung, zum Behuf des moralischen Fortschritts, (also in praktischer Absicht)« etwas »theoretisch […] anzunehmen« (AA I,3, 104). 322 Die Überzeugung von der Unsterblichkeit ist nur praktisch zu rechtfertigen, nämlich als eine für sittliches Handeln erforderliche Annahme. Theoretische Gründe lassen sich weder für noch gegen diese Annahme vorbringen. 323 Zugleich verweist Eschenmayer auf einige paradigmatische Erfahrungen, wie zum Beispiel das Altern, das uns die Vergänglichkeit des Leibes sozusagen am eigenen Leibe erfahren lässt und ein Vorgefühl des Zustandes vermittelt, der uns nach dem Tod erwartet. 324 Die Rede von einem Vorgefühl ist dabei völlig angemesDazu Siep 1999, 115 f. Eschenmayer 1803, 58 f. (§ 66). 321 Eschenmayer 1803, 59 (§ 66); vgl. auch Eschenmayer 1803, 54 (§ 60), 61 (§ 69), 106 (§ 100). 322 Auch andernorts setzt Schelling den Glauben à la Eschenmayer mit einem Fürwahrhalten gleich (vgl. SW VI, 555, 558 f.; Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394). 323 Nach Eschenmayer ist es für das Handeln völlig gleichgültig, welchen Vorstellungen von Gott man anhängt, da diese niemals auf das Handeln Einfluss nehmen könnten (vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49)). Die Moral kann durch theoretische Einsichten nicht tangiert werden. Eschenmayer bezeichnet diese Postulate jedoch nicht nur als Postulate des sittlichen Handelns, sondern ebenso der Philosophie: Die Philosophie als Gewissenhaftigkeit stützt sich ihrerseits auf diese Postulate, die sie nicht mehr zu rechtfertigen vermag, vgl. Eschenmayer 1803, 35 (§ 44), 54 f. (§ 60). 324 Vgl. Eschenmayer 1803, 60 (§ 68): Das Altern ist »ein allmähliges Abstreifen der 319 320

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Die Unsterblichkeit der Seele

sen, da das so Vorgefühlte erst dann auch Gegenstand eines wirklichen Gefühls wird, wenn die Verbindung von Leib und Seele sich auflöst. So heißt es bei Eschemayer: »Was uns hier nur durch den Glauben [oder durch jenes Vorgefühl, R. S.] offenbar ist, das wird jenseits noch Gegenstand des Erkennens seyn«. 325 Dort wird es allem Anschein nach nicht mehr bloß vorgefühlt, sondern wirklich gefühlt werden: »An die Stelle des Glaubens wird ein helleres Anschauen der Gottheit treten, und unser stummes Gebet in eine verständliche Sprache übergehen«. 326 Schelling weist nicht nur den Begriff der Unsterblichkeit zurück, der Eschenmayers Erwägungen zugrunde liegt, sondern er zeigt zudem, unter welchen Bedingungen er entstehen kann und muss. Dazu bemüht er einen weiteren Aspekt der oben referierten Unterscheidung. Diese dient nicht nur dazu, an der existierenden Seele mehrere Dimensionen zu unterscheiden und dadurch den einfachen Gegensatz von Leib und Seele zurückzuweisen, sondern sie ermöglicht zugleich eine Typologie der Seelen, indem diese Dimensionen auch in unterschiedlichen Verhältnisse zueinander stehen können. Erinnert sei an die Unterscheidung der »beyden Einheiten der Idee, die, wodurch sie in sich [die Seite ihrer Selbstheit, ihres Für-sich-selbst-Seins oder ihrer Individualität, R. S.] und die, wodurch sie im Absoluten ist«. 327 Die Existenz des der Idee entsprechenden Endlichen ermöglicht eine Trennung beider Einheiten dadurch, dass beide in einem unterschiedlichen Verhältnis zueinander stehen können. Bezüglich einer je einzelnen Seele muss somit nach dem Verhältnis dieser Einheiten gefragt werden, insbesondere danach, welche derselben das jeweils Herrschende ist. Es muss gefragt werden, ob die existierende Seele sich zu ihrer Idee oder ihrem Wesen als zu ihrem Grund verhält, sodass sie dessen bloßes Organ ist, oder ob die existierende Seele sich umgekehrt als Grund ihrer Idee als dem Existierenden verhält.

Sinnlichkeit, ein Einziehen der Neigungen und Leidenschaften, ein Absterben für den Genuss, ein rastendes Zaudern im Handeln, ein Unbekümmertseyn um alles, was spekulativ heisst, hingegen ein durch Erfahrung und vielseitige Reflexion erworbenes Gefühl für alles, was wahr, schön und gut ist« und der Tod »eine Metamorphose, wobey die Puppe der Sinnlichkeit abfällt, damit der Geist sich mit freyern Schwingen zum Urquell des Lichts erhebe«. 325 Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68). 326 Eschenmayer 1803, 61 (§ 68). 327 Schelling 1804, 45 / SW VI, 44.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Diesen Aspekt jener Unterscheidung bringt Schelling zum Tragen, indem er bemerkt: Wenn die Verwicklung der Seele mit dem Leib (welche eigentlich Individualität heisst) die Folge von einer Negation in der Seele selbst und eine Strafe ist, so wird die Seele nothwendig in dem Verhältniss ewig d. h. wahrhaft unsterblich seyn, in welchem sie sich von jener Negation befreyt hat […]. 328

Hierzu ist folgendes zu bemerken: Zum einen ist ›die Verwicklung der Seele mit dem Leib‹ nicht notwendig ›die Folge einer Negation in der Seele selbst‹ und damit eine Strafe, sondern nur insofern die Selbstheit das Übergewicht hat. Die Differenz zwischen der Seele und ihrer Idee ist nicht notwendig eine Negation, da ein Verhältnis beider denkbar ist, in welchem die Differenz zwar nicht aufgehoben ist, aber dennoch aufhört, Negation zu sein. 329 Deshalb ist es auch nicht das »höchste Ziel aller Geister […], dass sie absolut aufhören in sich selbst zu seyn«. 330 Dies käme einem Widerspruch zwischen dem Wesen und dem höchsten Ziel gleich. Das höchste Ziel ist vielmehr, dass »dieses In-sich-selbst-seyn aufhöre, Negation für sie zu seyn«. 331 Zum anderen ist die Gebundenheit der Seele an den Leib nur insofern eine Strafe, als sie eine Negation oder Beschränkung der Seele darstellt. Damit lässt Schelling die Möglichkeit einer solchen ›Verwicklung der Seele mit dem Leib‹ offen, die keinen ›strafhaften‹ Charakter hat, indem sie für die Seele nicht beschränkend ist. Beachtung verdient außerdem, dass damit die Strafe nicht in die Zukunft oder in ein Jenseits verlegt wird, sondern dass sie in die Gegenwart fällt: Die beschränkende Gebundenheit an den Leib ist selbst die Strafe, da die Seele dadurch eines höheren Grades von Vollkommenheit beraubt ist und unter ihren Möglichkeiten bleibt. Die Strafe ist jenem Zustand immanent und braucht ihm nicht erst noch durch eine äußere Instanz hinzugefügt zu werden. 332 In dieser Verfassung der Gegenwart bzw. in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit findet Schelling ein Mittel, dem Begriff der Unsterblichkeit einen neuen Sinn zu geben bzw. zu seinem ursprünglichen Sinn zurückzukehren. Schelling 1804, 69 / SW VI, 61; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1804, 62 / SW VI, 56. 330 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62 331 Schelling 1804, 71 f. / SW VI, 62. 332 »Die Endlichkeit ist an sich selbst die Strafe, die nicht durch ein freyes, sondern nothwendiges Verhängniss dem Abfall folgt« (Schelling 1804, 71 / SW VI, 61 f.). 328 329

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Die Unsterblichkeit der Seele

Daraus, dass die Seele auf zweierlei Art mit dem Leib ›verwickelt‹ sein kann, leitet Schelling zweierlei ab. Erstens ist die Seele in dem Maße notwendig unsterblich, als sie sich von der Bindung an den Leib befreit, d. h. philosophiert. Zweitens sind alle, denen eine solche Befreiung nicht gelingt, »am meisten im wahren Sinne sterblich«. 333 Jenen beiden Modi entsprechen nämlich zwei unterschiedliche Gefühle, in welchen sich der Tod oder die Sterblichkeit bekundet: die Todesfurcht oder die ›Liebe des Todes‹. Dem Zustand, in welchem die Selbstheit das Herrschende ist, entspringt notwendig eine Furcht vor dem Tod, teils weil er mit dem Wunsch, ihn unbegrenzt fortzusetzen, einhergeht, teils weil er ›dem Nichts ähnlich‹ ist. 334 Den »wahrhaft philosophirenden« hingegen entsteht eine »Liebe des Todes«, indem sie durch ihn erst in ihr wahres Wesen eingehen werden oder genauer, von dem geschieden werden, was auch an ihnen noch endlich ist. 335 An dieser Stelle hebt Schelling nochmals hervor, wie diese Ansicht mit der Annahme oder Nicht-Annahme der Realität der Endlichkeit zusammenhängt. Unter der Annahme der Realität der Endlichkeit ist eine solche Konzeption der Unsterblichkeit nicht zu behaupten. 336 Auch dann kommt man jedoch nicht umhin, zwei entgegengesetzte Zustände nach dem Tod anzunehmen. Das Spezifische liegt somit nicht nur in der Behauptung entgegengesetzter Zustände, sondern auch in ihrer Zuordnung zu einem Verhalten, einem Streben oder einer Verfassung des gegenwärtigen Willens. Beide Gefühle stehen nämlich nicht gleichgültig nebeneinander, sondern sind unterschiedlich gewertet. Schelling hatte darauf hingewiesen, dass der Begriff der Unsterblichkeit, den Eschenmayer behauptet, sich auf einen Gegensatz von Leib und Seele stützt, den dieser mit dem Dogmatismus teilt. Dagegen führt er die Unterscheidung dreier Dimensionen der Seele an. Zudem hatte er gezeigt, wie Eschenmayer nicht in der Lage ist, zwei Verhältnisse zum Tod zu unterscheiden. Außerdem hatte dieser sich Schelling 1804, 70 / SW VI, 61. Vgl. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61. 335 Schelling 1804, 69 / SW VI, 60. In einem Brief an Georgii von Ostern 1811 unterscheidet Schelling die »Liebe zum Tod« am schärfsten von einer »Sehnsucht nach dem Tod«, also von einem Herbeiwünschen des Todes (F. W. J. Schelling an E. F. Georgii, 14. April 1811, Plitt II, 249). 336 Am Gefühl der Todesfurcht zeigt sich übrigens besonders eindrucksvoll, wie das Endliche, trotz seiner Nicht-Realität, »dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankündigt« (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.). 333 334

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

auf ein ›Vorgefühl‹ berufen, um seine Behauptungen plausibel zu machen. Dagegen kann Schelling nun anführen, dass jenes Vorgefühl seltsamerweise affektiv neutral bleibt. Die Freiheitsschrift variierend könnte man sagen, dass es nicht nur ein Gefühl der »Tatsache der Freiheit«, sondern auch ein Gefühl der Tatsache der Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit gibt, das zwar »einem jeden eingeprägt ist, doch keineswegs so sehr an der Oberfläche liegt, dass nicht, um sie auch nur in Worten auszudrücken, eine mehr als gewöhnliche Reinheit und Tiefe des Sinns erfordert würde«. 337 Eschenmayer hat übersehen, dass der Mensch sich auf zweierlei, affektiv deutlich unterschiedliche Weisen auf den Tod und damit auf sich selbst verstehen kann. Deshalb ist ihm auch eine angemessene Explizierung jenes Gefühls nicht gelungen. Damit signalisiert Schelling die Möglichkeit einer ›existentiellen Hermeneutik‹, die der Bewährung seiner systematischen Erwägungen dienen könnte oder die erst aufgrund einer systematischen Weltsicht angemessen durchgeführt werden kann. 338 Deshalb fährt die soeben zitierte Stelle auch fort, dass jene Aufgabe einer Explikation der in einem solchen Gefühl sich bekundenden Tatsache wohl mit der Aufgabe eines Nachweises des Zusammenhangs eines Begriffs (der Freiheit bzw. der Unsterblichkeit) ›mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht‹ ›in Eins zusammenfällt‹. Der Hinweis auf zwei Gefühle oder zwei Verhältnisse zum Tod ist nun nicht so zu verstehen, als würde Schelling damit behaupten, dass einige oder vielleicht die meisten nur die Todesfurcht kennen, andere hingegen nur die Liebe zum Tode. In jedem sind beide Gefühle, aber Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336. Vgl. »So unfasslich diese Idee der gemeinen Denkweise vorkommen mag, so ist doch in jedem Menschen ein, mit derselben übereinstimmendes, Gefühl, als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen, und keineswegs in der Zeit erst geworden« (Schelling 1809a, 468 f. / SW VII, 386; Herv. v. Verf.). Dieses Gefühl gibt sich bereits in solchen wenig aufsehenerregenden Äußerungen kund wie dem zur Entschuldigung angeführten ›So bin ich nun einmal‹. Vgl. damit Spinozas Bemerkungen: »sentimus, experimurque, nos aeternos esse«, und: »Si ad hominum communem opinionem attendamus, videbimus eos suae mentis aeternitatis esse quidem conscios, sed ipsos eandem cum duratione confundere eamque imaginationi seu memoriae tribuere, quam post mortem remanere credunt« (Spinoza 1677, Bd. II, 296, 301 f. (Ethica, V 23 sc., V 34 sc.)). Während in der ersten Stelle von einem Gefühl der Ewigkeit die Rede ist, das nur diejenigen empfinden, die der dritten Erkenntnisart fähig sind, so wird in der zweiten Stelle auf ein Gefühl der Ewigkeit hingewiesen, das alle empfinden, wenn sie es auch nicht alle seiner Bedeutung nach richtig verstehen. 338 Vgl. Zeltner 1931, 62. Für zwei Versuche einer solcher Durchführung, vgl. Wieland 1956; van Zantwijk 2000. 337

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Die Unsterblichkeit der Seele

in einem unterschiedlichen Verhältnis. So heißt es, dass der »Wunsch nach Unsterblichkeit« im Sinne der individuellen Fortdauer »am wenigsten demjenigen entstehen [kann], welcher schon jetzt bestrebt ist, die Seele so viel möglich von dem Leibe zu lösen d. h., nach Sokrates, dem wahrhaft philosophirenden«. 339 Umgekehrt kann die Verachtung des Todes oder die Liebe zum Tode am wenigsten in den Nicht-Philosophierenden entstehen. Dieses Gefühl bleibt bei diesen in einem Zustand der Latenz. Auf diese Proportionalität legt Schelling ganz besonderes Gewicht. 340 Entscheidend ist, welchem Gefühl man am meisten Macht über sich gestattet. Wenn Schelling schreibt, dass »gerade diejenigen, die sich am wenigsten fürchten sterblich zu seyn, d. h. diejenigen, in deren Seelen das meiste ewig ist, am unsterblichsten sind«, dann zeigt diese Formulierung, dass auch jenen die Todesfurcht keineswegs unbekannt ist, dass aber das entgegengesetzte Gefühl stark genug ist, diese Furcht zu beherrschen (SW VI, 567; Herv. v. Verf.). Hierauf liegt bei Schelling auch das Schwergewicht. Hieraus ist zu ersehen, dass die Annahme »entgegengesetzter Zustände nach dem Tode« den Kern der schellingschen Lehre von der Unsterblichkeit ausmacht. 341 Gerade diesen Aspekt hebt er auch an der platonischen Lehre hervor, an welche er hier ausdrücklich erinnert. Das Vorgefühl, auf welches Eschenmayer verwiesen hatte, bleibt hingegen auffallend neutral oder affektiv indifferent. Schelling hält dagegen, dass wir unserer Sterblichkeit nicht in einem solchen neutralen Vorgefühl, sondern in einem qualifizierten Gefühl innewerden. Zudem gibt es zwei mögliche Gefühle, die ein Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit bekunden. In Eschenmayers Äußerungen zu dem ›Wie‹ des Zustandes nach dem Tode findet sich nichts von einem Unterschied entgegengesetzter Zustände. Neben der erwähnten Proportionalität ist für Schellings Unsterblichkeitskonzeption gleich bedeutend, dass wir der Unsterblichkeit »schon jetzt« gewiss sein können. 342 Es ist nicht erst Schelling 1804, 69 / SW VI, 60; Herv. v. Verf. Beachte die vielen Ausdrücke, die eine solche Proportionalität bezeichnen: »am wenigsten«, »so viel möglich« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 60), »in dem Verhältniss« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61), »fast bloss«, »am meisten« (Schelling 1804, 70 / SW VI, 61), »negirteste«, »viel wenigere« (Schelling 1804, 71 / SW VI, 62), »in dem Mass« (Schelling 1804, 72 / SW VI, 62), »soviel möglich« (Schelling 1804, 74a / SW VI, 64). Ebenso SW VI, 566 (»so viel«), 568 (»größten Theil«). 341 So Beckers 1865, 83. 342 Vgl. die Verwendung von Ausdrücke wie ›schon jetzt‹ oder ›hier schon‹, die im 339 340

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

nach dem Tode, dass die Seele in ihre eigentliche Existenz eingeht, sondern diese kann bereits in der Gegenwart zum Tragen kommen. Deshalb wird der Tod von Schelling nicht als ein zukünftiges und noch ausstehendes Ereignis bestimmt, sondern als ein solches, das bereits in die Gegenwart hineinwirkt. Der Tod wird von ihm bestimmt als eine »Reinigung« oder als eine Befreiung von der Sinnlichkeit. 343 Die Selbstheit wird nicht aufgehoben, sondern verwandelt. Zwar kann die Seele sich im gegenwärtigen Leben nie ganz von der Sinnlichkeit lösen, aber sie kann danach streben, sich so viel wie möglich davon zu lösen. Deshalb die Verwendung des Komparativs und des Superlativs. 344 Damit führt Schelling die Analysen des dritten Abschnitts fort, wo er die Identität von Sittlichkeit und Glückseligkeit beschrieben hatte. Während dort das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit im Fokus stand, da wird derselbe Zustand jetzt hinsichtlich des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft expliziert.

9. Gott als Liebe Dies führt uns zum sachlichen Zusammenhang zurück, der Schelling dazu bewegt haben mag, die Frage nach der Unsterblichkeit an diesem Punkt von Philosophie und Religion zu erörtern, wenn es dem Anschein nach auch bloß aus Veranlassung einiger Äußerungen Eschenmayers geschah. Die Konstruktion der Vergangenheit diente, wie wir gesehen haben, dem Nachweis des Abfalls als eines allgemeinen Prinzips und der Begründung der Behauptung, dass Gott »eben so in Bezug auf die Gattung das gleiche Wesen der Freyheit und der Nothwendigkeit« ist. 345 Diese Aufgabe ist jedoch erst dann vollständig gelöst, wenn es zudem gelingt, zu zeigen, dass die Geschichte des »Geisterreichs« eine Endabsicht habe, welche diese sei, und, schließlich, dass die Endabsicht des Geisterreichs oder der Geschichte die vierten Abschnitt viermal und SW VI, 566 (§ 315), auf engstem Raum fünfmal vorkommen. 343 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62. 344 So ist z. B. die Rede von solchen, welche »den Dämon in sich am meisten befreyt haben« und von solchen, die »von Materie trunken gleichsam am meisten, in ihrem Sinne, fortdauern« (Schelling 1804, 70 / SW VI, 61; Herv. v. Verf.). Ferner noch vom »negirteste[n] Zustand«, von »viel wenigere[n] Zwischenstufen« usw. (Schelling 1804, 71 / SW VI, 62). 345 Schelling 1804, 63 / SW VI, 56.

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Gott als Liebe

Endabsicht »des gesammten Weltphänomens« erkennen lässt. 346 Die Absicht, die sowohl der reellen als auch der ideellen Reihe zugrunde liegt, wird somit erst und nur innerhalb der ideellen Reihe überhaupt offenbar. Beachten wir nochmals kurz den Aufbau des dritten und vierten Abschnitts. Der Abschnitt Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit handelte zunächst von der Gegenwart, in welcher sich ein Abfall zeigte, der indessen immer noch eine Abhängigkeit von dem bezeugt, wovon abgefallen wird. Ein angemessener Begriff der Gegenwart beinhaltet zugleich ihr Verhältnis zur Vergangenheit. Wir können diese Vergangenheit auch als eine absolute bezeichnen, da sie nie Gegenwart gewesen ist und, obwohl der Gegenwart nicht homogen, doch in diese hineinragt oder in sie insistiert. Um das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit zu explizieren, hatte Schelling als paradigmatisches Beispiel auf die Erziehungsbedürftigkeit des ›gegenwärtigen Menschengeschlechts‹ hingewiesen. Die Heterogenität von Vergangenheit und Gegenwart schlug sich auch in der Darstellungsweise nieder: Für die Erkenntnis der Vergangenheit sind wir auf Hypothesen und Mutmaßungen angewiesen, die insofern als berechtigt gelten können, als sie die Verfassung der Gegenwart zu erklären vermögen. Jede der drei Zeitdimensionen verlangt einen eigenen ihr angemessenen Modus des Erkennens, um in ihrer Eigenart erschlossen zu werden. Der Erkenntnismodus, der für die Gegenwart und alles Gegenwärtige der angemessene ist, eignet sich somit nicht als eine Norm, die auch für die anderen Zeitdimensionen Gültigkeit hätte. Der erste Satz des vierten Abschnitts signalisiert dem Leser, dass jetzt zur Dimension der Zukunft übergegangen werden soll. So heißt es denn auch wenig später: »Hat schon die erste Endlichkeit der Seele eine Beziehung auf Freyheit und ist eine Folge der Selbstheit« – was sich daran zeigte, dass Schelling den gegenwärtigen Zustand als eine Strafe oder als eine Befreiung von derselben gedeutet hatte –, so kann auch jeder künftige Zustand der Seele zu dem gegenwärtigen nur in diesem Verhältniss stehen und der nothwendige Begriff, durch welchen allein die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird, ist der der Schuld [und der mit ihr gleichzeitigen Strafe, R. S.] oder der Reinheit von der Schuld. 347

346 347

Schelling 1804, 64 / SW VI, 57; Herv. v. Verf. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Die Schuld besteht im Versäumnis, das in der eigenen Natur enthaltene Potential zur Entfaltung zu bringen. Da die ursprüngliche Schuld die Möglichkeit, dieses Versäumnis wiedergutzumachen und den Abfall rückgängig zu machen, nicht aufhebt, ist die Rede von einer Schuld durchaus berechtigt, da jenes Versäumnis uns deshalb zugeschrieben werden kann. Erst die Berücksichtigung der dritten Zeit-Dimension, der der Zukunft, erlaubt es, einen vollständigen Begriff der Geschichte und damit des Abfalls zu gewinnen. Der Begriff der Unsterblichkeit bzw. der Ewigkeit der Seele, so wie Schelling ihn hier entwickelt, dient dazu, einen Begriff von dem bereitzustellen, was wir als absolute Zukunft bezeichnen könnten. Auch Gegenwart und Zukunft sind heterogen: Die Zukunft ist nicht das bloß noch Ausstehende, sondern ragt ebenfalls in die Gegenwart hinein oder diese ist auf jene hin geöffnet. Deshalb betont Schelling, dass jene Zukunft ›schon jetzt‹ und ›schon hier‹ insbesondere in bestimmten Gefühlen sich kundgibt. Mit dem Begriff einer absoluten Zukunft hat Schelling einen ersten Schritt zur Lösung der Frage nach der Endabsicht der Geschichte getan. Aus der näheren Bestimmung dieses Begriffs wird zu ersehen sein, worin diese Endabsicht besteht. Zunächst scheint es jedoch rätselhaft, inwiefern Schelling überhaupt eine solche Endabsicht annehmen kann, da die zeitliche Existenz oder der Abfall nach seiner Behauptung doch im Absoluten oder im Wesen der Seele, insofern diese im Absoluten begriffen ist, nichts verändert. 348 Da die zeitliche Existenz nichts im Wesen der Seele verändert, scheint sie nach dem Tode genauso wieder in Gott einzugehen, wie sie von ihm abgefallen ist. In der erneuten Einswerdung mit dem Absoluten scheint alles Individuelle wieder verloren zu gehen. 349 Damit die Reinigung vom Leiblichen oder ihre Unterlassung einen Unterschied macht, muss etwas von der Individualität erhalten bleiben, »das nicht von Gott war« und das die Seele ausschließlich sich selbst zuschreiben könnte. 350 Diese Einswerdung mit dem Absoluten darf somit nicht als ein Einerlei-Werden gedacht werden. Wenn der Abfall auch ein bloßes Akzidens ist, das im Wesen der Seele nichts verändert, so ist es doch nicht das Wesen der Seele, das wieder in Gott eingeht, während alles Individuelle der Seele und des Leibes als Abfall zurückbleibt, sondern nur so viel geht 348 349 350

Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42. Vgl. Beckers 1865, 78. So Beckers 1865, 77.

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Gott als Liebe

von der wirklich existierenden Seele wieder in Gott ein, als von ihr dem Wesen untergeordnet und dadurch zu einem Ausdruck oder ›Werkzeug‹ des Absoluten gemacht worden ist. Das Verhältnis der drei ›Dimensionen‹ in der jeweils existierenden Seele ist entscheidend dafür, wie viel von ihr ewig oder unsterblich ist. Deshalb kann Schelling sagen, dass, je mehr man hier die Seele von ihrer Beziehung zum Leib reinigt und sie stattdessen zum Organ des Absoluten umgestaltet, desto mehr auch unsterblich ist. 351 Schelling definiert den Tod als die Reinigung vom Leib bzw. von allen Verhältnissen, in welche die Seele im gegenwärtigen Leben verwickelt ist. Wieviel nach dieser Reinigung oder Substraktion übrigbleibt, ist jedoch abhängig davon, wie man gelebt hat. An der platonischen Lehre hebt Schellings insbesondere den Gedanken hervor, dass die ethisch qualifizierte Differenz über den Tod hinaus Bestand hat. 352 Deshalb kann er auch die Endabsicht der Geschichte als eine »Versöhnung des Abfalls« bestimmen. 353 Die Unsterblichkeit der Seele betrifft somit die Folgen des Verhältnisses von individueller Seele und Wesen der Seele. Die erste, aus dem Abfall erfolgende Selbstheit ist eine bloß notwendige, die »aus der unmittelbaren Wirkung Gottes herfliess[t]« und die »Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten […] verleiht«. 354 Der Abfall in diesem Sinne verknüpft Gegenwart und Vergangenheit und bindet jene an diese als an ihren Grund. Die zweite, in der Zeit erworbene Selbstheit hingegen ist eine selbstgegebene: Nur diese geht auch in die Zukunft ein. Der Einzelne hat insofern eine gewisse Distanz zur ersten Selbstheit, indem es ihm frei steht, sie zum Herrschenden oder zum Unterliegenden zu machen. Dadurch kann die erste Selbstheit eine Anreicherung erfahren und einen neuen Wert erhalten, den sie in Gott nicht hatte oder haben konnte und der ihr nur dadurch zuwachsen kann, dass die Idee der Endlichkeit anheimgegeben wird. 355 Von hier aus »mag auch dieser [Abfall, R. S.] in jener Beziehung von einer mehr positiven Seite angesehen werden«. 356 Erst jetzt ist es Vgl. Schelling 1804, 69 / SW VI, 60. Schelling 1804, 71 / SW VI, 62. 353 Schelling 1804, 73a / SW VI, 63. 354 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63. 355 Für den Unterschied zwischen »Ewigkeit des Geistes a parte ante« und »Ewigkeit a parte post«, vgl. Beckers 1865, 107. 356 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63. 351 352

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

möglich, einen vollständigen Begriff des Abfalls zu entwickeln, den Schelling von Anfang an in Aussicht gestellt hatte und der mit den Ausführungen im zweiten Abschnitt noch keineswegs geleistet war. 357 Dieser Begriff bezieht sich auf den Abfall als allgemeines Geschehen, da es gilt, die Endabsicht »des gesammten Weltphänomens« zu ermitteln. 358 Der Abfall ist insofern ein allgemeines Geschehen, als das Prinzip der Seele oder der Individualisierung sich in der ganzen Natur immer ausgeprägter zeigt. 359 Insofern die Natur im Menschen den höchsten Grad der Individuation erreicht, kann man sagen, dass die ganze Natur auf die Hervorbringung des Menschen als eines vernunftfähigen Wesens ausgerichtet ist. Es war die Aufgabe der Naturphilosophie, zu zeigen, dass das reelle Prinzip sich mit jener Leistung oder mit der Hervorbringung eines Potenzlosen erschöpft hat. Hierin lässt sich jedoch noch keine Absicht wahrnehmen, indem jenes Ziel sich lediglich aus der immanenten Logik des Prinzips ergibt. 360 Mit dem Menschen ist allerdings eine Wiederholung des Abfalls möglich, da es nur ihm möglich ist, »aufs Neue in die Nicht-Absolutheit zu fallen« oder wieder »sich in die Absolutheit herzustellen«. 361 Nur dem Menschen ist es möglich, eine dieser beiden Möglichkeiten aus Freiheit zu verwirklichen. Nur in ihm kann die Individuation zu einem Mittel zur Wiederherstellung der Absolutheit werden. Damit kann nur in ihm dem ersten Abfall die neue Qualität des Bösen oder auch des Guten zuwachsen. Diese sittlich differente Qualität erhält der Abfall erst und nur im Menschen, da nur er den Abfall so zu wiederholen vermag, dass er ihm zuschreibbar ist. So wird der Abfall zum »Mittel der vollendeten Offenbarung Gottes«, da nur durch ihn »die Ideen […] fähig werden, als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn«. 362 Da die Ideen nur die Fähigkeit erhalten, auch ›als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn‹, heißt dies somit noch nicht, dass der Abfall in dem Sinne ein Mittel Vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Schelling 1804, 64 / SW VI, 57. 359 Vgl. Schelling 1804, 43 f. / SW VI, 44. 360 Dies bezeichnet Schelling später als den »Willen des Grundes«, der »kein bewusster oder mit Reflexion verbundner Wille« ist, »obgleich auch kein völlig bewusstloser«. Dieser Wille ist insofern blind, als er nicht weiß, was er will, und zwar in einem doppelten Sinn: Er wird nicht durch eine Absicht geleitet und er sieht nicht voraus, was aus ihm erfolgen wird (Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395). 361 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f. 362 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf. 357 358

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Gott als Liebe

zur Offenbarung Gottes wäre, dass die Ideen unmittelbar durch den Abfall notwendig wieder in der Absolutheit wären. Damit ist nicht nur der Begriff des Abfalls vervollständigt, sondern auch der Begriff des Absoluten erhält auf dieser zweiten Szene, innerhalb der ideellen Reihe, einen neuen Wert, der ihn vervollständigt. Erst innerhalb der ideellen Reihe zeigt sich eine Dimension des Absoluten, die innerhalb der reellen Reihe oder nach der Logik des reellen Prinzips nicht hervorzutreten vermochte. Insofern die Endabsicht, die sich in der Geschichte entdecken lässt, Gott zugeschrieben werden kann und insofern er somit mit dem Universum insgesamt eine Absicht verfolgt, ist er selbst als ein Wille zu denken. 363 Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur [und d. h. insofern er bloß Grund von Realität ist, R. S.], dem Angeschauten die Selbstheit verleiht [und er kann nicht anders, wenn dasjenige, worin er sich selbst anschauen soll (das Angeschaute), gleich absolut sein muss wie er selbst, R. S.], giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn, welches durch die vollkommne Sittlichkeit geschieht. 364

Der Abfall erhält dadurch einen sinnhaften Charakter, dass er endliche Wesen dazu befähigt, sich ein eigenes Leben zu geben, sich Eigenschaften zuwachsen zu lassen, die ihnen nicht bereits aufgrund Wenn dies in Philosophie und Religion auch nicht expressis verbis formuliert wird, so ist nicht zu sehen, welchen Sinn es hat, von einer Absicht zu sprechen, wenn diese nicht aus einem Willen erwächst. Dieser Wille wird in den Philosophischen Untersuchungen, im Unterschied zum »Willen des Grundes«, als ein »Wille der Liebe« bestimmt. Dieser ist kein blinder, sondern ein »freyer und bewusster Wille«. Dieser Wille ist zum einen durch eine Absicht geleitet, zum anderen ist er mit einem Wissen darüber verbunden, was aus seiner Tat erfolgen wird. Ohne letztere Bestimmung wäre dieser Wille zwar nicht völlig blind, indem er ja durch eine Absicht geleitet wird, aber immer noch insofern blind, als er nicht wirklich weiß, was er will bzw. welche Folgen sich aus seinem Willen ergeben werden, so dass Gott durch diese Folgen unangenehm überrascht sein könnte (vgl. Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395). Das häufige Vorkommen von ›damit‹, ›daher‹ und ›um‹ markiert stets eine Absicht, die Gott mit der »Schöpfung« verfolgt (vgl. Schelling 1809a, 487–492 / SW VII, 399– 403). 364 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf. Vgl.: »Die Ideen, die Geister mussten von ihrem Centro abfallen, sich in der Natur, der allgemeinen Sphäre des Abfalls, in die Besonderheit einführen, damit sie nachher, als besondere, in die Indifferenz zurückkehren und, ihr versöhnt, in ihr seyn könnten, ohne sie zu stören« (Schelling 1804, 64 / SW VI, 57; Herv. v. Verf.). 363

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ihrer idealen Verfassung, aber ebenso wenig bloß von den Verhältnissen, in welchen sie sich finden, zukommen, sondern die ihnen selbst zuzuschreiben sind. Erst dadurch ist ihnen die Möglichkeit eröffnet, ›als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn‹ oder aber diese Möglichkeit zu verfehlen. Diese ist nur durch die vollkommene Sittlichkeit realisierbar, wenn auch niemals der ganze Mensch, so wie er in der Zeit oder als endliches Wesen ist, in jene Absolutheit wieder eingeht, sondern nur der Teil von ihm, der jener vollkommenen Sittlichkeit entspricht. 365 Die Identität mit Gott ist somit keine Aufhebung der Selbstheit oder ein Verschwinden des Individuums in Gott, sondern die Selbstheit, oder besser, der Teil der Selbstheit, der Ausdruck des Wesens der Seele geworden ist, bleibt darin erhalten. Gott, so wie er hier erscheint, fungiert demnach als ein Auswahl- oder Ausleseprinzip, das nur dasjenige durchlässt, was Realität hat, insofern es der Idee entspricht, das andere aber zurückstößt. Gott offenbart sich zwar auch in der Natur, aber nur insofern er Grund ist. Diese eine Seite der ›Offenbarung‹ Gottes wird aber insgesamt Grundlage für die Offenbarung Gottes, insofern er auch actu existiert oder sich durch die Tat manifestiert, was nur in der Geschichte oder auf geschichtliche Weise stattfinden kann. Deshalb wird die Endabsicht der Geschichte des Universums oder der Natur nur in der Endabsicht der Geschichte des Geisterreichs offenbar. 366 Deshalb kann Schelling schreiben: »Mit dieser Ansicht vollendet sich erst das Bild jener Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das Gegenbild«, erst hier zeigt sich die Indifferenz als eine »Liebe Gottes zu sich selbst«. 367 Die ursprüngliche Indifferenz erhält an dieser Stelle die Qualität der Neidlosigkeit. Vom Neid war vorher nur ein einziges Mal die Rede, indem Schelling eine Stelle aus dem Timaios (29e) anführte: »Der Ordner des Alls, drückt sich der Timäus in seiner bildlichen Sprache aus, war gut: dem Guten aber entsteht niemals, wegen irgend etwas noch irgendwann, Neid: dessen frey wollte er, dass Alles so viel möglich ihm ähnlich sey«. 368 Die Neidlosigkeit zeigt sich ins»Jede Seele ist mit dem Theil ihrer Individualität ewig [d. h. unsterblich, R. S.], der in Gott ist« (SW VI, 565 f. (§ 315)). 366 Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. 367 Schelling 1804, 73a f. / SW VI, 63. 368 Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Vgl.: »Das Absolute aber ist nothwendig affektionslos. Es ist nichts in Gott, wozu er sich neigen oder bewegen könnte, sondern er ist das ewig gleich ruhige Centrum« (SW VI, 160 (§ 15)). 365

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Gott als Liebe

besondere daran, dass das Absolute sich in sein Gegenbild hineinbildet, damit dieses »zugleich es selbst« und »ein wahrhaft anderes Absolutes« zu sein vermag. 369 Damit ist ihm aber zugleich die Möglichkeit gegeben, vom Urbild abzufallen. Gott kann als neidlos charakterisiert werden, sowohl indem er gegen das Leiden indifferent oder gleichgültig ist, das dem Endlichen insofern zu Teil wird, als es von seinem Urbild abfällt, als auch gegen die Seligkeit, die ihm insofern zu Teil wird, als er ein Leben in Übereinstimmung mit dem Urbild zu führen vermag. Diese Indifferenz oder Neidlosigkeit ist indessen nur der negative Ausdruck der Liebe. Der positive Ausdruck der Liebe oder einer »göttlichen Identität« findet sich darin, dass »in jener nicht Entgegengesetzte verbunden werden, die der Verbindung bedürfen, sondern solche, deren jedes für sich seyn könnte, und doch nicht ist ohne das andere«: »Diess ist das Geheimniss der ewigen Liebe, dass, was für sich absolut seyn möchte, dennoch es für keinen Raub achtet, es für sich zu seyn, sondern es nur in und mit den andern ist«. 370 Es ist Gott, der die Eigenschaft der Absolutheit nicht für einen Raub erachtet, und der somit bereit ist, sie hinzugeben, oder der nicht neidisch ist, dass auch andere ihrer teilhaftig werden. Würde Gott es den endlichen Dingen grundsätzlich unmöglich machen, so wie er selbst absolut zu sein und ihm durch die Absolutheit ähnlich zu sein, dann wäre dies ein Anzeichen dafür, dass er diese Eigenschaft (die Absolutheit) für einen Raub erachtet, nämlich für eine solche Eigenschaft, die er sich selbst exklusiv vorbehält und in Bezug auf die er nicht bereit ist, sie auch anderen teilhaftig werden zu lassen. Dem Absoluten fehlt nicht nur der Neid. Es kann zudem nicht so gedacht werden, als würde es sich über das Unglück der Menschen (ihre Nicht-Absolutheit) erfreuen und über ihr Glück (die Absolutheit) traurig sein. Vielmehr freut es sich über ihr Glück und ist traurig über ihr Unglück: Nur dies ist Anzeichen einer »Liebe Gottes zu sich selbst«. 371 Dass dieses Theoriestück hier nicht lediglich aus Veranlassung einiger Bemerkungen Eschenmayers vorkommt, zeigt sich daran, dass es in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände keineswegs fehlt, da vielmehr die durch jenes Theoriestück 369 370 371

Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34. Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174 (§§ 162 f.). Schelling 1804, 74a / SW VI, 63.

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implizierten Fragen zu den mit der Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit zusammenhängenden Gegenständen gehören. So wird auch in der Freiheitsschrift nach der »Endabsicht« der ›Schöpfung‹ und damit des »gesammten Weltphänomens« gefragt. 372 Auch dort kann die Frage nur dadurch beantwortet werden, dass sich eine Endabsicht in der Geschichte entdecken lässt. Bevor wir auf die hier von Schelling formulierte Antwort eingehen können, müssen wir die Stelle kurz in ihren Zusammenhang zurückstellen, da dieser nicht leicht zu durchschauen ist. Nachdem Schelling nämlich die Frage nach der Möglichkeit 373 und der Wirklichkeit 374 des Bösen bzw. nach der »Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös« behandelt hat, kommt er auf die »höchste Frage dieser ganzen Untersuchung« zu sprechen. 375 An dieser Stelle der Untersuchungen vollzieht sich ein auffälliger Wechsel der Tonart: Nachdem Schelling bislang eine Deduktion aus den Prinzipien mit Erläuterungen und kritischen Anwendungen abgewechselt und beide klar unterschieden hatte, 376 nimmt die Darstellung jetzt plötzlich eine dialektische Gestalt an, indem er sich von einem imaginierten Gegner mögliche Einwände zuspielen lässt 377 und zeigt, wie die Ergebnisse der vorherigen Deduktion vollkommen ausreichend sind, um diese Einwände zurückzuweisen bzw. ihnen zu entgegnen. 378 Schelling kann die Konstruktion Vgl. Schelling 1809a, 493, 494, 495 / SW VII, 403, 404, 405. Vgl. Schelling 1809a, 438–450 / SW VII, 364–373. 374 Vgl. Schelling 1809a, 451–480 / SW VII, 373–394. 375 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. 376 Vgl. dazu Schelling 1809a, 438–441 / SW VII, 364–366 mit Schelling 1809a, 441– 450 / 366–373 und Schelling 1809a, 451–455 / SW VII, 373–376 mit Schelling 1809a, 455–480 / 376–394. 377 Dieser Teil ist durch Fragen strukturiert: »Die vorläufige Frage wegen der Freyheit Gottes in der Selbstoffenbarung« (Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »und darin liegt auch allein die Antwort auf die Frage,« (Schelling 1809a, 487 / 399); »Die Frage aber, warum Gott« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott den Willen des Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Eine andre Gegenrede«, »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schelling 1809a, 493 / 403); »Schon lange hörten wir die Frage« (Schelling 1809a, 496 f. / 406). – Gerade in diesem Teil entsteht der »Gang« der Erörterung noch am meisten »gesprächsweise«, indem Schelling erwägt, welche Einwände man gegen seine Ansicht vorbringen könnte und sogleich zeigt, welche Mittel im Bisherigen bereitliegen, um solche Zweifel zu zerstreuen (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410). Zu dieser »dialoghaften Gliederung« vgl. Ehrhardt 1995, 221. 378 »Die vorläufige Frage […] scheint zwar durch das Vorhergehende entschieden« (Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »Dass die Selbstoffenbarung in Gott […], haben 372 373

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Gott als Liebe

durch die dialektische Erörterung ersetzen, weil er im Vorhergehenden bereits alle dazu erforderlichen Mittel gefunden hat. Bis hierher hatte Schelling dadurch bereits gezeigt, wie das Böse kein anfängliches Wesen sein kann, dass er eine Vergangenheit konstruierte, in welcher das Böse zwar vorkommt, aber nicht in der Eigenschaft eines Bösen, sondern nur als ›dunkler Grund‹. Außerdem hatte er gezeigt, wie das Böse auch in der Gegenwart keine Realität hat, indem es zwar immer nach seiner Aktualisierung strebt, ihm diese jedoch nicht gelingt oder auch nur gelingen kann, weshalb es nur im Gegensatz einen Schein von Realität erhält. Nachdem er so die ›Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös‹ nachgewiesen hat, soll nun die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ erörtert werden. 379 Obwohl Schelling betont, dass er damit »die höchste Frage dieser ganzen Untersuchung« in Angriff zu nehmen gedenkt, so lässt er es doch zunächst offen, welche denn diese »höchste Frage« sei, um sich stattdessen in der Erörterung von Fragen zu verwickeln, die auf jene »höchste Frage« höchstens vorbereiten oder zu ihr hinführen sollen. 380 Als erstes wird die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ in der Hinsicht betrachtet, ob die ›Schöpfung‹ »mit blinder und bewusstloser Nothwendigkeit erfolgt« oder ob sie »eine freye und bewusste That« ist. 381 Die Beantwortung dieser Frage ist aber bereits »durch das Vorhergehende entschieden«: Die ›Schöpfung‹ ist als eine »That« zu denken. 382 Danach wirft Schelling die Frage nach dem »Verhältniss Gottes als moralischen Wesens zur Welt« auf. 383 Nur insofern Gott »alle Folgen derselben«, nämlich seiner Selbstoffenbarung »vorgesehen« hat, ist jene Tat als eine »Entscheidung« und als eine »bewusste und sittlich-freye That« anzuwir bereits erklärt« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott […], haben wir ebenfalls schon gezeigt« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Es giebt darauf keine Antwort, als die schon gegebene« (Schelling 1809a, 493 / 403); »Die erste Periode der Schöpfung ist, wie früher gezeigt worden …« (Schelling 1809a, 394 / 404). 379 Bereits die Überschrift des zweiten Abschnitts von Philosophie und Religion unterscheidet zwischen der Frage nach der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten« und der Frage nach »ihr[em] Verhältniss zu ihm« (Schelling 1804, 18 / SW VI, 28). Diese Unterscheidung kehrt am Ende wieder, wo zwischen dem »Ursprung des Universum aus ihm [Gott, R. S.]« und »sein[em] Verhältniß zu diesem« unterschieden wird (Schelling 1804, 74a / SW VI, 63 f.). 380 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. 381 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. 382 Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394. 383 Schelling 1809a, 483 / SW VII, 396.

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sehen. 384 In der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ unterscheidet Schelling somit zweierlei: zum einen die »Freyheit Gottes in der Selbstoffenbarung« oder die »Freyheit in der Schöpfung«, zum anderen die Vorsehung. 385 Nur beide zusammen, Freiheit und Vorsehung, machen einen vollständigen Begriff der ›Schöpfung‹ als eine Tat aus. Daran schließt Schelling nun wieder eine Erläuterung oder kritische Anwendung des Gesagten an. 386 Die ganze bisherige Erörterung sollte nur auf eine zweite Frage vorbereiten, »um deren willen diess vorausgeschickt worden«, nämlich die Frage »wegen der Möglichkeit des Bösen in Bezug auf Gott«. 387 Abermals wiederholt Schelling nur solches, das früher bereits bewiesen wurde. Insbesondere hebt er erneut die Nicht-Realität des Bösen in der gegenwärtigen Weltverfassung hervor, indem er daran erinnert, dass es nur im Gegensatz Realität hat. Aber auch die Beantwortung dieser Frage und der damit zusammenhängenden 388 dient nur der Vorbereitung der Erörterung der eigentlichen, gleich anfangs in Aussicht gestellten »höchste[n] Frage dieser ganzen Untersuchung«, nämlich nach der Endabsicht der ›Schöpfung‹. 389 Alle diese vorbereitenden Fragen kreisen um die eine Frage nach dem Bösen und insbesondere nach der Gegenwart, in welcher das Böse eine unverkenn-

Schelling 1809a, 484 / SW VII, 397. Schelling 1809a, 481, 483 / SW VII, 394, 396. 386 Vgl. Schelling 1809a, 484–486 / SW VII, 397–398. 387 Schelling 1809a, 481 / SW VII, 399. 388 Schelling 1809a, 492, 493 / SW VII, 402, 403. Die mit der Frage nach dem Bezug zwischen der Möglichkeit des Bösen und der Güte Gottes zusammenhängenden Fragen sind die, weshalb es überhaupt einen Grund in Gott gibt (Schelling 1809a, 487 / SW VII, 399), ob Gott als Grund Urheber des Bösen sei (Schelling 1809a, 488 / SW VII. 399), ob »Gott selbst […] das Böse gewollt [habe]« (Schelling 1809a, 491 / SW VII, 402 f.), »warum Gott […] nicht vorgezogen habe, sich überhaupt nicht zu offenbaren« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 402), warum »Gott den Willen des Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 403), ob Gott dem Sünder nicht »die Kraft gebe, das Böse zu vollbringen« (Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403). 389 Deshalb heißt es auch: »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403), wobei ›alles dieses‹ sich auf die seit Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394 erörterten Fragen bezieht. Obwohl Schelling alle Fragen, die als Einwände gegen sein System gerichtet werden könnten, bislang erfolgreich hat beantworten können, so wäre die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ doch nicht vollständig und befriedigend beantwortet, wenn nicht auch diese letzte Frage, nämlich ob die Schöpfung auch eine Endabsicht habe, beantwortet werden kann. 384 385

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bare und unbestrittene Realität zu haben scheint. Die nach der Beantwortung der vorbereitenden Fragen noch unbeantwortet gebliebene Frage bezieht sich jedoch auf die Zukunft. Eigentlich sind dabei drei Fragen zu beantworten. 390 Erstens die Frage, ob »das Böse [endet]« oder nicht, oder ob »überhaupt die Schöpfung eine Endabsicht« habe oder nicht. 391 Gesetzt, dass das Böse endet, so ist, zweitens, zu fragen, wie es denn endet oder welche die Endabsicht der ›Schöpfung‹ ist. Und gesetzt, dass die ›Schöpfung‹ eine Endabsicht habe, so bleibt, drittens, immer noch die Frage zu beantworten, »warum diese […] nicht unmittelbar erreicht [wird]«. 392 Die ›höchste Frage‹ kann als die Frage zusammengefasst werden, warum überhaupt Geschichte ist und warum diese in den drei Dimensionen oder Perioden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandergezogen ist. Es scheint, dass die genannten drei Fragen auch in dieser Reihenfolge beantwortet werden müssen, da die Beantwortung der zweiten und dritten Frage voraussetzt, dass über die erste entschieden ist. Dennoch beantwortet Schelling die dritte Frage zuerst, und zwar, weil er sich damit begnügen kann, auf »die schon gegebene« Antwort zu verweisen. 393 Diese war dort gegeben worden, wo Schelling die Konstruktion der Perioden der Geschichte durchgeführt hatte. Das Ziel der ›Schöpfung‹ wird deshalb nicht unmittelbar erreicht, weil der »Wille des Grundes […] in seiner Freyheit bleiben [muss], bis dass alles erfüllt, alles wirklich geworden sey« oder, anders gesagt, damit das Gute sich ganz aktualisieren kann. 394 Damit sind jedoch zugleich auch die erste und die zweite Frage beantwortet: »Denn diess ist die Endabsicht der Schöpfung, dass, was nicht für sich seyn könnte«, nämlich die Ideen, insofern diese in Gott »ohne selbstständiges Leben waren«, »für sich sey«. 395 Aus dieser Endabsicht der Schöpfung lässt sich auch eine positivere Ansicht der Geburt oder des Abfalls gewinnen, der sich als notwendig erweist, um jene Absicht überhaupt verfolgen zu können. Damit hat auch der Tod sich zugleich als notwendig erwiesen, da nur so das Böse enden kann. Damit ist die Stelle in den Philosophischen Untersuchungen bezeichnet, wo die Unsterblichkeitslehre hingehört. Sie ist in dem systematischen Zu390 391 392 393 394 395

So auch Brouwer 2011, 263. Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403. Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403. Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403. Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404. Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404.

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sammenhang unentbehrlich, da nur mittels ihrer die Frage nach der ›Endabsicht der Schöpfung‹ und damit die nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ sich beantworten lässt. Ohne diese Lehre bliebe die Frage, ob und wie das Böse endet, ohne Antwort. Dennoch erweist auch die Beantwortung jener übriggebliebenen Frage sich plötzlich als ebenfalls nur eine Vorbereitung, die erst »auf den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« hinführt. 396 Aus der gleichlautenden Formulierung ist klar, dass Schelling erst hier wirklich an die ›höchste Frage dieser ganzen Untersuchung‹ anknüpft. Keine der bislang erörterten Fragen war die höchste Frage selbst, wenn ihre Beantwortung allerdings erforderlich war, um jenen höchsten Punkt überhaupt ansteuern zu können. Mit der Erreichung dieses höchsten Punkts kehrt die Untersuchung zugleich zu ihrem Anfang zurück. 397 Die »gegenwärtige Untersuchung« »gründet[e]« sich nämlich auf eine Unterscheidung, die Schelling, als er sie einführte, nicht eigens begründet oder gerechtfertigt hatte. 398 Stattdessen hatte er sich darauf beschränkt, sie bloß zu erläutern und für die Begründung auf die Darstellung meines Systems der Philosophie zu verweisen. Nach einem solchen provokanten Vorgehen darf es kaum verwundern, wenn wir »[s]chon lange […] die Frage [hörten]: wozu soll doch jene erste Unterscheidung dienen«, da es eine solche Frage gerade herausfordern will. 399 Eine Begründung im eigentlichen Sinn soll indessen auch hier nicht nachgeliefert werden. Stattdessen möchte Schelling vielmehr darauf hinweisen, wie jene Unterscheidung sich insbesondere durch die Folgen, die sich aus ihr ziehen lassen, bewährt hat, ebenso durch den Gebrauch, den er von ihr bei der Beantwortung metaphysischer Grundfragen gemacht hat. Bevor er zur Beantwortung dieser Frage übergeht, schaltet Schelling jedoch erneut eine »dialektische Erörterung« ein, die als Ziel hat, die Frage zu präzisieren, um möglichen Missverständnissen der Frage selbst vorzubeuSchelling 1809a, 496 / SW VII, 406. Die ›schon lange gehörte Frage‹ bezieht sich zunächst auf »die höchste Frage dieser ganzen Untersuchung« (Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394), die dort noch nicht ausformuliert wurde, sodann auf Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357, wo »die Unterscheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloss Grund von Existenz ist«, ganz unvermittelt eingeführt wurde. Anschließend kommt Schelling auf Friedrich Schlegels Vorwurf des Pantheismus zurück, der das Leitthema für die Einleitung der Untersuchungen abgegeben hatte (Schelling 1809a, 502 f. / SW VII, 409 f.). 398 Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357. 399 Schelling 1809a, 496 f. / SW VII, 406. 396 397

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Gott als Liebe

gen. 400 Die positive oder ›ganz bestimmte‹ Erklärung bezieht sich dann erneut auf den Charakter des Absoluten als Indifferenz und Liebe. 401 In Philosophie und Religion hatte Schelling bemerkt, dass »der Ursprung des Universum aus ihm [sc. Gott, R. S.] und sein Verhältniss zu diesem« sich noch am angemessensten durch das »Bild der Liebe Gottes zu sich selbst« darstellen ließen. 402 Als Beleg für die Behauptung führt er lediglich eine Stelle Spinozas an. 403 Die Rede von einer Liebe Gottes zu sich selbst gilt Schelling indessen nur als ein ›bildlicher Ausdruck‹ eines Sachverhalts. Der gemeinte Sachverhalt ist jener »Zustand der Seele, in welchem sie das wirklich ist, was sie der Idee nach ist«, in welchem sie demnach mit ihrer eigenen Natur, insbesondere mit der Vernunft, völlig in Übereinstimmung ist: Ist also das ganze Wesen der Seele das, was es an sich oder der Idee nach ist, auch wirklich, nämlich die absolute Affirmation der Idee Gottes, nichts außer dem, so können aus ihr auch keine Handlungen folgen, als Schelling 1809a, 499 / SW VII, 407; vgl. Schelling 1809a, 497–499 / SW VII, 406– 407. Die »dialektische Erörterung« knüpft offensichtlich an Philosophie und Religion an: Die Bemerkung, dass »die beyden Prinzipien« (Reales und Ideales, Objektives und Subjektives) »von dem Ungrund niemals als Gegensätze prädicirt werden [können]« (Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407), ist mit der »erste[n] Form des Setzens der Absolutheit« zu vergleichen, wonach diese nur »durch ein Weder – Noch« ausgedrückt werden kann (Schelling 1804, 11 / SW VI, 23). »Aber es hindert nichts, dass sie nicht als Nichtgegensätze, d. h. in der Disjunktion und jedes für sich von ihm prädicirt werden« (Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407). Prädikate ›zugleich‹ oder aber ›gleicherweise‹ von etwas (in diesem Fall vom Ungrund) auszusagen, ist für Schelling also nicht dasselbe. Vgl. für diese wichtige Unterscheidung Schelling 1809a, 499 / SW VII, 408 und beachte Schelling 1804, 13 / SW VI, 24. 401 Dazu Brouwer 2011, 268 f. 402 Schelling 1804, 74a / SW VI, 63 f. 403 Spinoza 1677, Bd. II, 302 (Ethica, V 35). Gerade in der Lehre Spinozas von dem amor intellectualis Dei, die engstens mit dessen Lehre von der Unsterblichkeit zusammenhängt, dürften die »letzten Anklänge alter, ächter Philosophie« sein, die nach Schellings Behauptung »durch Spinoza vernommen« wurden (Schelling 1804, 3 / SW VI, 17). Als solche wurde dort nämlich auch auf die »Ethik« als »die Anweisung zu einem seligen Leben« verwiesen, »wie sie gleichfalls in dem Umkreiss heiliger Lehren vorkommt«, wovon es später – mit Hinweis auf Platons Phaidon wie auf die »Eleusinischen Geheimnisse[…]« – heißt, dass »ihre practische Lehre […] darinn bestand, dass die Seele, das gefallene Göttliche im Menschen, so viel möglich von der Beziehung und Gemeinschaft des Leibes abgezogen und gereiniget werden müsse, um so, indem sie dem Sinnenleben absterbe, das absolute [Leben, R. S.] wieder zu gewinnen und der Anschauung des Urbildes wieder theilhaftig zu werden« (Schelling 1804, 36 / SW VI, 39). 400

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welche die Idee Gottes ausdrücken, d. h. solche Handlungen, in welchen sich der höchst denkbare Grad von Realität ausdrückt, und welche daher die vollkommensten sind. (SW VI, 556 (§ 310))

Dieser Zustand kann auch »[b]ildlich« als »die unendliche intellektuelle Liebe der Seele zu Gott« »ausgedrückt werden«, »welche, absolut betrachtet, nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt« (SW VI, 556 (§ 310)). In den Philosophischen Untersuchungen verzichtet Schelling auf das Spinoza-Zitat und führt stattdessen eine Stelle aus den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie an, in welcher er jenen Sachverhalt mittels eines Zitats aus dem Philipperbrief 404 angedeutet hatte, wenn er auch in der Freiheitsschrift gerade diese Anspielung unterdrückt. 405 Auch dieses Zitat enthält indessen nur einen ›bildlichen Ausdruck‹ dessen, was die Philosophie durchsichtig gemacht hat. In unmittelbarem Anschluss an das Spinoza-Zitat hatte Schelling nämlich darauf hingewiesen, dass jene Einsicht, die Spinoza in der zitierten Stelle bildlich ausdrückt, sich auch »in allen denjenigen Religionsformen« nachweisen lässt, »deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist«. 406 Das Paulus-Zitat, das in den veröffentlichten Schriften nur ein einziges Mal vorkommt, kann somit als eine nachträgliche Bestätigung dieser Behauptung verstanden werden, die Schelling in Philosophie und Religion nicht weiter belegt. 407 Auch hier achtet Schelling somit darauf, eine Beziehung zwischen diesen drei Stellen herzustellen, indem er durch den Hinweis auf die Aphorismen an die Paulus-Stelle erinnert, ohne sie zu wiederholen, zugleich aber auch jene Stelle aus Philosophie und Religion variierend übernimmt und durch einen Hinweis in einer Fußnote den Leser auf dieselbe verweist. 408 Vgl. Phil 2,6 f. Vgl. Schelling 1809a, 499 / SW VII, 408; Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174 (§§ 162 f.). 406 Schelling 1804, 74a / SW VI, 64. Nicht nur das Christentum, sondern ebenso sehr die Mysterien gelten Schelling als eine Form der ganz ›im Wesen der Sittlichkeit gegründeten‹ Religion innerhalb der Antike. 407 Den 162. Aphorismus (Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174) zitiert Schelling ferner in Schelling 1806b, XLIX / SW II, 376, den 163. in SW VI, 407 (§ 211) und SW VII, 453. Beachte allerdings den Gebrauch, den er von dem Paulus-Wort macht in Schelling 1806a, 12, 160 / SW VII, 28, 122. 408 Schelling 1809a, 495 / SW VII, 404. Gerade in diesem Zusammenhang zitiert Schelling übrigens am meisten und auffälligsten die Bibel und versucht dadurch, den Leser davon zu überzeugen, dass die hier entwickelte Lehre mit der Schrift völlig in Einklang ist. Die zitierten Stellen entstammen fast ausnahmslos den Briefen Paulus’ 404 405

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Gott als Liebe

* * * Kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, die erst hier ihre vollständige Auflösung gefunden hat. Die Frage lautete: »[W]as der Grund sey alles Uebels?« 409 Erstens gilt es zu bemerken, dass das Übel oder die Endlichkeit noch nicht selbst das Böse ist, die Frage nach dem Bösen aber erst auf der Grundlage einer angemessenen Lösung der Frage nach der Endlichkeit zu beantworten ist. Da Eschenmayer die Frage nicht in diese Richtung zugespitzt hatte, so unterlässt Schelling es, ausführlich darauf einzugehen, während er zugleich einige Hinweise gibt, welche Folgerungen aus der dargelegten Lehre bezüglich jener Frage zu ziehen sind. So wächst der Endlichkeit bzw. dem Abfall erst in der höchsten Potenz die Qualität des Bösen bzw. der ›Sünde‹ zu. In diesem Sinne kann den Menschen die Schuld für den Abfall auch der Natur zugeschrieben werden. Zweitens bemerkt Schelling, dass erst im Gebiet der praktischen Philosophie die ›vollständige Auflösung‹ der Frage nach dem Grund des Übels gegeben werden kann. Der vollständige Begriff des Abfalls ist erst dann erreicht, wenn man in ihm eine Absicht erkennt. Innerhalb der Naturphilosophie oder der reellen Reihe kann er nie anders denn als ein Schicksal erscheinen. Drittens erfordert der Grund des Übels nicht so sehr eine Erklärung, sondern vielmehr ein vernünftig nachvollziehbares Motiv (so wie die Gründe, die jemand für sein Handeln angibt). So liegt der Grund im ›Charakter‹ Gottes, der sich erst und nur hier als Liebe offenbart. Als solches offenbart er sich indessen ausschließlich dem Philosophen: Dieser hat insofern eine unmittelbare Erfahrung von Gott als Liebe, als er in Einklang mit seiner eigenen Natur lebt, d. h. insofern er philosophiert und darin einen Einklang von Notwendigkeit und Freiheit entdeckt. Erst in diesem Zusammenhang erweist sich die absolute Identität als Liebe. Die Philosophie ist somit imstande, diesen Charakter Gottes ohne Rückgriff auf irgendwelche Offenbarung, lediglich auf eigener Kraft, zu entdecken. Sie ist daher »in ewigem Bunde« und dem Johannes-Evangelium. Von Paulus hatte Schelling früher bemerkt, dass in dessen »Geiste […] das Christenthum etwas anderes geworden, als es in dem des ersten Stifters war« (Schelling 1803a, 198 / SW V, 300), und zwar indem er es mit der Philosophie oder der Spekulation verbindet (vgl. SW V, 426 f.). Schellings Umgang mit der Bibel (die Auswahl der von ihm zitierten Stellen sowie deren Deutung) würde eine eigene Untersuchung verdienen. Zur Methode der Bibel-Auslegung: Jacobs 1993; Danz 2012; Rüttenauer 2015. 409 Schelling 1804, 18 / SW VI, 28.

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4. Kapitel. Tugend und Geschichte

mit der Religion. 410 Viertens muss es aber auch den Nicht-Philosophen möglich sein, Gott als Liebe zu verstehen, da ja das Verhältnis Gottes zum Universum »in allen denjenigen Religionsformen […], deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist«, als ein solches der Liebe »dargestellt worden« ist – und kaum anzunehmen ist, dass die Stifter dieser Religionen allesamt Philosophen waren. 411 Damit stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass auch Nicht-Philosophen zur Entdeckung dieses Grundcharakters Gottes gelangt sind. Die Antwort muss damit zusammenhängen, dass jene Einsicht sich nur in solchen Religionen findet, ›deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist‹. Darin ist impliziert, dass es auch Nicht-Philosophen möglich sein muss, die wahre Sittlichkeit – oder wenigstens ein Analogon derselben – zu entdecken, die sich dadurch auszeichnet, dass in ihr Notwendigkeit und Freiheit identisch sind. Auch sie sind somit erst da wahrhaft frei, wo sie mit einem Ganzen in Einklang sind. Dieser Problemzusammenhang bildet den Rahmen der nächstfolgenden Überlegungen.

410 411

Schelling 1804, 80 / SW VI, 70. Schelling 1804, 74 / SW VI, 64.

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5. Kapitel. Politik und Religion

Nach einem noch immer kolportierten Urteil gilt Schelling als »kein politischer Denker« 1 oder sogar als »der ›unpolitischste‹« »[u]nter den Denkern des klassischen deutschen Idealismus«. 2 Vielleicht wollen solche Urteile nicht mehr behaupten, als dass Schelling die politischen Dingen nur selten zum Gegenstand einer ausdrücklichen Erörterung gemacht hat und sich stattdessen auf metaphysische Spekulationen über die Idee des Absoluten, auf naturphilosophische Konstruktionen oder auf Analysen zum Thema Religion beschränkt. Allerdings würden sie dann implizieren, dass solche Spekulationen und Konstruktionen nicht zum Aufgabenbereich der Politischen Philosophie gehören. Wenigstens Schellings Zeitgenossen scheinen etwas davon gespürt zu haben, dass die betont ›unpolitischen‹ Spekulationen für die geläufigen Ansichten von Moral, Religion und Politik von weitreichenden Konsequenzen waren. Jedenfalls scheinen die angeführten Urteile auf eine Gleichsetzung von Politischer Philosophie und politischer Theorie zu beruhen. Da es fraglich ist, inwiefern Schelling eine solche Gleichsetzung unterschreiben würde, haben wir den einzigen Text, in welchem er sich ausschließlich politischen Themen widmet, näher zu untersuchen, um zu sehen, ob nicht in Schellings Analyse des Politischen ein Argument für das festgestellte Fehlen einer politischen Theorie im engeren Sinne zu finden ist. Nur dann dürften wir in der Lage sein, den unvermittelten und überraschenden Hinweis auf den Staat im »Anhang« von Philosophie und Religion angemessen zu interpretieren. Wenn nicht bereits das Zitat aus dem Zweiten Platon-Brief in der Präambel zum zweiten Abschnitt den Leser auf den politischen Charakter von Schellings Philosophie aufmerksam hat machen können, Dieses Urteil stellt Jürgen Habermas an den Anfang seines Aufsatzes (Habermas 1963, 108). 2 So Cesa 1986, 226. 1

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5. Kapitel. Politik und Religion

dann wäre spätestens der Hinweis im »Anhang« dazu geeignet, die Frage nach dem Verhältnis von Politik, Philosophie und Religion ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, wenn dies auch bislang in der Auseinandersetzung mit Philosophie und Religion unterlassen worden ist. Der »Anhang«, den Schelling seiner Schrift beigegeben hat, stellt den Leser nämlich vor einige Schwierigkeiten besonderer Art. Zunächst dürfte die Bezeichnung als »Anhang« zu der Meinung verleiten, dass dort nur Fragen von untergeordneter Bedeutung behandelt werden, nachdem die Hauptsache bereits im Hauptteil der Schrift abgehandelt wurde. Die Überschrift des »Anhangs« leistet dieser Einschätzung noch Vorschub. Es heißt nämlich, dass hier »[u]eber die äusseren Formen, unter welchen Religion existirt«, gehandelt werden soll. 3 Von solchen ›äusseren Formen‹ kann allerdings erst dann die Rede sein, wenn die Frage nach dem inneren Wesen der Religion hinreichend geklärt ist. Indessen knüpft der »Anhang« unübersehbar an die Einleitung an. Nicht nur ist erneut von den Mysterien und von der Volksreligion die Rede, 4 es wird auch die in der Einleitung angedeutete Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion wieder aufgenommen. 5 Wir können somit vermuten, dass die in der Einleitung aufgeworfene Frage erst hier ihrer Lösung zugeführt werden soll. Dann wäre das Programm, das Schelling am Ende der Einleitung formulierte und im Hauptteil der Schrift einzulösen gesucht hatte, nämlich »diejenigen Gegenstände, welche der Dogmatismus der Religion und die Nichtphilosophie des Glaubens sich zugeeignet haben, der Vernunft und der Philosophie zu vindiciren«, selbst nur Teil eines umfassenderen Vorhabens. 6 Jenes Programm hatte sich selbst nur daraus ergeben, dass das ursprüngliche Verhältnis von Philosophie und Religion sich verkehrt hatte: Erst die unrechtmäßige und einseitige Zueignung der Gegenstände der Philosophie durch die Religion wie auch die Entstellung, die diese dabei Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. Seit der Einleitung war von den Mysterien und der Volksreligion nur noch einmal die Rede, und zwar in ein und demselben Satz im zweiten Abschnitt (vgl. Schelling 1804, 35 / SW VI, 39). Dieser Satz hebt den »geradesten und auffallendsten Gegensatz« beider hervor, der im Anhang wieder Thema wird (Schelling 1804, 74b / SW VI, 66). Wie wir jedoch gesehen haben, ist die Problematik durch die ganze Schrift hindurch unterschwellig präsent. 5 Zudem entfallen fast alle Verwendungen von Religion in einer Schrift, deren zentrales Thema das Verhältnis von Philosophie und Religion ist, auf die Einleitung und den Anhang. 6 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. 3 4

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5. Kapitel. Politik und Religion

erfuhren, nötigten dazu, sie wieder der Philosophie zu vindizieren. Bevor wir uns auf diese Fragen einlassen können, stellt sich uns allerdings noch eine weitere Schwierigkeit in den Weg. Gleich im ersten Satz des »Anhangs« ist nämlich unvermittelt und, wie es scheint, durch nichts Bisheriges vorbereitet, vom ›Staat‹ die Rede. Da es sich um eine zwar überraschende, aber doch nur vereinzelte Erwähnung handelt, könnte der weniger aufmerksame Leser veranlasst sein, ihr kein allzu großes Gewicht beizumessen. 7 In diesem Absatz behauptet Schelling eine Entsprechung zwischen Universum und Staat, aus welcher er mehrere Sätze ableitet. Eine vollständige Begründung der Prämisse gibt er in der Folge jedoch nicht, sondern er begnügt sich mit dem Hinweis, dass der Staat »eine zweyte Natur« darstellt und als solche der natürlichen Ungleichheit Rechnung zu tragen hat. 8 Da sich in diesen Aussagen der Kern des »Anhangs«, möglicherweise der ganzen Schrift und damit vielleicht jener ›brennende Stoff‹ finden dürfte, vor dem Schelling anfangs den leichtsinnigen Leser gewarnt hatte, werden wir versuchen, den Grundgedanken der Neuen Deduction des Naturrechts so darzustellen, dass er sich für das Verständnis von Philosophie und Religion fruchtbar machen lässt. Nachdem wir nachgewiesen haben, dass Schelling an diesem Grundgedanken weiterhin festhält, werden wir deshalb eine eingehende Interpretation von Schellings elliptischen und enigmatischen Bemerkungen zum Verhältnis von Politik und Religion im »Anhang« versuchen, insbesondere der grundlegenden Unterscheidung der Freien und Nicht-Freien. Dabei werden wir auch genötigt sein, einiges zum Thema der Mysterien nachzutragen. Nach einigen Hinweise auf das politische Handeln Schellings, das aufgrund der zitierten Urteile noch nicht so erforscht worden ist, wie es dies verdient, werden wir dann zum Schluss auf Schellings Gegenstück zum positiven Teil von Eschenmayers Programm eingehen können, das, wie wir früher gesehen haben, darin bestand, ›eine reine und von aller Spekulation befreyte Theologie‹ zur Entfaltung zu bringen. Zu beachten ist, dass Schelling damit lediglich die Konsequenzen seiner Überlegungen zu den Mysterien zieht, wie wir sie im ersten Kapitel zu umreißen gesucht haben, sowie seiner Darlegungen zur Lehre des Absoluten, wie sie im zweiten und dritten Kapitel entfaltet wurden. Erst die gehörige Anders aber Windischmann, der in seiner Reaktion nur auf diesen einen Punkt eingeht (s. u.). 8 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. 7

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5. Kapitel. Politik und Religion

Beachtung dieser Konsequenzen klärt über Schellings eigentliche Intention auf sowie darüber, dass jene metaphysischen und naturphilosophischen Spekulationen einen integralen Teil seiner Politischen Philosophie bilden.

1. Eine neue Deduktion des Naturrechts Die Neue Deduction des Naturrechts von 1796 ist die einzige Schrift Schellings, die ausschließlich einer politischen Thematik gewidmet ist. In späteren Schriften belässt er es bei vereinzelten beiläufigen Bemerkungen und Andeutungen. Es sieht so aus, als ob ein vorübergehendes Interesse an politischen Fragen anderen Interessen gewichen ist. Wie sich zeigen wird, kommt Schelling gerade deshalb nur noch selten auf politische Fragen zu sprechen, weil er unverrückbar am wesentlichen Ergebnis jener frühen Schrift festhält und keinen Grund sah, es eingreifend zu revidieren. Außerdem wird gerade aufgrund jenes Ergebnisses das Problem der Religion virulent. Die Feststellung, wonach Schelling sich vom Politischen ›abgewandt‹ und dafür der Religion ›zugewandt‹ hätte, verfehlt somit das eigentliche Problem, das Schelling beschäftigt: Die angebliche ›Wende‹ zur Religion erwächst vielmehr aus seiner Staatskritik, da das Problem der Politik, wie die Naturrechts-Deduktion zeigt, sich nicht mit politischen Mitteln, sondern, wenn überhaupt, nur durch die Religion lösen ließe. Trifft dies zu, dann dürfte die Neue Deduction des Naturrechts sich als ein Schlüsseltext für das Verständnis der schellingschen Philosophie erweisen. 9 Die Schrift erschien im – von Niethammer, später gemeinsam mit Fichte herausgegebenen – Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, der erste Teil (§§ 1–84) im Juli 1796, der zweite Teil (§§ 85–Nachschrift) erst im August 1797. Die verzwickte editorische Geschichte dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass die Schrift nur wenig Nachhall gefunden hat. Außerdem veröffentlichten Kant und Fichte in der Zeit zwischen den beiden Lieferungen ihre eigenen Rechtslehren. Verfasst wurde die Schrift wahrscheinlich zwischen dem 22. Januar und dem 23. März 1796. Vgl. AA I,3, 115–135 (Ed. Bericht); Hofmann 1999, 10–24, 34–36. Die Schrift hat in der Schelling-Forschung bislang nur wenig Interesse gefunden. Bis auf weiteres bleibt Hollerbach 1957 unüberholt, allein schon wegen der Quellenstudien und des feinen Gespürs, das ihn auch dort noch juristische und politische Bezüge auffinden lässt, wo man sie zunächst nicht suchen würde. Eine Verortung der Naturrechts-Deduktion in den damaligen Naturrechtdebatten sowie eine Rekonstruktion ihres Verhältnisses zu den kantischen und fichteschen Rechtslehren, die den von Schelling in der Nach-

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

Man hat zu Recht beobachtet, dass Schelling im ersten Abschnitt der Naturrechts-Deduktion an Einsichten anknüpft, die er in Vom Ich und in den Philosophischen Briefen gewonnen hatte, besonders in der Bestimmung der Moral. 10 Aus dem Begriff des absoluten Ich wird die höchste Forderung der Moral abgeleitet. Die praktische Philosophie kennt als einziges Gebot nur die Realisierung der Autonomie oder Selbstbestimmung: »Sei! im höchsten Sinne des Worts: höre auf, selbst Erscheinung zu sein: strebe, ein Wesen an sich zu werden! – dies ist die höchste Forderung der praktischen Philosophie« (AA I,3, 139 (§ 3)); »Strebe daher, um ein Wesen an sich zu werden, absolutfrei zu sein, strebe, jede heteronomische Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu erweitern« (AA I,3, 139 f. (§ 4); vgl. AA I,2, 126 f.). Damit ist nicht gemeint, dass das jeweilige individuelle Ich sich alles unterordnen soll, sondern vielmehr ist dieses in seiner Besonderheit selbst nur Erscheinung und damit heteronom. Damit es autonom werde, muss es aufhören, bloß Erscheinung zu sein, um sich zum Ausdruck des absoluten Ich zu machen. 11 Es muss somit in erster Linie auf sich selbst wirken, um dasjenige, was an ihm bloße Erscheinung und damit Ausdruck der Heteronomie ist, in einen Ausdruck der Autonomie zu verwandeln. Jenes Gebot ist die »höchste Foderung der praktischen Philosophie« (AA I,3, 139 (§ 3); Herv. v. Verf.). Die praktische Philosophie gliedert sich nach Schelling in mehrere Bereiche, die sich durch eine jeweils eigene Aufgabe auszeichnen. Schelling unterscheidet Moral, Ethik und Naturrecht. 12 Die Ableitung dieser Bereiche aus jener ›höchsten Foderung‹, ihre Unterscheidung sowie die Zuweisung ihrer

schrift versprochenen Kommentar nachholen würde, steht bislang noch aus (vgl. AA I,3, 175). Einen Anfang macht Schröder 2012. 10 So bereits K. F. A. Schelling (Plitt I, 65 f.). Ferner: AA I,3, 127 f. (Ed. Bericht). In Vom Ich findet sich übrigens bereits eine Skizze eines »System[s] des Naturrechts« (AA I,2, 164 f.). Vgl. damit die Bemerkungen in der »Vorrede« (AA I,2, 79 f.). 11 Nur wenn man dies nicht beachtet, kann man in solchen Sätzen »eine Aufforderung an das Ich zum Aufruhr« sehen, wie es z. B. Hermann Klenner tut, und in dieser Schrift eine anarchistische Tendenz gewahren, vgl. Klenner 1991, 71; Habermas 1963, 111; Sandkühler 1968, 21. Hollerbach mahnt denn auch zu Recht zur »Vorsicht«, hier »einen anarchischen Grundzug sehen zu wollen« (Hollerbach 1957, 115). 12 Diese Gliederung ist nicht vollständig. Schelling verweist nämlich am Ende der Deduktion auf das »Gebiet einer neuen Wissenschaft«, die wohl auch noch zur praktischen Philosophie gehört (AA I,3, 174 (§ 163)).

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5. Kapitel. Politik und Religion

jeweiligen Aufgabe ist Thema des ersten Abschnitts. 13 Die Sätze aus Vom Ich und den Philosophischen Briefen kommen hier demnach nicht lediglich als Lehnsätze oder als Prämissen vor, aus welchen das Folgende abgeleitet wird. Vielmehr versucht Schelling hier erst den Gesichtspunkt zu gewinnen, der es erlaubt, das Problem des Naturrechts und der politischen Ordnung sichtbar zu machen. Danach ist der Titel der Schrift zunächst so zu verstehen, dass das Naturrecht im Sinne der Rechtswissenschaft aus den Prinzipien des Systems deduziert werden soll. 14 Es soll gezeigt werden, wie diese Wissenschaft sich insofern notwendig aus den Prinzipien ergibt, als diese auf ein Problem führen, das Gegenstand einer besonderen Wissenschaft ist. Dies geschieht im ersten Abschnitt der Schrift, wo die Rechtswissenschaft als von der Ethik und der Moral unterschieden konstruiert wird. Gegenstand dessen, was Schelling Moral nennt, ist die Selbstbestimmung, d. h. so zu handeln, wie es der eigenen Natur entspricht. Nur so lässt sich dem Absoluten durch ein endliches Ich Realität verschaffen. Die Moral geht insofern von der Endlichkeit des Ich aus. 15 Das Streben des endlichen Ich geht dahin, alles Endliche der Erreichung jenes Ziels, der Übereinstimmung mit dem Absoluten, unterzuordnen. Dies gilt als höchstes Streben des Menschen. Diesem

Dieser Abschnitt umfaßt 75 der insgesamt 163 Paragraphen. Es wäre daher übereilt, darin nicht mehr als nur eine Einleitung zu sehen. 14 Vgl. den Titel des ersten Abschnitts der Schrift: »1. Deduction der Rechtswissenschaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes« (AA I,3, 139). Vgl. auch AA I,2, 164 f.: »Auf dem Begriff der praktischen Möglichkeit (Angemessenheit zur Synthesis überhaupt) beruht der Begriff des Rechts überhaupt, und das ganze System des Naturrechts; auf dem Begriff praktischer Wirklichkeit aber der Begriff von Pflicht, und das ganze System der Ethik«. Recht und Pflicht haben nur Sinn in Bezug auf das endliche Ich. »Deßwegen auch insbesondere das höchste Ziel, worauf alle Staatsverfassungen, (die auf den Begriff von Pflicht und Recht gegründet sind), hinwirken müssen, nur jene Identificirung der Rechte und Pflichte jedes einzelnen Individuums seyn kann«. »Diese Idee lag auch der Platonischen Republik zu Grunde; denn auch in dieser sollte alles praktisch-mögliche wirklich, alles praktisch-wirkliche möglich seyn; ebendeßwegen sollte in ihr aller Zwang aufhören, weil Zwang nur gegen ein Wesen eintritt, das sich der praktischen Möglichkeit verlustig macht. Aufhebung der praktischen Möglichkeit aber in einem Subject ist Zwang, denn praktische Möglichkeit ist nur durch Freiheit denkbar«. 15 Für das absolute Ich gibt es weder Moral noch Gebot (vgl. AA I,2, 129). Nachdem Schelling gezeigt hat, dass der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen undenkbar ist, soll die praktische Philosophie das Prinzip des absoluten Ich dadurch bestätigen, dass sie zeigt, wie umgekehrt ein Übergang vom Endlichen zum Unendlichen denkbar ist (vgl. AA I,3, 82 f.). 13

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

Streben sind keine prinzipiellen Grenzen gesetzt, sondern nur solche, die sich aus der Beschränktheit seiner tatsächlichen Vermögen ergeben und deshalb Gegenstand eines Strebens, sie aufzuheben, werden können. 16 Dieses Streben, sich so viel wie möglich dem Absoluten gleich zu machen, dürfte seine Verwirklichung nur im philosophischen Leben finden. Nur indem er sich durch Vernunft bestimmen lässt, ist der Wille nämlich mit sich identisch oder selbstkonsistent und damit autonom. Das philosophische oder vernunftgeleitete Leben ist danach diejenige Form des Lebens, die in der Natur des Willens eingeschrieben ist, und damit die höchste Form des Lebens. Diesem Gesichtspunkt der Moral werden die Ethik und das Naturrecht untergeordnet: Diese müssen so eingerichtet werden, dass sie mit dem Ziel der Moral in Übereinstimmung sind. Gleichursprünglich mit der Endlichkeit des Ich ist die Intersubjektivität. 17 Während dem Streben nach Unbedingtheit aus der Endlichkeit des Ich keine grundsätzliche Grenze erwachsen konnte, da jede Grenze nur in Hinblick auf ihre Überschreitung in Betracht kam, da gilt dasselbe nicht von jener Dimension der Endlichkeit, wonach ein endliches Ich nie vereinzelt, sondern immer inmitten anderer Ich auftritt. Jedem Ich ist aufgrund seiner Natur als Ziel die Identität mit sich selbst vorgegeben, die sich nur durch ein vernunftgeleitetes Streben verwirklichen lässt. Insofern ich auch im Anderen dieses Ziel erkenne, darf ich sie nicht meinem Streben unterordnen. Erst in der konkreten Gestalt oder Richtung, die dieses Streben annimmt, werden die Ich allerdings unterscheidbar. Erst hier wird »die unbedingte Causalität der moralischen Wesen im empirischen Streben widerstreitend« (AA I,3, 143 (§ 21)): Nur, indem ich meine Freiheit im Widerstreit gegen andre Causalitäten denke, die ihr gleich sind, wird sie zu meiner Causalität, d. h. zu einer Causalität, die nicht die Causalität der moralischen Wesen überhaupt, (der gesammten moralischen Welt) ist. Ich werde moralisches Individuum. (AA I,3, 143 (§ 22))

Vgl. »ich kann nicht weiter« (AA I,3, 141 (§ 12)). Insofern ein endliches Ich Erscheinung des absoluten Ich ist, dem absolute Einheit zukommt, gelten für jenes die Wechselbegriffe Einheit und Vielheit. Das endliche Ich ist eine Einheit nur, insofern es sich von Anderen abgrenzt. Mit der Endlichkeit des Ich ist zugleich die Vielheit solcher Iche oder die Intersubjektivität gesetzt (vgl. AA I,2, 108, 143 f.). Vgl. Rivelaygue 1983, 16; Hofmann 1999, 71.

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5. Kapitel. Politik und Religion

Erst in der Konfrontation mit anderen, nicht vernunftgeleiteten Individuen kommt der Philosoph zur Selbsterkenntnis, indem er sich durch die Richtung seines Strebens als von anderen unterschieden erkennt. Auch das nicht vernunftgeleitete Streben steht noch im Zeichen eines Strebens nach Identität mit sich selbst, das sich indessen hinsichtlich der Mittel irrt, durch welche dieses Ziel sich erreichen lässt. Insofern der Philosoph davon absieht, ob diese Anderen ihren Willen auch tatsächlich dem Streben nach Autonomie untergeordnet haben, kann er in ihnen wenigstens die Möglichkeit eines solchen Strebens anerkennen. Er achtet sozusagen nur auf das Potential, das ihnen als wollenden Wesen naturgemäß zukommt. Damit ist für Schelling den Bereich der Ethik, als von der Moral unterschieden, umrissen, und zwar als ein Systems der Pflichten. Die Ethik gründet auf einen Respekt für den Willen im Allgemeinen oder die dem Willen inhärierende Möglichkeit, das Streben nach Unbedingtheit realisieren zu können. 18 Dieser Respekt, das Gefühl, Anderen gegenüber Pflichten zu haben, gründet sich also nicht auf ihre Individualität. Er bezieht sich gar nicht auf das ›empirische Individuum‹, sondern nur auf dessen höchste Möglichkeit (vgl. AA I,3, 145 (§ 30)). Insofern enthält die Ethik nur den Ausdruck des »allgemeinen Willens« oder der Freiheit überhaupt, nicht der Individualität des Willens (AA I,3, 145 (§ 32)). Unter »allgemeiner Wille« ist hier die bloße Form des Willens zu verstehen, »abgesehen von aller Materie des Wollens« (AA I,3, 145 f. (§ 34)). In diesem Zusammenhang bleibt es somit gleichgültig, welche besondere inhaltliche Ausfüllung jemand seinem Willen gegeben hat oder welche besonderen Ziele er verfolgt, ob er alles dem Streben nach Unbedingtheit unterordnet oder nicht. Meine Pflichten ihm gegenüber sind davon unabhängig. Daraus lässt sich allerdings eine materiale oder inhaltliche Ausfüllung der Ethik gewinnen: Einziger Inhalt der Ethik ist, wie gezeigt, der Respekt für die Form des Willens überhaupt. Dieser Anforderung hat die Ethik zu genügen, wenn ein System der Pflichten konstruiert werden soll, wenn Schelling dies hier auch nicht ausführt, sondern nur das Prinzip der Konstruktion angibt: Als Pflicht muss alles gelten und kann auch nur dasjenige gelten, was die Bedingung erfüllt, dass der allgemeine Wille durch den individuellen bedingt ist, aber nur der Form nach. Während das Problem der Moral darin bestand, wie ich handeln soll, damit mein Wille mit dem absoluten Willen identisch ist, sodass mein 18

Vgl. »seine Freiheit überhaupt« (AA I,3, 144 (§ 27)).

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

Handeln meiner höchsten Möglichkeit entspreche, da besteht das Problem der Ethik in der Frage, wie ich handeln soll, damit mein Wille mit dem allgemeinen Willen in Übereinstimmung ist. Der ›allgemeine Wille‹ wird hier zum Bestimmenden der Materie meines Willens, als ein Auswahlkriterium, wonach bestimmte Handlungen ausscheiden und andere zurückbehalten werden. Die Materie meines Willens selbst soll hier als allgemein gedacht werden, solcherart, dass sie durch alle gewollt werden könne, und zwar, weil diese dadurch selbst die Form des individuellen Willens behalten. Dieses »Gebot der Ethik« ist aber »doch nur abhängig von dem höhern Gebot der Moral« (AA I,3, 145 (§ 33)): 19 »Nur indem ich den Willen überhaupt als ursprünglich absolut denke, kann ich den Willen aller übrigen als auf die Bedingung des meinigen, und den meinigen als auf die Bedingung des Willens aller übrigen eingeschränkt denken« (AA I,3, 147 (§ 42); Herv. v. Verf.). Wenn die Ethik als System der Pflichten auch ein eigenständiges Gebiet ist, so ist sie doch der Moral nachgeordnet. Sie beruht nicht auf dem Respekt für den Anderen in seiner Individualität, sondern lediglich darauf, dass dieser in sich das Potential zur höchsten Möglichkeit des Menschseins trägt. Vorausgesetzt, dass die höchste Möglichkeit nur durch den Philosophen verkörpert wird, dann wird das System der Pflichten unter der Annahme konstruiert, dass alle potentielle Philosophen wären. Die Ethik folgt insofern aus der Moral, als der Philosoph dem Rechnung zu tragen hat, dass alle zwar ihrer Natur nach, nicht aber auch in der Tat auf die Realisierung dieser Möglichkeit ausgerichtet sind. Er verhält sich den Nicht-Philosophen gegenüber so, dass sein Verhalten das philosophische Leben begünstigt, wenigstens nicht hindert, und zwar sowohl, indem das pflichtmäßige Verhalten Anderen gegenüber die Entfaltung des eigenen philosophischen Lebens unterstützt, als auch, damit auf diese Weise auch bei diesen Anderen das Streben nach Autonomie so viel wie möglich gefördert wird. 20 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Forderung der Moral sich an den Willen überhaupt richtet, der nur insofern konsistent ist, als er sich durch Die Bedeutung dieses Satzes erhellt daraus, dass Schelling im ersten Abschnitt immer wieder auf ihm rekurriert (vgl. z. B. AA I,3, 146 (§§ 38, 39), 147 (§ 41), 148 (§ 47)). 20 Vgl. Rivelaygue 1983, 16 f.: »L’éthique au contraire exige l’accord des libertés en général en tant qu’elles n’ont pas pour contenu la détermination par la raison«, d. h. die Willen, die ausschließlich nach der Realisierung des Unbedingten streben, sind von sich aus oder ipso facto identisch oder miteinander in Übereinstimmung. 19

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5. Kapitel. Politik und Religion

Vernunft bestimmen lässt. Die Ethik hingegen richtet sich an den vernünftigen Willen, der nur insofern vernünftig ist, als er dahin wirkt, dass alle Willen, ob vernünftig oder nicht, übereinstimmen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen solchen Handlungen, die sich auf andere vernünftige Willen richten, und solchen, die sich auf nicht durch Vernunft bestimmte Willen richten. Letztere sind Pflichthandlungen, während die Beziehungen zwischen Philosophen nicht auf Pflicht beruhen. Das System der Pflichten sieht von der Individualität des Willens ab und berücksichtigt nur das höchste Potential, das er als Wille beinhaltet. Der Status der potentiellen Philosophen ist allerdings zweideutig: Betrachtet man sie zum einen danach, dass sie ein Streben nach einem vernunftgeleiteten Leben haben könnten, so heißt dies zum anderen auch, dass sie bisher dieses Streben noch nicht tätig verfolgen, ihm nicht alles andere in der Tat untergeordnet haben. Diese Zweideutigkeit nötigt zum Übergang von der Ethik zum Naturrecht. Es entsteht nämlich die Frage, wie der Philosoph mit dem Willen in seiner Individualität umzugehen habe oder mit den potentiellen Philosophen, insofern diese Nicht-Philosophen sind. Hier heißt es, dass die Ethik »die Individualität meines Willens der Materie nach nicht schlechthin aufheben [kann], ohne sie zugleich der Form nach schlechthin zu behaupten« (AA I,3, 150 (§ 52)). Anders gesagt: In der Ethik wird die Materie meines Willens (dasjenige, was ich will) insofern aufgehoben, als der Wille auf solche Handlungen eingeschränkt wird, die verallgemeinerungsfähig sind. 21 Durch diese Einschränkung der Materie des Willens wird die Form des Willens dennoch behauptet, da dieser sich selbst widersprechen würde, wenn er andere Willen nicht nur aufgrund ihres Willenscharakter respektierte, sondern sich ihrer lediglich als Mittel zur Erreichung der eigenen Autonomie bedienen würde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer »andre[n] Wissenschaft«, »welche Individualität des Willens der Form nach behauptet« (AA I,3, 150 (§ 52)). Es entsteht die Frage, welche Rechte der Wille überhaupt hat, unabhängig davon, ob er sich durch die Vernunft leiten lässt oder nicht, oder was ihm zugesichert werden muss, damit er sich in seiner bloßen Individualität behaupten kann. Aufgabe dieser anderen Wissenschaft ist es, zu zeigen, wie sich Die Ethik »fodert« »Allgemeinheit des Willens der Materie nach« (AA I,3, 150 (§ 52)).

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

zwischen individuellen Willen als solchen eine Übereinstimmung zustande bringen lässt. Sie soll zeigen, wie diese Willen zu organisieren sind, damit sie, ohne auf die Erreichung des höchsten Ziels gerichtet zu sein und ohne insofern wahrhaft frei zu sein, dennoch eine Art von Freiheit genießen können, und dies zudem so, dass diese ihre Einrichtung der Existenz der Philosophen am meisten förderlich ist. Diese Aufgabe nimmt die Gestalt einer Deduktion des Naturrechts an (vgl. AA I,3, 150 (§ 53 f.)). Das Naturrecht muss dabei von all dem abstrahieren, was bei der Betrachtung der Philosophen und potentiellen Philosophen vorausgesetzt werden dürfte. Der Grundsatz des Naturrechts lautet: »Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte« (AA I,3, 153 (§ 68)). Anders gesagt: Ich darf alles wollen, was ich wollen kann, mit der Ausnahme dessen, was sich überhaupt nicht wollen lässt, und zwar deshalb, weil es widersprüchlich ist und der Wille, der solches wollen würde, sich selbst dadurch aufhebt. Danach habe ich ein Recht auch auf solche Handlungen, die Gegenstand weder der Moral noch der Ethik sein können. Zu solchen Handlungen bin ich nicht verpflichtet, da sie sich nicht verallgemeinern lassen: Durch sie behaupte ich lediglich meine Individualität. Damit ist die Aufgabe angegeben, die die Wissenschaft des Naturrechts zu lösen hat. Damit ist auch diese selbst als eine eigenständige Wissenschaft deduziert. Ziel des zweiten Abschnitts ist es, die Natur- oder Ur-Rechte selbst zu deduzieren. Der Titel der Abhandlung erhält hier dadurch einen zweiten Sinn: Während es im ersten Abschnitt darum ging, die Notwendigkeit einer Wissenschaft des Naturrechts dadurch zu deduzieren, dass gezeigt wurde, welche Aufgabe sie zu lösen hat, da geht es jetzt darum, die Konturen dieser Wissenschaft und die Art, wie sie ihre Aufgabe löst, anzugeben. 22 Eine kurze Inhaltsangabe dieses Abschnitts kann hier genügen, da die entscheidenden Ergebnisse dieser Schrift im ersten (die Einbindung der staatlichen Ordnung in der Perspektive der Selbstbestimmung) und im dritten Abschnitt (Kritik des Naturrechts) zu suchen sind. Aus dem Grundsatz des Naturrechts leitet Schelling die »ursprünglichen Rechte« oder die Naturrechte ab (AA I,3, 155 (§ 77)). Diese sind dreierlei: Erstens das »Recht der mo-

Aufgrund einer »Analyse des obersten Grundsatzes«, wie er im ersten Abschnitt durchgeführt wurde, soll eine »Deduction der ursprünglichen Rechte« oder eben der Naturrechte durchgeführt werden (AA I,3, 155).

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5. Kapitel. Politik und Religion

ralischen Freiheit« oder das Recht auf sowohl gesetzmäßige als auch gesetzwidrige Handlungen oder auch das Recht auf alle Handlungen, die möglich sind und zu denen ich fähig bin (AA I,3, 170 (§ 140)). Die Einschränkung meiner Rechte auf einen bestimmten Ausschnitt von Handlungen und damit die Unterscheidung zwischen gesetzmäßigen und gesetzwidrigen Handlungen lässt sich durch das Prinzip des Naturrechts nicht rechtfertigen. Dieses beinhaltet nämlich, dass ich auf alles das Recht habe, was mit der Form des individuellen Willens in Übereinstimmung ist. Die einzigen Handlungen, zu denen ich nicht berechtigt bin, sind solche Handlungen, durch welche ich meine Freiheit oder die Form des individuellen Willens aufheben würde. Zweitens das »Recht der formalen Gleichheit« (AA I,3, 170 (§ 140)): Wenn aus dem Rechtszustand folgen würde, dass ich nicht das Recht habe, mein eigenes Recht oder meine Individualität sowohl der Form als auch der Materie nach gegen alle anderen Individuen durchzusetzen, dann wäre damit der Rechtszustand selbst aufgehoben. Dadurch wäre nämlich eine Ungleichheit in dem Rechtszustand selbst eingeschrieben. Schließlich das »NaturRecht im engern Sinn« oder das »Recht auf die ErscheinungsWelt, auf Sachen, auf Objecte überhaupt«, also auf Eigentum (AA I,3, 170 (§ 140)). Diese ›ursprünglichen Rechte‹ sind bloß formal und erhalten keine positive, inhaltliche Ausfüllung. Eine solche ist auch mittels des Naturrechts überhaupt nicht zu leisten. Dann kann es aber auch niemals zur Legitimierung irgendeines positiven Rechts eingesetzt werden. Dies dürfte eine der wesentlichen Ergebnisse der Naturrechts-Deduktion sein. Mit dem Ende des zweiten Abschnitts hat Schelling die Deduktion der ›Urrechte‹ vollendet. Dass er damit einen einzigen Gedankengang zu Ende geführt hat, hebt Schelling dadurch besonders hervor, dass er die Ergebnisse der bisherigen Deduktion zusammenfasst und durch zweimal drei Asterisken vom Vorherigen und Folgenden eigens abgrenzt (vgl. AA I,3, 169 f. (§ 140)). Der formale Charakter der ›Urrechte‹ bildet die Grundlage für die jetzt folgende Kritik am Naturrecht. Damit erhält der Titel der Abhandlung einen dritten Sinn: Das Naturrecht wird sich als ein Zwangsrecht enthüllen, als ein solches, das die Willen als Dinge behandelt. Dadurch erweist die Deduktion des Naturrechts sich als eine Destruktion des Naturrechts. 23 Der GeVgl. Zeltner 1954, 174 f. So auch Alexander Hollerbach, dessen Hauptthese lautet, dass »Schelling mit seinem Naturrechtsbegriff das Naturrecht als Recht geradezu ad absurdum geführt« hat (Hollerbach 1957, 114 f.).

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

danke, der zu dieser Destruktion führt, der Gedanke des Zwangs nämlich, tritt unvermittelt und scheinbar unvorbereitet auf. Der erste Paragraph des dritten Abschnitts lautet: »Endlich, ich darf nicht nur überhaupt, sondern ich darf alles, wodurch ich die Individualität meines Willens behaupte, ich habe ein Recht zu jeder Handlung, wodurch ich die Selbstheit meines Willens rette« (AA I,3, 170 (§ 141)). Das ›endlich‹ deutet darauf hin, dass hier ein früherer Gedanke, der aber für die Deduktion der Urrechte zurückgestellt wurde, jetzt in den Vordergrund gerückt wird (vgl. AA I,3, 153 (§ 68)). Bislang (im zweiten Abschnitt) hatte Schelling nur das Dürfen oder das Rechte-Haben überhaupt fokussiert. Die Rede von einem Dürfen überhaupt ist jedoch gegenstandslos, solange es nicht zugleich auch einen Inhalt hat und als ein Etwas-Dürfen verstanden wird. Dieser Gegenstand des Dürfens kann aber nicht ohne Verletzung des Prinzips der Deduktion eingeschränkt werden: Das Dürfen erstreckt sich auf »alle[s], wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte« (AA I,3, 153 (§ 68)). Die Behauptung der Individualität meines Willens ist das einzige Prinzip, durch welches das Dürfen eingeschränkt werden könnte. In Wahrheit ist es jedoch nicht so sehr eine Einschränkung des Dürfens als vielmehr nur ein Ausdruck des Dürfens selbst. Das einzige, was ich diesem Prinzip zufolge nicht ›darf‹, ist solches, wodurch ich der Behauptung der Individualität meines Willens entgegenwirken würde, solche Handlungen also, die ich im eigentlichen Sinne nicht wollen kann, weil der Wille sich dadurch selbst aufheben würde. Das Naturrecht schließt also nur solche Handlungen aus, durch welche ich der Behauptung meiner Individualität entgegenwirken würde. Das heißt: Die naturrechtliche Deduktion kann keine einzige inhaltliche Einschränkung des Dürfens legitimieren. Sie kann nicht einzelne oder bestimmte Typen von Handlungen ausschließen und verbieten. Die Materie des individuellen Willens kann demnach gar nicht eingeschränkt werden: »Nur durch den allgemeinen Willen konnte mein Wille der Materie nach (auf bestimmte Handlungen) eingeschränkt werden« (AA I,3, 170 (§ 142)). Da aber »die Materie des allgemeinen Willens selbst bedingt [ist] durch die Form des individuellen Willens«, da also der allgemeine Wille keine Handlungen verbieten darf, durch welche die Form des individuellen Willens aufgehoben werden würde, kann er auch nicht den individuellen Willen der Materie nach einschränken (AA I,3, 170 (§ 142)). Er muss demnach alle Handlungen erlauben, die das Individuum für die Behauptung seiner Individualität erforderlich achtet. Ob und welche 349 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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Handlungen dazu erforderlich sind, darüber entscheidet in jedem einzelnen Fall nur der individuelle Wille selbst. Die deduzierten ›Urrechte‹ verlieren ihren Sinn, wenn ich nicht dazu berechtigt bin, diese Rechte tatsächlich gegen Andere durchzusetzen, die mich an ihrer Ausübung hindern. Nur insofern ich diese Macht habe, haben die Rechte selbst Realität. So werde ich auch selbst zu einer physischen Macht, zu einem Objekt. Es stehen sich zwei objektive Mächte gegenüber. Damit verwandelt das Naturrecht sich in ein Zwangsrecht. Dies ist die Aporie des Naturrechts, die aufgedeckt zu haben Schelling als »seine originelle Leistung« betrachtet. 24 Ohne das Supplement des Zwangs, nämlich der Macht, meine Rechte durchzusetzen, ist die Rede von Naturrechten gegenstandslos. Unter Annahme dieses Supplements kann aber nicht mehr von einem Recht gesprochen werden. 25 Die Aporie besteht darin, dass ein Recht, das nicht zugleich die Macht hat, sich gegen anderen durchzusetzen, eine leere Behauptung bleibt und sich selbst aufhebt. Solange die konstruierten ›Urrechte‹ nicht mit der Macht, sie auch durchzusetzen, verbunden werden, bleiben sie bloße Behauptung (vgl. AA I,3, 160–169 (§§ 96–140)). Das Recht bleibt leer, wenn es nicht zum Naturrecht wird und sich damit auf Naturobjekte erstreckt. Auf diese haben aber alle genau die gleichen Rechte. Das Naturrecht hat nur Sinn, wenn es ein Zwangsrecht ist und wenn ich dementsprechend das Recht habe, »jede Handlung aufzuheben, mit welcher die Selbstheit meines Willens nicht bestehen kann« (AA I,3, 171 (§ 145)). Die Aufhebung einer solchen Handlung ist Zwang, weil sie nur so möglich ist, dass ich die Form des Willens durch die Materie des Willens bestimme. Daraus geht zugleich hervor, inwiefern das Naturrecht sich selbst zerstört: Nach dem Prinzip des Naturrechts wird gar kein Rechtszustand instauriert, sondern nur die Verfassung des Naturzustandes konturiert So Zeltner 1954, 174 f.; Hollerbach 1957, 115; Hofmann 1999, 84. Jedem der drei Abschnitte entspricht somit ein eigener Sinn von Naturrecht. Es ist wohl nicht zufällig, dass Schelling das Wort ›Naturrecht‹ erst im letzten Abschnitt verwendet (vgl. AA I,3, 174 (§§ 161, 162, 163)). Dort, wo es sich gerade angeboten hätte, den Ausdruck zu verwenden, scheint Schelling ihn geradezu zu vermeiden und verwendet stattdessen Ausdrücke wie »ursprüngliche Rechte« (AA I,3, 155 (§ 77) u. Titel des 2. Abschnitts), »Rechtsphilosophie« (AA I,3, 153 (§ 68), 158 (§ 88), 159 (§§ 91, 93, 95)), »Rechtswissenschaft« (AA I,3, 154 (§ 72)), »Rechtslehre« (AA I,3, 154 f. (§§ 73, 75)). Sonst kommt er nur noch in § 140 vor (vgl. AA I,3, 169 f.), gerade auf der Schwelle zum letzten Abschnitt, und in der Nachschrift. In § 97 ist noch von »NaturRechtsLehrer« die Rede (AA I,3, 160). Darin zeigt sich die kritische Richtung der Abhandlung, die auch durch das ›neue‹ im Titel angezeigt wird.

24 25

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und schärfer hervorgehoben. Nach dem Naturrecht ist alles, was möglich ist, erlaubt. Die kritische Pointe wird vollends dann deutlich, wenn man diesen Gedanken ein wenig anders wendet. Er besagt nämlich ebenso, dass das Naturrecht nur einen solchen Rechtszustand zu begründen vermag, der auf Zwang beruht. Jeder positive Rechtszustand, insofern er bestimmte Handlungen verbietet und so über das Naturrecht hinausgeht, ist deshalb als Zwang anzusehen. Dann beruht jede rechtliche bzw. staatliche Ordnung auf Zwang, weil sie solche Handlungen verbietet, die dem Individuum nicht auf eine rechtmäßige Weise verboten werden können, wenn ihm, nach den naturrechtlichen Prinzipien, alles erlaubt sein soll, was er für erforderlich hält, um die Individualität seines Willens zu behaupten. Das Naturrecht wird damit zu einer Legitimierung des Despotismus oder des vom Staat ausgeübten Zwangs: Der Staat ist zu allem berechtigt, wozu er auch fähig ist, insofern er über die Mittel verfügt, sich durchzusetzen. Damit hat Schelling eine Lücke aufgedeckt, die in jeder Naturrechtstheorie notwendig übersprungen wird, wenn sie überhaupt gesehen wird. Insofern eine Naturrechtslehre den aporetischen Charakter des Naturrechts verdeckt, dient sie selbst dazu, den Zwang, der dem Rechtszustand zugrunde liegt, zu verschleiern. 26 Nun war die Naturrechtslehre in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen dazu gedacht, als ein Begründungs- bzw. Rechtfertigungsmittel positiver Rechtsordnungen zu fungieren. Dies gilt auch dann, wenn sie dazu eingesetzt wird, bestimmte positive Rechtsordnungen zu kritisieren, insofern eine solche Kritik immer auf eine mögliche Verbesserung derselben angelegt ist. 27 Nach dem Ergebnis von Schellings Naturrechts-Deduktion hingegen kann keine einzige positive Rechtsordnung mehr durch das Naturrecht legitimiert werden, da sie allesamt als letztlich auf Zwang beruhend angesehen werden müssen. Damit kann die Naturrechtslehre auch nicht mehr dazu verwendet werden, wozu sie ursprünglich gedacht war, nämlich eine bestimmte staatliche Ordnung zu legitimieren oder eine bestehende Ordnung mit Hinblick Nur weil sie dieses Moment der Selbstzerstörung der Naturrechtslehre übersehen hat, kann Gertrud Jäger zu ihrer Einschätzung gelangen, Schelling sei hier völlig mit Fichte in Übereinstimmung. Dadurch sieht sie sich zugleich gezwungen, eine »Umwandlung« in den politischen Ansichten Schellings um 1803 (angeblich dokumentiert in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium) anzunehmen, die von einer Selbstkritik im Gestalt einer Fichte-Kritik begleitet wäre (vgl. Jäger 1939, 40). 27 Schröder 2012, 55 f. 26

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5. Kapitel. Politik und Religion

auf ihre Reform zu kritisieren. 28 Auf einen solchen legitimierenden Gebrauch hatte es Schelling aber von Anfang an gar nicht abgesehen, da es ihm nur darum ging, eine solche Organisationsform der NichtPhilosophen zu finden, die am meisten die Führung eines philosophischen Lebens begünstigt und auch den Nicht- bzw. potentiellen Philosophen am förderlichsten ist. Dadurch verschärft sich das Problem allerdings nur noch. Das Naturrecht liefert kein Kriterium, wonach zwischen besseren und schlechteren Rechtsordnungen unterschieden werden könnte. Dennoch möchte Schelling daraus nicht den Schluss ziehen, dass damit alle positiven Rechtsordnungen gleichwertig wären. Die unterschiedliche Bewertung von positiven Rechtsordnungen lässt sich jedenfalls nicht mehr durch Rekurs auf das Naturrecht begründen. Im System des transscendentalen Idealismus streicht Schelling diesen Punkt noch deutlicher hervor, indem er fragt, weshalb es überhaupt des Zwangs des Gesetzes bedarf. Das Gesetz ist notwendig, damit nicht die Wechselwirkung aller die Freiheit des Einzelnen aufhebt. Ohne Gesetz würde dieser Zustand der Aufhebung der Freiheit des Einzelnen unvermeidlich eintreten, da jeder nur insofern frei ist, als er auch imstande ist, seinen Willen durchzusetzen und dazu nötigenfalls andere zu zwingen. Der gesetzlose Zustand ist ein solcher, in dem jeder jeden zwingt bzw. zu zwingen versuchen wird. Die Einzelnen können nur dadurch daran gehindert werden, dass eine andere Zwangsinstanz eingesetzt wird: das Gesetz. Dem Zwang kann man nur einen anderen Zwang entgegensetzen. Nur mittels Zwang können die individuellen Willen daran gehindert werden, ihr Recht (Zwangsrecht) so zu missbrauchen, dass sie die Willen anderer aufheben. Der Kern der Aporie des Naturrechts lässt sich hiernach so formulieren: Der Zustand des Naturrechts hebt sich selbst auf, da er notwendig in einen Zustand des Zwangs umschlägt. Stattdessen soll das Gesetz den Zustand des Naturrechts aufheben. Die Aporie ist unausweichlich, sobald zugestanden wird, dass ein Recht nur insofern ein Recht ist, als man auch die Macht hat, es durchzusetzen, und dies nur mittels der Ausübung von Zwang stattfinden kann. Durch den Zwang hebe ich jedoch nicht nur die Freiheit des anderen, sondern auch meine eigene auf, da der Zwang sowohl die Anderen als auch mich selbst zu Naturobjekten reduziert. Dieser Zustand kann nur durch die Einführung einer weiteren Zwangsinstanz behoben wer28

Dazu Schröder 2012, 58 f.; Rivelaygue 1983, 21.

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

den. Die ›Lösung‹ ist offenkundig aporetisch, da das Mittel (das Gesetz, der Zwang) dem Zweck (der Sicherung der Freiheit aller) widerspricht. Die Freiheit aller kann nur dadurch gesichert werden, dass alle gezwungen oder am Missbrauch ihrer Freiheit gehindert werden, d. h. indem man sie eines Teils ihrer Rechte beraubt. 29 Damit richtet Schelling sich auch gegen alle Versuche, die Entstehung einer staatlichen bzw. rechtlichen Ordnung auf einen Vertrag zurückzuführen. 30 Gegen solche Theorien führt er folgendes an: Diesen aporetischen Charakter scheint Jürgen Habermas nicht zu bemerken, wenigstens zu verharmlosen, wenn er meint, dass diese Ordnung nach den »Grundsätzen der praktischen Vernunft« stattfindet und von der »Staatsgewalt« lediglich ›sanktioniert‹ wird. Während Schelling bemerkt, dass dieser Zustand sich aus der Not und aus dem Zufall ergibt (vgl. AA I,9,1, 281, 283, 284, 286), meint Habermas, dass die Rechtsordnung von sich aus bereits den Grundsätzen der praktischen Vernunft konform ist. Ferner spricht er von dem »Vorzug des staatlich institutionalisierten rechtlichen Zwangs«, dass »er nämlich Legalität der Handlungen wie durch einen Mechanismus der Natur verbürgt«. Hier scheint er Schelling nach der klassischen Naturrechtslehre umzudeuten, wonach das Naturrecht in der Tat dazu dienen soll, die Staatsordnung zu legitimieren. Damit hat er die ›originelle Leistung‹ Schellings, die Aufdeckung der Aporie des Naturrechts, wieder verdeckt. Übrigens gelingt es ihm, bei Schelling »[d]rei Deduktionen des Staates« nachzuweisen, ohne dabei die Naturrechts-Deduktion zu berücksichtigen oder auch nur zu erwähnen. Während die (erste) Deduktion des Staates im System des transscendentalen Idealismus (1800) eine legitimierende Funktion habe, meint er in der »zweiten« Deduktion in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) eine anarchistische Tendenz festzustellen. Wenn er dazu in einer Fußnote bemerkt, dass diese Tendenz sich bereits 1796 im Systemprogramm findet, dann wird die Rede von einer »Entwicklung« und von drei einander widersprechenden Deduktionen hinfällig (Habermas 1963, 108 f., 110, 113). – Auch Markus Gabriel scheint Schelling wieder in die Bahn der klassischen Naturrechtstheorien zu lenken. Wenn er schreibt: »Außerdem setzt die Existenz des Vertragsrechts den Staat als Rechtsgaranten voraus. Im Naturzustand können daher keine Verträge geschlossen werden, da es keine Instanz gibt, die die Institution des Vertrags aufrechterhält«, dann wird dadurch die kritische Pointe weggebrochen, wonach jene Instanz den Vertrag nur insofern aufrechtzuerhalten vermag, als sie fähig ist, ihn aufzuzwingen. Ohne Zwang ist der Vertrag kraftlos und löst sich sogleich wieder auf (Gabriel 2006, 322). 30 Dies ist häufiger bemerkt worden: Cesa 1986, 228 f.; Cesa 1989, 189; Hofmann 1999, 83 f.; Hollerbach 1957, 127; Jäger 1939, 45; Rivelaygue 1983, 31 f.; Sandkühler 2011, 218; Schraven 1998, 197. Schelling belässt es bei einzelnen Hinweisen: vgl. AA I,3, 157 Anm. D; AA I,9,1, 283. – Die Zurückweisung der Vertragstheorien findet sich am Anfang des zweiten Abschnitts, und zwar in einer Anmerkung zu § 85, der die zweite Lieferung der Deduktion eröffnete. Insofern der Zwangscharakter des Rechts sich unmittelbar aus diese Zurückweisung der Vertragstheorien ergibt, tritt der Gedanke des Zwangsrechts nicht so unmittelbar und unvorbereitet auf, als es zunächst erscheint. 29

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Erstens müsste ein solcher Vertrag die Materie des Willens festlegen. Damit würde der Inhalt des Willens den Willenscharakter selbst aufheben. Ein Wille behält aber immerzu die Möglichkeit, sich zu revozieren und sich für einen anderen Inhalt zu entscheiden. Der Vertragsbegriff führt, zweitens, zu einem regressus in infinitum: Der Vertrag müsste jedes Mal wieder bekräftigt werden, da er aus sich selbst keine bindende, weil keine dauerhafte Kraft hat. Es sei denn, man setzt, drittens, bereits Moralität bei den Vertragspartnern voraus. In diesem Fall erklärt der Begriff allerdings nichts, da er voraussetzt, was er erklären soll. Und auch dann, wenn man, viertens, auf den Eigennutz der Vertragspartner setzt, gilt, dass freie Wesen »sich nur so lange zwingen lassen, als sie ihren Vortheil dabey finden« (AA I,9,1, 283). Sobald sie aus dem Vertrag keinen Vorteil mehr ziehen oder selbst nur der Meinung sind, dass er für sie nicht länger vorteilhaft ist, ist der Vertrag de facto aufgelöst. Diese Versuche haben gemeinsam, dass sie den Zwangscharakter der staatlichen Ordnung verdecken. Hinter dem moralischen Zwang verbirgt sich ein physischer oder psychologischer Zwang, d. h. Gewalt, Androhung von Gewalt oder Gewalt durch Überzeugung (vgl. AA I,3, 171 (§ 148)). Die Deduktion des Naturrechts erweist sich am Ende als ihre Destruktion. Das Problem, zu dessen Lösung das Naturrecht gedacht war, lässt sich mit seiner Hilfe nicht lösen, sondern nötigt dazu, zu einer anderen Wissenschaft überzugehen. Schelling legt hier die Aporie im Kern der Politik und des Rechts frei. Das Problem, das die Politik zu lösen hat, kann sie nur so lösen, dass sie auf externe Ressourcen zurückgreift, die sie weder selbst hervorzubringen noch auch nur zu kontrollieren vermag. Welche diese Wissenschaft sei, lässt Schelling an dieser Stelle indessen offen. Ihre Aufgabe ist allerdings bereits aus der Naturrechts-Deduktion zu ersehen. Es gilt, zwischen individuellen Willen eine solche Übereinstimmung hervorzubringen, dass diese nicht auf Zwang beruht und nicht als Zwang empfunden wird. Die Aufgabe besteht somit darin, zu untersuchen, wie ein Wille, ohne Rekurs auf die Moral oder auf die Pflichtethik, dennoch im Sinne des Ganzen zu handeln vermag. Schelling hält in der Folge unverbrüchlich an den wesentlichen Ergebnissen der Naturrechts-Deduktion fest. In den späteren verstreuten Äußerungen zu politischen Themen finden sich höchstens Präzisierungen, Erläuterungen, zusätzliche Argumente oder prägnantere Formeln. Von einem Wechsel oder einer Entwicklung im starken Sin354 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Eine neue Deduktion des Naturrechts

ne kann keine Rede sein. Die ungefähr gleichzeitig mit Philosophie und Religion in Würzburg gehaltenen Vorlesungen beschließen mit einer knappen Konstruktion des Staates. Schelling bemerkt, dass in der hier durchgeführten Konstruktion des Staates, erstens, »kein Bild des Staats aus der wirklichen Erfahrung gemeint ist« (SW VI, 575). Es ist nicht seine Absicht, politische Prinzipien aus der Erfahrung zu abstrahieren. Dies hatte sich bereits dadurch erübrigt, dass er in der Naturrechts-Deduktion gezeigt hatte, wie jeder mögliche real existierende Staat auf Zwang beruht. Zweitens will er ebenso wenig einen »Staat, der bloß formell ist, der, um eines äußeren Zwecks willen errichtet gedacht wird«, behandeln (SW VI, 575). Solche Konstruktionen können den Staat nur als »ein bloßes Zwangsinstitut« denken, da sie nur »die bloß negativen Bedingungen eines Staates« sichtbar machen können (SW VI, 575). Der maschinelle Staat unterscheidet sich vom organischen Staat jedoch nicht dadurch, dass letzterer zweckmäßig eingerichtet wäre, ersterer hingegen nicht, sondern dadurch, dass der Zweck, wonach ersterer eingerichtet wird, ihm und seinen Teilen äußerlich bleibt. Demnach kann der maschinelle Staat auch nach mehreren Zwecken eingerichtet werden. 31 In einer Maschine ist »der Begriff des Theils« zwar »durch den Begriff des Ganzen bestimmt«, aber »der Begriff des Ganzen« ist »dem Theil nur durch einen ihm fremden Zusammenhang verbunden«, sodass »der Zusammenhang also nicht in dem Theil selbst, sonder außer ihm liegt, anstatt daß im Organismus der Begriff des Ganzen zugleich der Begriff des Theils selbst, und in diesen übergegangen« ist (SW VI, 378). Die Zwecke, wonach der Staat eingerichtet werden kann, lassen sich nach der Naturrechts-Deduktion weder aus dem Naturrecht ableiten noch unter Hinweis auf es rechtfertigen. In den etwas früheren Vorlesungen über die Methode des academischen Studium heißt es: Wenn die bloß negative Seite der Verfassung, die nur auf Sicherstellung der Rechte geht, isolirt, und wenn von aller positiven Veranstaltung für die Energie die rhythmische Bewegung und die Schönheit des öffentlichen Lebens abstrahirt werden könnte: so würde sich schwerlich überhaupt ein anderes Resultat oder eine andere Form des Staats ausfindig machen lassen, als in jenem [sc. in Fichtes Grundlage des Naturrechts, R. S.] dargestellt ist. 32 31 32

Vgl. Schelling 1803, 235 f. / SW V, 316. Schelling 1803a, 234 f. / SW V, 316.

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5. Kapitel. Politik und Religion

Eine solche Bearbeitung des Naturrechts, die von der Rolle des öffentlichen Lebens abstrahiert, hatte Schelling selbst mit der NaturrechtsDeduktion vorgelegt – allerdings mit der Absicht, den aporetischen Charakter des Naturrechts aufzudecken und damit die Notwendigkeit eines Übergangs zu einer anderen Wissenschaft zu erweisen. 33 Diese Absicht unterscheidet Schellings Bearbeitung in seinem eigenen Urteil von der fichteschen. Deshalb mündet diese in einer bloß mechanischen Ansicht des Staates. Der konkrete Zweck, wonach der Staat eingerichtet wird, ob zur »allgemeine[n] Glückseligkeit«, zur »Befriedigung der socialen Triebe der menschlichen Natur« oder zum »Zusammenleben freyer Wesen unter den Bedingungen der möglichsten Freyheit«, vermag den maschinellen Charakter desselben nicht zu berühren. 34 Auch hier hält Schelling daran fest, dass das Naturrecht letztlich Zwangsrecht ist. Dieses Ergebnis seiner früheren Deduktion sieht er durch die fichtesche Bearbeitung des Naturrechts nur noch bestätigt. Allerdings tritt deutlicher als früher hervor, worin die Grenze des Naturrechts zu suchen ist, nämlich in ihrem Unvermögen, der Bedeutung des öffentlichen Lebens Rechnung zu tragen. Darin dürfte auch das Motiv für Schellings frühere Destruktion des Naturrechts zu suchen sein. Alle bisher eruierten Elemente finden sich knapp und prägnant zusammenführt in einem Fragment wieder, das Schelling im Frühjahr 1807 mit der Absicht schrieb, es in einem damals bereits geplanten Band seiner Vermischten Schriften zu veröffentlichen. 35 Das Fragment bezeugt, dass das Theoriestück des Naturrechts als Zwangsrecht von Schelling nicht vergessen wurde, sondern dass es für ihn weiterhin seine Gültigkeit behielt. Die sich auf das Naturrecht beziehende Stelle sei deshalb in ihrer vollen Länge angeführt: Was zuvörderst das allgemeine Verhältniß der Menschen zueinander betrifft, so war der Ausgangs- und Unterstützungspunkt der sämmtDamit liefert die Naturrechts-Deduktion auch die Begründung einer Behauptung aus dem Ältesten Systemprogramm, nämlich dass der maschinelle Staat keine Idee der praktischen Vernunft ist (vgl. Systemprogramm, TWA 1, 234). Dazu: Rivelaygue 1983, 13. 34 Schelling 1803a, 235 / SW V, 316. 35 Das Fragment wurde von K. F. A. Schelling unter dem Titel Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft zum ersten Mal veröffentlicht. In einem Brief vom 16. Juni 1807 an Jacobi, in welchem er diesem einige Auszüge mitteilt, bezeichnet Schelling es allerdings als Über das Wesen deutscher Philosophie (vgl. F. W. J. Schelling an F. H. Jacobi, 16. Juni 1807, Fuhrmans, Briefe III, 440). 33

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

lichen Theorien die absolute Personalität des Einzelnen [1]. Nicht damit ein dem All ähnliches Ganzes entstünde, nur um eines Ganzen willen, sondern damit der Einzelne für sich, abgeschlossen und gesondert bestehen könnte, gab es Recht und Gesetze. Der Charakter, unter dem der Einzelne betrachtet wurde, war (dem höchsten, den mechanische Physik kennt, ähnlich) moralische Undurchdringlichkeit, absolutes Vermögen für sich zu seyn und seine Sphäre mit Ausschließung aller andern zu erfüllen. Auf diese unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität wurde eine den Alten in diesem Sinn völlig unbekannte Wissenschaft gegründet, ein sogenanntes Naturrecht, das allen zu allem ein gleiches Recht gibt [2] und keine innerlich bindenden Pflichten, sondern nur äußeren Zwang, keine positive Handlungen, sondern nur Unterlassungen und nur Einschränkungen kennt [3], die sich jeder an seinem ursprünglichen Recht bloß in der Absicht gefallen läßt, um den ihm übrig bleibenden Rest desselben desto sicherer in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit genießen zu können. Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag [4]. Wenn einmal in der Menschheit kein nothwendiges Princip von göttlicher Einsetzung ist, wodurch viele zur Einheit verschmolzen, und hinwiederum die Einheit in Vielheit sich verwirklicht, wenn das Höchste, um dessenwillen alles andere da ist und geschieht, die Personalität des Einzelnen ist: so ist es unmöglich, für das Ganze wahrhaft zu wollen, und das Gesetz der Sittenlehre, im Sinn und Geist des Ganzen zu handeln, anders als im negativen Sinn zu verstehen und zu erfüllen, nämlich in dem: nichts zu thun, das dem Willen des Ganzen, wenn es als solches einen haben könnte, widerstritte [5]. Alle Tugenden sind dann entweder bloß verneinender Art, oder können ebenfalls nur von dieser Seite erscheinen; der ganze Werth des Menschen besteht in der Einschränkung, die er sich in Ansehung anderer auferlegt, nicht in dem, was er für andere vollbringt; Tugenden, die sich nur im Zustand eines öffentlichen und gemeinsamen Lebens entwickeln und äußern können, gibt es nicht, sondern bloß Tugenden des Privatlebens [5.1]. Auch der Staat glaubt solcher Tugenden entbehren zu können, sowie jeder innerlich bindenden Kraft. Gesinnungen gehen ihn nichts an, denn Handlungen, die seiner Existenz zuwider, glaubt er mit Gewalt hindern, deren er bedarf, erzwingen zu können. Vollkommene Mechanisirung aller Talente, aller Geschichte und Einrichtungen ist hier das höchste Ziel [5.2]. Alles soll nothwendig seyn im Staat, nicht wie in einem göttlichen Werk alles nothwendig ist, sondern wie in einer Maschine durch Zwang, durch äußeren Antrieb [6]. Zwar es muß sich in der Anwendung finden, daß der Staat durch alle diese Mittel nie ein Ganzes wird, ja daß jene blinde Nothwendigkeit nicht einmal erreicht wird, aber immer wird der Grund nur in der Unvollkommenheit des Mechanismus gesucht; neue Räder werden eingefügt, die zu ihrer Regulirung wieder anderer bedürfen, u. s. f. ins Unend-

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5. Kapitel. Politik und Religion

liche; ewig gleich fern aber bleibt das mechanische Perpetuum mobile, das bloß organischer Kunst der Natur und der Menschen vorbehalten ist zu erfinden. In einem so gewordenen Staat hat alles nur Werth, soweit es mit Sicherheit erwartet und berechnet werden kann: alles Dämonische aber, das vom Himmel kommt und nicht berechnet werden kann, ist von keiner Bedeutung [7]. (SW VIII, 10–12)

Alle Hauptpunkte, die wir vorher herausgearbeitet haben, finden sich auf diesen wenigen Seiten in knappster Form wieder: (1.) Noch deutlicher als in der Naturrechts-Deduktion hebt Schelling hervor, dass die Aporie des Naturrechts sich aus der Annahme einer ›absoluten Egoität‹ oder der ›absoluten Personalität des Einzelnen‹ ergibt, die allerdings nicht mit dem ›absoluten Ich‹ aus der Deduktion gleichgesetzt werden darf, sondern vielmehr auf die Verabsolutierung der empirischen Individualität abzielt, die in der Naturrechts-Deduktion lediglich in deren drittem Teil berücksichtigt wurde und die sich auf das Naturrecht im engeren Sinne bezog. Diese moralische Atomistik ist indessen eine Abstraktion, die die geschichtliche Gebundenheit der Individuen übersieht. Das Naturrecht stützt sich auf metaphysische Annahmen, in erster Linie bezüglich der Natur des Individuums, insofern dieses als eine Art Atom konzipiert wird. Aufgrund dieser Voraussetzung ergibt sich als Aufgabe des Naturrechts, die Mittel zu suchen, wonach eine Menge solcher Atome sich einigermaßen einträchtig bewegen lassen könnte. Jene Annahme des atomistischen Individuums ist mit den Ergebnissen der schellingschen Naturphilosophie nicht vereinbar. Hier zeigt sich somit unmittelbar, wie Schellings naturphilosophische Konstruktionen für das Verständnis des Politischen unmittelbare Folgen haben, auch dann, wenn er es vorzieht, sie nicht unmittelbar auszusprechen oder sie nur höchst selten anzudeuten. In ihnen findet Schelling ein kritisches Potential, das sich insbesondere gegen das Naturrecht richten lässt, das er für den eigentlichen Kern des modernen Verständnisses des Politischen hält. Deshalb wird an dieser Stelle übrigens auch ausdrücklich an ›die Alten‹ erinnert. (2.) Die drei ›ursprünglichen Rechte‹, die er im zweiten Abschnitt der Naturrechts-Deduktion deduziert hatte, fasst Schelling hier in der extrem gedrängten Formel eines ›sogenannten Naturrechts‹ zusammen, ›das allen zu allem ein gleiches Recht gibt‹. Zunächst das ›Recht der formalen Gleichheit‹, wonach alle das gleiche Recht haben. Die Rede von einem Recht ›zu allem‹ ist zweideutig, insofern damit Sachen oder Dinge und damit das ›Recht auf die ErscheinungsWelt‹, auf Eigentum gemeint sein kann. Ebenso gut kön358 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Eine neue Deduktion des Naturrechts

nen damit auch Handlungen gemeint sein. Danach hätten alle das gleiche Recht auf alle möglichen Handlungen und damit ein ›Recht der moralischen Freiheit‹. (3.) Daraus ergibt sich der bloß negative Charakter des Staates: Dieser kann nur den Missbrauch der Freiheit verhindern, nicht aber zu positiven Handlungen motivieren. (4.) Auch die Kritik an den Vertragstheorien wird rekapituliert. (5.) Ferner wird ersichtlich, was die andere Wissenschaft zu leisten habe: Diese hat zu zeigen, wie ›innerlich bindende Pflichten‹, ›positive Handlungen‹ und ›Tugenden‹ möglich sind, deren bestimmendes Merkmal darin besteht, ›für das Ganze wahrhaft zu wollen‹ und eine ›innerlich bindende Kraft des Staates‹ zu entwickeln. Die andere Wissenschaft zielt somit darauf ab, den Staat als Organismus mit einem inneren Zweck zu denken. Dieser ist nur die Kehrseite des Staates als Mechanismus. In seinen späteren Erklärungen tritt nur deutlicher die ›positive‹ Seite von Schellings Begriff des Politischen hervor, der sich in der Naturrechts-Deduktion nur von seiner ›negativen‹, kritischen oder destruktiven Seite gezeigt hatte. (5.1.) Nach dem Naturrecht gibt es nur ›Tugenden des Privatlebens‹. Damit verbindet Schelling eine anthropologische Beobachtung: Zum einen lassen solche Privattugenden den Menschen unbefriedigt, da es etwas im Menschen gibt, das nach mehr als bloß privaten Tugenden verlangt. Zum anderen verkümmern die Tugenden, wenn sie sich lediglich in der Privatsphäre zeigen können und keine öffentliche Resonanz haben. 36 (5.2.) Dem schließt sich ein politisches Argument an. Zwar ist es nicht unmöglich, den Staat so einzurichten, dass die Tugenden sich nur noch in der Privatsphäre entfalten können, wie gerade der moderne Staat belegt. Eine solche Einrichtung ist allerdings dem Gedeihen des Staates selbst abträglich, da sie zum einen bei den Regierten jeden positiven, innerlichen Antrieb, etwas für das Gemeinwohl zu tun, erstickt und zum anderen bei den Regierenden eine ›bürgerliche Moral‹ unterstützt, die für die Ausübung eines Amtes nicht förderlich ist und ihnen kein angemessenes Verständnis der Bedeutung ihrer Aufgaben erlaubt (vgl. SW VIII, 12). 37 Die Erfahrung selbst zeigt, wie eine mechanische Einrichtung des Staates keine wirkliche Einheit hervor-

Vgl. auch Schelling 1803a, 228 / SW V, 313; SW VI, 573. Vgl. auch den vom Herausgeber eingefügten Zusatz aus dem Handexemplar (SW V, 260), der in allen zu Schellings Lebzeiten erschienenen Ausgaben fehlt (1803, 1813, 1830).

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zubringen vermag. 38 (6.) Auch der Zwangscharakter des Staates wird wieder hervorgehoben. 39 (7.) Dieser begünstigt insbesondere einen Konformismus, den Schelling für ›ein kleines, friedliches, zu keinen großen Bestimmungen berufenes Völklein‹ noch gelten lassen will 40 und der der sachgerechten Erfüllung der Aufgaben größerer Staaten hingegen abträglich ist, die mehr als gewöhnliche Individuen verlangt, die sich jenem Zwangscharakter entziehen und denen man im eigentlichen Sinn ›Persönlichkeit‹ zusprechen kann. Eine Einrichtung, die die Entfaltung des ›Dämonischen‹ begünstigte, und die inWenn es auch seit Längerem bon ton ist, in Schellings Kritik am mechanischen Staat einzustimmen, so ist dabei doch nicht zu übersehen, dass eine »Rechts-Verfassung in dem Verhältniß, als sie der Natur sich annähert« – und d. h., wie dem Vorhergehenden zu entnehmen ist, als sie »wie eine Maschine, die auf gewisse Fälle zum voraus eingerichtet ist, und von selbst, d. h. völlig blindlings, wirkt, sobald diese Fälle gegeben sind« –, »ehrwürdiger wird«, während »der Anblick einer Verfassung, in welcher nicht das Gesetz, sondern der Wille des Richters, und ein Despotismus herrscht, der das Recht, als eine Vorsehung, die in das Innere sieht« – wozu nur Gott, nie aber ein Mensch fähig ist –, »unter beständigen Eingriffen in den Naturgang des Rechts ausübt, der unwürdigste und empörendste [ist], den es für ein von der Heiligkeit des Rechts durchdrungenes Gefühl geben kann« (AA I,9,1, 282 f.). 39 So auch noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen: Der Staat ist eine »physische Einheit«, »eine Einheit, die nur durch physische Mittel wirken kann« (SW VII, 461). Vicki Müller-Lüneschloß bemerkt zu Recht, dass »der Staat ›einen Widerspruch in sich selbst‹ hat, welcher darauf beruht, dass er eine Einheit ist, ›die nur durch physische Mittel wirken kann‹, und sich dabei doch auf geistige und freie Wesen beziehen soll« (Müller-Lüneschloß 2012, 245 f.). Diese Grundeinsicht hatte Schelling aber bereits mit der Neuen Deduction gewonnen. Gerade jener Widerspruch verweist auf eine »neue Wissenschaft«, die nach einem »organische[n] Ganze[n]« sucht (SW VII, 462). Der Widerspruch ist Ausdruck eines »auf der Menschheit ruhenden Fluchs« (SW VII, 461). – Es ist nicht leicht zu sehen, inwiefern die Ansicht, wonach der Staat »nicht mehr als der beweiskräftige Ausdruck einer verkehrten Welt« ist (1810), und diejenige, wonach er »als heilsame Gewalt gegen die Verkehrung selbst« erscheint (wie nach 1850), inkompatibel wären, wie Habermas meint. Eben dass es einer solchen »heilsame Gewalt gegen die Verkehrung« bedarf, kann als ein Beleg der Verkehrung dienen. Gäbe es diese nicht, dann bräuchte es auch den Staat nicht. Dass hier zudem einer »unvermittelte[n] Identifikation der in den existierenden Staaten ausgeübten Autorität« mit einer Sittenordnung das Wort geredet wird, vermag ich ebenfalls nicht zu sehen. Höchstens wäre die staatliche Ordnung insofern immer vorzuziehen, als die Alternative der Zustand der Anarchie oder des Aufruhrs wäre, d. h. ein teilweiser Durchbruch des Naturzustandes, wo jeder jeden zwingt. Das von Habermas angeführte Zitat belegt nur, dass der Mensch (weil gefallen) nun einmal nicht anders leben kann als in einer staatlichen Ordnung; damit ist aber die bestehende Staatsordnung noch keineswegs als die bestmögliche oder als sittlichste legitimiert (Habermas 1963, 112). 40 Schelling 1803a, 109 / SW V, 260. 38

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Eine neue Deduktion des Naturrechts

sofern dasjenige absichtlich hervorzubringen oder zu fördern suchte, dessen Hervorbringung sich jeglicher Kontrolle entzieht, wäre für den Staat selbst von Vorteil. Die Idee einer solchen Einrichtung ist somit mehr dazu geeignet, auf das grundlegende Problem des Politischen aufmerksam zu machen, als dass es als Lösungsvorschlag verstanden werden könnte. Durch das Bisherige dürfte hinreichend belegt sein, dass die Selbstzerstörung des Naturrechts als Zwangsrechts für Schelling bleibende Gültigkeit behält. 41 Daraus dürfte auch zu erkennen sein, aus welchem Grund die Ausarbeitung einer politischen Theorie für Schelling keine dringliche Aufgabe sein konnte: Keine solche Theorie wäre in der Lage, für das Grundproblem, das die Naturrechts-Deduktion aufgedeckt hatte, eine durchführbare praktische Lösung zu entdecken. Auch die von Kant und Fichte kurz nach der NaturrechtsDeduktion veröffentlichten Rechtslehren waren nicht von der Art, dass sie Schelling dazu zu veranlassen vermochten, die Ergebnisse seiner eigenen Deduktion einer Revision zu unterziehen. Vielmehr mussten sie ihn in seiner Überzeugung von der Richtigkeit derselben noch bestätigen, da sie, insofern sie die Aporie des Naturrechts nicht bemerkten, zu einem Gebrauch desselben führten, den Schelling in seinem mystifizierenden Charakter bereits entlarvt hatte. Dazu erklärt Schelling: Das erste Unternehmen, den Staat wieder als reale Organisation zu construiren, war Fichte’s Naturrecht. Wenn die bloß negative Seite der Verfassung, die nur auf Sicherstellung der Rechte geht, isolirt, und wenn von aller positiven Veranstaltung für die Energie die rhythmische Bewegung und die Schönheit des öffentlichen Lebens abstrahirt werden könnte: so würde sich schwerlich überhaupt ein anderes Resultat oder eine andere Form des Staats ausfindig machen lassen, als in jenem dargestellt ist. Aber das Herausheben der bloß endlichen Seite dehnt den Organismus der Verfassung in einen endlosen Mechanismus aus, in dem nichts Unbedingtes angetroffen wird. 42

Gerade diesen bloß negativen Charakter einer jeglichen Naturrechtslehre hatte Schelling noch vor der Veröffentlichung von Fichtes Naturrechtslehre bereits in der Neuen Deduction nachgewiesen. Damit wird die Frage des Rechts und der Gesetze oder die Aufgabe einer Dieter Jähnig ist einer der Wenigen, der eine grundsätzliche Kontinuität der politischen Lehre Schellings behauptet, vgl. Jähnig 1966, 244 f., 246, 248, 256 f. 42 Schelling 1803a, 234 f. / SW V, 316; Herv. v. Verf. 41

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Konstruktion des Staats ›als einer realen Organisation‹ von untergeordneter Bedeutung. 43 Das zentrale Problem, wie die individuellen Willen zu einer organischen Einheit gebracht werden können, ist mit den Mitteln des Naturrechts nicht lösbar. Das Fehlen eines Werks, »das mit den berühmten politischen Werken Fichtes oder Hegels verglichen werden könnte«, berechtigt somit nicht zu dem Schluss, Schelling sei »kein politischer Denker« oder sogar »der ›unpolitischste‹« Denker »des klassischen deutschen Idealismus«. 44 Das zugrundeliegende Problem hingegen bleibt für Schelling ständig präsent. Eine Lösung wäre nur in einer »neue[n] Wissenschaft« zu suchen (AA I,3, 174 (§ 163)). Allerdings wird die politische Dimension dieser Wissenschaft leicht übersehen.

2. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien Wie wir im Zusammenhang der Naturrechts-Deduktion bemerkten, bedürfen die Philosophen untereinander weder der Pflicht noch des Zwangs, da sie aufgrund ihrer Natur miteinander in Übereinstimmung sind. Das Naturrecht hingegen war zur Lösung der Frage gedacht, wie sich zwischen Nicht-Philosophen eine Übereinstimmung Vgl. auch die Bemerkungen zur Jurisprudenz (Schelling 1803a, 226–236 / SW V, 312–316). 44 Habermas 1963, 108; Cesa 1986, 226. – Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass Schelling es sich, wie Habermas zu Recht beobachtet, ersparen kann, »in die traditionell verbindliche Diskussion über die beste Form des Staates einzutreten« (Habermas 1963, 111). Allerdings nicht, wie Habermas meint, aufgrund einer »kaum verhüllte[n] anarchistischen Konsequenz« (ebd.), sondern weil das Naturrecht keine beste Regierungsform zu begründen vermag. Die Ausführung des Theoriestücks von der besten Staatsform hat Schelling somit nicht unterlassen. Sein Fehlen selbst deutet auf ein Argument, das Schelling in der Naturrechts-Deduktion umständlicher entwickelt hatte: Keine Form des Staates vermöchte die Aporie des Naturrechts zu lösen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass es nicht möglich wäre, zwischen besseren und schlechteren Einrichtungen des Staates zu unterscheiden, nur dass dieser Unterschied nicht auf die Staatsform zurückgeführt werden kann. Jede dieser Formen lässt ein Optimum zu. Wenn bei Schelling eine gewisse Neigung zur Monarchie feststellbar ist, dann dürfte dies u. a. dadurch motiviert sein, dass in derselben mit dem König eine Instanz eingebaut ist, die ein »Gegengewicht gegen die abstrakte Allgemeinheit des Gesetzes« bildet, diese aber nicht aufhebt (Hollerbach 1957, 238). – Man kann sagen, dass man bei Schelling bislang immer nur nach einer politischen Theorie, nicht nach einer Politischen Philosophie gesucht hat. Für diese grundlegende und weitreichende Unterscheidung: Strauss 1959, 12–16, 92–94; Meier 2000. 43

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Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

hervorbringen lässt. Die Leistung der Deduktion besteht somit nicht nur darin, dass sie den aporetischen Charakters des Naturrechts aufgedeckt, sondern zugleich auch eine Unterscheidung zwischen drei ›Klassen‹ von Wesen begründet hat. Den drei von Schelling unterschiedenen praktischen Wissenschaften entsprechend kann man nämlich auch drei Klassen von Wesen unterscheiden, auf welche jene sich jeweils beziehen: Während die Beziehungen zwischen Philosophen Gegenstand der Moral waren und die Ethik sich mit den (pflichtmäßigen) Verhältnissen zwischen Philosophen und potentiellen Philosophen bzw. mit den Beziehungen letzterer untereinander beschäftigte, war es Aufgabe des Naturrechts, zu untersuchen, ob und wodurch sich auch zwischen Nicht-Philosophen eine Einheit hervorbringen lässt. An diese grundlegende Unterscheidung erinnert Schelling sogleich im ersten Absatz des »Anhangs« von Philosophie und Religion. Er fängt damit an, ein Korrespondenz- oder Identitätsverhältnis zwischen Staat und Universum zu behaupten. Der ideale oder vollkommene Staat soll ein Abbild des Universums, d. h. einer natürlichen Ordnung sein. 45 Deshalb muss er auch einer natürlichen Unterscheidung Rechnung tragen. Nach »dem Vorbild des Universum« zerfällt der Staat als eine »zweyte Natur« nämlich »in zwey Sphären oder Klassen von Wesen«, die Schelling als die »Freyen« und die »Nicht-freyen« bezeichnet. 46 Die Freien »repräsentiren« die Ideen, die Nicht-Freien hingegen »die concreten und sinnlichen Dinge«. 47 Die jeweils vorherrschende Erkenntnisart ist der Grund dieser natürlichen Unterscheidung. Demnach ließe die Unterscheidung sich auch auf ein und dasselbe Wesen anwenden, indem z. B. Der ideale Staat ist ein solcher, in welchem der Mechanismus oder der Zwang verschwindet. Damit ist gesagt, dass es keinen faktisch existierenden Staat gibt, der nicht – mehr oder weniger – mechanisch ist: Jeder existierende Staat wäre höchstens ein Versuch, diesen mechanischen Charakter zum Verschwinden zu bringen und zu einer organischen Einheit zu gelangen. 46 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. Diese Unterscheidung hat vielfach Missverständnisse veranlasst. So hat man darin eine »Apologie der Ungleichheit« gesehen, vgl. Sandkühler 1968, 137; Gilson 1988, 37. Markus Gabriel meint sogar, dass Schelling »damit die Sklaverei ontologisch [rechtfertigt], ein peinlicher Fehltritt, der eines erklärten Denkers der Freiheit kaum würdig ist« (Gabriel 2006, 330). Claudio Cesa hingegen bemerkt zu Recht, dass Schelling »selbstverständlich nicht in allem Ernst eine Wiedereinführung der Sklaverei oder des Leibeigentums befürworten [könnte]«; er bringt den »Stand der Unfreien« mit der »Sklaverei des Privatlebens« und der Gebundenheit am »eigennützigen Trieb« in Verbindung (Cesa 1981, 311). 47 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. 45

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der Philosoph nicht ohne Erkenntnis der sinnlichen Dingen und der Ideen ist. Entscheidend ist allerdings, welche Erkenntnisart die höchste und damit die anderen bestimmende Stelle einnimmt. Neben diesen zwei ›Klassen von Wesen‹ gibt es jedoch noch eine dritte Klasse von Wesen, die im Staat keinen Ort zu haben scheint. Es gibt nämlich eine »höchste und oberste Ordnung«, die aber, insofern der Staat in zwei »Klassen von Wesen zerfällt«, »noch unerfüllt durch beyde« bleibt. 48 Es ist dies die Klasse der Philosophen, die dadurch eine Sonderstellung erhält. Die beiden Klassen der Freien und Nicht-Freien stehen in Beziehung zueinander: Die Ideen und damit auch die Freien als ihre Repräsentanten »bekommen dadurch, dass die Dinge ihre Werkzeuge oder Organe sind, selbst eine Beziehung auf die Erscheinung und treten in sie, als Seelen, ein«. 49 Der Staat zerfällt als zweite Natur in zwei Klassen. Diese zwei Klassen gehören also zur Natur. So wie nun Gott zur Natur »ewig nur ein indirectes Verhältniss« hat und »über alle Realität erhaben [bleibt]«, so haben auch weder die Freien noch die Nicht-Freien ein direktes Verhältnis zu Gott. 50 Die Freien erhalten erst durch die dritte Klasse von Wesen selbst ein Verhältnis zu jener höheren Ordnung. Die dritte Klasse hingegen bezieht sich direkt auf Gott. Nur die Philosophen repräsentieren Gott. Dadurch können sie aber zur zweiten Natur und damit zu den Freien wie zu den Nicht-Freien nur ein indirektes Verhältnis haben. Damit bringt Schelling an dieser Stelle gerade jene Unterscheidung wieder zum Tragen, die er in der Naturrechts-Deduktion begründet hatte. 51 Wie wir gesehen haben, nötigte der Nachweis des Naturrechts als eines Zwangsrechts zu einem Übergang zu einer anderen Wissenschaft, deren Aufgabe darin besteht, zu zeigen, wie die individuellen Willen sich in eine stabile gemeinschaftliche Ordnung einbinden lassen. Obwohl Schelling es in der Neuen Deduction offen lässt, welche Wissenschaft er meint, so ist aus ihr deutlich zu ersehen, welche Aufgabe sie zu lösen hat. Ferner ist aus ihr zu ersehen, dass an der Sinnlichkeit angeknüpft werden muss, wenn eine solche stabile Ordnung Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. 50 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. 51 Die zentrale Rolle der Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien geht auch aus einer von Johann Peter Pauls angefertigte Nachschrift einer Vorlesung hervor, die Schelling im Sommersemester 1804 in Würzburg gehalten hat, vgl. Scheerlinck 2016a. 48 49

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Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

zustande gebracht werden soll, und nicht am Menschen, insofern er ein vernunftgeleitetes Wesen ist. Diese Ordnung soll den Menschen dazu bringen, vernünftig zu leben, ohne aus Vernunft zu leben. Der Staat wurde als ein solches soziales Gebilde bestimmt, das so geordnet und eingerichtet ist, dass es seine Glieder dazu bestimmt, sich selbst zu zwingen und den von ihm ausgehenden Zwang zu verinnerlichen und dadurch sich selbst als ein Objekt oder als ein Mittel zu behandeln. Die jetzt gesuchte Form des πολιτεύειν (vgl. SW VI, 576) soll zwischen den Einzelnen ein gemeinschaftliches Band hervorbringen, sodass sie, indem sie sich um sich selbst bemühen, zugleich einen Beitrag zum gemeinsamen Guten liefern und in ihren Bemühungen um das Gemeinwohl ihre Erfüllung finden. 52 Darauf scheint Schelling abzuzielen, wenn er von »innerlich bindende[n] Pflichten« (SW VIII, 10) und von einem »öffentlichen Geist« oder »Leben« spricht. 53 Der vernunftgeleitete Wille bedarf eines solchen Gebildes nicht, da er, wie wir gesehen haben, von selbst mit den anderen vernunftgeleiteten Willen in Übereinstimmung ist (Moral) und den nicht vernunftgeleiteten Willen gegenüber pflichtmäßig handelt (Ethik). Das gesuchte Gebilde ist demnach ausschließlich für die nicht vernunftgeleiteten Willen gedacht. Das Problem besteht darin, wie sich – unter der Annahme, dass das vernunftgeleitete oder philosophische Leben zwar die höchste Verwirklichung der Freiheit ist, wegen seiner hohen Anforderungen jedoch nur den Wenigsten offensteht – auch für die Nicht-Philosophen bzw. Nicht-Freien eine Ordnung finden lässt, die es ihnen erlaubt, etwas der höchsten Freiheit Entsprechendes zu erfahren. Als ein solches Gebilde gilt Schelling die Mythologie. 54 Die ›neue Wissenschaft‹ kann entsprechend als eine Neue Mythologie bezeichnet werden. 55 Vgl. dazu Jähnig 1966, 244–248; Jähnig 1969, 194–200. Schelling 1803a, 228 / SW V, 313. 54 Vgl. Jähnig 1966, 244: »die ›mythologisch‹ konstituierte […] Gemeinschaft« ist »das positive Gegenstück zum Staat«. Dieses »Gegenstück« ist jedes Mal gemeint, wenn Schelling vom ›Volk‹ oder vom ›Staat als Organismus‹ spricht. 55 Nach Markus Hofmann laufen die bislang vorgeschlagenen Deutungen der ›neuen Wissenschaft‹ als Staatsrecht, Geschichte oder auch Naturphilosophie in der Bestimmung als Neuer Mythologie zusammen, vgl. Hofmann 1999, 87 f. So auch Sziborsky 1987, 40: »Die Forderung [nach einer Neuen Mythologie, R. S.] erwächst aus einer Staatskritik«. Trifft dies zu, dann wird die übliche Periodisierung, wonach Schelling in einer ersten Periode (zur Zeit der Neuen Deduction) einen ›mechanistischen‹ Staatsbegriff, in einer späteren (ab 1803) einen ›organischen‹, in der Spätphilosophie schließlich einen ›eschatologischen‹ Staatsbegriff vertreten habe, wie sie besonders 52 53

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Dies geht auch aus dem Zusammenhang hervor, in welchem Schelling im Ältesten Systemprogramm zum ersten Mal auf die Neue Mythologie zu sprechen kommt. Dort heißt es: »Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt« (Systemprogramm, TWA 1, 234). Diesen maschinellen Charakter des Staates, wonach dieser nach keinem immanenten Zweck, sondern nur nach ihm äußerlichen Zwecken eingerichtet wird, hatte Schelling auch in der Neuen Deduction nachgewiesen, und zwar im Ausgang von der ›Idee der Menschheit‹, wie er sie aus der Idee des absoluten Ich gewonnen hatte. Daraus schließt Schelling: »[A]lso soll er [der Staat, R. S.] aufhören« (Systemprogramm, TWA 1, 235). Aus diesem Satz spricht kein Anarchismus. Ebenso wenig ruft er das Individuum zum Aufruhr gegen die staatliche Ordnung auf. Diesem Satz zufolge käme dem Staat vielmehr nur eine vorläufige Bedeutung zu, in Erwartung dessen, dass entweder alle zum Philosophen werden oder dass ein Volk als ein organisch gegliedertes Ganzes entsteht. Dem Staat kommt demnach nur eine negative Bedeutung zu, indem er im Idealfall zwar den Missbrauch der Freiheit zu verhindern vermag, ohne jedoch dazu beitragen zu können, dass die Bürger ihre Freiheit zur eigentlichen Selbstverwirklichung gebrauchen. 56 Diese Einschätzung der Bedeutung des Staates nötigt dazu, »die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit« darzulegen (Systemprogramm, TWA 1, 235; vgl. AA I,9,1, 285 f.). Da der Staat keinen Beitrag zum positiven Gebrauch der Freiheit liefern kann, müsse »der große Haufen […] eine sinnliche Religion haben« (Systemprogramm, TWA 1, 235). Eine sinnliche Religion ist nur ein anderer Ausdruck für Mythologie. Deshalb heißt es auch noch in Philosophie und Religion: »Wollt ihr, dass sie [sc. die Religion, R. S.] zugleich eine exoterische

von Hollerbach 1957 vertreten wurde, hinfällig. Obwohl Dieter Jähnig die Unhaltbarkeit dieser Periodisierung bereits überzeugend nachgewiesen hat (vgl. Jähnig 1966, 256 f.), trifft man sie weiterhin immer wieder an, so z. B. bei Sandkühler 1968; Sandkühler 2011. Zum Grund der Mythologie in der Natur vgl. Hühn 1994. 56 Vgl. Jähnig 1966, 256 f.: »Solange das Ideal menschlicher Gemeinschaft als eines ›Organismus‹, in dem jedes Individuum freiwillig das Prinzip des Ganzen will, nicht (nicht mehr oder noch nicht wieder) wirklich ist, ist eine mechanisch-rechtliche Ordnung unvermeidlich, um, den Mißbrauch der Freiheit einschränkend, deren Selbstzerstörung zu verhüten. Diese Ordnung ist also, aus demselben Grund, um dessentwillen sie besteht, vorläufig«. Vgl. auch Rivelaygue 1983, 13 f.

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und öffentliche Seite habe, so gebt ihr diese in der Mythologie, der Poësie und der Kunst einer Nation«. 57 Zunächst ist der sinnliche Charakter der Mythologie hervorzuheben. Durch denselben ist sie allen zugänglich und verständlich und vermag auf eine Einheit aller hinzuwirken. Es sei an dieser Stelle auf eine Figur hingewiesen, die durchaus als eine ›Urszene‹ 58 des schellingschen Denkens der Geschichte anzusehen ist. Sie stellt die Gestalt, die Rolle und die Aufgabe eines Gegenstücks oder einer Präfiguration des Philosophen bildlich dar. Sie findet sich in einer von Schellings frühesten Schriften, in dem Aufsatz Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt. Bevor er dort zu einer Taxonomie der Mythen übergeht, vergegenwärtigt Schelling kurz und anschaulich das, was man heute vielleicht den ›Sitz im Leben‹ der Mythen nennen würde: Die Mythen werden nämlich erzählt, und zwar von einem Stammvater oder denkenden Weisen (vgl. AA I,1, 197 f., 225 f.). Dieser erklärt die Natur, die Götter, die Bräuche. Wenn diese Erzählungen uns von der inhaltlichen Seite kaum noch etwas zu sagen haben, so kommen sie doch einem menschlichen Bedürfnis entgegen, das der Nachweis ihrer Falschheit oder ihres fehlenden informativen Charakters keineswegs zunichte macht. Diese Erzählungen haben nämlich eine gemeinschaftsstiftende Funktion, indem sie eine kollektive Identität hervorbringen: Was konnte auch ungebildete Menschen eher zu einer Gesellschaft verbinden, als die Tradition, die Sagen von den gemeinschaftlichen Vätern und ihren Thaten, an denen jeder gleiches Interesse nahm? was eher, als die gemeinschaftlichen Beispiele des Heldenmuths, der Tapferkeit und der Tugend der Vorväter, was eher, als dieselben Sitten, Gebräuche und Gesetze, die sie alle als Verlassenschaft der Väter heilig beobachteten? (AA I,1, 218)

»So wirkten Lehre, Ermahnung und Beispiel der Väter nationale Tugend der Völker; denn auch Tugend ist unter ungebildeten Stämmen nur das, was durch lange Beobachtung, durch Herkommen, durch alte Ueberlieferung geheiligt ist« (AA I,1, 240). »Die historischen Sagen eines jeden Volks werden mitunter immer zur belehrenden, bildenden Tradition« (AA I,1, 218). Solche Sagen sind ein Erziehungsmittel, um »in ungebildete[n] Menschenhorden Harmonie und Einheit« hervorzubringen und sie dadurch in einer volksmäßigen, organischen 57 58

Schelling 1804, 74b / SW VI, 65. Nach einem Ausdruck von Franz 1996, 5.

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Einheit zu überführen (AA I,1, 218). Umgekehrt bedeutet die Zerstörung der Mythologie die Auflösung eines Volkes und eine Rückkehr in den Zustand der Horde oder der Barbarei. 59 Wegen ihres sinnlichen Charakters vermögen die Mythen auch eine motivierende Wirkung zu entfalten: Sie regen zu Handlungen an, nicht durch Zwang, sondern durch »Ehrfurcht und Achtung« (AA I,1, 240). 60 Auch ist es schwer, »ein Volk jener lebendigen Lehre der Tradition zu entwöhnen, ihm andre Begriffe und Kenntnisse, andre Sitten und Gebräuche heilig zu machen« (AA I,1, 240). Zur Gefährlichkeit eines solchen Unterfangens äußert Schelling sich hier nicht. Ebenso wenig reflektiert er über den Unterschied zwischen der Ersetzung alter durch neue Sitten und der Zerstörung bestehender Sitten, ohne dass etwas Neues an deren Stelle tritt. Wie dem auch sei, Mythen haben eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Die Gemeinschaft bewegt sich in einem mythischen Element. Diese Funktion kann durch nichts ersetzt werden. 61 Dies hat Schelling besonders in dem Mythen-Aufsatz Vgl. Schelling 1803a, 168 f. / SW V, 287. Vgl. Jähnig 1966, 245 f.: »Die Gemeinschaft soll von solcher Art sein, daß der Staat überflüssig wird. Denn das bedeutet ja nicht etwa Anarchie, sondern vielmehr: das gemeinschaftstiftende Band (die Form der ›Wechselwirkung‹ der Individuen) soll nicht von außen wirkend, nur auf den Mißbrauch der Freiheit gerichtet, also nur verbietend und insofern von ›negativer‹ Wirklichkeit, sondern im Innern eines jeden Menschen tätig sein, – als sein eigener Wille und insofern von ›positiver‹ Wirklichkeit. Das aber wäre eben dort der Fall, wo Form und Macht der Gemeinschaft nicht auf abstrakt-›rechtlicher‹ Grundlage beruhen, sondern das Rechte aus Achtung und Verehrung, (im eigentlichen Sinn des römischen Wortes:) als religio getan wird. Das positive Gegenstück zum Staat ist die Religionsgemeinschaft« (dritte Herv. v. Verf.). 61 Vgl. Jähnig 1969, 198: »Die Individuen stehen nur dann in harmonischer Zusammenstimmung, wenn die Macht der Bindung zugleich der Grund ihrer Freiheit ist; und das heisst: wenn die Macht der Zusammenstimmung nichts Fremdes, sondern das Eigene ist. Dieses Verhältnis ist nach Schellings Meinung das eigentümliche und unersetzbare Geheimnis der ›Mythologie‹ […]. In der Mythologie sieht Schelling das Auszeichnende einer Vermittlung zwischen ›Individuum‹ und ›Geschlecht‹, in der das Eine selbst zur Sache des Anderen wird. Die Mythologie macht das Ganze zur Sache des Einzelnen, sie stellt aber zugleich auch den Einzelnen in einen grösseren (d. h. reicheren, sinnvolleren) Raum, als es der Kreis seiner blosses Individualität sein würde. Freiheit heisst hier nicht nur: uneingeschränkt, unbedrückt von aussen zu sein, sondern zugleich auch: von der Last und der Enge der Ichgebundenheit frei zu sein«. – Das Gesagte dürfte deutlicher werden, wenn man es mit der entgegengesetzten Position vergleicht, wie z. B. der von Elias Canetti, der diese Freiheit »von der Last und der Enge der Ichgebundenheit« nur in der Masse für möglich hält (vgl. Canetti 1960, 13 f.). Canetti sieht nur Individuen oder Massen; ihm fehlt der Mittelbegriff eines Volkes oder Gemeinschaft. 59 60

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herausgearbeitet. Wenn dies in der Folge eher in den Hintergrund tritt, so wird dies doch überall dort vorausgesetzt, wo davon die Rede ist, dass Mythen ein wahrhaft öffentliches Leben erst hervorbringen. 62 Damit ist auch die Gefährlichkeit eines politischen Programms klar, dass aufgrund ungenügend geprüfter Annahmen solche Mythen sämtlich unter dem Aberglauben rubriziert und sie deshalb zu beseitigen strebt. Die Mythologie hat nämlich bereits dadurch eine vernunftähnliche Wirkung, dass sie eine harmonische Übereinstimmung zwischen Individuen hervorbringt, die sonst nur durch die Vernunft hervorgebracht werden kann. Aus diesem Grund auch scheint Schelling immer nachdrücklicher zu betonen, dass Mythen sinnliche Darstellungen von spekulativen Ideen sind. Darin besteht ihr symbolischer Charakter. Deshalb skizziert Schelling das Programm eines Nachweises der »immanenten Rationalität« der Mythologie. 63 Im Rahmen der Vorlesungen zur Philosophie der Kunst gibt Schelling einige Proben von diesem symbolischen Charakter der Mythen und der mythischen Gestalten (vgl. SW V, 400–405). Es ist denn auch nicht ganz unzutreffend, wenn man die Neue Mythologie gelegentlich als ein »Bildungskonzept« bezeichnet hat, da sie »die Kluft, die die Aufklärung in ihrer Selbstüberheblichkeit zwischen Aufgeklärten und Unaufgeklärten aufgerissen hat«, überbrücken helfen soll. 64 Diese Kluft lässt sich nicht dadurch überbrücken, dass man sie wegschafft. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Ungleichheit zwischen Aufgeklärten und Unaufgeklärten eine bloß künstlich erzeugte wäre. Auf dieser Annahme beruhte die Umsetzung der Aufklärung in ein politisches Programm. Vielmehr han-

Das Fehlen von Mythen in der Neuzeit bzw. die zerstörende Wirkung, die die modernen Staatslehren auf ein mögliches Gedeihen derselben ausüben, bildet ein Grundthema Schellings. So z. B. Schelling 1803a, 6, 32 f., 200 f., 207 f., 225–231, 322 f. / SW V, 212, 225, 301, 304, 311–315, 352; SW V, 434, 641 f., 643 f., 714–717, 734–736; Schelling 1804, 73b–80 / SW VI, 65–70; SW VI, 572 f., 576; Schelling 1805b, 5 f. / SW VII, 142; Schelling 1809a, 383–386 / SW VII, 326–328; Schelling 1807a, 464 / SW VII, 507–510; SW VIII, 5, 11 f.; Schelling 1812, 118 f. / SW VIII, 85; SW VIII, 342. Beachte auch die Betonung der Bedeutung von Festen und öffentlichen Feiern: AA I,1, 199 f.; Schelling 1803a, 32 f., 183 f., 322 f. / SW V, 225, 294, 352; SW V, 421, 425, 429, 435, 641, 684; Schelling 1809a, 343 / SW VII, 291; Schelling 1812, 115 / SW VIII, 83; SW IX, 11 f., 15 f. – Zu bemerken ist noch, dass auch die Mysterien in erster Linie Feste sind. Dazu Kerényi 1998, 144–146. 63 Vgl. Jähnig 1969, 194. 64 Sziborsky 1987, 40. 62

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delt es sich um eine natürliche Ungleichheit. 65 Damit stellt sich die Frage, wie auf eine vernünftige Weise mit dieser Ungleichheit umzugehen ist. Schellings Begriff einer Neuen Mythologie ist als Antwort auf diese Frage gedacht. Zum einen ist eine solche erforderlich, um Nicht-Philosophen ein Leben zu ermöglichen, das eine gewisse Entsprechung zum vernunftgeleiteten Leben aufweist. Sie soll sie dazu befähigen, nach der Vernunft zu leben, ohne aus Vernunft zu handeln. Die Nicht-Philosophen sollen sich in ihrem Handeln an Vernunftideen orientieren, ohne diese selbst verstehen zu müssen. 66 Deshalb heißt es: [W]ir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienst der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen (Systemprogramm, TWA 1, 236).

In dem Sinne könnte man sie auch eine philosophische Mythologie nennen. Zum anderen bedarf es einer solchen Mythologie, um die Philosophen mit dem Volk in eine beide umfassende Einheit aufzunehmen. So ermöglicht sie eine organische Einheit in dem Sinne, dass die Ungleichheit zwar bewahrt bleibt, die natürliche Differenz jedoch in ein Ganzes integriert ist. 67 Deshalb bedürfen auch die Philosophen der Neuen Mythologie (vgl. Systemprogramm, TWA 1, 235). Das Bedürfnis nach einer Neuen Mythologie ist somit völlig mit den Prinzipien der Naturrechts-Deduktion verträglich, indem sie dasjenige leisten soll, woran das Naturrecht scheiterte. Wenn Schelling nun auch im »Anhang« von Philosophie und Religion beiläufig auf das Bedürfnis nach einer Mythologie hinweist, so legt er das Schwergewicht hier allerdings nicht so sehr auf die Mythologie, sondern vielmehr auf die Mysterien. Die Notwendigkeit, die geistige oder Vgl. Hollerbach 1957, 157, 166. Dadurch bildet die Mythologie das Gegenstück des Instinkts: »Bloß in dem, was sie [die Tiere, R. S.] thun, ist Vernunft, nicht in ihnen selbst« (SW VI, 462 f.). 67 »So müssen endlich Aufgeklärte [i. e. die Philosophen, R. S.] und Unaufgeklärte [i. e. das Volk, R. S.] sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig […]. Dann herrscht ewige Einheit unter uns«, d. h. unter den Philosophen und dem Volk (Systemprogramm, TWA 1, 236). Dieses Verhältnis wird hier von dem Verhältnis zwischen dem Volk und den Priestern unterschieden, das durch Furcht gekennzeichnet ist. 65 66

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Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

ideale Religion in Mysterien einzurichten, ergibt sich aus der Ungleichheit zwischen Nicht-Freien, Freien und Philosophen. Daraus schließt Schelling nämlich, dass »im vollkommensten Staat« die Religion – und nachdem gezeigt worden ist, dass die Philosophie die eigentliche Religion ist, heißt dies auch die Philosophie – »nie anders als esoterisch, oder in Gestalt von Mysterien existiren« kann. 68 Damit ist Schelling wieder bei der Einrichtung angelangt, von welcher er in der Einleitung ausgegangen war. Nun ist es nicht so, wie es zunächst scheinen dürfte, dass die Mysterien exklusiv den Philosophen vorbehalten und die Freien wie die Nicht-Freien von ihnen ausgeschlossen wären. Vielmehr sind auch letztere ausdrücklich in dieselben einbezogen und werden bei der Einrichtung derselben auch besonders berücksichtigt. Wenn Schelling auch den Gegensatz der Mysterien zur »exoterischen Religion« oder zur Volksreligion, die nur mythologisch sein kann, besonders betont, so hebt er doch zugleich hervor, wie die Teilnahme an jenen allen offenstand. 69 Nur eine solche Einrichtung trägt der natürlichen Ungleichheit zwischen Philosophen, Gelehrten und Volk Rechnung. Sie wirkt auf eine Einheit zwischen Ungleichen hin, bindet sie in ein Ganzes ein, ohne dass dabei Ungleiches gleich, sondern indem vielmehr Ungleiches ungleich behandelt wird. Die Mysterien sind somit eine Einrichtung, die sowohl der natürlichen Ungleichheit der Menschen als auch der Möglichkeit einer Umkehr Rechnung trägt. Gerade deshalb ist es für den Staat von solcher Bedeutung, einer solchen Einrichtung Platz einzuräumen. Es wäre sowohl für den Staat gefährlich als auch der Philosophie und der Religion abträglich, wenn man der geistigen Religion dadurch eine wirkliche Objektivität zu geben versuchte, dass man sie öffentlich machte. 70 Wenn die Rede von den Mysterien zunächst eher – und wohl absichtlich – mysteriös anmutet, so zerstreut sich diese Aura des GeSchelling 1804, 74b / SW VI, 65. Hier kommt Schelling demnach auf die Frage nach den ›äusseren Formen, unter welchen Religion existirt‹, zu sprechen. Zu beachten ist, dass hier zunächst nur danach gefragt wird, unter welcher Form oder Gestalt die philosophische Religion existiert und welche Stelle ihr damit innerhalb des Staats zukommt. Die Frage, unter welcher Form die Volksreligion im Staat existiert, wird nur am Rande berührt. 69 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. 70 Ersteres wird im Anhang herausgestellt (vgl. Schelling 1804, 74b, 80 / SW VI, 65 f., 70); letzteres war in der Einleitung betont worden (vgl. Schelling 1804, 1 f., 7 / SW VI, 16 f., 20). 68

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5. Kapitel. Politik und Religion

heimnisvollen, wenn man beachtet, worauf es Schelling dabei ankommt. Aus dem Zusammenhang wird jedenfalls klar, dass Schelling hier und in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie am historischen Phänomen der Eleusinischen Mysterien interessiert ist, 71 sondern sie vielmehr lediglich als ein Modell heranzieht, indem sie auf etwas aufmerksam machen, dass wegen der Befangenheit in modernen Staatslehren leicht übersehen werden kann. 72 Folgende Elemente scheinen ihm besonders bedeutsam. Trotz des »geradesten und auffallendsten Gegensatz[es]« zwischen der öffentlichen Religion und der Mysterien-Lehre war letztere doch für den Staat nicht gefährlich, da man für eine beiden angemessene Einrichtung gesorgt hatte, die die Eigenart beider sowie besonders ihrer jeweiligen Adressaten berücksichtigte. 73 So war die Teilnahme an den Mysterien nicht beschränkt, »die sich vielmehr auch über die Gränzen von Griechenland erstreckte«, wie Schelling mit einem Cicero-Zitat belegt. 74 Niemand war grundsätzlich von der Teilnahme ausgeschlossen. 75 Nur »ihre Uebertragung ins öffentliche Leben [wurde] als Verbrechen betrachtet«. 76 Man hat sich darum bemüht, die Mysterien »in ihrer Geschiedenheit von allem Oeffentlichen« zu bewahren und zu verhindern, dass sie in die Öffentlichkeit eingreifen. Dies hängt mit dem folgenden Punkt zusammen. 77 Obwohl die Mysterien allen offenstehen, besteht dennoch ein Schweigegebot. Dies deutet darauf hin, dass dieses Gebot sich nicht auf Inhalte bezieht, die dort mitgeteilt werden, sondern auf das, was dort geschieht. Das Schweigegebot gilt nämlich in erster Linie der Nachahmung dessen, was in den Mysterien geschieht. Die Mysterien-Lehre war nicht geheim, weil sie »nur wenigen mitgetheilt« wurde, sondern weil sie ihrer Natur nach nicht allgemein mitteilbar ist. 78 Das Schweigegebot bezog sich nicht auf die Mitteilung von beAnders in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, wenn er sie dort aufgrund der Absicht derselben auch nur sehr skizzenhaft behandelt (vgl. SW V, 421 f.). 72 Dies hat K. J. H. Windischmann in seinem Brief vom 30. Juni 1804 sehr richtig bemerkt, wenn er sich auch über die Tendenz von Schellings Aussagen täuscht (K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90). 73 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. 74 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. 75 Karl Kerényi drückt dies prägnant aus, indem er von der »Paradoxie der öffentlichen Geheimkulte« spricht (Kerényi 1998, 147). 76 Schelling 1804, 74b f. / SW VI, 66. 77 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. 78 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. 71

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Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

stimmten Inhalten, die man nicht weitererzählen sollte, da dies voraussetzt, dass diese eine Form haben, die ihre allgemeine Mitteilung möglich macht. 79 Stattdessen bestehen die Mysterien im Wesentlichen aus einer Erfahrung. Eine Erfahrung ist ihrer Natur nach nicht mitteilbar, da man zwar über sie berichten kann, durch den Bericht sie selbst doch nicht selbst mitteilen oder weitergeben kann. 80 Andererseits ist es doch eine Erfahrung, die jeder machen könnte. Man kann sie nur an sich selbst erleben und durch sie verwandelt werden. Es handelt sich um bestimmte symbolische Handlungen oder um »aufs Unendliche sich beziehende Gebräuche und religiöse Handlungen«, die am Teilnehmer vollzogen werden und die in ihm eine Verwandlung einleiten sollen (SW V, 421). 81 Die Mysterien haben insofern einen ausgeprägt performativen oder rituellen Charakter. 82 Kennzeichnend für einen Ritus ist, dass er einen anderen und neuen Zustand aus sich selbst hervorbringt, der nur auf diese Weise hervorgebracht werden kann. Gleichzeitig wohnt jeder rituellen Handlung der Charakter einer Wiederholung ein: So ist die Eucharistie die Wiederholung des letzten Abendmahls – aber so, dass dieses in seine Wirkung erneut aktualisiert und nicht bloß in Erinnerung gerufen wird. Deshalb dürfte es für Schelling auch so wichtig sein, nachzuweisen, dass in den Eleusinischen Mysterien ein Mythos inszeniert wird. Das Geheimnis der Mysterien kann jedenfalls nicht in der Mitteilung eines allgemein bekannten Mythos bestanden haben. Schelling führt den Mythos der Ceres hier nur deshalb an, weil sich aus ihm Vgl. dazu Kerényi 1962, 38: »Die griechische Sprache selbst macht einen Unterschied zwischen dem unaussprechlichen Geheimnis: dem arrheton, und dem, was unter dem Gebot des Schweigens geheimgehalten wurde: dem aporrheton. Der Kreis der Zugelassenen, sogar derjenigen, die zum wahren Geheimnis, dem Arrheton, zugelassen wurden, konnte ursprünglich die ganze Gemeinschaft, den Stamm oder die Gemeinde umfassen. Das Arrheton hatte den Grund seiner Unaussprechlichkeit in sich«. Und Kerényi 1998, 147: »Das Geheimgehaltene im griechischen Kult war sicherlich allen, die im Umkreis des betreffenden Kultortes wohnten, bekannt, es war aber ein Nicht-Auszusprechendes. Ja, es besaß diesen Charakter – den Charakter des Arreton (ἄρρητον) – unabhängig von der Willkür der Kultteilnehmer. Denn es war zutiefst […] eben unaussprechlich: ein echtes Geheimnis. Erst nachher machen ausdrückliche Verbote das Arreton zu Aporreton (ἀπόρρητον)«. 80 Kerényi 1998, 143–151. 81 Vgl. Kerényi 1998, 145: Durch Mysterien wird auch »ein von der Gottheit bewirktes oder erlittenes Geschehen« bezeichnet, »eine rituelle Handlung«, die aber an Menschen vorgenommen wird. 82 Für das Folgende stütze ich mich auf die Ausführungen über Riten in Vergote 1983, 279–304. 79

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5. Kapitel. Politik und Religion

etwas von dem ersehen lässt, was den Teilnehmern an den Mysterien widerfährt. Man könnte es auch so formulieren, dass in den Mysterien der allgemeine Charakter der Dinge, wie er sich in Mythen artikuliert, nun an einem partikulären Fall exemplifiziert angeschaut wird, insofern der Teilnehmer dasjenige, was der Mythos im Modus des Erzählens mitteilt, nun am eigenen Leibe erfährt. 83 Gerade durch die ›Inszenierung‹ oder durch seine Darstellung erhält der Mythos eine Beziehung auf den Einzelnen. Dieser vermag dadurch im Mythos den Ausdruck einer allgemeinen Struktur zu erkennen und zugleich sich selbst als ›Fall‹ derselben zu erfahren. Insofern entfaltet sich erst in den Mysterien das eigentlich symbolische Potential des Mythos, indem der Teilnehmer diesen jetzt auf sich bezieht und indem ihm dabei aufgeht, wie der Mythos seine eigene Existenz zu deuten und in ihrem sinnvollen Charakter aufscheinen zu lassen vermag. Damit kommt erst hier die für das Symbol charakteristische Identität von Allgemeinem und Besonderem zum Zuge. 84 In dieser Hinsicht bedeuten die Mysterien zugleich eine Befreiung vom oder wenigstens eine Distanznahme zum mythischen Bewusstsein. Man sieht leicht, dass Schelling in diesem Mythos eben eine »Anweisung zu einem seligen Leben« entdeckt. 85 Die Mysterien haben als ein Ganzes von symbolischen Handlungen eine Dimension, die nicht in der Mitteilung bestimmter Inhalte aufgeht, und zwar durch die unmittelbare Beziehung, die ein Mythos in ihnen auf den Einzelnen erhält. Von hier aus dürfte auch ein neues Licht auf die Komposition von Schellings Schrift fallen: Die Mysterien werden, wie gesagt, bereits im Haupttext erwähnt. Es wird gezeigt, welcher Mythos in den Mysterien dargestellt wird, und es wird versucht, in diesem Mythos einen vernünftigen Inhalt aufzudecken. Die Hauptaufgabe der Schrift wäre somit erfüllt, wenn es gelänge, zu zeigen, wie diejenigen Inhalte, die sehr lange nur der Religion zugeteilt wurden, sich für die Philosophie vindizieren lassen. Dies zeigt Schelling im Hauptteil der Schrift für die Idee Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit. Den

Die Unterscheidung der Religion nach ihrer ›dogmatischen‹ Seite (den artikulierbaren, mitteilbaren Inhalten) und ihrer performativen Dimension (dem Ritus) findet sich auch in Whitehead 1927, 5 f., 10–13, 112. 84 »Die griechische Mythologie war nicht als solche Religion […]. Religion wurde sie erst in dem Verhältniß, welches sich der Mensch nun selbst zu den Göttern (dem Unendlichen) gab in religiösen Handlungen« (SW V, 454). 85 Schelling 1804, 3 / SW VI, 17. 83

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Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

Inhalten nach scheint es demnach keinen Unterschied zwischen Philosophie und Religion zu geben. Allerdings ist auch die Philosophie eine Tätigkeit mit einer performativen Seite: Das Denken eines Gedankens vermag den Denkenden zu verwandeln und ihn in einen neuen Zustand zu versetzen. Dies mag ein weiterer Grund sein, weshalb Schelling auf die intellektuelle Anschauung als auf eine unerlässliche Dimension alles philosophischen Denkens insistiert hat. Schließlich handelt es sich bei den Mysterien auch um ein soziales Gebilde, eine bestimmte Einrichtung, ein »Institut« oder eine »Veranstaltung«, die, wie gesagt, in erster Linie eine sittliche Wirkung haben. 86 Es handelt sich um eine den Charakter umwandelnde und bildende Instanz, die im Zeichen der Selbstvervollkommnung oder der Erziehung des Einzelnen steht. Dieses Ziel lässt sich nur durch ein solches Gebilde verfolgen. Deshalb soll der Staat ein solches Gebilde selbst instituieren, gleichzeitig aber auf jede Einflussnahme verzichten, während diese Institution selbst von sich aus »auf die Oeffentlichkeit Verzicht« leistet. 87 Nur so wäre die den Mysterien entsprechende Einrichtung ihrem Zweck gemäß organisiert, nämlich »auf die innere und sittliche Vereinung aller, die zum Staate gehören«, hinzuwirken. 88 Dies erfordert insbesondere, dass die in derselben mitgeteilte Lehre sich an die unterschiedlichen Adressaten anpasst, da der Staat, wie wir gesehen haben, »nach dem Vorbild des Universum […] in zwey Sphären oder Klassen von Wesen zerfällt«. 89 Sie hat die natürliche Ungleichheit zu berücksichtigen, ohne sie einzuebnen. Dazu muss sie unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches zu verstehen gegeben, wenn auch stets in der Absicht, zur sittlichen Vervollkommnung des jeweiligen Typus beizutragen. Ihre Wirkung wird somit stets die gleiche sein, nämlich auf eine »ruhige und sittliche Organisation der Seele« hinzuwirken. 90

Schelling 1804, 78, 80 / SW VI, 69, 70. Schelling 1804, 74b / SW VI, 65. Deshalb unterscheidet Schelling sie auch von »geheime[n] Verbindungen von mehr zeitlichen Zwecken« oder von Geheimbünden, die den Staat zu unterwandern suchen (Schelling 1804, 79 / SW VI, 69) (s. u.) 88 Schelling 1804, 79 / SW VI, 65. 89 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. 90 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69. 86 87

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5. Kapitel. Politik und Religion

3. Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft Da Schelling den Mysterien eine paradigmatische Bedeutung zuschreibt, so ist es durchaus möglich, nach Entsprechungen für dieselben zu suchen. In der Tat handelt es sich bei der Differenz von Freien und Nicht-Freien um einen allgemeinen Unterschied. Wenn wir diese Differenz bislang auch nur erörtert haben, insofern sie in der Potenz der Religion zum Tragen kommt, so darf darüber doch nicht übersehen werden, dass sie sich in jeder Potenz wiederholt, also auch in den Potenzen der Wissenschaft und der Kunst. 91 Als die Freien bezeichnet Schelling diejenigen, die eine Potenz als solche zur Darstellung bringen, während die Potenz für die Nicht-Freien bloß Grund ihrer Existenz ist. Jene Unterscheidung stützt sich demnach auf einen Hauptgedanken aus dem Hauptteil von Philosophie und Religion. Dort hatte Schelling mit dem Begriff des Abfalls die Unterscheidung zweier Existenzmodi verknüpft: das nur »für-sich-selbst-Seyn«, durch welches die Dinge bloß »Werkzeuge der Ideen« sind, und das an-sich- oder im-Absoluten-Sein. 92 Diese Unterscheidung nimmt Schelling auf, um sie allerdings in eine Unterscheidung zweier Klassen von Seienden, nämlich der Freien und Nicht-Freien, zu verwandeln. Dies ist auch insofern möglich, als im Begriff des Abfalls stets die Möglichkeit einer Umkehr mit begriffen ist. 93 Es war dieselbe Unterscheidung, die Schelling bereits in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium für die Potenz der Wissenschaft zum Tragen gebracht hatte. In diesen Vorlesungen fragt Schelling, wie die Akademien als besondere soziale Gebilde verfasst sein müssen, damit sie ihr eigentliches Ziel auch tatsächlich erfüllen können. Es geht Schelling dabei nicht darum, »von dem Ganzen der Wissenschaften ein unabhängiges Bild zu entwerfen«, sondern er geht vielmehr vom gegenwärtigen Zustand dieser Einrichtungen aus. 94 Dieser ist nicht so, dass er die Erreichung jenes eigentDie Religion ist nach den Würzburger Vorlesungen die zweite Potenz der ideellen Reihe, die außerdem noch das Wissen und die Kunst einbegreift (vgl. SW VI, 537– 569). Anfangs wird die zweite Potenz allerdings als die des Handelns bezeichnet (so auch Schelling 1803c, 47 / SW IV, 421), in der Folge aber als die der Religion (vgl. SW VI, 573, 575). 92 Schelling 1804, 39 f., 41, 57 / SW VI, 41, 42, 52. 93 Vgl. Schelling 1804, 37, 55 f. / SW VI, 40, 51 f. 94 Schelling 1803a, 19 / SW V, 223. 91

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Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

lichen Ziels sonderlich begünstigt, da diese Einrichtungen in ihrer gegenwärtigen Verfassung vielmehr darauf ausgerichtet scheinen, einen Typus von Gelehrten hervorzubringen, dessen Habitus der Erarbeitung, Überlieferung und Vermittlung von Wissen zuwiderläuft. Wenn der Gelehrte auch der Klasse der Freien zuzurechnen ist, so muss er im gegenwärtigen Zustand der Akademien die in jener Zugehörigkeit enthaltene Bestimmung verfehlen, soweit er sich dem Bedürfnis nach nützlichem Wissen der Nicht-Freien anzupassen sucht. Ihm fehlt zudem ein angemessenes Wissen um seine eigentliche Aufgabe und Stelle. Aus diesem Grund nimmt Schelling in diesen Vorlesungen auch immer wieder Bezug auf die Vorstellung von ihrer Aufgabe, durch welche die Gelehrten sich leiten lassen, da diese weitgehend derjenigen Vorstellung zu korrespondieren scheint, die andere Instanzen an sie herantragen. So erörtert Schelling ausführlich die Frage nach der Nützlichkeit der Wissenschaft, insbesondere die Frage, ob und inwiefern die Wissenschaft für den Staat schädlich sein dürfte. Seine Überlegungen laufen auf die Frage hinaus, ob die Akademien soziale Gebilde sind, die nach eigenen, immanenten Regeln eingerichtet werden müssen, oder ob sie in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Staates und nach dem Modell des Staates einzurichten sind. Schelling führt zwei Argumente an. Das erste Argument geht von der Voraussetzung aus, dass »der Staat […] in den Academieen wirklich wissenschaftliche Anstalten sehen [wolle]«. 95 Zwar wäre der Staat »unstreitig befugt, die Academieen ganz aufzuheben oder in Industrie- und andere Schulen von ähnlichen Zwecken umzuwandeln«. 96 Jener Wille ist somit nicht selbstverständlich und ergibt sich nicht von selbst aus der Natur des Staates. Diesen Willen aber vorausgesetzt, würde sich ein widersprüchlicher Wille ergeben, wenn der Staat die Akademien zugleich nach bestimmten ihnen vorgeschriebenen Zwecken einrichten wollte. In einem Zusatz in seinem Handexemplar bietet Schelling noch ein zweites, stärkeres Argument auf, da er dabei von jener Voraussetzung keinen Gebrauch macht (SW V, 229). Hier argumentiert er dafür, dass jener Wille, der im ersten Argument bloß vorausgesetzt wurde, sich zwangsläufig aus den Zwecken des Staates ergeben muss: Wenn die Akademien auch nur Einrichtungen sind, deren hauptsächliches Ziel darin besteht, zuverlässige Staatsdiener und Beamte hervorzubringen, dann kann die95 96

Schelling 1803a, 40 / SW V, 229; Herv. v. Verf. Schelling 1803a, 40 f. / SW V, 229.

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5. Kapitel. Politik und Religion

ses Ziel nur dadurch erreicht werden, dass diese wissenschaftlich ausgebildet werden. Die von Schelling für die Beantwortung dieser Problematik gewählte Vorgehensweise verdient besondere Beachtung. Er fängt damit an, zu fragen, ob die Philosophie für Staat und Religion schädlich ist oder nicht. Zur Beantwortung dieser Frage führt er zwei Argumente an, die die Nützlichkeit der Philosophie für den Staat dadurch dartun, dass der Staat für sein Gedeihen auf die Wissenschaften angewiesen ist. Die Behauptung scheint demnach dahin zu gehen, dass die Gelehrten selbst für ein adäquates Verständnis ihres Tuns auf die Philosophie angewiesen sind. Die Wissenschaft wird erst dann für den Staat schädlich, wenn sie popularisiert wird oder wenn sie sich durch ein Nützlichkeitsdenken vereinnahmen lässt. Eine solche popularisierte Wissenschaft aber ist nicht mehr im eigentlichen Sinne Wissenschaft. Erst der Philosoph ist imstande, das eigentliche Ziel der Akademien, die Hervorbringung von Wissenschaft, die Orientierung an der Wahrheit, zu verstehen und die diesem Ziel entsprechende und förderliche Organisationsform zu entwerfen. Die paradoxe Lösung lautet, dass die Wissenschaften nur dann heilsame öffentliche Wirkungen entfalten, wenn diese nicht direkt angestrebt werden und ihnen erlaubt wird, sich ausschließlich nach ihren immanenten Anforderungen zu entfalten. 97 Der Philosoph tritt hier somit als Gesetzgeber auf, der einen Entwurf zu einer ihren immanenten Zielen entsprechende Organisationsform der Wissenschaft vorlegt. Die Philosophie ist allerdings bereits insofern gewinnbringend, als sie die Gelehrten zu einem angemessenen Verständnis ihres Tuns hinleitet. Schelling widmet dieser Frage eine eigene Erörterung. 98 Er gibt Ganz analog heißt es in Philosophie und Religion, dass die Religion »auf die Oeffentlichkeit Verzicht« leiste (Schelling 1804, 74b / SW VI, 65), und vom Staat wird erwartet, dass er seinerseits darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu nehmen (Schelling 1804, 78 f. / SW VI, 69). In allen diesen Fällen wird nach den »äusseren Formen« gefragt, »unter welchen« Wissenschaft, Religion, Kunst »existir[en]« (Schelling 1804, 73b / SW VI, 65) oder nach den institutionellen Bedingungen, die ihrem Wesen entsprechen. Auch bei der Verfassung der Münchner Akademie der Bildenden Künste verfährt Schelling ganz analog, da diese so eingerichtet werden soll, dass »dem Schüler ›die Freiheit‹« gelassen wird, »›sein besonders Talent, und die Eigenheiten seiner Ansicht der Gegenstände, so wie die Art, sie nachzuahmen‹ […] entfalten und zeigen zu können« (Sziborsky 2006, 431). Es ist daher leicht irreführend, wenn Sziborsky sich in ihren sonst so hellsichtigen Analysen zu der Bemerkung verleiten lässt, dass »die Kunst in den Dienst des Staates gestellt wird« (Sziborsky 1987, 52). 98 Vgl. Schelling 1803a, 103–118 / SW V, 257–265. 97

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Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

sogleich zu verstehen, dass die Philosophie der Religion und dem Staat sehr wohl gefährlich sein kann, nämlich dann, wenn der Staat bereits korrumpiert ist oder wenn es nur eine »vorgebliche[…] Religion« gibt. 99 Es gibt also Fälle, in denen die Philosophie durchaus gefährlich ist. Der Grund der Gefährlichkeit ist in diesem Fall indessen in der Religion oder im Staat, nicht in der Philosophie zu suchen. In Klammern bemerkt Schelling noch, dass »es allerdings Verfassungen oder Zustände derselben [sc. der Rechtsgrundsätze, R. S.] geben könnte, denen die Philosophie zwar nicht gefährlich, aber eben auch nicht günstig seyn kann«. 100 Er belässt es an dieser Stelle bei diesem Wink. Stattdessen geht er anders an die Frage heran: Die Philosophie kann nämlich auch dann gefährlich sein, wenn das, was für Philosophie gilt, es nicht wahrhaft ist. Dann kann sie für den Staat entweder »verderblich« oder »untergrabend« sein. 101 (1.) Die Philosophie kann gerade dann für den Staat ›verderblich‹ werden, wenn das Wissen zur Meinung wird oder die Gestalt eines »durch falsche und oberflächliche Kultur zum hohlen und leeren Räsonniren gebildeten Verstand[es]« annimmt, »der sich für absolut gebildet hält«. 102 Das Wissen wird dann verderblich, wenn es selbst bereits verdorben ist. Zudem kann der Staat diesen Zustand noch sanktionieren und unterstützen. Schelling erläutert diese Behauptung am Beispiel der französischen Revolution, die er darauf zurückführt, dass es in Frankreich »in keiner Epoche, am wenigsten in derjenigen, welche der Revolution voranging, Philosophen« gegeben habe. 103 Das Fehlen von Philosophen hat zuerst die Wissenschaften verdorben und nachher auch die Stabilität des Staats untergraben: »Die Erhebung des gemeinen Verstandes Schelling 1803a, 103 / SW V, 257. Schelling 1803a, 105 / SW V, 258. 101 Schelling 1803a, 104 / SW V, 258. 102 Schelling 1803a, 105 / SW V, 258. 103 Schelling 1803a, 106 / SW V, 258. Schelling fügt hinzu: »einige wenige Individuen früherer Zeiten ausgenommen, (denen man aber gewiß keinen Einfluß auf die politischen Begebenheiten der späteren zuschreiben wird)« (Schelling 1803a, 105 f. / SW V, 258). Möglich, dass Schelling dabei an Rousseau denkt, da er in der Fragestellung sowohl an dieser Stelle wie auch in den ganzen Vorlesungen immer wieder an dessen ersten Discours anknüpft. Von den sogenannten philosophes behauptet Schelling, dass diese »den Namen der Philosophen usurpirt haben« (Schelling 1803a, 106 / SW V 259). Rousseaus Kritik an les philosophes ist bekannt. Den Grund der französischen Revolution sucht Schelling somit im Fehlen von Philosophen: Dadurch war dem gemeinen Verstand – der desto gefährlicher ist, je mehr er sich für gebildet hält – die Möglichkeit gegeben, sich des Staates zu bemächtigen (vgl. Jäger 1939, 60). 99

100

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zum Schiedsrichter in Sachen der Vernunft, führt ganz nothwendig die Ochlokratie im Reiche der Wissenschaften und mit dieser früher oder später die allgemeine Erhebung des Pöbels herbey«. 104 Es gibt also einen Zustand der Wissenschaft, der auch für den Staat verderbliche Folgen hat, und dies desto mehr, wenn dieser jenen auch noch begünstigt oder sanktioniert. (2.) Die Frage, unter welchen Bedingungen die Philosophie bzw. die Wissenschaft für den Staat ›untergrabend‹ wird, beantwortet Schelling nicht direkt, sondern er verweist stattdessen auf die ausschließliche Ausrichtung auf das Nützliche als eine Denkungsart, die für den Staat untergrabend ist. Eine solche Ausrichtung kann niemals auf etwas Dauerhaftes zuführen, da die Bestimmung dessen, was als nützlich zu erachten ist, sehr wechselhaft ist. Schwerwiegender ist, dass diese Denkungsart »alles Große« und Außer-Gewöhnliche erstickt und stattdessen einen Konformismus begünstigt, der auch dem Staat abträglich ist. 105 In einem Zusatz im Handexemplar fügt Schelling dem noch hinzu, dass das Nützlichkeitsdenken das »innere Band« untergräbt und dafür sorgt, dass »Eigennutz noch das einzige Band« ist, »das den Staat selbst zusammenhält« (SW V, 260). Wenn wir diese Beobachtungen nun wieder mit der Ausgangsfrage nach der untergrabenden Rolle von Wissenschaft und Philosophie verbinden, dann zeigt sich, dass die Philosophie insofern für den Staat ›untergrabend‹ ist, als sie solche den Staat untergrabenden Tendenzen ihrerseits untergräbt. Die Frage nach der Verderblichkeit der Philosophie für den Staat beantwortet Schelling so, dass er zeigt, wie das Fehlen einer wahrhaften Philosophie zunächst für die Wissenschaft und dadurch letztlich auch für den Staat verderblich ist. Die Gelehrten sind anscheinend selbst anfällig für jenes Nützlichkeitsdenken, durch welches sie sich von der Philosophie zu emanzipieren suchen. Nur die Philosophie kann diesem für die Wissenschaft selbst verderblichen Nützlichkeitsdenken entgegenwirken, um dadurch dem »Pöbel« »Einhalt zu thun«. 106 Nur die Philosophie vermag den Staat auf dauerhaftere Ziele auszurichten, um die Entfaltung eines ›inneren Bandes‹ zu begünstigen und ein Gegengewicht gegen den schleichenden, den Staat untergrabenden Konformismus zu bilden. Diese Frage Schelling 1803a, 107 / SW V, 259; vgl. auch Schelling 1809b, 105, 115 / SW VII, 521, 533 f. 105 Schelling 1803a, 108 / SW V, 259. 106 Schelling 1803a, 110 / SW V, 261. 104

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Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

nach der Größe, die im Grunde keine andere ist als die nach den Bedingungen, unter welchen Persönlichkeit gedeiht, ist ein beständiges Thema dieser Vorlesungen. 107 Sie artikuliert sich als die Frage nach dem sittlichen oder bildenden Einfluss der Wissenschaft: 108 Die Bildung zum vernunftmäßigen Denken, worunter ich freylich keine bloß oberflächliche Angewöhnung, sondern eine in das Wesen des Menschen selbst übergehende Bildung, die allein auch die ächtwissenschaftliche ist, verstehe, ist auch die einzige zum vernunftmäßigen Handeln […]. 109

Die »Academieen« sollen »zugleich allgemeine Bildungsanstalten« sein. 110 Damit sie auch eine sittliche Wirkung haben und einen Beitrag zur Bildung der Persönlichkeit liefern können, müssen sie auf eine bestimmte Art eingerichtet sein. Schelling macht hier eine grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Akademie als zwei wesentlich verschiedenen Verfassungen oder Formen des sozialen Lebens; in beiden herrscht ein anderes Ethos oder eine eigene Form des πολιτεύειν. Für die Wissenschaft wäre es verhängnisvoll, wenn man die Form des sozialen Lebens des Staates auf die Akademien übertragen und diese nach dem Modell des Staates einrichten würde, oder wenn man auch nur zulassen würde, dass der Staat auf die Akademien Einfluss nehme: Der Staat hat zur Erreichung seiner Absichten Trennungen nöthig, nicht die in der Ungleichheit der Stände bestehende, sondern die weit mehr innerliche, durch das Isoliren und Entgegensetzen des einzelnen Talents, die Unterdrückung so vieler Individualitäten, die Richtung der Kräfte nach so ganz verschiedenen Seiten, um sie zu desto tauglicheren Instrumenten für ihn selbst zu machen. 111

Ein ›wissenschaftlicher Verein‹ muss sein eigentliches Ziel, nämlich Wissenschaft, verfehlen, wenn er nach dem Muster des Staates eingerichtet wird. Er bedarf zur Erreichung seines Zwecks einer anderen Verfassung: »In einem wissenschaftlichen Verein haben alle MitglieVgl. Schelling 1803a, 132 f. / SW V, 271 f.; Schelling 1809b, 98 f. / SW VII, 513. Karl Albert hat völlig zu Recht die Hauptabsicht dieser Vorlesungen darin gesehen, »den Bildungssinn des wissenschaftlichen Studiums«, d. h. die Bedeutung der Wissenschaft für die Bildung der Persönlichkeit ans Licht zu heben (Albert 1984, 63; vgl. auch Albert 1984, 65, 68). 109 Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237. 110 Schelling 1803a, 51 / SW V, 235. 111 Schelling 1803a, 53 / SW V, 236. 107 108

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der der Natur der Sache nach Einen Zweck: es soll auf Academieen nichts gelten, als die Wissenschaft, und kein anderer Unterschied seyn, als welchen das Talent und die Bildung macht«. 112 Damit soll nicht gesagt sein, dass es in diesem sozialen Gebilde keine Unterschiede gibt. Nur soll es bloß natürliche Unterschiede sanktionieren. Künstlich hervorgebrachte Unterschiede, wie sie für die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung erforderlich sind, damit alle einem äußeren Zweck untergeordnet werden können, sollen in einer Akademie keine Gültigkeit haben. Deshalb heißt es auch: »Das Reich der Wissenschaften ist keine Demokratie, noch weniger Ochlokratie, sondern Aristrokratie im edelsten Sinne. Die Besten sollen herrschen«. 113 Die Wissenschaft verlangt nach solchen Institutionen, deren einzige Aufgabe darin besteht, Wissen zu überliefern, es zu lehren und mitzuteilen, und dazu zu erziehen, an dieser Aufgabe teilzunehmen, da sie »Sache der Gattung« ist. 114 Dieses Ziel (Wissenschaft) kann demnach nicht durch Einzelne erreicht werden, sondern bedarf eigener sozialer Gebilde, die ausschließlich auf dieses Ziel ausgerichtet sind. 115 Schelling 1803a, 53 / SW V, 236. Schelling 1803a, 55 / SW V, 237; Herv. v. Verf. Die Verwendung von ›sollen‹ in diesem Satz dürfte darauf hinweisen, dass Schelling an dieser Stelle eine Konstruktion von Pflichten durchführt. Damit wäre hier ein Beispiel der Moral als »spekulative[r] Wissenschaft« gegeben, die »so wenig als Philosophie ohne Construction gedacht werden« kann: »Die Construction dieser sittlichen Organisation ist eine ganz gleiche Aufgabe mit der der Construction der Natur, und ruht auf spekulativen Ideen«. Wenn Schelling auch bemerkt, dass »eine Sittenlehre in diesem Sinne noch nicht existirt«, so hat er doch an der oben behandelten Stelle sowie an mehreren anderen in diesen Vorlesungen Beispiele einer solchen gegeben (Schelling 1803a, 146 f. / SW V, 276). 114 Schelling 1803a, 31 / SW V, 224. 115 Vgl. Schelling 1803a, 46–58 / SW V, 233–238; Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59. – In diesen Vorlesungen beschränkt Schelling sich auf den beispielhaften Fall der Erziehung zum Wissenschaftler oder Gelehrten. Erziehung ist jedoch allgemein Bildung des Charakters oder der Persönlichkeit, die in der Übereinstimmung von Wissen und Handeln zum Ausdruck kommt. Nun ist es weder möglich noch wünschenswert, dass jeder zum Gelehrten erzogen wird. Auch Nicht-Gelehrte müssen indessen zur Persönlichkeit erzogen werden können. Diese Frage rückt Schelling in der Niethammer-Rezension in den Vordergrund. Wenn Rie Shibuya auch das Verdienst zukommt, wieder auf diese Schrift aufmerksam gemacht zu haben, so geht sie m. E. zu weit, wenn sie in dem Begriff der Persönlichkeit die entscheidende Neuerung derselben zu finden meint (vgl. Shibuya 2003; Shibuya 2005, 143–155). Der Gedanke einer Einheit von Wissenschaft und Bildung, d. h. von Vernunft und Persönlichkeit, ist nicht lediglich in den Vorlesungen zum akademischen Studium bereits präsent, sondern er bildet die Grundlage dessen, was Schelling dort insbesondere über die Bestimmung des Gelehrten behauptet, auch dann, wenn der Ausdruck ›Persönlich112 113

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Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

Wie wir gesehen haben, wird im modernen bzw. in einem nach dem Prinzip des Naturrechts eingerichteten Staat der Zusammenhang zwischen öffentlichem und privatem Leben aufgehoben. Gerade wegen dieser Trennung können im Staat keine Ideen mehr zum Ausdruck kommen, sondern der Staat vermag nur noch mechanisch zu funktionieren. Dennoch erwägt Schelling in den Vorlesungen eine »wissenschaftliche« oder eine »aus Ideen geführte Construction des Staats«. 116 Wenn Schelling eine solche Konstruktion auch nicht mit aller vielleicht wünschenswerten Ausführlichkeit durchgeführt hat, so hat er dennoch deutlich genug angedeutet, wie eine solche auszusehen hätte. Wenn er z. B. am Ende der Würzburger Vorlesungen abschließend auf den Staat zu sprechen kommt, dann ist dies kein bloßer Zusatz noch geschieht es in der verzweifelten Absicht, eine Instanz anzugeben, die das System abzuschließen und zu vollenden vermöchte. Dazu gilt es zu beachten, dass Schelling im Vorhergehenden Wissenschaft, Religion und Kunst als die Potenzen der idealen Reihe konstruiert hat und dabei ganz parallel zum Vorgehen innerhalb des naturphilosophischen Teils verfährt. 117 Dort war nach der Konstruktion der Potenzen der realen Reihe noch das Potenzlose konstruiert worden, das alle Potenzen umfasst, selbst aber keiner zukeit‹ sich dort nicht findet (vgl. Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237 f.). So auch Albert 1984, 63, 68; Sziborsky 1987, 37. Das Ziel der von Schelling vorgeschlagenen Reform besteht nämlich gerade darin, die Akademien so einzurichten, dass sie nicht mehr, wie bisher, bloße Gelehrte, sondern Wissenschaftler, die zugleich Persönlichkeiten sind, hervorbringen. Das gegenwärtige und das entworfene zukünftige Erziehungssystem unterscheiden sich durch den Typus Mensch, den sie hervorbringen. Rie Shibuya bemerkt zwar zu Recht, dass die Umwandlung von Niethammers Humanitätsbegriff in den Begriff der Persönlichkeit »den Leitfaden der Rezension [bildet]« und die Auseinandersetzung mit Fichte weiterführt, dessen Gegensatz von Ich und Nicht-Ich keinen zureichenden Begriff von Persönlichkeit gestattet (vgl. Schelling 1806a, 144 f. / SW VII, 112 f.; Schelling 1809b, 101 f. / SW VII, 517; Schelling 1809a, 448, 471 f. / SW VII, 371, 388 f.). Das ihre Auslegung leitende Interpretament der ›Selbstbildung‹ blendet indessen weitgehend die Bedeutung der Erziehung für die Bildung von Persönlichkeit und damit den politischen Zusammenhang von Fragen der Erziehung aus. Schließlich ist fraglich, ob mit dem Persönlichkeitsbegriff nicht mehr gemeint sei, als dass der Mensch »ein Gebilde aus unzähligen Facetten, eine Aufeinanderfolge seiner individuellen Entwicklungsstufen« ist (Shibuya 2005, 19, 118 f., 145, 148, 150, 152 f.). Vgl. dazu: Schelling 1809b, 99 / SW VII, 514. 116 Schelling 1803a, 227, 232 / SW V, 313, 315. 117 Bei der Erläuterung des § 325 verweist er ausdrücklich auf die realen Potenzen der Schwere, des Lichts und des Organismus sowie auf den Weltbau als die Objektivierung des Potenzlosen, das »alle jene Potenzen trägt und in sich begreift« (SW VI, 575; vgl. SW VI, 471–492).

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gehört. Genau so stellt sich nach der Konstruktion der idealen Potenzen die Frage nach dem Potenzlosen, das jene umfasst und die Potenzen »in ihrer Einheit« und d. h. als ›Teile‹ eines Ganzen, das gleichzeitig in diesen Teilen präsent ist, »objektiv werden« lässt (SW VI, 575 (§ 325)). Zwar ist aufgrund des Konstruktionsprinzips allein schon klar, dass die Potenzen, eben als diese, auch das Ganze in sich zum Ausdruck bringen und demnach keine bloßen ›Teile‹ eines Ganzen sind, da dieses selbst nicht wäre, was es ist, ohne diese ›Teile‹. Damit ist indessen noch nicht gezeigt, ob, inwiefern und unter welchen Bedingungen die Einheit selbst der Potenzen eine objektive Gestalt gewinnt – oder ob sie vielmehr nur von demjenigen, der die Konstruktion vornimmt, eingesehen werden kann. Als Darstellung der (ideellen) Potenzen in ihrer Einheit denkt Schelling den Staat. Ein Organismus ist dieser nur insofern, als er die Potenzen der ideellen Reihe enthält. Wenn nur die Potenzen der ideellen Reihe dazu beitragen, dass der Staat als ein Organismus sich entfaltet, dann ist der Staat der eigentliche Gegenstand der ganzen Konstruktion der ideellen Reihe (vgl. SW VI, 495–576), wenn dies auch erst ganz am Schluss expliziert wird (vgl. SW VI, 575 f.). Wissenschaft, Religion und Kunst sind nämlich die »Form des öffentlichen Lebens«. 118 In diesen Potenzen ist eine »harmonische Zusammenstimmung« der Individuen möglich. 119 Man könnte sagen, dass die Potenz der Wissenschaft einen Bereich bezeichnet, in dem eine »praktisch-politische Kommunikation über die Endzwecke und das normative Menschenbild der betreffenden Gesellschaft« stattfindet, wo »Geltungsansprüche auf intersubjektiver Ebene der allgemeinen Überprüfung unter Bedingungen nicht behinderter Argumentation auch zugänglich gemacht werden« und wo »idealisierte Gesprächssituationen ohne von außen eingeführte Gewalt« stattfinden können. 120 Hieraus erklärt sich, weshalb Schelling den Topos der Gelehrtenrepublik wieder aufnehmen kann. Diese kennt nur ein ›Gesetz‹, nämlich dass bei der Überprüfung von Aussagen durchgängig Schelling 1803a, 228 / SW V, 313. Vgl. Jähnig 1969, 198. 120 Frank 1982, 165 f. Es scheint mir allerdings zweifelhaft, ob sich dies, wie Frank tut, besonders mit der Mythologie in Verbindung bringen lässt, da auch diese in diesem Bereich der Überprüfung unterworfen wird. Ferner übersieht er, dass nach Schelling eine solche Gesprächssituation nur in einem abgeschirmten Bereich stattfinden kann und es einer besonderen Qualifizierung bedarf, um an ihr teilnehmen zu dürfen. Eben darauf zielt die Rede von ›Mysterien‹. 118 119

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

vom Subjektivem abstrahiert wird. Dabei werden nur die Ergebnisse berücksichtigt, während die Weise, wie der Einzelne zu diesen gelangt ist, für die Beurteilung der Gültigkeit derselben ohne Bedeutung bleibt. Solche ›idealen Gesprächssituationen‹ setzen allerdings voraus, dass weder der Staat noch auch die innerhalb dieser Gelehrtenrepublik tätigen einzelnen Individuen direkten Einfluss auf die Ergebnisse nehmen. Eine solche ›ideale Gesprächssituation‹ hatte Schelling übrigens im Bruno vor Augen geführt. Die Vehemenz der schellingschen Polemik gegen Fichte und Jacobi erklärt sich teilweise daraus, dass diese in ihrer Polemik gegen die Naturphilosophie das (stillschweigende) Gesetz der Gelehrtenrepublik verletzt und zu Mitteln gegriffen hatten, die jeder, der in jene eintritt, sich versagt und versagen soll: Sie haben ihre Kritik nicht gegen Schellings Behauptungen, sondern gegen seine Person gerichtet. Deshalb rügt er vor allem die Weise, wie sie ihre eigenen Behauptungen geltend zu machen suchen. 121 Ein solches Vorgehen führt die Gepflogenheiten des Staates, wo nur das Sich-Durchsetzen gilt, im Bereich der Gelehrtenrepublik ein, wo doch nur die Kraft der Beweise, nicht die Autorität der Person ausschlaggebend sein soll. In der Gelehrtenrepublik ist das sonst im Staat geltende ›Gesetz‹ (die Macht des Stärksten) außer Kraft gesetzt.

4. Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln Bei einem Denker, der erklärt, dass »nur Ideen […] dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung« geben und dass »alles sittliche Handeln […] nur als Ausdruck von Ideen« ist, hat man Anlass zu fragen, ob er damit nur eine theoretische Behauptung aufgestellt hat, die lediglich darauf zu prüfen wäre, ob sie ihren Gegenstand trifft, oder ob diese Erklärung uns auch über Schellings Handeln Aufschluss zu geben vermag. 122 Es ist somit zu untersuchen, ob Schellings Philosophie nur insofern politisch ist, als sie die politischen Dingen, wenigstens gelegentlich, zu ihrem Gegenstand macht, oder ob sie Schelling nicht auch als Leitfaden dient, um in die politische Realität Vgl. Schelling 1806a, 41 f., 157 / SW VII, 47, 120 f.; Schelling 1812, 19 f., 31 f., 120 f. / SW VIII, 31, 36, 86. 122 Schelling 1803a, 147 f., 107 / SW V, 277, 259. 121

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einzugreifen. 123 Man hat die Bezeichnung Schellings als eines ›unpolitischen Denkers‹ dadurch bestätigt gesehen, dass er auch in seinen Briefen sich nur selten zu den politischen Ereignissen der Zeit, insbesondere den Napoleonischen Kriegen geäußert hat. 124 Über die Fixierung auf große Ereignisse hat man übersehen, dass der Briefwechsel dieser Zeit immer wieder um politische Themen kreist und zugleich ein deutliches Zeugnis von Schellings politischen Bemühungen ablegt. Diese waren in erster Linie darauf gerichtet, dazu beizutragen, die für die Philosophie und für die Wissenschaft unter den gegebenen Umständen möglichst förderlichsten Bedingungen herbeizuführen. Es ist denn auch kaum zufällig, dass Schelling vor allem im Bereich der Universität politisch handelte. 125 In der Tat schien die Lage in Würzburg, wohin Schelling im Oktober 1803 übergesiedelt war, für solche Bemühungen zunächst nicht ungünstig. 126 Seine Berufung dorthin hing damit zusammen, dass die Universität der Befugnis des Bischofs von Würzburg entzogen worden war. Dies geDazu Hofmann 1999, 42, 89 f.; Schraven 1998, 190. Auch Wilhelm G. Jacobs scheint zwei Bedeutungen von politischer Philosophie zu unterscheiden, zum einen, insofern sie »zu ihrem Gegenstand die Politik hat«, zum anderen, insofern ihre »Intention politisch ist« (Jacobs 1981, 289.) Allerdings dürfte es noch einen Unterschied machen, ob ›die Politik‹ lediglich als ein Gebiet unter anderen Gebieten zu denken ist, das, wie diese auch, zum Gegenstand der Philosophie gemacht werden kann, oder ob die Frage nach den politischen Dingen an die Frage nach dem richtigen Leben gebunden bleibt. Beschränkt man den politischen Charakter einer Philosophie auf die ›politische Intention‹, dann scheint allerdings die Frage berechtigt, »was an dieser so verstandenen politischen Philosophie eigentlich philosophisch [ist]?«: »Die politischen Intentionen, die Schelling mit seiner Philosophie verfolgt, scheinen [dann] selbst keine philosophische Qualität zu haben«. Dann klaffen eine »politische Funktionalisierung der Philosophie« und eine für sich betrachtet apolitische Philosophie erneut auseinander (Wild 1981, 315). 124 Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Vgl. Schellings Bezugnahmen auf politische Ereignisse und die Briefe Carolines, aus welchen zudem hervorgeht, dass Schelling sich wenigstens im Gespräch dazu äußerte, vgl. Jäger 1939, 13–39, insbes. 22–24. Auch die Tagebücher von 1809 belegen ein deutliches Interesse an solchen Ereignissen (vgl. Tagebücher 1809–1813, 6, 8, 12, 13, 16, 17, 19 u. ö.). Dazu Knatz 1993. 125 Diese Tätigkeit führte er auch in München weiter, am deutlichsten wohl dadurch, dass er die Verfassung der Akademie der Bildenden Künste konzipierte. Dazu Sziborsky 2006; Jacobs 2002. Die Verfassung ist abgedruckt in Pareyson 1977, 311–327. Siehe ferner SW VII 553–568. Siehe auch Rall 1953/54. 126 Einen knappen Überblick über Schellings Aufenthalt in Würzburg bieten Plitt II, 1–5; Fuhrmans, Briefe I, 287–301. Über Schellings Lehrtätigkeit in Würzburg, vgl. Fischer 1902, 102–105; Tilliette 1999, 117–132. Über die Universität Würzburg, vgl. Schwab 1869. 123

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

schah im Rahmen der vom König, von den Ministern (bes. Montgelas) und den Beamten beschlossenen und vorangetriebenen Säkularisation. Hier wurde die Aufklärung zum politischen Programm. 127 Damit schien sich für die Wissenschaft zunächst eine günstige Gelegenheit darzubieten, sich an diesem Ort nur nach den eigenen Gesetzlichkeiten und Anforderungen zu entfalten. In dieser Absicht versuchte Schelling denn auch, geeignete Wissenschaftler, besonders Mediziner, an die Universität berufen zu lassen. 128 Alsbald zeigte sich allerdings, dass Unterricht und Forschung, nachdem sie der religiösen Aufsicht entzogen waren, jetzt der staatlichen Kontrolle unterstellt zu werden drohten. Diese Gefahr scheint Schelling auch deutlich gesehen zu haben. Allmählich hatte sich eine Lage gebildet, in welcher unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen versuchten, sich des Staats für die Durchsetzung ihrer Weltanschauung zu bedienen. 129 Schelling versucht mehrmals, die Regierung auf diese Gefahr aufmerksam zu machen: Die Wissenschaft kann nur dann für den Staat heilsam sein, wenn dieser darauf verzichtet, über sie Kontrolle auszuüben. Schelling wittert die Gefahr, »dass die Geistlichkeit das VerÜber Montgelas vgl. Junkelmann 1985, 49 f.: »Sein Ideal war der nach rationalen Gesichtspunkten straff durchorganisierte, zentralistisch geleitete Verwaltungsstaat, der den Untertanen ihre passiven Bürgerrechte und ihre wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit garantierte, sie aber daran hinderte, durch unerwünschte politische Eigeninitiative oder gar Opposition Unruhe zu stiften. Das war nichts anderes als aufgeklärter Despotismus in vollendeter Form«. Die Motive sucht er teils in den aufklärerischen Auffassungen der Staatsmänner, teils in der Aussicht, Gelder in die Staatskasse fließen zu lassen. Zur Säkularisation vgl. Junkemann, 181–187. Für eine umfassende Darstellung von Montgelas’ Rolle in der Säkularisation vgl. jetzt Weis 2005, 149–229. 128 Vgl. den Überblick über Schellings Würzburger Zeit in Fuhrmans, Briefe I, 287 f. 129 Vgl. Schellings Brief an K. J. H. Windischmann vom 24. Oktober 1804, mit welchem er diesem die Veröffentlichung eines Pamphlets mit dem Titel Darstellung der Secte, welche in Bayern der Philosophie entgegen arbeitet ankündigt, worauf er dann – wohl aus politischer Vorsicht – letztlich verzichtete (F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans, Briefe III, 131). Wenig später sah Schelling sich doch zu öffentlichen Reaktionen genötigt. Siehe die Erklärung von Ende März 1805 An das Publicum (Pareyson 1977, 218–225), die anonym veröffentlichten Nachrichten über das Studiumwesen in Franken und die Proceduren zur Einführung desselben (Pareyson 1977, 251–253) und Über die neuesten obscurantischen Verfügungen der Regierung in Würzburg (Pareyson 1977, 274–279), schließlich die Auseinandersetzung, die sich um den Schulplan für die bayerischen Gymnasien entspann: Fuhrmans, Briefe I, 299; F. W. J. Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September 1804, Fuhrmans, Briefe III, 118–123, 155 f.; F. K. v. Thürheim an F. W. J. Schelling, 7. November 1804, Fuhrmans, Briefe, 134 f. Der Schulplan ist abgedruckt in Plitt II, 32 f. Vgl. auch Schelling 1805b, 81 f. / SW VII, 193 f. 127

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fahren eines Regenten in seinem Staat umzustossen oder zu verhindern hoffen dürfte, und sich eine Regierung in der Regierung anmasste«. 130 Wir haben bereits gesehen, wie er diese Gefahr auf den Nenner der Ochlokratie bringt. 131 Dieser Begriff dürfte somit einen Schlüssel für das Verständnis der politischen Philosophie Schellings sein, jedenfalls der Richtung seines politischen Handelns. So heißt es in einem 1805 veröffentlichten pamphletartigen Zeitungsartikel: Gebt auf ihre sonstigen und beyläufigen Reden acht: so ist der Stoff derselben jederzeit Aufklärung, Toleranz, Fortschreiten zum Bessern: merkt ihr aber auf die Form ihrer Darstellungen, ihrer Widerlegungen, ihrer Declamationen: so werdet ihr eine gänzliche Abwesenheit alles guten Geschmacks, eine jesuitische, mit Consequenzen kämpfende, Dialektik, ihr werdet die Beredsamkeit ehemaliger Capuzinaden vernehmen. Desgleichen seht ihr auf die Mittel, die sie zur Befestigung ihres Aufklärungsreiches anwenden möchten, so werdet ihr ganz dieselben erkennen, die man mitten in den Zeitaltern der Barbarey zur Unterdrückung aller Aufklärung anwandte; den grössten Zwang der Jugend im Betrieb der Wissenschaften, blinde Beschränkung auf vorgeschriebene Normen und Formeln, Verfolgung – nicht gegen Einen oder gegen Einzelne, sondern gegen alle, die sich davon durch Wort oder Schrift entfernen. 132

Solche Überlegungen sind in erster Linie durch Sorge um das Gedeihen der Wissenschaft und der Philosophie eingegeben. Zugleich sind

Pareyson 1977, 279. Die Gefahr der Ochlokratie, die besonders dann drängend wird, wenn die bisherigen Legitimationssysteme zusammenbrechen, bildet das Movens von Schellings politischem Denken, vgl. Hofmann 1999, 97, 123; vgl. Frank 1982, 176, 180 mit Frank 1982, 171, 174 f. Wenn Martin Schraven behauptet, dass Schelling »durch alle Wandlungen der Gesamtkonzeption seiner Philosophie hindurch […] stets für eine freie Entfaltung des Individuums [optiert] und gegen eine Politik, die die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums von Seiten des Staates einzuschränken versucht«, dann schreibt er Schelling das grundlegende Dogma einer bürgerlichen Gesellschaft zu und verfehlt damit den entscheidenden Punkt von Schellings Staatskritik. Nach der Naturrechts-Deduktion ist nämlich alles Recht Zwangsrecht: Es gibt somit kein Recht, das die »Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums« nicht einschränken würde. Damit macht er Schelling zu einem Befürworter des Privatrechts, das dieser gerade unter Kritik gestellt hatte (Schraven 1998, 190; vgl. Schelling 1803a, 227 f. / SW V, 313; SW VI, 572 f.; SW VIII, 11 f.). 132 Pareyson 1977, 221 f.; Herv. v. Verf. Ferner: »Jeder beschränkte, auf gemachte Formen eingeengte Kopf wird zum Verfolger, wenn er scheinbar Fug und Macht dazu hat« (Pareyson 1977, 223; Herv. v. Verf.). Vgl. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 21. Juli 1795, AA III,1, 27. 130 131

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

sie von der Überzeugung getragen, dass ein solcher Zustand der gegenseitigen Nicht-Einmischung auch für den Staat am vorteilhaftesten wäre. Nach der Aufklärung können und müssen die Ergebnisse der Wissenschaft allgemein zugänglich gemacht und verbreitet werden. Nach Schelling widerstreitet es jedoch geradezu der Natur sowohl der Wissenschaft als auch der Philosophie, dass sie jedem verständlich gemacht werden könnten. Dafür stellen sie an den Einzelnen zu hohe Anforderungen, als dass es möglich oder auch nur wünschenswert wäre, dass jeder sich daran beteiligen würde. Diese Ergebnisse können durch solche, die diesen Anforderungen nicht gewachsen sind, nur so verstanden werden, als wären sie bloße Meinungen. Daraus ergibt sich ein Zustand des Streits zwischen Meinungen und, indem man versucht, die eigene Meinung mit politischen Mitteln durchzusetzen, ein Zustand der allgemeinen Verfolgung. Diesen Zusammenhang zwischen Aufklärung und »Verfolgungssucht« hebt Schelling besonders hervor. 133 Dadurch ist die Aufklärung bzw. die allgemeine Verbreitung der Ergebnisse der Wissenschaft nicht nur für die Wissenschaft selbst, sondern auch für die Gesellschaft gefährlich, indem dadurch der Volksglaube, das bindende Element jeder Gesellschaft untergraben und zerstört wird. Gegen solches religiöses Brauchtum, wie beispielsweise Heiligenverehrung, Wallfahrten, kurz gegen die Volksreligion, hatte die Säkularisation sich insbesondere gerichtet, da solche Praktiken nach einem aufklärerischen Vorurteil sämtlich als Aberglauben zu rubrizieren waren. 134 Durch diese ZerPareyson 1977, 278. Vgl. Schwaiger 1980, 122 f., 124 f.; Junkelmann 1985, 183 f.; van Dülmen 1989, 50– 69, 204–214. – Als Beispiel seien hier einige Sätze aus der ›Instruktion der kurfürstlichen Commission in Klostersachen vom 25. Januar 1802‹ angeführt: »Da Wir überzeugt sind, […] daß die moralische Ausbildung eines Volkes die Grundbedingung ist, ohne welche man keinen dauerhaften Wohlstand erlangen kann, und daß die besten Regierungs-Anstalten ohne Wirkung bleiben, wenn die Unterthanen nicht durch jene dafür vorbereitet werden, so halten Wir Uns verpflichtet, die Hindernisse, welche dieser Kultur entgegenstreben, vor Allem wegzuräumen. – Eines der mächtigsten Hindernisse zeigt sich in der dermaligen Verfassung der Klöster und besonders der Bettelmönche, die, weil sie selbst fühlen, daß der Geist der Zeit eine Veränderung in der öffentlichen Stimmung gegen sie hervorgebracht hat, mit doppelten Kräften für ihre Erhaltung dadurch arbeiten, daß sie bei dem Volke durch Fortpflanzung des Aberglaubens und der schädlichsten Irrthümer richtigen Begriffen den Eingang zu erschweren, jede zu seiner wahren moralischen Bildung führende Anstalt demselben verdächtig zu machen und einen beständigen bösen Willen dagegen zu unterhalten suchen. Ihre fortdauernde Existenz ist daher nicht nur zwecklos, sondern positiv schädlich« (zit. in Schwab 1869, 336).

133 134

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5. Kapitel. Politik und Religion

störung der Volksreligion leistet die Aufklärung einem despotischen Staat Vorschub, da gerade eine Volksreligion vielleicht zu verhindern vermag, dass der Staat zu einem reinen Zwangsinstitut wird. Auf diesem Hintergrund ist eine beiläufige Bemerkung in Philosophie und Religion zu sehen, wonach das Christentum aus dem Heidentum nur dadurch entstand, dass es die Mysterien öffentlich machte: ein Satz, der sich historisch durch die meisten Gebräuche des Christenthums, seine symbolischen Handlungen, Abstufungen und Einweihungen durchführen liesse, welche eine offenbare Nachahmung der in den Mysterien herrschenden waren. 135

Wenn dieser politische Kontext sich aus der Schrift Philosophie und Religion selbst nur mit Mühe erschließen lässt und lediglich angedeutet wird, so wird er in einem späteren, allerdings nur Fragment gebliebenen und erst posthum veröffentlichten Text ausdrücklich mit zur Darstellung gebracht. Gemeint ist das Gespräch Ueber den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Diese Gespräche sind nämlich in eine Rahmenerzählung eingebettet, die den Realkontext, in welchem sie stattfinden, mit zur Darstellung bringt. Sie finden in einer Landschaft statt, die zutiefst geprägt ist von den gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich durch eine zum politischen Programm gewordene Aufklärung anbahnen. So ist es mehr als Kulisse, nämlich historisch ganz zutreffend und bedeutsam, wenn die Gesprächsteilnehmer in einem Kloster zusammentreffen und dort durch einen (katholischen) Geistlichen in eine Auseinandersetzung verwickelt werden, die die ganze folgende Gesprächsreihe bestimmt. Von den Klöstern nämlich war jene aufklärerische Bewegung ausgegangen. 136 Zugleich hat Schelling diesem Geistlichen auch einige Züge verliehen, die ihn als Repräsentanten der kantischen Philosophie erkennbar machen. 137 Die Auseinandersetzung entzündet sich daran, dass der Pfarrer, der Erzähler und zugleich eine der Hauptfiguren der Erzählung, in der Allerseelenfeier, bei welcher er kurz vorher zugegen war, Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Es handelt sich um die einzige Erwähnung des Christentums in einer Schrift über Philosophie und Religion. 136 Dazu van Dülmen 1989, 125 f. 137 Vgl. Marquet 1984, 16, 19 f.; Grau 1997, 597. – Es ist durchaus bezeichnend, dass der katholische Geistliche wie ein Protestant spricht. Er findet sein Gegenstück in der protestantischen Frau, die als eine Katholikin handelt (vgl. SW IX, 102–104). Beide sind somit zerrissen und keiner von beiden ist es gelungen, beide Ausgestaltungen der christlichen Religion zu einer harmonischen Einheit zu bringen. 135

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

einen höheren Sinn entdeckt. Dies weist der Geistliche entschieden zurück: Wenn solche Gebräuche die Moral unterstützen würden, wäre er noch bereit, sie gelten zu lassen, selbst wenn sie auf Aberglauben beruhen. Da es für ihn feststeht, dass sie der Moral abträglich sind, wäre es seiner Meinung nach besser, sie ganz abzuschaffen. 138 Die Absicht der Gesprächsreihe als ganzer besteht darin, zu untersuchen, inwiefern solche Bräuche sich rechtfertigen lassen. Dazu soll gezeigt werden, wie in denselben spekulative Ideen, dem Fassungsvermögen des Volks angepasst, zum Ausdruck kommen. Der gewählte zeitliche Rahmen, wonach jeweils ein Gespräch einer der vier Jahreszeiten entspricht, ist denn auch mehr als ein bloßer Rahmen, indem dadurch jeweils ein besonderes Fest in den Mittelpunkt gestellt wird (Allerseelen, Weihnachten, Ostern …). Ferner finden sich auch deutliche Hinweise auf die voranschreitende Säkularisation, indem die Auflösung der Klöster und die Frage ihrer möglichen Verwendung ausführlich erörtert werden (vgl. SW IX, 21–26). Die konfessionelle Spaltung Deutschlands ist im ganzen Text präsent, desto mehr, da das Schicksal der Hauptfigur, Clara, diese Spaltung widerspiegelt: Sie hat als Katholikin einen Protestanten geheiratet, der kurz vor Anfang der Erzählung gestorben ist (vgl. SW IX, 14 f.). Das Verhältnis des Philosophen zum Volk wird durch das Verhältnis des Arztes und des Pfarrers zu Clara als Repräsentantin des Volks vorgeführt. 139 Auch der Schrift Philosophie und Religion kann eine politische Absicht nicht völlig abgesprochen werden. So schickt Schelling sie Windischmann zu und schreibt im Begleitbrief: »Ich wünsche Ihrem Zu vergleichen mit einem Erlass der kurpfalzbayerischen Regierung vom 18. März 1802: Der Klerus hat »sich als eigentliche Volkslehrer und Erzieher zu betrachten, deren Händen die religiöse und sittliche Bildung einer ganzen Nation größtentheils anvertraut ist«, statt sich in erster Linie um den »eigentlichen Opfer- und AltarDienst oder die Beobachtung äußerlicher Gebräuche« zu kümmern. Eingriffe in die Feier der großen Feste, in das Schmücken der Gräber usw. werden dadurch motiviert, dass das alles bloße »Vehikel zur religiösen Belehrung« sind, denen die Einwohner, da sie »seit geraumer Zeit so weit in der religiösen Aufklärung fortgeschritten«, nicht mehr bedürfen (zit. in Schwab 1869, 336 f., 339). 139 »Sonst war der religiöse Glaube, der verschwunden ist, ihr inneres Band; zurückgehen lässt sich nicht, nachdem einmal die Bahn freyer Erkenntniss betreten ist« (Schelling 1809b, 108 / SW VII, 525): Durch die Spaltung der Konfessionen ist die Religion als ›inneres Band‹, d. h. in ihrer sozialen Funktion, verschwunden und stattdessen vielmehr zu einem Faktor der Entzweiung geworden. Damit stellt sich nun der Philosophie die Aufgabe, zu untersuchen, wie das Verschwundene sich ersetzen ließe. Die Konfessionsspaltung ist somit zugleich eine Chance für die Philosophie. 138

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Churfürsten ein Exemplar der mitfolgenden Schrift zu schicken«. 140 Zwei Monate später kommt er darauf zurück: Schon längst habe ich eingesehen, daß es vernünftig, ja gewissermaßen Pflicht der Devotion wäre, Ihrem edeln Kurfürsten die kleine Schrift zu Füßen zu legen – auch soll dies das Erste von der Art seyn, das ich thue – melden Sie mir nur nochmals, ich bitte, (werden Sie nicht böse) Anrede und Titulatur. 141

Am 20. Juli gelingt es Schelling dann endlich, das Paket dem Kurfürsten zuzuschicken. 142 Es handelt sich dabei um den Freiherrn von Dalberg, Kurfürst von Mainz, dann Erzbischof von Regensburg. 143 Schelling hat ihm die Schrift auch deshalb geschickt, um dessen Wohlwollen ihm gegenüber zu festigen, auch für den Fall, dass er, wie er befürchtete, im Zuge seiner universitätspolitischen Aktionen des Landes verwiesen werden sollte. 144 Jedenfalls meinte er von ihm eine günstige Aufnahme seiner Ideen erwarten zu dürfen. 145 Wenn Schelling damit von seiner Schrift einen politischen Gebrauch zu machen sucht, so scheint doch auch in dieser selbst eine politische Tendenz durchzuschimmern. Zum einen findet sich gerade im »Anhang« bis zu zweimal eine auffällige direkte Anrede. 146 Zweimal wird eine Gruppe von Adressaten direkt mit ›ihr‹ angesprochen. 140

F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 22. April 1804, Fuhrmans, Briefe III,

79. 141

F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 26. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III,

89. Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 20. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 103. 143 Vgl. Fuhrmans, Briefe I, 300; Fuhrmans, Briefe III, 47. Windischmann war Leibarzt des Kurfürsten und hatte schon länger zwischen Schelling und dem Kurfürsten vermittelt. Nach Fuhrmans »hat [es] wohl auch Briefe Schellings an den Kurfürsten gegeben […], die wir leider nicht kennen« (Fuhrmans, Briefe II, 47). Zu Dalberg, vgl. Hammermayer 1980, 154–156; Schwaiger 1980, 129, 133. 144 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans, Briefe III, 131: »Man ist in B. [Bayern, R. S.] in nicht geringer Verlegenheit wegen meiner; doch will ich nicht dafür stehen, daß wenn jene Schrift [das oben genannte Pamphlet Darstellung der Secte …, R. S.] erscheint, man nicht unklug genug ist, mich des Landes zu verweisen. Ich verlange es nicht besser und will mich nur nicht so im Dunkeln, heimtückisch wegdrängen lassen. Ich wünschte auf den Fall, bei Ihrem Kurfürsten ein Asyl zu finden« (sc. in Regensburg). 145 Dalberg verfolgte eine gemäßigtere Form der Aufklärungspolitik, vgl. Schwaiger 1980, 133. 146 Eine erste direkte Anrede fand sich bereits im dritten Abschnitt (vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55). 142

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Es bleibt offen, welche Gruppe genau gemeint ist. Vielmehr bleibt es dem Leser anheimgestellt, darüber zu entscheiden, ob er sich zu diesen Adressaten zählt, ob er sich angesprochen fühlt, ob er sich in dem ›Willen‹ wiedererkennt, der als Bedingung des formulierten Aufrufs angesetzt wird und ob er sich denjenigen zurechnet, die es in ihrer Gewalt haben, jener Aufforderung zur Ausführung zu verhelfen. Die Anreden lauten im Wortlaut wie folgt: »Wollt ihr, dass sie [die Religion, R. S.] zugleich eine exoterische und öffentliche Seite habe, so gebt ihr diese in der Mythologie, der Poësie und der Kunst einer Nation«, und: »Sucht ihr also eine universelle Mythologie, so bemächtiget Euch der symbolischen Ansicht der Natur«. 147 Die Bedeutung dieser Aufrufe dürfte sich noch am ehesten dann erschließen, wenn man beachtet, wogegen sie sich richten und was durch sie zurückgewiesen werden soll. Zunächst ist zu bemerken, dass sie beim Adressaten einen bestimmten Willen voraussetzen. Gesetzt, der Adressat teilt diesen Willen, dann lässt dieser sich nur so verwirklichen, dass er der Handlungsanweisung Folge leistet. Im ersten Aufruf wird gefragt, ob der Adressat will, dass die Religion auch ›eine exoterische und öffentliche Seite‹ habe. Eine solche kann ihr nur auf die Weise erteilt werden, dass man die Entwicklung einer ›Mythologie‹, ›Poësie‹ und ›Kunst einer Nation‹ begünstigt. Zwar wollte auch die Aufklärung, dass die Religion eine ›exoterische und öffentliche Seite‹ habe, sie richtete sich aber besonders gegen die Volksfrömmigkeit, die man als Aberglauben ansah und die es deshalb nur verdiente, beseitigt zu werden, damit das wahre Christentum im Sinne einer christlichen Moral dessen Platz einnehmen könne. Durch Moral allein kann der Staat nach Schelling jedoch nicht zusammengehalten werden, wenn er nicht Zwangsanstalt werden soll, sondern nur durch die ›Mythologie einer Nation‹. Gegen eine solche richteten sich aber hauptsächlich die Bestrebungen der Aufklärung, insofern sie zu einem politischen Programm wurde. 148 Schelling möchte das Christentum, in erster Linie in seiner Gestalt der Volksfrömmigkeit, gegen solche Angriffe in Schutz nehmen. In dieser hat das Christentum eine exoterische und öffentliche Gestalt angenommen, die es in die Nähe einer Mythologie rückt. Mit diesem Aufruf stimmt Schelling somit in die Bestrebungen nach einer exoterischen Religion ein, warnt jedoch daSchelling 1804, 74b, 76 / SW VI, 65, 67. Zu dieser Feindseligkeit der Volksreligiosität gegenüber, vgl. van Dülmen 1989, 204–214.

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vor, für die Begünstigung einer solchen nicht gerade auf solche Mittel zurückzugreifen, die sie vielmehr zerstören würden. Der zweite Aufruf setzt den Willen einer öffentlichen Religion weiterhin voraus, weitet die Zielrichtung indessen aus. Jetzt soll nicht mehr eine partielle, weil historisch gewachsene und den Umständen und der Beschaffenheit eines besonderen Volks angemessene und somit bloß nationale, sondern eine universelle Mythologie gesucht werden. 149 Zwischen beiden Aufrufen gibt es demnach eine Stufung. Der zweite Aufruf dehnt den Anspruch des ersten aus, indem eine universelle Mythologie keinem Volk exklusiv gehört, sondern auf eine Einswerdung der ganzen Menschheit hinwirken soll. Eine solche nun kann nur in der ›symbolischen Ansicht der Natur‹ gefunden werden. Zum anderen sind besonders im »Anhang« Spuren politischer Vorsicht feststellbar. Schellings politisches Unternehmen war, wie wir gesehen haben, nicht ganz ungefährlich. Aus diesem Grund versucht er seine Lehre so zu verschleiern, dass nur aufmerksame Leser sie so verstehen, wie sie gemeint ist, andere hingegen dazu verleitet werden, sie als mit den herrschenden Meinungen in Übereinstimmung zu verstehen. Wie Schelling weiß, sind die meisten seiner (gebildeten) Leser für die Ziele der Aufklärung gewonnen. Während sie die Volksreligion als teils abergläubisch, teils nutzlos betrachten und ihr deshalb entgegenarbeiten wollen, so sehen sie die Religion dennoch als eine Stütze des Staates, schätzen diese bloß nach ihrer politischen Nützlichkeit ab und wollen sie demnach auf Moralität einschränken oder ihr jedenfalls nur eine moralische Bedeutung belassen, die sie staatstauglich machen soll. 150 Vorsicht musste Schelling Vgl. AA I,1, 206–208; AA I,9,1, 283. Als ein typischer Vertreter dieser Richtung kann Heinrich Eberhard Gottlob Paulus gelten. Über den Zusammenhang von Paulus’ exegetischen Arbeiten mit seinen politischen Bemühungen vgl. Graf 1990, 129, 137, 145. Paulus scheint jedenfalls mit betroffen, wenn Schelling eine Tendenz der zeitgenössischen Theologie bzw. Exegese zurückweist, wonach »die flachen Begriffe des behaglichsten gemeinen Verstandes, der modernen Moral und Religion in die Urkunden hinein erklärt werden« (Schelling 1803a, 204 / SW V, 303; vgl. auch Schelling 1803a, 23 f. / SW V, 221). Paulus dürfte für Schelling als ein exemplarischer Repräsentant der Aufklärung gelten. Obwohl die konstante Auseinandersetzung mit und die Bezugnahme auf Paulus an manchen Stellen kaum übersehbar ist, steht eine eingehendere Untersuchung derselben noch aus, die nicht unerheblich dazu beitragen dürfte, Schellings eigene Position schärfer zu konturieren. Für einen biographischen Überblick vgl. Schönwitz 2001. – Ist es bloßer Zufall, wenn Schelling in dem Brief vom 7. April 1804, mit welchem er Eschenmayer den Empfang seiner Schrift meldet, erwähnt, dass »H. Prof. Paulus« ihn »gleich bey

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bereits dazu bewegen, den Verdacht zu zerstreuen, dass seine Philosophie für Religion und Sittlichkeit bedrohlich sein könnte. Bereits die unmittelbare und durch nichts im Vorherigen vorbereitete Rede vom ›Staat‹ im ersten Satz des »Anhangs« dürfte den unaufmerksamen Leser dazu verführen, diesem Thema kein sonderliches Gewicht beizumessen. Der allgemeine Eindruck, dass die dargelegten Ansichten sich nicht leicht auf eine klare und eindeutige Behauptung zurückbringen lassen, dürfte diese Einschätzung noch bekräftigen. Sowohl die Undurchsichtigkeit des Textes als auch die Tatsache, dass es sich um einen bloßen Anhang handelt, laden den Leser dazu ein, das Gesagte nicht sonderlich wichtig zu nehmen. Hinzu kommt, dass sich wohl kaum zufällig gerade im Schlusssatz eine Erklärung findet, die den Leser zu der Annahme verleiten könnte, das von Schelling Gemeinte sei weitgehend mit den verbreiteten (aufklärerischen) Ansichten in Übereinstimmung. In diesem Satz heißt es nämlich, dass die Philosophie »durch solche Veranstaltung« (gemeint sind die Mysterien), erstens, »ganz von rein sittlicher Wirkung« ist, und zweitens, »ausser Gefahr gesetzt wäre, […] auf äussere Herrschaft und Gewalt, die ihrer Natur widerstrebt, Ansprüche zu machen«, und, drittens, »mit der Religion in ewigem Bunde« ist. 151 Dadurch soll der Verdacht zerstreut werden, als könnte die Philosophie bzw. die Religion mit der Politik in Konkurrenz treten. Der Leser soll somit davon überzeugt werden, dass, wenn nur der Staat darauf verzichtet, in die Philosophie einzugreifen, bzw. wenn er ihr einen Freiraum gewährt, in welchem sie sich ihren eigenen Anforderungen gemäß entfalten kann, dass Philosophie und Religion dann ihrerseits darauf verzichten werden, in das politische Geschehen eingreifen zu wollen. Auffälligerweise bleiben die tragenden Begriffe dieser Erklärung (Sittlichkeit und Religion) merkwürdig verschwommen. Dies soll den weniger aufmerksamen Leser dazu einladen, diese Erklärung nach seinen eigenen vorgefassten Ansichten von Sittlichkeit und Religion auszulegen. Gerade an dieser Stelle wäre jedoch daran zu erinnern, dass Schelling eben in dieser Schrift einen Begriff der Sittlichkeit angedeutet hatte, den er der geläufigen Auffassung schroff entgegensetzt und als grundsätzihrer Erscheinung damit bekannt« machte (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71) und in einem späteren Brief vom 22. Dezember 1804 suggeriert, dass Paulus der Verfasser einer – wenig wohlwollenden – Rezension von Eschenmayers Schrift ist (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157)? 151 Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.

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liche Kritik derselben intendiert. Wie man Schellings Begriff der Sittlichkeit auch interpretieren mag, kein Zweifel kann darüber bestehen, dass sie sich mit der geläufigen Ansicht auf keine Weise vereinigen lasse. Auch der Begriff der Religion ist in der Schlusserklärung ganz unbestimmt gelassen, obwohl doch die ganze Schrift darauf abzielte, diesen Begriff näher zu bestimmen. Durch diese Unbestimmtheit scheint Schelling die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Religion, wie sie in den Mysterien gelehrt wird, und der Religion als Volksglaube oder Mythologie wieder einzuziehen. Zwar erklärt er, dass die Religion durch die besondere Veranstaltung der Mysterien ›ganz von rein sittlicher Wirkung‹ sein werde, über die Art dieser Wirkung und ihre Folgen für die öffentliche Religion spricht er sich nicht aus. Und wenn die Philosophie auch ›mit der Religion in ewigem Bunde‹ ist, so ändert dies doch nichts daran, dass sie mit der Mythologie als der anderen Gestalt der Religion dennoch »im geradesten und auffallendsten Gegensatz« sein kann. 152 Selbst wenn die philosophische Religion nicht mit der Politik in Konkurrenz tritt, so bleibt doch offen, ob dies auch für die Volksreligion gilt. Schließlich hat auch Windischmann, mit dem Schelling zu dieser Zeit in einem regen Briefwechsel stand, im »Anhang« eine politische Tendenz entdeckt, wenn er sich auch über ihren Charakter täuscht. So schreibt er nach Erhalt der Schrift, dass er von der »Unstatthaftigkeit einer esoterischen u. exoterischen Behandlung der Religion in der neuen Welt«, wie er sie in Philosophie und Religion befürwortet sieht, »ganz überzeugt« ist: [D]ie neue Zeit hat eine höhere Tendenz, die man durch Freimaurermysterien und Ordensceremonien nicht zu hemmen suchen soll, auch hiedurch nicht aufhalten wird: die Hierarchie hat auch lange genug gedauert, als daß man sie unter neuen Formen wieder einführen sollte. So reines Vergnügen mir Ihre Schrift sonst gewährt hat, so auffallend war mir bei weiterem Nachdenken der Anhang, den ich jedoch immer mehr als eine Beschreibung der Dinge wie sie sind und sich von selbst verbergen und offenbaren, ansehe, als wie sie sein sollten. 153

Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90. Er bemerkt auch noch, dass Schelling und er »in manchen Dingen verschieden denken«. Diese ›Dinge‹ lässt er aber gegen solche Meinungsverschiedenheiten, die »wesentliche Ansichten« betreffen, zurücktreten (K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90). Diese ›wesentlichen Ansichten‹

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

Es lag also für einen ›leichtsinnigen‹ Leser wie Windischmann, 154 der mit dem Illuminatismus bestens vertraut war, 155 nahe, die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien und die Rede von den Mysterien mit solchen Geheimbünden in Verbindung zu bringen. Zwar war der – 1776 gegründete – Geheimbund der Illuminaten 1785 bereits wieder aufgehoben und verboten worden, 156 dessen politische Ideen lebten jedoch weiter, wie auch viele der früheren Mitglieder nachher hohe politische Ämter bekleideten. 157 Aus der Bemerkung Windischmanns geht hervor, dass ihm besonders der Gedanke der Hierarchie zuwider ist, dass er die noch bestehende Ungleichheit nur für vorläufig erachten kann und dass er alles auf eine Beseitigung derselben hinwirken sieht. Die von Schelling gemeinte natürliche Ungleichheit deutet Windischmann zu gesellschaftlichen oder konventionellen betreffen die politischen Konsequenzen, die sich nach seiner Meinung aus dem im Anhang Gesagten ergeben. 154 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 98. 155 Sowohl sein Onkel von Colborn als auch der Freiherr von Dalberg waren früher Mitglied des Geheimbundes der Illuminaten gewesen (vgl. van Dülmen 1975, 61, 68, 73, 441, 445). 156 Vgl. van Dülmen 1975, 13; Hammermayer 1980, 146–150. – Freimaurer und Illuminaten bezeugten übrigens ein besonderes Interesse für die Eleusinischen und andere Mysterien und versuchten, ihre Organisation nach diesem Vorbild zu gestalten. Dazu van Dülmen 1975, 35, 37, 116, 119, 120–123; Hammermayer 1980, 147 f. So z. B. auch Reinhold, vgl. dazu Roehr 2004. 157 Vgl. van Dülmen 1975, 96: »Der Montgelas-Staat bildete im Prinzip die Erfüllung der aufgeklärten politischen Wünsche ehemalig engagierter Illuminaten«. Die personelle und ideologische Kontinuität betont auch Hammermayer 1980, 149. – Auf die Frage, ob »die früheren Illuminaten eine entscheidende Rolle für die Säkularisation [spielten]«, gibt Eberhard Weis folgende Antwort: 1. Unter den Mitarbeitern Montgelas’ »befanden sich sowohl ehemalige Illuminaten als Nichtilluminaten, allerdings alles entschiedene Aufklärer. Dieses war das einigende Band, nicht das ehemalige Illuminatentum«; 2. Allerdings suggerierten Gegner dieser aufklärerischen Politik aus politisch-taktischen Gründen eine Nähe zum Illuminatentum – um »Montgelas um so mehr suspekt erscheinen [zu] lassen«. Die aufklärerische Voreingenommenheit scheint dennoch überwogen zu haben, indem Weis nachweist, wie Montgelas und seine Mitarbeiter, trotz eindeutiger Befunde, dass die Klosteraufhebung kaum dazu beitragen würde, die Lücke in der Staatskasse zu schließen, dennoch an ihrem Plan festhielten, ja sogar verhinderten, dass diesbezügliche Akten zum Kurfürsten gelangten. Außerdem kam noch ein genuin politisches Moment hinzu, nämlich die Untergrabung der Ständeverfassung: »die Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz, des gleichen Zuganges aller Bürger zu öffentlichen Ämtern, der Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen« (Weis 2005, 154, 157, 159, 160–162, 166, 183–191, 217– 225).

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5. Kapitel. Politik und Religion

Ungleichheiten um. 158 Während er die Idee eines Geheimbundes zurückweist, hält er somit dennoch an einer allgemeinen Aufklärung als politischem Ziel fest. In seiner Antwort weist Schelling diese Auslegung entschieden zurück: Was Sie mir von wegen der esoterischen Religion schreiben, die Sie für eine Hierarchie oder Pfaffentum, oder Freimaurerorden zu halten scheinen, zeigt mir, lieber Freund, wie leichtsinnig Sie meinen Anhang gelesen haben. Nichts ist ferner von mir, als solche abgedroschene Dinge. 159

Wenn Windischmanns Deutung somit einer ›leichtsinnigen‹ Lektüre entspringt, so finden sich im »Anhang« dennoch Elemente, die einer solchen geradezu Vorschub leisten. Schelling scheint deutlich zu sehen, dass die aufklärerischen Bemühungen in der Tat auf eine Erfüllung des politischen Programms des Illuminaten-Bundes abzielen. 160 Letzterer versuchte, durch eine »indirekte stillschweigende Okkupation des Staates« »die angestrebte Weltreformation« zu ermöglichen oder eine Regierung in der Regierung zu bilden, um die weltliche Macht dazu zu benützen, seine weltanschaulichen Ansichten durchzusetzen. Zu diesem Ziel war auch die Verfolgung von Gegnern erlaubt. 161 Darin erkennt Schelling einen »umgekehrte[n] Jesuitismus«. 162 Sowohl der Illuminatismus als der Jesuitismus laufen Darin folgt ihm Hans-Jörg Sandkühler, der darin eine ›metaphysische Begründung des Politischen‹ und zwar als eine »spekulative Apologie der Konterrevolution« und eine »Apologie der Ungleichheit« sieht (Sandkühler 1968, 136 f.). 159 F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 98. 160 Vgl. auch den Brief an K. J. H. Windischmann vom 16. September 1804, in welchem Schelling »dem ganzen Illuminirungs-Wesen und den Welt-Erziehungsplanen, welche in jenem Lande [sc. Bayern, R. S.] ausgeheckt werden, jetzt den offnen Krieg erklärt – und der ganze künftige Winter soll unter steten Exploits dieser Gattung vergehen« (F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 16. September 1804, Fuhrmans, Briefe III, 117 f.). 161 Vgl. van Dülmen 1975, 137; Hammermayer 1980, 147 f. 162 In einem Brief an den Grafen von Thürheim vom 26. September 1804 (F. W. J. Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September 1804, Fuhrmans, Briefe III, 122). – Richard van Dülmen hat die »strukturelle Verwandtschaft beider Ordenssysteme« überzeugend nachgewiesen und im Illuminaten-Bund »ein Spiegelbild des Jesuitenordens« erkannt, wenn dieser ursprünglich auch »gegen die Allmacht der Jesuiten entstanden« war. Dies war auch den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. So lautet ein zeitgenössisches Zitat: »der ehemalige Jesuitismus hatte den Aberglauben zur Triebfeder und der gegenwärtige Illuminatismus den Unglauben, im Ganzen aber war dort wie hier universelle Beherrschung der gesammten Menschheit durch den Orden der Zweck« (van Dülmen 1975, 98, 127–129). Ferner: van Dülmen 1989, 141–171. 158

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Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

darauf hinaus, eine Regierung in der Regierung zu bilden. 163 Auf diesem Hintergrund dürften auch die Verdächtigungen einsichtiger werden, nach denen Schelling katholisch gewesen sei und eine Art von Katholizismus propagiert habe. Damit soll nichts weiter besagt sein, als dass seine Lehre darauf abzielt, die angestrebten Reformen rückgängig zu machen bzw. zu untergraben. 164 Schelling musste somit den Verdacht zu beseitigen suchen, als würde er einen so verstandenen ›Katholizismus‹ unterstützen und einer Verflechtung von Bildung, Kirche und Staat das Wort reden. Zugleich musste er auch vermeiden, den Eindruck des Atheismus aufkommen zu lassen, da dieser, sobald die Religion zu einer staatstragenden Moral umgedeutet wird, den Staat zu untergraben scheinen muss. Wenn auch eine auf den ersten Blick so unpolitische Schrift wie Philosophie und Religion nicht ohne Bezüge auf die damalige Geschehnisse in Bayern ist, so diente dieser Nachweis doch nicht der Absicht, sie zu einem politischen Pamphlet zu erklären. Wenn ihm die Lage ein unmittelbares Eingreifen zu erfordern schien, hat Schelling, wie wir gesehen haben, solche Pamphlete auch wirklich verfasst. In Philosophie und Religion hingegen werden die Beziehungen zu zeitlichen und örtlichen Umständen, von einigen vagen Andeutungen abgesehen, vielmehr ausgeblendet. Nur mittels Heranziehung des Briefwechsels, zeitgenössischer Dokumente und jener pamphletartiger Schriften lassen sie sich einigermaßen erschließen, sind aber aus der Schrift selbst nicht unmittelbar ersichtlich. Schelling hatte auch im »Vorbericht« ausdrücklich erklärt, sich mit dieser Schrift nicht in erster Linie an die Zeitgenossen als die ›Werkzeuge der Zeit‹ zu richten. Nur mittels Akkommodation an die zeitgenössischen Meinungen kann man überhaupt auf eine unmittelbare Wirkung auf die eigene Zeit hoffen. Stattdessen richtet die Schrift sich in erster Linie an die potentiellen Philosophen, deren Vormeinungen Schelling insofern berücksichtigt, als sie jene daran hindern könnten, den Zugang zur schellingschen Lehre zu finden. Die gewichtigste Vormeinung betrifft jedoch das Verhältnis von Philosophie und Religion. Der Geheimbund war darauf abgesehen ein »Sittenregiment« zu bilden, das die bestehenden Regierungen regieren soll, ohne sie aufzulösen. Weishaupt, Gründer des Bundes erklärte: »Man muß um die Mächtigen der Erde her eine Legion von Männern versammeln, die unermüdet sind, alles zu dem großen Plan, zum Besten der Menschheit zu leiten und das ganze Land umzustimmen; dann bedarf es keiner äußern Gewalt« (van Dülmen 1975, 115). 164 Vgl. Fuhrmans, Briefe I, 289–300; Tilliette 1999, 117 f. 163

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5. Kapitel. Politik und Religion

5. Religion und Glaube Im Laufe unserer Erörterungen scheinen wir die Auseinandersetzung mit Eschenmayer völlig aus dem Auge verloren zu haben. Tatsächlich wird er im »Anhang« auch kein einziges Mal mehr erwähnt. 165 Nachdem Schelling im Hauptteil von Philosophie und Religion das zu Beginn formulierte »Vorhaben«, »diejenigen Gegenstände, welche der Dogmatismus der Religion und die Nichtphilosophie des Glaubens sich zugeeignet haben, der Vernunft und der Philosophie zu vindiciren«, durchgeführt und damit den negativen Teil von Eschenmayers Aufgabe, der in der Behauptung der Eigenständigkeit der Nichtphilosophie bestand, zurückgewiesen hat, 166 scheint es sich zu erübrigen, auch noch auf den positiven Teil einzugehen, der auf den Glauben die Religion zu gründen und dadurch der Nichtphilosophie die Gestalt einer »reine[n] und von aller Spekulation befreyte[n] Theologie« zu verleihen suchte. 167 Diesen positiven Teil übergeht Schelling denn auch mit völligem Stillschweigen. Nachdem die bislang geführte Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Glauben den Glauben der ihm von Eschenmayer zugedachten Fundierungsfunktion beraubt hat, scheint die Frage wieder offen zu sein, ob und wie die Religion sich überhaupt ›begründen‹ lässt. Wenn Schelling dies in Philosophie und Religion auch nicht ausführt, so lassen sich doch durchaus Bezüge zum positiven Teil des eschenmayerschen Programms herstellen, die dazu beitragen dürften, Schellings Position klarer zu konturieren. Bevor wir diese im nächsten Abschnitt näher umreißen, Stattdessen scheint der Anhang wieder am Bruno anzuknüpfen (vgl. Schelling 1802a, 33–35 / SW IV, 233 f.). Auch die Fußnote, die auf Friedrich Schlegel verweist, stellt wieder die Beziehung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Mysterien und Mythologie, zwischen Philosophen und Dichtern her, wie sie bereits im Bruno in deutlicher Anspielung auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie berührt wurde (vgl. Schelling 1804, 76 / SW VI, 67). Es ist dies die einzige Fußnote, die, wenn wir von Eschenmayer absehen, auf einen zeitgenössischen Autor verweist. Schlägt man die Stelle in Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer nach (vgl. Schlegel 1798, 6–9), dann findet sich dort eine Übersetzung von Lukrez, De Natura rerum, II 598–642. Beachte dazu: Lukrez, De Natura rerum, II 643–650 und I 57–62. Von den sechs Fußnoten, die auf andere Autoren als Eschenmayer und Schelling selbst verweisen, verweist somit nur eine einzige auf einen modernen Autor, von dem es allerdings heißt, dass er als einziger noch die »letzten Anklänge alter, ächter Philosophie […] vernommen« hat (Schelling 1804, 3 / SW VI, 17). 166 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. 167 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); vgl. Eschenmayer 1803, 53 (§ 45), 38 (§ 48), 43 (§ 51), 104 f. (§ 99), 106 f. (§ 100). 165

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Religion und Glaube

dürfte es indessen hilfreich sein, einiges zu rekapitulieren und einiges ein wenig ausführlicher zu erläutern, als es bislang möglich war. Außer den grundsätzlichen Einwänden, die Schelling gegen Eschenmayers Vorhaben, die Religion auf den Glauben zu gründen, anführt und die er im Hauptteil der Schrift ausführlich entwickelt hatte, gibt er bereits in der Einleitung einen historischen Hinweis, in dem sich ein kritisches Bedenken verbirgt: »Es war eine Zeit, wo Religion« und Philosophie »Ein gemeinschaftliches Heiligthum« hatten und wo somit die Absonderung beider, auf welche es Eschenmayer ankamm, gar nicht stattfand, da beide vielmehr in Übereinstimmung waren. 168 Diese historische Beobachtung gibt zu der Vermutung Anlass, dass das Vorhaben, die Religion auf den Glauben zu gründen, mit einem Religionsbegriff operiert, der von vornherein auf eine bestimmte Form von Religion zugeschnitten ist und nicht in der Lage wäre, bestimmte Gestalten von Religion als Religion anzuerkennen. 169 Dennoch hebt Eschenmayer als einen Vorzug seines Religionsbegriffs hervor, dass dieser ›tolerant‹ sei, da es ihm nicht darum zu tun sei, ihn auf eine bestimmte Konfession einzuschränken, und dass gerade die Abstraktion von konfessionellen Inhalten ihn zu einem offenen Religionsbegriff macht. 170 Seine Bestimmung von Religion bzw. Religiosität kann es jedoch nicht vermeiden, sich auf einen spezifischen Begriff dessen, was als Gott gelten kann, festzulegen. Als Hauptmerkmal der Gottheit galt ihm, wie wir gesehen haben, die Unerkennbarkeit oder Transzendenz. Als ›Gott‹ vermag Eschenmayer nur solches anzuerkennen, was über alles Erkennen erhaben ist. Diese für Eschenmayer derart selbstverständliche Annahme, dass er sie in der ganzen Schrift niemals begründet oder auch nur als einer Begründung bedürftig ansieht, da vielmehr seine ganze Kritik an der Philosophie nur unter dieser Annahme konsistent und zutreffend ist – eine Annahme, zu der Schelling scharfsichtig bemerkt, dass »der Glaube, könnte er bewiesen werden, aufhörte Glaube zu seyn« –, gehorcht der Forderung, dass das Absolute so zu denken sei, dass es außer dem Ich bleibt, oder dass, umgekehrt, das Ich so zu denken ist, Schelling 1804, 1 / SW VI, 16. Die Religionsphilosophie darf nicht mit einem Religionsbegriff operieren, wonach nur das Christentum als Religion anerkannt werden könnte, vgl. Whitehead 1927, 74; Danz 2002, 206. Allerdings scheint aus der so formulierten Aufgabe bereits zu folgen, dass in einer mit einem solchen Begriff operierenden Religionsphilosophie die Frage nach der Wahrheit der verschiedenen Religionen nicht mehr thematisiert wird. 170 Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49), 42 f. (§ 51). 168 169

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5. Kapitel. Politik und Religion

dass es außer dem Absoluten gehalten bleibt. 171 Die Berechtigung dieser Forderung zieht Eschenmayer niemals in Zweifel. Es war übrigens diese Forderung, die nach Schelling der Idealismus à la Fichte als nicht weniger selbstverständlich voraussetzte als der Dogmatismus. Erst die Naturphilosophie hat es Schelling zufolge ermöglicht, diese Voraussetzung als eine solche sichtbar zu machen und dadurch eine Distanz zu ihr zu gewinnen. Darin dürfte auch ein Grund dafür liegen, dass Schelling »sich bloss auf naturphilosophische Untersuchungen beschränkt« hat und sich noch in der Auseinandersetzung mit Fichtes religionsphilosophischen Schriften von 1806 auf eine Kritik an dessen Begriff von Natur und vom Absoluten beschränken zu können meinte. 172 Auch die Behauptung, wonach das schellingsche System die Tugend und die Religion ausschließe, ist nur eine Folge jener grundlegenden Voraussetzung und damit ein ausreichendes Indiz dafür, dass dessen Prinzip nicht angemessen verstanden wurde. 173 DesSchelling 1804, 5 / SW VI, 18, vgl. Schelling 1802f, 5–14 / SW V, 109–115. Dazu Volkmann-Schluck 1960, 279 f.: »Diese Forderung enthüllt sich Schelling als der Grundirrtum der Neuzeit. Und in diesem Zusammenhang wird für den Deutschen Idealismus eine Auseinandersetzung mit dem Christentum unumgänglich«; »Das Christentum hat, so erklärt Schelling, die ganze Kultur der späteren Welt allgebietend bestimmt. Deshalb muß eine Philosophie, welche den Zentralpunkt der ganzen modernen Kultur als einen Grundirrtum erkennt, notwendigerweise in eine Auseinandersetzung mit dem Christentum kommen«; »Die Grundbedingung für die schrankenlose Herrschaft des Verstandes über diese Welt liegt nicht in einer groben Leugnung des Daseins Gottes, sondern darin, das Göttliche in einem absoluten Jenseits und sich dadurch gegen es gesichert zu halten«; Die »äußerste Irreligiosität« »richtet sich in der Welt ein, indem sie durch Entfernung des Göttlichen aus der Welt diesem zugleich den höchsten Tribut der Frömmigkeit zu zahlen glaubt. Denn kann der Mensch Gott höher ehren als dadurch, daß er ihn von allem Weltlichen absolut scheidet? Schelling hat hier einen Sachverhalt entdeckt, dessen Bedeutsamkeit wir nicht hoch genug veranschlagen können: die verborgene Gottlosigkeit der modernen Welt. Sie besteht nicht in einer Leugnung des Daseins Gottes, sondern verträgt sich mit dem Anschein der höchsten Frömmigkeit, in den sie sich verbirgt […]. Die Forderung, das Absolute außer sich zu haben, hat darin ihr Motiv, daß sie sich unter dem Anschein der höchsten Frömmigkeit der Irreligiosität am meisten empfiehlt«. 172 Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f. 173 Deshalb hat Schelling gerade diesen Punkt »etwas härter nehmen müssen« (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72), weniger weil sich darin eine moralische Verdächtigung verbergen würde, als weil seine Philosophie sich gerade dadurch entscheidend von »den bisherigen Systemen« unterscheidet, dass sie »in ihrem Princip schon Religion ist« (Schelling 1802f, 15 / SW V, 116). Das ›Merkwürdige‹ an Eschenmayers Schrift dürfte denn auch insbesondere darin zu suchen sein, dass auch und gerade Schellings System zu einer Ergänzung »mit dem Glauben« nötigen würde (Schelling 1804, III / SW VI, 13). 171

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Religion und Glaube

halb sah Schelling sich in seiner Auseinandersetzung mit Eschenmayer dazu genötigt, im ersten und zweiten Abschnitt, die mehr als die Hälfte der Schrift einnehmen, gerade dieses Prinzip erneut zu erläutern und auf die Kritik, wonach er Tugend und Religion nicht gerecht zu werden vermag, nur durch knappste Andeutungen zu antworten. Wie dem auch sei, der eschenmayersche Religionsbegriff weist nicht nur den Mangel auf, andere Religionen nicht als solche anerkennen, sondern ebenso wenig von wichtigen Aspekten derjenigen Religion, der er entlehnt wurde, Rechenschaft ablegen zu können, wie z. B. von der rituellen Seite jeglicher Religion. Damit bestreitet Schelling nicht nur die Notwendigkeit einer Ergänzung des Wissens durch Glauben, sondern ebenso entschieden die Beschränkung der Religion auf Glauben. Seine Polemik richtet sich somit insbesondere gegen Eschenmayers Identifikation von Religion und Glauben, gegen die Reduktion der Religion auf innere Überzeugung und intensive Erfahrungen. 174 Diesem Kritikpunkt lässt sich bereits eine Anforderung entnehmen, die ein tragfähiger Religionsbegriff zu erfüllen hat: Dieser darf nicht von einer bestimmten Form von Religion abstrahiert werden, sondern er soll beweglich genug sein, auch andere Gestalten von Religion als solche anzuerkennen. Noch abgesehen davon, ob Eschenmayers Identifikation von Religion und Glauben zulässig ist, wäre zudem zu fragen, ob er den Glauben selbst angemessen verstanden hat, wenn er ihn in erster Linie als eine Erfahrung von einer besonders starken Intensität charakterisiert. So beschreibt er den Glauben als einen »Zustand« der »Begeisterung, Entzücken und Anbetung«. 175 Es ist die Rede von den »tiefsten Rührungen«, in welche man versetzt wird. 176 Die Erfahrung Gottes ist eine solche, die einen in die Knie zwingt: »Jeder fühlt in seiner Brust die Nähe Gottes und sinkt in stummer Anbetung nieder«. 177 Es bleibt fraglich, ob Eschenmayer über die Ressourcen verfügt, dieses Gefühl angemessen zu artikulieren und zu interpretieren und ob er, aufgrund Bereits der Kontrast des Titels der Schrift Philosophie und Religion zum hegelschen Titel Glauben und Wissen macht darauf aufmerksam, dass das Verhältnis beider nicht so sehr mittels einer Differenzierung von zwei Zugangsweisen geschehen wird, sondern dass stattdessen die erschlossene Inhalte (die ›Gegenstände‹) im Fokus stehen werden. 175 Eschenmayer 1803, 37 (§ 47). 176 Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47). 177 Eschenmayer 1803, 33 (§ 42); Herv. v. Verf.; vgl. Eschenmayer 1803, 32 (§ 41). 174

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5. Kapitel. Politik und Religion

seines Ausgangspunktes, dazu befugt ist, solche Ressourcen anderswoher zu nehmen als aus dem Gefühl selbst. Wir haben gesehen, wie nach Schellings Einschätzung Eschenmayers Beschreibungen dieses Gefühl in seiner eigentlichen Bedeutung verfehlen, ohne dass er deshalb gesonnen war, solche Erfahrungen zu leugnen oder auch nur verdächtigen zu wollen, sie vielmehr »in ihrer Sphäre« durchaus anzuerkennen bereit ist. 178 Schwerwiegender ist die Frage, ob die Intensität des Gefühls die Richtigkeit der Behauptungen zu verbürgen vermag, die Eschenmayer mit demselben verbinden möchte. In Eschenmayers Beschreibungen mischen sich nämlich wiederholt Anleihen bei dogmatischen Vorstellungen ein, die ihm derart selbstverständlich scheinen, dass er sie selbst nicht als solche durchschaut. 179 Er hatte jedoch zugleich erklärt, dass »die geringste Spekulation« die »Reinheit« des Glaubens »verderbt«. 180 Dann wäre der Nachweis, dass seine Beschreibungen von spekulativen Vorstellungen durchsetzt sind, für ihn fatal, da damit die Reinheit des Glaubens verdorben und das Vorhaben, auf ihn eine ›von aller Spekulation befreyte Theologie‹ zu gründen, als gescheitert angesehen werden müsste. Das Problem scheint wenigstens nicht so sehr im Gefühl als solchem zu liegen, sondern im Gebrauch, den Eschenmayer von ihm machen möchte. 181 Daran schließt sich die Frage an, ob sich mittels der ausschließlichen Abhebung auf die subjektive Bedeutsamkeit des Gefühls diejenige Absicht verfolgen lässt, die Eschenmayer mit ihr verbinden möchte. Dies wird dort am deutlichsten greifbar, wo Eschenmayer selbst auf den Unterschied zwischen »Philosoph« und »Laye«, zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen zu sprechen kommt. 182 Er befürchtet nämlich, dass mit der Gleichsetzung von Absolutem und Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Ingo Kauttlis bemerkt, dass »die Inhaltsleere solchen Ahndens oder gar unmittelbaren Wissens von dessen Repräsentanten durch stillschweigende Anleihen an der positiven Religion überspielt wird« (Kauttlis 1994, 10). 180 Eschenmayer 1803, 41 (§ 50); Herv. v. Verf. 181 Vgl. GuW, TWA 2, 383: »Indem er im gemeinen Bewußtseyn unbewußt vorhanden ist, vermag der Glaube, und das, was aus dem Glauben kommt, rein zu seyn, denn die Subjectivität und Endlichkeit liegt völlig jenseits, ohne Berührung und Beziehung darauf; so bleibt aber der in die Philosophie eingeführte Glaube nicht; denn hier hat er eine Rücksicht und Bedeutung des Negirens, und in diesem Negiren berührt und dadurch erhält er die Subjectivität«. 182 Eschenmayer 1803, 35 f. (§ 45), 37 (§ 47), 42 (§ 51); vgl. Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 44 f. (§ 53). 178 179

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Religion und Glaube

Gott nur den Philosophen die Erkenntnis Gottes zugänglich ist, die Nicht-Philosophen von ihr ausgeschlossen blieben. Es ist gerade diese Kluft zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, die durch die Religion überbrückt werden soll. Während Begriffe und Ideen »nicht mehr allgemeinfasslich« und »schwer verständlich« sind, wird, »[g]erade dadurch, dass in der Religion weder Begriffe noch Ideen gültig sind«, diese »wieder ein allgemeiner Antheil der Menschen, und die Gleichheit, welche auf der Stufe der Spekulation verloren gehen müsste, stellt die Religion für die gesammte Menschheit wieder her«. 183 Im Glauben macht sich Gott auf eine solche Weise kenntlich, dass der Umweg über die Spekulation sich erübrigt. Nur so stünde die Religion allen offen: »Der Glaube ist in allen Menschen und die Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann sich keines bessern rühmen, als der Laye«. 184 »Das Selige in uns ist das allgemeine Gut, das unabhängig von Verdienst und Fähigkeiten, unabhängig von aller Spekulation und von allen Gütern der Erde, der Laye wie der Philosoph auf gleiche Weise in sich aufbewahrt«. 185 Das Ergebnis seiner Schrift fasst Eschenmayer so zusammen, dass ich den Gott, welchen wir mit dem Volke anbeten, nicht für einen Götzen unseres Verstandes, auch nicht für ein Ideal der Vernunft oder für eine Ausgeburt der Spekulation überhaupt halte, […] welchem sich der Philosoph in Gedanken mehr annähern könnte als das Volk«. 186

Der Begriff von Gott, wozu der Philosoph gelangt und auf welchen Eschenmayer durch die Erwähnung des ›Ideals der Vernunft‹ deutlich genug anspielt, kann ihm höchstens als ein Symbol gelten. Sobald dieser Begriff mit dem Anspruch auf Erkenntnis verbunden wird, gilt er ihm als ›Götze‹. Nur solange man ihn als bloßes Symbol oder bloßen Versuch, das Unerkennbare zu artikulieren, gelten lässt, kann man ihn als den Vorstellungen, die die Nicht-Philosophen sich von Gott bilden, gleichberechtigt ansehen. Damit wird der Wahrheitsanspruch jeglicher Rede von ›Gott‹ aus moralischen Erwägungen aufgegeben. Das Wort ›Gott‹ ist nur noch eine Chiffre, gut genug, um eine bestimmte Art von Erfahrungen zu kommunizieren oder zu erzeugen. 187 Es ist somit nicht bloße Polemik, wenn Schelling den Glau183 184 185 186 187

Eschenmayer 1803, 27 (§ 35), 27 (§ 36), 35 f. (§ 45); Herv. v. Verf. Eschenmayer 1803, 42 (§ 51); Herv. v. Verf. Eschenmayer 1803, 36 (§ 45); Herv. v. Verf. Eschenmayer 1803, 106 (§ 100); Herv. v. Verf. Die Analogie mit dem Vorhaben Jaspers’ ist erstaunlich. Auch für ihn ist an den

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5. Kapitel. Politik und Religion

ben Eschenmayers mit einem ›Volksglauben‹ in Verbindung bringt, sondern durchaus mit dessen Selbstverständnis in Übereinstimmung. 188 Fraglich bleibt, ob ein solcher Glaube imstande ist, die Kluft zwischen ›Philosoph‹ und ›Laye‹ zu überbrücken. So ist es, erstens, zweifelhaft, ob Spekulation und Glaube sich überhaupt in einem konsistenten existentiellen Entwurf vereinigen ließen. Zweitens ist auch nicht ersichtlich, wie die Gegenstände oder Inhalte des Glaubens einen allgemeinen Grund der Verständigung abgeben sollen, wenn sie sich auf individuellsten Erfahrungen gründen und selbst die Symbole, in welche diese sich artikulieren, nur durch ihre Rückbindung an dieselben überhaupt bedeutsam sind. 189 Wenn der im Gefühl erschlossene ›Gegenstand‹ auch mittels des Symbols nicht wirklich kommunizierbar ist, dann scheinen weder Gefühl noch Symbol sich als Grundlage einer Volksreligion zu eignen. Dann ist die Nichtphilosophie nicht in der Lage, eine Grundlage für die soziale Bedeutsamkeit der Religion zu legen, die Eschenmayer doch gerade durch die starke Betonung der subjektiven Bedeutsamkeit derselben zu retten gesucht hatte. 190

Chiffern der Transzendenz nur das Moment der Transzendenz von Bedeutung. Darin findet sich der Kern seiner Kritik an Schelling, der nur deshalb von der Existenzerhellung in eine ›Gnosis‹ verfallen sei, weil er das Moment der Transzendenz dadurch verdeckt habe, dass es ihm nur auf eine Erschließung oder begriffliche Durchdringung dessen, was sich in dieser Erfahrung zeigt (ihren Gehalt), ankomme. – Der Theologe, so Eschenmayer, »muss es immer als einen Missgriff ansehen, die Religion mit der Moral zu vermischen, die Offenbarung mit Ideen zu bereichern, und den höchsten Punkt der Spekulation als Maasstab anzunehmen, die Chiffern der Gottheit zu enträthseln« (Eschenmayer 1803, 43 (§ 51); Herv. v. Verf.). 188 Nachdem Schelling im Vorbericht Eschenmayers Vorhaben als ein Versuch, »die Philosophie aufs neue mit dem Glauben« zu »ergänzen«, charakterisiert hatte (Schelling 1804, III f. / SW VI, 13), findet die zweite Erwähnung von ›Glauben‹ sich in der Zusammensetzung ›Volksglaube‹ (Schelling 1804, 1 / 16), den Schelling ausdrücklich von Religion im eigentlichen Sinn unterscheidet. Der Ausdruck kommt nur an dieser einen Stelle von Philosophie und Religion vor und scheint dort besonders deshalb eingeführt zu sein, um die Assoziation mit Eschenmayer herzustellen. Er wird zunächst durch ›Volksreligion‹ (Schelling 1804, 35 / 39), schließlich durch ›Mythologie‹ ersetzt (Schelling 1804, 74b–76 / 65–67). 189 Ein ähnliches Argument auch in Whitehead 1927, 53 f., 56, 71; Kauttlis 1994, 10. 190 Zudem ebnet Eschenmayer den Unterschied zwischen natürlicher und ziviler Ungleichheit dadurch ein, dass er den Unterschied zwischen »Philosoph und Laye« in einer Reihe mit dem Unterschied zwischen »Mächtige[n]« und »Schwachen«, »Reiche[n]« und »Armen« stellt (Eschenmayer 1803, 36 (§ 45)). Übrigens operiert er

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

6. Die Aufgabe einer philosophischen Theologie Wie bereits bemerkt, unterlässt Schelling es, auf die These einzugehen, die Eschenmayer durch seine ganze Schrift zu untermauern suchte, nämlich die Bestimmung der Nichtphilosophie als einer ›von aller Spekulation befreyten Theologie‹. Da der einzige, jedenfalls der erste Gegenstand, der von sich aus ›der Speculation entrückt‹ ist, nach Eschenmayer Gott ist, ist jene Gleichsetzung auch ganz folgerichtig: Die Nichtphilosophie ist nur als Theologie möglich. Da aber auch umgekehrt die Theologie nur als Nichtphilosophie möglich ist, hat diese Bestimmung weitreichende Folgen für das Verfahren der Theologie und für die ihr zulässige Art des Sprechens, da durch sie zugleich der Wahrheitsanspruch theologischer Aussagen aufgegeben ist. Eschenmayers Verständnis der nichtphilosophischen Theologie kommt am Klarsten und Folgerichtigsten in folgenden zwei Sätzen zum Ausdruck: »Die geringste Spekulation verderbt seine Reinheit [sc. des Glaubens, R. S.]«, und: »Sobald aber jene [die Theologie, R. S.] sich aufs Beweisgeben einläßt und der Spekulation das Beweisfodern zugesteht, so ist sie verloren«. 191 Das einzig angemessene Sprechen von Gott kann ihn nur als unerkennbar behaupten und mit dieser Erklärung der Unerkennbarkeit Gottes ist es zugleich bereits erschöpft. Eschenmayer scheint somit eine Art negativer Theologie anzuvisieren. Negativ kann die von Eschenmayer angepeilte Theologie insofern genannt werden, als sie sich zur Philosophie dadurch ein negatives Verhältnis gibt, dass sie ihre einzige Aufgabe in Bezug auf dieselbe darin sieht, ihren Anspruch auf eine Erkenntnis Gottes zurückzuweisen. Sie ist aber außerdem auch insofern negativ, als sie sich selbst zu ihrem eigenen Gegenstand nur negativ verhält, da sie sich darin erschöpft, dessen Unerkennbarkeit zu behaupten. Die theologische Rede kann somit höchstens eine symbolische sein. Auch dort, wo sie sich dazu genötigt sieht, »aus der Sprache unserer Erkenntnisse« Ausdrücke zu entlehnen und auf Gott zu übertragen, handelt es sich dabei doch nur um eine »bildliche Darstellung«, die keinen Erkenntnisanspruch erhebt. 192 Eschenmayer selbst führt als Beispiel die Dreieinigkeit an. Mit derselben trägt »die philosophische immer mit nur zwei Kategorien, während Schelling außer den Freien und Nicht-Freien noch eine dritte Klasse unterscheidet, die über diesem Gegensatz steht. 191 Eschenmayer 1803, 41 (§ 50), 44 (§ 52). 192 Eschenmayer 1803, 36 (§ 46).

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5. Kapitel. Politik und Religion

Reflexion jene ewige Dreyeinheit, welche sie in sich selbst findet, nicht als Inhalt, sondern nur als Symbol und Schema in den Glauben hinein«. 193 Die Theologie nimmt »ihre Bilder, Würden und Eigenschaften aus unserer Erkenntnisswelt« und überträgt sie »im Superlativ auf das Uebersinnliche«. 194 In Philosophie und Religion geht Schelling mit keinem Wort auf diese Hauptthese Eschenmayers ein. 195 Dies dürfte umso mehr verwundern, als er bereits über einen Begriff der Theologie verfügte, den er dem eschenmayerschen Theologie-Begriff hätte entgegensetzen können, und dass er somit durchaus in der Lage war, Eschenmayer in diesem Punkt zu entgegnen. Schelling selbst macht auf diese Lücke in Philosophie und Religion ausdrücklich aufmerksam, indem er nur ein Jahr später erklärt, dass der »bis jetzt namhafteste, aber ohne Zweifel auch lezte Versuch, die Erkenntniss des Absoluten in eine Subjectivität zu verwandeln« »dem Verf. nicht [unerwartet] seyn [konnte]«, und zwar weil er »ihn in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums […] so bestimmt vorhergesagt hat, dass er jetzt nicht bestimmter davon schreiben könnte«. 196 Damit verweist Schelling nachträglich auf eine Schrift, die er auffälligerweise in Philosophie und Religion kein einziges Mal erwähnt hatte, wenn er auch an mehreren Stellen deutlich auf sie anspielt oder sie sogar fast wörtlich zitiert. 197 Gerade in jenen Vorlesungen hatte Schelling einen Theologie-Begriff entwickelt, der als Gegenstück des eschenmayerschen Begriffs gelten könnte. Schelling scheint sich in Philosophie Eschenmayer 1805, 122 f. Eschenmayer 1805, 123. 195 Weder Theologie noch eine ihrer Ableitungen kommen in der ganzen Schrift vor. 196 Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150 f. Jenen Versuch scheint Schelling in den Vorlesungen Schleiermacher zuzuschreiben (vgl. Schelling 1803a, 150 / SW V, 278 f.). Dass er ihn in den Aphorismen auf Eschenmayer bezieht, geht aus dem Aphorismus hervor, wozu jene Anmerkung gehört. Dort heißt es nämlich: »Du redest von einer Ahnung des Göttlichen, einem Glauben, den du höher setzest als die Erkenntniss« (Schelling 1805b, 17 / SW VII, 150 (§ 53); vgl. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 158). – Am Schluss der Aphorismen heißt es: »Die weitere Ausführung und die sinnbildliche Darstellung dieser Ansicht gehört der Religionslehre an: sie dem Theil des Zeitalters weiter zu deuten, der sie bey ihrer ersten Darstellung [* In der Schrift: Philosophie und Religion. Tübingen. 1804.] nicht begriffen hat, fühle ich keinen Beruf. Ihr Sinn mag ruhen, bis er von selbst sich aufthut« (Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197). 197 Vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59 mit Schelling 1803a, 31 f., 167 / SW V 224 f., 286; Schelling 1804, 73b / SW VI, 65 mit Schelling 1803a, 110 / SW V, 260 f. und Schelling 1804, 75 / SW VI, 66 mit Schelling 1803a, 172 f. / SW V, 288 f. 193 194

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

und Religion somit absichtlich auf eine Auseinandersetzung mit dem negativen Teil von Eschenmayers Unternehmen zu beschränken, und damit auf die Widerlegung solcher Vormeinungen, die daran hindern, die wirkliche Aufgabe der Philosophie in den Blick zu bekommen. 198 Dementsprechend können wir den positiven Teil von Schellings Aufgabe darin sehen, nicht eine ›von aller Spekulation befreyte‹, sondern eine spekulative bzw. philosophische Theologie zu entwickeln. Schelling entwickelt seinen eigenen Begriff von Theologie in der achten und neunten der Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Die Erörterung dieses Begriffs im Rahmen einer Vorlesungsreihe, die allem Anschein nach pflichtmäßig den Inhalt der verschiedenen universitären Fächer abhandelt und sich dabei, trotz einiger Modifikationen, weitgehend an der geläufigen Unterscheidung der drei Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) hält, dürfte bereits dazu beitragen, sowohl Schellings eigentliche Intention als auch die Radikalität ihrer Durchführung zu verschleiern. Auch die harmlos wirkende Überschrift der neunten Vorlesung, die »Ueber das Studium der Theologie« zu handeln verspricht, lässt nicht ersehen, dass die Theologie, wovon hier die Rede sein soll, weder zur selben Gattung gehört wie die damals an der Universität unterrichtete Theologie noch auch mit der von Eschenmayer konzipierten Theologie auf einer Ebene steht, sondern als eine grundsätzliche Alternative zu beiden gedacht ist. So lädt bereits die Bezeichnung ›Theologie‹ zu Missverständnissen ein. Die Darlegungen gerade in diesem Teil der Vorlesungen sind denn auch nicht leicht durchschaubar und in der Tat höchst kunstvoll verschlüsselt. 199 Auf diese Weise vermag Schelling Auch der sich an der Veröffentlichung von Philosophie und Religion anschließende Briefwechsel beschränkt sich ausschließlich auf eine wiederholte Erörterung der Idee des Absoluten und der intellektuellen Anschauung (vgl. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157 f.; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224). 199 Die achte und neunte Vorlesung gehören zudem zu einem Geflecht von mehreren fast gleichzeitig verfassten Texten, die sich alle mit den religionsphilosophischen Folgen der Naturphilosophie befassen. Zu nennen sind Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, 1802 im Kritischen Journal der Philosophie erschienen (vgl. Schelling 1802f, 14–20 / SW V, 116–120), der Zusatz zur Einleitung der 1803 erschienenen zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (vgl. Schelling 1803b, 86–88 / SW II, 72 f.), die im Winter 1802–1803 zum ersten Mal gehaltenen und 1804 und 1805 in Würzburg wiederholten Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (vgl. SW V, 418–451). Wir werden in der Folge gelegentlich auf diese Texte zurückgreifen. 198

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5. Kapitel. Politik und Religion

bei der Behandlung der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion bzw. Theologie sowie nach »ihre[r] institutionelle[n] Entsprechung, d[er] Theologische[n] Fakultät«, »bewußt jede offene Konfrontation vor seinen Hörern« zu vermeiden. 200 Zwar hebt er durchgehend die Rolle der Philosophie als Zentralwissenschaft hervor, womit bereits »die Vorrangstellung der Philosophie auch gegenüber Religion und Theologie hinreichend zum Ausdruck gebracht« wäre, aber »bei der direkten Behandlung der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zur Religion« verhält er sich »defensiv und erklärt lediglich, beide könnten einander nicht ersetzen«. 201 Auch wenn er der Theologie die Stelle der ersten Wissenschaft einräumt, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorrangstellung der Philosophie dadurch unangetastet bleibt. Diese Unklarheit pflegt Schelling insbesondere in den Vorlesungen, die sich unmittelbar mit dem Christentum und der Religion befassen. Dies hindert nicht daran, dass sich in denselben einige äußerst kühne Behauptungen finden, die genau überdacht sein wollen, bevor man sich Schelling als Gewährsmann für die Grundlegung einer christlichen Philosophie auserwählt. Die Aufgabe der achten und neunten Vorlesung besteht darin, die Bedingungen zu formulieren, unter welchen die Theologie als Wissenschaft möglich ist. Dies ist nach Schellings Behauptung nur auf der Grundlage seines eigenen Systems möglich. Bereits damit ist gesagt, dass dasjenige, was bislang Theologie genannt wird, nicht als Wissenschaft gelten kann. Schelling will an dieser Stelle weder die bestehende Theologie nachträglich begründen noch auch Hinweise dazu geben, wie sie sich zu einer Wissenschaft reformieren ließe, sondern stattdessen den Begriff einer spekulativen oder philosophischen Theologie und damit etwas grundsätzlich Neues entwickeln. Die Theologie muss auf die Philosophie und nicht, wie bislang, auf den Glauben oder auf eine Offenbarung gegründet werden. Deshalb wird dieser Begründungsversuch der Theologie von einer im Ton äußerst scharfen Polemik mit den (zeitgenössischen) Theologen begleitet. 202 Diesen fehlt ein adäquates Verständnis ihrer Wissenschaft. Schuffenhauer 1984, 59. Ebd. 202 Wenn Schelling bemerkt, dass er hier »den [wohl zeitgenössischen, R. S.] Zustand der Theologie« hat berücksichtigen müssen (Schelling 1803a, 205 / SW V, 303), so spricht er sonst meistens nur ganz im Allgemeinen, ohne Einschränkung, von den »Theologen« (Schelling 1803a, 189 / SW V, 296), von den »christlichen Religionsleh200 201

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

Gerade dieses unzulängliche Verständnis ihrer eigenen Tätigkeit hindert die Theologie daran, sich zu einer Wissenschaft zu entwickeln. Die Theologen bedürfen somit bereits der Philosophie, um sich über den Sinn ihrer Wissenschaft aufzuklären. Bereits von dem Grundbegriff der Theologie – dem Begriff der Offenbarung – haben sie eine nur dürftige Vorstellung: »Die Theologen behaupten, das Christenthum sey eine göttliche Offenbarung, die sie als eine Handlung Gottes in der Zeit vorstellen«. 203 Nachdem Schelling vorher alle empirischen Erklärungsversuche der Religion bzw. des Christentums als unzulässig zurückgewiesen hatte, lässt er sie hier ausdrücklich zu, wenn auch nicht in einem absoluten Sinne, sondern in einer bloß polemischen Beziehung: Gegen den Begriff der Offenbarung, wie er gemeinhin verstanden wird, sind diese empirischen oder natürlichen Erklärungsarten durchaus zulässig. Damit scheint Schelling zwei widersprechende Behauptungen aufzustellen: Zum einen wendet er sich gegen solche Theologen, die alle Wunder und damit die Offenbarung wegzuerklären suchen, zum anderen richtet er sich auch gegen solche, die behaupten, das Christentum sei ein Wunder oder eine Offenbarung. Schelling fährt fort: »Die christlichen Religionslehrer können keine ihrer historischen Behauptungen rechtfertigen, ohne zuvor die höhere Ansicht der Geschichte selbst, welche durch die Philosophie wie durch das Christentum vorgeschrieben ist, zu der ihrigen gemacht zu haben«. 204 Die historischen Behauptungen, durch welche die ›christlichen Religionslehrer‹ das Christentum zu rechtfertigen und zu begründen suchen, sind mit dem Christentum selbst in Widerspruch. Gleich vorher hatte Schelling zwei solcher ›historischer Behauptungen‹ diskutiert. Die erste bezog sich auf die Entstehung, die zweite auf die »Ausbreitung« des Christentums. 205 Schellings Absicht beschränkt sich nun nicht darauf, für die Behauptungen, die die ›christlichen Religionslehrer‹ nicht zu rechtfertigen vermochten, eine tragfähige Begründung nachzuliefern, sondern er weist diese Behauptungen selbst zurück: Weder ist der Ursprung des Christentums durch eine Offenbarung zu erklären noch ist in dessen Ausbreitung rer[n]« (Schelling 1803a, 191 / SW V, 297), von »alle[n] Dogmen der Theologie« (Schelling 1803a, 192 / SW V, 297; Herv. v. Verf.). Erst ab Schelling 1803a, 198 / SW V, 300 werden die Auswirkungen der »neueren Aufklärerey« auf die Theologie ausdrücklich berücksichtigt. 203 Schelling 1803a, 189 / SW V, 296. 204 Schelling 1803a, 191 / SW V, 297; Herv. v. Verf. 205 Schelling 1803a, 189 f. / SW V, 296 f.

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5. Kapitel. Politik und Religion

ein »besonderes Werk der göttlichen Vorsehung« zu sehen. 206 Zwar bemerkt Schelling, dass die Theologen ›keine ihrer historischen Behauptungen rechtfertigen‹ können ›ohne die höhere Ansicht der Geschichte‹. Daraus folgt allerdings nicht, dass sie in der Lage gewesen wären, diese ›historischen Behauptungen‹ zu rechtfertigen, wenn sie der ›höheren Ansicht‹ fähig gewesen wären, sondern dass sie in diesem Fall gar nicht zu jenen Behauptungen gelangt wären, da diese sich mit jener höheren Ansicht überhaupt nicht vertragen. Wenn zudem die Rede davon ist, dass diese höhere Ansicht ›durch die Philosophie wie durch das Christentum vorgeschrieben ist‹, dann ist damit noch nicht besagt, dass sie der christlichen Ansicht der Geschichte gleichzusetzen ist oder dass die Philosophie ihre Ansicht der Geschichte sogar dem Christentum entlehnen würde. Das Christentum schreibt eine solche höhere Ansicht nur insofern vor, als es selbst nur mittels einer solchen erklärt werden kann. Die ›höhere Ansicht der Geschichte‹ muss demnach zugleich die christliche Ansicht der Geschichte erklären können. Sowohl die Offenbarung als auch die christliche Ansicht der Geschichte treten hier lediglich als Gegenstand der Erklärung auf. Der leitende Begriff der Geschichte ist der entscheidende Punkt der beiden Vorlesungen. Schellings Darstellung ist allerdings darauf angelegt, einer Verwechslung von philosophischem und christlichem Geschichtsbegriff Vorschub zu leisten. Bereits die Überschrift der achten Vorlesung ist irreführend. Diese lautet: »Ueber die historische Construction des Christenthums«. Diese Vorlesung führt allerdings nicht so sehr die historische als vielmehr die spekulative Konstruktion des Christentums durch, indem sie zeigt, dass das Christentum als Form der Religion in der Vernunft vorgezeichnet ist und deshalb als eine notwendige Form von Religion aus derselben entwickelt werden kann. Für diese Konstruktion ist die Vernunft somit weder auf die Historie noch auch auf eine Offenbarung angewiesen: Sie vermag sie vielmehr aus sich selbst, aus eigener Kraft zu finden. 207 Die historische Konstruktion des Christentums, die übrigens auch die historische Konstruktion des Heidentums umfasst, ist hingegen Aufgabe Schelling 1803a, 190 / SW V, 297. Vgl. z. B. Schelling 1803a, 185 f. / SW V, 295, wo dreimal auf engstem Raum die Notwendigkeit der Konstruktion hervorgehoben wird. Damit ist auch jedes Mal gesagt, dass es dazu keiner Offenbarung bedarf. ›Notwendigkeit‹, ›notwendig‹ usw. kommen innerhalb der achten und neunten Vorlesung insgesamt 23 Mal vor, am meisten im angedeuteten Zusammenhang.

206 207

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

der Theologie als Einzelwissenschaft. Sie kann allerdings erst auf der Grundlage der spekulativen Konstruktion erfolgen, so wie diese von der Philosophie bzw. der philosophischen Theologie geleistet wird. Die Verwischung der grundlegenden Differenz zwischen spekulativer und historischer Konstruktion und, damit zusammenhängend, zwischen der philosophischen und der christlichen Ansicht der Geschichte hat innerhalb dieser beiden Vorlesungen systematischen Charakter. Sie verschleiert die eigentliche Richtung der Argumentation. So behauptet Schelling zunächst, dass die Theologie sich durch eine besondere »historische Beziehung« auszeichnet, die er darauf zurückführt, dass »in dem Christenthum das Universum überhaupt als Geschichte, als moralisches Reich, angeschaut wird, und dass diese allgemeine Anschauung den Grundkarakter desselben ausmacht«. 208 Aufgrund dieser Erklärung liegt es nahe, die »höhere Ansicht der Geschichte«, jedes Mal wenn von ihr in der Folge die Rede ist, mit der christlichen Anschauung der Geschichte gleichzusetzen. 209 Die Konstruktion der ›höheren Ansicht der Geschichte‹ ist jedoch Aufgabe der Philosophie. Zu dieser Verwechslung trägt nicht unerheblich bei, dass Schelling im Rahmen der philosophischen Konstruktion der Geschichte immer wieder auf Ausdrücke wie z. B. Vorsehung oder Sündenfall zurückgreift, die auf eine christliche Ansicht zu deuten scheinen. Sowohl die höhere, philosophische Ansicht der Geschichte als auch die im Christentum implizierte Anschauung der Geschichte setzen die philosophische Konstruktion möglicher Gestalten von Religion voraus. Nach derselben sind zwei Dimensionen, Gestalten oder Potenzen von Religion zu unterscheiden. Diese zwei Potenzen bezeichnet Schelling jedoch nicht immer einheitlich. Bald bezeichnet er sie als Heidentum und Christentum, bald als Mythologie und Mysterien, bald als die exoterische und esoterische Seite der Religion. Man kann sagen, dass die erstgenannte Potenz eher auf die soziale Funktion der Religion abhebt und an ihr dasjenige hervorhebt, wodurch eine Gemeinschaft zusammengehalten und wodurch aus einer Menschenmenge erst eine Gemeinschaft oder ein ›Volk‹ wird. Die jeweils letztgenannte Potenz streicht hingegen die subjektive Bedeutsamkeit der Religion hervor, wonach diese den Einzelnen zu verwan-

208 209

Schelling 1803a, 167, 169 f. / SW V, 286, 287. Schelling 1803a, 185 / SW V, 295.

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5. Kapitel. Politik und Religion

deln und zu einem innigeren Selbstverständnis zu führen vermag. 210 ›Heidentum‹ und ›Christentum‹ bezeichnen somit nicht nur zwei Formen von Religion, sondern sie können auch dazu verwendet werden, die zwei in jeder Religion enthaltenen und nachweisbaren Faktoren zu bezeichnen. Da diese nur quantitativ different sind und jeder somit sein Anderes in sich enthält, kann eine Religion auch durch den Faktor bezeichnet werden, der in ihr gerade herrschend ist. Diese unterscheiden sich dadurch voneinander, dass jene Dimensionen in ihnen unterschiedlich koordiniert sind. Danach sind in jeder Religion ›heidnische‹ und ›christliche‹ Elemente nachweisbar. Da diese Potenzen a priori konstruierbar sind, können einzelne religiöse Erscheinungen bei der historischen Forschung auch antizipiert werden. So kann man nach dieser Konstruktion im Voraus wissen, dass es auch im ›Heidentum‹, in welchem die Mythologie vorherrscht, Spuren des ›mystischen‹ Elements geben muss. Das Umgekehrte gilt vom Christentum. 211 Deshalb kommt Schelling zu Aussagen wie: Hätte man den Begriff des Heydenthums nicht immer und allein von der öffentlichen Religion abstrahirt: so würde man längst eingesehen haben, wie Heydenthum und Christenthum von jeher beysammen waren und dieses aus jenem nur dadurch entstand, dass es die Mysterien öffentlich machte […]. 212

Oder: »Die griechische Mythologie war nicht als solche Religion; sie ist an sich nur als Poesie zu begreifen; Religion wurde sie erst in dem Verhältniß, welches sich der Mensch nun selbst zu den Göttern (dem Unendlichen) gab in religiösen Handlungen u. s. w.« (SW V, 454 (§ 52 Erl.); erste Herv. v. Verf.). Danach ist die Mythologie nicht selbst Religion, sondern das Heidentum unterscheidet sich dadurch, dass in ihm die Religion »auf die Mythologie […] gegründet« ist, jene sich mithin nur auf deren Grundlage entfalten konnte und sie durchgängig voraussetzt (SW V, 454 (§ 52)). Dass es diese zwei Formen von Religion gibt, lässt sich auf zweierlei Art beweisen: einmal apriorisch, dann auch historisch. Die apriorische Konstruktion hat den Vorzug, dass sie zugleich zu zeigen vermag, dass es außer diesen beiden keine anderen Formen von Religion geben kann und dass die Möglichkeiten somit erschöpft sind. Es gibt somit »zwey bestimmte verschiedene Ströme von Religion« oder 210 211 212

Eine entsprechende Unterscheidung findet sich auch in Whitehead 1927, 5–7, 37. Schelling 1802f, 18 / SW V, 119. Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

»zwey Erscheinungen der Religion«: eine Naturreligion und eine gänzlich sittliche Religion oder Offenbarungsreligion. 213 Da beide Faktoren unterschiedlich koordiniert werden können und damit immer noch vielfältige Ausprägungen zulassen, ermöglicht dieser dimensionale Religionsbegriff eine Typologie der Religionen, die es erlaubt, verschiedene Religionsformen einer der beiden Grundtypen zuzuordnen und zugleich auch innerhalb dieser Typen feinere Differenzierungen vorzunehmen (vgl. SW V, 418). 214 Wenn Schelling die Durchführung einer solchen Typologie zu dieser Zeit auch nur skizzenhaft andeutet, so ist das Programm, das ihm vorschwebt, deutlich genug zu erkennen. 215 ›Heidentum‹ und ›Christentum‹ können jedoch auch noch zu einem anderen Zweck als dem typologischen verwendet werden. Man kann sich derselben nämlich nicht nur als Potenzen, sondern auch zur Bezeichnung von Epochen bedienen. Nach der eigentümlichen Strukturierung der Potenz des Heidentums kann dieses nämlich nicht anders denn als eine erste Epoche gesetzt werden. Damit werden die Potenzen in einem Nacheinander gesetzt. Nur indem sie so gesetzt werden, sind sie sich auch wirklich entgegengesetzt, sodass die eine die andere ausschließt: Durch die Potenz des Christentums wird die Potenz des Heidentums als »unwiederbringlich verloren« oder als eine absolute Vergangenheit gesetzt. 216 Ferner ist aufgrund dieser Typologie einsehbar, dass eine Offenbarungsreligion, im Unterschied zur Naturreligion, notwendigerweise eine Anschauung von Geschichte beinhaltet und dass es eine solche nur insofern geben kann, als diese »nach zwey Seiten differenziirt erschein[t]« und die zweite Seite als die Umkehrung der ersten gedacht wird. 217 Wenn es somit gelingt, die erste Seite, die der Naturreligion, zu konstruieren, können wir daraus durch Umkehrung der konstitutiven Bestimmungen derselben auch die Offenbarungsreligion nach ihren wesentlichen Bestimmungen konstruieren. Dieser Begriff bzw. diese Konstruktion der Geschichte bildet die Alternative für die Er-

Schelling 1803a, 193, 196 / SW V, 298, 299. Diese Einsicht gehört selbst zur »wahre[n] Vernunftreligion« (Schelling 1803a, 196 / SW V, 299). 214 Innerhalb dieser Typologie wäre das Judentum dem Heidentum, die indische und persische Religion dem Christentum zuzuordnen (vgl. SW V, 425, 422 f.). 215 Besonders in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (vgl. SW V, 418– 451; auszugsweise Schelling 1803a, 167–186 / SW V, 286–295). 216 Schelling 1802f, 18 / SW V, 119. 217 Schelling 1803a, 179 / SW V, 292. 213

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klärung der Entstehung und Verbreitung des Christentums durch Offenbarung und Vorsehung und damit für die Behauptung der Unerklärlichkeit derselben. Daraus folgt schließlich, dass »das Christentum als Gegensatz«, in der wirklichen Entgegensetzung mit dem Heidentum und somit als eine bestimmte Epoche betrachtet, nur als »Weg zur Vollendung« oder als »Uebergang« betrachtet werden kann. 218 Christentum wie Heidentum lassen sich somit sowohl spekulativ als auch historisch konstruieren. Die historische Konstruktion des Christentums ist selbst erst dann vollständig, wenn sie zugleich die historische Konstruktion des Heidentums in sich enthält. Erst eine philosophische Konstruktion des Begriffs der Religion, die die Mysterien und die Mythologie als zwei gleichgewichtige Aspekte von Religion überhaupt hervortreten lässt, erlaubt es, auch einen adäquaten Begriff sowohl des Heidentums als auch des Christentums zu konstruieren. Es handelt sich somit um einen tragfähigen Religionsbegriff, der nicht einer bestimmten Form von Religion entnommen ist und der es erlaubt, unterschiedlichste Gestalten von Religion als solche anzuerkennen. Diese werden nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, sondern Schellings Begriff ist beweglich und anpassungsfähig genug, dass er auf unterschiedliche Formen von Religion anwendbar ist, diese eben als Formen von Religion sichtbar macht, ohne die feineren Unterschiede einebnen zu müssen. 219 Schelling 1802f, 19 / SW V, 120; SW V, 448. Trotzdem geschieht es immer wieder, dass Leser wieder in die Reflexionsgegensätze verfallen, die Schelling mit seinen Konstruktionen zu überwinden sucht. So stellt Christian Danz zwei Tendenzen in der Deutung der Religionsphilosophie Schellings fest: »Im Resultat, so Jaeschkes Deutung, laufe Schellings religionsphilosophische Reformulierung der Querelle [des Anciens et des Modernes, R. S.] auf eine Rückführung des Christentums in die griechische Mythologie hinaus. Im Gegensatz zu Jaeschke interpretierte Werner Becker Schellings identitätsphilosophische Christentumsdeutung geradezu als eine Ablösung des Christentums von der griechischen Mythologie. Schellings Intention sei es, so Becker, den christlichen Offenbarungsgedanken geschichtsphilosophisch zu begründen« (Danz 2002, 198). Karl-Heinz VolkmannSchluck weist beide Positionen zurück: Es gehe Schelling nicht um eine »rückwärts gewandte Flucht in den antiken Mythos«, denn »solche Zuwendung zur Antike nährt sich aus der Gegnerschaft gegen das Christentum und bleibt erst recht unfrei«. Es gehe Schelling aber auch nicht darum, eine »christliche Philosophie« zu entwickeln, sondern etwas, das Volkmann-Schluck als »freie Religion«, Schelling selbst später als philosophische Religion bezeichnet: »[F]rei ist die Religion, die nicht durch den Gegensatz zu einer anderen, sondern allein durch sich selbst bestimmt ist. Darum hat das Christentum nach Schelling die Freiheit seines Wesens so lange noch nicht erreicht, als es sich noch in der Gegenstellung zur Antike befindet« (Volkmann-Schluck, 287).

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

Von diesem Gegensatz zwischen Heidentum und Christentum behauptet Schelling, dass er »für sich zureichend [ist], das Wesen und alle besondere Bestimmungen des Christenthums einzusehen«. 220 Für die Ableitung keiner dieser besonderen Bestimmungen ist es demnach erforderlich, auf eine andere Instanz als auf die Vernunft zurückzugreifen. Aus jenem Gegensatz ist einsehbar, dass die »erste Idee des Christenthums« »nothwendig der Menschgewordene Gott, Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt« und damit die Idee der Trinität ist. 221 Schelling vermag den Theologen kein adäquates Verständnis dieser grundlegenden Idee des Christentums zu bescheinigen: »Von der Idee der Dreyeinigkeit ist es klar, daß sie, nicht speculativ aufgefaßt, überhaupt ohne Sinn ist«. 222 Dies geht auch daraus hervor, dass die Theologen die Idee einer ›Menschwerdung Gottes in Christo‹ nicht spekulativ, sondern ganz empirisch aufgefasst haben. Stattdessen behauptet Schelling: »Die Menschwerdung Gottes ist also eine Menschwerdung von Ewigkeit«; der »Mensch Christus« hingegen ist »in der Erscheinung nur der Gipfel und in so fern auch wieder der Anfang« der Menschwerdung Gottes. 223 Nachdem Schelling den Theologen bereits das Verständnis der nicht nur für ihre Wissenschaft tragenden, sondern für die christliche Religion grundlegenden Begriffe der Offenbarung, des Wunders, der Dreieinigkeit abgesprochen hat, fügt er dem noch eine weitere kühne Behauptung hinzu: Er leugnet die Einzigkeit Christi, indem er bemerkt, dass »in Christo zuerst Gott wahrhaft objectiv geworden« ist, da niemand »vor ihm […] das Unendliche auf solche Weise geoffenbaret [hat]«. 224 Damit wird zwar behauptet, dass Christus als Erster, zugleich aber geleugnet, dass er als Einziger Gott ›auf solche Weise geoffenbaret‹ habe. Es ist jedoch nicht nötig, sich auf Implikationen des Gesagten zu stützen, da Schelling wenig später ausdrücklich erklärt, dass die Bewohner Indiens es »bloß seltsam« fanden, dass »bey den Christen nur Einmal geschehen sey, was sich bey ihnen oftmals und in steter Wiederholung zutrage«, wodurch sie bezeugten »von ihrer Religion mehr Verstand gehabt [zu] haben, wie die christlichen Missionarien von der ihrigen«, indem diese an der Einmaligkeit einer solchen Menschwer-

220 221 222 223 224

Schelling 1803a, 180 / SW V, 292; Herv. v. Verf. Schelling 1803a, 180 / SW V, 292; Herv. v. Verf. Schelling 1803a, 192 / SW V, 297. Schelling 1803a, 192 f. / SW V, 298; Herv. v. Verf. Schelling 1803a, 193 / SW V, 298; Herv. v. Verf.

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5. Kapitel. Politik und Religion

dung glaubten. 225 Die Menschwerdung Gottes ist somit weder ein einmaliges noch auch ein historisches Ereignis. 226 Besonders im Zusammenhang der Idee der Dreieinigkeit findet sich bei Schelling ein kaum durchschaubares Zusammenspiel unterSchelling 1803a, 195 / SW V, 299; Herv. v. Verf. Beachtung verdient noch folgende Stelle: »Was seiner [Christus, R. S.] Sache den höchsten Schwung gab, war die letzte Katastrophe seines Lebens und das vielleicht beispiellose Ereigniß, daß er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervorging, eine Thatsache, welche etwa als Allegorie wegerklären und also als Faktum leugnen zu wollen, historisch wahnsinnig ist, da diese Eine Begebenheit die ganze Geschichte des Christenthums gemacht hat. Alle Wunder, die man nachher auf dieß Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht vermocht« (SW V, 425; Herv. v. Verf.). Diese Stelle ist mit folgende zusammenzulesen: »Hier besteht eine Hauptkunst darin, so viel Wunder als möglich aus der Bibel weg oder heraus zu erklären, welches ein ebenso klägliches Beginnen ist, als das umgekehrte, aus diesen empirischen, noch dazu höchst dürftigen, Factis die Göttlichkeit der Religion zu beweisen. Was hilft es, noch so viele hinwegzuschaffen, wenn es nicht mit allen möglich ist, denn auch nur Eines würde, wenn diese Beweisart überhaupt Sinn hätte, so viel wie tausend beweisen« (Schelling 1803a, 203 / SW V, 302). – Wir müssen uns an dieser Stelle auf einige vereinzelte Beobachtungen beschränken. 1) Zunächst scheint Schelling zu behaupten, dass das Unterfangen, die im Neuen Testament erzählten Wunder wegzuerklären, unsinnig ist, da es letztlich an der Auferstehung als dem einzigen Wunder, das nicht wegerklärt werden kann, scheitern muss. 2) Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass jenes Unterfangen nicht deshalb unsinnig ist, weil darunter einige wirkliche Wunder sind, sondern weil vielmehr die überlieferten Fakten so dürftig sind, dass sie eine Entscheidung in allen Einzelfällen nicht zulassen. Das Unternehmen ist aber nur dann sinnvoll, wenn es für alle Fälle durchgeführt werden könnte. Jedenfalls gibt Schelling durch die Erklärung, dass manche Wunder erst ›nachher auf dieß Eine Haupt‹ gehäuft wurden, also spätere Zusätze sind, zu verstehen, dass er die Ergebnisse jener Nachforschungen durchaus billigt (vgl. auch Schelling 1803a, 201–203 / SW V, 302; SW V, 426 über die erfundenen Fabeln, die in der Biographie Christi verwoben sind). Bereits die Überlieferungslage erschwert somit erheblich die Entscheidung, ob es sich im Fall der Auferstehung tatsächlich um ein Wunder handelt oder nicht. Das Wunder der Auferstehung kann somit weder bewiesen noch widerlegt werden. 3) Der Versuch, die Wunder aus dem Neuen Testament wegzuerklären, ist polemisch motiviert: Es richtet sich gegen den Versuch, die Göttlichkeit Christi bzw. des Christentums aus Wundern zu beweisen. Da die Göttlichkeit des Christentums sich gar nicht durch Wunder als empirische Fakten beweisen lässt, so ist die Polemik gleich unsinnig. Selbst wenn es gelingen könnte, die Auferstehung unwiderleglich als ein Wunder zu beweisen, wäre damit für den Beweis der Göttlichkeit des Christentums noch gar nichts gewonnen. 4) Auch eine allegorische Erklärung der Auferstehung, wonach die Erzählung dieses Ereignisses nur eine allgemeine Idee vermitteln soll, z. B. dass »Alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Göttlichkeit zusammenzuhängen«, hilft hier nicht weiter (Schleiermacher 1799, 321 f.). (Eine Alternative zur allegorischen wäre die symbolische ›Erklärung‹.) 5) Gerade gegen diesen allegorischen Erklärungsversuch richtet Schelling seine Bemerkung, dass es ›historisch wahnsinnig‹

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

schiedlicher, oft scheinbar widersprüchlicher Behauptungen (vgl. SW V, 431–433). Seine leitende These lautet, dass die Idee der Dreieinigkeit »von ganz philosophischem Gehalt« ist (SW V, 431). Sie ist somit kein Symbol oder keine Darstellung einer Idee, sondern selbst eine Idee. Allerdings war es »der ersten Anlage nach unmöglich, daß sie [die Ideen der drei Personen Gottes, R. S.] sich symbolisch gestalten konnten« (SW V, 431). Diese Ideen lassen somit bereits aufgrund ihrer Natur keine Symbolisierung oder Darstellung mittels der Natur zu. Dennoch wurden sie »gleich anfänglich völlig unabhängig von ihrer speculativen Bedeutung, ganz historisch, buchstäblich genommen« (SW V, 431), d. h. so, dass sie »überhaupt ohne Sinn« sind und dabei »schlechterdings nicht zu denken seyn kann«. 227 Da diese Ideen nicht symbolisiert oder durch die Natur dargestellt werden können, können sie nur mittels bestimmter historischer Gestalten, die jene Ideen verstanden und verkörpert haben, zur Darstellung gelangen. Schließlich behauptet Schelling jedoch, dass die Idee des Sohns und die der Mutter Gottes, im Unterschied zur Idee des Vaters und des Geistes, doch einer symbolischen Darstellung fähig sind. 228 Aus der Idee der Dreieinigkeit als erster Idee des Christentums vermag die wäre, diese ›eine Thatsache als Faktum leugnen zu wollen‹. Da aufgrund von (2.) bezweifelt werden kann, ob Schelling die Auferstehung als eine unwiderleglich bewiesene historische Tatsache annimmt, so dürfte das historisch Wahnsinnige jener Erklärung darin liegen, dass man sich dadurch des Mittels begibt, ›die ganze Geschichte des Christenthums‹ zu verstehen, da die Verbreitung und Wirkung, die es entfaltet hat, durch diese ›Eine Begebenheit gemacht‹ wurde. 6) Zu beachten ist schließlich, dass die Auferstehung Christi als ein ›vielleicht beispielloses Ereigniß‹ apostrophiert wird. Damit meldet Schelling Zweifel sowohl an der Einmaligkeit als an der Erstmaligkeit dieses Ereignisses an. – Die Auferstehung Christi wird in Philosophie und Religion kein einziges Mal erwähnt. Dafür wird Auferstehung einmal im Zusammenhang der Mysterien erwähnt: Die Absicht der »pracktische[n] Lehre« derselben »geht auf Befreyung der Seele von dem Leib als ihrer negativen Seite«. Diese praktische Absicht liest Schelling daran ab, dass »der Eingang in die alten Mysterien als eine Dahingabe und Opferung des Lebens, als ein leiblicher Tod und eine Auferstehung der Seele beschrieben wurde« (Schelling 1804, 77 f. / SW VI, 68; vgl. Schelling 1804, 71 f. / SW VI, 62). 227 Schelling 1803a, 192 / SW V, 297 f. 228 Vgl. Allwohn 1927, 40: »In diesen und anderen Ausführungen Schellings über Christus finden sich unklare und widerspruchsvolle Bestimmungen, was daher kommt, daß nicht weniger wie drei verschiedene Betrachtungensweisen ohne deutliche Unterscheidung ineinander übergehen. Erstens wird Christus vom Standpunkt der griechischen Mythologie aus angesehen, zweitens vom Standpunkt der christlichen und drittens von den Forderungen aus, die Schelling für die Entstehung einer neuen Mythologie aufstellt«.

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Vernunft alle weitere Bestimmungen desselben abzuleiten: Das Christentum vermag sich, erstens, nur mittels einer Anschauung des Universums als Geschichte zu artikulieren, wenn diese vom Christentum verlangte Geschichtsanschauung auch nicht mit der philosophischen Konstruktion der Geschichte verwechselt werden darf. Ferner ist es notwendigerweise Monotheismus, während die Naturreligion notwendig Polytheismus ist. 229 Innerhalb des Christentums ist, drittens, eine Symbolik im eigentlichen Sinne unmöglich. Dieser Mangel soll, schließlich, durch die Begriffe des Wunders und der Offenbarung gehoben werden. Nicht nur geht Schelling nicht auf Eschenmayers Hauptthese zur Theologie ein, sondern es gelingt ihm, in einer Schrift, die das Verhältnis von Philosophie und Religion zu behandeln verspricht, das Christentum nur ein einziges Mal zu erwähnen. Dort, wo es offensichtlich gemeint ist, wird es dennoch nicht ausdrücklich genannt. 230 Die Erwähnung findet sich im »Anhang« zu dieser Schrift, in welchem sonst nur von Religion die Rede ist. Das Verhältnis der in dieser Schrift entwickelten philosophischen Lehre zum Christentum wird damit im Unklaren belassen. Es bleibt dem Leser überlassen, sich aus dem Gesagten die angemessene Erläuterung für Schellings Ansicht dieses Verhältnisses zu nehmen. 231 Dieses Vorgehen dürfte zunächst durch Vorsicht eingegeben sein. So betont Schelling gerade im »Anhang« mehrmals und emphatisch die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Religion. Solange jedoch unbestimmt bleibt, was dabei unter ›Religion‹ zu verstehen ist, bleibt auch die Behauptung unbestimmt. Schelling dürfte damit rechnen, dass der unaufmerksame Leser sich durch eine solche Erklärung beruhigen lässt, indem dieser unter Religion ohne weiteres die christliche Religion verstehen wird. Er legt diesem die Meinung nahe, dass seine Lehre mit dieser in Einklang ist. So reichte bereits die Verwendung des Worts ›Abfall‹ aus, um Schelling die Intention einer philosophischen Rechtfertigung der christlichen Sündenlehre zuzuschreiben. Ob der Leser die Ausführung dann als gelungen erachtet, ist eine andere Frage. Jedenfalls scheint Schelling den Leser absichtlich über seine Intention mit dieser Schrift im Unklaren lassen zu wollen. Während die Intention von Eschenmayers Schrift »vor Augen liegt«, lässt sich dasselbe wohl 229 230 231

Schelling 1803a, 171 f. / SW V, 288. So z. B. Schelling 1804, 2 / SW, VI, 16 f. Vgl. Schelling 1805b, 85 f. / SW VII, 196.

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kaum von Philosophie und Religion behaupten. 232 Der Leser, dem der Inhalt der ganzen Schrift noch gegenwärtig ist, dürfte sich weder durch solche allgemeinen Versicherungen beruhigen lassen noch die genannte Intention als selbstverständlich hinnehmen. So war bereits durch die Kritik an der Unterscheidung von Gott und Absolutem im ersten Abschnitt die Rede von einem Gott, der sich offenbart und der aufgrund seiner Unerkennbarkeit nur geglaubt werden kann, grundsätzlich problematisiert. Ferner hat Schelling die Lehre einer creatio ex nihilo keineswegs philosophisch zu rechtfertigen gesucht, sondern sie unmissverständlich als den »roheste[n] Versuch«, sich das Verhältnis von Gott und den endlichen Wesen einsichtig zu machen, zurückgewiesen und als eine Vorstellung, die lediglich der »Volksreligion« angehört, apostrophiert. 233 Außerdem haben wir zu zeigen versucht, dass es wenigstens nicht unproblematisch ist, die Lehre vom Abfall als eine Sündenfallslehre zu interpretieren, und dass auch die Interpreten, die Schelling eine solche Intention zuschreiben, nicht umhin können, Widersprüche in der Durchführung festzustellen, die einem auch nur ein wenig in der Theologie versierten Autor schwerlich entgangen sein könnten. Schließlich wurde im dritten Abschnitt eine Sittenlehre angedeutet, die jeden Versuch, die Sittlichkeit als eine »Unterwerfung unter das Gesetz« zu denken, resolut zurückweist und stattdessen die wahre Sittlichkeit nur in der Verwirklichung der eigenen Natur sucht (SW VI, 565). 234 Daran schloss sich eine Lehre an, wonach wir der Unsterblichkeit »hier schon« gewiss sein können. 235 Damit hat Schelling das anfangs formulierte Programm, diejenige Fragen, wofür bislang nur die Religion sich zuständig erklärte, wieder der Philosophie zu »vindiciren«, durchgeführt. 236 Dieses Programm scheint kaum der Intention entsprungen, sich an einer philosophischen Rechtfertigung der christlichen Lehre zu versuchen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ›brennende‹ Charakter dieser Schrift gerade in dieser Intention zu suchen ist, die Schelling allerdings durch absichtliche Unklarheit der Mehrzahl seiner Leser zu entziehen sucht. 237

232 233 234 235 236 237

Schelling 1804, 4 / SW VI, 18. Schelling 1804, 31, 35 / SW VI, 36, 39. Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55; SW VI, 558. Schelling 1804, 74a / SW VI, 64. Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Vgl. Schelling 1804, VI / SW VI, 15.

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5. Kapitel. Politik und Religion

Während Schelling somit die Übereinstimmung von Philosophie und Religion mit Nachdruck hervorhebt, so hat die einzige Stelle, die das Christentum nennt, eine durchaus kritische Pointe. Dort heißt es nämlich zum einen, dass »Heydenthum und Christenthum von jeher beysammen waren«. 238 Damit werden Heidentum und Christentum für gleichberechtige Gestalten der Religion erklärt. Zum anderen bemerkt Schelling, dass das Christentum aus dem Heidentum nur dadurch entstand, daß es die Mysterien öffentlich machte: ein Satz, der sich historisch durch die meisten Gebräuche des Christenthums, seine symbolischen Handlungen, Abstufungen und Einweihungen durchführen ließe, welche eine offenbare Nachahmung der in den Mysterien herrschenden waren. 239

Damit macht er auf einen historischen Zusammenhang aufmerksam. An einer früheren Stelle hieß es indessen bereits fast gleichlautend, dass »[i]n den spätern Zeiten […] die Mysterien öffentlich« gemacht wurden, ohne dass das Christentum dort erwähnt wurde. 240 Schelling lässt es an dieser Stelle der Einleitung vielmehr absichtlich noch in der Schwebe, welche ›Zeiten‹ er meint und welche Instanz für die öffentliche Bekanntmachung der Mysterien verantwortlich war. Wenn Schelling vom Christentum behauptet, dass es dadurch aus dem Heidentum entstand, dass ›es die Mysterien öffentlich machte‹, dann scheint er damit jedenfalls nicht zu meinen, dass diese ursprünglich nur wenige zuließen, die Mehrzahl aber ausschlossen, da er nichts so betont wiederholt, als dass die Mysterien sich nicht auf eine kleine Gruppe oder selbst nur auf die Mitglieder einer bestimmten Nation beschränkten, sondern dass grundsätzlich jeder daran teilnehmen dürfte. 241 Wir dürften uns Schellings Meinung mit jener Behauptung schon eher nähern, wenn wir bedenken, dass er die Mysterien insbesondere als eine Institution ausgezeichnet hatte, die dem natürlichen Unterschied zwischen Nicht-Freien, Freien und Philosophen gerecht zu werden vermochte. Obwohl nach außen hin allen zugänglich, waren sie ihrer inneren Verfassung nach doch so eingerichtet, dass sie jene Rangordnung durchgängig berücksichtigten. Diese Rangordnung kann nun dadurch öffentlich gemacht werden, dass sie sich als eine institutionelle Hierarchie darstellt. In der Tat 238 239 240 241

Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Schelling 1804, 1 / SW VI, 16. Schelling 1804, 75 / SW VI, 66; vgl. Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

hebt Schelling an der Kirche, die er für ein Analogon der Mysterien hält, insbesondere die hierarchische Organisationsform hervor, während er zugleich betont, wie sie zugleich alle aufnehmen soll (vgl. SW V, 435). In Philosophie und Religion heißt es, dass das Christentum insbesondere seine symbolischen Handlungen und Gebräuche sämtlich den Mysterien entlehnt habe. 242 Diese Handlungen finden ihre Einheit in der Kirche oder in einer kirchlichen Organisation. Da auch die Mysterien eine gestufte oder hierarchische Einrichtung sind, hat es somit einen guten Grund, dass auch eine kirchliche Organisation hierarchisch aufgebaut ist: Die Kirche »bildete sich nothwendig zur Hierarchie, deren Urbild in der Ideenwelt lag« (SW V, 434; Herv. v. Verf.). 243 In diesem Zusammenhang blendet Schelling die christliche Theologie und Dogmatik und alles Spekulative völlig aus und beschränkt seine Überlegungen ganz auf die Form der kirchlichen Institution. Jedenfalls ist die Kirche damit als eine in ihrem Prinzip widersprüchliche Einrichtung gedacht, insofern sie dasjenige öffentlich zu machen sucht, »was seiner Natur nach nicht öffentlich und real seyn konnte« oder eine natürliche Ungleichheit in einer konventionellen abzubilden sucht. 244 Alle Bestimmungen des Christentums lassen sich auf die Umkehrung des ursprünglichen und für das Heidentum charakteristischen Verhältnisses von Mysterien und Mythologie als seines Prinzips zurückführen. Durch diese Umkehrung treten die beiden Potenzen aller Religion, die sich im Heidentum in einem Verhältnis der Indifferenz zueinander befinden, in ein gegenseitiges Spannungsverhältnis. Diese Spannung zwischen der subjektiven Bedeutsamkeit und der sozialen Funktion der Religion ist für das Christentum charakteristisch und innerhalb desselben unauflösbar. Es ist deshalb nicht lediglich durch ihren Ort innerhalb von Vorlesungen über die Philosophie der Kunst motiviert, wenn die Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Mythologie Schelling derart beschäftigt, sondern sie entspringt dem Grundproblem des Christentums, trotz des Vorherrschens der subjektiven Bedeutsamkeit zugleich eine soziale oder Vgl. Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Diese Formulierung ist fast gleichlautend mit derjenigen, die Schelling in Philosophie und Religion (vgl. Schelling 1804, 73b / SW VI, 65) und in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium (vgl. Schelling 1803a, 110 / SW V, 260) dort verwendet, wo er die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien einführt. Zur Geschichte der Kirche vgl. SW V, 434 f.; SW VII, 463–465. 244 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66. 242 243

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5. Kapitel. Politik und Religion

gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllen zu müssen. Die Grundrichtung des Christentums hebt nämlich »alle symbolische Anschauung« auf, ohne jedoch auch das Bedürfnis nach einer Mythologie dadurch aufheben zu können (SW V, 447). In ihrer Funktion als das Handeln orientierende und motivierende Kraft, die eine Menschenmenge zur Einheit zu bringen vermag, ist die Mythologie nämlich unersetzbar. Obwohl seinem eigentlichen Prinzip nach mythologie-feindlich, bedarf das Christentum als Religion dennoch einer Mythologie. Das Christentum als ›Katholizismus‹ ist der hybride Versuch, jenes Grundproblem zu lösen. Im ›Protestantismus‹ tritt das ursprüngliche mythologie-feindliche Prinzip erneut hervor. Beide werden von Schelling ambivalent gedeutet, da beide für ihn nur unterschiedliche Gestalten desselben Widerspruchs sind. 245 Damit kehrt der Gegensatz von Heidentum und Christentum innerhalb des Christentums als Gegensatz zwischen ›Katholizismus‹ und ›Protestantismus‹ wieder. Im ›Katholizismus‹ ist das mythologische Moment erneut vorherrschend. Dies sucht Schelling mittels des Begriffs der symbolischen Handlung zu entwickeln. 246 Symbolische Handlungen sind solche, durch welche ein Endliches eine Verwandlung erfährt und zum Symbol des Unendlichen wird. Innerhalb der Potenz des Christentums ist die Symbolik nur im Bereich des Handelns möglich. Wie wir gesehen haben, bedeutet ein Symbol eine Idee und hat dadurch einen spekulativen Gehalt, ist darüber hinaus »für sich selbst bedeutend« und hat ein unabhängiges Leben (SW V, 447): »Nur in der Historie konnte eine solche Religion mythologischer Stoff werden. Denn nur darin erlangen sie [die Ideen, R. S.] eine Unabhängigkeit von ihrer Bedeutung« (SW V, 455 (§ 52 Zus. 4)). Schelling behandelt hier der Reihe nach alle möglichen Kandidaten für einen christlich-mythologischen Stoff. Die Idee der Dreieinigkeit schließt er sofort aus, da diese nur einen spekulativen Sinn haben kann. Auch die Engel, als Mittelwesen Vgl. Schelling 1802f, 16 f. / SW V, 118; Schelling 1803a, 183 f., 200 f. / SW V, 294, 301; SW V, 440, 447. – Die mythologische und damit historische Beziehung des Christentums ist durch den Protestantismus zerstört worden. In diesem zieht das Christentum seine letzte Konsequenz, indem alle endlichen Formen zerstört werden: »Aber wie alles Endliche im Christenthum in das Unendliche verschwimmt, so mußte auch die Katholische Kirche sich selbst aus sich selbst ihren Zerstörer den Protestantismus gebähren, mit deßen Daseyn sie als Katholische aufgehoben ist. Im Protestantismus erlischt das Christenthum selbst, indem es in ihm seinen historischen Character verliert« (nach Henry Crabb Robinsons Nachschrift der Philosophie der Kunst, wiedergegeben in Behler 1976, 178). Vgl. Behler 1993, 292–295. 246 Zur Bedeutung solcher ›symbolischer Praktiken‹, vgl. Whistler 2013, 216–221. 245

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

zwischen Gott und Menschen, eignen sich, weil keine historische Gestalten, nicht zum Stoff einer Mythologie. Die Suche nach einem möglichen christlichen mythologischen Stoff gelangt erst dort an ihr Ziel, wo das Wunder erwähnt wird (vgl. SW V, 429 f.): »Das Wunderbare in der historischen Beziehung ist nun der einzige mythologische Stoff des Christenthums« (SW V, 439). Nur das Wunder erfüllt die Anforderung, ›mitten in der Zeit über alle Zeit‹ zu sein und dadurch einen Einschlag des Unendlichen in der Zeit darzustellen. Aus diesem Grund hat man das Leben Christi so zu erzählen versucht, dass es ein Wunder darstellt. Auch die Heiligen oder Propheten bieten als historische Figuren einen solchen Stoff dar, da sie ihren historischen Kontext zugleich überragen und eine von diesem unabhängige Bedeutung haben (vgl. SW V, 436). Sie können somit als die großen Gestalten angesehen werden, die die Einheit des Endlichen und Unendlichen darstellen, insofern diese in ihnen realisiert ist. Die christliche Ansicht der Geschichte enthält demnach das Leben Christi, die Heiligenlegenden sowie eine Kosmologie, »eine mythologische Erklärung der concreten Welt, der Mischung des unendlichen und endlichen Princips in den sinnlichen Dingen« (SW V, 437). Der Abfall Lucifers ist »eine wirklich mythologische Ansicht der Geschichte der Welt« (SW V, 437). 247 Als Mysterien bezeichnet Schelling jedoch nicht lediglich eine bestimmte Institution, sondern auch und vor allem die Lehren, die dort gelehrt werden. Diese scheinen dort, wo von den ›spätern Zeiten‹, da die Mysterien ›öffentlich gemacht wurden‹, die Rede ist, auch in erster Linie gemeint. Sie umfassen die Lehre vom Absoluten, von der ewigen Geburt der Dinge, eine praktische Lehre und die Lehre von der Unsterblichkeit. 248 Durch die Einrichtung der Mysterien waren sie vom Volksglauben strengstens getrennt und erst durch eine allmähliche, stufenweise Einweihung erlernbar. Durch die Aufhebung der stufenweisen Einweihung vermischen jene Lehren sich mit Vorstellungen aus dem Volksglauben, wodurch sie »ihre Natur völlig An dieser Stelle wird der Abfall als ein Mythologem oder als Sündenfall betrachtet. An anderer Stelle gibt Schelling jedoch zu verstehen, dass diese Erklärung nichts erklärt: »Nun scheint die Solicitation zum Bösen selbst nur von einem bösen Grundwesen herkommen zu können«, und: »Wir können aber auch nicht etwa einen geschaffenen Geist voraussetzen, der, selbst abgefallen, den Menschen zum Abfall solizitirte, denn eben wie zuerst das Böse in einer Kreatur entsprungen, ist hier die Frage« (Schelling 1809a, 452, 453 / SW VII, 374, 375). 248 Schelling 1804, 3 / SW VI, 17. 247

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5. Kapitel. Politik und Religion

umwandelten«. 249 Auf diese Bekanntmachung der Lehren der Mysterien ist das spannungsvolle Verhältnis von Philosophie und Religion zurückzuführen. Wenn Schelling schließlich auf die Bestimmung der Aufgabe der Theologie als Einzelwissenschaft zu sprechen kommt, sind seine Behauptungen nicht weniger kühn. Sie können auf drei Thesen zurückgeführt werden. Zunächst soll die Theologie Wissenschaft sein und keinen moralischen Zwecken unterworfen werden (Theologie ohne Moral). 250 Zweitens plädiert Schelling für ein kritisches und philologisches Studium der Bibel ohne Einmischung der Theologie (Bibel ohne Theologie). 251 In der Bibel ist kein Wissen von Gott zu suchen. Damit spricht Schelling der Bibel den Rang einer Offenbarung ab: Die Idee des Christentums ist »nicht in diesen Büchern zu suchen«, die somit keinen Glauben verlangen, sondern nur Stoff philologischer Erforschung bilden. 252 Dadurch führt Schelling lediglich die damalige Richtung des Bibelstudiums zu ihrer letzten Konsequenz: Die ganze Theologie ist in Philologie zu verwandeln (vgl. bereits Plitt I, 39–49). Eine solche »gänzlich profane Scienz« kann allerdings nicht länger das »Fundament der Theologie« abgeben. 253 Umgekehrt ist drittens die Theologie vom Bibelstudium zu trennen (Theologie ohne Bibel): Die Lehre oder Idee des Christentums ist nicht in den heiligen Büchern zu suchen, da diese erst später in diese hineingelegt worden ist. 254 Sonst »wurde« »der Glaube an seine Göttlichkeit [sc. die des Christentums, R. S.] auf empirisch-historische Argumente gebaut«: »Die Göttlichkeit des Christenthums kann schlechterdings auf keine mittelbare Weise, sondern nur eine unmittelbare und im Zusammenhang mit der absoluten [d. h. spekulativen, philosophischen, R. S.] Ansicht der Geschichte erkannt werden«. 255 »Die historische Construction des Christenthums kann wegen dieser Universalität seiner Idee nicht ohne die religiöse Construction der ganzen Geschichte gedacht werden«. 256 In dieser Konstruktion ist aber das Heidentum mit einbegriffen. »Eine solche Construction ist schon an sich selbst nur 249 250 251 252 253 254 255 256

Schelling 1804, 2 / SW VI, 17. Vgl. Schelling 1803a, 204 / SW V, 303. Vgl. Schelling 1803a, 205 f. / SW V, 303 f. Schelling 1803a, 197 / SW V, 300. Schelling 1803a, 202 / SW V, 302. Schelling 1803a, 197 f. / SW V, 300. Schelling 1803a, 202, 205 / SW V, 302, 303. Schelling 1803a, 195 / SW V, 299.

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Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

der höhern Erkenntnißart«, d. h. der Philosophie, »möglich, welche sich über die empirische Verkettung der Dinge erhebt«. 257 Die Theologie kann nur so zu einer Wissenschaft werden, dass sie sich auf die Philosophie gründet, auf eine Lehre »von dem göttlichen Wesen«, von »der Natur als dem Werkzeug« dieses Wesens und von »der Geschichte als der Offenbarung Gottes«, auf die Lehren somit, die Schelling in Philosophie und Religion für die Philosophie vindiziert hatte. 258

257 258

Schelling 1803a, 195 / SW V, 299. Schelling 1803a, 196 / SW V, 299; vgl. Schelling 1804, 3, 7 / SW VI, 17, 20.

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Nachwort

»Philosophie und Religion« hat uns als Leitfaden bei der Darstellung von Schellings Politischer Philosophie gedient. Da im Laufe dieser Darstellung dennoch nur selten ausdrücklich von Politischer Philosophie die Rede zu sein schien, dürfte es nicht überflüssig sein, am Ende dieser Arbeit noch einmal auf diesen Begriff zurückzukommen, damit dem Leser vielleicht im Rückblick deutlicher wird, inwiefern dieser den eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung ausmacht. An die Ergebnisse des fünften Kapitels anknüpfend können wir sagen, dass Schellings Überlegungen zu den politischen Dingen auf das Argument hinausliefen, dass eine politische Theorie sich insofern erübrigt, als der Staat als Zwangsinstitution keiner philosophischen Rechtfertigung fähig ist. Die philosophische Behandlung des Politischen nimmt zwangsläufig die Gestalt einer Kritik des empirischen Staates an. Das politische Problem ließe sich dann nicht mit politischen Mitteln, sondern nur durch die Religion lösen. Wenn der Zusammenbruch der Naturrechtslehre auch in die Idee einer Neuen Mythologie mündete, der Schelling die Aufgabe zuwies, ein hierarchisch geordnetes Ganzes so zu begründen, dass die natürliche Ungleichheit zwischen Freien und Nicht-Freien ihre angemessene Entsprechung in einer politischen Ordnung findet, so ist doch leicht festzustellen, dass die Durchführung einer solchen Neuen Mythologie bei Schelling ebenso fehlt wie die einer politischen Theorie. Was wie ein Versäumnis und damit wie ein weiteres Indiz eines Scheiterns aussieht, dürfte durch die Einsicht getragen sein, dass Mythologie als naturwüchsiges Erzeugnis des menschlichen Bewusstseins sich nicht ›machen‹ lässt und das Programm einer Neuen Mythologie somit nach dem Einbruch der Offenbarungsreligion oder nachdem die Mysterien öffentlich gemacht wurden, undurchführbar ist. Dann würde der Begriff einer Neuen Mythologie nicht so sehr ein politisches Programm bezeichnen, an dessen Ausführung Schelling gescheitert wäre, sondern eher schon auf eine Aporie deuten, die dem Politischen innewohnt 429 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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und an welche jeder Versuch, das politische Problem zu lösen, letztlich scheitern muss. ›Neue Mythologie‹ wäre damit nicht die Bezeichnung einer Lösung, sondern eines Problems. Statt eines neuen ›Mythos‹ findet sich bei Schelling in der Tat nur eine neue Mythologie als eine neue Wissenschaft des Mythischen. Die Gründung einer Neuen Mythologie hat nämlich lediglich im Denken in der Gestalt einer Philosophie der Mythologie zu erfolgen, in der Absicht nicht einer Lösung des politischen Problems, sondern einer Auslotung im Denken der Bedingungen, unter welchen es sich lösen ließe, und damit einer gedanklichen Durchdringung der politischen als Alternative zur philosophischen Lebensweise. Was Schellings politisches Handeln betrifft, so bestand dieses vor allem darin, für solche Instanzen einzutreten, die innerhalb des Gemeinwesens auf die Grenzen der Politik aufmerksam machen. Das vermeintliche Fehlen einer politischen Theorie bei Schelling beruht somit auf einem Argument. Insofern dieses mit einem hartnäckigen modernen Vorurteil bricht, hat dieses Fehlen besonderen Anstoß erregt und Schelling politische Verdächtigungen eingetragen. Unser Gang durch Schellings Denken fing mit der Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Glauben oder zwischen Philosophie und Nichtphilosophie an. Diese kreiste um die Bestimmung der Idee des Absoluten und insbesondere um die Frage, inwiefern eine Unterscheidung von Gott und Absolutem tragfähig sei. In dieser ganzen Auseinandersetzung setzt Schelling durchgängig voraus, dass sein Gegner ihm eine einzige Prämisse zugibt, die jedoch niemals ausgesprochen wird, nämlich dass Gott Vernunft zuzuschreiben sei. Die Vernunft ist das tertium comparationis zwischen Gott und Mensch. Wer diese Prämisse zugibt, so Schellings Behauptung, der ist, falls er konsequent denkt, dazu genötigt, auch alles das, was er aus ihr ableitet, zuzugeben. Dabei verfolgt er die Absicht, seinen Gegner zu dem Punkt zu führen, wo dieser genötigt ist, entweder diese Prämisse und damit alle ihre Konsequenzen zu unterschreiben, oder aber einzugestehen, dass seine eigene Position auf nichts als Glauben beruht und einer rationalen Rechtfertigung somit auf keinerlei Weise fähig ist. Deshalb kreist die Auseinandersetzung um die Frage, ob Gott als transzendent zu denken ist, sodass er alle Bemühungen um rationale Einsicht übersteigt, oder ob ein der Vernunft zugänglicher Begriff von Gott möglich ist. Die zentrale Rolle, die die Idee des Absoluten bei Schelling erhält, ist somit so wenig das Charakteristikum eines bestimmten Stils des Philosophierens, als dass sie nach Schellings Be430 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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hauptung den eigentlichen und einzigen Gegenstand des Philosophierens ausmacht. So viel geht jedenfalls aus seiner Auseinandersetzung mit Fichte hervor, dass noch dessen Begriff des Ich sich auf der Annahme eines bestimmten – und, nach Schellings Behauptung, einer rationalen Prüfung nicht standhaltenden – Begriffs des Absoluten aufbaut. Diesen Gedanken wird Schelling erst viel später prägnant so formulieren, dass der Mensch natura sua das Gott-Setzende Wesen ist (vgl. SW XI, 185, 198). Es hängt somit nicht vom Belieben oder von einer Vorliebe ab, ob man diese Idee zum Gegenstand der philosophischen Klärung macht, sondern sie ist der eigentliche Locus der Selbstverständigung des Philosophen. Wenn diese Idee auch der eigentliche Anfang des Philosophierens ist, so ist damit doch nicht gesagt, dass man unmittelbar mit ihr anfangen kann, ohne vorherige Arbeit am Begriff: Die Freilegung dieser Idee als des eigentlichen, primordialen Gegenstands der menschlichen Vernunft verlangt eine besonders zu erbringende Leistung. Ohne diese gelangt sie nicht zur Darstellung. Wenn Schelling auf den Begriff der ›Darstellung‹ zurückgreift, dann in der Tat auch, um auf diese besondere Leistung aufmerksam zu machen. Das Denken oder die begriffliche Arbeit ist eine Tätigkeit, wenn nicht sogar eine Handlung eigener Qualität. Aus diesem Grund bedarf es bei Schelling keiner ausdrücklichen oder direkten Ausführungen zur Ethik, da alles, was zur Tugend gehört insofern in der Darstellung eingesenkt ist, als der Nachvollzug seiner Denkbewegung selbst über alle Sittlichkeit hinausgeht, insofern diese an Gesetze und Konventionen gebunden ist. Auch insofern ist Schellings Philosophie ›Naturphilosophie‹. 1 Wenn Schelling denn auch ausschließlich theoretische Fragen zu behandeln und sich für praktische Philosophie kaum zu interessieren scheint, dann weil die theoretische Einstellung eine Haltung beinhaltet, die eine grundlegende Umwandlung der gewöhnlichen, am Handeln interessierten, in der Welt aufgehenden Haltung einleitet. Insofern braucht Schelling auch nicht direkt über Gegenstände der praktischen Philosophie zu reflektieren. Wenn er dies denn doch tut, dann beschränkt er sich dabei meistens darauf, zu zeigen, wie jene nicht eigens thematisierte theoretische Haltung sich von der gewöhnlichen unterscheidet bzw. wie die für diese leitenden Begriffe (Gut und Böse, Gesetz usw.) keine Gültigkeit haben, ohne dass eine solche Haltung dadurch ›unmoralisch‹ ist. Erst in diesem Zusammenhang dürfte auch ersichtlich wer1

Vgl. Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357.

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Nachwort

den, weshalb Schelling betont, dass der höchste sittliche Zustand über dem Gesetz steht, ihn dementsprechend als ›Liebe‹ und damit die ›Persönlichkeit‹ als das Höchste, deshalb jedoch auch Außer-Gewöhnlichste bestimmt, das nicht mit Individualität zu verwechseln ist. Wir haben gesehen, wie Schelling mit Philosophie und Religion und mit den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit eine doppelte Darstellung des ideellen Teils der Philosophie vorlegt. Keiner der beiden ist vollständig, sondern jede derselben blendet entscheidende Theoriestücke aus oder erkennt ihnen nur eine marginale Rolle zu, sodass beide Darstellungen zusammengelesen werden müssen, um Schellings eigentliche Intention zu entdecken, die unzugänglich bleibt, solange man zwischen beiden Schriften einen Gegensatz annimmt. Wie dem auch sei, Schelling macht in beiden Fällen unmissverständlich klar, dass die eigentliche Absicht beider Darstellungen in einer Verteidigung der Philosophie gegen ihre radikalste Alternative besteht, nämlich gegen eine solche, die die Philosophie schlechthin wertlos machen würde. Diese Absicht geht klar genug aus der Einleitung von Philosophie und Religion hervor. Schelling wiederholt sie auf den ersten Seiten der Freiheitsschrift, indem er das Interesse der Auseinandersetzung mit dem Pantheismus darin sieht, dass die Alternative die Philosophie dann wertlos machen würde, wenn die Gleichsetzung von Philosophie und System Gültigkeit hätte. Die zweideutige Verwendungsweise von Ausdrücken, die jener Alternative entnommen sind, wie die Dunkelheit der Darstellung sollen dazu beitragen, den Rechtfertigungsdruck auf beide Seiten zu erhöhen. Man kann nicht sagen, dass die Philosophischen Untersuchungen in dieser Hinsicht besonders erfolgreich gewesen sind, da man diese Frage bislang kaum wahrgenommen zu haben scheint. Dies scheint darauf zurückzuführen, dass die Auseinandersetzung mit Schelling in einem historischen Augenblick stattfindet, da die historische Erledigung des Christentums unumkehrbar scheint und es somit dem Belieben des Lesers überlassen scheint, die ›religiösen‹ Assoziationsfelder seiner Begrifflichkeit auszublenden oder aber bei ihm eine Bestätigung für die eigene christliche ›Weltanschauung‹ zu suchen. Die Beschäftigung mit Schelling scheint mehr durch ein Verlangen nach Klarheit über die eigene Weltanschauung als durch die Einsicht in die Notwendigkeit einer rationalen Rechtfertigung der Philosophie als Lebensweise bewegt zu sein. Im ersteren Fall allerdings kommt dem rationalen Argument höchstens sekundäre Bedeutung zu, als Unterstützung eines Glau432 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Nachwort

bens, der selbst nicht in Frage gestellt wird, da er nur einer Klärung, nicht aber einer Begründung fähig wäre. Gerade eine solche Haltung ist es aber, die Schelling unter Druck setzen möchte, damit sich vielleicht ein Übergang von der Nicht- oder Unphilosophie zur Philosophie vollziehe. Wie dem auch sei, wenn Schelling seinen Ausgangspunkt von einer in der Natur des Menschen gründenden Idee des Absoluten nimmt, dann ist damit nicht behauptet, dass der Philosoph über ein absolutes Wissen verfügte, das ihn von allen Nicht-Philosophen unterscheidet, sondern dass im natürlichen Bewusstsein eine Annahme enthalten ist, die, konsequent durchdacht, allerdings zur Annahme der Möglichkeit eines absoluten Wissens führt. Die vage oder nichtentwickelte Idee des Absoluten ist indessen der Berührungspunkt zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen. Dieselbe lässt nur zwei Möglichkeiten offen: entweder die Annahme der Möglichkeit eines absoluten Wissens oder den radikalen Skeptizismus. Die erste Möglichkeit ist dialektisch durch den Nachweis zu bewähren, dass die zweite sich nicht zu einer konsistenten philosophischen Position ausbauen lässt und, falls sie konsequent sein will, nur zum Glauben übergehen kann. Deshalb führt ein Weg von Schellings Lehre von der Idee des Absoluten als philosophischer Theologie zur Auseinandersetzung mit der Religion als nicht-philosophischer Entfaltung jener Idee und zum Versuch darüber, inwiefern die Religion als Mythologie und als Offenbarungsreligion eine konsistente Ausgestaltung gestattet. Umgekehrt muss aber auch der Weg, von der ›Politik‹ zur Mythologie über deren Transformation in eine Offenbarungsreligion, letztlich wieder in die Aufgabe einer philosophischen Theologie münden.

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GuW

GeschPh I/II/III

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Namensregister

Albert, K. 381, 383 Allwohn, A. 419 Aristoteles 141 Audié, F. 121 Bahr, P. 33 Bardili, C. G. 46, 48, 66 Barth, B. 44 Beckers, H. 308, 319, 322 f. Behler, E. 424 Berg, F. 5 f. van Bladel, L. 15, 119, 166, 168 Blanchard, G. 18, 151, 178, 186 Brouwer, C. 168, 255, 293, 331, 333 Brown, R. F. 262 Bruno, G. 46, 52 Buchheim, T. 15, 18, 26, 34, 118 f., 127, 149, 178 f., 193, 209, 280 Burgh, A. 53 Canetti, E. 368 Ceres 373 Cesa, C. 9, 44, 337, 353, 362 f. Cicero, M. T. 36, 372 Clara 49, 391 Cotta, J. F. 19 von Dalberg, C. T. 392, 397 Danz, C. 35, 335, 401, 416 Davidson, D. 171 De Dijn, H. 155 Deleuze, G. 46, 48, 180, 198 Demeter 307 Dilthey, W. 308 f. Dionysios von Syrakus 142, 144 f. van Dülmen, R. 389 f., 393, 397–399

Ehrhardt, W. E. 328 Eschenmayer, C. A. 2–5, 7, 11–14, 16, 21 f., 35 f., 56 f., 63–67, 73, 80–104, 107–109, 117, 127, 131–138, 140– 145, 151–155, 159, 161, 167 f., 189, 191, 212–217, 219–240, 242 f., 245– 249, 251, 258, 281, 285, 288, 306– 309, 312–315, 317–320, 327, 335, 339, 394 f., 400–409, 420 Fichte, J. G. 3, 8, 20, 26, 33, 44–46, 48 f., 51, 55 f., 66, 72, 82, 89, 99 f., 119, 122, 125, 132, 135 f., 140, 153, 166, 171, 183–185, 187, 189, 204, 206 f., 215, 222 f., 234, 259 f., 340, 351, 355 f., 361 f., 383, 385, 402, 431 Fischbach, F. 109 Fischer, K. 386 Florig, O. 2, 18, 200, 209, 217, 225, 229, 232, 262 Frank, M. 384, 388 Franz, M. 13, 16, 367 Fuhrmans, H. 3 f., 7, 13, 15 f., 19, 20, 66, 81 f., 84, 87 f., 94 f., 101, 108, 167, 169, 181, 217 f., 220, 230 f., 234, 246, 356, 372, 386 f., 392, 395– 399, 402, 408 f. Gabriel, M. 353, 363 Gasché, R. 33 von Georgii, E. F. 317 Gibbon, E. 304 Gilson, B. 363 Goethe, J. W. 43 Graf, F. W. 394

449 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Namensregister Grau, A. 308, 390 Guattari, F. 46, 49 Gueroult, M. 159 Habermas, J. 9, 38 f., 84, 100, 235, 337, 341, 353, 360, 362 Hammermayer, L. 392, 397 f. Hartkopf, W. 2, 196 Harward, J. 141 Hay, K. 91 Hegel, G. W. F. 1, 38, 72, 79, 96, 104 f., 293, 362, 388, 403 Heidegger, M. 166, 211, 265, 293 Hermanni, F. 254–256, 262, 265, 272, 276 Heuer, F. 28 Hinske, N. 60 Hobbes, T. 291 Höffe, O. 293 Hösle, V. 29 f., 37 f. Hofmann, M. 340, 343, 350, 353, 365, 386, 388 Hogrebe, W. 149, 301 Hollerbach, A. 340 f., 348, 350, 353, 362, 366, 370 Holz, H. 147, 151, 168 Homer 36, 296 Horatius Flaccus, Q. 35, 74 Horn, F. 306 Hühn, L. 207, 366 Jacobi, F. H. 8, 44 f., 52, 56 f., 76, 82, 102 f., 141, 155, 233 f., 306, 356, 385 Jacobs, W. G. 162, 294, 335, 386 Jäger, G. 351, 353, 379, 386 Jähnig, D. 31, 43, 127, 191, 361, 365 f., 368 f., 384 Jantzen, J. 2, 103 Jaspers, K. 5, 38, 81, 84 f., 99 f., 102, 111, 118–120, 133, 137, 167, 225, 235, 405 Jesus von Nazareth 168, 302, 304, 417–419 Johannes 335 Jürgens, S. 18, 153 Junkelmann, M. 387, 389

Kant, I. 3, 26, 32 f., 45, 60, 72, 89–91, 100, 105, 112, 119 f., 136, 141, 176, 189, 206 f., 214, 221, 223, 258, 272– 276, 280 f., 340, 361, 390 Kauttlis, I. 102, 404, 406 Kerényi, K. 369, 372 f. Kierkegaard, S. 5, 167 Klenner, H. 341 Knatz, L. 386 Koller, H. 28 Korsch, D. 18, 107, 125, 144 Kunz, H. 49 Leibniz, G. W. 15, 45, 46, 226, 258, 260, 275 Leinkauf, T. 206–208 Lessing, G. E. 45, 58, 60 Lévy, P. 119 Marks, R. 2 f. Marquet, J.-F. 47, 52, 121, 294, 390 Meier, H. 54, 77, 362 Menninghaus, W. 28 Michelet, C. L. 35, 307 f. Mokrosch, R. 168, 255 Montesquieu, C. S. 303 Montgelas, M. J. von 387, 397 Mülder-Bach, I. 28 Müller-Bergen, A.-L. 77, 304 Müller-Lüneschloß, V. 360 Oberg, E. 62 Pareyson, L. 49, 386–389 Paulus 334, 335 Paulus, H. E. G. 81, 394 f. Petri, M. 292, 304 Phaedrus 61 f. Pieper, A. 293 Platon 13, 36, 41, 60, 141–143, 145, 161, 163, 169, 171, 189, 286, 305, 307, 309, 319, 323, 333, 337, 342 Plessner, H. 187 Plutarch 76 f. Rall, H. 386 Rang, B. 272

450 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Namensregister Reinhold, K. L. 9, 23, 46, 48, 59, 66, 118 f., 206, 216, 256, 397 Rivelaygue, J. 343, 345, 352 f., 356, 366 Roehr, S. 397 Rousseau, J.-J. 35, 54, 77, 291, 304, 379 Rückert, J. 138, 216, 232, 282 Rüttenauer, A. 335 Sandkühler, H.-J. 166, 341, 353, 363, 366, 398 Schalow, F. 308 Schelling, K. F. A. 341, 356 Schlegel, A. W. 35, 50 Schlegel, F. 36, 44 f., 56, 143, 161, 258 f., 332, 400 Schleiermacher, F. D. E. 408, 418 Schlosser, J. G. 141 Schmidt, A. 256 Schönwitz, U. 394 Schopenhauer, A. 207 Schraven, M. 353, 386, 388 Schröder, W. M. 341, 351 f. Schuffenhauer, H. 410 Schuffenhauer, W. 410 Schuffenhauer, D. 410 Schurr, A. 153 Schwab, J. B. 386, 389, 391 Schwaiger, G. 389, 392 Shibuya, R. 209, 382 f. Shikaya, T. 176, 188 Siep, L. 314 Sokrates 319 Souilhé, J. 141 Spinoza, B. 13, 36, 45, 53, 108, 121, 155, 159, 247, 291, 318, 333 f. Stahl, E. L. 28 Steinhart, K. 141 Stolzenberg, J. 33, 256 Strauss, L. 362

Sziborsky, L. 365, 369, 378, 383, 386 Tennemann, W. G. 141 Theunissen, M. 167, 174, 188 Thürheim, F. K. Graf v. 387, 398 Tiedemann, D. 141 Tilliette, X. 2, 5, 8, 16, 18, 44, 52, 113, 145, 166, 169, 182, 185, 386, 399 Todorov, T. 43 Tomberg, M. 44 Unger, F. 19 Vergauwen, G. 169 Vergilius Maro, P. 74 Vergote, A. 373 Vetö, M. 71, 217 Volkmann-Schluck, K.-H. 402, 416 Wagner, J. J. 5 f., 235 Walch, J. G. 183 Weis, E. 387, 397 Weiß, C. 216, 232, 282 Whistler, D. 42 f., 134, 424 Whitehead, A. N. 374, 401, 406, 414 Wieland, W. 22, 25, 31, 34, 90, 130, 136, 178, 206, 286, 318 Wild, C. 386 Widerporsten, H. 49 Windischmann, K. J. H. 13, 19, 141, 169, 181, 243, 339, 372, 387, 391 f., 396–398 Wolff, M. 273, 275 Wuttke, W. 2, 88 Xenophon 11 van Zantwijk, T. 118, 318 Zeltner, H. 318, 348, 350 Ziche, P. 35

451 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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Sachregister

Abfall 5, 139 f., 144, 160, 161, 165– 172, 176–186, 192, 195, 199, 202– 204, 209, 212–214, 248 f., 251–257, 259–261, 288, 293, 297 f., 320–325, 327, 331, 335, 376, 420 f., 425 Absolutheit, derivierte 157, 167, 174 Ahnung 73, 97, 98, 101, 104, 132, 136, 243, 285, 404, 408 Anschauung, intellektuelle 12, 32 f., 79–81, 92–101, 111, 114, 116 f., 121, 124–128, 131 f., 147 f., 231 f., 375 Böses 6, 15, 60, 143, 148, 158, 161 f., 166–168, 189, 198, 203, 205, 210– 214, 226, 237, 242, 247, 252–255, 257–281, 285, 293, 299 f., 302–308, 324, 328–332, 335, 425, 431 Darstellung 2 f., 9, 11, 15 f., 18–20, 22 f., 27–29, 31–33, 37, 41–44, 51, 55, 61, 67, 77, 80, 120–123, 125, 127 f., 141, 156– 159, 169 f., 173, 175–177, 179, 181, 184, 190–194, 197, 202, 208, 213, 215, 217, 220, 252, 254, 264, 282, 321, 328, 369, 374, 407, 419, 431 f. Emanation, Entfernung 160–162, 165, 182 f., 198, 203 Endlichkeit 15, 139 f., 143 f., 160–162, 172, 177, 185–187, 192, 197, 202, 205, 212, 226, 251–253, 258–260, 262 f., 265, 317, 321, 323, 335, 342 f.

Erziehung 25, 66–71, 74, 238, 289– 292, 321, 367, 375, 382 Figuren, konzeptuelle 36, 39, 44, 46, 48 f., 51, 53, 66 Freiheit 6 f., 55, 62, 83, 101, 137, 157 f., 163, 174, 177 f., 187, 189, 194, 204–208, 211–214, 217, 219, 222, 226, 228, 238, 241, 249, 250– 253, 255 f., 262, 276, 278, 282–288, 293, 296 f., 318, 324, 330, 335 f., 341, 352 f., 359, 365 f., 368 Gefühl 136, 204, 208, 243, 280, 314 f., 317–319, 403 f., 406 Gegend 46–49, 51 f., 54 Geschichte 75, 214, 218–221, 261, 271, 283, 292–300, 303, 306 f., 320, 322 f., 325 f., 331, 366 f., 411–413, 420, 426 Glaube 3–5, 9 f., 56, 73, 80 f., 83, 85– 88, 91, 95 f., 98, 101–104, 109, 117, 132–134, 136, 138, 167, 221, 223 f., 227, 230–233, 235 f., 239–243, 247, 314 f., 338, 389, 396, 400–406, 410, 425 f., 430, 433 Gott 80, 83 f., 90, 94, 99–105, 108 f., 117 f., 131, 133 f., 136–138, 157 f., 162, 167, 177, 179, 188, 203, 209 f., 219, 223, 230, 235–237, 240 f., 253 f., 259 f., 268–270, 277 f., 285, 287 f., 293, 300–305, 320, 322–336, 364, 374, 401, 403, 405, 407, 417, 421, 426, 430 Größe, negative 214, 258, 272–274, 280

453 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

Sachregister Grund 71, 148, 155 f., 197, 248, 251, 278, 300 f., 305, 324 f., 328, 330–332

Politische Philosophie 4, 8–10, 61, 77, 337, 340, 361 f., 385 f., 429 f.

Identität 92–94, 96, 112, 114, 116, 119, 128–131, 136, 146, 152–154, 164, 190, 192, 198, 225–231, 244, 282, 284, 286 f., 293, 296 f., 320, 326, 335, 343 f., 363 Identitätsphilosophie 5 f., 8 f.

Seele 75, 89, 94–96, 140, 177, 188– 191, 193, 198–201, 240, 242, 247, 249 f., 254, 282–287, 310–317, 320, 322 f. Sehnsucht 135 f., 241 Symbol 12, 37, 38, 41–45, 51, 54–57, 62, 65 f., 74 f., 133 f., 137, 232, 369, 373 f., 405–408, 419 f., 424

Mysterien 12, 39, 52 f., 67–76, 245, 307, 334, 338 f., 369–376, 384, 390, 395–397, 400, 413 f., 416, 419, 422 f., 425 f., 429 Mythologie 39, 365–370, 372, 393 f., 396, 400, 413 f., 416, 423–425, 429 f., 433 Naturphilosophie 8–10, 22, 49, 52 f., 60 f., 171, 190 f., 195, 202, 205, 213, 215–217, 237, 252, 257, 310, 324, 335, 337, 340, 358, 383, 385, 402, 409, 431 Nichtphilosophie 81, 83–86, 102, 103, 137, 222–224, 228, 231, 400, 406 f. Offenbarung 133–136, 157, 166 f., 231, 241, 324–326, 328–330, 335, 405, 410–412, 415–417, 420 f., 426 f., 429, 433 Persönlichkeit 6, 148, 168, 188 f., 203, 207–209, 211 f., 252, 360, 381–383, 432

Theologie 84–86, 102, 133 f., 166– 168, 313, 339, 400, 404, 407–411, 413, 420, 426 f., 433 Tugend 83, 101, 137, 212, 215, 220– 224, 233 f., 236–241, 244 f., 255, 261, 271, 275, 288, 359, 402, 431 Unsterblichkeit 7, 83, 101, 137, 189, 214, 219, 222, 305, 307–309, 312– 320, 322 f., 326, 331, 333, 374, 421, 425 Vergangenheit 204, 207, 221 f., 261, 290 f., 293, 298 f., 304, 306 f., 316, 320 f., 323, 329, 331, 415 Wille 89, 140, 174, 176 f., 188–191, 193, 198, 224–230, 252 f., 255 f., 276, 286 f., 324 f., 331, 343–350, 352, 354, 362, 364 f., 377 Zukunft 221 f., 286, 293, 298 f., 304– 306, 313, 316, 320–323, 331

454 https://doi.org/10.5771/9783495813508 .

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