Gleiche Freiheit: Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit 9783050075334, 9783050033006


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Table of contents :
Vorwort
Erster Teil: Was ist die politische Philosophie?
1. Die Wiedergeburt der politischen Philosophie
Ein Blick zurück
Rawls
Habermas
2. Zur Begründbarkeit der politischen Philosophie
Zwang
Eine cartesische Politik?
Die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit
Protagoras oder Platon?
Gründe der Wahrheit, der Gewißheit und der Akzeptabilität
Falsifizierbarkeit normativer Theorien
Methodologische Vorteile der politischen Philosophie
Moralische Intuition und Gewissen
3. Zur Begründung von Moral und Recht
Der notwendige Universalismus der politischen Philosophie
Die Idee der gleichen Freiheit
Die Eigenart der neuzeitlichen Moralphilosophie
Motive für die Anerkennung der universalen Moral
Zur Begründung der universalen Moral
Die rationale Moralbegründung
Zur Begründung des Rechts
Liberalismus und Falsifikationismus
4. Schmitts Zwang
Freund und Feind
Schmitts Liberalismusverständnis
5. Alternativen zur politischen Philosophie?
Die Schwierigkeiten, gleiche Freiheit zu bestimmen
Historismus
Prozeduralismus
Zweiter Teil: Fünf Deutungen der gleichen Freiheit
1. Rawls’ Fairneßgerechtigkeit
Rawls’ gleiche Freiheit
Das Überlegungsgleichgewicht
Utilitarismuskritik
Der Schleier der Unwissenheit, der Urzustand und die Fairneßgerechtigkeit
Rawls’ allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz
Gesellschaft und Kooperation
Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze und ihre Rangordnung
Das Differenzprinzip
Die Begründung unabhängig von der Fairneßgerechtigkeit
2. Nozicks natürliche Freiheit
Warum nur unrechtliche Benachteiligungen kompensationspflichtig sind
Arbeit, Manna und seine Wertmessung
3. Steiners Gemeineigentum
Ein libertärer Sozialismus?
Naturgüterbesteuerung und Erbschaftssteuer
Die Steuer auf genetische Information
4. Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit
Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber Rawls
Das Marktmodell
Die Erweiterung des Modells
Kritik der Ressourcengleichheit
5. van Parijs’ Grundeinkommen
Das Ideal der maximalen Freiheit
Das Grundeinkommen
Wieviel gebührt den Benachteiligten?
Was gehört den Nichtarbeitenden?
Was ist Ausbeutung?
Ist der Kapitalismus ungerecht?
Was bleibt?
Dritter Teil: Was dürfen Individuen vom Staat fordern?
1. Wie universal können Verteilungsprinzipien sein?
Natürliche Freiheit, demokratische Gleichheit und liberale Gleichheit
Walzers komplexe Gleichheit
2. Nationale und internationale Verteilungsgerechtigkeit
Gemeineigentum in der liberalen Tradition
Konsequenzen für das Staatsverständnis
3. Die liberale Gleichheit
Der Grund der liberalen Gleichheit
Das Erziehungssystem
Das Versicherungssystem
Das Recht auf Arbeit
Krankheitsschutz
Mindesteinkommen
Demokratische Gleichheit
4. Zur Durchsetzbarkeit der gleichen Freiheit
Zur Aktualität der gleichen Freiheit
Marx’ Anpassungskonzeption
Webers stahlhartes Gehäuse
Kritik der Unentrinnbarkeitsthese
Heideggers Gestell
Wohin das Unverständnis für die Rolle der Ideen der Gerechtigkeit führt
Liberalismus und Perfektionismus
Worüber der Philosoph nur wenig sagen kann
Register
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Gleiche Freiheit: Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit
 9783050075334, 9783050033006

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Ulrich Steinvorth

Gleiche Freiheit Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit

Ulrich Steinvorth

Gleiche Freiheit Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Steinvorth, Ulrich: Gleiche Freiheit : politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit / Ulrich Steinvorth. - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-003300-2 ©Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. KeinTeil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Daten verarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Konzepta, Prenzlau Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Klaus Johne, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Dem Andenken von Gabriel Falkenberg

Inhalt

Vorwort

11

Erster Teil: Was ist die politische Philosophie?

15

1. Die Wiedergeburt der politischen Philosophie

15

Ein Blick zurück Rawls Habermas

2. Zur Begründbarkeit der politischen Philosophie Zwang Eine cartesische Politik? Die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit Protagoras oder Piaton? Gründe der Wahrheit, der Gewißheit und der Akzeptabilität Falsifizierbarkeit normativer Theorien Methodologische Vorteile der politischen Philosophie Moralische Intuition und Gewissen

3. Zur Begründung von Moral und Recht Der notwendige Universalismus der politischen Philosophie Die Idee der gleichen Freiheit Die Eigenart der neuzeitlichen Moralphilosophie Motive für die Anerkennung der universalen Moral Zur Begründung der universalen Moral Die rationale Moralbegründung Zur Begründung des Rechts Liberalismus und Falsifikationismus

15 17 17

20 20 21 22 23 25 28 34 36

38 38 40 43 48 52 56 59 62

8

Inhalt

4. Schmitts Zwang Freund und Feind Schmitts Liberalismusverständnis

5. Alternativen zur politischen Philosophie? Die Schwierigkeiten, gleiche Freiheit zu bestimmen Historismus Prozeduralismus

64 64 68

73 73 74 78

Zweiter Teil: Fünf Deutungen der gleichen Freiheit

83

1. Rawls' Fairneßgerechtigkeit

84

Rawls' gleiche Freiheit Das Überlegungsgleichgewicht Utilitarismuskritik Der Schleier der Unwissenheit, der Urzustand und die Fairneßgerechtigkeit Rawls' allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz Gesellschaft und Kooperation Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze und ihre Rangordnung Das Differenzprinzip Die Begründung unabhängig von der Fairneßgerechtigkeit

2. Nozicks natürliche Freiheit Warum nur unrechtliche Benachteiligungen kompensationspflichtig sind Arbeit, Manna und seine Wertmessung

3. Steiners Gemeineigentum Ein libertärer Sozialismus? Naturgüterbesteuerung und Erbschaftssteuer Die Steuer auf genetische Information

4. Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber Rawls Das Marktmodell Die Erweiterung des Modells Kritik der Ressourcengleichheit

84 85 88 91 93 96 100 106 110

114 115 120

123 125 130 134

138 138 140 144 152

5. van Parijs' Grundeinkommen

157

Das Ideal der maximalen Freiheit Das Grundeinkommen

159 161

Inhalt

9

Wieviel gebührt den Benachteiligten? Was gehört den Nichtarbeitenden? Was ist Ausbeutung? Ist der Kapitalismus ungerecht? Was bleibt?

163 166 172 176 181

Dritter Teil: Was dürfen Individuen vom Staat fordern?

183

1. Wie universal können Verteilungsprinzipien sein?

183

Natürliche Freiheit, demokratische Gleichheit und liberale Gleichheit Walzers komplexe Gleichheit

184 188

2. Nationale und internationale Verteilungsgerechtigkeit

199

Gemeineigentum in der liberalen Tradition Konsequenzen für das Staatsverständnis

199 207

3. Die liberale Gleichheit

216

Der Grund der liberalen Gleichheit Das Erziehungssystem Das Versicherungssystem Das Recht auf Arbeit Krankheitsschutz Mindesteinkommen Demokratische Gleichheit

217 220 223 224 231 234 235

4. Zur Durchsetzbarkeit der gleichen Freiheit Zur Aktualität der gleichen Freiheit Marx' Anpassungskonzeption Webers stahlhartes Gehäuse Kritik der Unentrinnbarkeitsthese Heideggers Gestell Wohin das Unverständnis für die Rolle der Ideen der Gerechtigkeit führt Liberalismus und Perfektionismus Worüber der Philosoph nur wenig sagen kann

Register

240

·

240 245 251 258 263 267 275 283

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Vorwort

Es gibt eine Praxis und eine Theorie der Politik. Auf der einen Seite kämpfen Menschen um Macht und Reichtum und bringen einander um, auf der andern Seite sagen Menschen, was dabei erlaubt und verboten ist. Die Praktiker haben schnell gelernt, ihre eigenen Worte denen der Theoretiker anzupassen und mit ihnen ihre Handlungen zu rechtfertigen. Es hat lange gedauert, bis die Theoretiker aufhörten, den Praktikern das Werkzeug ihrer Legitimation zu liefern. Hundert Jahre lang, in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts, war die politische Philosophie tot. Aber nun hat sie wieder angefangen zu erklären, was man darf und was nicht. Sie behauptet wieder, allen Menschen allgemeinverbindlich zeigen zu können, was Recht und Unrecht und welche Gewalt legitim und welche illegitim ist. Es sind nicht mehr nur klassen- oder parteigebundene Autoren, die sagen, was sein soll. Es sind Philosophen, die für alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen, biologischen oder religiösen Herkunft und für die Regierenden aller Gesellschaften festlegen zu können beanspruchen, was sie tun sollen. Kann es eine größere Unvernunft der Vernunft geben? Es gibt eine: auf das Geschäft der politischen Philosophie zu verzichten. Man kann vieles tun, um den Mißbrauch menschlicher Macht zu begrenzen, aber man kann nicht darauf verzichten, allgemeinverbindlich zu sagen, welcher Machtgebrauch Mißbrauch ist. Es gibt viele gute Gründe, die politischen Philosophen zu kritisieren, aber keinen, ihre Aufgabe zu verwerfen. Tatsächlich schwiegen sie hundert Jahre, nicht weil sie den Praktikern keine Parolen mehr liefern wollten, sondern weil sie Allgemeinverbindlichkeitsansprüche nur noch den deskriptiven Theorien der Wissenschaften zutrauten, nicht ihren normativen Theorien. Das Jahrhundert ihres Schweigens war zugleich das Jahrhundert der größten politischen und moralischen Katastrophen. Gewiß nicht nur deshalb, weil sie schwiegen. Aber geholfen hat ihr Verstummen nicht. Dies Buch will die heutige politische Philosophie und ihre Möglichkeiten, die ausgeschöpften und unausgeschöpften, vorstellen. Das Jahrhundert ihrer Dämmerung ist ihr nicht gut bekommen. Auf der einen Seite steht sie vor Problemen, die nach einer Regelung durch allgemeinverbindliche Normen geradezu schreien: den Problemen knapper natürlicher Ressourcen, zunehmender Arbeitslosigkeit, der Umweltbelastung, der Globalisierung, Bevölkerungsexplosionen gerade in den ärmsten Ländern der Welt. Auf der andern Seite weiß sie nicht, wie sie diese Probleme allgemeinverbindlich lösen kann. Sie ist unsicher in ihren Möglichkeiten und gelähmt vom Anblick der Erfolge der Naturwissenschaften. Diese und nicht die politische Philosophie prägen das Denken und Handeln. Zwar weiß jeder, daß keine

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Vorwort

deskriptive Theorie etwas darüber sagt, was wir tun sollen. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse legen die Anerkennung bestimmter Normen nahe. Wenn der Mensch ein Produkt der Evolution der Natur ist, kann man sich kaum der Folgerung entziehen, daß er sich als ein solches Produkt verhalten solle. Solche Folgerungen lassen nur leicht übersehen, wie wenig sie sagen und wie leicht sie sich mit beliebigen Inhalten füllen lassen. Daß die Menschen von Affen abstammen, sagt weder, daß sie sich wie Affen noch wie sie sich als Affenabkömmlinge verhalten sollen. Die Naturwissenschaften können weder dem Handelnden noch dem Ethiker, weder dem Politiker noch dem politischen Philosophen zeigen, was sie tun sollen. Sie können dem Theoretiker aber zeigen, worauf er normative Allgemeinverbindlichkeitsansprüche stützen kann. Auch die deskriptiven Theoretiker brauchten zwei Jahrtausende, um zu erkennen, daß sie ihren Allgemeinverbindlichkeitsanspruch auf Wahrheit im öffentlichen, jedermann zugänglichen Erfolg ihrer Voraussagen ausweisen mußten. Vielleicht brauchen die normativen Theoretiker nur ein halbes Jahrtausend mehr, um zu erkennen, daß sie ihren Allgemeinverbindlichkeitsanspruch auf Handlungsrichtigkeit durch eine ebenso öffentliche und jedermann zugängliche Instanz ausweisen müssen. Daß sie es tatsächlich können, versuche ich im ersten Teil dieses Buchs zu zeigen. Er handelt von ihrem Wie, ihrer Methode, die ich hier nur mit Intuitionen- oder Gewissensfalsifikationismus betiteln möchte. Das Wie der politischen Philosophie ist freilich nur möglich, weil ihr Gegenstand, ihr Was, etwas ist, worüber wir alle starke moralische Intuitionen haben. Ihr Gegenstand ist die Unterscheidung von legitimem und illegitimem Zwang. Alle Probleme der politischen Philosophie haben mit der Frage zu tun, was man erzwingen und was man nicht erzwingen darf. Diese Frage ist, bedingt durch die Besonderheit der Natur, in und mit der die Menschen leben, von besonderer Dringlichkeit dort, wo Menschen am ehesten und beharrlichsten Zwang gebrauchen, nämlich bei der Aneignung und Ausnutzung der Reichtümer, die sie in der Welt vorfinden und selbst durch ihre Arbeit und Erfindungen hervorbringen. In einem sehr weiten Wortsinn sind alle Probleme der politischen Philosophie Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, der gerechten oder legitim erzwingbaren Regeln darüber, wer wie welche Ressourcen produktiv oder konsumtiv gebrauchen darf. Der traditionelle Gegenstand der politischen Philosophie, die Regierungsgerechtigkeit, ist nur ein Teil dieses Gegenstands. Die gegenwärtige politische Philosophie befaßt sich gemäß der Art der aktuellen politischen Probleme vor allem mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und neigt dabei zur Verteidigung sozialer Rechte, die sie in Gegensatz zu den starken Eigentumsrechten der klassischen politischen Philosophie bringen. Trotz dieses Gegensatzes beruft sie sich auf dieselbe Idee der gleichen Freiheit, der Freiheit für jeden, über sein eigenes Leben zu entscheiden, auf welche die politische Philosophie von Hobbes bis Hegel ihre Nonnen stützte. Für diese Berufung gibt es gute Gründe, weil die Idee der gleichen Freiheit am ehesten geeignet ist, unsere sehr verschiedenartigen und oft widersprüchlichen Intuitionen von legitimem Zwang zu einer konsistenten normativen Theorie zu vereinen. Aber können die heutigen politischen Philosophien der sozialen Rechte sich widerspruchsfrei auf die gleiche Freiheit berufen? Die einflußreichste unter den gegenwärtigen politischen Philosophien, die von John Rawls, der zu ihrer Renaissance wesentlich beitrug, berechtigt zu Zweifeln, ebenso wie die Nachfolgetheorien, die seinen Ansatz gegen die libertaristische Kritik Nozicks verteidigen, und Nozicks Kritik selbst. Diesen Zweifeln gehe ich im zweiten Teil dieses Buchs nach. Der Ausgang ist negativ für die untersuchten Philosophen, aber positiv für die Idee der gleichen Freiheit. Wie diese Idee heute konkret zu fassen ist, versuche im dritten Teil durch Skizzierung einer

Vorwort

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nationalen und internationalen Verteilungsgerechtigkeit der liberalen Gleichheit zu zeigen. Wenn ich dabei über Ideen der klassischen politischen Philosophie hinausgehe, dann in der Verteidigung der Wichtigkeit des Gemeineigentums der Naturgüter, das John Locke zwar auch anerkannte, aber als folgenlos für die Prinzipien des Staats und des Eigentums einschätzte. Unter den heutigen politischen Philosophen kommt dem wenig bekannten Hillel Steiner das Verdienst zu, die Wichtigkeit des Gemeineigentums erkannt zu haben. Deshalb habe ich ihn unter die fünf Philosophen des zweiten Teils aufgenommen, obgleich er manchmal konfus scheint (aber darin steht er nicht allein). Soweit zur Hauptlinie des Arguments dieses Buchs, der Verteidigung und methodologischen Absicherung einer Theorie des legitimen Zwangs in der Aneignung der Reichtümer dieser Welt und der Verteilung der Nutzen und Lasten, die Gesellschaften bieten und fordern. Neben ihrer Verteidigung gegen die genannten konkurrierenden liberalen Theorien, welche die Idee der gleichen Freiheit anerkennen, verteidige ich sie auch gegen drei untereinander sehr verschiedene politische Philosophen, die gleiche Freiheit entweder gar nicht anerkennen: Carl Schmitt, oder nur prozedural: Jürgen Habermas, oder nicht universal: Michael Walzer. Schließlich versuche ich, in Auseinandersetzung mit Marx, Max Weber und Heidegger, den historischen Standort der heutigen Gesellschaften zu bestimmen. Die politische Philosophie ist nicht nur die normative Theorie der Gerechtigkeit, sondern auch die der Durchsetzung von Gerechtigkeit unter den gegebenen historischen Bedingungen. Keine normative Theorie darf ihre Prinzipien den faktischen Bedingungen anpassen, auch eine normative politische Theorie muß angeben, wie die faktischen Bedingungen ihren Prinzipien zu unterwerfen sind. Aber gerade weil sie es muß, muß sie sagen können, ob ihre Ideen wirklich werden können. Sie muß sagen können, ob sie „an der Zeit" ' sind. Was die vorgestellten politischen Philosophen zu sagen haben, ist oft, wenn auch nicht immer beabsichtigt, unterhaltsam. Was Steiner und van Parijs, aber auch Dworkin und Nozick und bei näherer Betrachtung sogar der auf Konformität am ehesten bedachte Rawls den modernen Gesellschaften in allem Ernst vorschlagen, muß vielen, die mit ihren Diskussionen nicht vertraut sind, abenteuerlich vorkommen. Zudem sind ihre Argumente und die zu ihrer Veranschaulichung angeführten Beispiele oft bizarr und mit einer Lust an Provokation und Verfremdung vorgetragen. Ich habe mich bemüht, ihre Rationalität soweit wie möglich hervorzuheben, ohne ihren Unterhaltungswert zu verderben. Natürlich hoffe ich von meinen Argumenten überzeugen zu können. Noch wichtiger ist mir jedoch, von den Möglichkeiten der politischen Philosophie zu überzeugen. Und nicht zuletzt davon, daß es ein intellektuellen Vergnügen sein kann, ihren Argumenten und Ambitionen zu folgen. Vielleicht ist es ein bißchen unmoralisch, die Probleme der politischen Philosophie und ihre Lösungsversuche mit demselben Interesse zu begleiten, das man an witzigen Dialogen oder Kriminalromanen nehmen kann, wenn doch die Praxis, von der sie handeln, so brutal ist. Ungetrübt ist dies Vergnügen dennoch nicht, denn es setzt eine gewisse Aufmerksamkeit und Energie voraus. Man braucht zwar kriminalistisches Interesse, um den hier vorgestellten Irrwegen und Aufklärungen der politischen Philosophie zu folgen, aber kann ihnen, fürchte ich, doch nicht ganz so leicht folgen wie einem Krimi. Ich habe das Vergnügen der Auseinandersetzung mit den hier verfochtenen und kritisierten Argumenten im Verlauf der letzten Jahre mit Philosophen geteilt, von denen ich einige aus1 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung, in: Werke in 20 Bänden, hg. v. Moldenhauer/Michel, Bd. 12, Frankfurt/M. 1970,45.

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Vorwort

drücklich nennen möchte: Martin Sehrt, Sabine Jentsch, Olaf Kistenmacher, Vittorio Hösle und Stefan Englert. Ihnen vor allem verdanke ich, daß dies Buch nicht noch mehr Fehler und Schwächen enthält, als es vermutlich trotz aller meiner Fehlerbeseitigungsanstrengungen enthalten wird.

Erster Teil: Was ist die politische Philosophie?

1. Die Wiedergeburt der politischen Philosophie Ein Blick zurück Die heutige politische Philosophie, die dies Buch erörtert, glaubt, allgemeinverbindliche Normen der Gerechtigkeit und ihrer Durchsetzung formulieren zu können. Sie hat mit der Auffassung der meisten Philosophen des Jahrhunderts nach Hegel gebrochen, die Allgemeinverbindlichkeit nur deskriptiven Theorien zubilligten, den Theorien der empirischen oder der formalen Wissenschaften, nicht aber normativen Theorien, die etwas darüber aussagen, was sein soll. Sie ist damit in eine alte Gewohnheit zurückgefallen; die Philosophie begann damit, normative Geltungsansprüche geltend zu machen. Propheten, Weise und Religionsgründer haben ihren Gesellschaften oder auch der Menschheit insgesamt Gesetze vorgehalten, denen nicht aus Zwang und nicht aus einseitigem Interesse, sondern aus Gründen zu gehorchen sei, die sich an eine andere Triebfeder im Menschen richten als die der Angst oder der Lust. Daß Menschen einander nicht nach Belieben töten dürfen, daß sie Versprechen halten müssen, daß sie einander in Not helfen sollen, gehört zu den Forderungen, die immer wieder nicht an das Interesse der Menschen, sondern eine neutralere Instanz in ihnen gerichtet wurden. Die Philosophen unterschieden sich von den Propheten, Weisen und Religionsgründer, die ähnliche Geltungsansprüche wie sie erhoben, dadurch, daß sie zugleich über die Gründe und Möglichkeiten solcher Ansprüche nachdachten. Sie verkündeten ihre normativen Geltungsansprüche nicht nur als allgemeinverbindlich; sie argumentierten und kritisierten: sie gaben Gründe für ihre eigenen und gegen konkurrierende Nonnen. Bis heute ist umstritten, worauf die Möglichkeit des Begründens beruht. Klar ist dagegen, daß die Menschen früh begriffen, daß sie sich von den Tieren dadurch unterscheiden, daß sie Ansprüche erheben können, denen man aus Einsicht und nicht aus Angst oder Lust zustimmt; daß diese Einsicht nicht die Erkenntnis sinnlich wahrnehmbarer, sondern gedanklicher Zusammenhänge ist, und daß sie zwar überzeugt, aber trotzdem in der endgültigen Bestimmung unseres Handelns schwach und auf besondere Anstrengungen angewiesen ist. Ihre Anerkennung verband sich mit religiösen Vorstellungen; sie wurde als göttlich, als die Stimme eines oder des Gottes in uns verstanden und der Widerstand gegen sie als die Kraft eines bösen Prinzips.

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Die Wiedergeburt der politischen Philosophie

Noch wichtiger als diese Verknüpfung der Instanz einer praktischen, handlungsrelevanten Einsicht mit der Religion wurde für die politische Philosophie ihre Verknüpfung mit einer anderen Art von Einsicht, der in logische und mathematische Zusammenhänge. Wenn wir den Beweis verstehen, daß die Winkelsumme im Dreieck gleich der zweier rechter Winkel ist, dann sehen wir ein, daß und warum es allgemein und notwendig wahr ist, daß die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Wir finden uns durch die Einsicht berechtigt, diesen Satz mit dem Anspruch auf Zustimmung von jedem oder notwendig und allgemeinverbindlich zu behaupten. In der Einsicht, die mathematische Demonstrationen geben, fanden die Philosophen der pythagoreischen und der sokratischen Tradition das Muster, nach dem sie Einsicht und Begründung verstanden. Das Vermögen einer solchen Einsicht und Begründung fanden sie im Nous. Dies Wort wurde ins Deutsche als Vernunft übersetzt: das, was uns befähigt, das zu vernehmen, was nicht faktisch ist, wie es ist oder sein soll, sondern notwendig so. Die griechischen Philosophen entdeckten, daß wir nicht nur eine praktische Vernunft haben, kraft der wir Einsicht oder Gründe dafür finden, warum etwas sein soll, ob es so ist oder nicht, wie es sein soll, sondern auch eine theoretische Vernunft, kraft der wir Einsicht oder Gründe dafür finden, warum etwas ist, wie es ist. Ihre Begriffe von Theorie, Prinzip, Prämisse, Ableitung und meßbaren und in ihren meßbaren Größen zusammenhängenden Phänomenen wurden zum Vorbild für die europäischen Naturforscher, die die moderne Physik begründeten. Diese begann in der Neuzeit ihren Siegeszug und ließ auf ihrem Höhepunkt am Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, nicht nur Naturgesetze, sondern auch Normen und Forderungen einsichtig zu machen, in Vergessenheit geraten. Vernunft, Einsicht und Philosophie wurden nur noch als theoretische ernst genommen, bis erst im letzten Drittel dieses Jahrhunderts die politische Philosophie zu neuem Leben erwachte. Bevor aber die moderne Physik die Früchte der Systematisierung und Mathematisierung der Naturforschung erntete, artikulierten dieselben Philosophen, die der theoretischen Vernunft ihr Feld in der Physik bestellten, die Ansprüche der praktischen Vernunft. Sie etablierten neben der Naturphilosophie, die sagt, was notwendig so ist, wie es ist, die politische Philosophie, die sagt, was notwendig sein soll, ob die soziale Wirklichkeit dem Sollen entspricht oder nicht. Hobbes im Leviathan, Locke in den Treatises of Government, Rousseau im Contrat Social, Kant in der Metaphysik der Sitten und Hegel in seiner Rechtsphilosophie erheben Ansprüche auf Verbindlichkeit, deren Befolgung die bestehenden Gesellschaften kaum weniger umwälzen würde als seinerzeit Piatons Politela. Wie immer man heute über diese Ansprüche urteilt, vor ihrer Renaissance in der gegenwärtigen politischen Philosophie, als kaum jemand auch nur an die Möglichkeit einer politischen Philosophie glaubte, erschienen sie zwar als uneinlösbar, aber auch als eine Instanz, die man aus politischen Gründen besser nicht verloren hätte. „For three hundred years of our history", so klagte daher 1956 Peter Laslett mit Blick auf die Epoche von Hobbes bis Hegel (die tatsächlich zwei Jahrhunderte dauerte), „there have been such men. To-day ... we have them no longer. The tradition has been broken ... For the moment, anyway, political philosophy is dead." 2

2 Peter Laslett (ed.), Philosophy, Politics and Society, Oxford 1956, vii. Laslett edierte die wissenschaftliche Ausgabe von John Locke, Two Treatises of Government, Cambridge 1950.

Rawls - Habermas

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Rawls John Rawls hat die Tradition wieder aufgerichtet. Gegen die Beschränkung der Vernunft auf deskriptive Theorien und die Abdankung der Philosophie vom Amt des Vernunftrichters über normativ richtig und falsch eröffnet Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit mit Sätzen über deren Gegenstand, die Gerechtigkeit 3 : „Justice is the first virtue of social institutions, as truth is of systems of thought. A theory however elegant and economical must be rejected or revised if it is untrue; likewise laws and institutions no matter how efficient and well-arranged must be reformed or abolished if they are unjust.... The only thing that permits us to aquiesce in an erroneous theory is lack of a better one; analogously, an injustice is tolerable only when it is necessary to avoid an even greater injustice. Being first virtues of human activities, truth and justice are uncompromising". Daß die Wahrheit, auf welche die theoretische Vernunft zielt, keine Kompromisse zuläßt, konnte Rawls bei den meisten seiner Leser als anerkannt voraussetzen; er dachte noch nicht an die heutigen Skeptiker der Postmoderne. Die Wahrheit läßt keine Kompromisse zu, weil ein Gedanke, der wahr nur für bestimmte Personen ist, eben nicht wahr ist. Daß Gerechtigkeit, auf die nach Rawls die praktische Vernunft gerichtet ist, ebenso kompromißlos sein kann, entspricht zwar unserer „intuitive conviction of the primacy of justice". Aber es setzt voraus, was seinerzeit als naiv galt, daß es f ü r Aussagen über die Gerechtigkeit ebenso vernünftige und universal einsehbare Gründe gibt wie für Aussagen über die Wirklichkeit. Eine Institution, die gerecht nur für bestimmte Personen oder Gesellschaften ist, ist nicht gerecht. Rawls bricht schon mit seinen ersten Sätzen mit dem Verzicht der Philosophen auf Kompetenz in der Unterscheidung von gerecht und ungerecht. Seine Theorie der Gerechtigkeit beansprucht, diese Unterscheidung allgemeinverbindlich vorzuführen. Sie ist nicht nur eine Gerechtigkeits-, sondern auch eine politische Theorie, weil sie nicht nur Gerechtigkeitsgrundsätze formuliert und zu begründen sucht, sondern auch Regeln ihrer Durchsetzung oder Verwirklichung. Wir werden sehen, daß seine Theorie elementare Schwächen hat. Aber den Anspruch, zwischen gerecht und ungerecht verbindlich unterscheiden zu können, haben die Schwächen nicht zu Fall gebracht. Dafür gibt es, wie für alle historische Wenden, viele Gründe, von denen wir nicht alle erkennen können. Einer von ihnen verdient besondere Beachtung, weil er die Entwicklung der politischen Philosophie in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wirksam mitbestimmt. Es ist der Einfluß der Philosophie von Jürgen Habermas. Habermas Habermas hat sich um die Renaissance der politischen Philosophie verdient gemacht, weil er ebenso früh wie Rawls die praktische Vernunft der theoretischen als ebenbürtig behauptete. Während sich aber Rawls dazu auf das erste Betätigungsfeld der praktischen Vernunft warf, die politische Theorie, suchte Habermas das abstraktere Reich einer Vernunfttheorie mit ihren Provinzen der Argumentations-, Kommunikations- und Sprechtakttheorie, die sich in seiner Diskurstheorie der Wahrheit und der normativen Richtigkeit zusammenfassen. Dies gegensätzliche Verhalten ist leicht paradox. Denn von ihrer Ausbildung her würde Rawls, geschult in analytischer Methode, die abstraktere Theorie näher liegen und Habermas, mit sicherem 3 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge/Mass. 1971, 3f.

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Die Wiedergeburt der politischen Philosophie

soziologischem und historischem Blick, die konkretere Theorie. Bei aller Großartigkeit von Rawls' politischer Philosophie und Habermas' Vernunfttheorie haftet daher beiden die Spur des Dilettanten an, der sich ein ihm fremdes Feld erobern muß, weil die Fachleute es nicht angemessen bestellen. Für die Entwicklung der politischen Philosophie wichtig war Habermas' These, daß über normative Richtigkeit mit derselben Verbindlichkeit in praktischen Diskursen entschieden wird wie über Wahrheit in theoretischen,4 Die These rehabilitierte die praktische Vernunft, weil sie sie auf eine Stufe mit der theoretischen Vernunft stellte. Ihr Einfluß ist einer der Faktoren, die zur Renaissance der politischen Philosophie beigetragen haben. Aber sie hat auch in eine Richtung gewirkt, die sie ihre Möglichkeiten nicht hat voll ausschöpfen lassen. Denn Habermas verband sie mit einer Verwerfung der traditionellen Wahrheitstheorie, nach der Wahrheit in der Übereinstimmung von Aussagen und Theorien mit der Wirklichkeit besteht. Er versucht Wahrheit ohne Rückgriff auf eine Wirklichkeit zu verstehen, die unabhängig von der menschlichen Sprache besteht. Er folgt darin der sensualistischen Tradition, für die es keine bewußtseinsunabhängigc Wirklichkeit gibt, ersetzt als Kritiker der „Bewußtseinsphilosophie" aber das Bewußtsein durch die Sprache. Er verwirft die Korrespondenztheorie der Wahrheit zugunsten einer Form der Kohärenztheone. Nach dieser ist eine Theorie nicht wahr, wenn sie der Wirklichkeit entspricht („korrespondiert"), sondern wenn sie mit den Überzeugungen der Menschen vereinbar ist („kohäriert"), die über Wahrheit befinden. Eine Kohärenztheorie kann jedoch relativistische Konsequenzen schwer vermeiden, weil sie die Wahrheit relativ auf die bestehenden Überzeugungen derer sein läßt, die über die Wahrheit entscheiden. Nun wollte und konnte Habermas einen Relativismus keinesfalls in Kauf nehmen, da es ihm um die Rehabilitierung einer allgemeinverbindlichen Instanz, der praktischen Vernunft ging. Er suchte daher den Diskurs so zu definieren, daß seine Bedingungen die Vernünftigkeit seines Ergebnisses garantiert. Nicht in Sachen oder objektiven Gründen sieht er die Wahrheit einer Theorie oder die normative Richtigkeit einer Norm gegründet, sondern in der Intersubjektivität ihrer Etablierung; in bestimmten Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung, in denen Menschen stehen, wenn sie diskursiv über Wahrheit oder normative Richtigkeit befinden. Wahrheit und normative Richtigkeit sind nicht gegeben, wenn unsere deskriptiven und normativen Theorien eine ideale Objektivität, sondern wenn sie eine ideale Intersubjektivität erreichen. Habermas' Idee der Intersubjektivität lieferte der politischen Philosophie einen nicht nur methodologischen, sondern auch inhaltlichen Pfeiler. Die Einsicht, an die alle Vernunft appelliert, wird nicht als Einsicht in eine Sache oder einen objektiven Wert, sondern als zwangfreier Konsens der Betroffenen gedeutet. Auch die klassische politische Philosophie von Hobbes bis Hegel verstand die Einsicht der praktischen Vernunft nicht als Einsicht in den Wert von Sachen, die von ihr selbst, der Vernunft, unabhängig sind; vielmehr als Einsicht in die Natur der Vernunft selbst, auf deren Sicherung alle praktischen Normen und der Staat zielen und auf deren Wert ihre Allgemeinverbindlichkeit beruht. Daher stimmt Habermas mit ihnen darin überein, in der Vernunft - dem Vermögen zu begründen - den Grund aller Verbindlichkeit zu sehen. Aber für die Klassiker ist die Vernunft ein Vermögen, das von jedem Menschen auch individuell erkennbare unveränderliche und ihm objektiv gegenüberstehende Kriterien setzt 4 Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen 1973, 2 1 1 - 2 6 6 . Nachdruck in: Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1 9 8 4 , 1 2 7 - 1 8 3 .

Habermas

19

(alle, wie wir sehen werden, zusammenhängend mit der gleichen Freiheit eines jeden Individuums, über sich selbst nach Gründen zu verfügen). Darin weicht Habermas von ihnen ab, denn nach ihm ist es die Diskursgemeinschaft, die die Standards setzt. Er versteht die Vernunft als intersubjektives Vermögen, als die Fähigkeit von Gruppen, sich verbindliche Normen zu setzen. Der Unterschied hat nicht nur Folgen für das Verständnis von Vernunft und Gerechtigkeit, sondern auch von Demokratie. Für Habermas (und sein Konsensprínzip5) sind Normen gerecht, nicht nur wenn, sondern auch weil sie zwangfrei angenommen werden; für die Klassiker (und ihr VernunftpúmXp) sollten Normen zwangfrei angenommen werden, weil sie gerecht sind. Habermas gründet die Gerechtigkeit auf das demokratische Prinzip der Zustimmung durch alle Betroffenen; die Klassiker gründen das demokratische Prinzip auf die Vernunftfähigkeit der Menschen. Denn von dieser sehen sie den Menschen dazu verpflichtet, jedem gleiche Freiheit zu lassen und deshalb eine demokratische Verfassung anzunehmen Habermas wollte durch seine Diskurstheorie die praktische Vernunft rehabilitieren, aber zu Beiträgen zur politischen Philosophie selbst kamen er und seine Schüler erst unter dem Einfluß von Rawls und der an ihn anknüpfenden Diskussionen. Das liegt an seinem Interesse an der Entwicklung einer Vernunfttheorie, ist aber auch eine Folge seiner Diskurstheorie. Denn diese legt nahe, Gerechtigkeitsgrundsätze nicht der Begründung durch den Philosophen zu überlassen, sondern dem Diskurs der Betroffenen. Das ist unhaltbar. Jede gerechte Politik muß über die Interessen der Lebenden hinweg auch auf die Interessen künftiger Generationen schauen und deren mutmaßliche Interessen berücksichtigen. Zu den Mitgliedern solcher fernen Generationen können wir aber in kein Intersubjektivitätsverhältnis treten. Habermas' Ansatz zwingt hier zur Unterstellung, wir könnten treuhänderisch die Interessen jener uns Unbekannten vertreten. Das ist eine fromme Fiktion, da wir durch unsere Entscheidungen über die Interessen, die Natur, ja die Existenz jener Künftigen mitbestimmen. Die Frage kann hier gar nicht sein, ob wir gute Treuhänder ihrer Interessen sind, sondern nur, ob unsere Entscheidungen, die ihre Natur, ihre Interessen und ihre Existenz betreffen, legitim oder normativ richtig sind. Wenn wir dabei bemüht sind, ihnen eine vernunftgemäße Existenz zu sichern, wie es auch Habermas verlangt, dann kommen wir nicht umhin zu unterstellen, daß eine solche Existenz an sich und objektiv besser ist als eine vernunftwidrige Existenz und als eine Welt ohne eine vernünftige Art. Habermas' diskurstheoretischer Ansatz führt dazu, daß der politische Theoretiker die Diskussion der theoretischen Probleme der Politik den aktiven Teilnehmern an der Politik überlassen und sich auf die Angabe der Spielregeln beschränken muß, nach denen die aktiven Teilnehmer ihre Probleme zu lösen haben. Äußert er sich aber zu solchen Problemen, für die ein Diskurs unter den Betroffenen unmöglich ist, so muß er die Rolle eines Treuhänders der im Diskurs unvertretbaren Teilnehmer übernehmen. Dann aber muß er objektive Kriterien der normativen Richtigkeit unterstellen, für die sein Ansatz keinen Raum läßt. Dies Dilemma mußte eine inhaltliche politische Philosophie im Keim ersticken. Im letzten Jahrzehnt haben Habermas und seine Schüler nach Auseinandersetzungen mit dem Kommunitarismus und mit Rawls und anderen Vertretern des amerikanischen Liberalismus die politische Philosophie in Deutschland durch Beiträge zur Rechtsphilosophie

5 Oder sein Diskursprinzip. Vgl. dazu u. den Abschnitt über Prozeduralismus im 5.Kap.

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Zur Begründbarkeit der politischen Philosophie

allerdings auf eine neue Stufe gehoben. 6 Dennoch werde ich diese Arbeiten nur am Rande behandeln. Der Grund dafür ist, daß sie noch immer zu sehr im Allgemeinen der Begrifflichkeit und der Methode bleiben und zu wenig die materialen Probleme der Gerechtigkeit angehen. Kennzeichnend dafür ist ihre Blindheit für Probleme des Eigentums und der Sanktionierung von Regelverletzungen durch Strafe oder andere Institutionen, ganz zu schweigen von aktuelleren Problemen wie dem der Arbeitslosigkeit.

2. Zur Begründbarkeit der politischen Philiosophie Zwang Wenn Rawls' Theorie nicht schon das Paradigma der politischen Philosophie überhaupt sein kann und Habermas' Methodologie ihre eigenen Schwierigkeiten hat, wie kann da der vermessen scheinende Anspruch der politischen Philosophie gerechtfertigt werden, einer Gesellschaft oder gar der Menschheit insgesamt vorzuschreiben, was normativ richtig oder gerecht ist und was nicht? Sie beansprucht sogar, Normen zu begründen, die erlaubten von verbotenem Zwang unterscheiden. Denn sie sieht den wesentlichen Unterschied ihres Gegenstands, der Regeln der Gerechtigkeit, von anderen Normen darin, daß sie, wie Kant sagte, „mit der Befugnis zu zwingen verbunden" sind. 7 Mit der Angabe der Regeln der Gerechtigkeit gibt sie auch an, welcher Zwang legitim ist und welcher nicht. Sie macht sich zur Richterin über alle Institutionen und Individuen, die Gewalt ausüben und den Willen von Menschen brechen. 8 Darin liegt ihre Bedeutung und Problematik. Könnte sie ihren Anspruch einlösen, so wäre die Grundlage zur Lösung der dringendsten und bedrohlichsten sozialen Konflikte geschaffen. Hätten wir ausreichende Gründe, erlaubten Zwang von verbotenem zu unterscheiden, so dürften wir ihn auch allgemeinverbindlich gegen die durchsetzen, die nach den Normen der politischen Philosophie illegitimen Zwang anwenden. In dieser Aussicht liegt die Bedeutung der politischen Philosophie und der Grund, warum sie seit der Zeit der vorsokratischen Sophistik zu den wichtigsten und seitdem nie mehr aufgegebenen intellektuellen Zielsetzungen gehört. Aber kann ein solcher Anspruch begründbar sein? Die frühen griechischen Philosophen glaubten, Normen des legitimen Zwangs ließen sich ebenso einsichtig machen wie Naturgesetze. Aber eines der Ergebnisse des Siegeszugs der Naturwissenschaften war, daß man Klarheit darüber gewann, wie Naturgesetze begründet werden, nämlich durch Entwurf von Theorien und ihre Bestätigung in Versuchen, sie zu falsifizieren. Eine entsprechende Begründung scheint für Normen des legitimen Zwangs und andere praktische Gesetze unmöglich. Das Schweigen der politischen Philosophie wie der 6 V g l . Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, bes. Kap.3; D i e Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996; Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994. 7 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § D. 8 Daß Recht und Politik notwendig mit Gewalt oder Zwang zu tun haben, wird besonders von heutigen Philosophen selten gesehen und noch seltener in seiner Wichtigkeit hervorgehoben. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, München 1957, Bd. 2, 290, erklärt dagegen treffend das „politische Leben" als das „Gebiet jener Probleme, welche die Gewalt von Menschen über andere Menschen betreffen".

Zwang - Eine cartesische Politik?

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praktischen Philosophie insgesamt seit dem Untergang des Hegeischen Systems ist demnach nur zu gut begründet. Sollten wir ihre Wiederbelebung seit Rawls also nicht als die letzte Zuckung vorm endgültigen Tod betrachten? Sollten wir, wenn wir unser individuelles wie institutionelles Leben dennoch rational einrichten wollen, nicht den Empfehlungen folgen, die seinerzeit Descartes gab, nämlich unser Handeln und seine Normen auf die Naturwissenschaften zu gründen? Descartes nämlich versichert uns, „daß es möglich ist, zu Erkenntnissen zu gelangen, die für das Leben recht nützlich sind und an Stelle jener spekulativen Philosophie, wie man sie in den Schulen lehrt" - der scholastischen Philosophie - „eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, des Himmelsgewölbes und aller übrigen Körper, die uns umgeben, so genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Tätigkeiten unserer Handwerker kennen, so daß wir sie in derselben Weise zu allen Zwecken, wozu sie geeignet sind, verwenden und uns auf diese Weise gleichsam zu Meistern und Besitzern der Natur machen können." 9 Eine cartesische Politik? In der Tat hat uns die Physik zu Meistern und Besitzern der Natur gemacht. Genügt das nicht, uns auch zu Meistern und Besitzern unserer politischen Verhältnisse zu machen? Denn einerseits wissen wir ganz gut, was wir alle von der Politik erwarten, nämlich Frieden, Wohlstand, Freiheit für alle. Wenn dies unsere Ziele sind, kann uns die Wissenschaft nicht über die besten Mittel belehren, sie zu verwirklichen? Descartes glaubte, die Wissenschaft könne uns über die Mittel belehren, unsere individuellen Ziele zu erreichen. Zu ihnen gehören vor allem Gesundheit und ein langes Leben. Die Medizin könne uns „vor einer Unzahl von Krankheiten des Körpers wie der Seele hüten und vielleicht selbst die Schwäche des Alters überwinden" 1 0 . Hat er darin nicht recht gehabt? Hatte er nicht auch in der Erwartung recht, „daß, wenn es möglich ist, ein Mittel zu finden, das ganz allgemein die Menschen klüger und tüchtiger macht, als sie bisher gewesen, man dies ... in der Medizin suchen muß"? 1 ' Können wir dann nicht ebenso hoffen, was Descartes nur nicht aussprach, von den empirischen Wissenschaften genug Belehrung darüber zu erhalten, wie wir unsere politischen Probleme lösen müssen? Es ist noch nicht lang her, daß wissenschaftliche Weltauffassungen in der Tradition der Aufklärung, des Sozialismus und der Psychoanalyse Massen hinter sich scharten. Genetik, Pharmakologie und manche Formen der künstlichen Intelligenz haben zudem Descartes' Vertrauen in die Wissenschaft und ihre medizinischen Aspekte neuen Auftrieb gegeben. Warum darf man nicht erwarten, durch Erhöhung des Intelligenzquotienten auch den Mangel an moralischen Qualitäten wie Klugheit und Tüchtigkeit beheben zu können, den Descartes offensichtlich zu Recht als einen der Gründe des Elends unter den Menschen erkennt? Gegen Descartes' Hoffnung spricht, daß Menschen mit gleich scharfer Intelligenz, die auch in den Zielen von Frieden, Wohlstand und Freiheit übereinstimmen, nicht auch in den Mitteln und Regeln übereinstimmen, sie zu erreichen. Gerade wenn es um die Legitimität der 9 René Descartes, Abhandlung über die Methode, in: Ausgewählte Schriften, hg. v. G. Irrlitz, Leipzig 1980, Übersetzung v. Arthur Buchenau, 7 - 6 5 , 5 3 . 10 Ebd. 11 Ebd.

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Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse vor allem der Molekularbiologie geht, prallen heute die Meinungen aufeinander. Descartes' Traum von einer Wissenschaft, die uns zu Herren über die Natur macht, ist wahr geworden. Aber seine Wahrheit zeigt uns als Herren, die ohne verbindliche Regeln für den Gebrauch ihrer Macht dastehen. Der Erfolg der Naturwissenschaft demonstriert das Fehlen der politischen Philosophie. Aber auch er beweist nicht, daß sie möglich ist. Die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit Wir können immerhin festhalten, worauf es der politischen Philosophie heute ankommen muß. Ihr aktuelles Ziel ist nicht die Bestimmung der Ziele des politisches Lebens; diese sind vielmehr weit genug anerkannt, um ihre Diskussion uninteressant zu machen, nämlich Friede, Wohlstand und Freiheit. Wir können über ihren Rang und ihre Form streiten, aber grundsätzlich sind sie unangefochten. Umstritten sind die Regeln oder Modelle, nach denen wir zur Erhaltung dieser Ziele handeln müssen, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Erstens weil bestimmte Handlungsweisen umstritten sind, vor allem, wenn auch nicht nur, solche, die durch die modernen Techniken möglich geworden und noch nicht übereinstimmend als erlaubt oder verboten anerkannt sind. Zu ihnen gehören die Gentechnik und die modernen Reproduktionsmedizin, aber auch altbekannte Praktiken wie die der Abtreibung und der militärischen Abschreckung. Zweitens weil moderne Gesellschaften arbeitsteilig produzieren und die Verteilung ihres Produkts unter ihre Angehörigen umstritten ist, nicht nur, weil jeder so viel wie möglich haben will, sondern vor allem, weil die tatsächlichen ebenso wie mögliche Verteilungsregeln in ihrer Gerechtigkeit umstritten sind. Dem ersten Problemkreis widmen sich heute Philosophen unter dem Titel der angewandten Ethik. In diesem Titel kommt zum Ausdruck, daß allgemein anerkannte Prinzipien zur Lösung ihrer Probleme fehlen. Die von Rawls angestoßene heutige politische Philosophie behandelt dagegen nur Fragen, die den zweiten Problemkreis betreffen, den der Verteilungsgerechtigkeit, und dies Buch wird dieser Beschränkung folgen. Wir sollten beachten, daß dies eine Beschränkung ist, und fragen, ob die Idee der gleichen Freiheit, die sich als Grund und Richtschnur der Verteilungsgerechtigkeit erweisen wird, nicht auch Grund und Richtschnur der Gerechtigkeit der Handlungsweisen der ersten Gruppe ist. Dies Buch wird diese Frage nicht beantworten, aber ich möchte am Ende des Buchs doch andeuten, daß die gleiche Freiheit auch der Grund und Maßstab der Beurteilung der (verteilungsunabhängigen) Handlungsgerechtigkeit ist. Daß Fragen der Verteilungsgerechtigkeit heute im Mittelpunkt der politischen Philosophie stehen, liefert eine Erklärung für ihre Wiedergeburt. Im Jahrhundert ihres Schlafs zweifelte man nicht nur an der Möglichkeit, allgemeinverbindliche normative Aussagen zu machen; man sah auch nicht die unbedingte Dringlichkeit und moralische Notwendigkeit für solche Aussagen. Sowohl die Ziele der Politik als auch die Prinzipien der Regierung waren für Philosophen mit intellektuellen Fähigkeiten und Ambitionen schon von den klassischen politischen Philosophen, vor allem von Hobbes, Locke und Kant, genügend diskutiert und von Locke und Kant grundsätzlich richtig formuliert worden. Und darin hatten sie recht. Sie übersahen nur, daß die Verteilungsgerechtigkeit einerseits von den Klassikern unzureichend behandelt war und anderseits mindestens seit dem 19. Jahrhundert dringend der Klärung bedurfte. Die klassischen Philosophen hielten Verteilungsfragen deshalb für weniger wichtig, weil

Protagoras oder Platon?

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sie in der menschlichen Arbeit eine unerschöpfliche Quelle des Reichtums sahen, die alle Konflikte um knappe Güter mehr oder weniger bald durch Abschaffung von Knappheit lösen würde. Insbesondere Locke hatte darauf hingewiesen, es sei „Labour indeed that puts the difference of value on every thing" 12 ; der Wertanteil der Natur an den Reichtümern einer entwickelten Gesellschaft wie England sei nur ein Hundertstel, ja nicht einmal ein Tausendstel des Wertanteils der Arbeit. 13 Daraus folgt, daß der überwältigende Teil der Reichtümer der modernen Gesellschaften durch Arbeit hervorgebracht und Knappheit durch Arbeit abgeschafft werden kann. Marx folgte nur dieser Annahme, als er das Recht - oder doch den „engen bürgerlichen Rechtshorizont" - und mit ihm den Staat als absterbend beurteilte, wenn nur einmal „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen (sind) und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen."14 Heute hat sich die Auffassung verbreitet, daß wir mit Knappheit auch in Zukunft werden leben müssen. Wir fürchten das Versiegen der natürlichen Ressourcen und wissen vor allem, daß die Erde klein wird für die Milliarden Menschen, die auf ihr mit wachsenden Ansprüchen leben wollen. Verteilungsfragen sind unaufschiebbar und ununterdrückbar. Aber wie können auf sie allgemeinverbindliche Antworten gefunden werden? Protagoras oder Piaton? An der Möglichkeit allgemeinverbindlicher nicht-technischer, kategorischer Normen zweifelten nicht erst die Zeitgenossen der erfolgreichen Naturwissenschaften, sondern auch schon die Sophisten, bei denen die Anfänge der politischen Philosophie zu finden sind. Ihr bekanntester Vertreter, Protagoras, der auch ein Freund von Perikles und Verteidiger der demokratischen Politik war, hielt sie nicht für möglich, während Piaton, der schärfste Kritiker der Sophistik und der Demokratie, sie für möglich hielt. Piaton läßt Protagoras im Dialog gleichen Namens einen Mythos erzählen, der zugleich die Gründe deutlich macht, sich eine politische Philosophie zu wünschen, und die, sie nicht zu wünschen. Die Menschen, so berichtet Protagoras' Mythos, gingen leer aus, als Epimetheus in göttlichem Auftrag nützliche Eigenschaften unter die Tiere verteilte. Doch Prometheus machte das Überleben der Menschen möglich; er stahl Hephaistos, dem Schmiedegott, und Athene, der Göttin der Städte, des Ackerbaus und der Wissenschaft, das Feuer, und brachte sie den Menschen. Die Menschen erhalten so genau das, was Descartes seinen Zeitgenossen versprach, eine Wissenschaft oder Technik für das, was man zum Leben und zur Beherrschung der Umwelt braucht; eine cartesische Politik, die technische, aber keine politische Regeln gibt. Eine Technik oder Wissenschaft nämlich kann Prometheus für die Menschen nicht stehlen. Dies ist das auf die Polis bezogene Wissen, die politikê sophia oder technê. So sind den Menschen Feuer und die Techniken von Hephaist und Athene „zwar zur Ernährung hinreichende Hilfe", aber sie reichen nicht, um sie vor einer feindlichen Umwelt zu schützen. Ihnen fehlen nicht, wie Descartes meint, Klugheit und Tüchtigkeit, die ihnen vielmehr die praktischen Wissenschaften und das Feuer geben. Ihnen fehlt die Kunst, miteinander umzugehen und ihre praktischen Wissenschaften gemeinsam zu gebrauchen. 12 John Locke, 2ndTreatise of Government, in: Two Treatises, a.a.O., § 40. 13 Ebd., § § 4 0 und 43. 14 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1970, Bd. 2, 17.

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Sie versuchen zwar, sich in Städten, in poleis, zu sammeln, aber zerstreiten sich dort mangels der politischen Kunst. Schließlich schickt ihnen Zeus aidôs und dike, Scham u n d Rechtsgefühl, „damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler". Zeus läßt sie nicht wie die Künste und Techniken nur unter einige, sondern unter alle verteilen, und legt ihnen das Gesetz auf, „daß man den, der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates". Seitdem kann jeder über das für die Polis Beste, „wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt", mitberaten, weil jeder Scham und Recht kennt. 15 Die politische Kunst, die den M e n s c h e n fehlt, enthält nicht nur wie W i s s e n s c h a f t und Technik deskriptives Wissen, sondern präskriptives oder normatives Wissen und Verstehen, das uns sagt, was sein sollte und was wir tun sollten. Solches Wissen könnte es zwar, so will Protagoras sagen, auch als eine Kunst geben, die von Fachleuten ausgeübt wird, so wie die Medizin von Ärzten oder die Architektur von Architekten. Aber Zeus war weise genug, sie den M e n s c h e n vorzuenthalten. D e n n sie hätte die M e n s c h e n in Fachleute der politischen Kunst und Laien unterschieden und politische Beratungen, an denen alle teilnehmen können, wie es die Demokratie fordert, unmöglich gemacht. Wir müssen und können uns daher auf das normative Urteil eines jeden verlassen, soweit er Scham und Rechtsgefühl hat. Piaton d a g e g e n , der die D e m o k r a t i e haßt und an ungleich verteilten politischen Sachverstand glaubt, scheinen diese beiden moralischen Gefühle keine ausreichende Grundlage. Seine Philosophie ist der Versuch, die Möglichkeit einer politischen Kunst nachzuweisen, die mehr ist als die Befolgung von aidôs und dikê, einer politischen Philosophie, die so begründbar und allgemeinverbindlich wie die Mathematik, aber nicht deskriptiv ist, sondern normativ. Ist das nicht eine verhängnisvolle A n m a ß u n g ? Ist seine antidemokratische politische Philosophie nicht nur die Konsequenz seiner maßlosen Wissensansprüche? 1 6 Zwar hat auch Protagoras' Vertrauen in die Weisheit demokratischer Bürger oft genug getrogen. Sie gingen D e m a g o g e n auf den L e i m und ermöglichten die furchtbarsten Katastrophen dieses Jahrhunderts. Zwar leitete Piatons Glaube an ein sicheres Wissen auch Galilei und Descartes und andere neuzeitliche Protagonisten der m o d e r n e n W i s s e n s c h a f t und ist in ihren E r f o l g e n bestätigt worden. Aber nur sein Glaube an ein sicheres deskriptives Wissen wurde bestätigt. Läßt sich heute überhaupt noch ernsthaft die Möglichkeit eines normativen Wissens behaupten, das ebenso Verbindlichkeit beanspruchen kann wie das deskriptive Wissen? Die politische Philosophie hat Piatons Anspruch auf Verbindlichkeit politischer Normen erstaunlicherweise nie aufgegeben. Sie sah zwar im politischen Philosophen nicht mehr wie Piaton einen durch sein Wissen ausgezeichneten Politiker, sondern einen Lehrer der richtigen Politik. Aber daß normatives politisches Wissen möglich und sogar gefunden sei, haben auch die modernen politischen Philosophen von Hobbes bis Hegel und, nach einem Jahrhundert der Resignation, Rawls und seine Nachfolger behauptet. Sind solche Behauptungen mehr als Propaganda von Theoretikern für ihre Theorie?

15 Piaton, Protagoras, 321 c-323a. 16 Am entschiedensten sieht Popper, Die offene Gesellschaft, a.a.O., in Piaton einen totalitären Denker. Dabei ist es nicht zufällig Poppers Falsifikationismus, der Piatons Hoffnung auf eine allgemeinverbindliche politische Philosophie rechtfertigen kann.

Gründe der Wahrheit, der Gewißheit, der Akzeptabilität

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Gründe der Wahrheit, der Gewißheit und der Akzeptabilität Sie hatten durchaus einen guten Grund. Sie stützten sich auf die Annahme, es gebe Wahrheitsgründc für normative wie für deskriptive Theorien. Eine deskriptive Theorie ist wahr, weil die von ihr behaupteten Prinzipien des Seins bestehen; eine normative, weil die von ihr behaupteten Gründe des Seinsollens bestehen. Eine deskriptive Theorie muß daher nachweisen, daß die von ihr behaupteten Seinsprinzipien, die Naturgesetze, bestehen; eine normative Theorie, daß die von ihr behaupteten Sollensgründe bestehen. Diesen Nachweis suchten sie durch eine überzeugende oder einleuchtende Darlegung der Theorie zu geben. Das ist der Grund, warum Galilei sich mit seinen Argumenten an die Vernunft wendet und die Bestätigung durch Erfahrung geringschätzt. 17 Die Prinzipien, die eine Theorie behauptet, müssen einsichtig sein oder einleuchten, um als wahr anerkannt zu werden; im Fall der Seinsprinzipien ebenso wie im Fall der Sollensprinzipien. Das Einleuchten einer Theorie oder ihrer Prinzipien, ihre Evidenz, galt als verläßliches Kriterium ihrer Wahrheit. Eine solche Gewißheit kann aber für normative Prinzipien und Theorien ebenso erreichbar scheinen wie für empirische Theorien. Daher konnten dieselben Philosophen, die die moderne Naturwissenschaft zur Anerkennung brachten, eine ebenso verläßliche und verbindliche politische Wissenschaft zu begründen hoffen. Dieselbe Gewißheit oder Evidenz schien ihnen in beiden Fällen erreichbar. Heute scheint es dagegen selbstverständlich, daß eine normative Theorie nicht die Gewißheit einer empirischen Theorie erreichen kann. Denn diese kann sich auf Erfahrung und mit dieser auf etwas allen potentiellen Beobachtern gleicherweise Gegebenes gründen, jene dagegen nicht. Muß man daher nicht die Hoffnung auf eine politische Wissenschaft, die im Verbindlichkeitsanspruch mit einer empirischen Theorie verglichen werden könnte, endgültig begraben? Das Gegenteil ist eher der Fall, wie ich nun zeigen möchte. Denn auch die empirischen Wissenschaften können nur eine bedingte, ein e fehl- und revidierbare Verbindlichkeit beanspruchen. Die Erfahrung, die ihnen eine verläßlichere Begründung zu geben scheint, kann eine Theorie nie vollständig begründen. Eine Theorie behauptet immer Gesetze oder Allaussagen, die als solche über den Erfahrungsgehalt hinausschießen. Die Erfahrung kann im besten Fall zeigen, was an bestimmten Raum-Zeit-Stellen beobachtbar ist. Sie kann höchstens singultire Aussagen begründen, keine allgemeinen. Daraus folgt nicht, wie Kant meinte, daß wir für unsere gesicherte empirische Erkenntnis das Wirken einer erfahrungsunabhängigen Vernunft und ihrer „reinen", erfahrungsunabhängigen Kategorien annehmen müssen. 18 Es folgt vielmehr, wie vor allem Karl Popper gezeigt hat 19 , daß wir auch empirische Theorien als Vermutungen verstehen müssen, die von der

17 Galileo Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, übers, v. Emil Strauss, Darmstadt 1982,152. Besonders Alexandre Koyré, Galilei, Berlin 1988,26, hat Galileis Verachtung der Erfahrung betont (die in Galileis Text klar genug wird). Aber auch A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei, Köln/Berlin 1964 (engl. 1959), 3 7 3 f f , und William R. Shea, Galileo's Intellectual Revolution, London 1972, χ et al. 18 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β XII ff, XVI ff und Β 2 - 6 . 19 Poppers wichtigste wissenschaftstheoretische Arbeiten sind: Logik der Forschung, Wien 1935; Conjectures and Refutations, New/York-London 1963; Objective Knowledge, Oxford 1972. Über die Kritik und kritische Literatur informiert am besten P.A. Schilpp (ed.), The Philosophy of Karl

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Erfahrung zwar widerlegt oder „falsifiziert" werden können, aber nie endgültig bestätigt oder „verifiziert". Sie können daher nie als definitiv wahr, sondern nur als vorläufig akzeptabel anerkannt werden. Eine ebensolche Verbindlichkeit nicht auf definitive Wahrheit, sondern vorläufige Akzeptabilität ließe sich aber auch für normative Theorien erheben, wenn wir für sie nur eine der Beobachtung vergleichbare Instanz finden könnten, an der sie ebenso scheitern können wie empirische Theorien an der Beobachtung. Um eine solche Instanz zu finden, müssen wir die Rolle der empirischen Falsifikation etwas näher betrachten und naheliegende Einwände gegen ihre Poppersche Deutung ausräumen. Wenn eine empirische Theorie statt Wahrheit nur Akzeptabilität beanspruchen kann, dann wird ihr Geltungsanspruch an ihrem Voraussageerfolg gemessen. Wird dann nicht die empirische Wissenschaft auf ein Instrument der menschlichen Praxis reduziert, die nicht mehr beanspruchen kann, was ihre Protagonisten beanspruchten, nämlich ein wahres Bild der Natur und ihrer Wirkungszusammenhänge zu geben? In der Tat erweist sich jede empirische Theorie nach Popper nur dadurch als wissenschaftlich, daß aus ihren Gesetzen (die Allaussagen sind) unter Voraussetzung bestimmter Anfangsbedingungen Voraussagen ableitbar sind, deren Eintritt sie bestätigt und deren Nichteintritt sie widerlegt oder falsifiziert. Die Bestätigung ist keine (vollständige) Begründung, Rechtfertigung oder Verifikation. 20 Sie kann nur zeigen, daß die Theorie in einem bestimmten Fall zu einem richtigen Ergebnis führt, nicht, daß sie es immer und überall tut, wo sie anwendbar ist. Wenn eine Voraussage sich als falsch erweist, wissen wir zwar, daß etwas an der Theorie, aus der sie abgleitet wurde, nicht stimmt. Erweist sie sich aber als wahr, so wissen wir nicht, ob das Bild der Natur, daß die Prinzipien der Theorie entwerfen, richtig ist; die Prinzipien könnten auch falsch sein, denn ex falso quodlibet. So scheint mit der Akzeptabilität einer empirischen Theorie nicht mehr akzeptiert werden zu können, als daß sie zu Voraussagen taugt. Sie kann durch ihren Voraussageerfolg zwar die Tugend der praktischen Verwertbarkeit beweisen, an der gerade die interessiert sind, an die ihre Verfechter ihre Geltungsansprüche besonders gern richten, nämlich die potentiellen Mäzene der Forschung, die die Prinzipien und Argumente der Wissenschaftler gar nicht verstehen. Schon Thaies konnte seine Theorie durch den Erfolg der Voraussage einer Sonnenfinsternis akzeptabel und sich selbst bei seinen unwissenden Zeitgenossen respektabel machen. 21 Aber der Voraussageerfolg kann einer Theorie nicht die Tugend bestätigen, der sie ihren guten Ruf verdankt, nämlich ein wahres Bild der Natur und ihrer Wirkungszusammenhänge zu geben. Jedoch ist nach Popper die Akzeptabilität einer Theorie mehr als ihre praktische Verwertbarkeit, weil wir von einer Konkurrenz wahrheitsbeanspruchender Theorien ausgehen müssen und nicht nur die Voraussagen einer Theorie mit dem betroffenen Raumzeitpunkt, sondern die konkurrierenden Theorien auf ihre Voraussagefähigkeit vergleichen können. Wenn daher eine Theorie alle Ereignisse voraussagen kann, die eine andere Theorie vorausPopper, 2 Bde., La Salle, III., 1974. Für das Verständnis von Poppers Wissenschafttheorie und meine Darstellung von ihr ist auch wichtig: C.G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, New York 1965. 20 Popper und seine Anhänger stellen oft den Begriff der Begründung dem der Bestätigung gegenüber. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch (dem ich folge) kann aber auch eine Bestätigung schon eine Begründung sein, wenn auch keine vollständige. 21 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, I, 23.

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sagt, aber darüber hinaus weitere Ereignisse und die Mißerfolge der zweiten Theorie erklären kann, ist sie besser oder akzeptabler als diese und muß gegenüber dieser als eine Annäherung an die Wahrheit 22 oder als eine Theorie mit größerer Wahrheitsähnlichkeit23 gelten. Eine solc h e Überlegenheit hat N e w t o n s T h e o r i e g e g e n ü b e r denen von Kepler und Galilei und Einsteins Theorie g e g e n ü b e r N e w t o n s Theorie. 2 4 Durch ihren unterschiedlichen Voraussageerfolg kommen empirische Theorien unterschiedlich mit der empirischen Wirklichkeit in Berührung und sind daher zwar nie endgültige und vollständige, aber mehr oder weniger ähnliche Bilder der Wirklichkeit. Der Geltungsanspruch der modernen Naturwissenschaft kann maßvoller scheinen als der, den die Protagonisten der w i s s e n s c h a f t l i c h e n M e t h o d e sowohl der A n t i k e als auch der Neuzeit, Piaton, Galilei, Descartes erhoben. Diese beanspruchten f ü r wissenschaftliche Theorien absolute und ewige, keine revidier- und fehlbare Wahrheit. Aber wenn die heutigen Naturwissenschaftler auch zwischen Akzeptabilitäts- und Wahrheitsanspruch unterscheiden, ersetzen sie nicht den Wahrheits- durch den Akzeptabilitätsanspruch. Auch heute folgen sie der Idee der absoluten und ewigen Wahrheit. Auch heute ist ihr Ziel eine Theorie, die nicht nur erfolgreiche Voraussagen erlaubt, sondern begreifen läßt, warum die Natur ist, wie sie ist. Sie halten daran fest, daß eine Theorie nur wahr ist, nicht weil und wenn sie Voraussageerfolg hat, sondern weil und wenn sie mit der Wirklichkeit, ihrem Wesen und Zusammenhang, übereinstimmt. Über ihre Akzeptabilität urteilen sie im M a ß ihres Voraussageerfolgs. Aber nur weil sie an der Wahrheitsidee festhielten, konnten sie eine in der Voraussage so erfolgreiche Theorie wie die Newtonsche durch eine noch erfolgreichere ersetzen. Für den Fortschritt der W i s s e n s c h a f t , sogar für ihre Entstehung erwies sich die Unterscheidung von Wahrheit und Akzeptabilität als befreiend; j a sie machte überhaupt erst die Entstehung der Wissenschaft aus mythischen Welterklärungen möglich. Erst als Akzeptabilitätsanspruch errang der G e l t u n g s a n s p r u c h der W i s s e n s c h a f t G l a u b w ü r d i g k e i t und Überzeugungskraft. Erst nachdem sie ihre Geltung statt mit dem Absolutheitsanspruch der Wahrheit mit der Fehlbarkeitsanerkennung der Akzeptabilität begründete, konnte es zu Kontinuität in der Erforschung der Natur kommen. Faktisch geschah dies schon bei den vorsokratischen Naturphilosophen in Ionien. A n a x i m e n e s n a h m sich heraus, seinen weisen Lehrer Anaximander durch Kritik anzugreifen, was dieser schon seinem Lehrer Thaies gegenüber gewagt und dieser vielleicht (wie Popper vermutet 2 5 ) seine Schüler gelehrt hatte. Die Schüler hielten die Theorien ihrer Lehrer nicht mehr für unfehlbar und mußten auch gegenüber den eigenen Schülern auf Unfehlbarkeit verzichten. Die Wissenschaft unterschied sich vom Mythos nicht durch die Lehre neuer Inhalte, sondern durch die Ersetzung der dogmatischen Einstellung zu denselben Inhalten durch eine kritische. Die Revolution der Lehrautorität vernichtete nicht die Weitergabe bewährten Wissens; sie verbesserte sie. Denn sie sicherte der Nachwelt gerade solche Geltungsansprüche, die sich im F e u e r der Kritik und der W i d e r l e g u n g s v e r s u c h e bewährten. 2 6 Aber das war nur möglich, weil die Forscher an der Wahrheitsidee festhielten.

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Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, 29. Ebd., 61 und 345. Vgl. ebd., 27ff. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376f. Vgl. Popper, Back to the Presocratics, in: Conjectures and Refutations, a.a.O., 1 3 6 - 1 5 3 , und Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376f.

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Die Evidenz der Prinzipien oder die Einsicht in die Stimmigkeit der Theoriekonstruktion spielte für die Protagonisten der Naturwissenschaft dennoch eine große Rolle; heute ist sie fast ausgeschaltet. Immerhin ist sie nicht völlig belanglos. Die Naturwissenschaftler urteilen auch heute, wenn sie umfassende Theorien entwerfen, über ihre Wahrheit nicht nur nach ihrem Voraussageerfolg, sondern auch danach, wie einleuchtend sie sind oder wie sehr sie uns die Natur verstehen lassen. 27 Deshalb spielen in der Beurteilung ihrer Wahrheit ästhetische Kriterien wie Einfachheit und Eleganz eine Rolle. Allerdings hat die Evidenz von Prinzipien nur eine heuristische und keine kriterielle Funktion: sie leitet nur zur Formulierung einer Theorie an, aber kann nicht über ihre Akzeptabilität entscheiden. Anders sieht es dagegen mit der Evidenz von Einzelaussagen aus. Singuläre Aussagen über bestimmte Raum-Zeit-Stellen (vor allem der Zukunft) sind die potentiellen Falsifikatoren empirischer Theorien. Auch sie sind nie definitiv wahr, weil sie immer durch Nachprüfen, durch neues Hinsehen oder Beobachtungen unter neuen Bedingungen revidiert werden können. Aber ihre Revision setzt die Evidenz der revidierenden Beobachtungen voraus. Die Evidenz singulärer Aussagen ist daher zwar nie eine hinreichende Bedingung der Wahrheit, wohl aber eine notwendige Bedingung der Akzeptabilität einer Theorie. Um den Verbindlichkeitsanspruch empirischer Theorien auf normative übertragen zu können, brauchen wir vergleichbare potentielle Falsifikatoren der normativen Theorie, die zwar wie die potentiellen Falsifikatoren empirischer Theorien keine definitive, sondern nur eine revidierbare Wahrheit zu beanspruchen brauchen, aber wieder nur durch die Evidenz neuer Falsifikatoren revidiert werden können. 28 Falsifizierbarkeit normativer Theorien Meine These ist nun, daß sich die Unterscheidung von Wahrheit und Akzeptabilität mit derselben fortschrittssichernden Wirkung von empirischen Theorien auf die politische Philosophie übertragen läßt. Dazu müßte sich die Methode der Bewährung von Theorien durch Ableitung widerlegbarer Aussagen aus ihnen auf die politische Philosophie übertragen lassen. Das scheint ausgeschlossen. Denn empirische Wissenschaften sagen uns, was der Fall 27 Obgleich er im wissenschaftlichen Fortschritt einen Fortgang vom Bekannten zum Unbekannten sieht, betont auch Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 205, daß Naturwissenschaftler ihren Gegenstand verstehen wollen und deswegen gern mit Symmetrieannahmen arbeiten. 28 Den Zusammenhang von Einleuchten und Widerlegbarkeit des Einleuchtenden, gerade weil es einleuchtet und daher einem anderen (oder mir selbst zu einem anderen Zeitpunkt) anderes einleuchten kann, aber auch einleuchten muß, um als Entkräftung des zuerst Einleuchtenden zu wirken, hat schon Anselm von Canterbury beschrieben. Als Christ war er seiner Fehlbarkeit ebenso bewußt, wie er als Theoretiker nicht den Aussagen widerstehen konnte, die ihm einleuchteten. Vor seiner Bestimmung der höchsten Natur im Monologion (die kein ontologischer Gottesbeweis ist w i e im Proslogion) sagt er: „Wenn ich dabei jedoch etwas so behaupte, was nicht eine höhere Autorität lehrt, so will ich es so aufgenommen wissen: obwohl das, was mir aus Vernunftgründen, die mir gut scheinen werden, als notwendig erschlossen wird, so soll es deshalb doch nicht als durchaus notwendig behauptet werden, sondern nur, daß es einstweilen so scheinen könne."Anselm von Canterbury, Monologion, hg. v. F.S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 41 (cap.l). Für den Begriff des Einleuchtens oder „(gut) Scheinens" gebraucht Anselm videri. Anselm unterscheidet freilich nicht zwischen allgemeinen und singulären Aussagen.

Falsifizierbarkeit normativer Theorien

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ist; die politische Philosophie will uns sagen, was (im Gebrauch von Zwang) der Fall sein soll. U m eine empirische Theorie zu bestätigen, bringen wir sie durch die aus ihr ableitbaren singulären Aussagen in Kontakt mit der Wirklichkeit, an der sie bestätigt werden oder scheitern kann. Die Wirklichkeit ist eine Instanz, die unabhängig von den Wünschen der Verfechter der Theorie besteht. Daß eine Theorie an ihr scheitern kann, heißt, daß sie in ihr einen unabhängigen Richter findet, den ihre Verfechter nicht bestechen können. Die politische Philosophie dagegen bezieht sich wie j e d e normative Theorie auf das, was der Fall sein soll; mithin auf etwas, w a s gerade nicht der Fall ist. W o r i n soll sie einen u n a b h ä n g i g e n Richter ihrer Allgemeinverbindlichkeit oder Akzeptabilität finden? Betrachten wir dennoch näher die Bedingungen, die eine empirische Theorie wissenschaftlich machen. 2 9 Es sind eine falsifikative, eine logische und eine konstruktive Bedingung. Eine falsifikative: die Theorie m u ß an der Beobachtung der Raum-Zeit-Stelle, über die sie eine Voraussage abzuleiten erlaubt, widerlegt oder bewährt werden können. Eine logische: aus ihr m u ß eine Voraussage über eine Raum-Zeit-Stelle ableitbar sein. Eine konstruktive: in ihr müssen unsere f r a g m e n t a r i s c h e n und o f t ungereimten und sogar widersprüchlichen A n nahmen über die Welt so zu einem System von Gesetzes- oder Allaussagen konstruiert sein, daß falsifizierbare Voraussagen ableitbar werden. Könnte eine normative Theorie denselben Bedingungen genügen? Sie würde die konstruktive Bedingung erfüllen, wenn sie aus dem, was wir an fragmentarischen und oft widersprüchlichen Annahmen über das normativ Geforderte haben, ein konsistentes normatives System von Prinzipien und Normen dessen, was sein soll, konstruierte. Sie würde die logische Bedingung erfüllen, wenn sie aus diesem Normensystem Voraussagen darüber abzuleiten erlaubte, welche Handlungsweisen wir in konkreten Entscheidungssituationen für normativ richtig halten. Sie würde schließlich di e. falsifikative Bedingung erfüllen, wenn die aus ihr abgeleiteten singulären Aussagen darüber, was in konkreten Entscheidungssituationen normativ richtig ist, dadurch falsifiziert werden können, daß der Adressat der Theorie von dieser normativen Aussage abweicht und urteilt, in der konkreten Entscheidungssituation sei das abgeleitete Handeln falsch. Die konstruktive und die logische Bedingung lassen sich problemlos erfüllen. Denn wir haben eine gewaltige M e n g e von Annahmen über das, was normativ richtig ist, und daraus lassen sich, j e nachdem welche unpassenden vorgefundenen A n n a h m e n man verwirft, verschiedene, auch miteinander unvereinbare und konkurrierende, aber selbst konsistente normative Systeme konstruieren, welche die Gesetze oder Prinzipien unseres moralischen Urteilens und Handelns formulieren, und tatsächlich sind alle normativen Theorien solche Konstruktionen. Ihre Gesetze entsprechen den Gesetzen deskriptiver Theorien. Diese erlauben abzuleiten, was unter gewissen Randbedingungen der Fall ist, j e n e erlauben abzuleiten, was unter gewissen Randbedingungen der Fall sein soll. Deskriptive Theorien erlauben allerdings nicht nur die Ableitung singulärer B e s c h r e i b u n g e n dessen, w a s an i r g e n d w e l c h e n Raum-ZeitStellen geschieht, sondern auch die Ableitung von Voraussagen über das, was geschehen wird. D a die Zukunft f ü r uns nie absolut gewiß ist, bestätigt der Eintritt des Vorausgesagten die Theorie, und zwar um so mehr, j e gewagter die Voraussage. Normative Theorien erlauben nicht die Ableitung solcher Voraussagen, weil sie zwar auch singuläre Aussagen über das, was der Fall sein soll, abzuleiten erlauben; Aussagen nämlich 29 Vgl. Ulrich Steinvorth, Lakatos und politische Theorie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 11, 1981, 135-146.

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darüber, was in einer konkreten Entscheidungssituation geschehen soll. Aber als normative singulare Aussagen behaupten sie etwas darüber, was in der Situation immer und nicht nur in Zukunft sein soll. Doch kann auch eine solche Ableitungfalsifiziert werden; wenn nämlich der Adressat der Theorie, meist der Leser des Buchs, in dem die Theorie niedergeschrieben ist, in seiner normativen Beurteilung der konkreten Entscheidungssituation, über die die normative Theorie eine singulare Aussage abzuleiten erlaubt, von dieser Ableitung abweicht. Läßt sich eine solche Falsifizierbarkeit sinnvoll annehmen? Die Schwierigkeit besteht darin, daß der Theoretiker, der aus den vielen und oft widersprüchlichen Annahmen über das normativ Geforderte seine Theorie baut, schon in dieser Konstruktion bestimmte Annahmen mit der Willkür eines Bauherrn als unbrauchbar verwerfen, andere an untergeordneter Stelle und wieder andere als Fundamente oder Schlußsteine einsetzen muß. Warum sollte er sich dann nicht mit derselben Freiheit über den Protest einer beliebigen Person hinwegsetzen, die der aus seiner Theorie abgeleiteten Aussage nicht zustimmt, daß man in der und der Situation die und die Handlungsweise für normativ richtig halten wird? Diese Schwierigkeit löst sich auf, wenn man das Ziel des Theoriebaus bedenkt. Er soll ja gerade aus der ungeordneten Mannigfaltigkeit unserer vielfältigen Annahmen über das, was hier oder da normativ gefordert ist, ein stimmiges und verständliches System machen, das uns zeigt, warum wir hier so urteilen und da so, und das uns befähigt, künftig besser zu urteilen und vielleicht sogar besser zu handeln. Das Urteil der Person, die dem aus der Theorie ableitbaren singulären Urteil über das, was in einer konkreten Lage zu tun ist, widerspricht, hat ein anderes Gewicht als eine der vielen Annahmen über das normativ Richtige, aus denen der Theoretiker seine Theorie zimmert. Denn es ist ein Urteil, das von der Theorie, nach deren Anspruch, aufgeklärt sein soll. Es setzt ein Verstehen der Theorie, die an ihm soll scheitern können, voraus. Die NichtZustimmung der Person, die nach der Theorie ein bestimmtes normatives Urteil fällen soll, bedeutet, daß sie in dem Bau, zu dem der Theoretiker die fragmentarischen Annahmen über das Gesollte gefügt hat, den Sinn und die Logik ihrer eigenen Annahmen über das Gesollte nicht wiedererkennt. Der Anspruch einer normativen Theorie, die allgemeinverbindlich sein will, ist aber gerade, den Sinn und die Logik unser aller Annahmen über das Gesollte durchsichtig und einsichtig zu machen. Daher ist die Zustimmung der Person, für die ein normatives Urteil vorausgesagt wird, einerseits eine Bestätigung, die immer nur vorläufig sein kann. Denn bestimmte mit der Theorie unverträgliche normative Annahmen können unberücksichtigt geblieben sein, und ein konkurrierender Theoriebau könnte unsere fragmentarischen Annahmen überzeugender zusammenstellen. Anderseits ist die Verweigerung einer solchen Zustimmung ein Beweis dafür, daß die Theorie ihren eigenen Anspruch nicht erfüllt, jedem den Sinn seiner normativen Urteile verständlich zu machen. Also muß die Zustimmungsverweigerung als ihre Falsifikation gelten, auch dann, wenn der Verweigernde nur deshalb nicht zustimmt, weil er die Theorie nicht gut genug begriffen hat oder in seinem moralischen Urteil korrupt ist. Der Theorieverfechter kann und wird normalerweise weiter an die Wahrheit seiner Theorie glauben; aber er muß seinen Anspruch auf ihre Akzeptabilität aufgeben. Wenn wir also eine Falsifizierbarkeit nicht nur für deskriptive, sondern auch für normative Theorien annehmen, so müssen wir doch den tiefen Unterschied in dieser Gemeinsamkeit erkennen. Deskriptive Theorien scheitern oder bewähren sich an dem, worüber sie singuläre Aussagen abzuleiten erlauben, unabhängig davon, ob oder wie der Gegenstand dieser Aussagen die Theorien versteht; gewöhnlich ist schon der Gedanke, daß ein solcher Gegenstand die Massen etwa der Newtonschen oder die Partikel der modernen Physik - die Theorie ver-

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stehen könnte, sinnlos. Normative Theorien finden dagegen ihren Witz darin, normative Annahmen normativ empfänglicher, urteilsfähiger und verstehen wollender Wesen so auf Prinzipien zu bringen, daß sie verständlich werden und unser Urteilen und Handeln besser leiten können. Das, woran sie scheitern können, sind keine harten, für die Theorie unempfänglichen und unbestechlichen Tatsachen, sondern weiche, für die Theorie höchst empfängliche Wesen, die eine Theorie verstehen, über sie urteilen und sie ebenso verwerfen wie anerkennen können. Zwar können wir sagen: Wie sich alle empirische Wissenschaft auf Beobachtung stützt, so alle politische Philosophie auf die besonderen normativen Annahmen, mit denen sie zu tun hat, die Ideen und Intuitionen von dem, wann oder wozu man Zwang gebrauchen und nicht gebrauchen darf. Von ihnen kann der politische Philosoph ausgehen, wenn er seine Theorie konstruiert; an ihnen muß er sie bewähren, wenn er seine Theorie in Form singulärer Aussagen einem Menschen vorträgt, damit dieser über sie urteile. Der letzten Endes subjektiven und daher immer revidierbaren Evidenz der Beobachtung der empirische Bestätigung entspricht die subjektive und ebenso revidierbare Evidenz von Gerechtigkeitsintuitionen, auf die sich der politische Philosoph stützen muß. Aber die Intuitionen vom Gerechten und Erzwingbaren sind keine unbestechlichen Richter. Sie können Theorien nicht nur falsifizieren, sondern auch von ihnen falsifiziert werden. Erweisen sich normative Theorie und Intuition als unverträglich, so kann auch die Intuition zugunsten der Theorie fallen. Wir haben starke und schwache, entschiedene und schwankende Intuitionen. Wir können uns nicht vorstellen, je unser Urteil darüber zu ändern, daß es absolut verboten ist, einen Säugling zum Vergnügen zu quälen. Wir sind weniger entschieden, ob es ungerecht ist, einen Mörder mit dem Tod zu bestrafen. Hier könnte eine Theorie, die aus relevanten Daten das Prinzip konstruiert, die Todesstrafe für bestimmte Mordarten sei gerecht, unsere Intuition umstoßen. Eine normative Theorie findet als ihren möglichen Falsifikator nur Menschen, die die Theorie verstanden haben müssen. Ob sie scheitert oder sich bewährt, hängt allein von ihrer Einsicht in das ab, was ihnen die Theorie präsentiert. Zwar können auch in deskriptiven Wissenschaften Beobachtungen zugunsten der Theorie verworfen werden; daher kann man „nicht einmal der Falschheit einer Theorie ganz sicher sein"; man kann nur „leichter feststellen, daß eine Theorie falsch ist, als daß sie wahr ist". 30 Auch Beobachtungen und Empfindungen sind nicht irrtumsimmun; sie sind von Umständen und Vormeinungen beeinflußbar, und man kann sie schulen, erziehen und verfälschen. 31 Aber ihre Unzuverlässigkeit hält sich in Grenzen. Mangelnde Übereinstimmung bei Beobachtungen ist sehr viel seltener als bei moralischen Intuitionen und läßt sich gewöhnlich leicht aus der Verschiedenheit des Orts der Beobachtung oder durch physiologische Schwächen wie Farbblindheit oder Schwerhörigkeit erklären. Jedem, der etwas beobachtet, muß zwar seine

30 Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 345. Weil Popper auch Beobachtungssätze für „theoriegetränkt" hält (z.B. ebd., 86), hält er sie ebenfalls für fehlbar. Sie sind immer nur „Entschlüsselungen der Nachrichten, die auf uns zukommen" (ebd., 77), für die bessere Entschlüsselungen gefunden werden könnten, aber eben deshalb nicht Sinnesdaten, mit der alle Erkenntnis anhebt. Vgl. auch Popper, Ausgangspunkte, Hamburg 1979, 139, es sei „fast ebenso gewagt, eine Widerlegung (vorläufig) zu akzeptieren, wie eine Hypothese". 31 Daß wir uns in unseren Empfindungen nicht irren könnten, wie Luwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, I, § 246, behauptet, gehört zu seinen Grundirrtümern, den Popper und andere epistemologische Erkenntnistheoretiker gebührend kritisiert haben.

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Beobachtung als evident sinnfällig gegeben sein, um von ihm selbst als verläßlich und als Beobachtung anerkannt zu werden. Ebenso muß jedem, der etwas normativ beurteilt, seine Intuition von dem, was richtig und falsch ist, als evident einleuchten, um von ihm selbst als verläßlich und als normatives Urteil anerkannt zu werden. Die Evidenz einer Beobachtung ist ebenso unaufhebbar subjektiv wie die Evidenz einer moralischen Intuition. Aber wir weichen faktisch in unseren Intuitionen von dem, was normativ richtig ist, sehr viel öfter voneinander ab als in unseren Beobachtungen, und diese Abweichungen lassen sich nicht so leicht aus Verschiedenheiten der Standorte der Urteilenden oder Schwächen erklären, die mit Farbblindheit oder Schwerhörigkeit verglichen werden können. Daher sind solche Intuitionen weniger als Beobachtungen geeignet, allgemeinvttbmàWch über Theorien zu richten. Ferner hängt die Zustimmung zu den aus einer normativen Theorie ableitbaren konkreten Handlungsempfehlungen offensichtlich von Faktoren ab, die bei der Beobachtung der RaumZeit-Stellen, über die die aus empirischen Theorien ableitbaren Prognosen etwas behaupten, kaum eine Rolle spielen: Schulbildung, Tradition und ideologische, moralische oder politische Voreingenommenheit. Ist also die Falsifizierbarkeit normativer Theorien nicht zu verschieden von der Falsifizierbarkeit deskriptiver Theorien, um als Schlüssel zur Begründung des Geltungsanspruchs einer politischen Philosophie zu dienen? Sie ist nicht zu verschieden, weil der Geltungsanspruch nur der der Akzeptabilität und nicht der Wahrheit ist. Eine Theorie kann mehr oder weniger akzeptabel und ihr auf Akzeptabilität gerichteter Geltungsanspruch mehr oder weniger verbindlich sein; daher folgt aus der Verschiedenheit der Falsifizierbarkeit durch Voraussage und Zustimmung nur eine Verschiedenheit im Grad der Verbindlichkeit. 32 In jedem Fall ist die falsifikationistische Methode auch bei Anerkennung der Abhängigkeit der Zustimmung zu den konkreten Handlungsempfehlungen einer normativen Theorie von Faktoren wie Erziehung und Tradition nicht bedeutungslos. Erstens kann es innerhalb gegebener Schulen und Traditionen zur leichteren Klärung strittiger Punkte kommen; zweitens können zwischen verschiedenen Traditionen die strittigen Punkte leichter erkannt, zum Gegenstand von Argument und Kritik gemacht und schließlich vielleicht doch in einer Weise entwickelt werden, die die Anhänger der konkurrierenden Traditionen überzeugt. Es gibt zwei Alternativen zum Gebrauch der falsifikationistischen Methode in den normativen Disziplinen. Erstens, wie bisher über die Wahrheit ihrer Prinzipien oder ihrer Gründe zu entscheiden zu versuchen. Die Geschichte der normativen Theorien zeigt zur Genüge, daß sich darüber kein Einverständnis erreichen läßt. Zweitens, zu resignieren, wie es die politische Philosophie ein Jahrhundert tat. Auch die Naturwissenschaftler haben sich im Mittelalter lange genug und erfolglos über die Wahrheit der Prinzipien ihrer konkurrierenden Theorien gestritten. Sie haben aber einen Weg gefunden, ihren fruchtlosen Prinzipienstreit dadurch zu vermeiden, daß sie das Kriterium

32 Auch Popper, Die offene Gesellschaft, a.a.O., Bd. 2, 286f, verweist auf „eine gewisse Analogie" der „Analyse der Konsequenzen einer Sittenlehre ... in der Vorstellung", nämlich durch unsere „Einbildungskraft", die wir als eine Form des Vergleichs der konkreten Anwendungen der „Sittenlehre" mit unseren Intuitionen verstehen können, zur „wissenschaftlichen Methode" der Falsifikation. Er verweist auch auf einen „grundlegenden Unterschied": „... während das Verdikt der Experimente von uns unabhängig ist, hängt das Verdikt des Gewissens von uns selbst ab." Meine Anwendung des Falsifikationismus auf die politische Philosophie hätte soweit Poppers Billigung finden können. Allerding wäre er wohl gegen meinen Versuch skeptisch geblieben, zwischen begründbarer Wahrheit und Akzeptabilität zu unterscheiden.

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des Einleuchtens der Prinzipien ersetzten durch das Kriterium des Voraussageerfolgs, das sich seinerseits auf das Kriterium der immer revidierbaren Evidenz singulärer Aussagen stützt. Sie haben dazu keine Wissenschaftstheorie gebraucht; diese beschreibt nur die Methoden, denen die Naturwissenschaften ihre Erfolge verdanken. Die normativen Theoretiker können nun den Rationalismus der empirischen Wissenschaften für einen Sonderfall der Naturwissenschaften halten. Sie können aber auch versuchen, die Lehren der Wissenschaftstheorie auf ihr eigenes Feld anzuwenden. 33 Dann muß man mit dem Richter des Zustimmungserfolgs vorlieb nehmen. Daß dieser nicht die Unabhängigkeit des Richters über konkurrierende empirische Theorien hat, sondern für die Präsentation der Tatsachen und Prinzipien bestechlich ist, ist tatsächlich keine Schwäche: nur so kann er über konkurrierende normative Theorien urteilen. Die Unterwerfung unter diesen Richter bedeutet für die politische Philosophie sowenig einen Verzicht auf den Wahrheitsanspruch wie für die Physik. Sie ist nur die Öffnung ihrer Diskussion zur Öffentlichkeit, die in jedem Fall das letzte Wort in der Entscheidung über die Institutionalisierung der Prinzipien einer politischen Theorie haben sollte. Sie bedeutet nicht, daß der politische Philosoph aufhört, einleuchtende Gründe für Gerechtigkeitsprinzipien zu suchen, sondern daß er die Weigerung des Lesers, den konkreten Konsequenzen aus seinen Prinzipien zuzustimmen, als Verpflichtung versteht, Fehler in seinen Argumenten aufzuspüren und seine Gründe noch einleuchtender zu präsentieren. Sie bedeutet schließlich die Anerkennung, daß die Öffentlichkeit nichts Besseres tun kann, als solche Gerechtigkeitsprinzipien zu institutionalisieren, die die größte Akzeptabilität erreichen, auch dann, wenn der politische Philosoph die besten Gründe hat zu glauben, daß die Theorie mit der größten Akzeptabilität falsch ist. Wenn er solche Gründe hat, muß er von ihnen mit argumentativen Mitteln überzeugen und für seine Gründe Zustimmung suchen. Die deskriptiven Wissenschaften brauchten immerhin etwa zwei Jahrtausende, bis ihre Methode der Überprüfung in ihrer Praxis zu allgemeiner Anerkennung kam. Vielleicht brauchen die normativen Wissenschaften nur ein halbes Jahrtausend mehr, bis auch ihre Verfechter ihre Theorien als Vermutungen behandeln, die man der relevanten Kritik durch die normativen Intuitionen unterwerfen muß. Es wäre in jedem Fall nicht weniger wichtig als im Fall der deskriptiven Theorien. Denn für ihre normativen Ideen haben die Menschen einander noch leichter umgebracht als für ihre Vorstellungen von der Welt und der Natur. Man kann daher mit Popper hoffen: „We may still learn to kill our theories instead of killing each other. If natural selection has favored the evolution of mind ..., then it is perhaps more than a Utopian dream that one day may see the victory of the attitude ... of eliminating our theories, by rational criticism, instead of eliminating each other." 34

33 Die falsifikationistische Wissenschaftstheorie entstand aus der Absicht Poppers, die bewährten Methoden der Physik auf Fragen anzuwenden, die ihm marxistische und freudianische Theorien unangemessen zu beantworten schienen, und der von Hempel und Oppenheim, sie auf die historischen Disziplinen zu übertragen. Vgl. Popper, Science: Conjectures and Refutations, in: Conjectures and Refutations, New York und London 1965, 34ff, und: C.G. Hempel/P. Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: C.G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, New York/London 1966, 245ff (zuerst 1948). Mein Versuch entspricht diesem ursprünglichen Ziel. 34 Popper, Natural Selection and the Emergence of Mind, in: Radnitzky/Bartley (eds.), Evolutionary Epistemology, a.a.O., 139-55,154.

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Zur Begriindbarkeit der politischen Philosophie

Methodologische Vorteile der politischen Philosophie Entscheidet man über die mehr oder weniger große Akzeptabilität einer politischen Theorie nach ihrem Zustimmungserfolg, so muß man freilich ein gewisses Vertrauen in das Urteil der Öffentlichkeit haben. Ist diese korrupt oder „degeneriert", wie manche Philosophen annehmen, so kommt der Zustimmungserfolg als Akzeptabilitätskriterium nicht in Frage; man wird dann wohl auch kein anderes finden. Ich sehe keinen Grund für ein negatives Urteil. Ich teile zwar nicht Poppers These, wir seien nicht, wie Russell behauptete, „zu gescheit, aber moralisch ... zu schlecht", sondern „zu g u t . . . und zu dumm" 3 5 , aber halte die moralischen und Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen für zuverlässig, zumindest nicht für schlechter als meine eigenen und die anderer Philosophen. Wenn man dennoch so oft in der Beurteilung von Prinzipien, Handlungen und Institutionen auseinandergeht, dann liegt das an Unterschieden nicht moralischer, sondern intellektueller Art, nämlich der Art, aus den moralischen Intuitionen auf Regeln zu schließen, die unsere Urteile leiten - an Unterschieden, die zu überwinden gerade die Aufgabe der politischen Philosophie ist. Eine politische Philosophie, die die moralischen Intuitionen der Öffentlichkeit als potentielle Falsifikatoren politischer Theorien anerkennt, legt sich allerdings darauf fest, daß für die meisten solche Handlungsweisen nicht in Frage kommen, wie sie der Marquis de Sade empfiehlt. Mir scheint diese Festlegung gut vertretbar.36 Die politische Philosophie hat es weder in der Vergangenheit noch heute zu einer Theorie gebracht, die sich ähnlich weiter Zustimmung erfreut wie die Newtonsche Physik im letzten Jahrhundert oder auch nur eine der konkurrierenden Theorien der modernen Physik heute. Dieser Mangel an Übereinstimmung ist nicht einfach eine Schwäche. Er spiegelt vielmehr die Unterschiede der Traditionen und Kulturen wieder, die das Denken und die Erziehung in verschiedenen Klassen und verschiedenen Ländern prägen. Diese Unterschiede ändern sich. Die Menschen lernen voneinander und lassen sich auch von unvertrauten Regeln überzeugen, wenn auch gewöhnlich mit zunehmendem Alter weniger. Die politische Philosophie ist der Weg, die gegebenen unterschiedlichen und oft konkurrierenden praktischen Intuitionen und Phänomene so zu ordnen, daß sie kontinuierlich und über Generationen hinweg rational verteidigt und kritisiert werden können. Realistischerweise werden wir noch eine Weile mit einer größeren Zahl konkurrierender politischer Theorien rechnen müssen. Aber ebenso können wir die Klärung einer Reihe von Streitfragen erwarten. Haben wir einmal begriffen, daß eine politische Philosophie in der Systematisierung der mehr oder weniger chaotischen Mannigfaltigkeit unserer praktischen Annahmen und Intuitionen zu einem Bau besteht, der uns verständlich macht, was eine bestimmte normative Aussage bedeutet, so wird uns auch eine Vielzahl konkurrierender normativer Theorien nicht verwirren, und wir werden in der Tatsache, daß ein anderer von einer anderen politischen Philosophie überzeugt ist als wir, einen anderen Versuch sehen, aus den normativen Intuitionen, in denen er großgezogen wurde, einen Sinn zu machen. Wir können darin eine Herausforderung finden, unsere eigenen Intuitionen noch besser zu sichten, zu wägen und zu einer noch überzeugenderen Ordnung zusammenzustellen.

35 Popper, Alles Leben ist Problemlösen, München 1993, 274 (aus einem Vortrag von 1991). 36 Vgl. etwa seinen Roman Juliette und dazu Roger Shattuck, Forbidden Knowledge: From Prometheus to Pornography, N e w York 1997, und die Rezension des Buchs von Andrew Delbanco in: New York Review of Books, 25.9.97.

Methodologische Vorteile der politischen Philosophie

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Wir können sogar hoffen, auf bestimmten Feldern unseres Handelns zu einer weitgehenden Einigung über die verbindlichen Normen zu gelangen. Die Systematisierung unserer fragmentarischen normativen Intuitionen zu einem Theoriebau verlangt zwar auch die Annahme umfassender Prinzipien dessen, was überhaupt in der Welt sein soll; ähnlich wie die Systematisierung unserer fragmentarischen Annahmen darüber, was die Welt ist, uns nach umfassenden Gesetzen des Verhaltens von Naturkörpern suchen läßt. Aber die Geschichte der naturwissenschaftlichen Theorien hat gezeigt, daß Annahmen über beschränkte Bereiche der Natur eher eine verläßliche Bestätigung erreichen als umfassende Annahmen über sie, so wichtig diese auch für die Erforschung speziellerer Bereiche sind. Ähnlich können wir erwarten, für beschränktere Felder unseres Handelns eher eine verläßliche Bestätigung normativer Theorien zu erreichen als für umfassende Theorien darüber, was überhaupt der Fall sein soll, so wichtig auch solche Theorien für die Orientierung auf spezielleren Handlungsfeldern sind. Die politische Philosophie behandelt ein spezielles Feld des Normativen, nämlich die Normen des Gerechten, die auch die Normen des erlaubten und gebotenen Zwangs sind. Soweit solcher Zwang in der Regierung moderner Staaten gebraucht wird, besteht heute unter den Theoretikern, wenn auch nicht in der Praxis, weitgehende Einigkeit, daß er nur nach den Regeln eines demokratisch kontrollierten Rechtsstaats gebraucht werden darf. Dies ist ein Erfolg der Diskussionen der politischen Philosophie, die sich weitgehend an der politischen Theorie von Locke orientiert haben, und der Diskussion von Erfahrungen mit den verschiedenen politischen Systemen, die auf der Erde in den letzten drei Jahrhunderten ausprobiert wurden. Die Anerkennung, die diese Normen gefunden haben, ist gewiß nicht so weit verbreitet und gesichert wie die Anerkennung, welche die Naturgesetze gefunden haben, die unseren Wahrnehmungsbereich betreffen. Trotzdem finden wir hier eine Parallele zwischen der Entwicklung der Naturwissenschaft und der politischen Philosophie, die die Annahme eines Falsifikationismus für normative Theorien bestätigt. Die Aussicht auf eine relative Übereinstimmung in der politischen Philosophie kann sich nicht nur auf die verbreitete Anerkennung der Prinzipien der Regierung stützen. Hinzu kommt die Übereinstimmung in der Annahme über die Ziele aller heutigen Politik, nämlich Friede, Wohlstand und Freiheit für alle. Diese Übereinstimmung ist keine Frucht der politischen Philosophie. Sie ist vielmehr das Ergebnis der bitteren Erfahrungen, die die Menschen mit solchen Bewegungen der politischen Praxis machten, die auf ideologische, religiöse oder rassistische Ziele verpflichten wollten und wollen. Auch diese Übereinstimmung ist nicht gesichert und durch Fundamentalisten aller Lager gefährdet. Dennoch kann die politische Philosophie auf sie bauen, so wie die moderne Physik auf die Anwendbarkeit der Newtonschen Gesetze in den meisten alltäglichen Situationen bauen kann. Schließlich kommt der politischen Philosophie zugute, daß wir in unseren Intuitionen von erlaubtem und verbotenem Zwang weniger voneinander abweichen als in unseren Intuitionen von dem, was positiv gut ist. Besonders in unseren Urteilen über Gewalt und Betrug, die die gewöhnlichsten Formen von Zwang darstellen, zeigen wir uns nicht allzu abhängig von kulturellen und anderen Quellen der menschlichen Verschiedenheit. Grausamkeit und Hinterhältigkeit werden überall verurteilt; die Minimierung von Zwang gilt fast überall als wünschenswert, wenn auch die Meinungen darüber weit auseinandergehen, wieviel Zwang, etwa im Strafsystem, zur Minimierung von Zwang notwendig ist. Daher ist es nicht irrational von politischen Philosophen, auf weitgehend akzeptierte und in ihrer Akzeptabilität gut begründete politische Theorien zu hoffen. Heftig umstritten sind zwar normative Theorien der Verteilungsgerechtigkeit. Aber die liberale politische Theorie der

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Zur Begriindbarkeit der politischen Philosophie

Regierung von Staaten, welche repäsentative Vertretung der Regierten, Kontrolle der Regierung durch einen obersten Gerichtshof und Respektierung der Menschenrechte fordert, ist weitgehend akzeptiert. Warum sollte nicht ein ähnlicher Akzeptabilitätsgrad für eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit erreichbar sein? Moralische Intuition und Gewissen Daß sich normative Theorien in der beschriebenen Weise auf normative Intuitionen stützen sollten, läßt sich durch Verweis auf ein bekanntes Phänomen zugleich bestätigen und kritisieren, auf das Phänomen des Gewissens. Bestätigen, weil die Traditionen der Philosophie, der Religion und der Erziehung dem Gewissen große Bedeutung beimaßen. Es wurde verstanden als eine normative innere Instanz, die dem Handelnden zu erkennen gibt, was er in einer konkreten Entscheidungssituation tun und vor allem: was er nicht tun sollte. Es gibt keine Prinzipien an, sondern spricht vor allem in singulären, auf konkrete Entscheidungssituationen bezogenen Verboten. Ihnen muß man nach Meinung der meisten Philosophen und Theologen bis zu Kants Zeit unbedingt gehorchen. Dem Gewissen zu folgen galt als notwendige Bedingung richtigen Handelns. Kant nennt es sogar die „praktische Vernunft", die „dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht" vorhalte, um ihn „loszusprechen" oder zu „verurteilen": es sei der „innere Gerichtshof im Menschen" 3 7 , der wie die „äußeren" Gerichtshöfe der wirklichen Gesellschaften über einzelne Handlungen urteilt. Das Gewissen artikuliert demnach für den konkreten Fall, was richtig ist; es besteht darin, uns die moralischen Intuitionen vorzuhalten, denen wir im konkreten Fall folgen sollen. Wer an den Ansprüchen des Gewissens festhält, muß daher auch die Intuitionen als die Instanz anerkennen, von denen der normative Theoretiker ausgehen und an denen er seine Theorie überprüfen muß. Zugleich lehren die früheren Moralisten, daß man sein Gewissen zu pflegen und erziehen habe. Das entspricht unserer Annahme, daß wir bereit sein müssen, nicht nur eine normative Theorie an unseren Intuitionen scheitern zu lassen, sondern auch eine Intuition zu verwerfen, wenn uns eine Theorie davon überzeugt. Der Verweis aufs Gewissen kann aber auch der Kritik der behaupteten Rolle der moralischen Intuitionen für eine normative Theorie dienen. Denn wir können die Stimme des Gewissens leicht als Produkt einer bestimmten, gewöhnlich einer religiösen Erziehung erklären. Wir betrachten es als Über-Ich, und dies als die Verinnerlichung der Autorität einer Vaterfigur. Was es uns sagt, gibt nur die moralische Meinung der Vergangenheit wieder. Warum sollten wir diese Meinung wichtig nehmen? Dasselbe gilt für die moralischen Intuitionen. Sie sind die uns mit unserer Erziehung eingelullten oder eingebleuten moralischen Vorurteile. Sie als Ausgang und Schiedsinstanz normativer Theorien anerkennen heißt das Vorurteil zum Richter machen. Zweifellos sind die Stimme des Gewissens und die moralischen Intuitionen oft nur das Produkt einer schlechten Erziehung. Die Vertreter der Religionen haben gewußt, daß die Menschen Wesen sind, die nicht nur nach ihren Impulsen entscheiden, sondern die naheliegenden Entscheidungen mit anderen Möglichkeiten vergleichen und deshalb im Normalfall mit Gewissenhaftigkeit und Gewissen urteilen. Sie haben die Gewissenhaftigkeit beeinflußt. Trotzdem haben wir keine bessere Schiedsinstanz als das Gewissen. Wir können seine Stimme nur auf seinem Boden kritisieren. Gegen die Stimme des Gewissens können wir nur mit einer 37 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre. Einleitung XII b und § 13.

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anderen Stimme des Gewissens reden und gegen eine moralische Intuition nur eine andere setzen. Wir können nur unterstellen, daß die eine besser ist als die andere, aber wir können die Sphäre des Gewissens und der moralischen Intuitionen nicht verlassen. In dieser Sphäre finden wir uns nicht vor, weil wir eine bestimmte Erziehung genossen haben, sondern weil wir urteilsfähige Wesen sind, die nicht umhin können, die Folgen und die Alternativen ihrer Entscheidungen zu bedenken. Wie wir über Folgen und Alternativen denken, darin sind wir offensichtlich von der Erziehung beeinflußt. Daß wir es aber tun, ist durch unsere Urteilsfähigkeit bedingt. Auch Hunde können so etwas wie ein schlechtes Gewissen zeigen, wenn sie unter dem Blick ihres Herrn einer Regelverletzung inne werden, und das Gewissen kleiner (und großer) Kinder ist davon nicht unterschieden. Aber das Gewissen eines entwickelten Menschen ist durchaus, wie Kant sagt, ein innerer Gerichtshof, „vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen" 38 ; es hat die Form der Rede und Widerrede; es urteilt und verurteilt zwar, aber es wendet sich an jemand, der urteilen kann und die Alternative zur verurteilten Handlung kennt. Wenn wir uns nicht für schizophren halten, müssen wir die Stimme des Gewissens als die Stimme unserer eigenen Urteilsfähigkeit anerkennen. Wir selbst sprechen im Gewissen in unserer Eigenschaft als Wesen, die nicht umhin können, über das zu urteilen und sich Gedanken zu machen, womit wir zu tun haben. Menschen können Gewissen haben und von ihm in ihren Entscheidungen und Handlungen geleitet werden, weil sie ein Bewußtsein ihrer Eigenart haben können. Ihre Eigenart ist, wie ich im nächsten Kapitel darlegen will, die Fähigkeit, nach Gründen, die auch andere als Gründe erkennen können, zu entscheiden und handeln. Diese Fähigkeit wird gewöhnlich Vernunft genannt. Das Bewußtsein dieser Eigenart besteht in der Einsicht, daß man dieser Fähigkeit gemäß handeln sollte: entweder nach Gründen, die auch andere anerkennen können, oder (wenn man ohne Gründe handelt) so, daß jeder andere darin einen Grund erkennen kann, den er anerkennen kann. Das Gewissen ist die Form, in der sich diese Einsicht in konkreten Entscheidungssituationen meldet. Es ist nicht die Stimme einer Religion, sondern die Instanz, die Freud der Religion entgegensetzte: „die Stimme des Intellekts": sie „ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf." 39 Das Gewissen kann, wie jede Form eines Bewußtseins der eigenen Fähigkeiten, verderben und verkümmern. Gibt es eine Kultur des Gewissens, so kann und muß es als die Instanz anerkannt werden, die das Individuum in seinen Entscheidungen orientiert. Das schließt nicht aus, daß es in Widerspruch zum positiven Recht gerät. In diesem Fall steht das Recht, das allein „mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist", wie Kant sagt40, gegen das Gewissen, welches das letzte Wort in den Entscheidungen des Individuums hat. Der Vertreter des Rechts hat die Macht und oft auch die moralische Pflicht, sich über die Gewissensentscheidung eines Einzelnen hinwegzusetzen und diesen an der Ausführung seines Gewissensentscheids zu hindern oder für sie zu bestrafen. Aber die Gewissensentscheidungen können auch dazu führen, das Recht zu ändern. Darüber entscheidet letzten Endes das Gewissen der Einzelnen. Geht es um die Akzeptabilität einer politischen Theorie, interessiert die Verträglichkeit der 38 Ebd., § 13. 39 Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Abschnitt X, in: Studienausgabe, Bd.9, Frankfurt/M. 1974,186. 40 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § D.

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Zur Begründung von Moral und Recht

individuellen Gewissensentscheidung nicht mit dem positiven Recht, sondern mit konkreten Handlungsentscheidungen, die aus der Theorie ableitbar sind. Solche Überprüfungen schärfen das Gewissen, zum dessen Kultur wir die politische Philosophie zählen müssen. Wenn dem Gewissen und den moralischen Intuitionen wirklich, so mag der erschöpfte Leser auf meine Argumente reagieren, eine so wichtige Rolle für die Akzeptabilität einer politischen Theorie zukommen und wenn ihre Verbindlichkeit die ihrer Akzeptabilität ist, warum ist dann noch kein politischer Philosoph auf dieselben Gedanken gekommen? Nun, Originalität kann ich gar nicht beanspruchen; ich habe nur der offiziellen Methodologie von Rawls eine falsifikationistische Form gegeben. Rawls hat in der Theorie der Gerechtigkeit, wie wir sehen werden, eine Methodologie der politischen Philosophie entwickelt, die mit dem hier entwickelten institutionenorientierten Falsifikationismus übereinstimmt. Auch er spricht den Gerechtigkeitsintuitionen die Rolle möglicher Falsifikatoren politischer Philosophien zu. Auch er sieht die Leistung einer politischen Theorie darin, den Leser (wenn sie die übliche Form eines Buchs annimmt) von der Art zu überzeugen, wie sie die moralischen Intuitionen und Phänomene zu einem System von Gesetzen und Folgerungen zusammenstellt. Daher sagt er: „We may suppose that everyone has in himself the whole form of a moral conception. So for the purposes of this book, the views of the reader and the author are the only ones that count. The opinions of others are used only to clear our own heads." 4 ' Stimmt der Leser Rawls' Buch und den aus ihm ableitbaren Entscheidungen in konkreten Handlungssituationen zu, so gilt Rawls sein Buch als bestätigt; stimmt er ihm nicht zu, dann muß Rawls es von neuem versuchen. Rawls spricht seinem Leser eine Richterrolle zu, die denselben Gewissensfalsifikationismus voraussetzt, den ich expliziert habe, und erinnert mich daran, dieselbe Rolle auch meinem Leser zuzugestehen.

3. Zur Begründung von Moral und Recht Der notwendige Universalismus der politischen Philosophie Die falsifikationistische Methode einer Disziplin legt ihre Theorien auf einen bestimmten Universalismus fest. Falsifizierbare Theorien müssen in einem doppelten Sinn universell sein. Erstens müssen sie allgemeine Aussagen oder Gesetze formulieren, aus denen singuläre widerlegbare Aussagen ableitbar sind, und zweitens grundsätzlich jedem ihre Falsifikation erlauben. Wir können die erste Bedingung objektiv universell, die zweite subjektiv universell nennen, weil die eine die Objekte, die andere die Subjekte der Theorie betrifft. Sie können für die Naturwissenschaft als allgemein anerkannt, j a trivial gelten, weil die Naturwissenschaft von Anfang an mit dem Ziel antrat, einerseits Naturgesetze zu entdecken, anderseits sie allgemeinverbindlich in dem Sinn zu behaupten, daß jedes genügend intelligente Wesen sie verstehen und kritisieren und beurteilen könnte unabhängig von partikularen Bedingungen einer Kultur, Religion, Klasse, Rasse oder des Geschlechts. Auf denselben zugleich objektiven und subjektiven Universalismus legt sich die politische Philosophie durch ihren Falsifikationismus fest. Aber hier ist er nicht trivial. Denn die Bedingung des objektiven Universalismus verlangt vom politischen Philosophen die Angabe 41 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 50.

Universalismus der politischen Philosophie

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nicht nur konkreter, situationsbezogener politischer Ratschläge, sondern ihre Grundlegung durch Gesetze, Prinzipien, Ideale oder Entscheidungsmodelle, die aus einem Ratschlag die unparteiliche Anwendung eines Allgemeinen und Dauernden auf die besondere historische Situation machen. Die politische Praxis, schon immer ein Muster der Verhaftung ans Partikulare und Temporäre, wird dadurch mit einem Allgemeinen verbunden, das dem Augenblicksgeschehen enthoben und Richtschnur für alle Entscheidungen ist. Die Revidierbarkeit politischer Theorien zwingt uns zwar zur Anerkennung, daß wir nicht gewiß sein können, in den politischen Prinzipien den ewigen Maßstab der Gerechtigkeit gefunden zu haben. Solange wir ihnen aber folgen, sind sie für uns zeit- und kulturunabhängige Ideen, und wenn neue sie ersetzen, weil eine Theorie falsifiziert wurde, dienen sie als ebensolche ewigen Maßstäbe. Die Bedingung des subjektiven Universalismus verlangt vom politischen Philosophen, daß er seine Theorie dem Gewissensurteil jedes Menschen unabhängig von dessen Herkunft aussetzt. Er muß darauf wirken, daß jeder sie verstehen kann. Auch wenn er weiß, daß sie unter den gegebenen Bedingungen nur ein kleiner Teil verstehen kann, muß er seine Theorie so formulieren, daß sie jeder Interessierte verstehen kann, wenn er nur eine gewisse Bildung erreicht hat. In der Entwicklung empirischer Wissenschaften kann es auch dann einen Fortschritt durch Kritik und Neuentwurf von Theorien geben, wenn nur ein kleiner Teil der Menschheit beteiligt ist. Denn worauf es hier ankommt, ist die Konfrontation der Theorie mit der Wirklichkeit der Naturphänomene, und diese Konfrontation können auch wenige vornehmen. Die Entwicklung der politischen Philosophie dagegen lebt von der Konfrontation der Theorie mit den Gerechtigkeitsintuitionen jedes Menschen; je kleiner der Kreis der Diskutierenden, desto größer die Tendenz, daß die überhaupt diskutierten Theorien die Intuitionen nur der Gebildeten, Intellektuellen oder politisch Interessierten ausdrücken und an denen der Mehrheit vorbeigehen. Die aktuellen politischen Theorien leiden unter dieser Tendenz. Vermutlich werden auch unter idealen Bildungsbedingungen nur einige an politischer Philosophie interessiert sein. Die meisten werden sich vermutlich von keiner politischen Theorie angesprochen fühlen und nie die Rolle des potentiellen Falsifikators übernehmen wollen. Solange aber die Bildungsbedingungen in der Welt so sind, daß übermäßig vielen die Ausbildung fehlt, die sie an der politischen Philosophie interessiert machen könnte, müssen sich die politischen Philosophen für eine weltweite Hebung der Bildung einsetzen, um möglichst vielen die Voraussetzungen für das politische Interesse zu sichern. Wir werden sehen, daß es ein Recht auf Bildung gibt42, das in jedem Fall zu einem solchen Einsatz verpflichtet. Die Hindernisse, die dem Fortschritt der politischen Philosophie die Ungleichheit der Bildung und die Verschiedenheit der Kulturen bereiten, lassen sich allerdings auch durch die Beschränkung der Verbindlichkeit der politischen Philosophie auf die je eigene Kultur verringern. In diesem Fall ersetzt man den subjektiven Universalismus durch einen subjektiven Partikularismus. Die politische Philosophie hört deswegen nicht notwendig auf, zeitunabhängige politische Prinzipien zu formulieren, die mehr sind als situationsbedingte Ratschläge. Aber sie schränkt ihre Verbindlichkeit auf die eigene Kultur ein. Die Kommunitaristen empfehlen die Beschränkung 43 , und auch Rawls legt sich in seinen späteren Aufsätzen durch seine Konzeption der „politischen, nicht metaphysischen" Begründung einer politischen Theorie

42 Vgl. dazu unten das Kapitel über liberale Gleichheit und den Schluß des letzten Kapitels des Buchs. 43 Vgl. dazu unten den Abschnitt über Michael Walzer.

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auf eine solche Beschränkung fest. 44 Logisch und methodologisch ist die Beschränkung gut möglich. Gegen sie spricht aber, daß es für Konflikte zwischen Kulturen mit ihren je eigenen normativen Theorien keine allgemeinverbindliche Gerechtigkeitsnormen gäbe und sie nur durch Gewalt, List oder den Zufall gelöst werden könnten. Zwar ist der Wunsch nach einer universalen normativen Theorie noch kein Argument dafür, daß es sie gibt. Aber nach dem falsifikationistischen Ansatz kann es nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein; alles hängt vielmehr daran, ob es einer Theorie gelingt, die Zustimmung der Individuen der verschiedensten Kulturen zu gewinnen. Die Idee der gleichen Freiheit Die klassischen politischen Philosophien von Hobbes bis Kant beanspruchten nicht nur kulturunabhängige universale Verbindlichkeit; sie glaubten auch, in der Idee der gleichen Freiheit den Inhalt der Gerechtigkeit gefunden zu haben, dem alle folgen können, und ich will in diesem Buch zeigen, daß sie darin recht hatten. Die Idee der gleichen Freiheit gilt zu Recht als die Leitidee des politischen Liberalismus, und auch ich werde sie liberal nennen; man muß aber beachten, daß diese Titel besser durch die politische Philosophie von Locke und Kant erläutert werden können als durch Autoren, die sie heute reklamieren. Nach der Idee der gleichen Freiheit handelt jemand gerecht, wenn er dem andern dieselbe Freiheit einräumt, über sich und sein Eigentum zu verfügen, die er für sich selbst beansprucht. Dieser Universalismus fordert von jedem keine gleiche Lebensweise, sondern gleiche Achtung dafür, wie jemand über sich, seine Anlagen, sein Leben und sein Eigentum verfügt. Zwar lautet ein verbreiteter Einwand gegen den politischen Liberalismus, er zwinge allen Individuen und Gruppen ein und dieselbe Lebensweise auf. In seinem Selbstverständnis aber ist das genaue Gegenteil der Fall. Denn er läßt jedem die Freiheit, über sich und sein Eigentum nach Belieben zu verfügen, und unterwirft ihn nur der Bedingung, jedem andern dieselbe Freiheit zu lassen, über sich und sein Eigentum zu verfügen. Wir werden sehen, daß die Idee der gleichen Freiheit in der Tat auf eine Lebensform festlegt, die mit anderen konkurriert, und doch in ihrem Rahmen jedem seine Lebensweise läßt. In jedem Fall enthält sie ein Programm der Minimierung von Zwang, aber auch, was manche Verteidiger ebenso wie manche Kritiker des Liberalismus übersehen, der Rechtfertigung des minimierten Zwangs. Denn nach dem Liberalismus darf nicht nur, sondern muß auch immer zur Verhinderung der Verletzung der gleichen Freiheit Zwang gebraucht werden. Kant setzte die Idee der gleichen Freiheit mit dem Begriff des Rechts gleich. Er definierte das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". Diese Bedingungen entsprechen genau der Freiheit, die jeder für sich unter der Bedingung beansprucht, dem andern dieselbe Freiheit zuzubilligen, und eben das ist die gleiche Freiheit. Warum aber kann sie auch als das Recht verstanden werden? Weil erstens, so Kant, „jede Handlung ... recht (ist), die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann." 45 Wir messen die Rechtlichkeit oder Gerechtigkeit einer Handlung daran, ob sie oder ihre Maxime 4 4 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: Die Idee des politischen Liberalismus, hg. v. W. Hinsch, Frankfurt/M. 1992, 255-292, 255 (zuerst 1985). 45 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, §§ Β und C.

Die Idee der gleichen Freiheit

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jedem einen gleichen Willkürspielraum erlaubt. Zweitens halten wir uns auch dann und nur dann für berechtigt, gegen jemand Zwang zu gebrauchen, wenn er uns nicht denselben Freiheitsspielraum zubilligt wie sich selbst. Der legitime Gebrauch von Zwang aber zeichnet nach traditioneller Auffassung die Durchsetzung des Rechts aus: „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden." 46 Das Recht ist gleiche Freiheit, weil wir an ihr die Gerechtigkeit einer Handlung messen und nur zu ihrer Verteidigung Zwang erlauben. Kant glaubte allerdings, es könne nur einen Zustand geben, in dem die Willkürfreiheit eines jeden mit der jedes anderen zusammen bestehen kann. Die „allgemeinen Gesetze der Freiheit" sind nach ihm überall und notwendig dieselben, und die Grenzen der Sphären der Individuen, in denen sie über sich und ihr Eigentum und nur darüber frei verfügen dürfen, eindeutig. Dazu mußte er voraussetzen, daß jedem sein Eigentum eindeutig bestimmt werden kann. Aber er selbst stützte sich in der Bestimmung des Eigentums schon auf ein anderes Prinzip als Locke, mit dessen Liberalismus er im übrigen übereinstimmt. Den wichtigsten Rechtfertigungsgrund für Eigentum sah er in der „Bemächtigung" oder Erstaneignung 47 , Locke dagegen in der Arbeit. 48 Die Idee der gleichen Freiheit aber ist die Idee der gleichen Verfügung über sich und sein Eigentum. Können die Grenzen des Eigentums nicht eindeutig gezogen werden, so ist auch die gleiche Freiheit nicht eindeutig bestimmt. Tatsächlich ist die Uneindeutigkeit des Eigentumsbegriffs der Grund dafür, daß es heute wie in der Vergangenheit eine Vielzahl liberaler Theorien gibt, die in der Auslegung der gleichen Freiheit streiten. Um die Grenzen der Freiheitssphären der Individuen zu ziehen, genügt es aber nicht, wie Kant meinte, die Regeln zu klären, die Individuen und Gruppen berechtigen, sich Güter zu ihrem privilegierten Gebrauch anzueignen. Ebenso wichtig ist zu klären, ob es neben privatem auch Gemeineigentum gibt, worauf es gegebenenfalls gründet und wozu es verpflichtet. Waren schon die Legitimitätsbedingungen des Privateigentums unter traditionellen Liberalen wie Locke und Kant umstritten, so erst recht die Legitimitätsbedingungen eines möglichen Gemeineigentums. Dies um so mehr, als Locke zwar alle natürlichen Ressourcen als Gemeineigentum anerkannte, aber es für die ökonomische und politische Praxis als folgenlos erachtete. Die Bestimmung der Legitimitätsbedingungen von Eigentum ist ein notorisches Problem. Man könnte daher die Idee der gleichen Freiheit ohne Bezug auf das Eigentum bestimmen wollen. Jeder, so könnte man sagen, habe dann gleiche Freiheit, wenn er über sich selbst und nur über sich selbst, nicht aber auch über ein vermeintliches Eigentum verfügen darf. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt, weil man nie nur über sich selbst verfügen kann. Schon um zu atmen, muß ich frische Luft verbrauchen, die in manchen Umständen einem andern fehlen kann. Um zu leben, brauche ich nicht nur Luft; auch Wasser, Platz auf der Erde zum Stehen und Liegen, Nahrungsmittel und so fort. Ohne eine der menschlichen Existenz nicht ganz widrige Natur, die jeder bei seiner Geburt vorfinden muß, kann kein Mensch leben. Man kann daher kein Selbstverfügungsrecht bestimmen, ohne das Recht zu bestimmen, die vorgefundenen natürlichen Ressourcen zu gebrauchen: wieviel darf davon jeder unter welchen Bedingungen verbrauchen? wieweit muß er für die Regeneration und Substitution der verbrauchten Naturgüter sorgen? wieviel Rücksicht muß jeder auf seine Zeitgenossen und die künftigen Generationen nehmen? Das sind Fragen, die bis zu Lockes 46 Ebd., § D . 47 Ebd., Rechtslehre, §§ 14f. 48 Locke, 2nd. Treatise of Government, a.a.O., §§ 27-36.

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Zeit der politischen Philosophie gegenwärtig waren 49 , aber nach ihm und sogar unter seinem Einfluß vergessen wurden und doch, wie wir heute wissen, höchst aktuell sind. Um die gleiche Freiheit oder auch nur das Recht, über sich selbst zu verfügen, zu bestimmen, genügt es wiederum nicht, den legitimen Gebrauch von Naturgütern zu bestimmen; man muß vielmehr auch den legitimen Gebrauch der von Menschen produzierten Güter bestimmen. Der Liberalismus ebenso wie der Sozialismus gesteht traditionell den Produzenten einen privilegierten Gebrauch des von ihnen Produzierten zu, der sie zu dessen Pnvafeigentümern macht. Privateigentum sind demnach alle produzierten, Gemeineigentum alle Naturgüter. Was wir in den Gesellschaften an Gütern vorfinden, ist zum allergrößten Teil aber weder ein rein natürliches noch gar ein bloßes Arbeitsprodukt. Es ist vielmehr ein bearbeitetes Naturgut, eine aus Arbeit und Natur gemischte Ressource. Wie man nun die Wertanteile der Natur und der Arbeit an den Reichtümern der Gesellschaft unterscheiden und sie den Gemein- und den Privateigentümern zuweisen soll, gehört zu den zentralen Problemen der Verteilungsgerechtigkeit, die uns beschäftigen werden. In jedem Fall ist klar: Die gleiche Freiheit kann nicht die einfache Form behalten, die sie bei Locke und Kant hat. Sie muß durch eine Unterscheidung von Privat- und Gemeineigentum und die Explikation der Konsequenzen ergänzt werden. Warum sollte man da überhaupt an der gleichen Freiheit festhalten? Weil sie die Idee ist, die der spezifisch menschlichen Fähigkeit des Urteilens und Begründens entspricht. Begründungsfähige Wesen können über sich selbst verfügen und diese Fähigkeit bei sich und anderen erkennen und anerkennen. Tun sie das, so gewähren sie sich und einander gleiche Freiheit. In der gleichen Freiheit finden sie den Maßstab, an dem sie die Richtigkeit ihres Handelns, ihrer Institutionen und ihrer Güterverteilung beurteilen können. Das hat Konsequenzen für die Moralphilosophie insgesamt und für die politische Philosophie im besonderen. Beginnen wir mit der politischen Philosophie. Der Idee der gleichen Freiheit entspringt nicht nur die Idee gleicher Rechte, die jedem als Menschen zukommen, der Menschenrechte. Sie erlaubt auch, zwischen primärem Zwang, der die gleiche Freiheit verletzt und unrecht ist, und sekundärem Zwang, der sie verteidigt und legitim ist, zu unterscheiden. Die Unterscheidung legt den Grund für die Idee, den Staat als die Institution, die das Gewaltmonopol beansprucht, auf den Gebrauch sekundären Zwangs einzuschränken. Die politische Philosophie bietet mit ihr einem historischen vorgefundenen Machtträger eine Rechtfertigung seiner Existenz an: er ist legitim, ja von der Gerechtigkeit gefordert, wenn er seine Macht nur und immer zur Verhinderung primären Zwangs einsetzt. Der Ausgang von der Idee der gleichen Freiheit erlaubt der politischen Philosophie, Existenz und Funktionen des Staates ebensowohl zu kritisieren wie zu rechtfertigen. Er befreit sie davon, den Staat als ihren Gegenstand zu betrachten, ohne dessen Existenz sie gegenstandslos wäre. Noch Nozick folgt - freilich nur verbal - wie Max Weber diesem Verständnis, wenn er als die „Grundfrage der politischen Philosophie" die behauptet, „ob es überhaupt einen Staat geben sollte": „Why not have anarchy?" 50 Die Grundfrage in dem von Nozick 49 Vgl. etwa Lockes Hobbes-Kritik in: Essays on the Law of Nature, ed. by W. von Leyden, Oxford 1954, 211: „.. the inheritance of the whole of mankind is always one and the same, and it does not grow in proportion to the number of the people born ... so, when any man snatches for himself as much as he can he takes away from another man's heap the amount he adds to his own, and it is impossible for anyone to grow rich except at the expense of someone else." 50 Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974,4.

Eigenart der neuzeitlichen Moralphilosophie

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gemeinten Sinn einer Frage, die allen anderen logisch vorausgeht, ist vielmehr, ob es überhaupt Gerechtigkeit geben sollte: Warum nicht ohne Recht leben ? Der Staat spielt für die politische Philosophie nur die Rolle einer Instanz, die, wenn man einmal erkannt hat, daß Gerechtigkeit nicht ohne sekundäre Gewalt möglich ist, diese ausführen soll. Ließe sich zeigen, daß eine andere Institution diese Rolle besser spielt, so müßte der Staat aus der politischen Philosophie verabschiedet werden. An der abgeleiteten (aber deswegen nicht schwachen) Rolle des Staats ändert sich auch nichts, wenn die politische Philosophie anerkennt, daß zur konfliktfreien Bestimmung der Grenzen der Freiheitssphären der Individuen Gesetze nötig sind, die ihre Vorstellungen von dem, was ihre Rechte sind und wo sie aufhören, explizieren und anwendbar machen. Der Staat ist dann nicht mehr nur der Vollstrecker sekundären Zwangs oder exekutive Gewalt, sondern auch der Festleger der Rechte der Individuen oder legislative Gewalt und weiter ihr Wahrer in strittigen Fällen oder judikative Gewalt. In allen drei Rollen erhält er seinen politischen Wert durch seine Funktion in der Durchsetzung von Gerechtigkeit oder der Sicherung der Rechte der Individuen, die wiederum als ihre Befugnisse im Zustand ihrer gleichen Freiheit verstanden werden. Dasselbe gilt, wenn der Staat als Verwalter des Gemeineigentums bestimmt wird. 5 ' Auch dann wird der Staat durch die Idee der gleichen Freiheit bestimmt, die auf den Gebrauch des Gemeineigentums angewandt wird. Die Eigenart der neuzeitlichen Moralphilosophie Der Moralphilosophie liefert die Idee der gleichen Freiheit den Inhalt, dem sie ihren Universalismus verdankt. Um zu verstehen, was das heißt, muß ich zu einem Rückblick auf die Entwicklung der neuzeitlichen Moralphilosophie und der Moral selbst ausholen. Hume, Kant, Schopenhauer und andere systematisierten eine Unterscheidung zweier Sphären der Moral, die an verbreitete moralische Intuitionen vermutlich der meisten Gesellschaften anknüpft, der Sphären der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit. Die Gerechtigkeit verlangt, niemandem zu schaden; die Wohltätigkeit, jedem zu helfen. Neminem laede; verletze niemand: so faßt Schopenhauer zusammen, was die Gerechtigkeit fordert, imo omnes, quantum potes, iuva; hilf allen, soviel du kannst: so faßt er zusammen, was die Wohltätigkeit fordert. Zusammen bestimmen diese Prinzipien nach Schopenhauer den Inhalt der Moral. 52 Dieser läßt sich auch durch eine einzige, aber nach zwei Seiten hin bestimmte Zielsetzung beschreiben: die Moral verlangt, daß alle menschlichen, vielleicht sogar auch nicht-menschliche Lebewesen in ihrem Leben geschützt und auf der einen Seite, die die Gerechtigkeit bestimmt, nicht in ihrem Leben behindert, auf der andern Seite, welche die Wohltätigkeit bestimmt, gefördert werden. Die zwei Seiten der Moral ergänzen einander zum gemeinsamen Ziel, aber müssen gemäß der Bedeutung des zu schützenden Lebens ungleiche Dringlichkeit haben. Wenn man das Leben für schützenswert hält, so ist es schlimmer, das Leben zu behindern (was die Gerechtigkeit verbietet), als es nicht zu fördern (was die Wohltätigkeit verlangt). Daher ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit ein härterer Verstoß gegen die Moral als ein Verstoß gegen die Wohltätigkeit.

51 Siehe dazu unten im dritten Teil. 52 Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik. II. Preisschrift über die Grundlage der Moral, Hamburg 1979, 34f.

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Nach dieser Logik gelten die Pflichten und Tugenden der Gerechtigkeit bei Hume, Kant und Schopenhauer ebenso wie bei den meisten andern Moralphilosophen und Nichtphilosophen als streng und unerläßlich; ihre Nichterfüllung darf und muß gegebenenfalls bestraft und zu ihrer Erfüllung gezwungen werden; die Pflichten und Tugenden der Wohltätigkeit gelten dagegen als verdienstlich und weit. Sie sind nicht erzwingbar; ihre Erfüllung verdient vielmehr, was die Erfüllung der Gerechtigkeit, die immer nur geschuldet ist, nicht verdient, nämlich Lob von allen und Dank von den Empfängern der Wohltätigkeit, und das im Maß der Größe des Opfers, das der Wohltäter durch seine Wohltätigkeit bringt. 53 Die Pflichten der Wohltätigkeit sind weit, weil sie nicht mit derselben Genauigkeit zu bestimmen sind wie die Rechtspflichten; diese entscheiden, ob etwas verboten ist oder nicht; jene lassen wegen der Verschiedenheit der Bedürftigkeit notwendig einen Spielraum, wie man jemand am besten hilft. Diese Moralkonzeption ist nicht spezifisch neuzeitlich. Wir finden sie auch bei Piaton, wenn er Sokrates erklären läßt: „alles Verderbende und Zerstörende ist das Böse, das Erhaltende und Fördernde aber das Gute." 54 Denn das so bestimmte Böse ist genau das, was die Gerechtigkeit verbietet: Schädigung und Zerstörung, und das Gute das, was die Wohltätigkeit verlangt: Erhaltung und Förderung. Gerecht, so können wir nach dieser verbreiteten Moralkonzeption sagen, ist es, nichts Böses zu tun oder niemandem zu schaden; um gerecht zu sein, genügt es, schädigende Handlungen zu unterlassen; die Pflichten der Gerechtigkeit sind daher negativ. Gut ist man dagegen erst, wenn man etwas zugunsten anderer tut; die Pflichten der Wohltätigkeit sind daher positiv.55 Spezifisch neuzeitlich wird die Moralkonzeption durch drei Schritte. Erstens durch die Universalisierung ihrer Forderungen. In den historisch ersten menschlichen Gesellschaften gab es nicht eine universale, sondern nur verschiedene partikulare oder ßi'nnenmoralen. Das Verletzungsverbot verbot, Stammes- oder Bundesgenossen zu verletzen; das Hilfegebot gebot, ihnen zu helfen - gemäß den Gruppenvorstellungen von dem, was gut ist. Solange die 53 Zu Hume vgl.: A Treatise of Human Nature, ed. by Selby-Bigge, Oxford 1978, Bk.3, pt.2, sec.l; zu Kant vgl.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. K. Vorländer, 2. Abschnitt, Hamburg 1962, 43, 52f. 54 Piaton, Republik X, 608e. D i e Gleichsetzung von böse mit zerstörend und destruktiv und von gut mit fördernd und konstruktiv gehört wohl zu den tiefsten moralischen Intuitionen. Sie hat auch immer wieder den Glauben an die Überlegenheit des Guten über das B ö s e bestätigt, dessen Destruktivität auch selbstzerstörend ist. Goethe, Faust 1338-45 und 1335f, stellt das B ö s e in Mephisto vor als den „Geist, der stets verneint! und das mit Recht: denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wärs, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element", und zugleich als „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft." Ebenso schon einige Jahre vor ihm Kant, unbekümmert um seinen kritischen Ansatz und Hegel vorwegnehmend, 1793 in seinem die Aufklärung neu bestimmenden Aufsatz: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Immanuel Kants Werke, hg. v. E.Cassirer, Bd. 6, Berlin 1914, 397: „Denn eben die Entgegenwirkung der Neigungen, aus welchen das B ö s e entspringt, untereinander, verschafft der Vernunft ein freies Spiel, sie insgesamt zu unterjochen, und statt des Bösen, was sich selbst zerstört, das Gute, welches, wenn es einmal da ist, sich fernerhin von selbst erhält, herrschend zu machen." Ebenso: Zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe (im folgenden AA), 379. 55 Wir finden hier einen Grund der Unaufhebbarkeit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen, heute Utilitaristen anfechten.

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M e n s c h e n mit M e n s c h e n aus anderen G e s e l l s c h a f t e n ü b e r w i e g e n d i m K r i e g zu tun hatten, konnte es zwar die Forderung geben, F r e m d e nicht zu verletzen, weil sie V e r b ü n d e t e werden k ö n n t e n ; a b e r a u c h d i e s e F o r d e r u n g w a r auf die E r w a r t u n g d e r G e g e n s e i t i g k e i t d e r NichtVerletzung und der H i l f e g e g r ü n d e t . Die B i n n e n m o r a l verpflichtete nur g e g e n solche, von denen man ebenfalls Hilfe und NichtVerletzung erwarten konnte. Ihre Universalisierung machte auch solche zu Verpflichtenden, von denen man nicht unbedingt Hilfe und NichtVerletzung erwarten konnte. Sie führte die Moral in eine tiefe, bis heute nicht ü b e r w u n d e n e Krise, weil sie nicht zu erkennen gibt, w a r u m man ihr nicht nur unter der B e d i n g u n g der Gegenseitigkeit f o l g e n sollte. Sie ist zwar keine E r r u n g e n s c h a f t d e r Neuzeit, sondern der G r ü n d e r der Weltreligionen des B u d d h i s m u s , des C h r i s t e n t u m s und des Islam; auch Piaton scheint in seiner zitierten B e s t i m m u n g des Guten und des Bösen eine universale M o r a l a n z u n e h m e n . Sie w u r d e a b e r in d e r N e u z e i t als e i n P r o b l e m e r k a n n t . Sie f ü h r t e zu Versuchen, die von ihr verlangte Uneigennützigkeit oder Selbstlosigkeit zu begründen. Diese B e g r ü n d u n g s v e r s u c h e m a c h e n den zweiten Schritt aus, der die Moral der zwei Sphären d e r Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit der neuzeitlichen Moral annäherte. Diese B e g r ü n d u n g e n sind nicht m e h r wie i m Mittelalter religiös; sie bestehen nicht m e h r im V e r w e i s darauf, daß alle M e n s c h e n G e s c h ö p f e Gottes und deshalb einander verpflichtet sind. Sie sind v i e l m e h r p s y c h o l o g i s c h w i e bei H u m e , d e r die T u g e n d e n d e r W o h l t ä t i g k e i t d u r c h d a s M i t l e i d e n u n d M i t f r e u e n aller M e n s c h e n m i t e i n a n d e r o h n e E r w a r t u n g e i n e r R e z i p r o z i t ä t erklärt, o d e r v e r n u n f t t h e o r e t i s c h w i e bei K a n t , der i m g e m e i n s a m e n V e r nunftbesitz aller M e n s c h e n eine Verpflichtung zu unbedingter A c h t u n g und N o t h i l f e erkennt. A u c h d i e s e r Schritt ist j e d o c h nicht s p e z i f i s c h neuzeitlich, da wir eine K a n t v e r g l e i c h b a r e B e g r ü n d u n g bei Piaton finden und psychologische B e g r ü n d u n g e n bei den Sophisten vermuten können. D i e N e u e r u n g der N e u z e i t in ihrer K o n z e p t i o n der universalen M o r a l s c h a f f t ein dritter Schritt. Er besteht darin, aus der trotz eigener B e g r ü n d u n g s versuche als unsicher e m p f u n d e nen Moral die Gerechtigkeit durch eine B e g r ü n d u n g auszuzeichnen, die sich w i e d e r auf die Idee der Reziprozität stützt. Dieser Schritt verwandelt die Gerechtigkeit, die noch als Tugend g e ü b t w e r d e n k a n n , in das n a t ü r l i c h e o d e r v e r n ü n f t i g e Recht, ein S y s t e m von R e g e l n o d e r „ B e d i n g u n g e n " , u m mit K a n t zu s p r e c h e n , u n t e r d e n e n j e d e r z w a r u n t e r A n d r o h u n g v o n Z w a n g oder Strafe daran gehindert wird, andern zu schaden, aber zugleich sicher sein kann, selbst k e i n e n S c h a d e n von a n d e r n zu leiden. D i e G e r e c h t i g k e i t der u n i v e r s a l e n Moral verlangt, niemand zu schaden, o b man selbst v o m andern Schaden erwarten m u ß o d e r nicht; sie verlangt, wie Kant sagt, ihre A u s ü b u n g u m ihrer selbst willen. D a s Recht verlangt nur, daß ich tu, was die Gesetze j e d e m unter A n d r o h u n g v o n Z w a n g vorschreiben; nicht, daß ich mir das R e c h t h a n d e l n z u m P r i n z i p o d e r zur M a x i m e m a c h e , s o n d e r n nur, d a ß ich k l u g genug bin, Gesetzen zu folgen, die allen, w e n n sie ihnen nur folgen, nützen. „Das Rechthandeln mir zur M a x i m e zu machen, ist eine Forderung, welche die Ethik [die Kant sonst Moralität nennt]an mich tut", nicht das Recht. 5 6 D e m Recht geht es nicht u m das M a x i m e n m a c h e n , sondern u m das („äußere", wie Kant sagt) Handeln, u n d es motiviert dazu durch Zuckerbrot u n d Peitsche:

56 Ebd., Rechtslehre, § C. Die Gerechtigkeit geht nach Kant dem Recht logisch voran; daher sagt er in: Zum ewigen Frieden, AA, 381, das Recht werde „nur von ihr [der Gerechtigkeit]erteilt", auch wenn er ebd., 353, das „Recht der Menschen" „das Heiligste, was Gott auf Erden hat,... diesen Augapfel Gottes" nennt. Hegel nennt das Recht in: Rechtsphilosophie, § 30, etwas trockener „etwas Heiliges überhaupt".

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durch die Aussicht auf die eigene Sicherheit vor Verletzungen anderer und die Androhung von Strafe bei eigenen Verletzungen anderer. Das Recht wird zur Schutz- und Trutzburg der Moral. Die Wohltätigkeit ist zwar, wie Hume argumentiert, eine natürliche Tugend, die unseren natürlichen Regungen der sympathy folgt. Aber die universale, allgemeinverbindliche positive Bestimmung des Guten, das in den Binnenmoralen durchaus verschiedene Formen angenommen hatte, erwies sich in der europäischen, von den unterschiedlichen Quellen der griechischen, römischen, jüdischen, christlichen und germanischen Idealen gespeisten Tradition als problematisch und kam nicht über Tugenden hinaus, die so blaß waren wie die schönen Geister und edlen Frauen, in deren stillen Kammern sie ein fiktives Leben fristeten. Im harten Alltag verließ man sich auf die engherzige, scheelblickende Gerechtigkeit, die Leistung nur für Gegenleistung gibt und vor allem eine strafende Instanz im Rücken hat, wenn man ihre Regeln verletzt. Denn darin sind sich alle neuzeitlichen Moralphilosophen von Hobbes über Locke, Hume, Rousseau und Kant bis zu Hegel und Schopenhauer einig: das Recht bedarf zu seiner Durchsetzung einer Gewaltinstanz, und diese Instanz ist der Staat; der Staat hat die Durchsetzung des Rechts zur wichtigsten, wenn nicht einzigen Aufgabe. Das Recht ist daher nicht nur die Fluchtburg, in die sich die durch ihre Universalitäts- und Uneigennützigkeitsansprüche bedrängte Moral zurückziehen kann; sie ist auch ihre Trutzburg, von der aus sie sich wieder als uneigennützige Wohltätigkeit geltend machen soll. Denn der das Recht durchsetzende Staat sorgt durch seine Durchsetzung für sichere bürgerliche Verhältnisse, in denen, wie Hume erwartet, die natürliche Tugend der Wohltätigkeit aufblüht, die Menschen sich moralisieren, wie Kant voraussagt 57 , oder ihre Versittlichung erst möglich wird, so daß, wie Hegel behauptet, „allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den Staat hat." 58 Das spezifisch Neuzeitliche der universalistischen Moralkonzeption ist, daß die institutionelle Sicherung der Moral im Recht für notwendig gehalten wird. Die Moral fällt nicht mit dem Recht zusammen. Im Gegenteil wird das Recht zwar als Institution der Gerechtigkeit und darin als ein Teil der Moral verstanden, aber ihm wird im Rahmen der Moral eine Sonderstellung zugestanden, weil seine Befolgung keine moralische Gesinnung, keine Selbstlosigkeit, nicht einmal strenge Universalität verlangt; denn das Recht ist faktisch national, wenn auch der Idee nach für die klassischen Liberalen universal. 59 Die Konservativen Hume und Hegel dagegen lehren, das Recht zwischen den Staaten sei „not so necessary nor advantageous as that among individuals, without which 'tis utterly impossible for human nature ever to subsist." 60

57 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7.Satz . Vgl. auch: Zum ewigen Frieden, AA, 61 : „... wie denn auch nicht von (der Moralität) die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten ist". 58 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 56. 59 Kant erkennt, welche Konsequenz diese Universalität hat: einen Weltstaat einzurichten; vgl.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Siebenter Satz, a.a.O.; er ist aber nicht bereit, dieser Konsequenz zu folgen; vgl. seinen Entwurf: Zum ewigen Frieden, bes. AA, 366f. Vgl. dazu und zum impliziten Rechtsuniversalismus bei Hobbes meinen Aufsatz: Zum Begriff eines nationalen und eines globalen Staates, in: G. Landwehr (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, Göttingen 1999. 60 Hume, Treatise, a.a.O., Bk 3, pt 2, sec 11, 569. Zu Hegel vgl.: Rechtsphilosophie, §§ 321 ff, bes. §331.

Eigenart der neuzeitlichen Moralphilosophie

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Das Recht der Neuzeit ist eine reduzierte Moral, die der unreduzierten zur Entfaltung verhelfen soll. Die neuzeitliche Moral ist universal, weil sie sich auf das Recht stützt, das die mangelnde Bestimmung der Wohltätigkeit erträglich macht und ihre in jedem Fall mangelnde Befolgung kompensiert. Die neuzeitliche Moral, die außerhalb des Rechts liegt, die Moral der Wohltätigkeit (und der Gerechtigkeit als Gesinnung; denn Kant nimmt es als „eine Forderung, die die Ethik an mich tut", an, das „Rechthandeln mir zu Maxime zu machen" 61 ), findet zwar Anerkennung in der Beurteilung von Handlungen, aber sehr viel weniger auch in der AMSführung von Handlungen. Unter ihrem „scharfen, aber engen Lichtkegel der Universalisierbarkeit... ermöglicht" sie, wie Habermas beschreibt, „ein Wissen, das zwar der Orientierung im Handeln dienen soll, aber zum richtigen Handeln nicht auch schon disponiert"; sie bedarf daher des Rechts, das sie „handlungswirksam ergänzt".62 Die neuzeitliche Moral ist daher immer in Gefahr, als doppelte Moral empfunden zu werden, die als Wohltätigkeit mehr verlangt, als sie in ihrer Gestalt als Recht eintreibt, und nach einem andern Maßstab handelt als urteilt. Tatsächlich spielt sie kein doppeltes Spiel. Sie verfügt vielmehr wie die Moral früherer Epochen, sogar schon die Binnenmoral, über zwei Maßstäbe, den der Gerechtigkeit und den der Wohltätigkeit. Beide dienen zugleich der Beurteilung und der Ausführung von Handlungen, aber verlangen Verschiedenes; die Wohltätigkeit verlangt mehr; ihre Forderungen erscheinen notwendig jedem, der kein moralischer Held ist, oft als unzumutbar. Denn man muß ein moralischer Held sein, um der Forderung zu genügen Jedem soviel man kann zu helfen. Das Recht darf daher die Wohltätigkeit nicht in der Weise ergänzen, daß sie ihre Forderungen erzwingt. Es darf nur die bescheideneren Ansprüche der Moral in deren Form der Gerechtigkeit erzwingen. Die Idee der gleichen Freiheit ist nun aus zwei Gründen unverzichtbar für das universalistische Moralverständnis. Sie bewahrt erstens das Recht davor, zu einem bloßen Instrument der Ordnung und Sicherheit einer Gesellschaft zu werden, das mit einer universalen Moral unvereinbar wäre. Versteht man das Recht mit Kant und der liberalen Tradition als den Zustand, in dem die Freiheit eines jeden mit der jedes andern vereinbar ist, so kann es weder nur eine beliebige Gesetzesordnung noch nur ein Zustand sein, in dem Individuen und Gruppen einer partikularen Gesellschaft einander vor wechselseitigen Schädigungen bewahren. Es muß dann vielmehr Teil einer universalen Moral sein; der Idee nach der Zustand, in dem alle Individuen und Gruppen beliebiger Gesellschaften einander vor Schädigungen bewahren und den gleichen Spielraum auch dafür haben, ihre Vorstellungen von dem zu praktizieren, was gut ist. Die Idee der gleichen Freiheit sichert daher zweitens zugleich mit der Universalität des Rechts die der Moralität oder Wohltätigkeit, deren Pflichten, weil sie notwendig weit und damit mehrdeutig sind, der Bedingung der Verträglichkeit mit dem universalen Recht unterworfen und dadurch selbst universal werden. Wir können soweit erkennen, daß die Idee der gleichen Freiheit für das universalistische Moralverständnis unverzichtbar ist. Aber können wir uns auf ein solches Verständnis überhaupt einlassen? Ist eine universale Moral mehr als eine irreführende Illusion? Das läßt sich nur bejahen, wenn wir Gründe haben, sie einer partikularen Moral vorzuziehen.

61 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § C. 62 Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 145f.

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Motive für die Anerkennung der universalen Moral Ein Grund für die universale Moral ist, wie Schopenhauer treffend ausdrückte, „so entsetzlich schwer anzugeben". 63 Daher möchte ich zuerst die historischen Motive klären, die zur weitgehenden verbalen Anerkennung der universalen Moral geführt haben. Über diese Motive müssen wir im zweiten Schritt entscheiden, ob sie auch Gründe liefern, die universale Moral einer partikularen vorzuziehen. Sollten wir in ihnen einen allgemeinverbindlichen Grund finden, so hätten wir nicht nur begründet, warum man die universale Moral einer partikularen vorziehen sollte; wir hätten auch das geleistet, was man unter einer Moralbegründung versteht, da diese als Begründung dafür verstanden wird, die universale Moral jeder Alternative vorzuziehen. Eine solche Moralbegründung könnte keine Letztbegründung sein, weil wir mit der Revidierbarkeit auch von Moralbegründungen rechnen müssen. Tatsächlich wird sie nur eine sehr schwache Begründung sein, weil der Grund, auf den man den Vorzug der universalen vor einer partikularen Moral stützen kann, sich nicht als allgemeinverbindlich erweisen wird. Diese schwache Begründung zeigt immerhin, worauf man die Ansprüche der universalen Moral gründen kann und daß sie, daher auch die Idee der gleichen Freiheit, nicht sinnlos ist. Aber wenn die Moral sich nicht allgemeinverbindlich begründen läßt, schließt das eine allgemeinverbindliche Begründung des Rechts nicht aus. Dies verlangt in der Tat eine stärkere Begründung, weil es im Unterschied zur Moralität oder Wohltätigkeit mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist und diese Befugnis allgemeinverbindlich begründet werden muß. Kann eine solche Begründung gefunden werden, so ist es nur die Wohltätigkeit, die ohne allgemeinverbindliche Begründung bleibt. Diese aber setzt in jedem Fall Gesinnung und Überzeugung voraus. Daß deren moralische Notwendigkeit allgemeinverbindlich demonstriert werden könnte, ist von vornherein unwahrscheinlich. Die Motive, einer partikularen oder Binnenmoral zu folgen, sind leicht zu erkennen. In überschaubaren Gruppen, wo jeder jeden oder doch einige kennt, die zusammen jeden kennen, nützt es jedem, wenn jeder niemandem schadet und jedem nach Möglichkeit aus der Not hilft. Man braucht nicht viel Erfahrung und übermäßige Intelligenz, die Vorteile der Befolgung des Verletzungsverbots und des Hilfegebots in kleinen Gruppen zu erkennen; auch die unterschiedlichen Auffassungen von dem, was positiv gut ist, sind für diese Erkenntnis ohne Bedeutung. Falls die Menschen die Befolgung dieser Regeln nicht von ihren äffischen Vorfahren ererbt haben sollten, wird sich ihre Befolgung von einer Menschenhorde, die mit ihr anfing, schnell auf andere übertragen haben, und die, die sie nicht übernahmen, dürften bald wegen ihrer Unterlegenheit gegenüber den Horden mit Binnenmoral untergegangen sein. Welche Motive können dagegen zur universalen Moral geführt haben? Wenn wir wildfremden Menschen glauben helfen zu sollen, etwa Opfern einer Überschwemmungskatastrophe in Bengalen, wissen wir nicht, ob wir davon je einen Nutzen haben werden, ja wir können sicher sein, daß es uns nie nützen wird, und zudem erkennt die universale Moral eine Hilfe nicht einmal als moralisch an, wenn sie nicht in uneigennütziger Absicht und ganz ohne Erwartung der Gegenseitigkeit geschieht. Was brachte also einige Menschen dazu, die bewährten Forderungen der Binnenmoral auf alle Menschen auszudehnen, die Erwartung der Gegenseitigkeit der NichtVerletzung und Hilfe als unmoralisch zu verwerfen und Hilfe und NichtVerletzung um ihrer selbst willen oder weil alle Menschen sie als Menschen verdienen zu fordern? 63 Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, a.a.O., 34.

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Es genügt nicht, auf religiöse Motive und den Glauben daran zu verweisen, daß alle Menschen Geschöpfe Gottes sind und deshalb einander ohne Rücksicht auf Grenzen der Sippe oder des Stamms Hilfe und NichtVerletzung schulden. Denn hier stehen wir vor der Frage, warum religiöse Lehren aufkommen konnten, die statt eines Stammesgottes, etwa des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, einen Gott annahmen, der der Gott aller Menschen ist. Solchen Lehren muß die Erfahrung oder Idee vorangegangen sein, daß die Menschen über ihre Gruppenunterschiede hinweg eine Eigenschaft verbindet, die jeden verpflichtet, jedem Hilfe und NichtVerletzung zu leisten. Es muß die Erfahrung einer Eigenschaft gewesen sein, die die Menschen von den Tieren unterscheidet. Tiere kamen nicht in den Genuß, gleichermaßen der Hilfe und NichtVerletzung wert erachtet zu werden wie zuvor nur die eigenen Gruppengenossen; diese Eigenschaft mußte eher als übermenschlich oder göttlich erfahren werden können. Sie konnten zwar verehrt werden (und werden es in Indien noch immer), aber dann eben deshalb, weil man in ihnen eine vom Menschen bekannte Eigenschaft verehrte, welche die Menschen als verpflichtend und daher auch als unbegreiflich und unheimlich erfuhren. 64 Diese Eigenschaft ist die, daß der Mensch nicht nur empfindet, sondern urteilt, nicht nur begehrt, sondern wertet, nicht nur wahrnimmt, sondern denkt, nicht nur Gefühle und Absichten äußert, sondern verheimlicht, nicht nur Ansprüche stellt, sondern begründet, nicht nur den Gehorsam verweigert, sondern B e f e h l e kritisiert, nicht immer seinen Bedürfnissen folgt, sondern Befriedigung aus der Nichtbefriedigung gewinnt, zwar alles wissen und genießen will, aber sich auch allem verschließen kann. Wegen dieser Eigenart schrieb und schreibt man dem Menschen etwas zu, was man den Tieren (von den heiliggesprochenen abgesehen) abspricht: Vernunft, einen freien und vernünftigen, aber nicht nur guten, sondern auch bösen Willen, Urteilskraft, Selbstbewußtsein, Geist. Ihr Besitz wurde als doppelt verpflichtend verstanden: wer sie hat, schuldet zugleich sich selbst als Besitzer solcher Qualität ein ihr würdiges Handeln und jedem andern Menschen als einem durch solche Qualität Ausgezeichneten, ihn mit Achtung und gegebenenfalls mit Hilfe zu begegnen. Die Forderungen der Moral konnten in dem Maß nicht auf die eigene Gruppe beschränkt werden, wie sich die Erkenntnis durchsetzte, daß alle Menschen denkende, wertende, abwägende Wesen sind, die ihre und anderer Handlungen begründen und kritisieren und in ihren Entscheidungen besser aufeinander Rücksicht nehmen. Daß Menschen für Entscheidungen anderer, die sie selbst betreffen, Gründe erwarten, daß man daher auf die Fähigkeit der andern, nach Gründen zu fragen und über sie zu urteilen, in seinem Handeln besser Rücksicht nimmt, um unangenehme Fragen zu vermeiden, das disziplinierte auch die Binnenmoral der Menschen. Solange aber Menschen f r e m d e r Gesellschaften als Barbaren galten, die man kaum besser verstehen und über deren mögliche Kritik man sich so leicht hinwegsetzen konnte wie über das kritiklos bleibende Stöhnen von Tieren unter den Schlägen ihrer Herren, solange konnten die Ansprüche der Vernunft in Menschen fremder Gesellschaften überhört werden. Mit zunehmendem Kontakt zwischen den Gesellschaften wurde diese Taubheit unmöglich. Die Forderung der Vernunft, auch die Ansprüche des anderen zu berücksichtigen, mußte universal werden. Genauer: auch beim anderen konnte dieselbe Stimme der Vernunft, die einem selbst von jedem beurteilbare Gründe und Gegengründe für Handlungsmöglichkeiten anführt, nicht mehr überhört werden. Die Vernunft mußte als eine universale, für alle

64 Vgl. dazu Hegels Überlegungen in: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 261.

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verbindliche Gesetzgebung verstanden werden, welche die Menschen zu Mitgliedern eines idealen Reichs von Wesen macht, die ebenso sich wie die andern ihrer Vernunft gemäß behandeln. Man mußte die Moral so verstehen, wie Kant die Moralität definierte: als die „Beziehung aller Handlung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist". 65 Betrachten wir nun etwas näher, wie die Erfahrung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten u n d A n s p r ü c h e der V e r n u n f t Menschen zur A u s d e h n u n g ihrer b i n n e n m o r a l i s c h e n Forderungen auf alle Menschen führte. Ihre Vernunft mußte die Menschen von Anfang an zu gewissenhaften W e s e n m a c h e n , die ihre und anderer Entscheidungen mit b e s o n d e r e r Aufmerksamkeit und Emotion begleiteten. Wer nachdenken und Gründe abwägen kann und die Kritik der andern fürchten muß, weiß, was er und andere können, und weiß auch, daß die andern wissen, daß er es weiß. Was immer er selbst oder ein anderer tut, jeder kann es mit andern H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t e n vergleichen, über die beste urteilen und wissen, daß die andern ebenso urteilen. Der Besitz der Vernunft führt daher nicht nur und nicht einmal zuerst dazu, bei seinen Entscheidungen Vernunft zu gebrauchen. Er führt vor allem zum Bewußtsein der Möglichkeit, daß jeder sie in der Beurteilung jeder Handlung gebrauchen kann. Ein solches B e w u ß t s e i n wird unter geeigneten sozialen B e d i n g u n g e n zur Gewissenhaftigkeit in Entscheidungen, die den Handelnden dem Druck des eigenen Urteils und dem der andern aussetzt. Die G e w i s s e n h a f t i g k e i t ist o f f e n f ü r die A n f o r d e r u n g e n der eigenen Gruppe, die eine Binnenmoral ausmachen. Mit der Erfahrung, daß alle Menschen ihre eigenen ebenso wie die H a n d l u n g e n der andern nach der besten der M ö g l i c h k e i t e n beurteilen, unterliegt die Gewissenhaftigkeit den Forderungen der universalen Moral. Das Handeln kann nun nicht mehr darauf beurteilt werden, ob es den faktischen Geboten einer Binnenmoral entspricht oder (wie es vermutlich auf einer fortgeschrittenen Stufe geschah) der eigenen Gesellschaft dient, sondern nur darauf, ob es den universalen Ansprüchen einer für alle gesetzgebenden V e r n u n f t entspricht. S o wird aus der Gewissenhaftigkeit, die f ü r verschiedene Forderungen einer Gesellschaft e m p f ä n g l i c h ist, das Gewissen, das nach den universalen Vernunftansprüchen urteilt. Nach dieser Überlegung ist das Gewissen die Ä u ß e r u n g unseres Begründungsvermögens und seines universalen Maßstabs. Wir können es mit Kant „praktische V e r n u n f t " nennen. Die Entwicklung von der Gewissenhaftigkeit zum Gewissen, das universale Pflichten anerkennt, ist unter günstigen sozialen Bedingungen u n v e r m e i d l i c h (aber durch b e w u ß t e Entscheidung auch aufhaltbar) und wird von Gefühlen begleitet, die unter günstigen psychischen Bedingungen unvermeidlich sind. Die Kraft dieser Gefühle erklärt die Ausbreitung der Idee universaler Pflichten. Zu ihnen gehört vor allem der Stolz. Die Fähigkeit, nach Gründen zu entscheiden, erfüllt den, der sie bei sich erkennt und betrachtet, mit Stolz, so wie die Erfahrung, f ü r m a n c h e unserer Eigenschaften oder Handlungen ohne selbstgewählte oder ohne öffentlich vertretbare Gründe dazustehen, uns mit Scham erfüllt. Der Stolz gründet nicht notwendig d a r a u f , d a ß sein G e g e n s t a n d eine e i g e n e Leistung ist, sowenig die S c h a m die Verantwortlichkeit dessen voraussetzt, wofür man sich schämt. Die Vernunftfähigkeit ist ein Gegenstand des Stolzes, weil sie als großartig genug e m p f u n d e n wird, um zu verdienen, ein Gegenstand des Stolzes zu sein. Man würde sie nicht nach ihrem Wert schätzen, wenn man auf ihren Besitz nicht stolz wäre. Die zu Stolz berechtigende eigene Vernunft würde nicht in 65 Kant, Grundlegung, a.a.O., 57. 66 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung XII b.

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ihrem Wert geschätzt, wenn man ihr nicht in der Weise entspräche, daß man sie betätigt und von allen, die sie auch haben, ebenso betätigen läßt. Die Konsequenz eines solchen Entsprechens ist, die Angemessenheit an die eigene Vernunft als Grund universaler Pflichten anzuerkennen. Der Vernunftstolz ist der Motor, die Vernunft als Maßstab der Richtigkeit des Handelns zu gebrauchen, der in eine universale Moral treibt. Das hat Kant verstanden, als er sagte, es würde überhaupt keine moralischen Pflichten, „auch keine äußeren", geben, wenn es keine Pflichten des Menschen gegen sich selbst gäbe und man nicht jede Pflicht durch die Erkenntnis begründen könnte: „Ich bin mir das selbst schuldig". Hier macht Kant, glücklicherweise ohne Rücksicht auf seine Unterscheidung zwischen Sinnen- und Verstandeswelt, den Stolz auf die eigene Vernunft zum Motiv und Erklärungsgrund der Moralität. Kant verbirgt sich selbst seine Erklärung dadurch, daß er den Vernunftstolz „Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit" nennt und ihn von der „ Selbstliebe " unterscheidet, „welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Prinzip macht, Eigendünkel heißen kann". 67 Daher deutet er die Achtung als „das einzige (Gefühl)", „welches wir völlig a priori erkennen und dessen Notwendigkeit wir einsehen können", als ein „sonderbares Gefühl, welches mit keinem pathologischen in Vergleichung gezogen werden kann". 68 Das sind Versuche, seiner eigenen Kritik an Motivierungen zur Moralität durch Verweis auf Gefühle zu entgehen, die uns nicht interessieren müssen. Der Vernunftstolz (oder die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit) führt nach Kant zur Anerkennung von Pflichten gegen sich selbst, weil er darauf festlegt, nur das zu tun, was man für vereinbar mit der eigenen Vernunftfähigkeit hält. Daher geht, wie Kant weiter sagt, „das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervor..., durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin". 69 Der Stolz oder die kantische Selbstachtung ist der Führer in die universale Moral, der Vater der Moralität. Für diese Rekonstruktion der Entstehung der universalen Moral finden wir eine Bestätigung in der Mythologie der Juden, Christen und Muslime. Denn diese hat auf ihre Weise den Zusammenhang von Stolz und Moralität in der Figur Luzifers dargestellt. Dieser ist stolzer Besitzer des schärfsten Geistes und mit diesem des wertvollsten Guts, das überhaupt Wesen haben können, die ihr Dasein und Sosein nicht sich selbst verdanken, und hat daher von ihnen am meisten Grund, stolz zu sein. Weil er stolz auf seinen Geist ist und ihn betätigt, wenn auch in falscher Weise, in Mißachtung seiner Unterlegenheit gegenüber einem Wesen, das sein Dasein und Sosein sich selbst verdankt, erkennt er den Unterschied von gut und böse oder die Prinzipien der universalen Moral. Denn erst der Vernunftstolz macht erkennbar, was ein vernünftiges Wesen tun darf und was nicht. Daher kann er Eva versprechen, ohne deswegen der Vater der Lüge zu sein: „... ihr ... werdet seyn wie Gott, und wissen, was gut und böse ist. 70 67 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 131 und 137. 68 Ebd., A 130 und 135. 69 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 2 und Fußn. Kant selbst deutet Stolz und Selbstachtung als unvereinbar: „Denn da beim Menschen immer alles Gute mangelhaft ist, so schlägt das [moralische] Gesetz, durch ein Beispiel anschaulich gemacht, doch immer meinen Stolz nieder ..." (Ebd., 136f) 70 1 Mose 3.5. Vgl. zur Figur Luzifers: Peter Awn, Satan's Tragedy and Redemption: Iblis in Sufi Psychology, Leiden 1983.

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Der Stolz motiviert zur Befolgung der Forderungen der universalen Moral in einer Weise, in der sie zur Erkenntnis von gut und böse führt, aber zugleich zur Wahl des Bösen verlockt, weil der Handelnde darin nicht nur seine Erkenntnis- sondern auch seine Verwirklichungsfähigkeiten erfährt. Die universale Moral als eine Gesinnung, als Moralität, braucht den luziferischen Stolz. Daher wird sie auch immer den Rechtszwang brauchen, der aus einem Luzifer nicht zu oft einen Satan werden läßt. Der Stolz auf die eigene Vernunft ist nur ein Motiv, die Forderungen der Moral universal zu verstehen. Aber er wurde auch als eine Einsicht in den Wert der Vernunft und ihren zu Achtung und Hilfe verpflichtenden Charakter verstanden, und die Berufung auf diesen Wert gilt manchen Philosophen schon als ausreichende Begründung der Vernunftforderungen. Aber Werteinsichten sind nur fehlbare moralische Intuitionen, die zwar für moralischen Urteile unverzichtbar, aber revidierbar sind. Sie können die universale Moral nicht begründen. Zur Begründung der universalen Moral Ich habe das Motiv für die Anerkennung der universalen Moral zu rekonstruieren versucht: die Erfahrung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten des Geistes, die verbunden war mit dem Hören universaler Ansprüche auf Achtung und Nothilfe für jedes begründungsfähige und für Begründungen empfängliche Wesen. Halten wir zuerst fest, daß dieser Versuch auch etwas über den Inhalt der universalen Moral zeigt. Er besteht nicht einfach in der Ausdehnung des Verletzungsverbots und des Hilfegebots von einer kleinen Gruppe auf alle Menschen, sondern in der Ersetzung des Ziels der Binnenmoralen, des Wohls der Gruppe, durch das Ziel vernunftangemessenen Handelns. Das verändert den Inhalt der Moral in zwei Punkten. Erstens kann das Kriterium der moralischen Richtigkeit nicht mehr wie in der Binnenmoral der Nutzen der Gesellschaft sein, die nun nur die gesamte Menschheit statt eines Teils von ihr wäre. Wenn wir in der universalen Moral jeden, auch uns selbst, um seiner Vernunftfähigkeiten willen achten und fördern, dann schließt das Unterschiede in der Behandlung von Freunden und Feinden nicht aus; wir würden vielmehr vernunftwidrig handeln, wenn wir unsere Angehörigen und Freunde ebenso behandelten wie Fremde und Feinde. Was genau wir Freunden, Fremden und Feinden gegenüber tun dürfen und müssen, ist aus dem Maßstab der Vernunft ohne Rücksicht auf die Umstände nicht erkennbar. Erkennbar ist nur, daß wir sie nicht so behandeln dürfen, daß am Ende der größte Nutzen für die Gesellschaft herausspringt, sondern nur so, daß jeder in seinen Rechten geachtet wird. Erkennbar ist, was Kant als kategorischen Imperativ formulierte: daß wir nach Maximen handeln müssen, die jeden so behandeln, als sei er beteiligt an einer Gesetzgebung, die jedem den gleichen Betätigungsspielraum läßt. Erkennbar ist, daß die universale Moral jedem die gleiche Freiheit sichert, seine Anlagen zu entwickeln. Zweitens fordert die universale Moral nicht nur, Hilfe und Achtung von den eigenen Stammesgenossen auf alle Menschen zu übertragen, sondern auch Vernünftigkeit des Handelnden gegen sich selbst. Diesen Punkt übersehen heutige Vertrags- und Konsensethiker, die sich auf Kants Autorität berufen. Die Vernunftangemessenheit, die in der universalen Moral das Wohl der partikularen Gesellschaft der Binnenmoral als Ziel ersetzt, verlangt vom Handelnden auch und vor allem, daß er vernünftig entscheidet, und dazu gehört nicht nur logische Widerspruchsfreiheit, sondern auch Unverstelltheit in der Artikulation der eigenen Wünsche, Absichten und Maximen. Die universale Moral fordert, weil ihr Ziel Angemessenheit an die

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Urteilsfähigkeit ist, als Moralität Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit und erhebt damit etwas zum Grundbösen, was partikulare Moralen höchstens und nur wegen der schädlichen Folgen als ein Nebenübel ansehen können: die Lüge. Der Teufel als mythische Darstellung des Bösen muß daher, obgleich er den Menschen die Wahrheit sagt, wenn er ihnen Erkenntnis des Guten und Bösen verspricht, doch in derselben Mythologie zugleich der Vater der Lüge sein. Das ist der Grund, warum Kant die Lüge verpönt, sicher, wie sein Aufsatz gegen Benjamin Constants Behauptung eines Rechts zu lügen zeigt 71 , über das hinaus, was sein kategorischer Imperativ verlangt, aber im richtigen Bewußtsein, daß das Lügenverbot für jede vernunftorientierte Moral einen Vorrang haben muß, den es in partikularen Moralen nicht haben kann. Er hat auch nicht nur die Lüge als unvereinbar mit dem Vernunftstolz und der Vernunftangemessenheit des von der Moralität geforderten Handelns erkannt, sondern im selben Zuge den „ Geiz und die falsche Demut (Kriecherei)". 72 Die Frage ist nun, ob die Erfahrung der Vernunftansprüche ein hinreichender Grund ist, die universale Moral einer partikularen vorzuziehen. Sind aus der Erfahrung der Ansprüche der Vernunft die Pflichten und Rechte der universalen Moral ableitbar? Logisch sind sie nicht ableitbar. Man kann gegen die Ansprüche der Vernunft taub sein oder behaupten, die eigene Vernunft sage einem, man dürfe die Interessen der anderen mißachten, wenn sie sich nicht wehren können. Man kann die Ansprüche der Vernunft auch als Ergebnis einer interessierten Erziehung abweisen. Man kann zwar nicht leugnen, daß normale Menschen Vernunft oder die Fähigkeit haben, nach Gründen zu urteilen, wohl aber, daß diese irgendwelche universalen Pflichten und Rechte impliziert. Der Begriff der Vernunft enthält nicht den universaler Pflichten und Rechte; der Satz Die Vernunft verpflichtet den Menschen sich und den andern gegenüber ist nicht analytisch; zwischen den Sätzen Der Mensch besitzt Vernunft und Der Mensch untersteht nicht den Geboten der universalen Moral besteht kein Widerspruch. Daher nannte Kant das Sittengesetz einen synthetischen, das heißt nicht-analytischen Satz 73 , den nicht schon die Bedeutungen der in ihm gebrauchten Wörter wahr machen. Er glaubte allerdings, ihn ebenso wie die Gesetze der Physik auch a priori nennen zu können und dennoch nicht metaphysisch begründen zu müssen: er hielt eine transzendentale Begründung für möglich. Diese besteht darin, nichtempirische synthetische Sätze als notwendige Bedingungen zum einen der physikalischen Erfahrung, zum andern des verantwortlichen Handelns nachzuweisen. Kants Transzendentalismus, dem noch immer viele Philosophen in Deutschland anhängen, verschiebt jedoch nur das Begründungsproblem auf die Frage, warum wir verantwortliches Handeln unverantwortlichem Handeln vorziehen sollten. 74 Kants ebenso 71 B. Constant, Des réactions politiques, 1796, dt. Von den politischen Gegenwirkungen, hg. v. K.F. Cramer, 2. Bd., Altona 1796, ó.Stiick. Dazu Kant, Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, in: Berliner Blätter, hg. v. Biester, Sept. 1797, AA, Bd.8. 72 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 4, a.a.O., 265. Vgl. §§ 9-11, bes. ebd., 277. 73 Kant, Grundlegung, a.a.O., 65 und 70. 74 Für Kant verschiebt sich das Begründungsproblem nicht, weil er in den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung wie des verantwortlichen Handelns auf Gesetze einer Sphäre zu stoßen behauptet, die nicht hinterfragbar sind, nämlich die einer übersinnlichen Verstandeswelt. Er erklärt die Moral zwar als Selbstgesetzgebung des Menschen, kann sie aber wegen ihrer Unbedingtheit nicht als gewöhnliche Gesetzgebung in Raum und Zeit verstehen, sondern nur als Autonomie in derselben Welt der Noumena, in die er schon wegen der vermeintlich unrevidierbaren Notwendigkeit der Gesetze der Physik die Vernunft als Ursprung der Naturgesetze und der Welt der Phänomene

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wie Apels 75 Versuch zu zeigen, wir könnten nicht anders als uns als Vernunftwesen denken, ist Wunschdenken. Aber obgleich aus der Erfahrung der Vernunfteigenschaften und -anspräche die Anerkennung universaler Pflichten und Rechte nicht logisch folgt, ist sie doch für die Frage wichtig, ob wir die universale Moral einer Binnenmoral vorziehen sollten. Wir können uns dazu auf unsere moralischen Intuitionen stützen, die uns sagen, es sei uns angemessener, universale Pflichten und Rechte anzuerkennen als nur partikulare. Wenn wir das tun, dann erkennen wir das Motiv, das Menschen einmal dazu brachte, die universale Moral einer Binnenmoral vorzuziehen, als einen auch uns verpflichtenden Grund an. Wir entscheiden uns dann, die ordinäre Moral, in der wir großgezogen wurden, mit der Masse ihrer moralischen Intuitionen auf die universalen Prinzipien der Achtung und Nothilfe für jeden zu gründen und alle jene Intuitionen als trügerisch zu verwerfen, die diese Prinzipien entweder auf die Angehörigen oder zu Gegenleistungen Fähigen einschränken oder mit ihnen völlig unvereinbar sind. Die Berufung auf Intuitionen ist zwar der Kritik und der Berufung auf entgegenstehende Intuitionen ausgesetzt. Aber einer Begründung, die nicht durch entgegenstehende Intuitionen kritisierbar wäre, sollten wir nicht trauen; eine Moral muß durch Intuitionen bestätigt werden, aber diese sind zu mannigfaltig, als daß sie sie nicht auch widerlegen könnten. Welche Intuitionen sprechen also gegen die Anerkennung der universalen Moral? Man könnte anführen, es sei unmoralisch, einen Hungernden im fernen Bengalen ebenso zu berücksichtigen wie einen nahestehenden Bedürftigen, auch wenn es diesem nicht so schlecht geht wie dem Bengalen. Aber diese Kritik greift nicht, weil die universale Moral die unterstellte Gleichbehandlung nicht fordert. Sie läßt der vernünftigen Entscheidung Spielraum. Wir verletzen nicht unbedingt die Vernunftansprüche, wenn wir dem Nahestehenden mehr helfen als dem Fernen, auch wenn dieser bedürftiger ist. Wir entscheiden damit nicht gegen eine Gesetzgebung, die jedem gleichen Spielraum für seine Betätigung läßt, denn der Fernste hat seine Nächsten, die ihm gegenüber ebenso stärker verpflichtet sind wie wir gegen unsre Nächsten. Man könnte gegen die universale Moral aber auch anführen, sie widerspreche der menschlichen Natur, die nicht zur Rücksichtnahme auf alle Menschen tauge; oder sie erniedrige die wirklich großen Individuen, um deretwillen die Welt da sei, die Herrenmenschen, die mehr wollen und verdienen als die kleinen Seelen der Skrupulösen und Gewissensgebissenen. Gegen solche Berufungen auf moralische Intuitionen oder Werte läßt sich, wenn sie nur konsequent verfochten werden, kein zwingendes Argument anführen. Hier steht Intuition gegen Intuition oder, wenn man diesen Begriff vorzieht, Werteinsicht gegen Werteinsicht, zwischen denen nicht logisch zwingend entschieden werden kann. Die Berufung auf die universalen Ansprüche der Vernunftfähigkeiten ist dem grundsätzlichen Hindernis ausgesetzt, das die Wertphänomenologen Wertblindheit nannten. Man kann f ü r Ansprüche taub oder, wenn man diese Vernunftansprüche als begründet im Wert der Vernunft versteht, blind sein für den Wert der Vernunft. Das Phänomen der Wertblindheit

versetzt hatte. S o muß er den Menschen „als zu beiden Welten gehörig" verstehen, seine „höchste Bestimmung" aber in der „Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz" sehen (Kritik der praktischen Vernunft, A 155 und 158). 75 Vgl. etwa Karl-Otto Apel, Grenzen der Diskursethik?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40, 1986, 3 - 3 1 .

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berechtigt nicht zur Nichtbeachtung der Argumente der Wertblinden, da diese ihren Gegnern dieselbe Wertblindheit für ihre Werteinsichten vorhalten können. Werteinsichten sind, wie gesagt, nur fehlbare moralische Intuitionen. Trotzdem ist die Berufung auf die moralische Intuition, nach der die universale Moral um der Vernunftfähigkeiten willen vorzuziehen ist, nicht sinnlos. Sie zeigt vielmehr in diesen Fähigkeiten den Grund dafür an, die universale Moral einer partikularen vorzuziehen. Dieser Grund reicht nicht aus, sie für allgemeinverbindlich zu erklären, weil man wertblind oder vernunfttaub sein kann, wohl aber zeigt er jedem nicht Vernunfttauben, was seine Anerkennung der universalen Moral rechtfertigt. Die Kenntnis des Vernunftvermögens ist für jeden, der es versteht, ein hinreichender Grund der Anerkennung der universalen Moral; sie ist aber nicht für jeden ein hinreichender Grund, weil nicht jeder es so versteht wie der Anerkennende. Diese Begründung der universalen Moral ist nach Abwägung der Intuitionen unter neuen Gesichtspunkten revidierbar. Sie enttäuscht Moralletztbegründungshoffnungen, aber erreicht das, worauf es hier ankam: nachzuweisen, daß die universale Moral, die die gleiche Freiheit sichert, nicht sinnlos ist und auch die gleiche Freiheit nicht sinnlos macht. Noch ein Wort zur Werteinsicht. Phänomenologische Philosophen des ersten Drittels dieses Jahrhunderts haben die Verbindlichkeit moralischer Prinzipien auf Werte zu gründen versucht. Zwar nehme ich an, daß eine Werteinsicht ebenso wie die Anerkennung des verpflichtenden Charakters der Vernunftfähigkeiten nur eine fehlbare moralische Intuition und ein Wert oder eine verpflichtende Eigenschaft die Eigenschaft ist, die wir einem wirklichen oder möglichen Ding oder Zustand dieser Welt nach unseren fehlbaren moralischen Intuitionen zuschreiben. Aber ich denke auch, daß man sich auf den Wert der Vernunftfähigkeit oder ihre verpflichtenden universalen Ansprüche berufen muß, wenn man Gründe dafür anführt, die universale einer partikularen Moral vorzuziehen 76 , und sehe keinen Grund, nicht von Werten zu sprechen. Von Werten kann man allerdings nicht reden, ohne für sie eine Hierarchie anzunehmen. Eine solche Annahme widerstrebt dem antimetaphysischen Instinkt vieler Philosophen, aber entspricht unseren Intuitionen. Nach ihnen steht an der Spitze der Werthierarchie die vernünftige Handlungsweise vernünftiger Lebewesen, welche die Vernunft anderer Lebewesen erkennen und zum Grund der Achtung vor ihnen nehmen, unten die Eigenschaften der einfachsten Formen der Materie und dazwischen die Reihe der Eigenschaften, durch welche die Dinge an

76 Anton Leist, Herausforderungen der Bioethik, in: J.S. Ach/A.Gaidt (Hg.), Herausforderung der Bioethik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 1 9 ^ 4 , charakterisiert übereinstimmend mit meinem Verständnis Kant als Wertethiker, weil er im „Wert der Vernunft selbst" und nicht in den Individuen einen absoluten Wert sah. Gegen diesen Ansatz wendet er ein: „Absolute Werte haben doch per definitionem ihr 'eigenes Leben' - eben ein absolutes ... Sie können ihr absolutes Wert-Leben führen, und wir Menschen führen unser relatives Wert-Leben. Dieses letztere Leben ist... von Interessen bestimmt" (38f)· Der Einwand gründet in einer falschen Voraussetzung: Ein absoluter Wert ist per definitionem etwas, was ein bestimmtes Handeln unbedingt fordert, nichts, was absolut existiert. Um etwas unbedingt zu fordern, muß ich nicht absolut existieren; ebensowenig ein Wert. Zu Recht kritisiert Leist die Berufung mancher Ethiker auf den Wert der Menschenwürde zur Begründung ihrer Ablehnung moderner reproduktionsmedizinischer Techniken. Daraus läßt sich zwar auf einen „unklaren moralischen Gehalt vieler Wertideen" mancher Philosophen schließen (39f), aber nicht auf die Unklarheit des moralischen Gehalts des Werts der Vernunft. Zu ihrem Gehalt, auch bei Kant, vgl. den Abschnitt Perfektionismus und Liberalismus im letzten Kapitel dieses Buchs.

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Zur Begründung von Moral und Recht

Selbsttätigkeit und Rezeptivität zunehmen. 7 7 Wir finden eine solche Hierarchie stillschweigend von Evolutionstheoretikern unterstellt, die eine /fóVierentwicklung der Materie annehm e n und d i e s e nicht mit der faktischen Entwicklung gleichsetzen, in dieser vielmehr auch Niedergänge und evolutionäre Sackgassen erkennen.

D i e rationale Moralbegründung Statt, w i e soeben versucht, die universale Moral in nicht allgemeinverbindlicher W e i s e auf moralische Intuitionen oder den Wert der Vernunft zu gründen, beanspruchen heute e i n i g e P h i l o s o p h e n - Günter Patzig, T i m Scanion, R.M. Hare, Jürgen Habermas - eine rationale B e g r ü n d u n g der Moral (die sie s t i l l s c h w e i g e n d als universal verstehen), die sich auf die G o l d e n e R e g e l stützt (Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinen andern zu). N a c h ihnen ist es unmoralisch, weil nicht rational begründbar, sich selbst eine Handlungsw e i s e zu gestatten, die man als ein von ihr Betroffener mißbilligen würde. 78

77 Ich argumentiere für die Annahme einer solchen Werthierarchie im 4. Kapitel von: Warum überhaupt etwas ist. Kleine demiurgische Metaphysik, Reinbek bei Hamburg 1994. Vgl. dazu auch die Erläuterung in: Steinvorth, Replik auf Martin Sehrt, Fragen zu Ulrich Steinvorths Philosophie, in: Rechtsphilosophische Hefte 6, 1996, 151-158. Daß diese Auffassung Naturwissenschaftlern naheliegt, für die Evolution ein Gegenstand ihrer Forschung und Bewunderung ist, liegt nahe und wird bestätigt von Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1977 (zuerst 1973), 307: „Es gibt Wertempfindungen des Menschen, die zu dem großen Werden der Organismenwelt in einem unverkennbaren Verhältnis der Entsprechung stehen ... Die Entsprechung besteht darin, daß jeder normale Mensch das als höchsten Wert empfindet, was das organische Werden seit eh und j e tut, indem es aus Ungeordneterem, Wahrscheinlicherem, Geordneteres und Unwahrscheinlicheres macht. Diesen Vorgang empfinden wir alle als die Erschaffung von Werten. Die Wertskala 'niedriger - höher' ist in völlig gleicher Weise auf Tierart, Kulturen und von Menschen geschaffene Kunstwerke anwendbar." Vgl auch ebd., 46. Lorenz beschreibt hier Wertempfindungen und versucht ihre Kausalerklärung, nicht ihre Begründung oder Rechtfertigung, aber das ändert nichts daran, daß er moralische Intuitionen ausdrückt und ernst nimmt, über die sich viele Philosophen glauben hinwegsetzen zu können. Der politische Philosoph bleibt in jedem Fall von der ontologischen Diskussion unberührt. Ihm kann es genügen, im Wert der Lebensweise der Vernunft die Grundlage der universalen Moral zu finden, die für ihn auch nur in der einen ihrer zwei Sphären, nämlich der Gerechtigkeit, von direktem Belang ist. Deren Begründung ist aber von der der universalen Moral insgesamt unabhängig, wie im übernächsten Abschnitt zu zeigen ist. Im übrigen befinden sich die Phänomenologen, die f ü r Werte eine (wie immer zu verstehende) Unabhängigkeit sowohl von psychischen wie von physischen Zuständen annehmen, in der respektablen Gesellschaft (die der Anti-Psychologismus vereint) von Bolzano, Frege und Popper, die neben der ersten Welt physischer und der zweiten Welt psychischer Entitäten eine selbständige dritte Welt logischer Gegenstände annehmen. Wie Popper, Ausgangspunkte, a.a.O., 165 und 283f, nimmt auch Isaiah Berlin inkommensurable, sogar unverträgliche, aber objektive Werte an und gründet auf diese Annahme Liberalismus und Toleranz. Vgl. seinen Bericht: My Intellectual Path, in: New York Review of Books, 14.5.1998,53-60; auch seinen Aufsatz: Alleged Relativism in Eighteenth Century European Thought, in: The Crooked Timber of Humanity, London 1990. Kritisch dazu Arnaldo Momigliano in: New York Review of Books, 11.11.1976, und der Kommentar von Steven Lukes, Berlin's Dilemma, in: Times Literary Supplement, 27.3.1998. 78 Das ist die Auffassung von T.M Scanion, Contractualism and Utilitarianism, in: A. Sen/B. Williams, Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, 103-128. Ihr hat sich Günter Patzig ausdrücklich an-

Die rationale Moralbegründung

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Diese Argumentation folgt sowohl der Erfahrung der universalen Ansprüche, die begründungsfähige Wesen für sich und andere vernehmen, als auch Kants Idee, daß Maximen, um moralisch zu sein, zu einem Gesetz für jeden müssen erhoben werden können. Aber sie reduziert diese Erfahrung auf die formale Forderung, einander gleiche Freiheit einzuräumen, und knüpft sie nicht wie Kant und die Berufung auf den Wert der Vernunft an die Bedingung, dem auszeichnenden Charakter der Vernunft zu entsprechen. 7 9 D i e rationale Moralbegründung erlaubt daher vieles, was Kants inhaltliches Verständnis der gleichen Freiheit und des kategorischen Imperativs (dem die Berufung auf den Wert der Vernunft Rechnung trägt), verbietet. Sie erlaubt etwa rassistische Maximen, w e n n sie nur die Zustimmung aller Betroffenen erhalten. D a s ist leicht vorstellbar. D i e rassistisch Verachteten könnten die rassistischen Vorurteile übernehmen. 80 Wir können uns auch eine Welt rassestolzer Menschen denken, von denen jeder nur die eigene Rasse als Grund ansieht, j e m a n d e m Achtung oder Gleichbehandlung zu zeigen; es wäre eine Welt universalisierter Apartheid, in der die Schwarzen ebenso dünkelhaft w i e die Weißen den Andersfarbigen diskriminierten. D i e Apartheid wäre so verinnerlicht, daß jede Neigung, sich über Rassenschranken hinwegzusetzen, mindestens mit schlechtem G e w i s s e n bestraft würde. Orientiert man sich dagegen inhaltlich am Wert der Vernunft (wie es auch Kant tut), so ist die universalisierte Apartheid noch verwerflicher als die partikularistische, die die wirkliche Welt kennt. D i e rationale Moralbegründung muß den Konsens als letztes Kriterium der moralischen Akzeptabilität anerkennen und darüber hinwegsehen, w i e vernunftwidrig es ist, wenn M e n s c h e n ihre Beziehungen von den Zufällen ihrer Geburt abhängig machen. 81

geschlossen in: Aspekte der Rationalität, in: Ges. Schriften, Bd. 4, Göttingen 1966, 99-116, vgl. bes. 113ff (ders. Aufsatz erschien unter dem Titel Aufklärung durch Vernunft. Ist das Projekt der Moderne gescheitert? mit hinzugefügtem Schluß- und Anfangsteil in: G.Patzig/D.Birnbacher/W. Ch.Zimmerli, Die Rationalität der Moral, Bamberg 1966, 17-38, bes. 35ff). Die Moralbegründung bei R.M. Hare, The Language of Morals, Oxford 1952, und in seinen späteren Büchern folgt demselben Prinzip. Auch Habermas' Diskurs- und Universalisierungsprinzip entspricht ihr. 79 Kant nennt die Goldene Regel ein „triviales" Prinzip. Es „kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegeneinander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren usw.": Grundlegung, a.a.O., 53. Dieser Kommentar zeigt, wie andere Bemerkungen auch, daß Kant nur solche Maximen für gesetzestauglich hält, die die Förderung der eigenen und fremden Anlagen unabhängig von wechselseitiger Zustimmung gebieten. 80 R.M. Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963, 158, hat ein Problem in seiner rationalen Moralbegründung darin gesehen, daß Ideale wie das des „Nazism" im Unterschied zu Interessen durch den Verallgemeinerbarkeitstest nicht als unmoralisch erkennbar werden. Aber die Schwäche seines Ansatzes liegt nicht in einer Schwäche, zwischen Interessen und Idealen zu unterscheiden, sondern darin, die Akzeptabilität von Maximen oder Zielen durch ihre formale Verallgemeinerbarkeit zu bestimmen. 81 Es ist eine der Stärken von Rawls' Moralbegründung, sich auf genau diesen Punkt zu stützen. Ihr Fehler liegt freilich darin, aus einer Begründung der Moralität, die in jedem Fall nicht allgemeinverbindlich sein kann, weil sie nicht Wertblindheit ausschließen kann, auch eine Begründung des Rechts machen zu wollen. Vgl. unten das Kapitel zu Rawls.

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Zur Begründung von Moral und Recht

Die rationale Begründung gibt der Moral insgesamt und der Idee der gleichen Freiheit im besonderen nicht nur einen anderen Inhalt als eine Wertbegründung; sie kann die Idee der gleichen Freiheit auch nicht begründen. Sie behauptet, es sei irrational oder mit unserem Begriff der Rationalität unvereinbar, so zu handeln, wie man es als Betroffener mißbilligen würde. Für diese B e h a u p t u n g gibt sie keine G r ü n d e außer der B e r u f u n g auf den Sprachgebrauch oder die Bedeutung des Begriffs der Rationalität. Aber meinem Sprachgebrauch entspricht es nicht, daß ich aufhöre rational zu sein, wenn ich mir Handlungsweisen herausnehme, die ich als Betroffener mißbilligen würde. Nach meinem Rationalitätsbegriff handle ich rational, wenn ich mich an mein Wissen halte, daß ich eben nicht der Betroffene, sondern der H a n d e l n d e bin und d a h e r auch meine Interessen als H a n d e l n d e r w a h r n e h m e . W e n n der Betroffene seine Interessen wahrnimmt, so werde ich rational handeln, sie in mein Interessenkalkül einzubeziehen und sie auf ihr Durchsetzungspotential einzuschätzen. Die Verfechter der rationalen Moralbegründung verdunkeln gleich drei zentrale Punkte, die man für die Begründbarkeit der Moral klarstellen kann. Sie täuschen darüber hinweg, daß ihre Begründung sowenig Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann wie die Berufung auf den Wert der V e r n u n f t ; ebenso darüber, daß es keine endgültige M o r a l b e g r ü n d u n g geben kann (und nicht zu geben braucht), und sie verwischen die Abhängigkeit ihres Rationalitätsbegriffs von einer (verarmten) Einsicht in den Wert der Vernunft. Ihr Rationalitütsbegúñ hat überhaupt nur deshalb den Anschein, er könne die Moral begründen, weil er unausdrücklich und uneingestanden Elemente der inhaltlichen kantischen Vernunft enthält. Seine Attraktion b e r u h t auf der H o f f n u n g , die M o r a l b e g r ü n d u n g von metaphysischen Fragen zu befreien. Denn die B e r u f u n g auf den Wert der Vernunft setzt sich allerdings den Fragen aus, in welchem Verhältnis dieser Wert zu anderen Werten anderer Dinge steht und warum der Wert der Vernunft ganz oben stehen soll oder über uns eine Verbindlichkeit beanspruchen kann, die andere Werte nicht beanspruchen können. Die Welt insgesamt aber nach ihren Werten zu beurteilen und ordnen war eine Ambition der traditionellen Metaphysik. Daher ist eine B e r u f u n g auf Werte, selbst wenn sie nur in der Berufung auf eine moralische Intuition besteht, für alle verboten, die wie die Anhänger der rationalen Moralbegründung in der Ethik ohne Metaphysik auskommen wollen. 82 Aber diese Selbstbeschränkung ist in der Philosophie ein verfehlter Ehrgeiz. Er hätte noch Sinn, wenn die rationale Moralbegründung nicht wie die B e r u f u n g auf den Wert der Vernunft mit der Möglichkeit der Wertblindheit rechnen müßte und ihr Argument jedem wie einen mathematischen Beweis andemonstrieren könnte. A b e r auch die rationalen Moralbegründer m ü s s e n die Möglichkeit der V e r n u n f t taubheit anerkennen. Sie müssen ein Interesse an der Begründbarkeit von Handlungen voraussetzen. Patzig erkennt an: „Jemandem, der dies Bedürfnis nicht entwickelt hat, können wir nicht vordemonstrieren, warum er seine Handlungen nach moralischen Gesichtspunkten überprüfen sollte." 8 3 Eine politische Theorie, die der Idee der gleichen Freiheit folgt, muß sie nicht durch ihre Angemessenheit an den Wert unserer Vernunft begründen und braucht sich erst recht nicht

82 Patzig hält eine Ethik ohne Metaphysik für möglich, wie er im Titel seiner Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, anzeigt. Habermas hält nur „nachmetaphysisches Denken" für möglich, w i e er durch den Titel seines Sammelbandes philosophischer Aufsätze Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, anzeigt. 83 Patzig, Aspekte der Rationalität, a.a.O., 115.

Zur Begründung des Rechts

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um metaphysische Fragen zu kümmern. Sie kann sich auf die Anerkennung der Idee beschränken, ihre Prinzipien an ihr orientieren und darauf bauen, daß sie mit den Gerechtigkeitsintuitionen ihrer Adressaten weit genug übereinstimmt, um bestätigt zu werden. Aber die Philosophie ist doch vor andern intellektuellen Disziplinen dadurch ausgezeichnet, daß sie jede mögliche Frage, wenn sie nur sinnvoll ist, zu beantworten sucht; sinnlos aber ist die Frage nach einer Begründung der Idee der gleichen Freiheit gewiß nicht. Es bleibt daher intellektuell unbefriedigend, diese Idee nur anzuerkennen und auf ihre faktische Anerkennung zu bauen. 84 Zur Begründung des Rechts Die universale Moral kann nicht allgemeinverbindlich wie ein mathematischer Beweis, sondern nur für die Wertempfindlichen oder Rechtfertigungsbedürftigen begründet werden; diese haben aber gewöhnlich gar keine Moralbegründung, sondern nur eine MorAbestätigung nötig. Dies Ergebnis ist, wenn wir an die Sphäre der Moral denken, deren Pflichten traditionell als verdienstlich und nicht erzwingbar gelten, an die Wohltätigkeit also, nicht beunruhigend. Denn Wohltätigkeit setzt in jedem Fall Gesinnung voraus und darf nicht erzwungen werden. Wer von ihr nicht durch eine Begründung überzeugt wird, die Wertempfindlichkeit voraussetzt, könnte zu ihr auch nicht durch eine wertblindheitssichere logische Demonstration geführt werden. Anders steht es mit der anderen Sphäre der Moral, der Gerechtigkeit. Fassen wir diese als das System von Regeln, die unabhängig von Gesinnung bestimmte „äußere" Handlungen vorschreiben, als das Recht also, so sind ihre Pflichten restlos erzwingbar. Wer aber gibt denen, die das Recht gegen die Rechtsbrecher auch mit Zwang durchsetzen, das Recht dazu? Um das Recht allgemeinverbindlich zu begründen, müssen wir zuerst zeigen, daß man überhaupt einen Zustand des Rechts einem Zustand ohne Recht vorziehen muß. Ist das möglich?

84 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., 13: „Ein Philosoph kann sich damit nicht zufriedengeben", womit „ein soziologischer Betrachter" eines „moralischen Sprachspiels" sich zufriedengeben „mag". Daher stellt er sich der Frage, warum man das, was er für das Prinzip aller Normen hält, das Diskursprinzip, überhaupt befolgen soll, versucht sie allerdings in: Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, 112, ohne Rückgriff auf Metaphysik zu beantworten. So anerkennenswert diese Bereitschaft, so unbefriedigend ist seine Antwort. Eine Verwerfung des Diskursprinzips „würde den Rückzug in die monadische Vereinsamung strategischen Handelns - oder in Schizophrenie und Selbstmord bedeuten. Auf die Dauer ist er selbstdestruktiv". D i e Erfahrung spricht nicht dafür. Vielleicht unterstellt Habermas, wie die übrigen Antimetaphysiker seiner Generation, eine metaphysische Theorie verweise notwendig auf ein transzendentes Reich. Das wäre ein Irrtum. Eine Theorie wird nicht zur Metaphysik durch einen transzendenten Gegenstand, sondern durch ihr Ziel, die anerkannten empirischen und normativen Theorien in einer übergreifenden Theorie ihres Zusammenhangs und der Gründe des Zusammenhangs zu vereinen. Diese kann nicht empirisch widerlegbar, muß aber rational kritisierbar sein. Rückgriffe auf ein transzendentes Reich drohen eine metaphysische Theorie der Kritik zu entziehen und sind typisch schlechte Metaphysik. Man sollte jedoch auch das wichtigste Argument für solche Rückgriffe sehen: die Unbedingtheit moralischer Prinzipien schien Kant wie Piaton über eine kontingente Welt hinauszuweisen. Gegen es genügt nicht die Versicherung, wir lebten in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Man muß es kritisieren. Das ist nur durch eine metaphysische Theorie möglich.

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Zur Begründung von Moral und Recht

Der Wertblinde kann den Begriff des Rechts als sinnlos verwerfen. Er kann jede Verbindlichkeit, erst recht jede erzwingbare, als Anmaßung oder unerträglich verwerfen. In diesem Fall fehlt ihm aber auch jede Möglichkeit, die Durchsetzung des Rechtszwangs gegen ihn als ein Unrecht zu beklagen. Wer jede Form von Recht verwirft, für den kann es auch kein Unrecht geben. Wenn der Durchsetzer des Rechts dem wertblinden Rechtsbrecher seine Befugnis zu zwingen auch nicht demonstrieren kann, fehlt diesem doch jeder Grund, den Rechtszwang zu kritisieren; dazu müßte er sich auf einen Rechtsbegriff stützen. Ob also der Rechtsdurchsetzer und seine Rechtsgenossen wertempfindliche Gründe für ihre Rechtspflichten und ihr Prinzip, das Verletzungsverbot, haben oder nicht: wer jedes Recht und jeden Rechtszwang verwirft, kann ihnen nicht zeigen, daß sie das Recht zu Unrecht durchsetzen. Daraus allerdings, daß man die Rechtmäßigkeit eines rechtlosen Zustands unmöglich zeigen kann, folgt nicht, daß man den rechtlosen dem Rechtszustand nicht aus einem andern als einem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit vorziehen sollte. Der Verwerfer des Rechts könnte argumentieren, daß ein Zustand der völligen Regellosigkeit, der Anarchie, des Rausches oder des Traums dem Rechtszustand vorzuziehen sei und deshalb niemand ihm den Zwang des Rechts antun dürfe. Er könnte behaupten, daß der Verfechter des Rechts nur die eigene Lebensform gegen jede mit ihr unverträgliche Lebensform durchsetzen wolle. Diese Möglichkeit der Argumentation weist auf einen wichtigen Punkt: Der Rechtszwang setzt in der Tat eine unter mehreren möglichen Lebensformen durch und spricht den konkurrierenden Formen ein Daseinsrecht ab. Um das Recht zu rechtfertigen, muß man das Recht des Rechts zeigen, rechtlose Zustände und Gesellschaften in Rechtsverhältnisse zu zwingen. Und dieser Nachweis muß allgemeinverbindlich sein, weil das Recht selbst Allgemeinverbindlichkeit beansprucht: seine Gesetze beanspruchen, für alle zu gelten und erzwingbar zu sein. Seine Begründung darf daher nicht wie die Begründung der Moral (oder genauer ihrer einen Sphäre der Wohltätigkeit) in der Berufung auf einen Wert bestehen, für den man blind sein könnte. Worauf gründet also das Recht des Rechts, rechtlose Zustände in rechtliche hineinzuzwingen? Er kann nur auf etwas gründen, was genau das begründet, was das Recht vor anderen Institutionen auszeichnet. Das aber ist, daß es, wie es Kant klassisch formulierte, „mit der Befugnis zu zwingen verbunden" ist.85 Rechtsbegründung ist Begründung des Rechtszwangs, und die Verwerfung des Rechts ist die Verwerfung des Rechtszwangs. Der Philosoph steht vor der Aufgabe abzuwägen, was für und was gegen den Rechtszwang spricht, ohne die Gültigkeit von Rechtsbegriffen vorauszusetzen. Nach welchem Maßstab aber muß er abwägen? Offenbar nach dem der Zwangverminderung. Denn der Verwerfer führt ja gegen das Recht an, daß es ihn zur Einhaltung der Rechtsregeln zwingt. Der Verteidiger wiederum behauptet, Rechtszwang sei notwendig zur Verminderung von Zwang. Beide stimmen darin überein, daß Zwang schlecht ist; der eine in Hinblick auf sich selbst, der andere unter der Bedingung, daß er manchmal gebraucht werden muß, aber nur damit er vermindert werden kann. Der Streit, ob ein rechtloser oder ein Rechtszustand vorzuziehen sei, muß demnach durch die Frage entschieden werden, welcher Zustand Zwang am wirksamsten vermindert. Der Verwerfer des Rechts könnte allerdings darauf bestehen, ihm gehe es nicht um die Verminderung von Zwang überhaupt, sondern nur um die Durchsetzung eines Lebens ohne Rechtszwang. Aber wenn es ihm auch um eine Begründung seiner Ansprüche geht, muß er für

85 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § D.

Zur Begründung des Rechts

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den Vorrang seiner Wahl Gründe angeben, die auch von der andern Seite anerkannt werden können. Er braucht dann einen gemeinsamen Gesichtspunkt, den er im Maßstab der Zwangverminderung findet. Geht es ihm nicht um eine solche Begründung, kann er sich zwar auf das Recht des Stärkeren berufen und seine Interessen mit Zwang durchzusetzen versuchen, aber dem Verfechter des Rechts nicht vorwerfen, ihn dem Rechtszwang zu unterwerfen. Wenn das Recht Zwang erfolgreicher vermindert als Rechtlosigkeit, dann wäre es nach dem Maßstab der Zwangverminderung gerechtfertigt. Dieser Maßstab ist auf keine Werteinsicht angewiesen; er gewinnt seine Rolle vielmehr daraus, daß Verwerfer und Verteidiger des Rechts beide Zwang mißbilligen und daher die Zwangverminderung als verbindlichen Maßstab anerkennen. Zwar gründet wiederum der Rang der Zwang Verminderung auf dem Wert der Vernunft, der Fähigkeit, nach Gründen zu urteilen, deren Betätigung mit Zwang unvereinbar ist, aber diese Begründung kann wegen möglicher Wertblindheit keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen. Aber ist Zwangverminderung der einzige Maßstab, mit dem über unvereinbare Lebensformen verbindlich entschieden werden kann? Ausschließlichkeitsansprüche sind schwer zu begründen. Vielleicht findet jemand einen anderen Maßstab. Er müßte zwei Bedingungen genügen: die konkurrierenden Lebensformen vergleichbar machen und sie nicht auf ein Leben der wechselseitigen Achtung festlegen; denn damit hätte man schon für den Rechtszustand entschieden. Wenn ein anderer Maßstab vorgelegt wird, wird er im Effekt vermutlich mit dem der Zwangverminderung äquivalent sein. Das Recht bezieht seine Befugnis zu zwingen nun allein aus dem Ziel, Bedingungen zu schaffen, unter denen, wie Kant sagt, „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen ... zusammen vereinigt werden kann" 8 6 , und das heißt: ohne Zwang bestehen kann. Diese Bedingungen machen genau das aus, was wir als das Recht verstehen können, wie es die liberale Tradition, aber nicht nur sie, verstand. Gerechtigkeit, um die es dem Rechtszwang geht, wurde oft „im Gegensatz der Gewalttätigkeit" verstanden. 87 Das Recht wäre nun allgemeinverbindlich und erzwingbar, wenn es das wirksamste Mittel wäre, Zwang im menschlichen Leben zu vermindern. Positiv ausgedrückt: wenn es das wirksamste Mittel wäre, jedem die Entfaltung seiner Anlagen zu sichern. Denn Zwang ist die Verhinderung der Betätigung der eigenen Anlagen. Ist das Recht nun das wirksamste Mittel zu diesem Ziel? Seiner Idee oder doch der liberalen Deutung nach ja: durch dies Ziel ist es ja bestimmt worden. Seiner positiven Ausführung nach gewiß nicht immer und überall. Aber dann ist es auch zu kritisieren und auf seine Idee hin zu reformieren. Die Rechtlosigkeit dagegen bietet keinerlei Anhaltspunkte dafür, Zwang wirksam vermindern zu können. Die Erfahrung aus vielen Lebensbereichen spricht vielmehr dafür, daß der Verzicht darauf, Zwang durch wohldosierten Zwang zu verhindern, Zwang nicht vermindert, sondern üppig wuchern läßt. Wird diese empirische Behauptung widerlegt, so läßt sich das Recht nicht mehr rechtfertigen. Widerspricht nun nicht die Allgemeinverbindlichkeit und Erzwingbarkeit des Rechts dem Fehlbarkeitsprinzip, nach dem jeder Verbindlichkeitsanspruch fehl- und revidierbar und deshalb nie absolut verbindlich ist? Denn die legitime Erzwingbarkeit des Rechts berechtigt zu unrevidierbaren Zwangsmaßnahmen, wie Freiheits- und Todesstrafen, die dem Fehlbarkeitsprinzip zumindest praktisch zu widersprechen scheinen. Gegen diesen Einwand müssen wir

86 Ebd., § B . 87 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 107.

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Zur Begründung von Moral und Recht

uns daran erinnern, daß die Fehl- und Revidierbarkeit keiner Theorie etwas an der Naturtatsache der Unrevidierbarkeit von Handlungen ändern kann: facta infecta fieri non possimi. Keine einzige Strafhandlung, sondern nur die Art oder Institution der Strafe und allgemeiner des Rechts ist revidierbar. Die Begründung des Rechts als des wirksamsten Mittels der Zwangverminderung hat ein scheinbares Paradox zur Konsequenz: Das Recht ist nur legitim erzwingbar, wenn es mit dem Zwang auch sich selbst aufzuheben strebt. Ebenso ist auch der Staat als Verwalter und Vollstrecker des Rechts nur legitim, wenn er sich selbst aufzuheben strebt. Recht, Staat und Politik sind nicht Selbstzweck, sondern dienen dem Ziel einer Zwangfreiheit, deren Erreichen sie überflüssig macht. Doch ist das Paradox nur Schein. Solange es unprovozierten illegitimen Zwang gibt, muß es auch sekundären legitimen Zwang geben und mit ihm Recht, Staat und Politik. Recht und Staat werden aber solange als notwendig empfunden werden und tatsächlich notwendig sein, wie es primären Zwang gibt. Sollte einmal ein Zustand ohne primären Zwang eintreten, dann kann, wie nicht erst Marx, sondern schon der hoffnungsfrohe Fichte erwartete, „die hergebrachte Zwangsregierung allmälig einschlafen, weil sie durchaus nichts mehr zu tun findet" und „wird der dermalige Zwangsstaat ohne alle Kraftäusserung gegen ihn an seiner eigenen, durch die Zeit herbeigeführten Nichtigkeit ruhig absterben". 88 Unsere Rechtsbegründung liefert aber auch ohne solche starken Hoffnungen eine historische Perspektive für das Ziel, dem Recht, Staat und Politik als Mittel dienen: eine Zwangfreiheit, die wiederum jedem die Entfaltung seiner Anlagen ermöglicht. Eine solche Perspektive hat Kant als eine Teleologie der Natur vorgestellt. Man braucht diese nicht anzuerkennen, um mit ihm das Recht als ein Mittel für den Zweck der Entfaltung der Anlagen aller zu verstehen: „Da nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne", so sagt er in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, „da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann,... so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen in größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein." 89 Eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung ist ein positives Recht, das jedem die „größtmögliche Freiheit" sichert. Sie ist „die höchste Aufgabe" nicht, weil sie ein Selbstzweck ist, sondern das einzige Mittel, den Selbstzweck der Entwicklung der Anlagen aller zu erreichen.

Liberalismus und Falsifikationismus Die Falsifikation deskriptiver wie normativer Theorien der Gerechtigkeit hat mit einer psychologischen Schwierigkeit zu rechnen, die Konrad Lorenz beschrieben hat: „Es mag Forscher geben, die ganz genau nach der von Karl Popper angegebenen Verfahrensweise nach nichts

88 J.G. Fichte, Die Staatslehre oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche, in: Sämmtl. Werke, hg. v. J.H. Fichte, Bd. 4, Berlin 1845, 599. 89 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, a.a.O., 5. Satz.

Liberalismus und Falsifikationismus

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anderem trachten, als die eigene Hypothese mit allen Mitteln zu falsifizieren ... Forscher, die mit einer guten Fähigkeit zur Gestaltwahmehmung ... begabt sind, verfahren aber, soweit ich beobachten konnte, niemals so. Die Hypothese, die einem so gearteten Manne als erste einfallt, ist nicht willkürlich ohne Bezug auf äußere Wahrnehmungen konstruiert, sie ist vielmehr immer schon das Ergebnis (eines) komplexen Verfahrens von Sinnesorganen und Zentralnervensystem ... Es wäre ... eine Lüge, wollte ich behaupten, daß ich wünsche, alle meine Hypothesen als völlig falsch zu entlarven ... Ich hoffe, kleinere Unrichtigkeiten herauszufinden, da ich ja von vornherein davon überzeugt bin, daß meine Hypothesen nicht ganz und gar richtig seien ... Ebenso aber... (rechne) ich im Fall jeder zu prüfenden Vermutung auf eine wenigstens teilweise Richtigkeit meiner Intuition." 90 Wir haben es hier jedoch mit keinem großen Problem zu tun. Lorenz' Bekenntnis würde auch Popper zustimmen, da er Falsifikationen vor allem als Aufgabe der Konkurrenten im betreffenden Wissenschaftszweig sieht und daher die Freiheit wissenschaftlicher Institutionen und ihrer Fachzeitschriften so hoch schätzt. Schwächen erkennt man gewöhnlich leichter beim Konkurrenten als bei sich. Es gibt aber auch eine grundsätzliche Schwierigkeit, vor der politische Theorien der liberalen Tradition stehen. Die falsifikationistische Methodologie ist selbst Teil der liberalen Tradition; nicht weil diese sie zu ihren Prinzipien gezählt hätte, sondern weil die Wissenschaften, die schon immer falsifikationistisch verfuhren, wenn ihre Protagonisten auch nicht immer davon ein klares Bewußtsein hatten, für die liberale Tradition das vorbildliche, paradigmatische Problemlösungsverfahren waren und sind. Wer als politischer Philosoph den Liberalismus verwirft, mit dem wird man daher nicht unbedingt auf der Grundlage einer gemeinsam anerkannten falsifikationistischen Methodologie diskutieren können; er kann sie als typisch liberal verwerfen. Er muß es nicht; denn die Anerkennung des Falsifikationismus in der politischen Philosophie legt noch nicht auf die liberale Tradition fest; aber der Anhänger des Falsifikationismus in der politischen Philosophie muß anerkennen, daß man diesen als Element der liberalen Tradition verstehen und mit ihr verwerfen kann. Was folgt aus diesem Sachverhalt? Einerseits daß man den Falsifikationismus selbst verwerfen müßte, wenn sich eine mit ihm unvereinbare nicht-liberale politische Theorie als richtig erweisen sollte. Anderseits, wenn man nicht auf die Ausweispflicht für allgemeinverbindliche Geltungsansprüche verzichtet - was der Verzicht auf Vernunft und Recht wäre - daß man dann eine alternative Methodologie des Ausweisens allgemeinverbindlicher Geltungsansprüche finden müßte. Findet sich eine solche Alternative nicht, so kann man die Verwerfung der falsifikationistischen Methodologie nicht akzeptieren, wie immer man zur liberalen Tradition steht. Auch Anhänger einer nicht-liberalen Politik müssen solange solche Theorien vorlegen, die den moralischen Intuitionen eines jeden ausgesetzt werden und an ihnen scheitern können. Genügen sie nicht dieser Bedingung und fehlt eine alternative Ausweisung, so können ihre Theorien nicht als rational anerkannt werden - sie sind dann von vornherein indiskutabel. Ein alternatives Ausweisverfahren läßt sich nicht a priori ausschließen. Aber nach unserem Begriff von einem Ausweisverfahren wäre jede Alternative entweder zu stark, wenn es nämlich nicht nur (falsifikationistisch) in rationaler Kritik oder Versuchen der Widerlegung konkurrierender Theorien bestände, sondern (verifikationistisch) in einer positiven Begründung

90 Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, a.a.O., 256.

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Schmitts Zwang

der Theorie als unwiderleglich; Unwiderleglichkeit einer Theorie und Unfehlbarkeit ihres Verfechters darf man vernünftigerweise von Menschenwerk nicht verlangen. Oder es wäre zu schwach, wenn es weniger verlangte als rationale Kritisierbarkeit. 91 Die Konsequenz aus dieser Überlegung ist, daß jede politische Theorie, die nach ihrem Inhalt so beschaffen ist, daß sie nicht an den Intuitionen des Lesers scheitern kann, und doch keine andere Methode der Ausweisung ihrer Ansprüche bietet, indiskutabel ist. Von dieser Art ist die Theorie Carl Schmitts. Seine Philosophie gilt in Deutschland und außerhalb 92 noch immer in ihrem Begriff des Politischen als Vorbild, wenn man sich auch von ihren konkreteren Inhalten distanziert. Tatsächlich beruht sie auf einem elementaren Mißverständnis der liberalen politischen Tradition, in der auch diese Arbeit steht. Daher ist ein kurzer Blick auf sie angebracht.

4. Schmitts Zwang Freund und Feind Schmitt stimmt mit den Klassikern der neuzeitlichen politischen Philosophie darin überein, den Gegenstand der politischen Philosophie von dem der Moralphilosophie oder anderer normativer Disziplinen zu unterscheiden. Er sagt: „Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbstän-

91 Unter den Popperianern ist die Falsifizierbarkeit des Falsifikationsprinzips umstritten. W.W. Bartley versucht einen „pankritischen" Rationalismus zu verteidigen, der nach John F. Post und John Watkins zu Paradoxien führt. Vgl. den 2. Teil von Radnitzky/Bartley (eds.), Evolutionary Epistemology, a.a.O., - Der Poppersche Begriff der Begründung (justification), die unmöglich und durch Bestätigung durch Kritik oder das Überstehen von Widerlegungsversuchen zu ersetzen sei, dürfte mißverständlich sein, weil man oft als Begründung die Anführung von Argumenten oder die Verwerfung von Einwänden anerkennt. Im Deutschen scheint sich für das, was die Popperianer als Begründung verwerfen, der Begriff der Letztbegründung eingebürgert zu haben. Radnitzky folgt diesem Sprachgebrauch, wenn er von Bartleys These sagt, sie sei gerichtet „against the claim that there are ultimate justifiers" (ebd., 298, meine Hervorhebung). 92 Auch in der franko- und anglophonen Welt findet Schmitt Beachtung. Vgl. dazu den kritischen Literaturbericht von Mark Lilla, The Enemy of Liberalism, in: The N e w York R e v i e w of Books, 15.5.1997, 38^14.

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dige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht." 93 Jeder Satz verdient soweit Zustimmung, auch der letzte, der die spezifische Unterscheidung des Politischen von denen der anderen Sachgebiete als vorgeordnet abhebt. In der Tat ist der spezifische Unterschied des Politischen der Gegensatz von gerecht und ungerecht oder legitim erzwingbar und nicht legitim erzwingbar den anderen Gegensätzen in dem Sinn vorgeordnet, daß sich das „menschliche Denken und Handeln" der anderen Sachgebiete nur im Schutz des Rechtszwangs entwickeln kann. Für Schmitt ist nun „die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen", nicht die von gerecht und ungerecht. Sie ist vielmehr „die Unterscheidung von Freund und Feind".9' Wie ist diese These zu verstehen? Der Feind, so Schmitt, „ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines .unbeteiligten' und daher .unparteiischen' Dritten entschieden werden können". Das Politische, heißt das, ist das Feld, auf dem die argumentative Normenlegitimation versagt und an ihre Stelle die kriegerische tritt, der Kampf und Krieg für „die eigene, seinsmäßige Art von Leben". 95 „Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht." 96 In der Moral lassen sich Normen und Entscheidungen durch ihre Zuordnung zu gut und böse, in der Ökonomie durch Zuordnung zu rentabel und unrentabel, in der Ästhetik durch Zuordnung zu schön und häßlich rechtfertigen. In der Politik lassen sie sich nur durch den existentiellen, die eigene Existenz aufs Spiel setzenden Kampf rechtfertigen. Da es bei diesem Kampf um die eigene Art und die Verneinung der Art des anderen geht, zielt er nicht nur auf eine irgendwie mentale Zurückweisung, sondern auf die Vernichtung des anderen. „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins." 97 Die Konsequenz dieses Verständnisses des Politischen ist, daß es keine allgemeinverbindliche politische Philosophie geben kann. Schmitt setzt voraus, daß es Konflikte einer besonderen Art gibt und immer geben sollte, die „existentiellen". Sie können und dürfen nur durch „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins" entschieden werden. 98 Für den falsifikationistischen Ansatz scheidet dagegen Schmitts Theorie von vornherein als eine Theorie aus, die auch nur verbindlich sein könnte. Sie kann nicht durch irgendwelche Intuitionen von dem, was gerecht ist, widerlegt werden. Denn jede widersprechende Intuition würde sofort als Auffassung des Feindes disqualifiziert werden. Was immer Schmitt über das Politische sagt, ist daher immun gegen jede mögliche Widerlegung. „Die Möglichkeit richtigen Erkennens

93 94 95 96 97 98

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963 (Text von 1932), 26. Ebd. Ebd., 27. Ebd., 29. Ebd., 33. Ebd.

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und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier" - im Politischen - „nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben". 99 Schmitt kann seine politische Philosophie auch nur durch das existenzielle Teilhaben an der „eigenen, seinsmäßigen Art von Leben" formulieren, die (nach seinem politischen Engagement zu urteilen) die ist, die er für die deutsche hält. Politische Philosophie kann nur partikular oder national sein. Kann man zwischen zwei so verschiedenen Ansätzen wie dem partikularen Schmittschen und dem universalen falsifikationistischen und liberalen rational entscheiden? Das scheint unmöglich, aber Schmitts Theorie hat ihre eigene Rationalität und daher auch ihre Kritisierbarkeit. Sie ist rational, weil sie sich auf folgendes Argument stützt. Die Parteien in einem existenziellen Konflikt erkennen keine Regelung an, die nicht ihren existenziellen Interessen entspricht; andernfalls wäre der Konflikt nicht existenziell. Für existenzielle Interessen opfern sie das Leben und führen Krieg. Die Bereitschaft, für bestimmte Ziele das Leben zu lassen, zeigt aber nicht nur die höchste Intensität und den höchsten subjektiven Wert der Ziele; sie legitimiert auch die Ziele und macht ihre Verfolgung zumindest in der Gesellschaft, die sie durchgesetzt hat, verbindlich. Daher sind Schmitts Aussagen nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ. Man erkennt nach ihnen argumentativ gerechtfertigte Normen für existenzielle Konflikte nicht nur nicht an; man soll es auch nicht tun: der Krieg ist der einzige Weg zu bezeugen, daß ein Interesse den Rang hat, anerkannt zu werden, und der Sieg auf dem Schlachtfeld eine Rechtfertigung, die jeden Sieg in einer Abstimmung, Argumentation oder Begründung an Legitimationskraft übertrifft. Keine Überlegung, sondern das Opfer des Lebens schafft Recht. Die Existenz der Menschen gründet nicht in ihrem Geist, sondern ihrem Blutopfer. Das ist eine paradoxe These. Sie besagt, daß nicht das Argument, sondern der Einsatz des Lebens eine politische Ordnung rechtfertigen kann. Aber Schmitt argumentiert doch dafür, eine politische Ordnung mit dem Einsatz des Lebens zu rechtfertigen. Damit impliziert er, daß der bloße Kampf für die Anerkennung einer politischen Ordnung nicht genügt; Argumente sind auch nötig. Daß wiederum Argumente nicht ausreichen, eine politische Ordnung zwar nicht zu begründen, aber durchzusetzen, wird auch jeder Liberale anerkennen: eine politische Ordnung braucht den Rechtszwang, für den seine Verfechter notfalls ihr Leben opfern müssen. Auch er erkennt daher an, daß die Gründe für politische Normen, die immer auch Normen für den Gebrauch von Zwang sind, für die Menschen, die ihnen folgen sollen, existenzielle Bedeutung haben. Aber daraus folgt nicht, daß sie den, der andere Normen als sie für richtig hält und sie auf andere Gründe stützt, als ihren existenziellen Feind betrachten müssen, mit dem man nicht argumentieren, sondern nur aufs Messer kämpfen kann. Es gibt eine Alternative: die eigenen Gerechtigkeitsideen und -Intuitionen zu einem konsistenten und konsequenten Theoriebau zusammenzufügen und diesen der Kritik durch widerstreitende Intuitionen auszusetzen. Daß Schmitt die Alternative nicht sehen konnte oder wollte, hat nicht nur die spezifischen historischen Gründe, die das intellektuelle Leben der Weimarer Republik blind für die Möglichkeiten von Argument und Kritik machten, sondern allgemeinere Mißverständnisse über die Rolle des Geistes im menschlichen Leben. Das wird deutlich, wenn wir die Schwächen von Schmitts Theorie betrachten.

99 Ebd., 27.

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Ihre erste Schwäche ist, daß man mit ihr jedes Ziel dadurch legitimieren kann, daß man es für existentiell erklärt, für es Krieg führt und seine Gegner zu Feinden macht, die man vernichten muß. Dagegen dient die Anerkennung von Normen für alle Konflikte nach der liberalen politischen Philosophie gerade der Verhinderung dieser Möglichkeit. Sobald man einen Konflikt als existentiell von anderen unterscheidet, räumt man mit ihm einen Ausnahmezustand ein, für den man sich den Gebrauch krimineller Mittel und das Privileg vorbehält, sie nicht kriminell zu nennen. Die ordinäre Moral, das liberale Recht, die ihnen entsprechenden moralischen Intuitionen und der gesunde Menschenverstand betrachten die Intensität eines ökonomischen oder ideologischen Konflikts nicht wie Schmitt als dessen Verwandlung in einen politischen, durch die auf einmal die Vernichtung des Gegners erlaubt wird; sie unterwerfen vielmehr den Gebrauch von Zwang einschließlich aller Kriegs- und Vernichtungsmittel ohne Rücksicht auf die Art eines Konflikts Regeln, die durch das Zwangverminderungsgebot begründet werden. Dies Gebot muß Schmitt von vornherein als illusionär ausschließen. 100 Tatsächlich ist es politisch, weil es in der Durchsetzung von Gerechtigkeit besteht. Schmitt kann seinen Begriff des Politischen nur im krassen Widerspruch zu den vorherrschenden moralischen Intuitionen, aber auch zum gewöhnlichen Sprachgebrauch vertreten. Das allein ist kein Grund, ihn zu verwerfen. Wenn die Neuerung aber keinen anderen Gewinn bringt als die Erleichterung, Kriege zu führen, Gegner zu Feinden zu machen und zu vernichten, spricht alles gegen sie. Schmitt hat versucht, die Neuerung als eine Tugend auszugeben; als eine Bereicherung des Lebens, das andernfalls entpolitisiert würde. Denn „erst im wirklichen Kampf zeigt sich die äußerste Konsequenz der politischen Gruppierung von Freund und Feind. Von dieser extremsten Möglichkeit her gewinnt das Leben der Menschen seine spezifisch politische Spannung." 101 Was ein typisch liberaler Philosoph wie Kant für das Ziel der Politik hält, „ein endgültig pazifizierter Erdball", „wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik. Es könnte in ihr mancherlei vielleicht sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben ..., aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten".102 Natürlich muß man schon Schmitts Politikbegriff anerkannt haben, um diesem Argument zu folgen. Dafür aber hat Schmitt nur das falsche Argument anzuführen, daß existenzielle Konflikte nicht normiert werden können. Tatsächlich können sie nicht nur normiert werden; sie unterstehen vielmehr seit Menschengedenken schärfsten Normen. Diese lassen sich allerdings oft nicht ohne Zwang und ohne Einsatz des Lebens durchsetzen. Schmitts Ersetzung der argumentativen Normenlegitimation durch die kriegerische hat zweitens den Nachteil, eine Prüfung der „eigenen, seinsmäßigen Art von Leben" darauf, ob es der eigenen Natur und den gegebenen Umständen überhaupt angemessen ist, auszuschließen. Das mag dem Anhänger dieser Auffassung bedeutungslos scheinen, einerseits weil er von dem, was seinem Sein gemäß ist, unmittelbar oder durch die Stimme des Bluts überzeugt zu sein glaubt, anderseits weil er den Kampf und das Blut für ursprünglichere Kräfte hält, die vitaler sind und den Quellen allen Lebens näher stehen als der Geist und die Kritik. Aber diese Auffassung verkennt die Kräfte der biologischen Evolution. Geist und Kritik sind zwar 100 So ebd., 37. 101 Ebd., 35. 102 Ebd., 35f.

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evolutionär späte, aber deshalb keine schwachen Kräfte. Sie sind im Unterschied zu früheren Kräften extrem vielseitig und besonders leicht destruktiv zu gebrauchen, wie Schmitt selbst durch sein Werk demonstriert. Aber sie haben sich nur deshalb als eine evolutionäre Errungenschaft halten können, weil sie sich als nützlich und wirksamer als frühere Kräfte erwiesen haben. Die Funktion, die ihnen Überleben und weitere Entwicklung sicherte, ist gerade die des nicht-existenziellen Ausprobierens oder Anwendens von Programmen oder Verhaltensmöglichkeiten, die Tiere oder auf ihren Geist verzichtende Menschen nur existenziell, durch Einsatz ihres Lebens ausprobieren können. Alle Lebewesen bringen durch Mutation oder spontan in ihrem Verhalten immer wieder neue Formen des Lebens hervor; ob sie überlebensfähig sind oder das Leben des Lebewesens fördern, entscheidet sich im nichtmenschlichen Leben genau in dem, was Schmitt der Politik empfiehlt; im Kampf für die eigene seinsmäßige Art, und dieser Kampf endet in der überwältigenden Zahl mit dem Tod der Lebewesen. Erst dann, wenn die neuen Verhaltensweisen bewußt werden, als Theorien oder Normen artikuliert, in ihren Konsequenzen bedacht und kritisiert werden können, erst dann können neue Verhaltensmöglichkeiten erprobt werden, ohne bei Untauglichkeit mit dem Tod der Lebewesen zu enden. Erst dann läßt, wie Popper es beschrieben hat, „die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden." 103 Der Geist ist nur so schwach, wie die Art, Argumente zu gebrauchen. Gebraucht man sie zur Überprüfung der Seinsweise, dann kann er stärker sein als die Naturkräfte, die zu welcher Seinsweise auch immer drängen. Das heißt nicht, daß er nur eine Waffe im Kampf ums Dasein ist. Wenn wir einmal kritisieren und argumentieren können, können wir uns andere Ziele als die des Überlebens setzen: die Freiheit um der Freiheit, die Wahrheit um der Wahrheit und die Gerechtigkeit um der Gerechtigkeit willen. Schmitts Liberalismusverständnis Schmitts Politikansatz ist nicht nur deshalb zu verwerfen, weil er gegenüber dem gewöhnlichen Politikverständnis den Nachteil hat, Zwang zu vermehren statt zu vermindern. Er stützt sich auch auf ein falsches Verständnis des liberalen universalen Rechts: auf den Irrtum, daß dies keinen Zwang rechtfertigen könne. Für eine „ökonomisch funktionierende Gesellschaft", wie er liberale Gesellschaften nennt, gelte: „kein Programm, kein Ideal, keine Norm und keine Zweckhaftigkeit verleiht ein Verfügungsrecht über das physische Leben anderer Menschen. Von den Menschen im Ernst zu fordern, daß sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe, ist grauenhaft und verrückt." 104 Diese Beschreibung verzerrt die liberale Rechtsidee. Diese besteht gerade darin, die Verfügung über das Leben anderer Menschen zwar darauf einzuschränken, aber auch dafür zu rechtfertigen, jedem gleichen Spielraum für seine Anlagen einzuräumen. Sie verlangt Opfer nicht für die ökonomische Blüte oder die Konsumkraft, sondern nur für die gleiche Freiheit. Diese zieht zwar idealerweise auch die ökonomische Blüte nach, wird deswegen aber nicht von ihr als Ziel verdrängt. 103 Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 289. 104 Schmitt, Der Begriff des Politischen, a.a.O., 49.

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Schmitt meint natürlich nicht, daß man „von den Menschen im Ernst" überhaupt nicht fordern könne, „daß sie töten und bereit sind, zu sterben". Geht es ums „existenzielle Teilhaben und Teilnehmen"; darum, „die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren" 105 , ist jedes Töten und Sterben glorreich. Die Konsequenz ist, daß Zwang oder „das Verfügungsrecht über das physische Leben anderer Menschen", damit auch das Recht nur für Gruppen mit ihrer j e eigenen seinsmäßigen Art möglich sind. Recht, Politik und Staat sind für Schmitt ebenso wie die politische Philosophie partikular; eine universale Gerechtigkeit ist ausgeschlossen. Daher kann man mit „juristischen Normen keinen Krieg" unabhängig von den existenziellen Interessen einer partikularen Nation „begründen", gehört „die Gerechtigkeit nicht zum Begriff des Krieges"; dienen die „Konstruktionen, die einen gerechten Krieg fordern,... gewöhnlich selbst wieder einem politischen Zweck" 1 0 6 , nämlich der Vernichtung des existenziellen Feindes. Diese Thesen sind in Deutschland noch immer so populär, wie die entgegengesetzte These, ein Krieg könne gerecht sein, unpopulär ist. Für den liberalen Ansatz muß dagegen der Gebrauch von Zwang innerhalb eines Staates ebenso wie der zwischen den Staaten gerecht sein, wenn er nur dem Ziel der gleichen Freiheit und der Bedingung der Zwangminderung entspricht. Die Deutschen schrecken aus leicht erklärbaren Gründen vor der Vorstellung zurück, ein Krieg könne gerecht sein. Aber man braucht sich nur auf die Seite eines von einem offensichtlich ungerechten Aggressors Überfallenen Landes zu versetzen, um einen Krieg nicht für notwendig ungerecht zu halten. Die Zeitbedingtheit von Schmitts These wird auch in den Konsequenzen erkennbar, die er aus ihr zieht. Die Ächtung des Kriegs 107 , die Einrichtung des Völkerbunds von 1919 und die Idee eines Weltstaats seien trügerische „Entpolitisierungen" 108 , mit deren Anerkennung man die eigene Lebensform untergräbt. „Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde". 1 0 9 „Die schlimmste Verwirrung entsteht dann, wenn Begriffe wie Recht und Frieden ... politisch benutzt werden, um klares politisches Denken zu verhindern, die eigenen politischen Bestrebungen zu legitimieren und den Gegner zu disqualifizieren oder zu demoralisieren. Das Recht, sei es das private, sei es das öffentliche Recht, hat als solches - am sichersten im Schatten einer großen politischen Dezision, also z.B. im Rahmen eines stabilen Staatswesens - seinen eigenen relativ selbständigen Kreis. Es kann aber, wie jede Sphäre des menschlichen Lebens und Denkens, sei es zur Unterstützung, sei es zur Widerlegung einer anderen Sphäre verwendet werden." 110 Das sind weise Worte, deren Weisheit Schmitt nur verkennt, weil er sie nicht auf sich bezieht, sondern auf den Liberalismus. In der Tat entsteht die schlimmste Verwirrung, wenn Begriffe wie Recht und Frieden benutzt werden, um den Gegner zu disqualifizieren, wie es Schmitt mit dem Liberalismus versucht. Schmitt hat auch darin recht, daß die Ächtung des Kriegs und die Behauptung einer Partei, keine Feinde zu kennen, trügerisch sind. Denn sowenig wie der Rechtszwang des legitimen Staates darf das Mittel des gerechten Kriegs j e katego-

105 106 107 108 109 110

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

27. 50. 51 f. 56ff. 52. 65f.

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risch ausgeschlossen oder geächtet werden, und wer das Recht grundsätzlich mißachtet und seine Durchsetzung verhindert, ist ein Feind, mit dem man nicht kooperieren darf. Wenn Schmitt die Ächtung des Kriegs kritisiert und an der Kategorie des Feindes, mit dem jede Zusammenarbeit verboten ist, festhält, dann folgt er nicht nur einem Ressentiment gegen die Versailler Siegermächte, sondern hat die Wahrheit auf seiner Seite. Seine Kritik wird erst falsch, wenn er sie nicht auf das liberale Kernprinzip der Befugnis des Rechts zu zwingen gründet, sondern auf einen verschrobenen existenziellen Partikularismus, der seine Attraktion nur aus dem Ressentiment gegen den liberalen Universalismus nährt. Der entscheidende Grund für Schmitts Politikbegriff ist sein Verkennen der Bedeutung der Befugnis des liberalen Rechts zu zwingen. Der Gegensatz zwischen einem liberalen und dem Schmittschen Politikverständnis betrifft nicht die Frage, ob man für politische Ziele Leben opfern darf und es Feinde gibt, sondern die Frage, ob die politischen Ziele, um deretwillen man dies tun darf, universal sind oder nur partikular oder national sein können. Diese Frage läßt sich rational entscheiden. Der Liberalismus, der das Opfer des Lebens nur für Ziele von universaler Verbindlichkeit erlaubt und fordert, hat von vornherein die bessere Position. Schmitts Sarkasmus, der Liberalismus fordere von den Menschen nur, „daß sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe'"", fällt auf ihn selbst zurück; denn er fordert von den Menschen ein Töten und Sterben für das Gedeihen der Enkel nicht einmal aller Menschen, sondern nur eines notwendig beschränkten Teils der Menschheit. Schmitts Politikbegriff ist nicht nur aus diesem Grund nach seinem eigenen Maßstab dem universalistischen unterlegen. Für Schmitt ist Zwang nur legitim als Mittel im Kampf um die Existenz einer besonderen Lebensform. Er kann daher den Zwang, den ihm oder seiner Nation ein anderer oder eine andere Nation auferlegt, nicht als ungerecht verstehen. Er kann ihn so nennen, aber muß ihn seiner Theorie getreu als Erfolg des Feindes in dessen Kampf um seine Seinsart verstehen. Sein Feind dagegen muß den Zwang des anderen als ungerecht verstehen, wenn er nicht seinen universalen Normen entspricht. Zu dessen Gerechtigkeitsbegriff gehört, daß jeder ein Recht hat, seine eigene Lebensform zu wählen und sie unter der Bedingung zu verteidigen, daß er jedem andern dieselbe Freiheit zubilligt. Auch für ihn kann Gerechtigkeit im Kampf für die eigene Lebensform bestehen, sogar in einem Kampf um die Vernichtung anderer Lebensformen, nämlich solcher, die keine anderen Lebensformen neben der eigenen dulden. Aber die Legitimitätsbedingung solcher Kämpfe ist die Achtung des Rechts eines jeden Individuums, die eigene Lebensform zu wählen. Auf dieser Grundlage kann der Anhänger des universalistischen Gerechtigkeitsbegriffs mit allen, die demselben Gerechtigkeitsbegriff folgen, Verträge zur Verteidigung der je eigenen Lebensform gegen Angriffe von Seiten Dritter schließen, die zur Erhaltung ihrer Lebensform die anderer vernichten zu müssen glauben. Seine Vertrags- und Bündnisfähigkeit macht ihn unter den gewöhnlichen menschlichen Lebensumständen den Anhängern des Schmittschen Gerechtigkeitsbegriffs überlegen. Er wird daher seine Lebensform, weil sie am universalistischen Gerechtigkeitsbegriff orientiert ist, gegen ihn bedrohende Lebensformen des Schmittschen Typs durchsetzen und mit ihr seinen universalistischen Gerechtigkeitsbegriff.

111 Ebd., 49.

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Für Schmitt kann dies Ergebnis nur ein Scheinsieg der universalen Gerechtigkeit sein; was sich durchsetzt, ist nur eine besonders raffinierte partikulare Gerechtigkeit, nämlich die Lebensform, die vertragsverachtende Lebensformen nicht neben sich duldet. Diese Deutung ändert nichts daran, daß sich eine vertragsfähige Lebensform durchsetzt, die jedem seine Freiheit unter der Bedingung sichert, die Freiheit jedes anderen anzuerkennen. Wenn Schmitt in dieser Normativität eine raffinierte Form des Partikularismus sieht, streitet er nur um Worte. Ein Normensystem, das jedem die Freiheit sichert, über sich zu verfügen, soweit er dieselbe Freiheit jedem anderen läßt, ist zwar unvereinbar mit eine System, das alles Handeln daran mißt, ob es die eigene Lebensform durch Vernichtung anderer schützt, und kann von ihrem Gegner als ebenso partikular empfunden werden wie das eigene System. Aber das heißt nur, daß tolerante Systeme mit intoleranten nicht nur unvereinbar, sondern auch fähig und verpflichtet sind, diese ihrerseits um der gleichen Freiheit eines jeden willen zu bekämpfen. Sie geraten dadurch nicht etwa in Widerspruch zu ihrem Prinzip der Toleranz oder der gleichen Freiheit eines jeden. Sie würden es vielmehr verraten, wenn sie es nicht gegen seine Feinde verteidigten. Soweit hat sich die Überlegenheit des universalistischen Gerechtigkeitsbegriffs für einen Partikularisten wie Schmitt erwiesen, der Gerechtigkeitsnormen als Waffe im Kampf ums Dasein versteht. Dieser muß anerkennen, daß er seine partikulare Lebensform am besten unter dem Schirm der universalen Gerechtigkeit schützt, wenn er auch zähneknirschend den Preis der NichtVerletzung der Freiheit der anderen zahlen muß, ihre eigene Lebensform zu wählen. Aber muß nicht dies Argument die universale Gerechtigkeit in den Augen ihrer Anhänger kompromittieren? Wird sie dadurch nicht zu einer raffinierten Waffe im Kampf ums Dasein reduziert? Nein; nichts hindert ihre Anhänger, die universale Gerechtigkeit aus einem angemesseneren Grund für vorzugswürdig zu halten, nämlich deshalb, weil sie unserer Vernunft entspricht und ein Wert ist, der um seiner selbst willen verfolgt wird. In der deutschen Geschichte der politischen Philosophie ist Schmitts Politikbegriff das Zeugnis eines Mißverstehens, in dem Ressentiment und Intelligenz eine destruktive Verbindung eingegangen sind. Er wäre weder möglich noch nötig gewesen, wenn Schmitt und seine Anhänger erkannt hätten, daß die liberale Rechtsidee unverträglich ist mit einem Pazifismus, den Schmitt dem Liberalismus unterstellt; gegen besseres Wissen, wie ich vermute, aber gedeckt durch Pazifisten, die sich zu Unrecht auf den Liberalismus beriefen. Es bleibt trotzdem eine unentschuldbare Falschdarstellung der liberalen politischen Philosophien von Locke und Kant, die führende Vertreter eines „Individualismus des liberalen Denkens" sind, wenn er behauptet: „Für den Individualismus des liberalen Denkens ist (der Anspruch einer politischen Einheit, gegebenenfalls das Opfer des Lebens zu verlangen) auf keine Weise zu erreichen und zu begründen. Ein Individualismus, der einem andern als dem Individuum selbst die Verfügung über das physische Leben dieses Individuums gibt, wäre ebenso eine leere Phrase wie eine liberale Freiheit, bei der ein Anderer als der Freie selbst über ihren Inhalt und ihr Maß entscheidet. Für den Einzelnen als solchen gibt es keinen Feind, mit dem er auf Leben und Tod kämpfen müßte, wenn er persönlich nicht will."" 2 Die liberale Tradition folgte Piaton in der Annahme, daß für die Gerechtigkeit, und nur für sie, auch der einzelne gezwungen werden darf und muß. Der politische Zustand ist für sie gleichbedeutend mit dem Verzicht des Individuums auf seine „Natural Liberty", die es gegen

112 Ebd., 70.

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die „bonds of Civil Society", die Bande des Staats eintauscht." 3 Lockes Staat ist ein System von Gewalten, powers, die schon durch ihren Namen zu erkennen geben, daß er die gleichen Rechte der Individuen durch Gewalten schützt und zum Schutz ihrer Rechte nicht nur irgendwie „über das physische Leben dieser Individuen" verfügt, sondern auch durch Todesstrafen und die Unterwerfung unter die staatliche „power of War and Peace". 114 Entweder verwechselt Schmitt das liberale Pochen auf die Rechte der Individuen, auch gegen Staatsansprüche ihre legitimen Interessen zu vertreten, mit der Behauptung, der Staat dürfe nie Gewalt gebrauchen, auch nicht gegen illegitime Interessen. Oder, wahrscheinlicher, er unterstellt Locke, er müsse mit dem Bestehen auf den Rechten der Individuen die Impotenz des Staats gewollt haben. Locke jedenfalls sah Unterstellungen der Schmittschen Art voraus. Denn er betonte, unter bestimmten Bedingungen müsse die Macht des Staats absolut sein; dies stehe nicht im Widerspruch zu den Rechten der Individuen, sondern werde im Gegenteil von ihnen gefordert: „... even absolute Power, where it is necessary, is not Arbitrary by being absolute, but is still limited by that reason, and confined to those ends, which required it in some Cases to be absolute ... the Preservation of the Army, and in it of the whole Commonwealth, requires an absolute Obedience to the Command of every Superior Officer, and it is justly Death to disobey or dispute the most dangerous or unreasonable of them: but yet we see, that neither the Serjeant, that could command a Souldier to march up to the mouth of a Cannon, or stand in a Breach, where he is almost sure to perish, can command that Soldier to give him one penny of his Money; nor the General, that can condemn him to Death for deserting his Post, or for not obeying the most desperate orders, can yet with all his absolute Power of Life and Death, dispose of one Farthing of that Soldiers Estate, or seize one jot of his Goods; whom yet he can command any thing, and hang for the least Disobedience. Because such a blind Obedience is necessary to that end for which the Commander has his Power, viz. the preservation of the rest; but the disposing of his Goods has nothing to do with it." 115 Schmitt könnte dies Zitat als irrelevant abtun; es drücke nur Lockes zeitbedingten Sinn für Disziplin und Ordnung aus, nicht das Wesen des Liberalismus. Doch wäre das ein Irrtum. Das Wesen des Liberalismus ist die Beschränkung des Gebrauchs von Zwang auf die Verteidigung der Rechte der Individuen, die sich an der Idee ihrer gleichen Freiheit von Zwang orientieren. Sein Programm ist die Minimierung von Zwang, und Schmitt hat daher recht zu sagen: „Alles liberale Pathos wendet sich gegen Gewalt und Unfreiheit." 1 1 6 Aber der Liberalismus lehrt nicht, Zwang könne ohne Zwang minimiert werden. Er definiert vielmehr den Staat durch die Aufgabe, Zwang oder die Verletzung von Rechten durch Zwang oder die legitimen Gewalten des Staats zu minimieren. Die Minimierung von Zwang, die er fordert, ist eine Minimierung primären Zwangs durch sekundären Zwang. Daher ist für ihn auch die „absolute" Gewalt, die den Einsatz des Lebens zum Schutz von Rechten oder auch den Tod für ein Verbrechen fordert, nicht willkürlich oder illegitim. Er kann und muß sie vielmehr in aller Härte und

113 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 95. Die „civil society" bei Locke ist der Staat, nicht Hegels bürgerliche Gesellschaft, wenn Hegel Locke auch vorwarf, den Staat nur als bürgerliche Gesellschaft verstanden zu haben. 114 Ebd., §88. 115 Ebd., §139. 116 Schmitt, Der Begriff des Politischen, a.a.O., 70.

Schwierigkeiten, gleiche Freiheit zu bestimmen

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Verbindlichkeit fordern, weil er für jeden die gleiche Freiheit von Zwang oder seine Minimierung fordert. Politische Philosophie ist nicht Verteidigung des Liberalismus. Der Liberalismus ist eine Deutung der Gerechtigkeit; eine mögliche Antwort auf die Frage, zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen Zwang gebraucht werden darf. Aber seine Antwort ist eindeutig und widerspricht nicht nur nicht Schmitts berechtigter Kritik an der Ächtung des Kriegs und seinem Pochen darauf, daß die Politik Opfer verlangen kann, die nicht durch ökonomische, ästhetische und nicht einmal moralische Ziele zu rechtfertigen sind; sie liefert ihnen eine Rechtfertigung. Wenn Schmitt glaubte, diese Anliegen nicht auf eine universalistische Unterscheidung von gerecht und ungerecht, sondern auf eine partikularistische von Freund und Feind gründen zu müssen, schloß er sich nicht nur von diskutierbaren Verbindlichkeitsansprüchen aus; er war vor allem ein Opfer seines Ressentiments gegen den Liberalismus.

5. Alternativen zur politischen Philosophie? Die Schwierigkeiten, gleiche Freiheit zu bestimmen Die Idee der gleichen Freiheit ist heute bei den meisten Theoretikern anerkannt; in jedem Fall setzen sie alle Theoretiker voraus, die ich im folgenden erörtere. Worin sie auseinandergehen, ist die Grenzziehung zwischen den Spielräumen der Individuen, in denen sie gleichermaßen frei sind, über sich zu verfügen. Kant bestimmte das Recht in seiner bewundernswerten Definition als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"." 7 Er nahm an, daß es nur einen Weg gibt, „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit" zu vereinen. Wenn jeder nur über sich selbst und die Früchte seiner Arbeit verfügt, so nahm er an, wird jedem eine eindeutige Grenze seines Willkürspielraums gezogen. Was er dabei wie Locke unterschätzte, ist die Angewiesenheit der Menschen auf Naturgüter, die sie in der Welt vorfinden und ohne deren Existenz sich die menschliche Art erst gar nicht hätte entwickeln können. Niemand kann über sich selbst verfügen, ohne über solche Güter zu verfügen; jeder braucht frische Luft, trinkbares Wasser, ein Klima, das ihn weder erfrieren noch verdorren läßt, und in all diese Bedingungen muß er sich mit anderen teilen, teils weil er ohne sie nicht leben, teils weil er sie nicht vertreiben kann. Wir sahen schon, daß man an der Idee der gleichen Freiheit nur festhalten kann, wenn man die Regeln des legitimen Privat- und Gemeineigentums klärt. Dabei kommt man nicht weit, wenn man nur erklärt, die Naturgüter seien als Gemeineigentum zu genau gleichen Anteilen auf die einzelnen Menschen zu verteilen, das Erarbeitete dagegen sei den Produzenten zu überlassen. Denn es gibt kaum noch reine, unbearbeitete Naturgüter; die ursprünglichen Naturgüter wurden über viele Generationen hinweg von unterschiedlichen Kulturen in unterschiedlicher Weise bearbeitet, und anzugeben, welche Wertteile an ihnen dem des Naturguts und dem der hinzugefügten Arbeit entsprechen, ist eine kaum lösbare Aufgabe. Hinzu kommt das Problem zu begründen, warum die Nachfahren jener Generationen, die ein Land urbar 117 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, § B.

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machten, Privilegien in seiner Nutzung gegenüber den Nachkommen derer haben, die daran nicht beteiligt waren. Haben die Holländer in der Nutzung ihres Lands, das ihre Vorfahren der See entrissen haben, ein Vorrecht vor Leuten aus Mexiko oder Pressburg? Wenn wir die Frage bejahen, wofür einige moralische Intuitionen sprechen, wird es noch schwieriger, die Idee des Gemeineigentums der Naturgüter zur Bestimmung der gleichen Freiheit zu nutzen. Auch wenn man anerkennt, daß zur gleichen Freiheit die Gleichheit im Zugang zu den Naturressourcen gehört, weiß man noch nicht, wie man diesen gleichen Zugang bestimmen muß. Aber nicht nur unsere Angewiesenheit auf Naturgüter läßt mehr als eine Lösung für die Bestimmung der Bedingungen erwarten, unter denen ein gleich großer Freiheitsspielraum für jeden gefunden werden kann. Auch wenn wir über uns selbst verfügen könnten, ohne auf Naturgüter angewiesen zu sein, bliebe unsere individuelle Existenz zu sehr von der der anderen abhängig, um nicht jede Bestimmung des Selbst, über das jeder selbst soll verfügen können, anfechtbar zu machen. Wir verdanken unsere Eigenschaften und Fähigkeiten, über die jeder nach der Idee der gleichen Freiheit selbst muß verfügen können, nicht nur der Natur und nicht nur unseren je eigenen Anstrengungen, sondern zu einem großen und leider schwer bestimmbaren und vielleicht von Individuum zu Individuum unterschiedlichen Teil auch anderen: den Eltern, Verwandten, Freunden; den Kindergärten und Schulen, den Betrieben und Firmen, in denen wir Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben, und mit ihnen Institutionen wie dem Staat, einer Kirche oder einem Unternehmen. Und selbst wenn wir unsere Eigenschaften nur uns selbst verdankten, könnten wir von ihnen doch ohne soziale Rahmenbedingungen wie die der Rechtssicherheit und eines gewissen Wohlstands, der unsere Tätigkeiten auf Interesse stoßen läßt, keinen Gebrauch machen. Wie aber kann der Anteil der anderen an unseren Fähigkeiten und dem Gebrauch, den wir von ihnen machen, bestimmt werden? Auch hier müssen wir mit verschiedenen Möglichkeiten rechnen, den Anteil zu bestimmen. Die Schwierigkeiten, die gleiche Freiheit zu bestimmen, sind so groß, daß zwei Alternativen zu ihrer Bestimmung naheliegen, die zugleich Alternativen zur politischen Philosophie sind: der Historismus und der Prozeduralismus. Wir müssen sie etwas näher betrachten, um zu erkennen, daß sie die politische Philosophie nicht ersetzen können. Historismus Der Historismus sieht die soziale Entwicklung durch Faktoren determiniert, auf welche die Menschen durch ihre bewußten Entscheidungen höchstens einen geringen Einfluß haben. Die Ideen der politischen Philosophie sind im besten Fall der Ausdruck tieferer sozialer Kräfte. Folgt man solchen Ideen, so kann man die Wirkung der tiefen sozialen Kräfte beschleunigen. Diese lassen sich aber nicht aufhalten, wenn man entgegengesetzten Ideen folgt. Statt moralische oder Gerechtigkeitsintuitionen zu systematisieren und die aus ihnen gewonnenen Theorien der politischen Praxis zur Befolgung zu empfehlen, sollte daher der zugleich politisch und intellektuell Interessierte die tiefen sozialen Kräfte der Gegenwart erforschen und sie soweit wie möglich nutzen, eine bessere Zukunft herbeizuführen. Der entschiedenste Vertreter eines solchen Historismus war Karl Marx. Marx hatte gute Gründe, Historist zu sein. Die westeuropäischen Gesellschaften waren zu seiner Zeit von ökonomischen Verhältnissen bestimmt, die das waren, was soziale Verhältnisse nach der schottischen Moralphilosophie von Adam Ferguson und Adam Smith allgemein sind: das ungewoll-

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te Ergebnis gewollter Handlungen. Schon Smith hatte in seinem Werk The Wealth of Nations gezeigt, wie die mächtige englische Aristokratie ihre Macht an das Bürgertum verlor: „For a pair of diamond buckles perhaps... they exchanged ... the price of the maintenance of a thousand men for a year, and with it the whole weight and authority which it could give them... for the gratification of the most childish, the meanest, and the most sordid of all vanities, they gradually bartered their whole power and authority." „... what all the violence of the feudal institutions could never have effected, the silent and insensible operations of foreign commerce and manufactures gradually brought about." 118 Mit demselben Blick für die „silent and insensible operations" der Marktgesetze erkannte Marx als ihre gegenwärtige Folge die Macht der Kapitalisten und das Elend der Industriearbeiter und der arbeitslosen Landbevölkerung und als ihre künftige die Konzentration der gesamten Produktion in der Hand derer, die eine mörderische Konkurrenz überstehen würden. In der faktischen Vergesellschaftung der Produktion im Interesse einiger weniger sah Marx die Gelegenheit, die Führung der „wenigen Usurpatoren" durch eine Führung im Interesse der „Volksmassen" zu ersetzen und die Früchte der Arbeitsproduktivität, die der Kapitalismus ins Unermeßliche gesteigert hatte, alle genießen zu lassen." 9 Marx hatte nicht nur Recht darin, in einer politischen Veränderung, dem Übergang der politischen Macht von der Aristokratie zur Bourgeoisie, mit Adam Smith die Folge ökonomischer Veränderungen zu sehen. Er konnte auch die Unaufhaltsamkeit der ökonomischen Tendenz zur Konzentration der Produktion in der Hand von immer weniger „Kapitalmagnaten" und die Nutzbarkeit der Tendenz für die Volksmassen behaupten. Sein Historismus verurteilte ihn nicht zur Anpassung an die unterstellten historischen Kräfte; er erlaubte ihm vielmehr, an die Verwirklichung seines politischen Ideals zu glauben. Dies Ideal hielt er für historisch determiniert und seine Begründung oder Explikation in einer politischen Philosophie für überflüssig. Wir haben es heute leicht zu erkennen, daß Marx' Desinteresse an Explikation und Begründung seines Ideals ein schwerer Fehler war. Die Unklarheit über das Ziel, dem eine kommunistische Revolution dienen sollte, erleichterte ihre Pervertierung in Rußland und China. Auch wenn der Historismus akzeptabel wäre, würde er daher die politische Philosophie nicht überflüssig machen. Aber daß er nicht akzeptabel ist, kann gerade die Erfolgsgeschichte der Marxschen Schriften zeigen. Adam Smith kam zu spät, um den Machtverlust der englischen Aristokratie zu verhindern; er beschrieb nur, wie sie ihre Macht verlor. Karl Marx kam nicht zu spät, um der Bourgeoisie die Gefahr zu zeigen, dem Schicksal der Aristokratie zu folgen. Er belehrte sie wider Willen über Möglichkeiten, ihre Macht zu behalten. Smiths Aufmerksamkeit auf die „silent and insensible operations of foreign commerce and manufactures" und Marx' Hervorhebung der Wirksamkeit der Interessen des Kapitals auf den verschiedensten Gebieten des menschlichen Lebens zwingt den politischen Philosophen zur Beachtung der tiefen sozialen Kräfte der eigenen Zeit und verurteilt jede anwendungsorientierte normative Theorie zu Naivität, die ihre Durchsetzung ohne Rücksicht auf solche Tendenzen fordert. Konkreter muß jede politische Philosophie naiv, wenn nicht apologetisch

118 Adam Smith, The Wealth of Nations, ed. by Andrew Skinner, Harmondsworth 1974, Bk 3, iv 512. 119 Karl Marx, Das Kapital, B d . l , Kap. 24, 7; in: Marx/Engels, Werke, Bd.23, Berlin 1971,791.Vgl. auch ebd., Kap.13, 9, 510-12.

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werden, die nicht ihre Durchsetzbarkeit gegen das reflektiert, was Max Weber „die schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens", genannt hat, „den Kapitalismus". 120 Aber das macht sie nicht historistisch. Wir müssen sehen, daß der Historismus widersprüchlich wird, sobald man ihn auf die Gegenwart bezieht. Denn wenn ein historistischer Autor tiefe soziale Kräfte entdeckt, die die Verhältnisse der Gegenwart bestimmen, so gibt die Entdeckung Gelegenheit, gegen diese Kräfte zu wirken. Die Entdeckung solcher Tendenzen hebt sie aus der Tiefe an die Oberfläche und verwandelt sie in ordinäre Kräfte, die in das Spiel der Politik einbezogen werden können. Entsprechen ihnen politische Ideale, so müssen diese analysiert und auf ihre Zustimmungswürdigkeit untersucht werden. Behindern sie die Verwirklichung politischer Ideale, die als zustimmungswürdig erkannt worden sind, so muß und kann man ihnen entgegenwirken. Die Erforschung tiefer sozialer Kräfte, die historistisch eingestellte Autoren an die Stelle der politischen Philosophie setzen möchten, macht diese tatsächlich nicht überflüssig, sie stellt ihr vielmehr die A u f g a b e zu prüfen, ob ihre Verwirklichung gerecht ist und wie, wenn sie es nicht ist, sie am besten verhindert werden können. Der politische Philosoph muß den Historismus verwerfen, aber das beachten, was Historisten entdeckt haben. Der Historismus ist aus der Mode gekommen, aber verdient Beachtung. Daher verdient auch Habermas' Kritik an dem Werk Beachtung, das die heutige politische Philosophie erst in Gang setzte, an Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Es sei „in vacuo" entwickelt worden und knüpfe „so ungeniert" an die naturrechtlichen „Theoreme des 17. und 18. Jahrhunderts" an, „als brauche man von der sozialwissenschaftlichen Entzauberung des Rechts keine Notiz zu nehmen". 1 2 1 Man braucht kein Historist zu sein, um zu fordern, eine politische Theorie müsse die historischen Umstände beachten, in denen ihre Normen verwirklicht werden sollen. Das aber scheint Rawls nicht zu tun, weil er das Recht als das versteht, was es nach den natur- und, wie Habermas hier zu ergänzen ist, den vernunftrechtlichen Theorien des 17. und 18. Jahrhundert ist: als System solcher Normen, die die gleiche Freiheit aller zu verwirklichen fordern. Er übersieht nach Habermas, daß die Soziologen, vor allem M a x Weber, das Recht wie andere verehrte Institutionen als Mittel der Herrschaft „entzaubert" haben. Gegen diese vermeintliche Naivität empfiehlt Habermas der politischen Theorie eine „Doppelperspektive", die das Deskriptive der politischen Ökonomie und der „klassischen Gesellschaftstheorien von Durkheim und Max Weber bis Parsons" 122 mit dem Normativen der Naturrechtstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts vereinen soll. Den Versuch zu einer solchen Verbindung sieht er in R a w l s ' j ü n g e r e m „Interesse an den Bedingungen der politischen Akzeptanz" - die eine deskriptive Theorie verlangen - „seiner zunächst in vacuo entwickelten Theorie der Gerechtigkeit", die normativ ist. Dasselbe „alte Problem, wie das Vernunftprojekt einer gerechten Gesellschaft, das abstrakt einer einsichtslosen Realität gegenübersteht, verwirklicht werden kann", habe „schon Hegel dazu motiviert..., A. Smith und D. Ricardo zu studieren, um sich der Verfassung der modernen bürgerlichen Gesellschaft als eines Moments der Wirklichkeit der sittlichen Idee zu vergewissern". 123 Die politische Philosophie darf daher nach Habermas nicht nur normativ sein; sie muß vielmehr auch eine deskriptive Theorie der Bedingungen der Verwirklichung ihrer Normen enthalten. 120 121 122 123

Max Weber, Vorbemerkung zu: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920,4. Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 79. Ebd., 89f. Ebd., 79.

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Habermas hat recht, auf der Kenntnis der Anwendungsbedingungen der Normen zu bestehen, die eine normative politische Theorie vertritt, aber seine Kritik ist aus mehreren Gründen irreführend. Erstens ist Habermas' Begriff einer Doppelperspektive mißverständlich. Sie scheint auf eine Theorie zu zielen, die zugleich normativ und deskriptiv ist. Aber eine Theorie ist entweder deskriptiv oder normativ, ein Drittes gibt es nicht. Eine deskriptive Theorie enthält nur deskriptive Aussagen; eine normative Theorie dagegen enthält außer normativen immer auch deskriptive Aussagen. Denn sie setzt immer ex- oder implizit bestimmte Tatsachen voraus; in diesen Tatsachenannahmen kann sie mehr oder weniger realistisch, auf Sozialwissenschaften gestützt oder tatsachengerecht sein, aber das ändert nichts daran, daß sie etwas darüber behauptet, was sein soll, nicht darüber, was ist. In der Tat kann man Rawls vorwerfen, ökonomische und andere historische Tatsachen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Verlangt Habermas nur ihre Berücksichtigung, ist ihm zuzustimmen. Aber diese Zustimmung, wie Habermas zweifellos selbst weiß, impliziert keine Anerkennung der Möglichkeit eines dritten Wegs zwischen normativer und deskriptiver Theorie, auch nicht der Möglichkeit, daß die Kenntnis von Verhältnissen in irgend einem Sinn ihre Normierung ableitbar macht; sie impliziert nur, daß man eine Gesellschaft gut kennen muß, um ihr etwas vorschreiben zu können. Dazu ist keine „Doppelperspektive" nötig. Zweitens kehrt in Rawls' späteren Aufsätzen nicht das alte Problem wieder, wie das Vernunftprojekt einer gerechten Gesellschaft verwirklicht werden kann, das abstrakt einer einsichtslosen Realität gegenübersteht. Rawls nimmt nicht an, daß die von ihm vertretenen Grundsätze der Gerechtigkeit abstrakt einer einsichtslosen Realität gegenüberstehen; er beansprucht vielmehr, sie in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Intuitionen zu entwickeln, nach denen jede legitime Gesellschaft zugleich den Idealen der Freiheit und der Gleichheit entsprechen muß. Das alte Problem, das in Rawls' späteren Aufsätzen wiederkehrt, ist die Frage, ob man zur Begründung der Prinzipien auf Metaphysik verzichten kann. Daß Habermas sich hier irrt, verweist auf ein allgemeineres Mißverständnis. Rawls setzt in seiner politischen Philosophie voraus, daß bestimmte politische Normen heute zumindest in den westlichen Gesellschaften auf allgemeine Anerkennung stoßen. Deshalb sieht er die Aufgabe des politischen Philosophen darin, die gegebene, wenn auch vage und leicht beirrbare Übereinstimmung in den Urteilen über das, was gerecht und ungerecht ist, so zu explizieren und zu systematisieren, daß eine widerspruchsfreie allgemein anerkannte und in der politischen Praxis orientierende Theorie daraus wird. Da Rawls das getan hat und seine Theorie trotzdem in der politischen Praxis nicht allgemeine Anerkennung gefunden hat, steht er vor der Alternative, entweder seine Explikation für unzureichend zu halten oder politische Hindernisse zu vermuten, die ihrer Befolgung in der Politik im Weg stehen. Das erste nehmen naheliegenderweise seine Kritiker an; das zweite ebenso naheliegend er selbst. Selbst dann aber, wenn ein politischer Philosoph heute vermutet, die Nichtanerkennung seiner Theorie gründe in der sozialen Realität, kann er realistischerweise nicht annehmen, diese stehe seiner Theorie „einsichtslos" gegenüber. Er kann nur annehmen, die schon vorhandene Einsicht lasse sich wegen politischer Widerstände nicht in ihre praktische Befolgung ummünzen. Habermas setzt normative politische Theorie und deskriptive soziologische Theorie in ein falsches Verhältnis. Sein Interesse gilt den Bedingungen, welche die Verwirklichung der Normen fördern; zu beachten aber sind die Bedingungen, die sie behindern. Denn die Normen der heutigen politischen Theorien sind grundsätzlich, gerade in ihrer Abstraktheit, bei den meisten Zeitgenossen, anerkannt. Die Idee der gleichen Freiheit erfreut sich weitester Anerkennung. Was ihre Verwirklichung behindert, einmal vorausgesetzt, sie wird angemessen

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ausbuchstabiert, sind Tendenzen, die gegen die praktische Befolgung der Idee wirken. Solche Tendenzen aber könnten solche sein, die Historisten wie Marx als Kräfte beschrieben, die hinter dem Rücken der Menschen und ohne ihr Bewußtsein und Wollen wirken. Habermas hat zwar recht, in freier Abwandlung Max Webers zu sagen: „Interessen können über generalisierte Verhaltenserwartungen auf Dauer nur befriedigt werden, wenn diese sich mit Ideen verbinden, die normative Geltungsansprüche rechtfertigen; Ideen können sich wiederum empirisch nur durchsetzen, wenn sie sich mit Interessen verbünden, die ihnen Schubkraft verleihen." 124 Aber die Idee der gleichen Freiheit ist schon mit einem mächtigen Interesse verbündet, das in den meisten heutigen Gesellschaften vorhanden und bewußt ist: mit dem Interesse der Individuen, selbst über ihr Leben zu entscheiden, nach ihren eigenen Vorstellungen ihr Leben einzurichten. Dies Interesse ist zweifellos ein Produkt historischer Entwicklungen; es bestände nicht ohne die modernen Marktgesellschaften, und es kann durch weitere historische Entwicklungen geschwächt und vernichtet werden. Daß es dies Interesse gibt, bedarf keines empirischen Nachweises. Empirisch nachgewiesen werden müßte vielmehr, warum es nicht die Wirksamkeit hat, die man erwarten könnte. Ein Grund dafür könnte gerade ein Mangel nicht der deskriptiven, sondern der normativen Theorie sein: daß diese nicht überzeugend geklärt hat, wie die gleiche Freiheit konkret zu verstehen und zu verwirklichen ist. Solange diese Klärung nicht erreicht ist, werden sich keine weiteren wirksamen Interessen mit der Idee verbünden. Die geforderte Klärung aber ist eine rein normative Aufgabe, bei der man nicht danach schielen darf, welche Interessen den Ideen genug Schubkraft zu ihrer Durchsetzung geben könnten. Andernfalls macht sich, wie Weber formulierte, der Theoretiker zur „Beifallssalve der gerade aufsteigenden Mächte". 125 Wenn schließlich eine normative Theorie die Idee der gleichen Freiheit von ihrer gröbsten Abstraktheit befreit hat, ist ein Blick auf die Bedingungen angebracht, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen. Das will ich am Ende des Buchs in einer Diskussion von Marx', Webers und Heideggers Konzeptionen der historischen Rolle handlungsleitender Ideen versuchen. Prozeduralismus Als zweite Alternative zu einer politischen Philosophie, die in der Bestimmung der gleichen Freiheit auf so viele Schwierigkeiten stößt, daß man an ihrer Durchführung verzweifeln kann, bietet sich die Angabe von Regeln an, nach denen die Betroffenen selbst festlegen, was für sie gleiche Freiheit oder gerecht ist. Die Auffassung, der normative Philosoph könne und solle sich im wesentlichen auf die Angabe von Verfahrensregeln beschränken, nach denen die Betroffenen selbst entscheiden, was unter ihnen normativ richtig ist, nenne ich Prozeduralismus.

124 Ebd., 93f. Vgl. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Einleitung, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, B d . l , a.a.O., 252: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die 'Weltbilder', welche durch 'Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." 125 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Ges. politische Schriften, Tübingen 1958,318.

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Der Prozeduralismus empfiehlt sich durch seine demokratische Gesinnung. Der Philosoph, der den Leuten sagt, was sie tun sollen, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, Piatons Philosophenherrschaft zu wollen (zumal wenn er nicht nur Popper, sondern auch Piaton unter seine Ahnen zählt). Der Prozeduralismus ist ein eleganter Kompromiß. Die Leute sollen selbst entscheiden, wie sie leben wollen, aber der Philosoph wird nicht ganz überflüssig; er schlägt ihnen die Geschäftsordnung vor, nach der sie entscheiden. Kein Wunder, daß er heute beliebt ist. Rawls und Habermas folgen ihm auf weiten Strecken. Aber Rawls gebraucht ihn nur als theoretisches Mittel, selbst inhaltliche Bestimmungen der Gerechtigkeit, seine Gerechtigkeitsgrundsätze, festzulegen; ich kann ihn daher bei der Erörterung der inhaltlichen Bestimmungen der gleichen Freiheit behandeln. Habermas hält dagegen daran fest: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten." So formulierte er zuletzt sein „Diskursprinzip". 126 -Die Betroffenen müssen demnach selbst an den Verfahren teilnehmen, welche Normen etablieren, aber die Verfahrensregeln begründet der Philosoph. Allerdings hat (vernünftigerweise) Habermas den strengen Prozeduralismus mit seiner Rechtstheorie aufgegeben, da diese neben das Diskursprinzip die Rechtsform stellt. Nur zusammen und „gleichurspünglich" konstituieren Rechtsform und Diskursprinzip „das Demokratieprinzip". 127 Habermas' Prozeduralismus ist eine schlechte Ausflucht vor der Aufgabe, die gleiche Freiheit inhaltlich zu bestimmen. Denn die normlegitimierenden rationalen Diskurse, denen die Betroffenen „als Teilnehmer" sollen zustimmen können, gibt es nicht. Sie müssen nach Habermas' Definition zwei Eigenschaften zugleich haben, deren Verbindung nicht garantiert werden kann. Einerseits sollen an ihnen alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen, anderseits sollen sie rational sein. Man kann glücklicherweise nicht ausschließen, daß alle Teilnehmer an einem Diskurs rational sind, aber man kann es unglücklicherweise nicht garantieren. Habermas' Definition des Diskursprinzips unterstellt eine Unmöglichkeit. Habermas versucht in seinem Diskursprinzip die Rechtfertigung von Normen zwei notwendigen Bedingungen zu unterwerfen, die nur kontingent, aber nicht notwendig verbunden sein können: erstens der Bedingung der Rationalität von Diskursen, die Argumente für und wider die Richtigkeit von Normen und die Wahrheit deskriptiver Theorien anführen und schließlich, wenn es entsprechende Argumente gibt, bestimmte Normen oder Theorien als richtig oder wahr erweisen; zweitens der Bedingung der Demokratie von Abstimmungen, die bestimmte Normen legitimieren. Diskurse liefern eine inhaltliche, Abstimmungen eine formale Rechtfertigung. Das Rationale der einen und das Demokratische der anderen garantieren vollkommene Rechtfertigungen auf ihren jeweiligen Feldern. Sollen sie gemeinsam arbeiten, rechtfertigen sie nicht besser, sondern überhaupt nicht mehr. Rationale Diskurse und demokratische Abstimmungen sind schätzenswerte Errungenschaften der menschlichen Gattung, aber sie lassen sich nicht kreuzen. Eine Abstimmung ist demokratisch immer und nur dann, wenn alle Betroffenen, die teilnehmen wollen, an ihr teilnehmen. Dies ist das Maß ihrer Demokratie, daher kann nicht darauf gesehen werden, ob die Betroffenen rational abstimmen. Ein Diskurs ist rational immer und nur dann, wenn die ausgetauschten Argumente rational sind; daher kann nicht darauf gesehen werden, ob alle Abstimmungswilligen an ihr teilnehmen. Ob und wieweit eine Abstimmung demokratisch ist, kann eindeutig entschieden werden; man braucht nur die abstimmungswilligen Betroffenen 126 Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 138. Meine Hervorhebung. 127 Ebd., 155.

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zu kennen und abzuzählen. Ob und wieweit ein Diskurs rational ist, kann nicht eindeutig und nicht endgültig entschieden werden. Was dem einen rational scheint, kann dem anderen irrational vorkommen. Selbst wenn alle Diskursteilnehmer übereinstimmen, ihr Diskurs sei rational, kann ein neues Argument alle oder einige davon überzeugen, er sei irrational gewesen. Habermas versucht mit seiner Kopplung der Rationalität an die Demokratie im Diskursprinzip dem Problem zu entgehen, daß ein Allgemeinverbindlichkeitsanspruch zwar nur durch Gründe gerechtfertigt werden kann, das Urteil über Gründe aber Kenntnisse verlangt, die gewöhnlich nur wenige unter den vom Anspruch Betroffenen haben. Dies Problem mußte den öffentlichen Anspruch der Wissenschaften auf Wahrheit in den der Akzeptabilität herunterschrauben und läßt auch dem öffentlichen Geltungsanspruch erzwingbarer Normen keine andere Wahl. Aus ihrem Richtigkeitsanspruch kann in der Öffentlichkeit nur der Anspruch werden, für die Öffentlichkeit akzeptabel, und das heißt: von der Mehrheit gebilligt zu sein. Nicht erzwingbare Normen dagegen brauchen keine Herabstufung ihres Geltungsanspruchs auf den der Akzeptabililität hinzunehmen, weil sie keine öffentliche Zustimmung verlangen. Habermas glaubt dagegen, der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit rationaler Diskurse, die sie als Mittel der öffentlichen Anerkennung von Normen disqualifiziert, durch ihre Kreuzung mit dem formalen Normenlegitimationsmittel der demokratischen Abstimmung entgehen zu können. Aber demokratische Abstimmungen legitimieren nicht, weil sie sich auf rationale Gründe stützen, sondern weil sie demokratisch sind. Deshalb kann die Demokratiebedingung, mit der Habermas aus dem rationalen Diskurs eine öffentliche Begründungsinstanz machen will, dem Diskurs nur seine Rationalität nehmen, und die Rationalitätsbedingung, mit der er die demokratische Abstimmung von ihrer Willkür befreien will, dieser nur den demokratischen Charakter rauben. Das Ergebnis seiner Kreuzung ist eine Chimäre. Diskurse dauern ewig, Abstimmungen stehen unter Zeitdruck. Überzeitliche und zeitliche Wesen zeugen Monster. Der mythische Status des Habermasschen Diskurses ist schon am Modalverb „könnten" erkennbar, mit dem Habermas die Teilnehmerzustimmung qualifiziert. Dies Wörtchen ist der Pferdefuß, der unter dem demokratischen Mantel der Bedingung hervorlugt, alle Betroffenen müßten selbst als Teilnehmer am rationalen Diskurs teilnehmen und dürften sich nicht etwa von einem Philosophen vertreten lassen. Wenn Rawls beansprucht, für die Betroffenen argumentieren zu können, erinnert ihn Habermas höflich an eine „bescheidenere" „prozeduralistisch angelegte Moral- und Rechtstheorie", die „dem Prozeß einer vernünftigen Meinungsund Willensbildung mehr zutraut". 128 Tatsächlich behält er sich mit dem „könnten" vor zu entscheiden, ob die Betroffenen einer Norm zustimmen. Wenn alle und nur die Normen gültig sind, denen alle Betroffenen zustimmen könnten, dann sind genau die Normen gültig, denen nicht die Betroffenen zustimmen, sondern von denen der Theoretiker annimmt, daß die Betroffenen ihnen zustimmen könnten. Denn könnten die Betroffenen selbst entscheiden, ob sie den Normen zustimmen könnten, so könnte Habermas auf das Modalverb verzichten. Der Pferdefuß des Modalverbs verrät nicht Habermas' undemokratische Gesinnung, sondern das Ungenügen seiner Theorie des rationalen Diskurses. Hätte er sich darauf beschränkt, was getan zu haben sein historisches Verdienst ist, für zugleich demokratische und aufklärende Institutionen zu argumentieren, so gäbe es keinen Grund zur Kritik. Die Idee eines rationalen Diskurses, der die legitimierende Rolle demokratischer Abstimmungen übernehmen soll, kommt jedoch nicht ohne jenes „könnten" aus. Denn unmodalisiert würde das Diskursprinzip 128 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., 93.

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alle Normen schon dann für gültig erklären, wenn alle Betroffenen zwar als Teilnehmer für rational erklärter Diskurse, aber doch faktisch zustimmen. Faktisch aber nehmen weder alle Betroffenen an rationalen Diskursen teil, noch würden ihre Übereinkünfte Habermas' Billigung erhalten. Wenn das Diskursprinzip nicht völlig utopisch sein soll, muß es modalisiert werden. Wird es aber modalisiert, so wird der Prozeduralismus zur Fassade. Habermas hat sich bemüht, dem Prozeduralismus dennoch treu zu bleiben. Das brachte ihn in eine Lage, über die er nicht glücklich gewesen sein kann. Vielleicht um zu demonstrieren, daß der Theoretiker nicht nach seinen eigenen Vorstellungen entscheiden muß, ob die Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen einer Norm zustimmen könnten, erklärte er auf die Frage, ob die Engländer nach der Eroberung Indiens nicht unrecht taten, die Witwenverbrennung gegen den Willen der Inder zu verbieten: die Engländer hätten „sich des Verbots der Witwenverbrennung enthalten sollen", wenn diese nur von einem zwanglosen Konsens getragen wurde. 129 Habermas war also bereit, das Muster einer barbarischen menschenverachtenden Institution für legitim zu halten, wenn man sie nur als Ergebnis eines Diskurses betrachten kann, der nach den Vorstellungen der Betroffenen rational ist. Das ist zwar konsequenter Prozeduralismus, aber zugleich seine demonstratio ad absurdum.™ Durch seine Rechtstheorie hat sich Habermas von diesem radikalen Prozeduralismus getrennt. Denn in ihr legt er sich darauf fest, daß moderne Gesellschaften nicht legitim sein können ohne ein Rechtssystem, das jedem bestimmte Grundrechte „auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten" 1 3 1 , auf Staatsangehörigkeit und auf Rechtssicherheit garantiert. Die Bedingungen dieser Rechte legt der Theoretiker fest, sie stehen nicht dem rationalen Diskurs der Bürger zur Disposition: „Der Theoretiker sagt den Bürgern, welche Rechte sie, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen, gegenseitig zuerkennen müßten."132 Damit hat Habermas die entscheidenden zwei Schritte zu einer politischen Philosophie getan. Er erkennt als erstes Grundrecht das Ideal der liberalen Tradition an, das Recht „auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten", das genau der Lockeschen Idee der gleichen Freiheit und Kants Inbegriff der Bedingungen entspricht, unter denen die Willkürfreiheit jedes Individuums mit der jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetze der 129 Habermas, Life-forms, Morality and the Task of the Philosopher, in: Autonomy and Solidarity. Interviews, ed. by Peter Dews, London 1986, 191-216, 209. 130 Dietmar v. d. Pfordten, Rechtsethik, in: J.Nida-Rümelin (Hg), Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, 200-89, hält prozedurale Gerechtigkeitstheorien nicht für gleichrangig mit materialen, weil „die Wahl eines Verfahrens ... immer von einer materialen Entscheidung abhängig" sei und ein Verfahren zwar auch zu materialen Entscheidungen führen könne, aber bisher nicht gezeigt worden sei, wie diese „durch das bloße Verfahren als solches gerechtfertigt sein sollen" (289f)· Um so mehr verwundert es nach diesem guten Argument, daß er im selben lesenswerten Aufsatz auch behauptet, was Habermas nach seiner früheren Argumentation auch behaupten müßte: „Eine Gesellschaft mag z.B. ihren weiblichen Mitgliedern - mit deren mehrheitlicher Zustimmung - die Verpflichtung zum Tragen eines Schleiers auferlegen", wobei er eine „staatliche Gemeinschaft" meint und „schwerwiegende Verstümmelungen (wie etwa die Frauenbeschneidung)" nicht dulden will (261). Der Schleierzwang ist zwar weniger brutal als der Beschneidungszwang, aber ebenso illegitim, weil er ebenso unvereinbar ist mit dem Recht auf Verfügung über den eigenen Körper, die niemandes Rechte verletzt. 131 Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 155. 132 Ebd., 160.

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Freiheit vereinbar ist. Und er erkennt an, daß die Beschaffenheit dieses Grundrechts vom Theoretiker analysiert und soweit festgelegt werden muß, wie „nötig ist, wenn die Bürger das Diskursprinzip in eigener Regie sollen anwenden können.... Als Rechts Subjekten steht ihnen ... die Wahl des Mediums, in dem sie ihre Autonomie verwirklichen können, nicht mehr frei... Die Idee der Selbstgesetzgebung muß sich im Medium des Rechts selbst Geltung verschaffen." 133 Nach diesem Abschied vom Prozeduralismus kann man hoffen, daß Habermas oder einer seiner Schüler als Rechtsbestimmungen festlegen wird, wie man jedem die gleiche größtmögliche Freiheit sichern kann. Dann ist die kritische endgültig zur politischen Theorie geworden.

133 Ebd.

Zweiter Teil: Fünf Deutungen der gleichen Freiheit

Die Bestimmung der gleichen Freiheit in einer Form, die die Angewiesenheit aller menschlichen Betätigung auf natürliche Ressourcen berücksichtigt und die Regeln ihres Gebrauchs selbst wieder nach der Idee der gleichen Freiheit bestimmt, ist die wichtigste Aufgabe der heutigen politischen Philosophie. Die Philosophen, die ich im folgenden erörtere, sind ihr auf Wegen nachgegangen, die Beachtung verdienen, auch wenn sie sich alle als unzulänglich erweisen. Man kann sich kaum ein Urteil darüber bilden, wie die gleiche Freiheit konkreter bestimmt werden muß, wenn man nicht einige der zeitgenössischen Philosophen kennt, die diese Bestimmung versucht haben. Es müssen gewiß nicht gerade die fünf sein, die ich ausgewählt habe, aber diese sind doch repräsentativ und lehrreich und werden uns helfen, im letzten Teil die Bestimmung der gleichen Freiheit selbst wieder aufzunehmen. Rawls, der zeitgenössischen politischen Philosophie den Boden gelegt hat, und Nozick, Rawls' schärfster Kritiker, sind als Bezugspunkte der Diskussion unentbehrlich und müssen daher vorgestellt werden, auch wenn sie in Deutschland nicht unbekannt sind. Steiner, weniger bekannt, verdient eine Diskussion, weil er in der Bestimmung der gleichen Freiheit von denselben normativen Prämissen wie Nozick ausgeht und zu entgegengesetzten Ergebnissen kommt. Das zeigt nicht, daß die Prämissen unbrauchbar sind, sondern daß ihr politischer Charakter wesentlich bestimmt wird von der empirischen Prämisse, in der Steiner von Nozick abweicht, daß nämlich das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen von erheblichem ökonomischem Wert ist. Dworkin, in den Vereinigten Staaten kaum weniger bekannt als Rawls, will wie Rawls und gegen Nozick die sozialen Rechte rechtfertigen, aber zugleich wie Nozick und stärker als Rawls den Markt als Instrument der Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit verstanden wissen. Ein solches Programm der Versöhnung von Markt und Gleichheit, von Nozick und Rawls, dem auch in seiner Weise Steiner folgt, verdient Beachtung. Auch van Parijs nimmt Nozicks Rawlskritik ernst. Seine Originalität besteht in der ausführlichen Begründung eines konkreten politischen Programms: des jedem, ob arm oder reich, ausgezahlten Grundeinkommens oder Bürgergelds. Durch die Verteidigung dieses Programms gibt er die konkreteste Antwort auf die Frage, worin die gleiche Freiheit eines jeden besteht.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

1. Rawls' Fairneßgerechtigkeit Rawls' gleiche Freiheit Rawls bestimmt die gleiche Freiheit durch zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, in deren Erläuterung und versuchter Begründung seine Theorie der Gerechtigkeit besteht. Der erste Grundsatz spricht jedem „ein gleiches Recht auf die ausgedehnteste Grundfreiheit" zu, „die mit einer ähnlichen Freiheit für andere verträglich ist"; der zweite legitimiert „soziale und ökonomische Ungleichheiten", wenn sie zu jedermanns „Vorteil" sind und jedem den Zugang zu Stellen und Ämtern erlauben.' 3 4 Der erste Grundsatz fügt den traditionellen liberalen Aussagen zur gleichen Freiheit nichts hinzu; er stimmt mit Kants Definition des Rechts überein. Der zweite trifft dagegen in der bedingten Legitimierung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten, dem sogenannten „Differenz"- oder „Unterschiedsprinzip", eine neue Bestimmung der gleichen Freiheit, auf die sich die Diskussion zu Recht konzentriert hat. Das Differenzprinzip kann von rechts und von links kritisiert werden und ist so kritisiert worden. Es bestätigt und verwirft zugleich sozialistische Vorstellungen. Es verwirft sie, weil es Ungleichheiten zuläßt, welche die Anhänger einer radikaleren Gleichheit nicht anerkennen; es bestätigt sie, weil es Ungleichheiten unter eine Bedingung stellt, die die politische Rechte für zu hart hält: die Vorteile der Bessergestellten müssen den Schlechtergestellten mehr von den sogenannten Primär- oder Grundgütern geben, als sie im Zustand vollkommener sozialer Gleichheit hätten. Rawls orientiert sich an einem ökonomischen Hebel, den sozialistische Staaten ebenso betätigten wie kapitalistische. Höhere Löhne und andere Privilegien für besonders produktive Arbeiter oder solche, die zur Produktion überdurchschnittlich beizutragen behaupten können, sollen zu einem größeren Gesamtprodukt stimulieren als gleiche Löhne für alle. Aus dem größeren Sozialprodukt kann dann auch die niedrigste Lohnklasse einen größeren Lohnkuchen herausgeschnitten bekommen als aus dem kleineren, der bei gleichen Löhnen gebacken würde. Lohn- und andere Privilegien sind nach diesem Kalkül dann gerecht, wenn das durch sie geschaffene Sozialprodukt so verteilt wird, daß jeder am Zugewinn beteiligt wird, den man sich von den Privilegierungen einiger erhofft. Die sozialistischen Staaten stützten sich auf diese Vorstellung, als sie Stachanov und anderen „Helden der Arbeit" Prämien zahlten und ihren Funktionären Datschen, Intershops und Auslandsreisen gönnten. Zweifellos darf man aus der Korrumpiertheit dieses realen Systems der „materiellen Anreize" nicht auf die prinzipielle Ungerechtigkeit des Ideals schließen, dem Rawls folgt. Es belegt aber die Naivität Rawls' und vieler seiner Kommentatoren, daß sie nicht gesehen haben, daß das Differenzprinzip jahrzehntelang in vielen sozialistischen Staaten propagiert, praktiziert und, wenn man es an sich für einen Gerechtigkeitsgmndsatz hält, dann auch pervertiert wurde, und sie es nicht für nötig halten zu zeigen, daß seine Perversion ein unglücklicher Zufall der Geschichte und nicht der Beleg seiner inneren Ungerechtigkeit war. Was die historische Wirklichkeit in jedem Fall anzeigt, ist die ungeheure Dehnbarkeit des Differenzprinzips. Wenn Lohnprivilegierungen das Bruttosozialprodukt erhöhen, vielleicht sogar im Maß der Privilegierungen, dann kann das so gewonnene Mehrprodukt noch immer in sehr verschiedener Weise verteilt werden. Dem Differenzprinzip wird schon dann genügt, wenn die Schlechtestbezahlten auch nur einen Bruchteil des Mehrprodukts erhalten. Ebenso bedenklich wie seine Dehnbarkeit ist die Moralabhängigkeit des Differenzprinzips. Damit 134 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 60 (meine Übersetzung).

R a w l s ' gleiche Freiheit - Überlegungsgleichgewicht

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meine ich seine Abhängigkeit von Einstellungen, in denen man erwartet, für seine besonderen Leistungen besondere Belohnungen zu erhalten. Solche Einstellungen werden von moralischen Annahmen mitbestimmt. Es ist keine Frage einer moralneutralen Ökonomie, ob Lohnprivilegierungen zu einem Mehrprodukt führen, sondern ihr Effekt hängt an der Art der vorherrschenden Moral. Das heißt auch, daß eine privilegierte Klasse Besteuerungen oder andere Abgaben zugunsten der Schlechtergestellten, die das Differenzprinzip verlangt, als einen hinreichenden Grund betrachten kann, ihre Produktionsbeiträge zu verweigern. In dem Fall legitimiert das Differenzprinzip wieder Zugeständnisse an die Privilegierten, weil ohne sie das Gesamtprodukt geringer und die Schlechtergestellten noch schlechter gestellt wären. Die Moralabhängigkeit des Differenzprinzips schließt daher eine allseitige Legitimationstauglichkeit ein. Ein Gerechtigkeitsprinzip aber, mit dem unvereinbare Handlungsweisen gerechtfertigt werden können, kann nicht mehr zwischen gerecht und ungerecht unterscheiden und ist so unbrauchbar wie eine Theorie, aus der widersprüchliche Aussagen ableitbar sind. Damit spreche ich ein vernichtendes Urteil über Rawls' Differenzprinzip, das sich schlecht mit der vorherrschenden Wertschätzung von Rawls verträgt. Aber für die Wertschätzung gibt es nicht nur den schlechten Grund, daß die Anerkennung des Differenzprinzips das soziale Gewissen beruhigt, ohne daß es dank seiner Dehnbarkeit zu etwas verpflichtet, sondern auch gute Gründe: Rawls begann überhaupt wieder eine inhaltliche politische Philosophie; er entwickelte eine beeindruckende Methode zur Begründung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze; er argumentiert für das Differenzprinzip nicht nur nutzenorientiert unter B e r u f u n g auf die Fairneßgerechtigkeit, sondern daneben und ohne den grundsätzlichen Unterschied anzuerkennen auch nutzenunabhängig durch Berufung auf die moralische Unerträglichkeit einer Güterverteilung, die durch die Lotterie der Gene bestimmt wird. In j e d e m Fall kommt R a w l s noch ein spezielleres historisches Verdienst als das zu, die politische Philosophie zu neuem Leben erweckt zu haben. Er hat sich nicht damit begnügt, das Ideal der gleichen Freiheit hochzuhalten; er hat vielmehr für dies Ideal im Differenzprinzip ein Kriterium angegeben, an dem der Idee nach meßbar wird, ob und wie weit eine Gesellschaft Gerechtigkeit verwirklicht. Er hat, so könnte man sagen, die gleiche Freiheit und mit ihr die klassische politische Philosophie operationalisiert. W e n n seine Art der Operationalisierung am Ende nicht akzeptiert werden kann, ändert es nichts am echten Fortschritt, den Rawls der politischen Philosophie gebracht hat. Dieser Fortschritt ist mit zwei Neuerungen verbunden, für die Rawls zu Recht berühmt wurde, seiner Kritik an der utilitaristischen Gerechtigkeitskonzeption und seiner Methode des Überlegungsgleichgewichts. Diese Neuerungen haben seine Operationalisierung der Idee der gleichen Freiheit ermöglicht, aber sind auch mit der Nutzenorientierung des Utilitarismus belastet. Ich beginne mit der Darstellung seiner Methode und gehe von ihr zu seiner (unzulänglichen) Utilitarismuskritik, seiner Fairneßgerechtigkeit und seinem Gesellschaftsbegriff über, um schließlich R a w l s ' nutzeni/nabhängiges Argument für das Differenzprinzip zu untersuchen.

Das Überlegungsgleichgewicht Zu Rawls' wichtigsten methodologischen Verdiensten gehört sein Ausgang von den gegebenen Intuitionen der Gerechtigkeit. W i r können annehmen, so R a w l s , daß jeder Mensch „beyond a certain age and possessed of the requisite intellectual capacity develops a sense of justice under normal social circumstances. W e acquire a skill in judging things to be just or

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Rawls' Faimeßgerechtigkeit

unjust, and in supporting these judgements by reasons. Moreover, we ordinarily have some desire to act in accord with these pronouncements and expect a similar desire on the part of the others." 135 Die Rolle dessen, was Rawls als Sinn für Gerechtigkeit beschreibt, wird vielleicht am deutlichsten in den seltenen Fällen, in denen wir bei jemand einen solchen Sinn vermissen. Solche Menschen scheinen taub für das, was dem Rest in der Beurteilung, wenn nicht auch der Ausführung von Handlungen selbstverständlich ist; ihnen fehlen, wie Protagoras gesagt hätte, aidôs und dikê, Scham und Rechtsgefühl. Ein solcher Sinn urteilt und empfindet gemäß dem, was Philosophen heute Intuitionen von dem, was gerecht und ungerecht ist, nennen. Soweit wir einen Gerechtigkeitssinn haben, haben wir auch Gerechtigkeitsintuitionen, und soweit wir Gerechigkeitsintuitionen haben, haben wir einen Gerechtigkeitssinn. Warum also eine normative Gerechtigkeitstheorie nicht einfach durch Beschreibung unseres Gerechtigkeitssinns entwickeln? Weil, so Rawls: „This enterprise is very difficult. For by such a description is not meant simply a list of the judgments on institutions and actions that we are prepared to render, accompanied with supporting reasons when these are offered. Rather, what is required is a formulation of a set of principles which, when conjoined to our beliefs and knowledge of the circumstances, would lead us to apply these principles conscientiously and intelligently ... We do not understand our sense of justice until we know in some systematic way covering a wide range of cases what these principles are." 136 Rawls vergleicht unseren Gerechtigkeitssinn mit unserem grammatischen Sinn, unserem Gefühl dafür, welche Wortkombinationen richtig und welche falsch sind. Obgleich wir sie intuitiv kennen und alltäglich befolgen, können wir sie nicht formulieren oder explizieren. Man denke nur an die komplizierten Regeln des Deutschen für die Trennung, Satzstellung und Betonung der Bestandteile von Verben wie unterschlagen, die der Deutsche, wenn er nicht gerade einen Deutschkurs für Ausländer abhält, nur nach dem Gehör beurteilen kann. Die Regeln der Gerechtigkeit könnten ähnlich kompliziert oder noch komplizierter sein. Um sie zu erkennen, müssen wir wie beim Versuch, die Regeln unserer Muttersprache zu entdecken, vermutete Regeln oder „sets of principles" ausprobieren, indem wir sie mit solchen „wohlerwogenen" Urteilen vergleichen, von deren Richtigkeit wir uns schon überzeugt haben. Von ihnen können die vermuteten Regeln falsifiziert werden; wir können aber auch von einer Regel dazu gebracht werden, ein Urteil als unrichtig fallenzulassen. Durch solches Probieren, das im Falsifizieren vermuteter Regeln, aber gelegentlich auch wohlerwogener Urteile besteht, gelangen wir schließlich zu dem, was Rawls „Überlegungsgleichgewicht" (reflective equilibrium) nennt: dem Zustand, in dem Gerechtigkeitsprinzipien oder eine „Konzeption" von Gerechtigkeit und wohlerwogene Gerechtigkeitsurteile so zusammenstimmen wie die grammatischen Regeln mit unseren grammatischen Intuitionen. 137 Wir können hinzufügen, ohne damit Rawls' Auffassung zu verändern, daß eine normative Theorie der Gerechtigkeit in dem Maß ihren Geltungsanspruch einlösen kann, wie sie nicht nur bei ihrem Autor, sondern auch bei ihren Lesern ein solches Überlegungsgleichgewicht erreicht. Rawls betont, daß wir nicht sicher sein können, für unseren Gerechtigkeitssinn ein und nur ein Überlegungsgleichgewicht und bei verschiedenen Menschen dasselbe zu finden. Dagegen spricht in der Tat einiges. Während unser grammatischer Sinn auf Verständigung ausgerichtet 135 Ebd., 46. 136 Ebd. 137 Ebd., 48.

Überlegungsgleichgewicht

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sein muß, weil die Sprache o h n e Verständigungsfunktion ihren Sinn verlöre, führt ihr Sinn f ü r G e r e c h t i g k e i t die M e n s c h e n o f t g e n u g in die b i t t e r s t e n K ä m p f e m i t e i n a n d e r . D i e s e r Sinn taugt zur S e l b s t b e h a u p t u n g von I n d i v i d u e n u n d G r u p p e n g e g e n A n f e c h t u n g e n von a u ß e n zumindest ebenso wie zu ihrer Verständigung. D e n n o c h , so besteht Rawls zu Recht, werden wir auch dann noch eine M e n g e über die Gerechtigkeit erkannt haben, wenn wir bei verschiedenen M e n s c h e n auf verschiedenen Überlegungsgleichgewichte treffen. 1 3 8 W i r k o m m e n nicht u m h i n , die A r b e i t an einer n o r m a t i v e n G e r e c h t i g k e i t s t h e o r i e mit einer A b w ä g u n g unserer Intuitionen zu beginnen. In d e r D a r s t e l l u n g s e i n e r T h e o r i e legt sich R a w l s von v o r n h e r e i n auf e i n e b e s t i m m t e Gerechtigkeitskonzeption fest, von der er zeigen will, daß sie besser als alle konkurrierenden ein Ü b e r l e g u n g s g l e i c h g e w i c h t e r r e i c h e n k a n n , b e s s e r i n s b e s o n d e r e als d i e s e i n e r z e i t in A m e r i k a v o r h e r r s c h e n d e utilitaristische K o n z e p t i o n . D i e s e K o n z e p t i o n nennt e r Fairneßgerechtigkeit, justice as fairness.139 Wir müssen unterstellen, daß er vor der Darlegung seiner T h e o r i e einige M ü h e in der A b w ä g u n g seiner Intuitionen verwendete, bis sein Urteil g e g e n die utilitaristische und f ü r die Fairneßgerechtigkeit ausfiel. Diese Festlegung m a c h t Rawls in der Darstellung seiner Theorie von der B e r u f u n g auf Intuitionen unabhängig. Intuitionen sind wichtig, aber „ w e should d o what w e can to reduce the direct appeal to our considered j u d g ments". Es sei gerade der Vorteil der Fairneßgerechtigkeit, daß in ihr „the role of intuition is limited" 1 4 0 , und zwar vor allem dadurch, daß „the d e p e n d e n c e on intuition can be reduced by ... substituting prudential for moral judgment". 1 4 1 Klugheitsurteile h a b e n g e g e n ü b e r m o r a l i s c h e n Urteilen den Vorteil, in ihren Prinzipien und Kriterien w e n i g e r umstritten zu sein. Sie sind d e f i n i e r b a r als B e w e r t u n g e n von H a n d lungen nach d e m Interesse, das sie d e m Handelnden verwirklichen. Die meisten moralischen Intuitionen der ordinären Moral bewerten dagegen Handlungen nicht nach d e m Interesse des Handelnden. Sie fordern vielmehr Rücksicht u n d A c h t u n g der Interessen anderer, oft g e n u g sogar A u f o p f e r u n g der e i g e n e n I n t e r e s s e n . D i e E n t s t e h u n g solcher F o r d e r u n g e n läßt sich zwar aus der Erfahrung der universalen A n s p r ü c h e der V e r n u n f t erklären, wie ich es im ersten Teil d i e s e r A r b e i t v e r s u c h t h a b e ; sie a b e r a u c h zu begründen, stellt vor die n o t o r i s c h e n P r o b l e m e , die ich vorgeschlagen habe, d u r c h A b w ä g u n g u n s e r e r Intuitionen zugunsten der A n e r k e n n u n g der u n i v e r s a l e n A n s p r ü c h e der V e r n u n f t zu e n t s c h e i d e n . D i e s e B e g r ü n d u n g impliziert die V e r w e r f u n g solcher moralischen Intuitionen, die die F o r d e r u n g der Nichtverletzung und H i l f e auf A n g e h ö r i g e und P e r s o n e n einschränken, von denen m a n e i n e G e g e n leistung erwarten kann. R a w l s ' Ersetzung des moralischen Urteils durch das Klugheitsurteil impliziert dagegen die V e r w e r f u n g aller m o r a l i s c h e r Intuitionen, die H a n d l u n g e n auch gegen das e i g e n e Interesse verlangen. Sie wird von der Konstruktion eines Systems moralischer Prinzipien, auf die sich die einzelnen moralischen Urteile zurückführen lassen, keineswegs impliziert. O b moralische P r i n z i p i e n P r i n z i p i e n d e s E i g e n i n t e r e s s e s sind u n d alle m o r a l i s c h e n Urteile als Klugheitsurteile anerkannt werden können, entscheidet sich daran, o b es gelingt, die nicht a n Klugheit orientierten m o r a l i s c h e n Intuitionen als irrelevant o d e r verdorben zu v e r w e r f e n . Das h a b e n zwar m a n c h e Aufklärungsphilosophen getan: H o b b e s , Holbach, Helvétius, Voltaire; aber der 138 139 140 141

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

50. 11. Ich weiche mit meiner Übersetzung von H. Vetters „Gerechtigkeit als Fairneß" ab. 41. 44.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

ordinären Moral und der Masse ihrer Intuitionen entspricht das keineswegs. Deshalb ist es verwunderlich, daß Rawls, obgleich er von den moralischen Intuitionen ausgeht, ohne Umschweife und ohne auch nur auf die vielen entgegenstehenden Intuitionen zu verweisen, das moralische Urteil durch das Klugheitsurteil ersetzt. Es ist auch nicht nur verwunderlich; es ist vielmehr ein Bruch in seiner Argumentation; eine Lücke in seiner Beweisführung, die seine Gerechtigkeitstheorie in den tiefen Widerspruch der erklärten Anerkennung der nicht interesseorientierten moralischen Intuitionen und der praktizierten Klugheitsorientierung stolpern läßt. Die Konsequenzen dieses Fehlers sind allerdings weniger schwer, als man annehmen könnte. Denn Rawls will eine Gerechtigkeitstheoúc formulieren. Die Prinzipien der Gerechtigkeit aber und ihre Begründung sind nicht dieselben wie die der Moral insgesamt. Diese läßt sich, wie mir die Masse und der Inhalt unserer moralischen Intuitionen zu zeigen scheinen, nicht auf Klugheitsprinzipien reduzieren. Die Regeln der Gerechtigkeit, die erzwingbar sind, stehen den Klugheitsregeln dagegen sehr viel näher als die Regeln der Wohltätigkeit. Auch wenn sie nicht mit Klugheitsregeln zusammenfallen, vielmehr von jedem und für jeden die Achtung der gleichen Freiheit fordern, verlangen sie keine Opfer, für die man nicht wieder mit Vergeltung rechnen kann, und sind mit der Klugheit vereinbar. Trotzdem führt die unreflektierte Gleichsetzung moralischer mit Klugheitsurteilen auch Rawls' Gerechtigkeitstheorie in Probleme, die er durch seine Utilitarismuskritik vermeiden wollte. Utilitarismuskritik Rawls' Konzeption der Fairneßgerechtigkeit ist wesentlich von seiner Überzeugung geprägt, daß der Utilitarismus zwar nicht die richtige Gerechtigkeitskonzeption liefern kann, aber außerordentliche theoretische Vorzüge hat. Alle weiteren Konkurrenten, von denen Rawls nur den Perfektionismus und den Intuitionismus nennt142, können neben ihm vergessen werden. „No constructive alternative theory has been advanced which has the comparable virtues of clarity and system". 143 Die Grundidee der utilitaristischen Gerechtigkeit sei, „that society is rightly ordered, and therefore just, when its major institutions are arranged so as to achieve the greatest net balance of satisfaction summed over all the individuals belonging to it"144: eine Gesellschaft ist um so gerechter, je mehr Interessenbefriedigung in ihr stattfindet, ohne Rücksicht darauf, wer befriedigt wird. Die Stärke dieser Idee sieht Rawls in ihrer Rationalität und Minimierung umstrittener moralischer Annahmen 145 ; genau diese zwei Eigenschaften möchte er auch der Fairneßgerechtigkeit zuschreiben. 146 Der Maßstab der größten „satisfaction" kommt in der Tat ohne jeden Rückgriff auf moralische Begriffe aus und erlaubt eine Beurteilung von Institutionen und Handlungsweisen auf ihren Beitrag zur Gerechtigkeit mit mathematischer Genauigkeit, wenn man nur einmal mögliche Handlungen und Zustände genau genug definiert und ihnen Lustwert- oder Utilitätsgrößen zugeordnet hat. Er stimmt auch mit den weitgehend anerkannten ersten zwei Zielen der Politik, Frieden und Wohlstand, überein. 142 143 144 145 146

Ebd., 22. Ebd., 52. Ebd., 22. Vgl. ebd., 23. Ebd., 14.

Utilitarismuskritik

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Problematisch ist dagegen seine Verträglichkeit mit dem Freiheitsziel, und hier setzt Rawls' Kritik an. Er verwirft die utilitaristische Gerechtigkeitskonzeption, weil sie nur die Übertragung des rationalen Handelns eines an W o h l f a h r t m a x i m i e r u n g interessierten Individuums auf eine Gesellschaft sei. Sie habe keinen Platz für die Unterschiede zwischen den Individuen in einer G e s e l l s c h a f t ; sie m ü s s e vielmehr eine G e s e l l s c h a f t als ein Ü b e r i n d i v i d u u m behandeln. Gerechtigkeit aber habe es wesentlich mit Fragen der Verteilung der Güter und Vorteile einer G e s e l l s c h a f t unter ihre Mitglieder zu tun. D i e s e m A s p e k t lasse der Utilitarismus keinen Raum. „Utilitarianism does not take seriously the distinction between persons". 147 Rawls trifft eine erkennbare Schwäche des von ihm beschriebenen Utilitarismus. Weil dieser nur die Maximierung der Utilität in einer Gesellschaft verlangt, ohne Rücksicht darauf, wer und unter welchen Bedingungen j e m a n d Utilität genießt, kann er die Gerechtigkeit des Anteils, den j e m a n d am Gesamtnutzen hat, nur danach beurteilen, ob es den Gesamtnutzen fördert, wenn er den Anteil hat. Daß j e m a n d einen bestimmten Anteil verdient oder jemand ein Recht auf einen Anteil hat, wie immer es mit der Nutzenmaximierung aussieht, für diese Möglichkeit läßt dieser Utilitarismus keinen Raum. Weil er die Individuen nur als Organe im gesellschaftlichen Organismus versteht, dessen Sinn in der Utilitätsmaximierung besteht, hat er auch f ü r die Freiheit der Individuen nicht mehr Raum, als die Organe eines Organismus haben können. Rawls verwirft jedoch nicht den Maßstab der Nutzenmaximierung. Statt Gerechtigkeitsprinzipien einer Gesellschaft als die einer gesellschaftlichen Überperson zu verstehen, die ihre Utilität maximieren will, sucht Rawls sie als die Prinzipien einer Mehrzahl von Personen zu verstehen, von denen jede ihre Utilität maximieren will, von „free and rational persons concerned to further their own interests". 148 Er hält fest an der Annahme des Utilitarismus, daß Prinzipien der moralischen Richtigkeit aus den Interessen rationaler befriedigungmaximierender Individuen abgeleitet werden müssen. Er v e r w i r f t nur eine b e s t i m m t e Art der Berechnung desjenigen Utilitätsmaximums, das für die Bestimmung gerechter Prinzipien heranzuziehen sei: es sei nicht die größtmögliche Summe der Utilität der Individuen, die die B e f o l g u n g eines Prinzips einer G e s e l l s c h a f t voraussichtlich sichert, sondern die größtmögliche Utilität, die die Befolgung eines Prinzips jedem Individuum derselben Gesellschaft voraussichtlich sichert. Aber sowenig wie der kritisierte Utilitarismus läßt Rawls Raum f ü r Gesichtspunkte des Verdiensts oder des Rechts, das jemand auf bestimmte Güter durch seine Leistungen (etwa seine Arbeitsmenge) erwirbt. Ist dieser Ansatz überhaupt m'cft/utilitaristisch? Der Utilitarismus ist ein sehr weites Dach, unter das sich sehr verschiedenartige Positionen stellen. Was sie vereint, ist nur die Bemessung der moralischen Richtigkeit an der Utilität, nicht die Art der Utilitätsbemessung. Die Mehrzahl der Utilitaristen hat zwar die Utilität in der Weise summiert, wie es Rawls kritisiert; aber es gibt auch Theoretiker, die sich nicht an diese Bemessung gebunden haben, und trotzdem den Titel des Utilitarismus f ü r sich beanspruchen. Einer von ihnen ist John Harsanyi, von d e m Rawls sogar die Idee des sogleich zu erläuternden Schleiers der Unwissenheit übernommen hat, auf die er sich in seiner alternativen Utilitätsbemessung stützt. 149 Natürlich kann m a n 147 Ebd., 27. 148 Ebd., 11. 149 Rawls ebd. 137, Anm. 11, verweist auf Harsanyi schulterklopfend: „The veil of ignorance is so natural a condition that something like it must have occurred to many. The closest express state-

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Wörter gebrauchen, wie man will, solange man sie nur klar genug erläutert, und Rawls macht durchaus klar, was er unter Utilitarismus verstehen will. Aber er macht nicht klar, daß sein Gebrauch sehr eng ist und sein eigener Ansatz nach dem Utilitarismusverständnis gerade der interessanteren Utilitarismusvertreter selbst utilitaristisch ist. Gerechtigkeitsprinzipien können nach Rawls' Ansatz nur das Ergebnis einer interindividuellen Vereinbarung sein, in der Vertragspartner solche Gerechtigkeitsprinzipien wählen, die jedem von ihnen eine Utilität sichern, die er als die größtmögliche anerkennen kann. Sie sind nach der Konzeption der Fairneßgerechtigkeit moralisch, weil sie das Ergebnis einer fairen Vereinbarung sind, aber sie sind auch Klugheitsregeln, weil sie jedem seine maximale Utilität sichern. Rawls ersetzt also nur das bekannteste utilitaristische Gerechtigkeitskriterium des größtmöglichen Nutzens für die Gesellschaft durch das weniger bekannte Kriterium des größtmöglichen Nutzens für jeden einzelnen. Er sieht nun seine Aufgabe darin, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu finden, welche die Institutionen (die Grundstruktur) einer Gesellschaft so bestimmen, daß jeder den größtmöglichen Nutzen aus der sozialen Kooperation zieht. Diese Aufgabe kann und sollte, so Rawls, nach dem Vorbild mathematischer Entscheidungstheorien 150 gelöst werden: „... clearly arguments from such premises can be fully deductive, as theories in politics and economics attest. We should strive for a kind of moral geometry with all the rigour which this name connotes." Zwar: „Unhappily the reasoning I shall give will fall short of this, since it is highly intuitive throughout. Yet it is essential to have in mind the ideal one would like to achieve." 151 Zwar meinte schon Aristoteles, im Praktischen sei strenges Wissen unmöglich 152 , und Entscheidungstheorien werden gewöhnlich zur Deduktion von Lösungen zu Problemen gebraucht, in denen bestimmte Ziele vorgegeben sind, nicht zur Ableitung von Gerechtigkeitsprinzipien. Rawls aber will Gerechtigkeitsprinzipien als die Regeln bestimmen, die rationale, das heißt auf ihren j e eigenen Vorteil bedachte Vertragspartner unter Gleich/îe/fibedingungen zur Verteilung der Nutzen und Lasten ihrer Kooperation vereinbaren. Unter dieser Prämisse lassen sich allerdings Gerechtigkeitsprinzipien entscheidungstheoretisch begründen und streng deduktiv ableiten. Man darf nur nicht übersehen, daß die Gerechtigkeit ment of it known to me is found in J.C. Harsanyi, 'Cardinal Utility in Welfare Economics and in the Theory of Risk-Taking', Journal of Political Economy, vol. 61 (1953). Der Aufsatz ist abgedruckt in: Harsanyi, Essays on Ethics, Social Behavior, and Scientific Explanation, Dordrecht 1976, 3 - 5 . Harsanyis „express statement" dessen, was Rawls veil of ignorance nennt, ist Rawls' Beschreibung äquivalent: „... a value judgment on the distribution of income would show the required impersonality to the highest degree if the person who made this judgment had to choose a particular income distribution in complete ignorance of what his o w n relative position (and the position of those near to his heart) would be within the system chosen. This would be the case if he had exactly the same chance of obtaining the first position (corresponding to the highest income) or the second or the third, etc., up to the last position (corresponding to the lowest income) available within that scheme", ebd., 4. Harsanyi beschrieb dieselbe Vorstellung in: Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons of Utility (zuerst 1955), in: Harsanyi, Essays on Ethics, a.a.O., 6 - 2 3 , 14. Er verweist auf sie in seiner Rawls-Kritik: Can the Maximin Principle Serve as a Basis for Morality? (zuerst 1975), in: ebd., 3 7 - 6 3 , 38. 150 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 17. 151 Ebd., 121. 152 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 1140.

Schleier der Unwissenheit, Urzustand, Fairneßgerechtigkeit

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dabei wie im Utilitarismus trotz der Gleichheitsbedingung eine Funktion des Nutzens bleibt, nur nicht mehr des kollektiven, sondern des individuellen. Aber ist sie eine Funktion des Nutzens? Orientiert man sie an der Idee der gleichen Freiheit, dann muß man sie für eine nutzenwnabhängige Kategorie halten. Denn dann ist sie eine Funktion der Achtung, die fordert, jeden selbst über sein Leben entscheiden zu lassen, soweit er jedem andern dieselbe Freiheit läßt. Wie aber kann Rawls die Fairneß der Vereinbarung sichern? Er braucht eine Bedingung, die die Vertragspartner in ein (ideales oder kontrafaktisches) Verhältnis der Gleichheit zueinander bringt. Diese Bedingung ist der Schleier der Unwissenheit der Vertragspartner: sie kennen nicht ihre eigenen Eigenschaften. „Somehow we must nullify", so überlegt Rawls, „the effects of specific contingencies which put men at odds and tempt them to exploit social and natural contingencies to their own advantage'. Now in order to do this I assume that the parties are situated behind a veil of ignorance. They do not know how the various alternatives" - die alternativen Gerechtigkeitskonzeptionen - „will affect their own particular case and they are obliged to evaluate principles solely on the basis of general considerations". 153 Der Schleier der Unwissenheit, der Urzustand und die Fairneßgerechtigkeit Der Schleier der Unwissenheit schließt aus, daß die Vertragspartner solche Regeln aushandeln wollen, die ihren eigenen Eigenschaften am besten entsprechen. Mit ihm inszeniert Rawls für die fiktive Situation der Vereinbarung gerechter Kooperationsprinzipien, den er original position, Urzustand nennt, den Sinn für Fairneß,154 Ebenso macht er mit der Voraussetzung der Verfolgung der individuellen Utilitätsmaximierung den Sinn für das eigene Gute zur Bedingung der Gerechtigkeit der ausgehandelten Prinzipien. Zusammen sollen der Sinn für Fairneß und der Sinn für das eigene Gute, der Schleier der Unwissenheit und das individuelle utilitätsmaximierende Interesse, garantieren, daß die ausgehandelten Regeln gerecht sind. Daher nennt er seine Konzeption, die Fairneßgerechtigkeit, einen Konstruktivismus. Er sei kantisch, weil der Schleier der Unwissenheit einen Personbegriff impliziere, der dem kantischen Begriff einer noumenalen Person nahestehe. 155 Nach der Fairneßgerechtigkeit will Rawls nicht nur die Grundsätze der Kooperationsgerechtigkeit entwickeln, die der Gegenstand der Theory of Justice sind, sondern auch die für das Verhältnis zwischen Generationen, zwischen Staaten und zu langfristig Kranken. Auch sie müssen als Ergebnis einer Verhandlung konstruiert werden, in der die Betroffenen, als rational und unter dem Schleier der Unwissenheit gedacht, für das Verhältnis zwischen den Generationen, den Staaten und Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen die Normen wählen, die jedem den größtmöglichen Vorteil bringen. Die Dichte des Schleiers der Unwissenheit muß dabei dem jeweils zu normierenden Verhältnis angepaßt sein." 6 Die zwei Bedingungen des Sinns für Fairneß und für das eigene Gute und die „ihnen korre153 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 136f. 154 Rawls spricht sogar vom „sense of justice"; ebd., 12. 155 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: D i e Idee des politischen Liberalismus, a.a.O., 80-158, bes. 81f (zuerst engl. 1980). 156 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 378, Political Liberalism, New York 1993, 20f, 244f; The Law of Peoples, in: Critical Inquiry 20, 1993, 36-68, 39.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

spondierenden höchstrangigen Interessen" hat Rawls in seinen Schriften nach der Theorie der Gerechtigkeit zunehmend hervorgehoben. Mit ihnen seien zwei moralische Vermögen gegeben, der Sinn für das Gute, „die Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen", und der Sinn für das Gerechte, „die Fähigkeit, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, sie anzuwenden und aus ihnen heraus zu handeln (und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen)". 157 Rawls war zunehmend bemüht, die Fairneßgerechtigkeit als etwas nicht nur Nutzenorientiertes herauszustellen. Schon in der Theorie der Gerechtigkeit vergleicht er die unwissenheitsschleierbedingte Selbstlosigkeit der Vertragspartner mit Kants noumenalem Charakter der autonomen Person: „My suggestion is that we think of the original position as the point of view from which noumenal selves see the world. The parties qua noumenal selves have complete freedom to choose whatever principles they wish; but they also have a desire to express their nature as rational and equal members of the intelligible realm with precisely this liberty to choose... They must decide, then, which principles ... most fully reveal their independence from natural contingencies and social accident." 158 Kants Begriff des noumenalen Selbst hat schon manche Deutung überstanden. Rawls' Berufung auf sie als das Modell der Verhandlungspartei im Urzustand überschreitet aber die Deutungstoleranz. Kants noumenales Selbst erwägt mögliche Handlungsregeln nicht „um irgendeines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt." 159 Rawls' Verhandlungspartei erwägt sie dagegen zwar unabhängig von der Kontingenz ihrer Geburt und ihres Milieus, aber nicht unabhängig vom Interesse, für sich, so wenig bestimmt ihr Selbst ist, so viel wie möglich aus der Verhandlung herauszuschlagen. Ihr Interesse hört durch den Schleier der Unwissenheit nicht auf, egoistisch zu sein; das Gute, das sie sich vertraglich sichern will, ist nur der eigene größtmögliche Vorteil; die Rationalität, der sie folgt, ist die der Nutzenmaximierung. Andernfalls könnte sich Rawls nicht auf moralische Geometrie und rationale Entscheidungstheorie berufen. Rawls reklamiert mit seiner Konzeption der Fairneßgerechtigkeit nicht nur die Tradition von Kants noumenalem Selbst, sondern auch die des Natur- und Vernunftrechts. Er beansprucht für seine Konzeption, sie „generalizes and carries to a higher level of abstraction the familiar theory of the social contract as found, say, in Locke, Rousseau, and Kant." 160 Dieser Anspruch ist noch verfehlter als die Berufung auf Kants noumenales Selbst. Denn Locke, Rousseau und Kant benutzten den Vertrag zur Rechtfertigung nicht von Gerechtigkeitsgrundsätzen, sondern einer Instanz, die schon erkannte Gerechtigkeitsgrundsätze positivieren soll, des Staats. Gerechtigkeitsgrundsätze durch einen Vertrag zu bestimmen, wäre allen politischen Philosophen von Hobbes bis Hegel als Zirkel erschienen, da sie die Idee des Vertrags ohne gemeinsam anerkannte Gerechtigkeitsprinzipien für undenkbar gehalten hätten. Tatsächlich setzt ja auch Rawls im Schleier der Unwissenheit schon das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit in der Entscheidung über die Grundstruktur einer Gesellschaft unausgewiesen voraus. Was Rawls unausgewiesen läßt, haben die Vertragstheoretiker dagegen natur- oder vernunftrechtlich auszuweisen versucht. Rawls' Annahme, sein Urzustand entspreche dem klassischen Gesellschaftsvertrag, beruht auf der peinlichen Verwechslung eines staatslegiti157 158 159 160

Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, a.a.O., 93. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 255f. Kant, Grundlegung, a.a.O., 58. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 11.

Rawls' allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz

mierenden Vertrags mit einem Vertrag, der Gerechtigkeitsprinzipien miert.

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konstituiert und legiti-

Rawls' allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz Seine verbleibende utilitaristische Orientierung führt Rawls zu einer Formulierung seiner Konzeption, die Gerechtigkeit nicht durch die gleiche Freiheit, sondern den Nutzen für jeden bestimmt. Seine Gerechtigkeitsgrundsätze, so erklärt er, seien „a special case of a more general conception of justice that can be expressed as follows. All social values - liberty and opportunity, income and wealth, and the bases of self-respect - are to be distributed equally unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone's advantage. Injustice, then, is simply inequalities that are not to the benefit of all." 161 Nach Kant ebenso wie nach Locke und Rousseau, deren Gerechtigkeitskonzeptionen Rawls „to a higher level of abstraction" zu führen beansprucht' 62 , ist Unrecht Ungleichheit, die nicht die Freiheit eines jeden sichert. Nach Rawls ist es Ungleichheit, die nicht jedem nützt• Rawls widerspricht damit jedoch nicht notwendig seinen Vorgängern. Auch er kann Ungerechtigkeit als Ungleichheit verstehen, die nicht jedem gleiche Freiheit sichert. Aber er will die gleiche Freiheit daran messen, ob bestehende Ungleichheiten jedem nützen. Dabei fordert er nicht, daß gerechte Institutionen jedem einen gleichen Nutzen sichern, sondern daß sie jedem den größtmöglichen Nutzen sichern. Er weicht zwar von Locke und Kant ab, aber da wir schon wissen, daß deren Verständnis der gleichen Freiheit zu einfach ist, weil sie nicht die Angewiesenheit aller Menschen auf Naturgüter berücksichtigen, könnte seine Abweichung ein Vorteil sein. Rawls gibt auch an, wann jemand den größtmöglichen Nutzen von Gerechtigkeitsprinzipien hat: wenn sie ihm die größtmögliche Menge von Grund- oder Primärgütern sichern. Dies sind Güter, die normalerweise einen Nutzen haben, „whatever a person's rational plan of life", und die deshalb „every rational man is presumed to want". 163 Zu ihnen rechnet Rawls nicht nur Geld, sondern auch Freiheit, Handlungsmöglichkeiten und Selbstachtung. Das mag beim ersten Hören befremdlich klingen. Aber wir brauchen uns nur an die Verhältnisse des „realen" Sozialismus zu erinnern, um Rawls zu bestätigen. Die politische Freiheit bestand hier für alle nicht in Verfassungsprinzipien, sondern in Grundgütern genau der Art, die Rawls aufzählt. Liberty : die Freiheit, in den Westen zu reisen; opportunity: die Möglichkeit, in einem Intershop einzukaufen; income and wealth: Löhne und Extralöhne; the bases of selfrespect: eine Erziehung in einer Eliteschule oder das Privileg, vor Ämtern und Geschäften nicht katzbuckeln und schlangestehen zu müssen. Solche Grundgüter waren nicht nur ungleich, sondern auch so verteilt, daß sie nicht zu jedermanns Vorteil waren. Rawls' These ist, daß man von einem gerechten Staat oder der gleichen Freiheit nicht mehr oder Besseres verlangen kann, als daß er jedem die größtmögliche Menge solcher Güter sichert. Und hat er darin nicht recht? Die klassische politische Philosophie glaubte dagegen, einen Staat am besten dadurch auf das Ziel der Sicherung der gleichen Freiheit festzulegen, daß sie von ihm den Schutz eines Systems von Rechten verlangte, das jedem nicht die größtmögliche Menge von Grundgütern, 161 Ebd., 62. Vgl. 303. 162 Ebd., 11. 163 Ebd., 62.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Freiheiten eingeschlossen, sichert, sondern eine vollkommene Gleichheit von Rechten. Auch Habermas orientiert sich an dieser Vorstellung, wenn er gegen Rawls' Einreihung der Freiheiten unter die Primärgüter anführt: „Rechte lassen sich nur in der Weise 'genießen', daß man sie ausübt. Sie können nicht an distributive Güter assimiliert werden, ohne ihren deontologischen Sinn preiszugeben. Eine gleichmäßige Verteilung der Rechte ergibt sich erst daraus, daß sich Rechtsgenossen gegenseitig als freie und gleiche anerkennen. Natürlich gibt es Rechte auf einen fairen Anteil an Gütern oder Chancen, aber die Rechte selbst regeln Beziehungen zwischen Aktoren - und können von diesen nicht wie Dinge „besessen" werden". 164 Diese Kritik enthält eine schöne Beschreibung der Besonderheit von Rechten gegenüber Gütern. Aber sie trifft nicht Rawls. Rawls kann Habermas' Ausführungen uneingeschränkt zustimmen und darauf verweisen, er behandle gar nicht Rechte, sondern Freiheiten als Primärgüter. Tatsächlich dient der Bezug auf Primärgüter und ihren größtmöglichen Besitz durch jeden nur der Bestimmung des gesuchten Systems von Rechten, das jedem gleiche Freiheit (oder Gerechtigkeit) garantieren soll. Die Frage ist daher nicht, ob man Rechte als Primärgüter behandeln, sondern ob man die gleiche Freiheit an einer Verteilung von Primärgütern messen kann, die jedem die größtmögliche Menge sichert. Rawls hat erkannt, daß zur Bestimmung der Gerechtigkeit die Anführung der gleichen Freiheit notwendig, aber nicht hinreichend ist. Daß jeder das gleiche Recht hat, sich und seine Fähigkeiten zu betätigen, ist unverzichtbar für Gerechtigkeit, aber wir brauchen auch eine Klärung, wie dies gleiche Recht im Umgang mit solchen Gütern aussieht, die nicht das Produkt der Betätigung von Menschen sind. Auf diese Frage liefert Rawls eine Antwort, die zwar keine Regeln für diesen Umgang formuliert, aber eine Bedingung an die Aufteilung des Gesamtprodukts der Tätigkeiten stellt, die immer auch auf natürliche Ressourcen angewiesen sind: sie muß jedem den größtmöglichen Nutzen bringen. Das ist ein Fortschritt gegenüber Locke und Kant, der einer Operationalisierung der gleichen Freiheit. Gegen die Messung der gleichen Freiheit und mit ihr der Gerechtigkeit durch das Kriterium des größtmöglichen Vorteils eines jeden spricht nicht der formale Punkt, daß Freiheiten nicht als Grundgüter behandelt werden können, sondern ein inhaltlicher Punkt: die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen nach dem Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung der Individuen verfälscht unseren Begriff von Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeitsidee ist nutzenwnabhängig; sie fordert die Achtung jeder Person und die Zurechnung dessen, wofür sie im Guten wie im Schlechten verantwortlich ist. Diesen Aspekt fängt Rawls' Konzeption der Fairneßgerechtigkeit nicht ein, was immer man unter die Grundgüter zählt. Wir können uns diesen Mangel an einem Beispiel verdeutlichen, in dem die Grundgüter auf ein einziges beschränkt sind, sagen wir auf Brot, und die gesellschaftliche Zusammenarbeit, für die Rawls nach den Gerechtigkeitsgrundsätzen sucht (die daher auch als Verteilungsprinzipien verstanden werden können), auf die Zusammenarbeit zweier Bäcker. Weil Rawls, wie wir sogleich sehen werden, (fälschlich) unterstellt, daß die Individuen in modernen Gesellschaften auf die Zusammenarbeit aller angewiesen sind, müssen wir für die zwei Bäcker annehmen, daß sie ihre Brote nur gemeinsam backen können. Nehmen wir nun weiter an, daß sie zehn Brote backen und dabei Arbeit genau gleicher Qualität verrichten, der eine aber neun Stunden arbeitet und der andere eine. Dieser folgt nun Rawls' Fairneßgerechtigkeit, wenn er dem ersten sagt: ,Ohne meine Mitarbeit verlierst du alle neun Brote, die du beanspruchst, ich dagegen ohne deine Mitarbeit nur das eine Brot, das du mir zugestehst. Also ist 164 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., 71.

Schleier der Unwissenheit, Urzustand, Fairneßgerechtigkeit

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es nur angemessen, wenn meine eine Arbeitsstunde stärker gewichtet wird und ich mehr als das eine Brot erhalte. Ich verlange ja gar nicht, daß jeder von uns gleich viel kriegt, obgleich das eigentlich gerecht ist. Denn wie ich dich kenne, würdest du dann nicht mehr so viel arbeiten. Aber auf neun Brote hast du kein Recht. Wenn du sechs oder allerhöchstens sieben Brote erhältst, ist das doch wirklich fair; schließlich würdest du ohne mich gar nichts haben'. Gegen dies Argument würden wohl die meisten nach ihren Gerechtigkeitsintuitionen darauf bestehen, gerecht sei eine Aufteilung des Produkts nach geleisteter Arbeitsmenge und qualität. Aber der Einstundenbäcker folgt in der Tat der Fairneßgerechtigkeit. Denn im Urzustand muß man die gerechte Aufteilungsregel nach folgender Überlegung finden:,Könnte jeder potentiell Kooperierende der Regel zustimmen, nach der jeder so viele Brote bekommt, wie er Stunden gearbeitet hat? Unter dem Schleier der Unwissenheit weiß niemand, wie fleißig oder gesund er ist. Jeder hat dieselbe Chance, ein Bäcker zu werden, der neun Stunden arbeitet, wie einer, der nur eine Stunde arbeitet. Um Risiken zu vermeiden, wird jeder davon ausgehen, daß er der Bäcker wird, der nur eine Stunde arbeitet. Also wird er die Regel verwerfen, nach der jeder so viele Brote erhält, wie er Stunden arbeitet. Er wird aber auch nicht für absolute Gleichheit sein, nach der jeder die Hälfte des gemeinsamen Produkts erhält, weil dann vielleicht jeder nur eine Stunde arbeitet und jeder nur ein Brot erhält. Er wird dafür sein, daß, wer mehr arbeitet, auch mehr erhält, und zwar genau so viel mehr, wie er erhalten muß, um möglichst viel zu arbeiten und das aufteilbare Produkt zu maximieren. Für jede Stunde etwa, die er mehr arbeitet als der am wenigsten Arbeitende, sollte er etwa eine Prämie von zehn Prozent aus dem Anteil erhalten, die nach der absoluten Gleichheit jedem zusteht. Sollten die zehn Prozent nicht reichen, um seine Arbeitslust zu stimulieren, dann muß man die Prämie erhöhen, aber immer nur gerade so weit, wie es zur Maximierung der Arbeitslust nötig ist.' Das auf diese Weise gefundene Verteilungsprinzip ist Rawls' Differenzprinzip. Sowohl das Argument, das zu ihm führt, als auch das Ergebnis entsprechen völlig dem Argument und dem Vorschlag des Einstundenbäckers. Wenn dieser ungerecht ist, kann auch Rawls' Differenzprinzip nicht gerecht und die Fairneßgerechtigkeit keine akzeptable Gerechtigkeitskonzeption sein. Natürlich kommt es im Bäckerbeispiel nicht darauf an, daß die Fairneßgerechtigkeit einem faulen Bäcker oder Arbeiter erlaubt, den Fleißigen übers Ohr zu hauen. Wer sich an diesem Umstand stößt, ersetze den Einstundenbäcker durch einen Menschen, der der Bäckerei das Kapital vorgestreckt hat und für sein Kapital und dessen Vorstreckung die Arbeitsleistung des Einstundenbäckers aufwendet. Der Einstundenbäcker macht einige angreifbare Annahmen, die auch Rawls macht. Auch Rawls betrachtet die Gleichheit der Verteilung des gemeinsamen Produkts als den Gerechtigkeitszustand, von dem man nur dann abweichen darf, wenn die Abweichung für jeden nützlich ist: „All social values - liberty and opportunity, income and wealth, and the bases of selfrespect - are to be distributed equally unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone's advantage. Injustice, then, is simply inequalities that are not to the benefit of all." 165 Auch Rawls nimmt an, daß die Vertragsparteien Risiken vermeiden und von den schlechtestmöglichen Eigenschaften ausgehen, die sie in der sozialen Wirklichkeit haben (d.h. daß sie der Regel folgen, die in der Entscheidungstheorie Maximin heißt' 66 ), und auch er schließt die Möglichkeit aus, daß es am Individuum liegen könnte, welche der relevanten 165 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 62. Vgl. 303. 166 Ebd., 153. Nach dieser Regel wählen wir das Prinzip, bei dessen Befolgung wir den größten Nutzen unter den schlechtestmöglichen Umständen haben. Harsanyi, Can the Maximum Principle, a.a.O.,

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Rawls' Faimeßgerechtigkeit

Eigenschaften es hat - etwa wieviel es arbeitet. Diese Annahmen impliziert (wie noch deutlicher werden wird) die Faimeßgerechtigkeit. Was sie nicht impliziert, sondern voraussetzt, ist die Annahme, die gesellschaftliche Zusammenarbeit, für die Rawls nach Gerechtigkeitsgrundsätzen sucht, mache in modernen Gesellschaften alle voneinander abhängig. Ich will nun zeigen, daß Rawls eine falsche Vorstellung von sozialer Kooperation hat. Gesellschaft und Kooperation Die Gerechtigkeit, die er untersucht, so kündigt Rawls zu Beginn seines Buchs an, sei nur die der „social cooperation". 167 „I shall begin by considering the role of the principles of justice. Let us assume, to fix ideas, that [1] a society is a more or less self-sufficient association of persons who in their relations to one another recognize certain rules of conduct as binding and who for the most part act in accordance with them. Suppose further that [2] these rules specify a system of cooperation designed to advance the good of those taking part in it. Then, although [3] a society is a cooperative venture for mutual advantage, it is typically marked by a conflict as well as by an identity of interests. There is an identity of interests since social cooperation makes possible a better life for all than any would have if each were to live solely by his own efforts. There is a conflict of interests since persons are not indifferent as to how the greater benefits produced by their collaboration are distributed, for in order to pursue their ends they each prefer a larger to a lesser share. A set of principles is required for choosing among the various social arrangements which determine this division of advantages and for underwriting an agreement on the proper distributive shares. These principles are the principles of social justice: they provide a way of assigning rights and duties in the basic institutions of society and they define the appropriate distribution of the benefits and burdens of social cooperation." 168 Nach dieser Erklärung sind die Gerechtigkeitsgrundsätze, die Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit aufstellt, Grundsätze für Gesellschaften, die, wie er in [3] festlegt, kooperative Unternehmen zu wechselseitigem Nutzen aller ihrer Mitglieder sind. In solchen Gesellschaften gibt es zwar auch Interessenkonflikte, aber nur auf dem Boden des gemeinsamen Interesses an Kooperation. Jeder will möglichst viel Nutzen und möglichst wenig Lasten aus der Kooperation ziehen, aber kooperieren wollen alle, weil alle mit ihr besser leben als ohne sie. Die gesuchten Gerechtigkeitsprinzipien sichern, daß jeder den größtmöglichen Nutzen und die kleinstmöglichen Lasten aus der Kooperation zieht. Angenommen, die heutigen Gesellschaften sind nicht von dieser Art, so folgt zwar nicht, daß Rawls' Gerechtigkeitsgrundsätze nicht auf unsere Gesellschaften anwendbar sind. Sie 40, kritisiert zu Recht, daß Rawls diese Regel ohne Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit der schlechtestmöglichen Umstände gebraucht. Rawls, Some Reasons for the Maximin Criterion, in: American Economic R e v i e w 64, 1974, 142, hat darauf (unter Übernahme Nozickscher Terminologie; vgl. dazu das Nozick-Kapitel) mit dem Verweis geantwortet, „Maximin is a macro not a micro principle". Harsanyi, in: ebd., 59, weist diese Verteidigung zu Recht als „inept" zurück. Der Sache nach könnte sich jedoch Rawls gegen Harsanyi mit der wahren Feststellung verteidigen, daß die Wahrscheinlichkeit für die fiktiven Vertragsparteien, in eine schlechtgestellte Klasse geboren zu werden, hoch genug ist, um für sich rationalerweise die schlechtestmöglichen Umstände anzunehmen. 167 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 3. 168 Ebd., 4. Geklammerte Ziffern von mir hinzugefügt.

Gesellschaft und Kooperation

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könnten vielmehr verlangen, daß unsere Gesellschaften zu solchen werden, in denen jeder auf die Kooperation mit dem andern angewiesen ist. Sie könnten aber auch so sein, daß sie eine solche wechselseitige Angewiesenheit schlicht unterstellen und deshalb für Gesellschaften unbrauchbar sind, die tatsächlich keine Kooperativen zu wechselseitigem Vorteil aller sind. Solche Gesellschaften hätten vielmehr Gerechtigkeitsgrundsätze nötig, die zuerst einmal verbieten, daß einige Individuen oder Gruppen eine Stellung einnehmen, in der sie auf die Kooperation mit allen anderen nicht angewiesen sind. Tatsächlich sind die heutigen Gesellschaften keine Kooperativen zu wechselseitigem Vorteil aller, wie [3] festlegt. Rawls nimmt an, daß alle Mitglieder einer arbeitsteiligen Gesellschaft aufeinander angewiesen sind, weil die Arbeitsteilung alle von der Gesamtarbeit abhängig macht, zu der die Individuen in ihren verschiedenen Teilarbeiten beitragen: „There is an identity of interests since social cooperation makes possible a better life for all than any would have if each were to live solely by his own efforts." 169 Rawls begründet dementsprechend sein Differenzprinzip unter anderem mit dem Argument, die Bessergestellten dürften sich nicht über die von ihm geforderte Belastung beklagen, weil sie die „willing cooperation of everyone", auch der Schlechtestgestellten, nur dann erwarten können, wenn die Kooperationsbedingungen „reasonable" seien. 170 Rawls setzt hier voraus, daß die Bessergestellten auf die „willing cooperation" aller übrigen, auch der Langzeitarbeitslosen, angewiesen sind. Nach dieser Auffassung führt, wie es Hegel beschrieb, die Arbeitsteilung zu einer „Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit" und „allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller".171 Tatsächlich aber ist nicht nur die Abhängigkeit der Individuen, die in das Netz der Arbeitsteilung verschlungen sind, so ungleich, daß man nicht von gegenseitiger Abhängigkeit und von einer Interessenidentität sprechen kann. Vielmehr macht die soziale Kooperation heute für die Langzeitarbeitslosen das Leben schlechter, als es wäre, wenn sie nur von den eigenen Anstrengungen leben könnten, und umgekehrt wird das Leben für andere Gruppen schlechter, wenn sie den aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß Ausgeschiedenen und faktisch überflüssig Gewordenen Sozialhilfen in welcher Form auch immer geben. Daß heute wie auch früher immer wieder große Gruppen der Bevölkerung dauernd ohne Arbeitsmöglichkeit waren, zeigt, daß sie für die Kooperation überflüssig und die glücklichen Inhaber von Arbeitsmöglichkeiten auf sie in keiner Weise angewiesen waren. Bestimmt man dennoch Gesellschaften als Kooperativen zum wechselseitigen Vorteil aller, so geht man gerade über die Seite aller bisherigen Gesellschaften hinweg, die wohl der wichtigste Grund für Klagen über ihre Ungerechtigkeit war. Alle Gesellschaften waren bisher nur in begrenzten Bereichen kooperativ; in Familien, Sippen, freiwilligen Assoziationen, Kirchen. Als Herrschaftsverbände der vormodernen Epochen und als moderne Staaten sind Gesellschaften nicht kooperativ, sondern exploitativ: was sie zusammenhält, ist nicht die Zusammenarbeit, sondern die Ausbeutung der Ressourcen ihres Territoriums. Für die Ausbeutung kann die Zusammenarbeit zwar ein unumgängliches Mittel sein; das Ziel aber ist die Kontrolle über die Ressourcen, zu denen man auch alle Menschen zählen muß, die sich unterwerfen lassen. In den bisherigen Gesellschaften blieben den von der Kontrolle der Ressourcen Ausgeschlossenen zwei Wege zum Überleben und zum Aufstieg in Kontrollstellen: erstens Unter169 Ebd. 170 Ebd., 103. 171 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 199.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

werfung unter die Machthaber und Zustimmung dazu, sich von ihnen an die weniger attraktiven Arbeitsstellen im System der Ausnutzung der gegebenen Ressourcen weisen und dort selbst ausbeuten zu lassen; zweitens Auswanderung oder die Suche nach Ressourcen, die noch niemand oder nur ihrerseits Unterwerfbare angeeignet hatten. Die Besonderheit der heutigen Gesellschaften ist, daß beide Wege unzugänglich werden. Die Erde ist überall angeeignet und von Mächtigen kontrolliert; das verschließt den Auswanderungsweg. Die Arbeit der Massen, die den Mächtigen immer nützlich sein konnte, um sich den Luxus zu verschaffen, nach dem sie verlangen, wird durch maschinelle Arbeit ersetzbar; das verschließt den Unterwerfungsweg. Die moderne Technik ersetzt die menschlichen durch maschinelle Arbeitssklaven; das ist vielleicht nicht billiger, aber macht unabhängig von den Ansprüchen, durch die sich menschliche von maschinellen Sklaven unterscheiden. Schon die Möglichkeit der Ersetzung menschlicher Arbeit durch die Maschine hat den Menschen seit langem viel zu denken gegeben. Marx konnte das „ökonomische Paradoxon" erklären, „daß das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit in das unfehlbare Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln". Er hielt die Wirklichkeit dieses Paradoxes der Überlegung Aristoteles' entgegen, der „träumte": „Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte ..., so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen noch für die Herrn der Sklaven." 172 Aber selbst wenn Aristoteles träumte, trifft seine unparadoxe Feststellung die gegenwärtige Lage in einem Punkt besser als Marx' Paradox. Manche „Gehilfen" und „Sklaven" können so überflüssig werden, daß sie auch nicht mehr für die Verwertung des Kapitals interessant sind. Versteht man Gesellschaften als Ausbeutungsverbände, so kann diese Entwicklung nicht überraschen; versteht man sie als Kooperative, so ist man für sie blind. Wenn die Kooperation nur ein kontingentes Mittel für das Ziel der Ausbeutung ist, macht Rawls' kooperativer Gesellschaftsbegriff ihn nicht nur blind für die soziale Wirklichkeit; er läßt ihn auch die Entwicklung einer Gerechtigkeitstheorie am falschen Ende anfangen. Geht man in einer Gerechtigkeitstheorie realistischerweise von einem exploitativen Gesellschaftsbegriff aus, so verbietet es sich, die Gerechtigkeitstheorie wie Rawls mit einer Theorie der Kooperationsgerechügkeit zu beginnen. Rawls beginnt mit der Suche nach Kooperationsgerechtigkeit, um nach ihrem Modell Gerechtigkeitsgrundsätze für das Verhalten zu Kranken, Arbeitsunfähigen, zukünftigen Generationen und zu Nationen suchen. 173 Aber die Kooperationsgerechtigkeit kann erst bestimmt werden, wenn erstens die Gerechtigkeit im Gebrauch von Naturgütern geklärt ist. Deren Existenz geht jeder Kooperation voraus; ohne sie könnte keine Arbeit beginnen. Zweitens gehen der Kooperationsgerechtigkeit Regeln darüber voraus, ob und wann man jemand aus der Kooperation ausschließen darf. Faktisch wurden zwar immer Menschen aus der Kooperation in der Ausbeutung der Ressourcen eines Landes ausgeschlossen, wenn sie von ihren Feldern vertrieben oder von ihren Arbeitsplätzen ohne Chance auf neue Arbeit entlassen wurden. Aber gerecht kann es nicht gewesen sein, wenn man jedenfalls annimmt, daß die Naturgütern allen gehören und jeder zu ihrem Gebrauch berechtigt ist. Eine Kooperationsgerechtigkeit ohne vorausgehende oder begleitende Bestimmung der Gerechtigkeit im Gebrauch von Naturgütern kann daher nichts taugen.

172 Marx, Das Kapital, Bd. 1, a.a.O., 430. 173 Rawls, Political Liberalism, a.a.O., 21 und 244f.

Gesellschaft und Kooperation

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Die Angewiesenheit aller Produktion auf Naturgüter macht nicht nur Rawls' Ausgang von der Kooperation unangemessen, sondern auch eine andere Beschränkung des Geltungsbereichs seiner Gerechtigkeitstheorie. Sie soll nur einer Gesellschaft gelten, die „a more or less selfsufficient association" sei.174 Damit beschränkt er seinen Untersuchungsbereich auf nationale Gesellschaften 175 und macht ohne Begründung Nationen zu Eigentümern der natürlichen Ressourcen ihres Territoriums, die diese allein nach ihren nationalen Interessen gebrauchen dürfen. Sind aber natürliche Ressourcen das Gemeineigentum der gesamten Menschheit, so dürfen sie nur nach den Interessen der gesamten Menschheit gebraucht werden; Nationen können nur ihre Treuhänder sein. Regeln ihrer Verteilung müßten auf globaler Ebene vor oder zusammen mit der Bestimmung nationaler Verteilungsgerechtigkeit bestimmt werden. Warum beschränkt Rawls überhaupt die Geltung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze nicht nur inhaltlich auf die soziale Kooperation, sondern auch nach ihrem Bereich auf nationale Gesellschaften? Sein wichtigster Grund ist seine Annahme, nur auf nationaler Ebene lasse sich das Differenzprinzip rechtfertigen, auf das er Sozialrechte gründen will, und diese Annahme gründet wieder in seiner Überzeugung, nur national oder innerhalb eines Staats sei die Kooperation zwischen den Individuen eng genug, um einen Anspruch der ökonomisch Schlechtergestellten gegenüber den Bessergestellten zu rechtfertigen. 176 Aber welche Kooperation setzt Rawls in diesem Argument voraus? Es kann keine rein ökonomische Kooperation durch Produktion oder Handel sein, denn diese ist oft zwischen Individuen verschiedener Nationen enger als zwischen Individuen derselben Nation. Die Arbeiter, die Bestandteile von Computern oder Autos herstellen, sind oft über die Welt verstreut und kooperieren ökonomisch enger als mit ihren jeweiligen Staatsgenossen. Die gemeinte Kooperation kann nur die Verflechtung zwischen den Bürgern desselben Staats sein, die durch Leistungen an den Staat wie Steuerzahlungen und Wehrdienst und Leistungen vom Staat wie Recht und Sicherheit hergestellt wird. Die soziale Kooperation, für die Rawls Gerechtigkeitsgrundsätze sucht, welche die Grundlage zur Bestimmung von Gerechtigkeitsregeln auf anderen Gebieten sein sollen, setzt daher Institutionen und Grenzen von Staaten ohne Begründung als grundsätzlich akzeptabel voraus. Man könnte Rawls' Vorgehen wie folgt zu rechtfertigen versuchen. Jede Theorie der Veríeí'/Mngígerechtigkeit müsse mit der Begründung von Prinzipien beginnen, die die Verteilung auf einem begrenzten Gebiet regeln. Denn zum einen gebe es auf der Welt zu viele verschiedene Kulturen mit ihren eigenen Gerechtigkeitsintuitionen, als daß man mit der Begründung einer globalen Verteilungsgerechtigkeit rechnen dürfe; zum andern dürfe man im Rahmen einer Theorie der Verteilungsgerechtigkeit nicht an der Wirklichkeit der bestehenden Staaten und den besonderen Pflichten und Rechten ihrer Bürger vorbeigehen, die aus den wechselseitigen Leistungen ihrer Bürger im Aufbau ihrer nationalen Institutionen und Reichtümer über Generationen hinweg erwachsen. In jedem Fall aber könne, was an Mängeln bei diesem Ansatz entstehen mag, durch eine anschließende Theorie der internationalen Verteilungsgerechtigkeit ausgeglichen werden. Ob man nun national oder global beginnt, am Ende könne das Ergebnis nicht verschieden sein. Rawls selbst hat sein Vorgehen entspre174 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 4. 175 Ebd., 377f; vgl. Political Liberalism, a.a.O., 244f und 21. 176 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 457 und 378. Vgl. auch Rawls, The Law of Peoples, a.a.O., 62f. Auch in: S.Shute/S.Hurley (eds.), On Human Rights, The Oxford Amnesty Lectures 1993, New York 1993, 42-82, 75.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

chend verteidigt, als er zu einer Theorie der globalen Gerechtigkeit (einem law of peoples) überging: „Wouldn't it be better to start with the world as a whole ... and discuss the question whether, and in what form, there should be states, or peoples, at all? Some writers... think that a social contract constructivist v i e w " - d.h. die Rawlsschen Methode - „should proceed in this manner and that it gives an appropriate universality from the start. / 1 think there is no clear initial answer to this question. W e should try various alternatives and weigh their pluses and minuses. Since in working out justice as fairness I begin with domestic society, I shall continue from there as if what has been done so far is more or less sound. So I simply build on the steps taken until now, as this seems to provide a suitable starting point for the extension to the law of peoples. A further reason for proceeding thus is that peoples as corporate bodies organized by their governments now exist in some form all over the world. Historically speaking, all principles and standards proposed for the law of peoples must, to be feasible, prove acceptable to the considered and reflective public opinion of peoples and their governments." 1 7 7 Rawls' Verteidigung bestätigt, daß der Ausgang von den nationalen Gesellschaften darauf festlegt, die gegebenen „peoples" und „governments" anzuerkennen. Wenn er hervorhebt, d a ß alle Prinzipien und Kriterien eines Nationenrechts (law of peoples) den abgewogenen Meinungen der Nationen und ihrer Regierungen entsprechen müsse, hat er zwar recht, spricht aber als politischer Praktiker und nicht als Philosoph. Er spricht als politischer Ratgeber zur Frage, wie eine politisch durchsetzbare Konvention zur Sicherung bestimmter Handlungsweisen und Rechte auf internationaler Ebene aussehen muß. Das gehört zu den A u f g a b e n politischer Philosophen, aber ersetzt nicht die erste Aufgabe, die Regeln der Gerechtigkeit allgemein g e n u g zu b e s t i m m e n , u m die Existenzgründe von Staaten und ihre R e c h t e im G e b r a u c h natürlicher R e s s o u r c e n unabhängig von den historischen Fakten erkennbar zu machen.

Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze und ihre Rangordnung W a s beschließen nun die Vertragsparteien des Urzustands gemäß der Fairneßgerechtigkeit für j e n e s Verhältnis, das nach Rawls die Grundlage aller Gerechtigkeit ist, die Kooperationsgerechtigkeit? Folgende zwei Grundsätze: „First: each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone's advantage, and (b) attached to positions and offices open to all." 178 Der erste Grundsatz betrifft die Freiheit, weil er jedem das „ausgedehnteste" 1 7 9 System der Grundfreiheit zuspricht: Freiheiten, die unaufhebbar sind und keine Ausnahme dulden. Der zweite betrifft die Gleichheit, weil er Umverteilung zugunsten der ökonomisch Schlechtergestellten fordert. P a r a d o x e r w e i s e aber kann der Freiheitsgrundsatz auch das Prinzip der unbedingten Gleichheit heißen, weil er jedem eine unbedingte Gleichheit in den Grundfreiheiten sichert, und der Gleichheitsgrundsatz das Prinzip der bedingten Ungleichheit, weil er soziale Ungleichheiten unter einer Bedingung erlaubt: daß die Schlechtergestellten besser gestellt sind als unter der Bedingung der unbedingten Gleichheit. 177 Rawls, The Law of Peoples, a.a.O., 42f. Auch in: S.Shute/S.Hurley (eds.), On Human Rights, a.a.O., 50. 178 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 60. 179 Zu dieser Bestimmung vgl. unten das Kapitel zu van Parijs.

Rangordnung der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze

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Der erste Grundsatz bestimmt, „roughly speaking, political liberty (the right to vote and to be eligible for public office) together with f r e e d o m of speech and assembly; liberty of conscience a n d f r e e d o m of thought; f r e e d o m of the person along with the right to hold (personal) property; and f r e e d o m f r o m arbitrary arrest and seizure as defined by the concept of the rule of law. T h e s e liberties are all required to b e equal by the first principle, since citizens of a j u s t society are to have the same basic rights."180 Er formuliert die liberale Grundidee der gleichen F r e i h e i t , die auch K a n t f o r m u l i e r t , w e n n er d a s R e c h t b e s t i m m t als d e n „ I n b e g r i f f d e r Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit z u s a m m e n vereinigt werden kann." 1 8 1 Mit ihm stellt sich Rawls in der T a t g e m ä ß s e i n e m A n s p r u c h in die T r a d i t i o n von L o c k e , R o u s s e a u u n d Kant. Z w a r b e g r ü n d e n diese die gleiche Freiheit nicht als A n w e n d u n g von Fairneßgerechtigkeit, sondern als ein Prinzip der V e r n u n f t oder des Naturrechts. A b e r inhaltlich besteht im ersten Grundsatz Übereinstimmung. Der zweite Grundsatz „applies, in the first approximation, to the distribution of income and wealth and to the design of organizations that m a k e use of differences in authority and responsibility ... While the distribution of wealth and income need not be equal, it must be to every o n e ' s advantage, and at the same time, positions of authority and offices of c o m m a n d must be accessible to all. O n e applies the second principle by holding positions open, and then, subject to this constraint, arranges social and e c o n o m i c inequalities so that e v e r y o n e benefits." 1 8 2 Er enthält zwei F o r d e r u n g e n , die der Zugänglichkeit von Ämtern und anderen B e f e h l s b e f u g n i s g e b e n d e n Stellen f ü r alle (Teil b i m o b i g e n Zitat) u n d die d e r Nützlichkeit ökonomischer Unterschiede f ü r alle (Teil a). R a w l s unterscheidet sie als „principle of fair equality of opport u n i t y " (Chancengleichheitsprinzip)m u n d als „ d i f f e r e n c e p r i n c i p l e " (Unterschiedsoder Differenzprinzip)m und behauptet einen Vorrâng des ersten vor d e m zweiten. E b e n s o behauptet er f ü r den ersten Grundsatz einen V o r r a n g vor d e m zweiten: „This ordering means that a departure f r o m the institutions of equal liberty required by the first principle c a n n o t be justif i e d by, or c o m p e n s a t e d for, g r e a t e r s o c i a l and e c o n o m i c a d v a n t a g e s . T h e d i s t r i b u t i o n of wealth and income, and the hierarchies of authority, must be consistent with both the liberties of equal citizenship and equality of opportunity." 1 8 5 D i e s e r Vorrang entspricht R a w l s ' A n k n ü p f u n g an die liberale Tradition, ist a b e r mit der F a i r n e ß g e r e c h t i g k e i t unverträglich. M i t s e i n e m ersten G e r e c h t i g k e i t s g r u n d s a t z will R a w l s der liberalen Idee R e c h n u n g tragen, d a ß man jeden M e n s c h e n als M e n s c h e n in seiner Freiheit, ü b e r sich selbst zu b e s t i m m e n , a c h t e n m u ß u n d nicht nur als Mittel f ü r einen Z w e c k , a u c h nicht den des Allgemeinwohls, gebrauchen darf. A b e r der Schleier der Unwissenheit schließt den Gebrauch des M e n s c h e n als Mittels nicht nur nicht aus; er ermutigt sogar dazu. Rationale, auf ihren eigenen Vorteil b e d a c h t e V e r t r a g s p a r t e i e n u n t e r d e m S c h l e i e r der U n w i s s e n h e i t h a b e n g u t e G r ü n d e , R e g e l n zu b i l l i g e n , n a c h d e n e n M e n s c h e n n u r als M i t t e l z u r N u t z e n steigerung zwar nicht aller oder eines j e d e n gebraucht w e r d e n , wohl aber des Individuums, das sie die größte C h a n c e n haben, selbst zu sein. Ein Beispiel kann das verdeutlichen.

180 181 182 183 184 185

Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 61. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 61. Ebd., 73. Ebd., 65. Ebd., 61.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Im Urzustand entspricht es dem rationalen Nutzenkalkül eines jeden, einem Transplantationsgesetz folgenden Inhalts zuzustimmen. Nach einem gerechten Verfahren, etwa durch das Los, müßte jeder glückliche Besitzer zweier gut arbeitenden Nieren gezwungen werden können, eine Niere einem unglücklichen Nierenlosen zu überlassen. Unter dem Schleier der Unwissenheit weiß zwar niemand, ob er selbst vom Unglück getroffen wird, ohne funktionierende Nieren geboren zu sein. Aber jeder weiß zwei Dinge. Erstens, die Wahrscheinlichkeit, selbst nierenlos zu sein, ist (eine verläßliche medizinische Technik vorausgesetzt) mit mathematischer Notwendigkeit so groß wie die, einer von den Gesunden zu sein, von denen eine Niere einem Kranken übertragen wird. Zweitens, das Leben des Nierenlosen ist unglücklicher als das Leben eines Gesunden, der auf eine Niere verzichten muß. Also wird unter Rawls' dichtem Schleier der Unwissenheit, der keinen Blick darauf erlaubt, mit welchen Nieren man geboren wird, rationalerweise jeder für erzwingbare Nierenverpflanzungen zugunsten Nierenloser sein. Dann aber werden Individuen nur als Mittel für einen Zweck, wenn auch für einen guten, gebraucht. Dem Nierenbeispiel lassen sich viele andere zugesellen. Wir können uns die Regel denken, daß ein Prozent der Autofahrer, die bei Trunkenheit den Tod anderer Verkehrsteilnehmer verursachen, nach einem Losverfahren hingerichtet werden; oder die Regel, daß Verdächtige auch dann verurteilt werden, wenn die Beweislage nicht sicher ist.186 Die eine Regel wird die Zahl der Verkehrsopfer, die andere die der Verbrechensopfer erheblich senken. Daher müssen die Personen im Urzustand solche Regeln billigen, wenn nur die Wahrscheinlichkeit, zu den hingerichteten Autofahrern oder den ungerecht Verurteilten zu gehören, kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit, zu den Verkehrs- oder Verbrechensopfern zu gehören. Also kann Rawls' Fairneßgerechtigkeit nicht garantieren, daß Menschen nicht nur als Mittel gebraucht werden; sie verletzt die Idee der Menschenwürde, wenn wir diese als die Eigenschaft verstehen, die verbietet, jemanden nur als Mittel zu gebrauchen. Wenn Rawls dennoch den Vorrang des ersten Grundsatzes behauptet, dann weil er von ihm intuitiv überzeugt ist. Aber seine Intuition findet in der Fairneßgerechtigkeit keinen Raum. Man könnte einwenden, Rawls' Auflistung der „bases of self-respect" 187 als ein Grundgut schließe Regeln aus, die den Gebrauch von Menschen als bloßer Mittel erlauben. Erzwingbare Nierenverpflanzungen oder lotteriebestimmte Unfallfahrerhinrichtungen seien mit Selbstachtung unvereinbar. Jedoch sind sie es nur, wenn man schon anerkennt, daß Menschen nicht nur als Mittel gebraucht werden dürfen, sondern eine Behandlung verdienen, die ihren Gebrauch als Mittel auch dann verbietet, wenn der Zweck gut ist. Eine solche Anerkennung ist von den Vertragsparteien im Urzustand nicht zu erwarten. Sie könnten vielmehr in der erzwungenen, aber losbestimmten Nierenverpflanzung einen Grund der Selbstachtung sehen. Rawls beansprucht dennoch, seine Gerechtigkeitsgrundsätze drückten die wechselseitige Achtung der Menschen voreinander aus; man könne sogar mit Kant sagen, „they manifest in 186 Diese beiden Beispiele gebrauchte Thomas P o g g e in einem Vortrag, den er im Januar 1997 in Hamburg hielt. Das Nierenbeispiel entnehme ich Argumenten von Nozick, Anarchy, a.a.O., 237, u.a. Müßte man nach Rawls' Fairneßgerechtigkeit nicht auch positiv auf den Vorschlag eines (fingierten) Transplantationschirurgen reagieren, der gern als Muster utilitaristischer Unmoralität angeführt wird (diskutiert bei J.J. Thomson, The Realm of Rights, Cambridge/Mass, 1990,135—48 ), von seinen fünf im Sterben liegenden Patienten vier dadurch zu retten, daß er die Organe des fünften unter die restlichen aufteilt? 187 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 62.

Rangordnung der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze

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the basic structure of society men's desire to treat one another not as means only but as ends in themselves". Er äußert allerdings auch Bedenken gegen diese Rede: „The notion of treating men as ends in themselves and never as only a means obviously needs an explanation. There is even a question whether it is possible to realize. How can we always treat everyone as an end and never as a means only?" 188 Die Frage ist aus doppeltem Grund berechtigt. Erstens weil Rawls' Fairneßgerechtigkeit für die Idee eines Selbstzwecks keinen Platz hat; zweitens aus einem Grund, der von Rawls' Ansatz unabhängig ist. Wir können zwar unsere näheren Bekannten als Selbstzweck behandeln, aber sobald wir in ökonomischen, administrativen und oft auch politischen Beziehungen handeln, behandeln wir die, mit denen wir zu tun haben, funktional oder als Mittel zu institutionell vorgegebenen Zwecken. Auch wenn der Verkäufer den Kunden als König behandelt, ist er für ihn doch ein Mittel, den Job erfolgreich zu erfüllen, den er bezahlt bekommt. Für den Unternehmer sind die Angestellten ebenso ein Mittel, sein Kapital zu vermehren, auch wenn er darauf verweisen kann, daß er ohne Profit keine Arbeitsplätze anbieten könnte. Für den Angestellten ist der Unternehmer nicht weniger ein Mittel, zu Geld und Lebensunterhalt zu kommen. Der Politiker kann für den Wähler ebenso ein bloßes Mittel sein, seine Interessen durchzusetzen, wie umgekehrt der Wähler für den Politiker. Nun sind diese Beziehungen nicht notwendig eine Verletzung der Achtung vor dem Menschen, nämlich dann nicht, wenn der Mensch jeweils nicht nur als Mittel behandelt, wenn er vielmehr auch als Selbstzweck anerkannt wird. Das aber ist nicht schon dann der Fall, wenn der Kunde oder der Angestellte mit einem Lächeln empfangen wird, sondern wenn sie Rechte haben, die ihnen grundsätzlich den gleichen Betätigungsraum sichern wie jedem andern und sie davor bewahren, der Willkür eines Chefs oder eines Angestellten ausgesetzt zu sein. Das heißt, daß jeder als Selbstzweck geachtet wird, wenn seine gleiche Freiheit gesichert ist. Demgemäß sieht auch Rawls Achtung dann gesichert, wenn sie seiner Bestimmung der gleichen Freiheit entspricht. Sie könne daher nicht mit Kant als Forderung verstanden werden, jeden nach denselben Prinzipien zu behandeln; das würde Achtung mit formaler Gerechtigkeit gleichsetzen. (Tatsächlich ist das nicht Kants Lösung; er fordert vielmehr eine Behandlung nach denselben VernHrc/üprinzipien und versteht unter Vernunft nicht die Rationalität des Eigeninteresses, sondern eine Rationalität, die sich selbst und die der andern achtet; eben deshalb ist bei ihm die Achtung eine Achtung vor der Würde des Menschen). Sie müsse vielmehr darin bestehen, einander nach Regeln zu behandeln, denen jeder im Urzustand zustimmen kann.' 89 Aber die Prinzipien, denen man im Urzustand zustimmen kann, würden Zwangstransplantationen und Unfallfahrerhinrichtungen erlauben; diese sind nach Rawls' Gerechtigkeitskonzeption mit der wechselseitigen Achtung der Menschen vereinbar. Mit Kants und dem intuitiven Verständnis von Achtung dagegen nicht; mit ihnen kann Rawls keine Übereinstimmung beanspruchen. Um eine Alternative zu Rawls' Bestimmung der Idee des Selbstzwecks und der gleichen Freiheit zu entwickeln, genügt es freilich nicht, sich auf Kant zu berufen. Denn Kants Bestimmung ist ihrerseits unzulänglich; er unterschätzte die Schwierigkeit der Bestimmung des Eigentums, über das jeder außer über sich selbst auch verfügen darf, wenn er gleiche Freiheit hat. Darüber hinaus könnte Rawls oder, wenn er nicht selbst in 188 Ebd., 179. 189 Ebd., 180.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

den sauren Apfel seiner eigenen Fairneßgerechtigkeit beißen will, ein konsequenterer Rawlsianer die vorgetragenen Beispiele der Zwangstransplantation und der Unfallfahrerhinrichtungen akzeptieren und sie als gerechte Lösungen potentieller Interessenkonflikte anerkennen. Wir müssen daher erstens fragen: Was spricht gegen eine konsequente, wenn auch kontraintuitive und von Rawls selbst nicht gebilligte Anerkennung der Fairneßgerechtigkeit? Und zweitens: Läßt sich eine Alternative zur Fairneßgerechtigkeit entwickeln? Diese beiden Fragen sollten nicht voneinander getrennt gesehen werden. Läßt sich eine Alternative entwickeln, die den Intuitionen der meisten weniger entgegensteht als die Konsequenzen der Fairneßgerechtigkeit, so ist sie eben deshalb vorzuziehen. Gegen die Rawlsche Fairneßgerechtigkeit sprechen viele Intuitionen, aber sie wäre doch anzuerkennen, wenn keine andere Konzeption ähnliche kontraintuitive Konsequenzen vermeiden kann. Eine Alternative müßte die Nutzenorientierung der Fairneßgerechtigkeit vermeiden. Das aber setzt sie einer Schwierigkeit aus, deretwegen vermutlich Rawls überhaupt an der Nutzenorientierung festgehalten hat. Die Nutzenorientierung ist der Weg, sozialen Rechten Schlechtergestellter Einlaß in das anerkannte Reich unbedingter Menschen- und Bürgerrechte zu gewähren, den ihnen die Rechts- und Freiheitskonzeption der klassischen politischen Philosophie, gerade auch Kants, zu verweigern scheint.190 Können Individuen ihre Rechte nicht durchsetzen, so werden sie in modernen Gesellschaften nur als Mittel behandelt. Auch wenn wir noch nicht angeben und begründen können, was diese Rechte und was unter ihnen soziale Rechte sind, können wir doch schon voraussagen, daß sozial Schwächere nur dann als Selbstzweck behandelt werden, wenn ihre sozialen Rechte gesichert sind. Was immer sie sind, sie schaffen die materialen Voraussetzungen dafür, daß auch der aus welchen Gründen auch immer Schwächere sich dem Versuch anderer entziehen kann, ihn nur als Mittel zu gebrauchen. Das aber ist das Motiv, das Rawls zur Entwicklung der Konzeption der Fairneßgerechtigkeit und des Differenzprinzips bewegt hat. Auch wenn er es selbst vielleicht nicht deutlich genug hervorhebt, muß man es im Urteil über seine Theorie beachten. Soziale Rechte glaubt Rawls nicht durch das liberale Rechtsprinzip allein begründen zu können. Dies garantiere nur jedem einen gleichen Betätigungsraum für seine Anlagen. Da diese aber unterschiedlich sind, schaffe ihre gleiche Betätigung soziale Ungleichheit, und diese, so nimmt Rawls in Übereinstimmung mit vielen anderen Kritikern des klassischen Liberalismus an, erlaubt den erfolgreichen Betätigern der eigenen Anlagen, die weniger Erfolgreichen nur als Mittel zu behandeln. Deshalb will Rawls das liberale Freiheitsprinzip, das er in seinem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz formuliert, durch ein zweites ergänzen, das von den Erfolgreicheren Abgaben an die Schlechtergestellten verlangt. Um es zu begründen, genüge nicht die Berufung auf die gleiche Freiheit eines jeden, über die eigenen Anlagen zu verfügen; hinzukommen müsse eine Orientierung am Nutzen eines jeden. Nur so sieht Rawls den auch von den klassischen Liberalen anerkannten Anspruch des weniger Erfolgreichen auf Achtung seiner Würde gerechtigkeitswirksam werden. Ist diese Kritik am klassischen Liberalismus berechtigt? Lassen sich soziale Rechte nicht aus dem liberalen Rechtsprinzip allein ableiten? Wenn das doch möglich ist, wenn, genauer, 190 Immerhin hat auch nach Kant der „Souverän als Landesherr, besser als Obereigentümer (dominus territorii)", das Recht, „die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbeizuschaffen" (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Allg. Anm. Β und C nach § 49, a.a.O., 148 und 151).

Rangordnung der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze

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die Würde eines jeden aus dem klassischen Rechtsbegriff von Kant ableitbar wäre, wenn das Verletzungsverbot, dessen Durchsetzung der klassische Rechtsbegriff dem Staat zur einzigen Aufgabe macht, genügt, jedem seine Behandlung als Selbstzweck zu sichern, so wäre nicht nur der Rückgriff auf Rawls' zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz, sondern auch schon auf seine nutzenorientierte Fairneßgerechtigkeit überflüssig. Tatsächlich spricht einiges dafür, daß zur Begründung sozialer Rechte das liberale Rechtsprinzip selbst genügt. Zwar folgt Rawls mit der Aufstellung seines zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes einer vorherrschenden Auffassung vom Ungenügen des liberalen Rechts, das dem Staat nur die Durchsetzung des Verletzungsverbots, aber keiner sozialen Rechte erlaube, aber eine nüchterne Betrachtung der Gründe dieser Auffassung kann sie nicht stützen. Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts sahen sich liberale Staaten zunehmend einer Kritik ausgesetzt, die in Westeuropa zum Ausbau des Rechts- zum Sozialstaat führte. Nach dieser Kritik sichert der Staat nicht jedem die gleiche Freiheit, wenn er sich auf den Schutz jedes Bürgers vor Verletzungen beschränkt. Er schützt dann die lohnabhängigen Arbeiter und Angestellten nicht vor den Risiken der Industriegesellschaft: vor Arbeitslosigkeit, vor Hilflosigkeit bei Krankheit, Unfall und im Alter, vor dem Mangel an Mitteln, die eigenen Kinder auszubilden. Um sie davor zu schützen, führten viele dieser Staaten öffentliche Schulen, Krankenhäuser und solidarische Pflichtversicherungen ein, die von jedem einen Beitrag nach seinem Vermögen verlangen und jedem Leistungen nach seinen Bedürfnissen gewähren und der Idee nach die Besserverdienenden stärker belasten. Für die Gegner des Sozialstaats ist eine solche durch Besteuerung und Solidarversicherungen erzwungene Belastung illegitim. Denn die Belastung trifft Individuen, die nicht unbedingt verantwortlich sind für die Arbeitslosigkeit, Krankheit oder anderen Schwächen derer, zu deren Gunsten sie belastet werden. Nach dem liberalen Rechtsverständnis ist Zwang erlaubt nur zur Durchsetzung des Verletzungsverbots, das verbietet, daß Menschen einander Zwang antun. Die Notlagen aber, die der Sozialstaat verhindern oder mildern soll, sind nach den Gegnern des Sozialstaats nur naturbedingte Unglücksfälle, keine menschengemachte, für die Menschen verantwortlich gemacht werden könnten. Die Gegner des Sozialstaats, die sich auf das liberale Recht berufen, können die sozialen Rechte nur kritisieren, weil sie die Not, vor der soziale Rechte schützen, als naturbedingl verstehen. Aber sind sie naturbedingt? Der Verfechter sozialer Rechte hat gute Gründe zu behaupten, daß sie in modernen Gesellschaften aufhören, naturbedingt zu sein. Er kann anerkennen, daß das Recht auf die Durchsetzung des Verletzungsverbots beschränkt bleiben muß, aber darauf bestehen, daß die Notlagen, vor denen der Sozialstaat schützt, sich in modernen Gesellschaften leicht durch menschengemachte Institutionen verhindern lassen. Werden aber nicht ursprünglich naturbedingte Notlagen dann zu menschengemachten, wenn sie durch soziale Einrichtungen verhindert werden können, die zwar Bessergestellte belasten können, ihnen aber wegen der Geringfügigkeit der Belastung zumutbar sind? Das war jedenfalls die Meinung Hegels, eines der ersten Philosophen, die soziale Rechte anerkannten, als er sagte: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird." 191 Wir brauchen noch eine ausführliche Erörterung der sozialen Rechte und der Bedingungen der Verwandlung naturbedingten in menschengemachtes Unglück. Aber schon ein erster 191 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 244, Zus.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Blick kann zeigen, daß es nicht ganz aussichtslos ist, sie durch das traditionelle liberale Rechtsverständnis, und das heißt: im Rahmen des Verletzungsverbots, zu begründen. Das Differenzprinzip Rawls bleibt mit dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz im Rahmen der liberalen Tradition und sprengt sie auch nicht durch sein Chancengleichheitsprinzip. Das Differenzprinzip ist seine entscheidende Neuerung. Es erlaubt zwar Abweichungen von der strikten Gütergleichheit aller, wenn sie jedem nützen. Aber es unterwirft auch die Bessergestellten der erzwingbaren Pflicht, von ihrem überdurchschnittlichen Einkommen den Schlechtergestellten abzugeben, wie immer sie zu ihrem Reichtum gekommen sind, und erlaubt ihnen gemäß dem schon erwähnten Stachanovprinzip nur so viel mehr zu behalten, wie zur Maximierung der Produktion nötig ist. Es beschneidet die Freiheit, seine Talente zur Bereicherung im Rahmen der Gesetze zu gebrauchen, und ist deshalb auf die heftigste Kritik gestoßen. Für es argumentiert Rawls auch unabhängig von Fairneßgerechtigkeit und Urzustandskonstruktion. Aus diesem unabhängigen Argument versucht er sogar einen neuen Grund für die Fairneßgerechtigkeit zu entwickeln. Daher reicht meine Kritik an der Konstruktion des Urzustands und der Fairneßgerechtigkeit nicht aus, um das Differenzprinzip zu verwerfen. Rawls' unabhängiges Argument besteht im Vergleich des Differenzprinzips mit konkurrierenden Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit: dem Prinzip der natürlichen Freiheit, der liberalen Gleichheit und der natürlichen Aristokratie. Sie alle setzen die Befolgung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes und eine freie Marktwirtschaft voraus. 192 In diesem Vergleich steht das Differenzprinzip für die demokratische Gleichheit und einen Wohlfahrtsstaat, der gemäß dem Differenzprinzip die Schlechtergestellten am Einkommenszuwachs der Bessergestellten teilhaben läßt. Die natürliche Freiheit steht für einen Minimalstaat, wie ihn Nozick und andere Libertaristen befürworten, und die natürliche Aristokratie für einen fiktiven Staat, in dem die Talentierten (die „natürliche Aristokratie") ihre Talente (die ihnen von der Natur oder der Lotterie der Gene geschenkten Privilegien) nur zum Nutzen der weniger Talentierten gebrauchen. Die liberale Gleichheit vertritt einen liberalen Staat, der die natürliche Freiheit der Libertaristen durch das Prinzip der Chancengleichheit ergänzt. Dieser Vergleich gehört zu den interessantesten Anregungen, die die politische Philosophie Rawls verdankt. Er leidet jedoch darunter, daß die (libertaristische) natürliche Freiheit und die (Rawlssche) demokratische Gleichheit Rawls' besonderes Interesse auf sich ziehen und er die mittlere Position der liberalen Gleichheit stiefmütterlich behandelt. Die sie charakterisierende Chancengleichheit erläutert er nur mit den wichtigen, aber unzureichenden Hinweisen auf ein öffentliches Schulsystem und die Verhinderung krasser Reichtumsakkumulation. Versteht man, vage genug, unter Chancengleichheit die Gleichheit aller zu Beginn ihrer selbstverantwortlichen Lebensführung, so gehören zur Chancengleichheit auch solche Institutionen, die oft als Leistungen eines Sozial- oder Wohlfahrtsstaats gelten, wie der Schutz gegen unverschuldete Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit oder ihre Folgen. Rawls zählt sie nicht zur liberalen Gleichheit und arbeitet deshalb mit falschen Gewichten, wenn er in der Abwägung der konkurrierenden Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit der demokratischen Gleichheit den Vorrang vor der liberalen Gleichheit gibt.

192 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 66.

Das Differenzprinzip

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Nach dem Prinzip der natürlichen Freiheit (die besser liberale oder formale Freiheit heißen sollte) 193 ist eine Verteilung gerecht, wenn sie durch eine Grundstruktur bestimmt wird, die dem Effizienzprinzip und der Offenheit von Stellen und Ämtern für die Qualifizierten genügt. Effizienz versteht Rawls als Pareto-Optimalität, nach der j e d e Verteilung effizient ist, die nicht ohne Verschlechterung auch nur einer Person geändert werden kann. 194 Der Zugang zu den Stellen wird nicht durch Standes- oder Geburtsrechte festgelegt, aber er wird auch nicht j e d e m Begabten, etwa auch d e m arm geborenen, durch ein öffentliches Erziehungssystem ermöglicht; das Recht auf gleichen Zugang zu ihnen bleibt formal. Die Güterverteilung ist daher das Ergebnis der Zufälle, mit welchen Anlagen und in welche Familien und soziale Verhältnisse jemand geboren wird und wie er sie entwickeln und anwenden kann: „the cumulative effect of prior distributions of natural assets - that is, natural talents and abilities - as these have been developed or left unrealized, and their use favored or disfavored over time by social circumstances and such contingencies as accident and good fortune".' 9 5 Rawls' Urteil über die natürliche Freiheit läßt seinen wichtigsten Grund für die Behauptung des D i f f e r e n z p r i n z i p s , wenn nicht seiner gesamten Gerechtigkeitstheorie erkennen: „Intuitively, the most obvious injustice of the system of natural liberty is that it permits distributive shares to be improperly influenced by these factors so arbitrary from a moral point of view." 1 9 6 Natürliche und soziale Zufälle oder Kontingenzen, die bestimmen, wie jemand lebt und was er an Gütern erwirbt, seien willkürlich vom Standpunkt der Moral. Was Rawls damit meint, versuche ich nach Betrachtung der weiteren konkurrierenden Verteilungsprinzipien zu klären. Das Prinzip der liberalen Gleichheit fügt der (formalen) Offenheit der Stellen den ersten Teil von Rawls' zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz hinzu, das Prinzip der Chancengleichheit (equality of opportunity): „The thought here is that positions are to be not only open in a formal sense, but that all should have a fair chance to attain them. Offhand it is not clear what is meant, but we might say that those with similar abilities and skills should have similar life chances ... The liberal interpretation ... seeks, then, to mitigate the influence of social contingencies and natural fortune on distributive shares. To accomplish this end it is necessary to impose further basic structural conditions on the social system. Free market arrangements must be set within a framework of political and legal institutions which regulates the overall trends of economic events and preserves the social conditions necessary for fair equality of opportunity. T h e elements of this f r a m e w o r k are familiar enough ... preventing excessive accumulations of property and wealth and ... maintaining equal opportunities of education for all."' 9 7 Die liberale Gleichheit ist das System von Institutionen, das alle soziale Kontingenz der Faktoren der Verteilung auszuschalten sucht. Die natürliche Freiheit sucht nur die soziale 193 Der Name natürliche Freiheit ist nicht glücklich gewählt, da er traditionell die Freiheit im Naturoder vorstaatlichen Zustand benennt, Rawls aber den Zustand meint, in dem sein erster Gerechtigkeitsgrundsatz (folglich auch die Gerechtigkeit von Nozicks Minimalstaat) befolgt wird. Vgl.dagegen etwa Kant, Metaphysik der Sitten, § 53: „... im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges ...". Liberale oder formale Freiheit würde besser als natürliche Freiheit ausdrücken, was Rawls meint. 194 195 196 197

Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 66f. Ebd., 72. Ebd. Ebd., 73.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Kontingenz der Standesunterschiede auszuschalten; die liberale Gleichheit will auch die soziale Kontingenz des Reichtums und der nicht durch Geburt festgelegten Macht ausschalten. Ein Mittel zu diesem Ziel ist ein öffentliches Schulsystem, das jedem unabhängig von Besitz und Einfluß seiner Familie die Ausbildung seiner Anlagen ermöglicht, die ihm in der Konkurrenz um Stellen und Ressourcen erst eine Chance gibt, seine Fähigkeiten ebenso zu betätigen und zu entwickeln wie Kinder aus bessergestellten Familien. Dies Mittel genügt offensichtlich nicht. Wir werden als notwendige Institutionen der liberalen Gleichheit noch Pflichtversicherungen und relativ marktunabhängig angebotene Arbeitsplätze kennenlernen.198 Wenn Rawls nur das öffentliche Schulsystem als eine Institution der Chancengleichheit nennt, bezeugt das sein Desinteresse an der liberalen Gleichheit. Es reicht Rawls in jedem Fall nicht zur Verteilungsgerechtigkeit. Diese sieht er erst dann erreicht, wenn außer aller sozialen auch die natürliche Kontingenz ausgeschaltet wird: „For one thing, even if it (die liberale Gleichheit) works to perfection in eliminating the influence of social contingencies, it still permits the distribution of wealth and income to be determined by the natural distribution of abilities and talents. Within the limits allowed by the background arrangements, distributive shares are decided by the outcome of the natural lottery, and this outcome is arbitrary from a moral perspective. There is no more reason to permit the distribution of income and wealth to be settled by the distribution of natural assets than by historical and social fortune. Furthermore, the principle of fair opportunity can be only imperfectly carried out, at least as long as the institution of the family exists... Even the willingness to make an effort, to try, and so to be deserving in the ordinary sense is itself dependent upon happy family and social circumstances. It is impossible in practice to secure equal chances of achievement and culture for those similarly endowed, and therefore we may want to adopt a principle which recognizes this fact and also mitigates the arbitrary effects of the natural lottery itself." 199 Dies Argument - oder das Bündel von Argumenten, das Rawls hier flicht - soll sogleich betrachtet werden. Es behauptet als moralisch notwendig ein Prinzip, das Institutionen fordert, die nicht nur wie das öffentliche Schulwesen der sozialen Lotterie entgegenwirken, sondern auch der natürlichen Lotterie der Anlagen oder Gene. Wie dies Prinzip zu konzipieren ist, zeigt das Prinzip der natürlichen Aristokratie, das zwar nicht wie die liberale Gleichheit die Chancengleichheit fordert, aber dafür das Wort Adel verpflichtet als die Forderung versteht, daß natürliche Anlagen verpflichten: „the advantages of persons with greater natural endowments are to be limited to those that further the good of the poorer sectors of society". 200 Die Vorteile, die jemand von seinen Begabungen hat, müssen auch den Armen zugute kommen. Genau dies Gebot, die eigenen natürlichen Talente zugunsten der weniger Talentierten zu gebrauchen, versteht Rawls als sein Differenzprinzip, das zusammen mit der Chancengleichheit seinen zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz ausmacht. 201 Die Präsentation des Differenzprinzips als Verbindung der liberalen Gleichheit mit der natürlichen Aristokratie erklärt, warum Rawls nicht ein bescheideneres und populäreres Verteilungsprinzip gewählt hat, nämlich das der absichernden Gerechtigkeit, wie man es nennen könnte. Dies sichert ebenfalls jedem ein Mindesteinkommen, aber knüpft nicht jeden 198 199 200 201

Siehe dazu im letzten Teil das Kapitel über die liberale Gleichheit. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 73f. Ebd., 74. Ebd., 75.

Text

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Einkommenszuwachs an die Bedingung der Besserstellung der Schlechtergestellten. Man braucht nur im Bekanntenkreis entsprechende Testfragen zu stellen, um folgende Präferenz der absichernden Gerechtigkeit vor dem Differenzprinzip zu bestätigen: „Subjects were concerned, on the one hand, that no one should have to live in poverty; on the other hand, they wanted to ensure that the able and hardworking had the chance to reap large rewards. These two concerns were best met by imposing an income floor and then maximizing the average salary that individuals could receive above it. The difference principle was rejected because it emphasized the first concern to the entire exclusion of the second." 202 Die absichernde Gerechtigkeit entspricht nicht der Intuition der natürlichen Aristokratie, daß man seine Talente nicht für sich, sondern für andere einsetzen soll. In jedem Fall kann Rawls mit gutem Grund annehmen, im Urzustand würde man das Differenzprinzip und nicht das Prinzip der absichernden Gerechtigkeit wählen. Denn die absichernde Gerechtigkeit verbietet keine Anhäufung des Reichtums in einigen wenigen Familien und damit auch nicht die Abhängigkeit des Reichtums oder des Primärgüterbesitzes von den Kontingenzen der Geburt. Es wäre daher nicht im eigenen Interesse, sie dem Differenzprinzip vorzuziehen. Man kann mit der Demoskopie kein philosophisches Argument widerlegen, wenn man nicht für die Aufklärung sorgt, die das philosophische Argument unterstellt. Der Vergleich mit der natürlichen Aristokratie macht auch deutlich, daß das Differenzprinzip auch krasse Verschiedenheiten der Anlagen zu pflegen erlaubt, weil es verhindert, daß sie zu krassen Vermögens- und Machtunterschieden werden: „... the difference principle represents, in effect, an agreement to regard the distribution of natural talents as a common asset and to share in the benefits of this distribution whatever it turns out to be. Those who have been favored by nature, whoever they are, may gain from their good fortune only on terms that improve the situation of those who have lost out. ... No one deserves his greater natural capacity nor merits a more favorable starting place in society. But it does not follow that one should eliminate these distinctions. There is another way to deal with them. The basic structure can be arranged so that these contingencies work for the good of the least fortunate." 203 Mit diesen Beschreibungen gelingt es Rawls, die Vision einer moralischen Gesellschaft und Lebensführung zu entwerfen, wie sie heute selten zu finden ist. Aber zwei Dinge müssen wir beachten. Erstens argumentiert Rawls unabhängig von der Faimeßgerechtigkeit und dem Urzustand. Sein Argument läßt sich zwar als eine Überlegung von Personen im Urzustand rekonstruieren, aber darauf beruht nicht seine Überzeugungskraft. Wenn die Parteien im Urzustand übereinkommen, daß wer immer von ihnen glücklich talentiert geboren wird, seine Talente zugunsten der weniger Glücklichen gebrauchen muß, dann kommen sie deshalb darin überein, weil jede damit rechnen muß, nur als durchschnittlich Begabte geboren zu werden. Dies Kalkül kann aber nicht beeindrucken, wenn man sieht, daß es auch Nierenzwangsverpflanzungen oder lotteriebestimmte Unfallfahrerhinrichtungen billigen muß. Folgen wir dagegen Rawls' Appellen daran, daß die natürliche und soziale Lotterie der Erfolgsfaktoren moralisch unakzeptable Willkür sei, so folgen wir einer nutzenwnabhängigen moralischen Auflehnung gegen die Macht von Zufällen, von denen wir wissen, daß wir ihnen entgegenwirken können.

202 David Miller, What the People Think, in: Ethics 102, 1992, 578f. 203 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 102.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

Zweitens müssen wir beachten, daß Rawls an die Moral insgesamt appelliert und nicht an die Gerechtigkeit. Die Moral verlangt gewiß, daß wir uns nicht von Zufällen bestimmen lassen, sondern unsere Anlagen auch gegen widrige Umstände entfalten, denn zu ihr gehört nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Wohltätigkeit. Die Wohltätigkeit verlangt allerdings, daß wir dem anderen gegen widrige Umstände seiner Entfaltung helfen. Aber verlangt es auch die erzwingbare Gerechtigkeit? Betrachten wir Rawls' Argumentation näher. Die Begründung unabhängig von der Fairneßgerechtigkeit Rawls' entscheidender Schritt zum Differenzprinzip in seinem fairneßgerechtigkeitsunabhängigen Begründung ist die Behauptung, nicht nur die Güterverteilung nach den historischen und sozialen Zufällen sei unakzeptabel, sondern auch die nach den Talenten der Individuen. Das eine sei eine Bestimmung der Verteilung durch eine soziale, das andere eine durch die natürliche Lotterie, und sie zu akzeptieren sei in beiden Fällen „arbitrary from a moral point of view". 204 Wir können diese Behauptung auch als einen inhaltlichen Beitrag zur Frage verstehen, ob über die Produkte der Kooperation (etwa der zwei Bäcker unseres Beispiels) nach Leistung oder nach der Fairneßgerechtigkeit zu entscheiden ist.,Nicht nach Leistung', lautet nun die Auskunft, ,denn was und wie jemand zur Produktion beiträgt, ist durch seine Möglichkeiten, Talente und Anstrengungen bestimmt, aber deren Verteilung unter den Produzenten ist das Ergebnis einer sozialen und natürlichen Lotterie, die moralisch willkürlich und unakzeptabel ist.' Diese Behauptung ist ein Argument zugunsten der Fairneßgerechtigkeit und setzt sie nicht voraus. Ist sie wahr, so wird die Konzeption der Leistungsgerechtigkeit ebenso fragwürdig wie die Auffassung, daß in unserem Bäckerbeispiel der Neunstundenbäcker neun und der Einstundenbäcker ein Brot erhalten sollte. Nach Rawls' Lotterieargument ist die Leistung nur das Ergebnis einer Lotterie sozialer und natürlicher (genetischer) Faktoren. Das Bäckerbeispiel kann allerdings auch fragwürdig machen, ob man mit Rawls das menschliche Handeln als das Produkt einer sozialen und natürlichen Lotterie betrachten kann. Fragen wir jedoch zuerst: Warum ist das Hinnehmen der sozialen und natürlichen Lotterie der Erfolgsfaktoren moralisch unakzeptabel? Rawls trägt seine Behauptung in zwei Stufen vor. Auf der ersten Stufe weist er auf soziale Hindernisse der Betätigung von Talenten und Fähigkeiten, welche die liberale Gleichheit im Unterschied zur natürlichen Freiheit nicht duldet. Es gibt einen starken Grund, diese Behinderung f ü r willkürlich und ungerecht zu halten. Der Verfechter der natürlichen (oder formalen) Freiheit plädiert gegen Privilegien der Geburt für die Freiheit des Individuums, über sich und sein Vermögen nach eigenem Urteil zu verfügen und alle Tätigkeiten, Berufe und Ämter zu wählen, in denen er seine Tauglichkeit beweisen kann. Die historischen Verfechter der natürlichen Freiheit waren die frühen Bürger, die gegen die Vorrechte der Aristokratie stritten. Das Prinzip der natürlichen Freiheit ist das Recht eines jeden, seine Fähigkeiten auf allen Gebieten zu betätigen, auch auf solchen, die bisher einer privilegierten Klasse vorbehalten waren. Bringt nun eine Gesellschaft in Befolgung dieses Rechts neue Privilegien hervor, diesmal nicht die der Aristokratie, sondern des Reichtums, so appelliert man an eben dies Recht auf freie Betätigung der Talente, wenn man unter Berufung auf die Chancengleichheit die Beseitigung der neuen Privilegien fordert, die der Betätigung der Talente im Weg stehen. In 204 Ebd., 72; vgl. ebd., 74 („arbitrary from a moral perspective").

Die fairneßgerechtigkeitsunabhängige Begründung

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beiden Fällen stehen soziale Hindernisse dem Recht entgegen, über sich und seine Vermögen zu verfügen. Der Verfechter der liberalen Gleichheit und der Verfechter der natürlichen oder liberalen Freiheit fechten für dieselbe Sache: für das Recht, unbehindert von sozialen Barrieren über sich und seine Vermögen zu verfügen. Sie kämpfen beide gegen das Unrecht einer sozialen Lotterie, die die Betätigung der eigenen Fähigkeiten behindert. Dennoch besteht ein Unterschied im Kampf für die formale Freiheit und für die liberale Gleichheit. Die Geburtsschranken, gegen die der Verfechter der natürlichen Freiheit kämpft, sind das Produkt von Gewalt, die die Privilegierten gegen die Benachteiligten ausüben; eine Verletzung des Rechts eines jeden auf Selbstbestimmung. Die Schranken des Reichtums dagegen, die der Verfechter der liberalen Gleichheit bekämpft, können ohne Gewalt durch freiwillige Akte des Tauschs oder andere rechtliche Handlungen wie die Heirat der Angehörigen reicher Familien entstehen. Wenn sie auch menschengemacht sind und die Armen benachteiligen, sieht der Libertarist in ihnen kein Unrecht, weil sie rechtlich zustande kamen. Rawls hält dagegen die Benachteiligung der Armen durch die Reichen für ebenso unannehmbar wie die Benachteiligung durch Standesschranken „from a moral point of view". Aber vom Standpunkt der Gerechtigkeit ist das schlicht falsch. Ob man durch Standes schranken benachteiligt wird, die Folge von Gewalt sind, oder durch Reichtumsschranken, die Folge von Glück, Talent oder Fleiß sind, macht den Unterschied zwischen Unrecht und Rechtmäßigkeit aus. Auf der zweiten Stufe seiner Behauptung verweist Rawls auf die Ähnlichkeiten zwischen der sozialen und der natürlichen Lotterie und schließt von der Ungerechtigkeit der sozialen auf die Ungerechtigkeit nicht der natürlichen Lotterie selbst, aber der Entscheidung, sie hinzunehmen. Der Schluß leidet darunter, daß die Prämisse falsch ist: die soziale Lotterie ist nicht notwendig ungerecht, jedenfalls vom Standpunkt der ordinären oder intuitiven Gerechtigkeit. Allerdings kann man sie für moralisch unakzeptabel halten. Könnte es Rawls nicht gelungen sein zu zeigen, daß vom Standpunkt einer weniger ordinären Gerechtigkeit die soziale ebenso wie die Hinnahme der natürlichen Lotterie ungerecht ist? Tatsächlich bietet uns Rawls zwei Argumente, eines, welches das Programm der liberalen Gleichheit radikalisiert, und ein davon unabhängiges. Das radikalisierende Argument wird von Rawls' Beschreibung der Maßnahmen der liberalen Gleichheit gegen die Behinderung der Talente durch soziale Hindernisse impliziert. Diese seien unzulänglich, „at least as long as the institution of the family exists". Die sozialen Umstände seien so entscheidend, daß noch „the willingness to make an effort, to try, and so to be deserving in the ordinary sense" von ihnen abhänge. 205 Niemand verdient nach dieser Beschreibung die Früchte der Betätigung seiner Anlagen, weil jeder selbst in der Betätigung seiner Anlagen ein Produkt der sozialen Umstände ist. Rawls impliziert hier das Argument, daß sich niemand etwas als sein Verdienst zuschreiben und über es als sein verdientes Eigentum verfügen kann, weil jeder nur das Produkt von Bedingungen ist, für die er nicht verantwortlich ist: sozialer und natürlicher. Dies Argument impliziert die Verwerfung der Annahme der klassischen politischen Philosophie, der Mensch finde in seinem Körper und seinen Anlagen, „in his own Person" 206 , ein ursprüngliches Eigentum vor. Alles Eigentum muß nach Rawls als ein Lehen der Gesellschaft gelten. Rawls' Argument stützt sich auf zwei problematische Annahmen. Erstens darauf, daß wir durch soziale und natürliche Kontingenzen determiniert sind. Wir berühren hier eine alte 205 Ebd., 74. 206 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 27.

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Rawls' Fairneßgerechtigkeit

metaphysische Frage: Können wir überhaupt eine Entscheidung uns selbst zuschreiben? Die politische Philosophie kommt am Ende nicht darum herum, es mit dieser Frage aufzunehmen. Wenn sie an der politischen Idee der Freiheit festhalten will, wird sie dem Menschen auch eine Willensfreiheit zuschreiben müssen, kraft der wir selbst unverursachte Verursacher unserer Handlungen sind, unbewegte Beweger wie der aristotelische Gott, wenn auch nur dort, wo wir überlegt urteilen können. 207 Hier genügt es festzuhalten, daß Rawls' Determinismus unvereinbar ist mit seinem zweiten und unabhängigen Argument gegen die Hinnahme der natürlichen Lotterie. Denn dies nimmt an, wie wir gleich sehen werden, daß wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und selbst über unser Leben bestimmen können. Die zweite problematische Annahme in seinem Argument ist die Unterstellung, daß es ein ursprüngliches Eigentum, das nicht schon die Gesellschaft dem Eigentümer überlassen hat, nur dann geben kann, wenn man es verdient hat. Diese Annahme kann sich zwar darauf stützen, daß wir viele Güter nur dann als jemandes Eigentum anerkennen, wenn er sie verdient hat. Aber wenn wir den eigenen Körper und die eigenen Anlagen als unser ursprüngliches Eigentum betrachten, dann nicht, weil wir sie verdient hätten, sondern weil wir nur frei und verantwortlich sein können, wenn sie unser andere ausschließendes Eigentum sind. Wenn mein Körper und meine Anlagen nicht mein ursprüngliches Eigentum sind, worauf ich ein ausschließendes Verfügungsrecht habe, so kann ich für keine meiner Handlungen verantwortlich sein; denn meine Handlungen sind Verfügungen über meinen Körper und meine Anlagen. Nehmen wir dem Menschen seinen Körper als sein ursprüngliche Eigentum, so nehmen wir ihm seine Verantwortlichkeit. Das aber will auch Rawls nicht; daher ist sein Argument inkonsistent. Betrachten wir nun Rawls' zweites und vom Programm der liberalen Gleichheit unabhängiges Argument dafür, daß es vom Standpunkt der Moral willkürlich ist, die Menge der Primärgüter nach den Talenten verteilt sein zu lassen. Wenn Rawls behauptet, es gebe „no more reason to permit the distribution of income and wealth to be settled by the distribution of natural assets than by historical and social fortune" 208 , sieht er in beiden Fällen die Verteilung vom Zufall bestimmt und unterstellt, daß eine solche Bestimmung unvernünftig und eine Verletzung unserer Freiheit ist. Den Zufall der Geburt oder der Talente hinzunehmen entspricht nach dieser Unterstellung nicht unserem Vermögen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und unser Leben nach unserem Willen einzurichten. Unsrer Vernunft und Freiheit entspreche es vielmehr, die Regeln der Verteilungsgerechtigkeit selbst, bei Anerkennung der Vernunft und Freiheit aller Betroffenen, zu wählen. Genau das machen wir, wenn wir die Fairneßgerechtigkeit akzeptieren, denn dann erkennen die Verhandlungsparteien einander als frei an, weil sie einander einen Sinn für das eigene Gute, und als vernünftig, weil sie einander einen Sinn für das Gerechte unterstellen. „Thus men exhibit their freedom, their independence from the contingencies of nature and society, by acting in ways they would acknowledge in the original position." 209 Rawls argumentiert hier wieder für die Fairneßgerechtigkeit und setzt sie nicht voraus. Das Argument hat Überzeugungskraft. Die Freiheit und Vernunft, auf die es ein Verfahren zur Bestimmung von Gerechtigkeitsregeln gründet, unterscheiden sich nicht wesentlich von 207 Ich habe diese These näher ausgeführt in: Warum überhaupt etwas ist, a.a.O., bes. Kap. II, und in: Zum Problem der Willensfreiheit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49, 1995, 3 9 8 ^ 1 5 . 208 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 74. 209 Ebd., 256.

Die fairneßgerechtigkeitsunabhängige Begründung

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der Vernunft, auf dessen Wert ich die universale Moral gestützt habe. 210 Aber was für die Moral richtig ist, die in ihrer Sphäre der Wohltätigkeit nicht erzwingbar ist, muß nicht auch für die erzwingbar Gerechtigkeit richtig sein. Die Frage ist, ob es der Freiheit und Vernunft angemessen ist, die Reichtümer einer Gesellschaft, wie und von wem immer sie produziert werden, nach dem Differenzprinzip zu verteilen. Rawls sieht richtig, daß unserer Vernunft und Wahlfreiheit nur ein Leben angemessen ist, in dem wir uns nicht von Zufällen bestimmen lassen; er sieht auch mit Kant, daß sie uns dazu verpflichtet, jeden in seiner Freiheit zu achten. Aber er berücksichtigt nicht ausreichend, daß diese Achtung uns auch dazu verpflichtet, dem andern die Freiheit zu lassen, über sich und seine Anlagen selbst zu verfügen. Das Differenzprinzip legitimiert nun den Staat, jedem das von ihm Erworbene abzunehmen, soweit es nicht als ein Mittel zur Maximierung der Produktion gerechtfertigt kann. Ist eine solche Besteuerung ein unzulässiger Eingriff in die Verfügung über die eigene Person? Rawls könnte das bestreiten. Die Besteuerung, so könnte er sagen, verletzt nicht die Freiheit, über sich, seine Fähigkeiten und Talente, zu verfügen; sie nimmt nur einen Teil dessen, was jemand durch die Betätigung seiner Fähigkeiten erworben hat. Diese Verteidigung ist zu schwach. Es ist zwar richtig, daß die Freiheit eines Menschen schwerer verletzt wird, wenn er in der Verfügung über seine Fähigkeiten, als wenn er in der Verfügung über deren Produkte behindert wird. Dieser Unterschied ist, wie wir noch sehen werden, für die Begründung der sozialen Rechte bedeutend. Aber wenn mir vom Ergebnis meiner freien Verfügung über meine Fähigkeiten regelmäßig ein Teil abgenommen wird, obgleich die Existenz dieses Teils mir zuzurechnen ist, so ist dies Nehmen ein Eingriff in meine Freiheit und für jeden unzulässig, der wie Rawls die Freiheit für die Grundlage der Moral hält. Daß der Zweck dieses Eingriffs moralisch gut, nämlich wohltätig ist, macht den Eingriff nicht zulässig. Denn er ist erzwungen und damit eine Verletzung der Freiheit, die auch die Wohltätigkeit voraussetzt. Der Schluß, den wir aus dieser Kritik von Rawls' Argumenten für das Differenzprinzip ziehen müssen, ist klar: dies Prinzip hält der Kritik nicht stand; daher ist es sowenig wie seine Bestimmung der gleichen Freiheit durch es akzeptabel. Dieser Schluß kann allerdings die Frage aufwerfen, ob Sozialrechte überhaupt je begründbar sein können. Wenn die Anerkennung der Freiheit als Grundlage der Moral verbietet, Personen einen Teil des Produkts ihrer Arbeit zu nehmen, sei es auch zu wohltätigen Zwecken, kann es dann Sozialrechte geben? Wie können dann Minimalstaat und Manchesterliberalismus noch kritisiert werden? Diese Frage geht von einer falschen Voraussetzung aus: als wären die Reichtümer, welche die Durchsetzung von Sozialrechten angreifen würde, das Produkt der Arbeit ihrer Besitzer. Sie sind vielmehr das Ergebnis privilegierten Zugangs zu den natürlichen Ressourcen und anderen Vermögen, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Sozialrechte dürfen nicht auf Prinzipien gründen, die dem Produzenten sein Recht auf sein Produkt schmälern; sie müssen es vielmehr schützen. Die wichtigste Grundlage sozialer Rechte findet sich durch Unterscheidung der Quellen des Reichtums in Arbeit, Natur und das ererbte Vermögen vorangegangener Generationen. Die Natur ist Gemeineigentum und das ererbte Vermögen kein Privateigentum. Auf ihren Gebrauch hat jeder, der unverschuldet in Not gerät, einen Rechtsanspruch. Er reicht nicht aus, aber liefert ein wichtiges Glied in der Begründung sozialer Rechte. Wie das im einzelnen geschieht und welche Sozialrechte anerkannt werden müs210 Vgl. oben das dritte Kapitel des ersten Teils.

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Nozicks natürliche Freiheit

sen, muß sich in der Diskussion der Rawls folgenden politischen Philosophen zeigen. Rawls aber hat trotz seiner Konzentration auf die Kooperationsgerechtigkeit die Voraussetzung aller Produktion, die natürlichen Ressourcen, mit keinem Wort bedacht. Das ist einer seiner großen Mängel, die seine gute Absicht der Begründung sozialer Rechte nur eine gute Absicht hat bleiben lassen.

2. Nozicks natürliche Freiheit Zu Rawls' frühesten Kritikern gehört Robert Nozick. Er stellte seine Kritik in den Dienst des Libertarismus, einer politischen Bewegung, der es um die Beschneidung des Staats zum Minimalstaat geht, „limited to the narrow functions of protection against force, theft, fraud, enforcement of contracts, and so on". 2 " Wie der Libertarismus alle Theorien kritisiert, die für die in den USA weitgehend fehlenden sozialen Rechte Begründungen suchen, so kritisiert Nozick als führender amerikanischer Libertarist den führenden amerikanischen Verteidiger sozialer Rechte Rawls. Diese Kritik erinnert an die Kritik Schopenhauers, der nicht weniger scharf als Nozick den Staat auf den Schutz vor offener Gewalt und Betrug festnageln wollte, und dabei vermutlich seinen Rivalen Hegel im Auge hatte, der als einer der ersten Philosophen soziale Rechte verteidigte. 212 Wie Schopenhauer Hegel in Witz und Leichtigkeit des Stils überlegen war, so Nozick Rawls. Aber wie Schopenhauer verkennt auch Nozick die soziale Wirklichkeit seiner Zeit. 213 Nozicks Kritik besteht hauptsächlich im Nachweis unakzeptabler Konsequenzen aus Rawls' Thesen; ihr fehlt aber eine Verteidigung der eigenen Prämissen. Zu diesen gehört Lockes Annahme, daß der Mensch an seinem Körper und seinen Talenten ein ursprüngliches Eigentum hat. Diese Annahme diente Locke als Stütze für seine Beschränkung der Staatsaufgaben auf den Schutz des Privateigentums seiner Bürger 214 , die sich der Libertarismus zum Programm gemacht hat. Locke konnte diese Beschränkung aber auf die Voraussetzung stüt-

211 Nozick, Anarchy, a.a.O., ix. 2 1 2 Vgl. Steinvorth, Ein Beitrag H e g e l s zur aktuellen Gerechtigkeitsdiskussion, in: Rechtsphilosophische Hefte 4 , 1 9 9 5 , 111-28. 2 1 3 Ein Beispiel für Schopenhauers Polemik gibt folgende Stelle aus seiner Preisschrift Uber die Grundlage der Moral, a.a.O., 115, die vermutlich auf Hegel zu münzen ist: „Weil die Forderung der Gerechtigkeit bloß negativ ist, läßt sie sich erzwingen: denn das neminem laede kann von Allen zugleich geübt werden. Die Zwangsanstalt hiezu ist der Staat, dessen alleiniger Zweck ist, die Einzelnen vor einander und das Ganze vor äußeren Feinden zu schützen. Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten ihn verdrehn zu einer Moralitäts-Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hintergrunde der Jesuitische Zweck lauert,die persönliche Freiheit und individuelle Entwickelung des Einzelnen aufzuheben, um ihn z u m bloßen Rade einer Chinesischen Staats- und Religionsmaschine zu machen." Wie Nozick nimmt Schopenhauer an, die Notlagen, vor denen die sozialen Rechte schützen, seien naturbedingt und nicht menschengemacht. Beider Kritik am Staat der Erziehungsanstalt und der Religionsmaschine paßt jedoch kaum in eine Zeit, die den Staat als Vernichtungsmaschine erlebt hat und eine Erbauungsanstalt außerhalb der Kontrolle der Staaten in den Medien multinationaler Konzerne erträgt. 2 1 4 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 123.

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zen, daß jeder sich durch seine Arbeit Eigentum an Land dort erwerben konnte, wo noch genug unbebaut war, nämlich in Amerika. 215 Nozick fehlt diese Voraussetzung. Trotz ihrer Schwächen ist Nozicks Theorie bis heute der große Gegenentwurf zu Rawls' Theorie geblieben. Er hat nicht nur durch Anführung vieler Beispiele gezeigt, wie kontraintuitiv Rawls' Argumente für das Differenzprinzip sind, und den Glauben an die Fairneßgerechtigkeit nachhaltig erschüttert. Er hat vor allem gezeigt, wie überzeugend und unverzichtbar Annahmen sind, die durch Rawls' Theorie gefährdet werden: die Annahmen der Eigenverantwortlichkeit der Individuen und der Ursprünglichkeit des Rechts, über sich selbst, die eigenen Anlagen und die Ergebnisse ihres Gebrauchs zu verfügen. Steiner, Dworkin und van Parijs suchen jeder auf seine Weise einen Weg zwischen Rawls und Nozick, aber keiner erreicht dabei die Konsequenz von Nozick. Zwar ist Nozick in seinen Ergebnissen so kontraintuitiv wie Rawls in vielen seiner Argumente. Aber die Theorie insgesamt ist eine konsequente Verteidigung der liberalen Freiheit, die Rawls natürliche Freiheit nennt, wenn sie auch unhaltbar in ihren Unterstellungen über die soziale Wirklichkeit ist. Warum nur unrechtliche Benachteiligungen kompensationspflichtig sind Stärke und Schwäche zugleich von Nozicks Ansatz ist sein Ausgang von Rechten von Individuen, die einerseits nicht verletzt werden dürfen, anderseits die Grenzen abstecken, die das Handeln nicht überschreiten darf, ohne illegitim zu werden. Rechte setzen dem Handeln keine Ziele, sondern Schranken 216 , also kann auch der Staat, der nur Rechte schützt, nur Schranken setzen, nämlich dagegen, daß die Rechte der Individuen verletzt werden. Nozick beginnt sein Buch angemessen mit den Sätzen: „Individuais have rights, and there are things no person or group may do to them (without violating their rights). So strong and far-reaching are these rights that they raise the question of what, if anything, the state and its officials may do. How much room do individuals leave for the state?" 217 Daß er einen Ansatz verwirft, nach dem in einer wie auch immer idealisierten Vertragssituation über die Regeln der Verteilung der Reichtümer der Gesellschaft entschieden wird, versteht sich. Die Verteilung muß sich nach den Rechten richten, die die produzierenden und kooperierenden, austauschenden und reale Verträge schließenden Individuen haben; für Vertrag, Urzustand und Fairneßgerechtigkeit ist kein Platz. Es lassen sich zwar Umstände denken, wo sie einen Platz hätten, aber solche Verhältnisse hält Nozick - irrtümlich - für irrelevant: „If things fell from heaven like manna, and no one had any special entitlement to any portion of it, and no manna would fall unless all agreed to a particular distribution, and somehow the quantity varied depending on the distribution, then it is plausible to claim that persons placed so that they couldn't make threats, or hold out for specially large shares, would agree to the difference principle rule of distribution. But is this the appropriate model for thinking about how the things people produce are to be distributed?" 218 Nur wenn wir dem Manna-Modell folgen könnten, käme Rawls' Fairneßgerechtigkeit in Frage. Nozick übersieht aber, daß uns in den natürlichen Ressourcen tatsächlich ein Manna 215 Vgl. ebd., § 36. Locke nimmt aber an, daß das Land gekauft werden muß, wenn er auch den niedrigen Wert des Lands in Amerika betont, vgl. § 43. 216 Nozick, Anarchy, a.a.O., 29. 217 Ebd., ix. 218 Ebd., 198.

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zufällt, auf das niemand ein Vorrecht hat, das nur unter bestimmten sozialen Bedingungen brauchbar wird und von dem wir, je nachdem wie wir seinen Gebrauch regeln, mehr oder weniger gebrauchen können. Nur weil er ebenso wie Rawls die Bedeutung der Naturgüter verkennt, kann er aus seiner Theorie des Eigentums und der Gerechtigkeit unplausible politische Konsequenzen ziehen. Sein Ausgang von Rechten der Individuen läßt Verteilungsgerechtigkeit nur in dem Sinn zu, daß sie die Gerechtigkeit des Erwerbs von Gütern ist, nicht aber die Gerechtigkeit der Aufteilung von Gütern, die nicht ursprünglich Privateigentum sind. Das ist ein schwerer Fehler, weil er dadurch nicht den natürlichen Ressourcen Rechnung tragen kann, hindert ihn aber weder an einer berechtigten Kritik an Rawls, weil dieser sowenig wie er den natürlichen Ressourcen Rechnung trägt, noch an der Entwicklung überzeugender Prinzipien des privaten Eigentums und der Zurechnung von Handlungen, für die der Handelnde belangt werden kann. Auch für Nozick ist Gerechtigkeit gleiche Freiheit, aber wie für die liberale Tradition ist für Nozick die gleiche Freiheit die freie Verfügung einer Person über sich und ihr Eigentum, die nur beschränkt werden darf und muß, um sie an einer unrechtlichen Tat gegen einen andern zu hindern, nicht aber um sie zu zwingen, einen anderen aus einer Not zu helfen, für die sie nicht verantwortlich ist; genauer: deren Entstehung ihr nicht als ihre unrechtliche Tat zugeschrieben werden kann. Die Schlechterstellung der Schlechtergestellten aber, zu deren Verbesserung das Differenzprinzip die Bessergestellten zwingt, kann nach Nozick den Bessergestellten nicht als ihre unrechtliche Tat zugeschrieben werden. Also ist das Differenzprinzip illegitim. Muß man den Bessergestellten aber nicht doch die Schlechterstellung der Schlechtergestellten als ihre unrechtliche Tat zuschreiben? Dafür läßt sich folgendes Argument anführen. Für ihre Besserstellung sind die Bessergestellten selbst verantwortlich; wenn sie sie nicht selbst betrieben haben, sondern sie ihnen durch Geburt oder Glück zugefallen ist, haben sie ihr doch zugestimmt und nicht etwa ihren Reichtum verschenkt. Sie können aber nur besser gestellt sein, wenn andere schlechter gestellt sind; also sind sie auch für die Schlechterstellung der andern verantwortlich. Schließlich ist die Schlechterstellung der andern etwas Schlechtes; die meisten würden ihre Besserstellung vorziehen. Also sind die Bessergestellten auch für etwas Schlechtes verantwortlich; die Herbeiführung des Übels der Schlechterstellung der anderen ist ihnen als ihre verantwortliche Tat zuzuschreiben. Ein Übel herbeizuführen aber ist unrechtlich; also haben die Bessergestellten die Schlechterstellung der Schlechtergestellten durch eine ihnen zuschreibbare unrechtliche Tat herbeigeführt. Was ist faul an diesem Argument, das den meisten vermutlich sophistisch vorkommt? Es zeigt zwar, daß die Bessergestellten in einem bestimmten Sinn die Schlechterstellung der Schlechtergestellten verursachen oder herbeiführen: ihre Handlungen sind notwendige Bedingungen der Schlechterstellung der Schlechtergestellten. Aber diese Herbeiführung ist doch nicht schon deswegen, weil sie zu einem Übel führt, unrechtlich. Die Besserstellung der Bessergestellten und die implizierte Schlechterstellung der Schlechtergestellten kommt vielmehr so zustande, wie Thomas Nagel sie beschrieben hat: „Das Problem ist, daß Ungleichheiten, die unrecht erscheinen, von Ursachen herrühren können, an denen niemand beteiligt ist, der etwas Unrechtes getan hätte. Es scheint unfair, daß Menschen, die viel ärmer geboren werden als andere, ohne eigenes Verschulden benachteiligt werden. Doch solche Ungleichheiten bestehen, weil einige mit mehr Erfolg Geld verdienen konnten als andere und ihren Kindern so gut wie möglich geholfen haben; und da man gem jemand aus der eigenen ökonomischen Klasse heiratet, akkumulieren sich Reichtum und Einfluß und werden von Generation

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zu Generation weitergegeben. Die Handlungen, die zusammengenommen diese Ursachen bilden - Einstellungsentscheidungen, Ankäufe, Heiraten, Hinterlassenschaften und Bemühungen, seine Kinder zu versorgen und zu erziehen, erscheinen an sich nicht als unrecht. Was, wenn überhaupt, unrecht ist, ist das Ergebnis: daß einige Menschen ihr Leben mit unverdienten Nachteilen beginnen." 219 Nur wenn man die Unrechtlichkeit einer Handlung an ihren Folgen mißt, wie es der Utilitarismus allerdings verlangt, und man ökonomische Ungleichheiten als Übel betrachtet, wie es die meisten tun, kann man die Handlungen, durch die es zu ökonomischen Ungleichheiten kommt, als unrechtlich beurteilen. Aber ein solches Urteil ist kontraintuitiv, so intensiv man auch die ökonomischen Ungleichheiten verurteilen mag. Es impliziert das Verbot der Heirat von Reichen oder ihre Erlaubnis nur unter der Bedingung des Verzichts auf Reichtum und viele andere Freiheitsbeschränkungen. Rawls sieht zwar in der sozialen und natürlichen Kontingenz der ökonomischen Ungleichheiten einen hinreichenden Grund dafür, Reichtum zu besteuern. Aber er setzt sich eben dadurch der Kritik aus, Handlungen, die „an sich nicht als unrecht" erscheinen, wie Nagel sagt, als unrecht zu behandeln. Nach Nozick erscheinen sie nicht nur als nicht unrecht; sie sind auch nicht unrecht, weil sie nicht selbst Eingriffe in die Sphäre sind, in der jeder über sich und sein Eigentum verfügen darf. Wenn am Ende Individuen über weniger verfügen können als andere, dann sind die anderen zwar Mitursachen an diesem Ergebnis, aber nicht auf unrechtliche Weise. Nur wer unrechtlich zur Benachteiligung eines anderen beiträgt, kann für einen Ausgleich der von ihm mitverursachten Benachteiligung belangt werden. Das ist das Prinzip, auf dem Nozick besteht. Es gilt in den meisten Gesetzgebungen, wird aber sowohl von Rawls' Differenzprinzips als auch von utilitaristischen Theorien verletzt, die die Rechtlichkeit einer Handlung erst nach ihren schädlichen Folgen beurteilen können. Es gehört zu Nozicks großem Verdienst, dies Prinzip in der politischen Philosophie geltend gemacht zu haben. Denn wenn man auf es verzichtet, macht man die Rechtlichkeit einer Handlung zur Funktion ihrer Folgen. Woran aber mißt Nozick die Rechtlichkeit einer Handlung? Am selben Modell der Freiheit, das auch die politische Philosophie von Locke und Kant leitete: die Rechtlichkeit einer Handlung kann weder an ihren Folgen noch an Regeln gemessen werden, die sich nutzenmaximierende Personen unter einem Schleier der Unwissenheit geben, sondern nur daran, ob sie jemanden in seiner Verfügung über sich und sein Eigentum behindert. Ungerechtigkeit, so lehrt dagegen Rawls, „is simply inequalities that are not to the benefit of all". 220 Das ist nach Nozick ebenso wie nach dem Modell von Locke und Kant grundfalsch. Nach ihnen ist Ungerechtigkeit Verletzung Freiheitssphäre des anderen, die bei jedem durch die Verfügung über sich und sein Eigentum definiert ist; Eigentum wiederum ist alles, was jemand durch seine Arbeit oder Erfindung hervorgebracht oder von anderen durch Geschenk oder Tausch erhalten hat. Um das Kontraintuitive der Rawlsschen Gleichsetzung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit und das Intuitionenkonforme der eigenen Auffassung zu demonstrieren, konstruiert Nozick das Beispiel eines Basketballspielers, Wilt Chamberlain, der populär genug ist, um für jeden Auftritt einige Extragroschen von den Zuschauern fordern und erhalten zu können und so mehr Reichtum erwirbt als seine Kameraden. 221 Warum sollte der Reichtum, durch den er 219 Thomas Nagel, Was bedeutet das alles?, Stuttgart 1990, 68. Übersetzung von mir geändert. 220 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 62. 221 Nozick, Anarchy, a.a.O., 161.

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seine Kameraden übertrifft und der nicht allen nützt, ungerecht sein, so fragt Nozick. In der Tat haben Rawls und die Utilitaristen darauf keine andere Antwort als die bloße Versicherung ihrer eigenen Prinzipien. Aber diese werden am Beispiel unglaubwürdig. Nozick verwirft nach seinem Modell konsequenterweise auch das Prinzip der Chancengleichheit, das aus der natürlichen Freiheit die liberale Gleichheit macht. Er sieht dabei durchaus das Argument des Liberalen, der in der krassen sozialen Ungleichheit eine Wiederkehr der aristokratischen Privilegien erkennt, gegen die er oder seine Vorfahren gekämpft haben: „The person having better opportunities can be viewed not merely as someone better off, or as someone not choosing to aid, but as someone blocking or impeding the person having lesser opportunities from becoming better off." 222 Trotz der „power of the questions" sei die Chancengleichheit illegitim, weil sie das Prinzip verletzt, daß man nur für unrechtliche Benachteiligungen belangt werden kann. Wenn mein „blocking or impeding the person having lesser opportunities from becoming better o f f nicht unrechtlich ist, hat der von mir Benachteiligte keinen Kompensationsanspruch. Nozick macht dies durch folgendes Beispiel einer schweren Benachteiligung deutlich: „If the woman who later became my wife rejected another suitor (whom she otherwise would have married) for me, partially because (I leave aside my lovable nature) of my keen intelligence and good looks, neither of which did I earn, would the rejected less intelligent and less handsome suitor have a legitimate complaint about unfairness? Would my thus impeding the other suitor's winning the hand of fair lady justify taking some resources from others to pay for cosmetic surgery for him and special intellectual training, or to pay to develop in him some sterling trait that I lack in order to equalize our chances of being chosen? ... No such consequences follow."™. Es scheint in der Tat absurd, den abgewiesenen Liebhaber für die Mängel zu kompensieren, in denen ihn der Auserwählte übertrifft. Aber folgt daraus wirklich, daß auch der ökonomisch weniger Erfolgreiche ebensowenig eine Kompensation von seiten der Erfolgreicheren beanspruchen darf? Hier liegt der Einwand nahe, daß das Prinzip der kompensationspflichtigen Benachteiligung oder Schädigung im öffentlichen nicht dasselbe ist wie das im privaten Bereich. Aber warum sollten hier und da andere Prinzipien gelten? Nach Rawls hat es die politische Philosophie nur mit der Grundstruktur der Gesellschaft zu tun, der Art, in der „the major social institutions distribute fundamental rights and duties and determine the division of advantages from social cooperation". 224 Die Gerechtigkeit anderer Verhältnisse, wie die zwischen potentiellen Ehepartnern, hält er für unübertragbar auf die Grundstruktur. Aber warum sollte die Grundstruktur eine andere Art von Gerechtigkeit haben als die übrigen Verhältnisse? Muß das nicht zu einer doppelten Moral oder Gerechtigkeit führen? Wenn es unsinnig ist, Chancengleichheit in der Liebe und Freundschaft zu verlangen, warum ist es nicht unsinnig, sie in der Ökonomie und Politik zu verlangen? Der bloße Verweis darauf, daß nur die letzteren zur Grundstruktur gehören, hilft nicht weiter. Warum soll es besondere Regeln für die Grundstruktur oder „macrosituations" und für private Verhältnisse oder „microsituations" geben? „... since correct principles of justice are universally applicable, principles that fail for microsituations cannot be correct. Since Plato, at any rate, that has been our tradition; princi-

222 Ebd., 237. 223 Ebd. 224 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 7.

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pies may be tried out in the large and in the small. Plato thought that writ large the principles are easier to discern; others may think the reverse." 225 Nozick stellt zu Recht fest, daß Rawls keinen überzeugenden Grund dafür angibt, die Grundstruktur Gleichheitsansprüchen auszusetzen, die wir privaten Verhältnissen nicht zumuten. Rawls sieht solche Ansprüche darin begründet: Die Grundstruktur hat mit dem zu tun, wodurch Lasten und Nutzen sozialer Kooperation aufgeteilt werden. 226 Jeder sei an der gesellschaftlichen Zusammenarbeit beteiligt; daher müsse sogar der Bestgestellte um „the willing cooperation of everyone", sogar des Schlechtestgestellten bitten 227 und könne sich nicht Gleichheitsansprüchen entziehen. Gegen diese Annahme kann Nozick ohne Mühe zeigen, was mittlerweile die Arbeitslosigkeit demonstriert, daß die Bestgestellten keineswegs auf die Zusammenarbeit mit den Schlechtestgestellten angewiesen sind.228 Nozick macht sogar die legitime Freiheit, mit der Personen einander ihre Gunst schenken oder versagen, zum Muster für die legitime Freiheit, mit der man Güter aneignen und einander durch Güteraneignungen und -Schenkungen benachteiligen und bevorzugen darf. Nach der sozialistischen und kommunistischen Tradition, der er auch Rawls und die Utilitaristen zurechnet, müssen Güter nach der Formel verteilt werden: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedurfnissen. Denn in dieser Tradition werden Güter nicht als ursprünglich oder von vornherein privates Eigentum verstanden, über das man ebenso beliebig verfügen darf wie über seine persönliche Gunst; vielmehr als mehr oder weniger gesellschaftliches Eigentum, über das man nicht ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesellschaft insgesamt verfügen darf. Dagegen setzt Nozick die Formel: Jeder nach seiner Wahl, jedem nach der Wahl der andern: „ From each as they choose, to each as they are chosen. "229 Jeder, heißt das, gibt der Welt soviel an Gütern, wie er durch seine Verfügung über seine Talente hervorbringt; jeder erhält soviel, wie er durch die Entscheidungen der andern, ihm etwas zu schenken oder etwas für seine Leistungen zu geben, erwirbt. Güter werden hier als Dienstleistungen verstanden, die man einander mit derselben Willkür schenken und versagen darf wie die per-

225 226 227 228 229

Nozick, Anarchy, a.a.O., 204f. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 7. Ebd., 103. Nozick, Anarchy, a.a.O., 192-5. Ebd., 160. Nozicks ausführlichere Fassung lautet: „From each according to what he chooses to do, to each according to what he makes for himself (perhaps with the contracted aid of others) and what others choose to do for him and choose to give him of what they've been given previously (under this maxim) and haven't yet expended or transferred" (ebd.). D i e Formel Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen gebrauchte Marx als Verteilungsprinzip „einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel z u m Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen" (Marx, Kritik des Gothaer Programms, a.a.O., 17). Mit der Wahl einer formal ähnlichen Formulierung will Nozick zugleich auf Rawls' inhaltliche Ähnlichkeit und seine eigene inhaltliche Unähnlichkeit mit Marx verweisen. Tatsächlich steht Nozick Marx' Prinzip der Güterverteilung vor jener „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" näher als Rawls, weil er wie Marx und Locke in der Arbeit - dem produktiven Gebrauch der eigenen Anlagen - die wichtigste Rechtfertigung der Güteraneignung sieht.

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sönliche Gunst oder Liebe. Aber ist das angemessen? In allen Gütern steckt schließlich ein materieller Kern, den Menschen nicht geschaffen, sondern vorgefunden haben als das Manna, ohne das sie keinen Atemzug hätten tun können. Weil es keine aneigenbare Güter ohne natürliche Ressourcen gibt und diese kein ursprüngliches Privateigentum sind, muß man einen Unterschied zwischen der Freiheit der persönlichen Gunstzuwendungen und der Freiheit der Verfügung über aneigenbare Güter oder Reichtümer anerkennen, den Nozick übersieht. Allerdings führt die Anerkennung der Unterscheidung nicht zu einer Kritik an Nozicks Rawls-Kritik. Denn Rawls und viele andere stützen ihre Befürwortung der Chancengleichheit entweder darauf, daß eine unverschuldete Benachteiligung eines Menschen diesem ein Recht auf Kompensation durch Bessergestellte gibt, oder darauf, daß die Bessergestellten die Benachteiligung mitverursacht haben. Aber wenn diese Bedingungen zur legitimen Belastung des Bessergestellten ausreichen, so müßten sie auch den verschmähten Liebhaber zu Kompensationsforderungen an Nozick berechtigen, denn dieser ist an seinem Verschmähtwerden ebenso unschuldig (wir unterstellen hier mit Nozick, daß er ein mustergültiger Freier war und nur das Unglück hatte, daß Nozick seiner Frau besser gefiel), wie Nozick für seine Benachteiligung eine Mitursache war. Wenn es einen Unterschied ausmacht, ob man die Gunst eines anderen Menschen gewinnt oder das ausschließende Verfügungsrecht über eine Sache, dann kann der Unterschied nicht daran hängen, daß hier Handlungszurechnungen und Kompensationspflichten anders geregelt sind als dort. Er kann nur daran liegen, daß Personen berechtigt sind, ihre Gunst nach Belieben zu verschenken, aber nicht dazu, Güter nach Belieben anzueignen. Daran hindert sie das Element der Natur in ihnen, das sie zu mehr macht als Privateigentum. Nozick könnte gegen diese Kritik eine Theorie der Aneignung von Naturgütern anführen, nach der Naturgüter immer nur Privateigentum und nicht wie nach Locke Gemeineigentum der Menschheit sind, obgleich sie vorgefunden werden wie Manna. Er müßte eine überzeugende Theorie der legitimen Aneignung vorlegen, die eine Freiheit des Eigentümers begründet, die der Freiheit in der Wahl personaler Beziehungen gleichkommt. Tatsächlich legt er überhaupt keine Aneignungstheorie vor, wie er selbst hervorhebt 230 . Daher kann er zwar Rawls' Schluß von der Unverschuldetheit einer Benachteiligung auf ein Kompensationsrecht des Benachteiligten kritisieren, aber nicht zeigen, daß ökonomische Benachteiligungen nicht aus andern Gründen illegitim sind. Arbeit, Manna und seine Wertmessung Allerdings folgt Nozick Lockes Aneignungstheorie trotz oberflächlicher Kritik an ihr231 in wichtigen Teilen, insbesondere in der Anerkennung einer zu Recht berühmten Lockeschen Legitimitätsbedingung der Güteraneignung. Locke hält die Aneignung eines Guts durch

2 3 0 Ebd., 150. Vgl. ebd., xii - xiv. 231 Ebd., 174, spottet Nozick über Lockes Argument, man werde zum legitimen Eigentümer einer Sache, wenn man sie mit seiner Arbeit „vermischt", vgl. Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 27. Er übersieht (wie viele andere), daß Locke hier auf Arbeit als eine notwendige Bedingung legitimer Aneignung verweist, aber genauer nur den Teil eines Guts als legitim aneigenbar behauptet, der dem Wert der auf es gewendeten Arbeit entspricht. U m trotzdem die Aneignung des ganzen Werts eines Produkts durch den Produzenten zu rechtfertigen, behauptet Locke, §§ 4 0 und 43, der Wert des Naturguts, auf das Arbeit gewendet wird, sei vernachlässigenswert gering.

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Arbeit nur dort für berechtigt, wo von ihm genug in gleicher Qualität übrig bleibt: „where there is enough, and as good left in common for others". 232 Diese Bedingung entspricht seinem Argument, daß auch der Wert des Naturguts und nicht nur der Wert der Arbeit, die der Aneigner auf sie wendet, von diesem angeeignet werden darf, weil er so gering sei. Denn in dem Maß wie von einer natürlichen Ressource bei deren Aneignung nicht genug für andere übrig bleibt, wird sie knapp und steigt ihr Wert, so daß der Aneignende kein Recht mehr hat, den Wert des Naturguts mit dem seiner Arbeit für sich zu fordern. Nozick stimmt diesem Lockeschen „Proviso" grundsätzlich zu, und er muß es, wenn er wie Locke an der Idee der gleichen Freiheit festhält: „Thus a person may not appropriate the only water hole in a desert and charge what he will. Nor may he charge what he will if he possesses one, and unfortunately it happens that all the water holes in the desert dry up, except for his. This unfortunate circumstance, admittedly no fault of his, brings into operation the Lockean proviso and limits his property rights. Similarly, an owner's property right in the only island in an area does not allow him to order a castaway from a shipwreck off his island as a trespasser, for this would violate the Lockean proviso." Nozick erkennt hier an, daß die Eigentumsrechte bei bestimmten Gütern begrenzt sind und die bloße Unverschuldetheit der Benachteiligung einer Person in ihrem Gebrauch genügt, für den Benachteiligten eine Kompensation von seiten des Privilegierten zu verlangen. Er erkennt hier selbst stillschweigend den entscheidenden Unterschied zwischen Benachteiligungen an, die jemandem durch die Willkür geschehen, mit der Menschen einander ihre Gunst schenken, und Benachteiligungen, die jemandem durch die Willkür geschehen, mit der Menschen von Naturgütern Gebrauch machen. Diese Willkür muß auch nach Nozick so begrenzt werden, daß niemand im Gebrauch der Naturgüter benachteiligt wird. Er erkennt damit stillschweigend an, daß Naturgüter Gemeineigentum aller sind und jeder ein gleiches Recht auf Zugang zu ihnen hat. Dennoch glaubt er, daß daraus keine relevanten Konsequenzen für die politische Philosophie fließen. Denn er hält die Fälle einer Benachteiligung im Zugang zu den Naturgütern, für die die Aneignung des einzigen Wasserlochs in der Wüste ein Beispiel ist, für unbedeutend und Lockes Aneignungsbedingung „coextensive with some condition about catastrophe". 233 Nur in Katastrophenfällen muß nach Nozick für gleichen Zugang zu den Naturgütern gesorgt werden, weil im Normalfall ihre private Aneignung zu jedermanns Vorteil ist: der private Aneigner erhöht durch seine Arbeit an ihnen ihren Wert und nützt damit auch denen, die weniger von den Naturgütern aneignen können. Eine Gesellschaft, welche die private Aneignung von Naturgütern in der Weise billigt oder fördert, daß niemand durch soziale Schranken an seiner privaten Aneignung von Naturgütern gehindert wird, entspricht deshalb der Gerechtigkeit. Der freie Markt ist die Institution, die jedem eine solche Güteraneignung erlaubt und durch Kompensationszahlungen der Mehraneigner natürlicher Ressourcen an die Minderaneigner nur gestört wird. Daher schließt Nozick wie Locke, die kapitalistische Aneignung von Naturgütern vermehre ihren Wert so sehr, daß am Ende alle besser dran sind: „I believe that the free operation of the market system will not actually run afoul of the Lockean proviso.... the proviso will not... provide a significant opportunity for future state action." 234 232 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 27. 233 Nozick, Anarchy, a.a.O., 180f. 234 Ebd., 182.

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Nozicks natürliche Freiheit

Aber dies Glaubensbekenntnis ist aus doppeltem Grund verfehlt. Es geht erstens überhaupt nicht darum, ob die private Güteraneignung die Bedürfnisse und Interessen der Menschen optimal befriedigen oder ihnen nützen kann, sondern darum, ob sie berechtigt ist, wie klein immer ihr Wert sein mag. Erkennt man das Gemeineigentum von Naturgütern an, dann ist ihre Mehraneignung unberechtigt. Wenn Nozick, der die Nutzenorientierung konsequenter als Rawls kritisiert und sich in der Kritik der Kompensationspflichtigkeit nicht unrechtlicher Benachteiligungen verdient gemacht hat, nun nutzenorientiert argumentiert, ist das nicht nur ein Widerspruch, sondern zeigt die Schwäche seines Urteils über die Rolle natürlicher Ressourcen. Zweitens schließt die Knappheit natürlicher Ressourcen aus, daß ihr Gemeineigentumscharakter dem Staat keine „erhebliche Gelegenheit" zum Handeln geben könnte. Daß natürliche Ressourcen in ihrem Wert vernachlässigbar gering sind, konnte Locke mit einer gewissen Plausibilität annehmen, weil es noch unbehauten Boden in Amerika gab. Auf ihn verweist daher Locke auch den, der sich auf das Gemeineigentum der Erde beruft, das Locke zugleich mit dem Aneignungsrecht behauptet 235 : wenn auch das Land in England schon aufgeteilt ist, „let him plant in some in-land, vacant places of America ",236 Seit es auch im Inneren Amerikas kein freies Land mehr gibt; seit auch viele andere natürliche Ressourcen knapp sind, ist offensichtlich geworden, daß aus der Anerkennung von Lockes Proviso die Anerkennung folgt, daß das Gemeineigentum an Naturgütern nicht praktisch irrelevant ist, wie Locke meinte. Der Wert der wie immer - markt- oder planwirtschaftlich - genutzten Naturgüter darf dann nicht privat und auch nicht kollektiv oder national angeeignet werden, sondern muß als Gemeineigentum der Menschheit, auch künftiger Generationen, treuhänderisch im Interesse der Menschheit verwaltet werden. Das schließt Marktwirtschaft und Kapitalismus nicht aus, weil sie in solcher Treuhandverwaltung jeder andern Wirtschaftsweise überlegen sein könnten. Es unterwirft sie aber Bedingungen: sie müssen jedem Lebenden und allen Generationen als ihren gleichberechtigten Miteigentümern einen gleichen Zugang zu den Naturgütern sichern. Was das heißt, werden wir noch klären müssen. Vor seinem Glaubensbekenntnis zum freien Markt erwägt Nozick immerhin selbst den Gedanken, daß aus der Anerkennung des Gemeineigentums der natürlichen Ressourcen praktische Konsequenzen fließen könnten. Aber er verwirft diesen Gedanken mit dem Argument, man könne nicht berechnen, wieviel vom Wert eines fertigen Produkts auf die verbrauchten Rohstoffe gehen und wieviel auf die Arbeit. „No workable or coherent value-added property scheme has yet been devised." 237 Zweifellos ist es schwierig, eine Rechnung über die Anteile von Natur und Arbeit am Gesamtwert eines Produkts aufzumachen, wie sie schon Locke versuchte. 238 Aber eine solche Rechnung ist für die politische Philosophie nicht nötig. Daß die natürlichen Ressourcen Gemeineigentum aller Menschen sind, hat eine Bedeutung, die die Begriffe und Prinzipien einer ökonomischen Werttheorie prägen muß, sich aber nicht darin erschöpft. Sie hat auch eine ökonomisch nicht vermittelte politische Bedeutung. Denn die Politik kann und muß auch unabhängig von Wertberechnungen der von Locke versuchten und von Nozick für unmöglich erklärten Art dem Gemeineigentum natürlicher Ressourcen Rechnung tragen.

235 236 237 238

Locke, 2"d Treatise of Government, a.a.O., §§ 2 5 - 2 7 . Ebd., § § 3 5 f . Nozick, Anarchy, a.a.O., 175. Locke, 2 nd Treatise of Government, a.a.O., §§ 4 0 und 43.

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Das ist deutlich erkennbar bei der Aufgabe, künftigen Generationen die Naturbasis aller Menschen zu erhalten. Wenn deren Existenz vorauszusehen ist (etwa weil absehbar ist, daß die Lebenden Menschen hinterlassen werden, die wiederum Menschen hinterlassen werden), muß der Staat für die Durchsetzung ihrer Rechte sorgen. Zu diesen gehört das Recht, bei ihrer Geburt eine Welt mit Lebensmöglichkeiten vorzufinden, die denen ihrer Vorfahren gleichwertig sind. Daher muß der Staat auch durchsetzen, daß verbrauchte Naturgüter regeneriert und substituiert werden. Die dafür notwendigen Kosten ist er berechtigt und verpflichtet, aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt abzuschöpfen. Denn in diese ist der Wert der vernutzten Naturgüter eingegangen, zu deren Regeneration und Substitution der abgeschöpfte Teil legitimerweise gebraucht wird. Diese Staatsaufgabe ist mit Nozicks Libertarismus unvereinbar und doch allein aus Prämissen ableitbar, die Nozick anerkennt. Wie für das Verhältnis zwischen den Generationen, so hat das Gemeineigentum von Naturgütern auch Konsequenzen für das Verhältnis der Lebenden, und zwar auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Wenn der Verbrauch der natürlichen Ressourcen ungleich ist, ohne daß dem Mehrverbrauch eine für alle nützliche Mehrproduktion entspricht, sind die Unterverbraucher zu Kompensationen von den Mehrverbrauchern berechtigt. Wenn es daher unmöglich sein sollte, den Wert natürlicher Ressourcen gemäß einer konsistenten ökonomischen Werttheorie zu messen, so folgt daraus nicht, daß man ihren Gemeineigentumscharakter, den auch Nozick nicht bestreitet, unberücksichtigt lassen dürfte. Worauf es ankommt, ist, die Benachteiligung im Gebrauch der Naturgüter zu erkennen und zu kompensieren, auch wenn das Wertäquivalent von Kompensationsleistung und Benachteiligung nicht sicher ermittelbar ist. In manchen Fällen läßt sich der Wert eines Naturguts daran erkennen, was es kostet, es als Gemeineigentum zu erhalten. Um Reichtümer zu erwerben, genügt die Existenz von Naturgütern nicht. Die Dinge, die wir direkt verbrauchen, sind größtenteils kein Manna, das vom Himmel fällt; sie werden durch Arbeit geschaffen, zu der die Individuen ebenso wie die Nationen und andere Kollektive durchaus unterschiedlich beitragen. Das nicht hinreichend berücksichtigen zu können, ist eine Schwäche der Rawlsschen Theorie, die Nozick darin zu Recht kritisiert. Aber wir verbrauchen nicht nur das Produkt unserer (unterschiedlichen) Arbeit; wir verbrauchen auch die Naturgüter, die alle Menschen gleichermaßen nur vorgefunden haben. Alle von Menschen produzierten Güter haben eine Naturbasis, die Gemeineigentum ist und die Verfügung über sie Bedingungen unterwirft, die sie von der Verfügung über unsere Körper, Fähigkeiten und Gunst unterscheiden. Das nicht hinreichend zu berücksichtigen ist die entscheidende Schwäche von Nozicks Rawlskritik.

3. Steiners Gemeineigentum Hillel Steiner ist zwar nicht den politischen Philosophen, wohl aber den meisten übrigen Philosophen unbekannt, von einer weiteren Öffentlichkeit zu schweigen. Ihm fehlen die Qualitäten, die Rawls, Nozick oder Dworkin bekannt machten, aber er hat einen seltenen Vorzug. Er hält entschieden an zwei Thesen fest: daß Gerechtigkeit sich im Prinzip der gleichen Freiheit zusammenfassen läßt und keinen zweiten Grundsatz der Verteilung braucht und daß das Prinzip des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen nicht nur richtig, sondern auch wichtig und folgenreich für Theorie und Praxis der Politik ist. Diese beiden Thesen sind für jede künftige politische Philosophie wegweisend, weil ohne sie kein angemessenes Ver-

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Steiners Gemeineigentum

ständnis von Freiheit und Gleichheit gefunden werden kann. Die gleiche Freiheit wird untergraben, wenn man dem einen Prinzip der gleichen Freiheit noch ein Verteilungsprinzip zugesellt, aber sie trocknet zu einem formalen Recht aus, wenn man nicht eine Konsequenz der gleichen Freiheit anerkennt: daß natürliche Ressourcen Gemeineigentum aller sind. Steiner geht von derselben Gerechtigkeitskonzeption aus wie Nozick; er erkennt nur das Verletzungsverbot und kein (auf die Unverschuldetheit von Benachteiligungen gegründetes) Verteilungsprinzip als erzwingbar an. Er zieht jedoch andere Konsequenzen aus der Tatsache der Knappheit natürlicher Ressourcen. Er hält wie Nozick den Markt für das Instrument, das dem Grundrecht der Menschen, über sich selbst zu verfügen, am besten angemessen ist und ein zweites Gerechtigkeitsprinzip der Verteilung neben dem ersten des Verletzungsverbots überflüssig macht. Er rechnet sich daher zum Libertari s mus. Aber wieder im Gegensatz zu Nozick und unter Berufung auf denselben Henry George, den Nozick ausdrücklich verwirft 239 , erkennt er in der Tatsache der Generationenfolge und der natürlichen Abhängigkeit der Spätervon den Frühergeborenen eine unverschuldete und unrechtliche Benachteiligung der Späterkommenden im Zugang zu den Naturgütern. Diese Abhängigkeit muß weiter verstanden werden, als es Steiners Beschreibungen nahelegen. Es geht nicht nur um die mögliche Benachteiligung der späteren Generationen durch den Raubbau oder die Verschwendung der früheren Generationen, sondern um jede Benachteiligung, die jemand dadurch erleiden kann, daß er vom Zugang zu den knappen natürlichen Ressourcen ausgeschlossen ist, sei es durch sein „Späterkommen", sei es aus einem andern Grund. Nozick erkennt zwar wie Steiner (und vor ihm Locke), daß die „Späterkommenden" (oder die Nachkommen derer, die nie Grundeigentümer waren) das Pech haben können, kein aneigenbares Land vorzufinden oder durch die Privilegierung der Kinder aus privilegierten Familien im Zugang zu den Reichtümern einer Gesellschaft benachteiligt zu sein, sieht aber in diesem Umstand eine legitime Konsequenz des Rechts auf Verfügung über die eigenen Fähigkeiten. Steiner dagegen erkennt in diesem Umstand eine Verletzung des Gemeineigentums der natürlichen Ressourcen und weist dem Staat als der Institution der Sicherung der Eigentumsrechte die Aufgabe zu, das Gemeineigentum nicht weniger zu sichern als das Pnva/eigcntum. Zur Erfüllung dieser Aufgabe entwirft Steiner in einem ersten Anlauf einen sozialistischen Staat und in einem zweiten drei Steuern, die nicht weniger sozialistische Verhältnisse bewirken würden als der sozialistische Staat. Obgleich Steiner damit vom libertären Ideal eines Minimalstaats krass abweicht, beansprucht er den Prinzipien des Libertarismus zu entsprechen. Die meisten politischen Philosophen, und alle hier erörterten, erkennen an, daß natürliche Ressourcen Gemeineigentum sind. Diejenigen aber, die wie Nozick staatliche Eingriffe in das Privateigentum nur zulassen, wenn dies auf unrechtlichem Weg zustande kam (und daher gar kein Privateigentum ist), halten das Gemeineigentum für praktisch irrelevant. Diejenigen dagegen, denen die Unverschuldetheit einer Benachteiligung ausreicht, um Kompensationen durch die Bevorzugten für berechtigt zu halten, Rawls, Dworkin und van Parijs, halten auch die erarbeiteten Ressourcen für etwas, worüber zuerst die Gesellschaft verfügen darf. Sie nähern dadurch den Privateigentumsstatus der erarbeiteten Ressourcen dem der natürlichen an. Steiner schließlich erkennt die natürlichen Ressourcen als Gemeineigentum an und hält doch als Libertarist am Privateigentum der erarbeiteten Ressourcen fest. Allerdings verwischt 239 Hillel Steiner, Liberty and Equality, in: Political Studies 29, 1981, 5 5 5 - 6 9 , 562. Nozick verwirft George in: Anarchy, a.a.O., 175.

Ein libertärer Sozialismus?

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auch Steiner, wie wir sehen werden, seinem libertaristischen Bekenntnis zum Trotz den Unterschied zwischen natürlichen und erarbeiteten Ressourcen. Das schränkt die Brauchbarkeit seiner Gerechtigkeitstheorie ein, macht seinen Ansatz aber nicht weniger lehrreich. Ein libertärer Sozialismus? Steiner faßt seinen libertaristischen Ausgangspunkt ebenso wie die zwei von Nozick nicht berücksichtigten Tatsachen der Naturgüterknappheit und der Generationenfolge und schließlich seine sozialistische Konsequenz in folgender Kurzbeschreibung eines Aufsatzes zusammen: „The traditional characterization of a libertarian society is that it is one which minimizes uncontracted enforcible restrictions on individual conduct. It is argued that, due to (i) the fact of necessarily finite natural resources, and (ii) the fact that human societies are composed of persons who are not exact contemporaries, i.e. of generations, this libertarian requirement can only be satisfied in a society which embodies at least one important conception of socialism." 240 Eine libertäre Gesellschaft minimiert unvereinbarte erzwingbare Handlungsbeschränkungen. Die Formulierung dieses Ideals entspricht nicht ganz der des traditionellen liberalen Ziels der Zwangminimierung, weil sie die Minimierung des gesetzlichen Zwangs hervorhebt. Wenn es diesem aber wieder um die Minimierung jeden Zwangs geht, stimmen die Ideale in der Sache überein. In jedem Fall sieht Steiner das libertaristische Zwangminimierungsziel nur erreichbar in einer (in einem bestimmten Sinn) sozialistischen Gesellschaft. Denn Naturgüterknappheit und Generationenfolge verhindern, daß jedem ein Zwangminimum durch einen Staat gesichert wird, der begrenzt ist auf die „narrow functions of protection against force, theft, fraud, enforcement of contracts, and so on". 241 Die Knappheit von Naturgütern macht den Ausschluß „Späterkommender" von ihnen möglich; daher muß der Staat, oder welche Institution immer die Aufgabe der Gerechtigkeitsdurchsetzung hat, jedem seinen gleichen Anteil an den Naturgütern sichern. Steiner setzt hier voraus, daß zur Zwangminimierung für eine Person die Maximierung ihrer Betätigungsmöglichkeiten gehört. Wie kann der Staat den Ausschluß der Späterkommenden von den natürlichen Ressourcen sichern? Eine Möglichkeit ist, den Gesamtwert der Naturgüter in der Welt zu schätzen und durch die Zahl der jeweils lebenden Menschen zu teilen, um das Soll an Naturgüterbesitz festzustellen. Sodann ist für jeden Menschen zu berechnen, über welchen Anteil er tatsächlich verfügt und ihm ein Überschuß über sein Soll in Form einer Überaneignungssteuer abzuziehen und eine Differenz als Unteraneignungskompensation zu geben. Wie Steiner später erläutern wird: „... in a fully appropriated world, each person's original right to an equal portion of initially unowned things amounts to an equal share of their total value (price)." 242 Auch wenn alle Naturgüter angeeignet sind, erhält auf diese Weise jeder gleichen Zugang zu ihnen. Ihm wird zwar sein Anteil nicht unbedingt in natura ausgehändigt, wohl aber als Geld, das dem Wert seines Anteils entspricht. Einen solchen Weg wird Steiner später vorschlagen. In seinem früheren Aufsatz hält er ihn aus folgendem Grund nicht für begehbar: „Resource valuation, based on market prices, ren-

240 Steiner, Liberty and Equality, a.a.O., 555. 241 Nozick, Anarchy, a.a.O., ix. 2 4 2 Steiner, An Essay on Rights, Oxford 1994, 271.

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ders the remedial tax a mathematical function of that prevailing set of rights", für die die Steuer gerade „a just corrective" sein soll.243 Schätzt man den Wert einer natürlichen Ressource nach ihrem Marktpreis ein, so schätzt man sie nach den Angeboten derer, die überhaupt bieten können, und schließt die möglichen Angebote derer aus, die wegen der ungleichen Aneignung von Naturgütern nicht auf dem Markt bieten können. Das Naturgut wird daher weniger attraktiv und knapp scheinen, als es ist. Die Marktpreise sind daher keine zuverlässige Berechnungsgrundlage für eine Steuer, die jedem seinen Wertanteil an den Naturgütern sichern soll. Wie kann dann jedem sein Anteil am Gemeineigentum gesichert werden? Um eine Antwort zu finden, vergleicht Steiner das Verhältnis der Menschen zu den Naturgütern der Welt mit dem Verhältnis zehn Schiffbrüchiger zu den natürlichen Ressourcen einer Insel, auf der sie gestrandet sind. Jeder hat ein gleiches Recht auf sie, aber wie kann dies Recht verwirklicht werden? Niemand käme in den Genuß des Rechts, wenn man die Insel in zehn Teile teilte, weil die Teile ungleich beschaffen und für verschiedene Individuen von verschiedenem Wert sind - der Sonnenstrand etwa ist dem Nudisten besonders wichtig, einige seltene Bäume dem Ökologen und bestimmte Früchte denen, die mit ihnen zähmbare Tiere füttern wollen.244 Bei der gerechten Aufteilung geht es nicht einfach darum, wer was erhält, sondern wofür oder nach wessen Interessen was gebraucht wird - der Strand zum Nacktbaden oder zum Flicken von Fischernetzen, ein Wald zum Abholzen oder zur Erhaltung seltener Arten, die Früchte zu beliebigem Genuß oder auch zur Tierfütterung; die Güter insgesamt zu sparsamem Gebrauch, weil einige Paare unter den Schiffbrüchigen auf Nachwuchs hoffen und für künftige Generationen Ressourcen bewahren wollen, oder ohne Rücksicht auf solche Perspektiven. Steiner läßt seine Lösung von einem der Schiffbrüchigen selbst formulieren, einem „lawyer by training or, perhaps, a political philosopher": „He observes that, while each person has views about what sorts of conduct should or should not be permitted in this society, none possesses the authority to impose those views on the rest. Furthermore, it is clear that issues about permissible conduct invariably resolve themselves into issues about who may use what without interference from others. But no one is immediately prepared to assign the unencumbered use of anything to anyone else." 245 Steiner formuliert hier erstens das Prinzip aller modernen praktischen Philosophie: keinem kommt durch Geburt, Intelligenz, religiöse Weihen oder sonstige Umstände ein Vorrang in der Festlegung der Regeln der Gerechtigkeit zu. Er gibt zweitens das Kriterium an, an dem man Regeln des Gerechten von solchen des Guten unterscheiden kann: sie legen fest, was jemand tun darf, ohne daran von einem andern gehindert werden zu dürfen; sie unterscheiden daher legitimen Zwang von illegitimem. Drittens impliziert er, daß solche Regeln immer Handlungen betreffen, mit denen auch über eine Sache verfügt wird. Der dritte Punkt ist nicht plausibel. Steiner will in ihm Gerechtigkeitsregeln mit Eigentumsregeln gleichsetzen, die festlegen, über welche Dinge welche Person verfügen darf. Aber zu Verletzungen, die erzwingbar verhindert werden dürfen, gehören auch Beleidigungen. Diese kann man zwar auch als Verfügungen über Sachen wie Zeitungen oder Rednertribünen verstehen, aber wesentlich scheint ihnen der Gebrauch einer bestimmten Sache doch nicht. Wir brauchen uns um diese Einschränkung von Gerechtigkeitsregeln hier nicht zu kümmern, da es 2 4 3 Steiner, Liberty and Equality, a.a.O., 563. 2 4 4 Ebd. 245 Ebd., 564.

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hier nur um die Regeln der Verie/Zwngsgerechtigkeit geht, die offensichtlich Eigentumsregeln sind. Wie lassen sich nun Regeln der Gerechtigkeit, die zugleich Eigentumsregeln sind, verbindlich begründen, wenn es keine privilegierte legislative Autorität gibt? Steiner fährt fort: „,We are', the lawyer observes, ,each treating one another as though the island were our personal property. It would therefore appear that a correct description of our situation is that we are each shareholders in the island which is thus a jointly owned asset and that we each consider our shares to entitle us to exercise a veto against any assignment of our assets of which we do not approve.... I suggest that we formally constitute ourselves as a decision-making body, and entertain proposals from those of our members who wish - either individually or in some combination - to make some use of the island's resources. ..."' 2 4 6 Steiner erinnert hier zuerst an das Prinzip der gleichen Freiheit, wie es vor allem Locke betont hat. Daß wir frei sind, impliziert nach Locke (und vielen anderen bis zu Hegel) unser Recht, von den Naturdingen nach unserem Belieben Gebrauch zu machen, als seien sie unser „personal property"; und daß wir gleich sind, impliziert, daß jeder Mensch von ihnen Gebrauch machen darf, so daß alle „shareholders in the island" oder Teilhaber an der Erde sind, auf die sie geboren werden. Um es mit Lockes feierlichen Worten zu sagen: „Whether we consider natural Reason, which tells us, that Men, being once born, have a right to their Preservation, and consequently to Meat and Drink, and such other things, as Nature affords for their Subsistence: or Revelation, which gives us an account of those Grants God made of the World to Adam, and to Noah, and his Sons, 'tis very clear, that God, as King David says... has given the Earth to the Children of Men, given it to Mankind in common." 247 Soweit steht Steiner in der liberalen Tradition. Den entscheidenden Schritt, den er doch nur als Konsequenz der gemeinsamen liberalen Prämissen sieht, vollzieht er mit dem Vorschlag, die gleiche Teilhaberschaft an der Insel als das Recht eines jeden zu verstehen, gegen jeden vorgeschlagenen Gebrauch einer vorgefundenen Ressource sein Veto einzulegen. Das Recht eines jeden auf seinen gleichen Anteil an den Naturgütern der Erde wird demnach nicht dadurch verwirklicht, daß man den Individuen bestimmte Ressourcen oder ihren Geldwert zuweist, sondern durch das Vetorecht eines jeden über jeden möglichen Ressourcengebrauch. Dies Recht kann wiederum am besten im Rahmen einer entscheidungsfindenden, zu verbindlichen Beschlüssen berechtigten Instanz wahrgenommen werden, zu der sich die Schiffbrüchigen konstituieren müssen. Steiner entwickelt hier eine Theorie und Praxis der Demokratie aus einer Theorie und Praxis des gleichen Zugangs zu den natürlichen Ressourcen. Ich werde diesen Gedanken wieder aufnehmen, wenn ich nach den Gründen frage, einen Weltstaat oder eine Vielheit partikularer Staaten einzurichten. 248 Das Vetorecht eines jeden schließt unwiderrufliche Entscheidungen aus, weil es auch neuen Schiffbrüchigen oder volljährig werdenden Nachkommen zukommt. Kein Teil der Insel wird daher endgültig Privateigentum, er kann jemandem nur zu Lehen gegeben werden: „The contracts into which the shareholding body enters would thereby assume the character of a lease for an unspecified term. And all shareholders would thereby be bound to respect the

246 Ebd. 247 Locke, 2 nd Treatise of Government, a.a.O., § 25. 248 Im dritten Teil im Kapitel über nationale und internationale Verteilungsgerechtigkeit.

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agreed rights of leaseholders and to impose upon them no restrictions other than those contractually agreed to." 249 Kehren wir aus Steiners Schiffbrüchigenparabel in die soziale Wirklichkeit zurück, was ergibt sich für die Aufgaben des Staats? Diese Frage stößt auf zwei Schwierigkeiten. Erstens ist es schwer, eine praktikable Verfassung zu finden, die dem Vorschlag des Anwalts entspricht. In der Wirklichkeit müssen nicht zehn Menschen eine Lösung des Problems der Ressourcenverteilung finden, sondern Milliarden. Der entscheidungsfallenden Vollversammlung der Schiffbrüchigen können im besten Fall repräsentative Körperschaften entsprechen. Damit wird aber das Vetorecht des einzelnen hinfällig, das das Recht des einzelnen auf seinen Anteil an den natürlichen Ressourcen schützen sollte. Steiner stellt sich zwar in seinem Aufsatz selbst die Frage, ob sein Vorschlag nicht „highly impracticable" sei, hält das aber für keinen Einwand. 250 Für eine Gerechtigkeitstheorie, die nicht auf die Möglichkeit der Gerechtigkeitsdurchsetzung bedacht sein muß, mag ihre Impraktikabilität kein Einwand sein; für eine politische Theorie ist sie es. Steiner, der nicht bei seinem Vorschlag geblieben ist, hat das wohl auch erkannt. Die zweite Schwierigkeit ist, daß Steiner nur die Verteilung natürlicher Ressourcen behandelt. Von Ressourcen, die durch Arbeit und Erfindung geschaffen wurden, ist nicht die Rede. Daß die vorgefundenen natürlichen Ressourcen alle verfügbaren Ressourcen sind, ist für sein Schiffbrüchigenmodell zentral. Nun sind zwar alle Ressourcen für jeden Menschen, der in die Welt geboren wird, nur vorgefundene und nicht von ihm selbst erarbeitete Ressourcen. Aber jeder findet nicht nur Güter, sondern auch Menschen vor, die schon Güter produziert haben. Auf erarbeitete Ressourcen aber haben ihre Produzenten nach der liberalen Tradition ein Vorrecht. Denn wenn jeder ein ursprüngliches Recht auf Gebrauch seiner Anlagen hat, kann das Ergebnis dieses Gebrauchs nicht etwas sein, worauf andere dasselbe Verfügungsrecht hätten wie der Produzent (ich habe diesen Punkt schon gegen Rawls hervorgehoben und werde ihn noch wiederholt hervorheben). Die Vorrechte aber, die Steiner den Produzenten über ihr Produkt zubilligt, sind dem Votum der entscheidungsfällenden Körperschaft der Insel und dem Veto jedes einzelnen unterworfen. Steiner hält Nozick zwar zu Recht vor, daß libertaristische Konzeptionen „attend insufficiently to the fact that natural resources are, precisely, objects which appeared from nowhere and out of nothing" - Dinge wie das himmlische Manna. Er erkennt auch genau, daß Nozicks Schwäche darin liegt, keine Aneignungstheorie geliefert zu haben: „And it is thus not surprising that the Achilles' heel of such conceptions can almost invariably ([Henry] George is the exception) be located in their accounts of the right to initial appropriation, from which all other historical entitlement-based property rights logically derive." 251 Aber diese Schwäche ändert nichts am Gewicht von Nozicks Kritik an Rawls, alle, auch die erarbeiteten Ressourcen als Manna zu behandeln, und diese Kritik trifft auch Steiner, der in seiner Schiffbrüchigenparabel für erarbeitete Ressourcen keinen Platz hat. Steiner zieht nur die Konsequenz aus seinem Ansatz, erarbeitete Güter nicht zu berücksichtigen, wenn er die Schiffbrüchigen immer und an allen Gütern Anteilseigner bleiben läßt. Sie

2 4 9 Steiner, Liberty and Equality, a.a.O., 565. 2 5 0 Ebd., 566. 251 Ebd., 567f.

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sind tatsächlich Anteilseigner nicht nur der Insel, sondern auch von allem, was auf ihr von jemand von ihnen produziert wurde. Ihr privates Verfügungsrecht über die ihnen zugewiesenen Ressourcen ist nur das von Leasern. Das bedeutet, auch wenn Steiner es hier nicht ausspricht, daß die Produzenten zwar Gewinne für sich behalten dürfen, die sie mit ihren Ressourcen erwirtschaftet haben, daß mit ihrem Tod aber auch die von ihnen erarbeiteten Werte zu Gemeineigentum werden. Also stehen für Steiner wie für Rawls alle Reichtümer einer Gesellschaft zur Verfügung der Gesellschaft. So findet Rawls' Ansatz, den Nozick als Manna-Modell verspottet, ausgerechnet bei einem Philosophen, der sich zu den Grundsätzen der Libertarismus bekennt, eine überraschende Wiedergeburt. Steiner weicht damit nicht nur vom Libertarismus ab, sondern auch von Locke. Lockes Eigentumstheorie rechtfertigt als private Aneignung von Naturgütern auch die unwiderrufliche Aneignung des Werts, den ein Produzent Naturgütern hinzufügt, durch den Produzenten. Locke macht das Privateigentum zum vorherrschenden Güterverfügungsrecht, das private Schenkungen und Vererbungen unabhängig von der Zustimmung der Gemeineigentümer natürlicher Ressourcen einschließt. Steiner dagegen findet nicht in der Arbeit die Berechtigung, ein Naturgut anzueignen, sondern im gemeinsamen Beschluß aller Menschen, von denen jeder jederzeit und in jeder Generation sein Veto einlegen kann. Diese Legitimitätsbedingung schließt Privateigentum als ein vor gesellschaftlichen Entscheidungen endgültig gesichertes Verfügungsrecht aus; das gesellschaftliche Güterverfügungsrecht ist primär. Nun kann man dafür plädieren, alle Güter deshalb wie die natürlichen Ressourcen als Gemeineigentum der Menschheit zu behandeln, weil in der Tat jeder Mensch bei seiner Geburt alle Güter ebenso vorfindet (ohne sie selbst geschaffen oder erarbeitet zu haben), wie die ersten Menschen oder die zehn Schiffbrüchigen aus Steiners Fabel die natürlichen Ressourcen als ein Manna vom Himmel vorgefunden haben, das ihnen ihre Existenz erst ermöglicht. Nur sollte man die praktischen Konsequenzen dieser Betrachtung erkennen und Argumente dafür anführen, daß sie in Kauf zu nehmen sind. Eine Konsequenz ist, daß die menschliche Existenz zwar nicht unhistorisch, aber historisch undifferenziert wird. Erklärt man alle produzierten Güter nach dem Tod ihrer Produzenten zu Gemeineigentum, so kann sich zwar eine Menschheitsgeneration als Erbe der vorangehenden und als Erblasser für die folgenden Generationen verstehen, aber das Individuum steht nur vorgefundenen Gütern gegenüber, die es nicht als Güter erkennen kann, die seine Vorfahren gerade ihm hinterlassen haben und hinterlassen wollten. Ebenso kann es seine eigene Existenz nicht als eine Arbeit verstehen, deren Früchte (oder üble Folgen) seine eigenen Nachkommen oder die ihm Nahestehender ernten können (oder müssen). Das Individuum kann sich nur als Glied einer Generation der gesamten Menschheit verstehen, die sich als ein Strom oder besser als ein Kanal durch die Zeit ergießt und sich nicht in die vielen mehr oder minder verflochtenen Flüsse und Rinnsale verschiedener Familien, Kulturen und Traditionen aufteilt. Ein solches Selbstverständnis hat Vorteile, aber steht der Auffassung vom Wert oder Nutzen einer Vielzahl von Kulturen und Traditionen entgegen. Ihr müßte Steiner mit Argumenten begegnen, um seine Theorie zu verteidigen, doch das tut er nicht. Eine andere Konsequenz ist, daß man dem Individuum das Recht absprechen muß, über sein Eigentum für eine Zeit nach dem Tod zu verfügen. In der Tat tut das Steiner ausdrücklich in seinem zweiten Versuch, dem Gemeineigentum der natürlichen Ressourcen Rechnung zu tragen. Wir werden dann sehen, mit welchen Problemen diese Beschränkung der Verfügung über Privateigentum verbunden ist. Steiner glaubte, trotz der sozialistischen Konsequenzen seines Ansatzes am „programme

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Steiners Gemeineigentum

of laissez-faire and the free market" des Libertarismus festhalten zu können. 252 Das scheint nur bei Anwendung des laissez faire auf den Libertarismusbegriff möglich. Naturgüterbesteuerung und Erbschaftssteuer Steiners zweite Lösung des Problems, wie man das gleiche Recht auf das Gemeineigentum an Naturgütern verwirklichen kann, ist die Einführung dreier Steuern: einer Steuer auf die Überaneignung natürlicher Ressourcen, einer Erbschaftssteuer und einer Steuer auf genetische Information. Diese Lösung hat gegenüber der ersten den Vorteil der Praktikabilität, steht aber wegen der Härte der Steuern dem libertären Staat nicht weniger fern und hat den Kommentar auf sich gezogen, sie sei „socialism gone mad". 253 Dennoch verdient sie nicht weniger Beachtung. Sie zieht Umstände in die Betrachtung der politischen Philosophie ein, die Steiner nicht ausreichend analysiert hat, deren Relevanz für Gerechtigkeitsfragen aber bisher kaum gesehen wurden. Daß eine Steuer auf eine Überaneignung natürlicher Ressourcen legitim ist, wenn man diese als Gemeineigentum anerkennt, ist offensichtlich. Nicht offensichtlich ist, wie man sie berechnet. Steiner vertraut nun auf Methoden, ihren Wert und die Höhe von Kompensationen nach Marktschätzungen zu bestimmen: „A very considerable literature now exists, some of it strongly influenced by the writings of Henry George" - dem amerikanischen Sozialkritiker, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gemeineigentum der Erde behauptete und eine Bodenreform forderte - „on the variety of property rights in sites, the methods for assessing their values and the forms which such payments can take". 254 Aber er gibt nicht an, wie die Schätzung geschehen sollte. Er legt sich weiterhin darauf fest, die Steuer auf überdurchschnittliche Ressourcenaneignung müsse global und nicht national erhoben werden 255 , wofür in der Tat gute Gründe sprechen, erkennt aber die Schwierigkeit der Berechnung an, wenn er sagt „that very little literature on this subject... construes the fund" - die Kasse, in welche die Steuern zur Kompensation der Unteraneigner fließen - „as a global one". 256 Vermutlich läßt sich die Ressourcensteuer nicht ohne Willkür berechnen und durchsetzen, aber das wäre, wenn sie nur im Prinzip legitim ist, akzeptabel. Ist sie aber im Prinzip akzeptabel? Das Problem ist nicht nur, daß der Wert natürlicher Ressourcen leicht unterschätzt werden kann, weil die Nachfrage derer schwer einzuschätzen ist, die nicht auf den Markt treten können: die Armen und die Individuen künftiger Generationen. Das Problem ist auch, daß in den meisten Gütern dieser Welt Natur und Arbeit so innig verschmolzen sind, daß ihre wertmäßige Unterscheidung unmöglich scheint. Welchen Wert muß man bei einem Feld in Holland der Natur, welchen der Arbeit zuschreiben? Oder einem Hafengrundstück in Singapur? Wie muß man unter den unzähligen Produzenten, die über Generationen zum Wert beigetragen haben, den Arbeitswertanteil aufteilen? Was ursprünglich, für die erste Generation von Menschen, Naturgut war, ist heute Kulturgut geworden, das dennoch zu seiner Existenz nicht nur menschliche Arbeit, sondern auch Natur vor252 Ebd., 568. 253 Alan Carling, Just Two Taxes, in: van Parijs (ed.), Arguing for Basic Income, London 1992,93-98, 93. 254 Steiner, An Essay on Rights, a.a.O., 273. Steiner widerruft hier seine frühere Auffassung 271, 11 n. 255 Ebd., 270. 256 Ebd., 273 n.

Naturgüterbesteuerung und Erbschaftssteuer

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aussetzt. Im Reichtum aller Gesellschaften steckt daher eine Naturbasis, deren Wert durch keinen Markt und keine Marktsimulation meßbar wird. Der größte Teil der Ressourcen, aus denen die Reichtümer der Gesellschaften fließen, sind weder reine Natur noch reine menschliche Arbeitskraft, sondern aus diesen beiden Quellen so gemischt, daß keine ökonomische Wertrechnung sie auseinanderhalten kann. Was gegen Nozick zu halten war, der eine Unterscheidung unter Berufung auf denselben Henry George (dessen Theorien widerlegt seien) f ü r unmöglich erklärt 2 5 7 , den Steiner zur Bekräftigung des Gegenteils anführt, muß man auch gegen Steiner erinnern: die Anerkennung des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen setzt keine Meßbarkeit ihres Werts voraus; sie impliziert vielmehr die Berechtigung, aus dem Gesamtprodukt einer Gesellschaft die Werte abzuschöpfen, die erstens zur Regeneration und Substitution der verbrauchten Naturbasis im Interesse der künftigen Individuen notwendig sind, zweitens dazu, allen Lebenden einen gleichen Zugang zum Gemeineigentum zu sichern, den die natürlichen, aber auch zu einem unerkennbar großen Teil die gemischten Ressourcen darstellen. Man kann nicht zuerst den Wert der Naturgüter messen, um an ihm zu erkennen, was man für die ausgeben muß, die zu wenig von ihnen angeeignet haben oder zu wenig aneignen werden. Man muß vielmehr umgekehrt zuerst erkennen, was zur Sicherung des k ü n f t i g e n und heutigen gleichen Z u g a n g s z u m Gemeineigentum ausgegeben werden muß, und kann an diesen Ausgaben ihren Wert erkennen. Der Wert des Gemeineigentums an der Natur kann sich nur daran zeigen, was es kostet, sie jedem als Gemeineigentum zu erhalten. 258 Was sind Steiners Gründe für die Erbschaftssteuer? Erbschaften seien zwar keine Naturgüter, aber wie diese herrenlos und daher Gemeineigentum. Was Sterbende hinterlassen, sei herrenlos. Also seien Hinterlassenschaften Gemeineigentum. Die Erbschaft müsse daher vollständig besteuert und dem globalen Fonds zugewiesen werden, der den Wert des Gemeineigentums darstellt. Diese Überlegung sieht Steiner in Übereinstimmung mit den libertaristischen Prämissen. Nach diesen Prämissen seien alle Eigentumsrechte oder Rechte, über Sachen zu verfügen, ableitbar aus „two fundamental rights: each person's right to self-ownership and to things which he/she has appropriated and which, at the time of appropriation, were unowned." 2 5 9 Nur die erste dieser beiden Prämissen stimmt mit den Eigentumsprinzipien Lockes überein, der für die Libertaristen doch eine Autorität ist. Für Locke gibt es nur ein fundamentales Eigentumsrecht, das seinerseits mit dem ersten und einzigen Prinzip der Gerechtigkeit, der gleichen Freiheit eines jeden, zusammenfällt: das Recht, über sich und seine Anlagen und die Ergebnisse ihrer Betätigung zu v e r f ü g e n , das Recht auf Selbstverfügung o d e r Selbstbestimmung. Es entspricht Steiners „right of self-ownership". Ein Recht der Aneignung herrenloser Güter kennt Locke dagegen nicht. Aneignen darf man sich nach ihm nur die Produkte der eigenen oder solcher Arbeit, über die man als Herr des Arbeitenden verfügt. 2 6 0 Daß man dabei nicht nur den Wert des durch Arbeit einem Naturgut Hinzugefügten, sondern auch das Naturgut selbst aneignen darf, vorausgesetzt „there is enough, and as good left in common for

257 258 259 260

Nozick, Anarchy, a.a.O., 175. Vgl. dazu weiter im 3. Teil. Steiner, Three Just Taxes, in: van Parijs (ed.), Arguing for Basic Income, a.a.O., 8 1 - 9 2 , 81. Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 28. „Thus, the Grass my Horse has bit; the Turfs my Servant has cut; and the Ore I have digg'd in any place where I have a right to them in common with others, become my Property, without the assignation or consent of any body."

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Steiners Gemeineigentum

others" 261 , rechtfertigt Locke, wie wir sahen262, durch den geringen Wert des Naturguts. Arbeit ist Lockes einziger Titel auf Aneignung. Der eigene Körper und die eigenen Fähigkeiten lassen sich nicht aneignen, weil sie ursprüngliches Eigentum derer sind, die mit ihnen geboren werden. Herrenlose Güter sind streng genommen nicht privat aneigenbar; aneigenbar ist nur der Wert der Arbeit, der einem herrenlosen Gut hinzugefügt wird. Was Naturgüter zu Gemeineigentum macht, ist daher nicht, daß sie herrenlos sind, sondern daß sie vorgefunden werden, ohne daß sie jemand durch Arbeit hervorgebracht hat. Natürlich kann niemand einen Libertaristen auf Lockes Eigentumstheorie verpflichten. Es ist nur wichtig, den Unterschied zwischen ihr und Steiners zweiter libertaristischer Prämisse zu sehen, weil der Libertarismus oft beansprucht, den Geist des traditionellen Liberalismus, besonders den Lockes, zu bewahren. Mit der Behauptung eines Grundrechts auf Aneignung herrenloser Güter neben dem Grundrecht auf Selbstbestimmung folgt der Libertarist der Neigung der Verfechter des Sozialstaats, neben dem Gerechtigkeitsprinzip der gleichen Freiheit ein besonderes Eigentumsprinzip einzuführen, das er freilich nicht als Verteilungs-, sondern als Aneignungsprinzip faßt. Dem Verfechter des Sozialstaats dient das Verteilungsprinzip zur Rechtfertigung von Staatsinterventionen in den Markt, dem Libertaristen dient das Aneignungsprinzip zur Rechtfertigung von Freiheiten von Individuen gegen den Staat. Steiners Originalität ist, das libertaristische Prinzip der Aneignung herrenloser Güter zur Rechtfertigung so einschneidender Staatsinterventionen zu gebrauchen, daß sogar die meisten Verfechter des Sozialstaats vor ihnen zurückschrecken. Erkennt man das Prinzip der Aneignung herrenloser Güter an, so muß man zur Rechtfertigung einer hundertprozentigen Erbschaftssteuer noch zeigen, daß Hinterlassenschaften auch dann herrenlos sind, wenn der Verstorbene sein Eigentum jemandem vermacht oder dessen Übertragung der Regelung durch das bestehende Erbrecht überlassen hat. Bisher, so Steiner, hielten die Libertaristen Hinterlassenschaften nicht für herrenlos, weil sie Vermächtnisse und Vererbungen als Schenkungen betrachteten. Das sei falsch: „Bequest ist not simply a form of gift-giving. If it were, people would presumably do less of it and more gift-giving in view of the higher rate of taxation that typically attaches to the former than to the latter in most Western societies. No, what bequest is, at a minimum, is a form of insurance for the bequeather: it functions to ensure him/her against the fate of King Lear, against the ingratitude and cupidity of intended beneficiaries upon whom the bequeather is unwilling to rely to provide adequately for him/her up to the moment of death." 263 Selbst wenn Vermächtnisse eine Form von Versicherung gegen die Habgier der Erben sind, könnten sie doch auch eine Form der Schenkung sein. Steiner muß weiter gehen und behaupten, eine Vererbung sei nicht möglich, weil das unterstellte Subjekt der Vererbung fehle: „What is the jural status of the act of transferring ownership of a dead person's property?... I shall not review here the long and troubled jurisprudential discussion of the practice of bequest. Suffice it to say that explications of this practice ... almost invariably acknowledge that it rests on a legal fiction ... The fiction ... has broadly been that the bequeather has not died: that either his/her heir (Roman law) or his/her executor (modern law) is the same person as s/he. And the moral turpitude thereby perpetrated is that objects which would otherwise become classified as unowned - and hence subject to ... tax liability ...- are instead treated as 261 Ebd., §27. 262 Vgl. oben. 263 Steiner, Three Just Taxes, a.a.O., 83f; vgl. An Essay, a.a.O., 25 Iff.

Naturgüterbesteuerung und Erbschaftssteuer

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having been in continuous and uninterrupted ownership. So our second just tax is one on the estates of deceased persons. Perhaps if there is some sense in which persons w h o die are understood as thereby being returned to nature - 'ashes to ashes, dust to dust' - then this tax, too, is a tax on nature." 264 Was immer die juristischen Finessen oder auch die ontologischen Probleme in der Beschreibung des Akts sind, in dem jemand sein Eigentum einem andern zum Zeitpunkt seines Todes vermacht, sie können nicht größer sein als die eines Akts, mit dem jemand einem anderen Eigentum für einen künftigen Zeitpunkt vermacht. Wenn ich heute verspreche, daß Ihnen übermorgen mein Auto gehört, das ich niemand sonst versprochen habe, dann sollte nach den gewöhnlichen Vorstellungen von den Rechten und Pflichten, die aus einem Versprechen erwachsen, mein Auto auch dann übermorgen Ihnen gehören, wenn ich morgen sterbe. Warum sollten die Rechte und Pflichten, die aus einem Versprechen oder einem Vertrag erwachsen, dadurch verfallen, daß der Zeitpunkt ihrer Einlösung nach meinem Tod liegt? Und selbst wenn man das annehmen müßte, bliebe noch immer die Möglichkeit, ein Testament oder Vermächtnis als eine Schenkung zu konstruieren, die eine Sekunde vor Eintritt des Todes des Erblassers in Kraft tritt. Steiner kann nicht auf der einen Seite das uneingeschränkte Recht der Schenkung anerkennen und auf der andern Seite das des Vererbens für juristisch oder ontologisch unmöglich erklären. Denn Schenkungen, von denen ich heute verspreche, daß sie an einem künftigen Zeitpunkt eingelöst sein sollen, werden nicht ungültig, wenn ich vorher sterbe, sowenig wie Schenkungen, die ich heute vollziehe, ungültig werden, wenn ich morgen sterbe. Eine andere Frage ist, ob Schenkungen, Vererbungen eingeschlossen, ohne Einschränkung legitim oder gerecht sind, wie immer sie juristisch und ontologisch möglich sind. Ist es legitim, so läßt sich fragen, daß j e m a n d Eigentum ohne Rücksicht auf die Akkumulation von Reichtum und Macht anderen überträgt? Erkennt man das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen an, so muß die Antwort negativ sein. Wenn die Akkumulation so groß ist, daß sie den Zugang zu den natürlichen Ressourcen ungleich macht, verletzt sie das Gemeineigentum und das Prinzip gleicher Freiheit. Wann genau Ungleichheit im Eigentum den Zugang zu den natürlichen Ressourcen ungleich macht, ist schwer zu entscheiden, aber daß sie ihn ungleich machen kann, ist offensichtlich. Wenn 80% des Bodens Eigentum weniger Familien sind, ist der Zugang zu diesem Naturgut offensichtlich ungleich. Aber kaum weniger offensichtlich wird das Gemeineigentum verletzt, wenn die Hälfte des Bruttosozialprodukts von wenigen Prozent der Bevölkerung eines Landes kontrolliert wird. Der Rest hat dann nicht die Möglichkeiten der Angehörigen dieses Bevölkerungsteils, über seinen Anteil am Gemeineigentum zu verfügen. Krasse Einkommens- und Machtunterschiede in einem Land sind ein sicheres Indiz f ü r Ungleichheiten im Naturgüterzugang und können deshalb grundsätzlich f ü r illegitim erklärt werden. Wenn aber Individuen nicht uneingeschränkt ihr Eigentum verschenken und vererben dürfen, wie kann man da noch am Recht der Individuen festhalten, über sich selbst zu verfügen? Diese Frage wird immer wieder von Libertaristen gestellt, um Regulierungen der Markt- und Vertragsfreiheit zurückzuweisen, in der Annahme, man verletze das Selbstbestimmungsrecht, wenn man die Freiheit des Vererbens und Schenkens einschränkt. Wenn jedoch die Freiheit der Schenkung und Vererbung den Zugang zu den natürlichen Ressourcen ungleich macht, verletzt ihre Einschränkung nicht das Selbstbestimmungsrecht, sondern bringt es seiner 264 Ebd., 84ff.

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Steiners Gemeineigentum

Durchsetzung näher. Niemand kann über seine Fähigkeiten verfügen, wenn er keine Ressourcen vorfindet, an denen er sie betätigen kann. Die erarbeiteten Ressourcen sind privat aneigenbar; wer sie vergesellschaftet, verletzt das Eigentumsrecht des Produzenten, über sein Produkt zu verfügen, und zu diesem Recht gehört auch, daß der Produzent sein Produkt wem immer er will verschenken darf. Der Naturanteil am Reichtum der Gesellschaft ist dagegen nicht privat aneigenbar. Er soll gerade jedem sichern, seine Talente betätigen zu können. Die Freiheit des Schenkens findet daher eine Grenze dort, wo die Güterverteilung so ungleich wird, daß sie Individuen daran hindert, ihre Talente zu betätigen. Ein naheliegendes Mittel, eine solche Ungleichheit zu verhindern, ist die Besteuerung von Schenkungen und Erbschaften, die einen gewissen Wert übersteigen. Wir können uns zwar eine Gesellschaft mit krassen Eigentumsunterschieden denken, die allein auf ebenso krasse Unterschiede in der Arbeitsleistung ihrer Mitglieder zurückzuführen sind. Die Güterverteilung in ihr wäre gerecht und gäbe keinen Grund zu Einschränkungen des Rechts zu schenken und zu vererben. Aber die Eigentumsunterschiede der wirklichen Gesellschaften sind nicht von dieser Art. Die Erfahrung lehrt, daß viele Menschen viel arbeiten und doch nicht reich sind und andere wenig arbeiten und sogar ohne Erbschaft oder Schenkung reich werden. Die Eigentumsunterschiede beruhen zu einem in verschiedenen Ländern verschiedenen Anteil auf ungleichem Zugang zu den natürlichen Ressourcen. Dieser Faktor kann durch Erbschaft und Schenkung verstärkt werden. Daher kann ihre Besteuerung legitim sein. Will Steiner daher mit seiner Erbschaftssteuer die Anhäufung von Reichtum und Macht verhindern, müßte dazu schon seine Steuer auf natürliche Ressourcen ausreichen. Will er dagegen Hinterlassenschaften als herrenlose Güter ausweisen, so muß er zeigen, was er nicht gezeigt hat, nämlich warum man zwar Eigentum uneingeschränkt verschenken darf, die Macht der Eigentumsübertragung aber nicht über den eigenen Tod hinausreichen soll. Die Steuer auf genetische Information Es gibt gute Gründe für eine Erbschaftssteuer, wenn auch nicht für die radikale, die Steiner vertritt, aber statt dieser guten Gründe führt er unhaltbare an. Ähnlich steht es mit der dritten Steuer, mit der er als Libertarist die Macht des Staat noch einmal erheblich ausweitet. Noch mehr als mit seiner Erbschaftssteuer schneidet Steiner mit ihr Fragen an, die viele andere Philosophen vermeiden und doch eine Diskussion nötig haben. „Our third just tax ... is... a tax on children's genetic information. Parents of children with more valuable genes are liable to pay a higher tax." „Genetic information, as a factor in the production of abilities, differs in value according to the values of the abilities produced from it. Cain's genes are less valuable than Abel's if the cost of using them to produce a given level of ability-value is greater than the cost of using Abel's." „It is worth remarking ... that this tax on children's genetic information is not a tax on their ability ... genetic information is only one of the factors entering into the production of abilities." 265 Steiners dritte Steuer macht die Eltern von Kindern mit leichterziehbarkeitbewirkenden Genen oder genetischer Information kompensationspflichtig gegen Eltern von Kindern mit schwererziehbarkeitbewirkenden Genen. Die Steuer soll ein Problem lösen, vor dem der 265 Steiner, Three Just Taxes, a.a.O., 88. Steiner behandelt das Thema auch in: An Essay, a.a.O., 242-8 und 274f; ferner in: The Fruits of Body-Builder's Labour, in: A. Dyson/J. Harris (eds.), Ethics and Biotechnology, London/New York 1994, 64-78.

Steuer auf genetische Information

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Libertarismus steht: keinen Rechtsanspruch für die Unterstützung behinderter oder schwer erziehbarer Kinder oder ihrer Eltern begründen zu können. Steiner dritte Steuer kann zwar keine Chancengleichheit sichern, sie aber einer Gesellschaft näherbringen. Durch sie würden „children's ability-differentials ... be narrowed. And accordingly, their respective positions at the starting-gate of adult life would be considerably less unequal than they currently are." 266 W a s versteht Steiner unter genetischer I n f o r m a t i o n ? Es ist die I n f o r m a t i o n , die in den Genen eines Organismus enthalten und bei eineiigen Zwillingen dieselbe ist. W a r u m muß die genetische Information besteuert werden? Weil die genetische Information eine natürliche Ressource ist; der Gebrauch einer natürlichen Ressource, der andere benachteiligt, verpflichtet die Nutznießer, die Benachteiligten zu entschädigen; Erzeuger und Erzieher von Kindern, die mit wertvollerer genetischer Information ausgestattet sind, benachteiligen Erzeuger und Erzieher von Kindern, die mit weniger wertvoller genetischer Information ausgestattet sind; daher müssen erstere letztere entschädigen; zu diesem Zweck werden genetische Informationen besteuert. Entgegen einem möglichen ersten Anschein ist Steiners Argument weder absurd noch schwach. Es gründet nicht darauf, daß die Eltern von Kindern mit wertvollerer genetischer Information die übrigen Eltern gewollt oder ungewollt in eine benachteiligte Lage versetzen. Das tut auch Nozicks Frau mit dem verschmähten Freier, wenn sie diesem Nozick vorzieht. Diese Benachteiligung erwies sich gerade deshalb als nicht kompensationsberechtigend, weil Nozicks Frau dem Benachteiligten kein Naturgut vorenthält. Dagegen werden wir die Benachteiligung des unfreiwilligen Arbeitslosen und anderer öffentlich Benachteiligter genau deshalb f ü r kompensationsberechtigend befinden müssen, weil ihnen der gleiche Zugang zum Gemeineigentum an Naturgütern vorenthalten wird. Nun sind aber genetische Informationen Naturgüter. Die Eltern der Kinder mit wertvolleren Genen sind zwar nicht verantwortlich dafür, daß die Lotterie der Gene sie durch leichter erziehbare Kinder begünstigt hat. Aber ebensowenig müssen die kompensationsverpflichteten Bessergestellten verantwortlich dafür sein, daß andere arbeitslos oder anderweitig im Z u g a n g zu den natürlichen Ressourcen benachteiligt sind. Die bloße Tatsache, daß sie in diesem Zugang begünstigt sind, genügt, sie zu Kompensationen an die Benachteiligten zu verpflichten, weil alle natürlichen Ressourcen Gemeineigentum aller sind und ihr privilegierter Zugang einen Mehrgebrauch a m Gemeineigentum darstellt, f ü r den sie die Benachteiligten entschädigen müssen. Also scheint der Kompensationsanspruch von Eltern mit schwerer erziehbaren Kindern an Eltern mit leichter erziehbaren Kindern berechtigt. Gegen dies Argument spricht j e d o c h , daß man es auch zur Begründung einer Kompensationspflicht der von der Natur reich Ausgestatteten gegen die von ihr schlechter Gestellten gebrauchen kann. D e n n die Talente oder Fähigkeiten, mit denen man g e b o r e n wird, sind einerseits ebenso Naturgüter wie die erziehungsrelevanten Gene und anderseits ebenfalls ungleich verteilt. Wenn die Eltern von Kindern mit schwierigen Naturen gegen die Eltern von Kindern mit glücklicheren Naturen k o m p e n s a t i o n s b e r e c h t i g t sind, scheinen es auch alle Menschen mit weniger glücklichen Naturen gegen die Glückskinder der Natur sein zu müssen. In der Tat halten aus eben diesem Grund Rawls und seine Nachfolger die Talentierten f ü r kompensationsverpflichtet gegenüber den weniger Talentierten. Aber diese Auffassung ist unmöglich für jeden, der ohne Einschränkung am Selbstbestimmungsrecht festhält; denn dies sichert gerade die Freiheit eines jeden, über seine Talente nach Belieben zu verfügen, soweit 266 Steiner, The Fruits of Body-Builder's Labour, a.a.O., 77.

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Steiners Gemeineigentum

er nur nicht andere an derselben Freiheit hindert. Auch Steiner kann die Frage nicht bejahen, wenn er nicht zum Rawlsianer werden will. Wie kann er dennoch die Kompensationspflicht der glücklicheren Eltern gegen die weniger glücklichen Eltern behaupten? Einen Ausweg bietet die Unterscheidung zwischen angeborenen Naturgütern, solchen, die uns konstituieren oder mit denen wir geboren werden, und äußeren Naturgütern, solchen, die wir wie Land, Öl oder Kohle außerhalb unserer Körper und der Zellen vorfinden, aus denen wir uns entwickeln. Nur die äußeren Naturgüter dürfen wir als Gemeineigentum betrachten, nicht die angeborenen. Diese finden wir nicht im selben Sinn vor wie die äußeren, denn sie machen uns selbst aus. Wir haben unsere Talente sowenig verdient wie die äußeren Naturgüter, aber wir sind eben die, die aus den angeborenen Naturgütern gemacht sind. Damit jemand selbst über sich selbst verfügen kann, muß er ein Selbst haben, als das und über das er verfügen kann; dies Selbst ist aber aus den angeborenen Naturgütern gemacht. Machte der Besitz angeborener und irgendwelche Vorteile sichernder Naturgüter ihre Besitzer kompensationspflichtig gegen die, die durch ihre angeborenen Naturgüter diese Vorteile entbehren, so wären Individuen allein dafür einerseits kompensationspflichtig, anderseits kompensationsberechtigt, daß sie sind, wie sie geboren sind. Dann müßte man das Grundrecht verwerfen, auf das sich alle liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen stützen, das Selbstbestimmungs- oder Selbstverfügungsrecht. Statt als Gemeineigentum muß man angeborene Naturgüter daher mit Locke als ursprüngliches Privateigentum anerkennen 267 , ebenso die Gene. Die von bestimmten Genen isolierbare und reproduzierbare genetische Information dagegen ist ein äußeres Naturgut und Gemeineigentum. In der Tat scheint Steiner die genetische Information als ein äußeres Naturgut behandeln zu wollen, das zwar in die natürliche Ausstattung eines Menschen eingehen, aber heute auch unabhängig von solcher Verbindung verteilt und sogar gehandelt werden kann. Aber man muß sehen, daß diese Handlungsmöglichkeiten Zukunftsmusik sind. Bisher läßt sich keine menschliche genetische Information, die für die leichte Erziehbarkeit relevant wäre, isolieren und reproduzieren. Solange das nicht möglich ist und man an der Unterscheidung äußerer und angeborener Naturgüter festhält, kann Steiners dritte gerechte Steuer nur ein Zukunftsprojekt sein. Als Zukunftsprojekt aber kann Steiners Gensteuer den ihr zugedachten Zweck grundsätzlich nicht erreichen, die Kompensation von Eltern schwer erziehbarer (vermutlich auch behinderter) Kinder durch die Eltern leicht erziehbarer Kinder. Vergessen wir die Frage, wie man die Schwere der Erziehbarkeit bemessen will. Das Problem ist nun, daß wir eine gesicherte Gentechnik voraussetzen müssen, welche die erziehungsrelevante genetische Information von den Genen bestimmter Individuen isolierbar und reproduzierbar macht; andernfalls wäre die genetische Information kein äußeres, sondern ein angeborenes Naturgut. Besteht aber eine gesicherte Gentechnik, wie können da die Eltern von Kindern mit leichterziehbarkeitbewirkenden Genen kompensationspflichtig gegen Eltern von Kindern mit schwererziehbarkeitbewirkenden Genen sein? Jedes Elternpaar hätte doch seinem Kind die erziehungsrelevante genetische Information seiner Wahl gentechnisch sichern können. Benach- teiligte Eltern könnten einen Adressaten für ihre Benachteiligung nur in den Instanzen finden, die sie am Gebrauch der Gentechnik gehindert haben. Das aber sind nicht die Eltern von Kindern mit leichterziehbarkeitbewirkenden Genen. Wir müssen daher nicht nur schließen, daß Steiners Gensteuer unhaltbar ist, sondern auch, daß er nicht zwischen äußeren und angeborenen Naturgütern unterscheidet und die Tatsache, 267 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 27.

Steuer auf genetische Information

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daß Eltern Kinder mit leichterziehbarkeitsbewirkenden Genen - und nicht mit isolierbarer genetischer Information derselben Wirkung - haben, für einen hinreichenden Grund ihrer Kompensationspflichtigkeit gegenüber Eltern von Kindern mit schwererziehbarkeitsbewirkenden Genen hält. Er wäre damit zum zweiten Mal - nach der Behandlung aller Ressourcen als gesellschaftlicher in der Schiffbrüchigenparabel - zum Rawlsianer wider Willen geworden, und alle Argumente gegen Rawls' Berufung auf die Lotterie der Gene als Grund für die Kompensationspflichtigkeit der Talentierten gegenüber den weniger Talentierten beträfen auch ihn. Daß Steiner in der Tat nicht zwischen angeborenen und äußeren Naturgütern unterscheidet, bestätigt sich in seiner Behandlung eines Problems, mit dessen Lösung er „part of the task of formulating the third just tax" motiviert 268 , das Paradox der Selbstbestimmung. Die Ehre seiner Entdeckung komme „Locke's great seventeenth-century opponent, Sir Robert Filmer", zu.269 Das Paradox ist folgendes. Auf der einen Seite erzeugt, wie schon Locke lehrte, unser Recht, über uns selbst zu verfügen, das Recht auf Privateigentum. Denn es erzeugt „our rights to the products of our labour, since those products embody our labour and that labour, as the product of our bodies, embodies parts of our selves". Auf der anderen Seite ist jeder von uns „as a non-primordial moral agent... the product of other moral agents' labour", gewöhnlich unserer Eltern 270 : wir sind das Produkt der Arbeit unserer Eltern. Müssen wir daher nicht schließen, daß wir unseren Eltern gehören, und diese wiederum ihren Eltern als Produkte von deren Arbeit, und so weiter bis Adam und Eva, die schließlich, da nicht das Produkt von anderer Menschen Arbeit, als einzige Menschen sich selbst gehören und das Recht auf Selbstbestimmung haben? Genau diesen Schluß zog, so Steiner, Filmer, als er das behauptete, was Locke zu seinen Treatises veranlaßte, nämlich daß „Men are born in subjection to their Parents, and therefore cannot be free". 27 ' Historisch läßt sich Steiners Behauptung nicht bestätigen (vermutlich ist sie auch nicht so gemeint). Zwar begründete Filmer das Gottesgnadentum der Könige damit, daß nur Adam souverän und frei und der Rest ihm als dem Vater Untertan sei. Er sah Adams Vaterrecht aber in der Zeugung und nicht seiner Erziehungsarbeit begründet. In letzterem Fall hätte er auch Eva für gleichberechtigt halten müssen, deren Unterordnung unter Adam er vielmehr betont.272 Die Ehre der Entdeckung des Paradoxes der Selbstbestimmung muß deshalb an Steiner gehen. Er fragt zuerst, sogar „in a somewhat Kantian fashion": „How is universal original selfownership possible ? "273 Aber was ist von dem Paradox zu halten? Sind Kinder, weil Produkte der Arbeit ihrer Eltern, nach dem Lockeschen und hier auch von Steiner behaupteten Recht des Produzenten auf Aneignung seines Produkts das Eigentum ihrer Eltern? Daß sie es nicht sind, liegt nach Steiner nur daran, daß die Eltern ihre Arbeit auf ein Naturgut verausgabt haben, eben die genetische Information, deren Wert von ihnen nicht privat angeeignet werden darf (und die hier schon deshalb nur als angeborenes Naturgut verstanden werden kann, weil es zu Adams Zeiten keine Gentechnik gab): „... thus Adam and Eve partly own [Cain]. But not fully... their 268 269 270 271 272 273

Steiner, Three Just Taxes, a.a.O., 87. Steiner, An Essay, a.a.O., 242. Steiner, Three Just Taxes, a.a.O., 86f. Locke, First Treatise of Government, in: Two Treatises, a.a.O., § 6. Vgl. Locke, First Treatise of Government, a.a.O., bes. §§ 50-65. Steiner, An Essay, a.a.O., 242.

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Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit

ownership of Cain is an encumbered title and not an instance of full liberal ownership. In their case, that encumbrance - the thing that rids us of the paradox - consists in their ownership being temporary and expiring upon Cain's attainment of majority." 274 Weil Adam und Eva bei Kains Hervorbringung ein Gemeineigentum gebrauchten, nämlich eine genetische Information, ist Kain nur ihr hypothekarisch belastetes Eigentum, über das sie beim Fälligkeitstermin seiner Volljährigkeit nicht mehr verfügen dürfen. Diese Lösung ist offensichtlich völlig unzulänglich. Wenn die Eigenschaft des Gemeineigentums der genetischen Information Kain (rechtzeitig zu seiner Volljährigkeit) davon befreit, Adams und Evas lebenslängliches Privateigentum zu bleiben, dann würde er als das Gemeineigentum, das er nun geworden ist, nie das Recht auf ausschließende Verfügung über sich gewinnen können, durch das er weder das Privateigentum seiner Eltern noch Gemeineigentum aller ist, sondern frei, über sich selbst zu bestimmen. Tatsächlich war er natürlich auch vor seiner Volljährigkeit nicht das Privateigentum seiner Eltern; es ist von vornherein verfehlt und mit der liberalen Tradition unvereinbar, ihn als das Produkt ihrer Arbeit zu verstehen. Denn er ist von Beginn seiner individuellen Existenz an durch seine Vernunftfähigkeiten allen anderen Wesen mit denselben Fähigkeiten ebenbürtig und ebenso frei wie seine Eltern: „there being nothing more evident, than that Creatures of the same species and rank promiscuously born to all the same advantages of Nature, and the use of the same faculties, should also be equal one amongst another without Subordination or Subjection." 275 Die Arbeit seiner Eltern an ihm gibt ihnen kein Recht, über ihn als ihr Produkt zu verfügen, weil seine Eigenschaften von derselben Art sind wie die, die seine Eltern dazu berechtigen, Sachen, d.h. Dinge, die solche Eigenschaften nicht haben, anzueignen. Steiners Paradox besteht darin, daß zwei weithin (zumindest bei den Libertaristen) anerkannte Prinzipien zu konfligieren scheinen, das Recht darauf, über sich selbst zu verfügen, und das Recht auf Aneignung des Produkts der eigenen Arbeit, von denen das zweite das erste aufzuheben scheint. Das Paradox ist nur möglich, wenn man das Recht auf Aneignung des eigenen Arbeitsergebnisses für unabhängig vom Recht auf Selbstbestimmung und mit ihm gleichberechtigt hält. Nur dann kann es das Selbstverfügungsrecht aufheben. Das Paradox löst sich dagegen auf, sobald man erkennt, daß das Selbstverfügungsrecht das Aneignungsrecht begründet und seinerseits durch eine Qualität der zur Selbstverfügung berechtigten Person begründet wird (durch seine Vernunft oder Begründungsfähigkeit), die ihre Aneignung gerade deshalb verbietet, weil sie sie zur Verfügung über sich selbst berechtigt. 276

4. Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber Rawls Ronald Dworkin hat keine systematische Gerechtigkeitstheorie wie Rawls und, dem Ansatz nach, auch Nozick entwickelt, wohl aber eine Deutung der gleichen Freiheit, die eine neue Antwort auf unsere Frage gibt, wie gleiche Freiheit zu verstehen und woran sie zu messen ist,

2 7 4 Ebd., 275. 275 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., § 4. 2 7 6 Vgl. zur Steiner-Diskussion: Steinvorth, Steiner's Justice, in: Analyse und Kritik 17, 1995, 2 1 - 3 4 .

Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber Rawls

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ihre Deutung als Gleichheit der Ressourcen. 2 7 7 B e k a n n t wurde er durch seine Theorie der Rechte als Trümpfe, die von seiner Idee der Ressourcengleichheit unabhängig ist und, wie wir sehen werden, sie nur inkohärent ergänzt. W i e Rawls bietet er ein Verfahren zur gerechten A u f t e i l u n g k n a p p e r Ressourcen an. Durch dies Verfahren sollen wie durch R a w l s ' Urzustandsentscheidungen die vagen Ideen von Freiheit und Gleichheit expliziert werden, die beide Autoren als anerkannt voraussetzen, und wie bei Rawls besteht das Aufteilungsverfahren in einer Abstimmung der Interessen der Betroffenen unter idealen Bedingungen. Mit Rawls verbinden Dworkin nicht nur Gemeinsamkeiten im Verfahren, gerechte Güteraufteilungen zu finden; Gemeinsamkeiten, die sich eher als oberflächlich erweisen werden. Wichtiger sind inhaltliche Gemeinsamkeiten. Auch Dworkin gibt sich nicht mit dem System der liberalen Gleichheit zufrieden, von der natürlichen Freiheit ganz zu schweigen, über die die Libertaristen nicht hinausgehen wollen. Auch er hält es für ungerecht, wenn nur die sozialen und nicht auch die natürlichen Kontingenzen ausgeschaltet werden, die in den wirklichen Gesellschaften die Güterverteilung bestimmen. Aber er hält das Differenzprinzip für ungeeignet, die liberale zur demokratischen Gleichheit zu ergänzen. Er vermeidet nicht nur A r g u m e n t e , die einen sozialen D e t e r m i n i s m u s implizieren, wie es eins von R a w l s ' Argumenten für die demokratische Gleichheit tut 278 ; er stützt sich vielmehr in seinen Argumenten auf harte Annahmen der Selbstverantwortlichkeit der Individuen und vor allem auf die Freiheit des Markts. Worin unterscheidet sich Dworkins von R a w l s ' Verfahren? Erstens in der Zielsetzung. Rawls gebraucht sein Verfahren, um Grundsätze der Gerechtigkeit zu finden; Dworkin, um konkretere Verteilungsprobleme zu lösen. Das ist eine naheliegende Ökonomisierung von R a w l s ' Ansatz. W e n n man wie R a w l s behauptet, in der Fairneßgerechtigkeit oder d e m Verfahren der Urzustandsentscheidungen die M e t h o d e g e f u n d e n zu haben, alle Probleme gerecht zu lösen, die im Zusammenleben von Menschen auftreten können, dann kann man auf die Formulierung von Gerechtigkeitsgrundsätzen verzichten und die Methode ohne ihre Hilfe direkt auf die Probleme anwenden. Dworkin braucht daher auch kein spezifisches Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit. Das Prinzip der gleichen Freiheit ist wie in der liberalen Tradition das grundlegende Gerechtigkeitsprinzip, aber es hat nicht die Bedeutung, gleiche Achtung oder Unverletzlichkeit zu fordern, sondern ein marktorientiertes Verteilungsverfahren zu begründen. Die idealen Bedingungen, unter denen die Betroffenen ihre Interessen abstimmen, unterscheiden sich von den idealen B e d i n g u n g e n , unter denen im R a w l s s c h e n Urzustand Vereinbarungen getroffen werden. Dies ist der zweite Punkt, in dem sich Dworkins Verfahren unterscheidet. Rawls' ideale Bedingungen sind die (entscheidungstheoretisch formalisierbare) Rationalität der Vertragspartner und ihre U n k e n n t n i s ihrer eigenen E i g e n s c h a f t e n . Dworkins ideale Bedingungen sind die des idealen Markts. Auch hier sind die Partner rational, aber den Schleier der Unwissenheit, durch den Rawls die Gleichheit der Vertragspartner 277 In vier an verschiedenen Stellen erschienenen Teilen des Aufsatzes What is Equality?, von denen ich hier nur den zweiten und dritten Teil behandle. Es sind Part 1 : Equality of Welfare, in: Philosophy and Public Affairs 10, 1981, 1 8 5 - 2 4 6 ; Part 2: Equality of Resources, in: Philosophy and Public Affairs 10, 1981, 2 8 3 - 3 4 5 ; Part 3: The Place of Liberty, in: Iowa Law Review 73, 1987-8, 1 - 7 3 ; Part 4: Political Equality, in: University of San Francisco Law Review 22, 1987, 1-30. 278 Siehe oben im letzten Abschnitt des Rawls-Kapitels.

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erreichen will, ersetzt Dworkin durch Gleichheit der Tauschkraft. Die Partner auf einem fiktiven idealen Markt teilen die knappen Güter, um die sie konkurrieren, untereinander durch eine unbeschränkte Zahl von Tauschakten bei Gleichheit ihrer Tauschmittel und in vollständiger Kenntnis ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten und der Eigenschaften der Güter auf. Die Tauschmittelgleichheit kann nur den Ausschluß solcher Kenntnisse verlangen, die die Tauschsituation ungleich machen würden, und zu einem dünnen Schleier der Unwissenheit führen. Die Ressourcengleichheit, die Dworkin der Rawlsschen Fairneßgerechtigkeit als das Kennzeichen seiner Theorie entgegenstellt, ist eine Gleichheit der Tauschressourcen. Hieraus folgt ein dritter Unterschied. Rawls begründet die Verbindlichkeit oder Gültigkeit seiner Gerechtigkeitsgrundsätze damit, daß sie unter idealen Bedingungen vereinbart werden. Er legt seiner Gerechtigkeitstheorie eine allgemeinere Theorie der Normenlegitimation durch Vertrag zugrunde. Für Dworkin dagegen gründet die normative Richtigkeit einer Verteilung nicht darin, daß sie vereinbart wurde, sondern darin, daß sie das Ergebnis freier individueller Entscheidungen gleicher Partner ist. Auch Rawls könnte zwar seine Gerechtigkeitsgrundsätze als das Ergebnis freier Entscheidungen gleicher Partner beschreiben. Aber ihre Gültigkeit beruht doch darauf, daß die freien Entscheidungen gleicher Partner bewußt und willentlich als gemeinsame getroffen werden. Diese Bedingung fehlt bei Dworkin: „... a just distribution is one that well-informed people create for themselves, by individual choices, provided that the economic system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just" 2 7 9 : Eine Verteilung ist gerecht, wenn sie aus wohlinformierten Ä^H/entscheidungen von Individuen mit gleichen Ressourcen hervorgeht. Er stimmt zwar darin mit Rawls, Habermas und vielen anderen Zeitgenossen überein, daß, was gerecht ist, durch den Konsens der Betroffenen (und nicht schon durch die Anerkennung des Ideals der Zwangminimierung) bestimmt wird, sieht aber den Konsens oder die demokratische Legitimierung von Regeln und Institutionen in Kaufakten bei Ressourcengleichheit gegeben. Dieser Ansatz führt Dworkin zur Wiederentdeckung des Versicherungsprinzips, das die europäische Politik seit dem 19. Jahrhundert erfolgreich als ein Mittel zur Wahrung sozialer Rechte gebrauchte, von der neueren politischen Theorie aber nicht wahrgenommen wurde. Er hat auch den Vorteil, mit Prinzipien auszukommen, für die starke Intuitionen sprechen. Aber er endet in Schwierigkeiten, die Dworkin selbst anerkennt, ohne aus ihnen die Konsequenz seiner Revision zu ziehen. Das Marktmodell Um eine verbindliche Antwort auf die uns bekannte Frage zu finden, wie Nutzen und Lasten der modernen Gesellschaften zu verteilen sind, idealisiert Dworkin ähnlich und zur Lösung derselben Schwierigkeiten wie Steiner die gegebene soziale Wirklichkeit zur Entscheidungssituation Schiffbrüchiger auf einer Insel, die die vorgefundenen Ressourcen aufteilen müssen. Er stützt sich auf unsere moralischen Intuitionen, wenn er folgende ideale Versteigerung als den gerechtesten Lösungsweg vorschlägt: „The divider needs some form of auction or other market procedure ... I shall describe a reasonably straightforward procedure that would seem acceptable if it could be made to work, though as I shall describe it, it will be impossibly expensive of time. Suppose the divider hands each of the immigrants an equal and large number of clamshells, which are sufficiently numerous and in themselves valued by no 279 Ronald Dworkin, Will Clinton's Plan Be Fair?, in: New York Review of Books, 13.1.94, 23.

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one, to use as counters in a market of the following sort. Each distinct item on the island (not including the immigrants themselves) is listed as a lot to be sold, unless someone notifies the auctioneer (as the divider has now become) of his or her desire to bid for some part of an item". 280 Die fiktive Auktion nimmt mehr Zeit in Anspruch, als in der unter Handlungszwang stehenden Wirklichkeit gegeben ist. Deshalb ist sie keine Utopie, sondern nur ein Modell „to sharpen ideals - so that we can be sure that our present distribution of private property is not ideal". 281 „The auctioneer then proposes a set of prices for each lot and discovers whether that set of prices clears all markets, that is, whether there is only one purchaser at that price and all lots are sold. If not, then the auctioneer adjusts his process until he reaches a set that does clear the market. But the process does not stop then, because each of the immigrants remains free to change his bids even when an initially market-clearing set of prices is reached, or even to propose different lots. But let us suppose that in time even this leisurely process comes to an end, everyone declares himself to be satisfied, and goods are distributed accordingly." 2 8 2 Unter den idealisierten Bedingungen kann die Versteigerung die Aufgabe, die vorgefundenen Ressourcen gerecht aufzuteilen, bestechend gut lösen. W a s besticht an der L ö s u n g ? Erstens die Unbestechlichkeit der Wertbemessung der interessierenden Güter. W a s immer jemand als ein Gut unter den Gütern der Insel oder als einen möglichen Gebrauch betrachtet, der nicht von allen gemeinsam genossen werden kann, wird auf die Liste der ersteigerbaren Güter gesetzt. Wenn schließlich derjenige das Gut erhält, der am meisten für es bietet, ist es gerecht, weil er durch sein Höchstgebot zeigt, daß er am meisten f ü r es zu opfern bereit ist. Jeder hätte, da jeder gleich viele Muscheln zum Bieten hat, ebenso viel bieten können; wenn er es nicht tut, dann zeigt er, daß ihm andere Güter wichtiger sind. Die Preise der Güter werden von niemanden bestimmt als den Bietenden selbst. Je begehrter ein Gut, j e knapper es einerseits und j e unverzichtbarer es anderseits den Bietenden scheint, desto mehr bieten für es und desto höher steigt der Preis. Die Marktprozesse wirken, weil die Bieter gleiche Tauschkraft haben, als unbestechliche Richter in der Zuweisung jedes Guts an den, dem es am liebsten und teuersten ist. Allerdings ist die Wertbemessung nur dann unbestechlich, wenn wirklich alle Bietenden gleich viele M u s c h e l n haben. Kann diese e n t s c h e i d e n d e ideale B e d i n g u n g aber j e in der Wirklichkeit erfüllt sein? Was taugt ein Modell, dessen schöne Seiten in der Wirklichkeit nie erreicht werden können? Zweitens besticht an Dworkins Verfahren, daß das Teilungsergebnis dem Neidtest genügt. Wenn am Ende alles aufgeteilt ist, hat niemand Grund, auf das ersteigerte Güterbündel eines anderen neidisch zu sein. Würde er es seinem vorziehen, so hätte er es ebenso gut ersteigern können. Zwar kann j e m a n d am Ende unzufrieden sein, nämlich, wenn die Insel nur solche Ressourcen hat, die ihm alle nicht gefallen, etwa nur Ödland und Kartoffeln. Er zieht deswegen aber kein fremdes Bündel dem eigenen vor. Nicht die Teilung ist dann ungerecht, sondern das A u f z u t e i l e n d e enttäuschend. Das T e i l u n g s v e r f a h r e n genügt daher dem Kriterium der Gerechtigkeit, das Dworkin Neidtest nennt. Nach ihm sind Aufteilungen nur gerecht, wenn das Zugeteilte n i e m a n d e n neidisch macht. 2 8 3 D e r Neidtest gebraucht trotz seines N a m e n s 280 281 282 283

Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 286. Dworkin, What Is Equality?, Part 3, a.a.O., 39f. Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 286f. Ebd., 285.

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nicht das Laster des Neids zur Messung der Gerechtigkeit einer Verteilung. Vielmehr wird das Urteil jedes Betroffenen, ob er selbst eine vorgeschlagene Verteilung der ihm bekannten aufzuteilenden Güter als gerecht anerkennen kann, zum Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit gemacht. Der Neidtest kann aber nicht wenigstens als notwendige Bedingung aller gerechten Teilungen anerkannt werden. Manche Teilungen lassen sich gerecht nur durch ein Losverfahren entscheiden, dessen Ergebnis Grund zum Neid geben kann, ohne deswegen aufzuhören, gerecht zu sein. Ist der Neidtest also ein relativ strenges Kriterium, dessen Bestehen einem Verfahren seine Gerechtigkeit sichert? Auch das kann nicht anerkannt werden. Hans im Glück war nicht neidisch auf die Tauschpartner, die ihn übervorteilten, aber deswegen waren die Tauschakte nicht gerecht. Drittens besticht Dworkins Verfahren durch die Selbstverantwortlichkeit der Teilnehmer. Rawls' Parteien können, da ihnen ein Selbst fehlt, nur unpersönlich und ohne Selbstverantwortung wählen. Bei Dworkins Versteigerung dagegen steht der Bietende mit seinen Geboten für das Leben ein, auf das er sich durch seine Kaufentscheidungen festlegt. Die idealen Bedingungen ihrer Wahl dienen nicht der Bestimmung gerechter Grundsätze, sondern der gerechten Wahl ihres Lebens. Allerdings hat auch dieser Aspekt seine Schattenseiten. Die Ersetzung des Urzustands durch die Versteigerung ist ein Schritt von der Verhandlungsrationalität zur Marktrationalität. Da der Liberalismus historisch mit der Ersetzung feudaler, absolutistischer und bürokratischer Verteilungsinstitutionen durch solche des Markts verbunden ist, könnte man Dworkins Verteilungsgerechtigkeit für die halten, die dem Liberalismus angemessener ist als die Rawlssche Verteilungsgerechtigkeit. Tatsächlich müssen wir in ihr eine Skepsis gegen die Verbindlichkeit rationaler Argumente erkennen, an der Rawls ebenso wie Habermas und Apel durch Rückgriff auf eine Verhandlungssituation zwischen Gleichen festhalten. Das Vertrauen in die handlungsbestimmende Kraft des Arguments und des öffentlichen Austausche von Argumenten hat aber den Liberalismus der politischen Philosophie immer ausgezeichnet. Dies Vertrauen fehlt in Dworkins Verteilungsgerechtigkeit. Den rationalen Diskurs ersetzt das individuelle Marktkalkül. Das streicht zwar die Verantwortlichkeit der Individuen heraus, der Rawls' Theorie kaum Platz läßt, aber entzieht ihr zugleich die argumentative Grundlage. Ohne diese Grundlage jedoch ist die Selbstverantwortlichkeit auf Sand gebaut. Man muß sogar einen noch dunkleren Punkt am bestechenden Aspekt der Dworkinschen Selbstverantwortlichkeit sehen. Die Skepsis gegen das Argument teilt Dworkins Verteilungsgerechtigkeit mit Carl Schmitts Liberalismuskritik. Diese richtete sich gegen die Verbindlichkeit parlamentarischer Abstimmungen. Solche Abstimmungen hielten Schmitt und andere Liberalismuskritiker seiner Zeit für unverbindlich, weil sie in ihnen den Einsatz der Abstimmenden für die Entscheidung mit ihrem eigenen Leben oder ihren Tod vermißten. Deshalb sahen sie im politischen Kampf unter Opfer des eigenen und des Lebens des Feindes die Rechtfertigung ihrer illiberalen Entscheidungen. 284 Dworkin ist von diesem blutrünstigen Geist weit entfernt. Es sind Marktentscheidungen, in denen er die Quelle der Verteilungsgerechtigkeit findet. Die Marktentscheidungen aber legen die Individuen ebenso auf ihr Leben fest wie die existenziellen Entscheidungen, die Carl Schmitt den parlamentarischen Abstimmungen entgegensetzt. Die Gerechtigkeit entscheidet sich nicht auf dem Schlachtfeld, aber dort, wo das Argument ebensowenig zu Hause ist, auf dem Markt. 2 8 4 Vgl. den Abschnitt zu Carl Schmitt im ersten Teil.

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Für Dworkin sind die bestechenden Aspekte seiner Versteigerungsaufteilung Grund genug dafür, den Markt nicht nur wie üblich als Mittel zum Zweck der Effizienz und Freiheit der ökonomisch Erfolgreichen anzuerkennen, sondern wie unüblich auch als Vehikel der Gleichheit und Gerechtigkeit: „The idea of a market for goods has figured in political and economic theory, since the eighteenth century, in two rather different ways. It has been celebrated, first, as a device for both defining and achieving certain community-wide goals variously described as prosperity, efficiency, and overall utility. It has been hailed, second, as a necessary condition of individual liberty ... But the economic market... has during this same period come to be regarded as the enemy of equality ... both political philosophers and ordinary citizens have therefore pictured equality as the antagonist or victim of the values of efficiency and liberty supposedly served by the market, so that wise and moderate politics consists in striking some balance ... between equality and these other values ... I shall try to suggest, on the contrary, that the idea of an economic market, as a device for setting prices for a vast variety of goods and services, must be at the center of any attractive theoretical development of equality of resources." 285 Dworkin setzt sich ein hohes Ziel: den Markt als das wirksamste Mittel nicht nur der individuellen Freiheit und der Effizienz in Güterproduktion und -Verteilung, sondern auch der Gleichheit der Individuen in ihren Ressourcen auszuweisen. Sein Mittel, dies Ziel zu erreichen, bleibt aber immer ein Marktmodell, das der idealen Bedingung gleicher Ressourcen, konkreter der gleichen Muschelzahl, in der Hand der Marktteilnehmer genügt. Diese Bedingung macht Dworkins Markt nicht nur zu etwas, was es in der Wirklichkeit nicht gibt, sie macht ihn auch zu etwas Widersprüchlichem. Denn ein Markt ist ein Ort, an dem die Individuen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten frei betätigen und in unterschiedliche ökonomische Ergebnisse verwandeln, die jeden anfänglich gleichen Besitz ungleich macht. Trotzdem glaubt Dworkin nicht nur nachweisen zu können, daß der Markt vereinbar mit Gleichheit, sondern sogar, daß Freiheit als Bedingung des Funktionierens eines Markts gerechtfertigt ist, der Gleichheit herstellt: „So liberty is necessary to equality ... not on the doubtful and fragile hypothesis that people really value the important liberties more than other resources, but because liberty, whether or not people value it above all else, is essential to any process in which equality is defined and secured." 286 Mit dieser These liefert Dworkin eine sehr eigenwillige Deutung der liberalen Tradition. Für die liberale Tradition ist die Gleichheit nur ein Ideal, weil jeder ein Recht auf Freiheit hat. Dworkin findet dagegen die Freiheit als ein Ideal nur deshalb begründbar, weil ohne sie nicht die Ressourcengleichheit auf dem Markt gesichert werden kann. Daß die Ressourcengleichheit ausgerechnet durch die Freiheit zu sichern sein sollte, ist erstaunlich genug; daß sie aber ihre Rechtfertigung aus ihrer Rolle für die Gleichheit bezieht und durch diese gerechtfertigt wird, ist mit der liberalen Tradition unvereinbar. Entgegen seiner Behauptung 287 ordnet Dworkin die Freiheit, wenn sie als Bedingung der Ressourcengleichheit gerechtfertigt wird, dieser unter. Ist die Freiheit ein unabhängiger Wert, 285 Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 284. 286 Ebd., 3. 287 Denn Dworkin behauptet ebd., 3: „This does not make liberty instrumental to distributional equality any more than it makes the latter instrumental to liberty: the two ideas rather merge in a fuller account of when the law governing the distribution and use of resources treats everyone with equal respect."

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so muß sie dadurch gesichert werden, daß der Staat sie jedem Bürger garantiert, auch wenn dazu bei Bürgern ungleich viele Ressourcen aufgewendet werden müssen. Je gefährdeter jemand etwa wegen seines Reichtums oder aus andern Gründen ist, desto mehr Sicherheitsleistungen schuldet ihm der Staat. 288 Dworkins Idee der Ressourcengleichheit ist mit dieser Koppelung von gleicher Freiheit und gleicher Sicherheit unverträglich. Denn sie garantiert nur, daß jedem zum Schutz seiner Freiheit gleiche Ressourcen zur Verfügung stehen. Zwar hat Dworkin schon in seiner ersten Beschreibung der Auktion hervorgehoben, daß die Schiffbrüchigen „do not yet realize ... that it might be wise to keep some resources as owned in common by any state they might create." 289 Er läßt sich also die Möglichkeit offen, für einen Staat zu argumentieren, der jeden vor Behinderungen seiner Freiheit schützt. Das Maß der Gleichheit eines solchen Schutzes kann aber nach der Idee der Ressourcengleichheit nur in der Gleichheit der Sicherheitskosten pro Person bestehen. Zumindest muß ein Mehr an Sicherheitsaufwand für eine Person durch ein Weniger an Ausgaben für sie an anderer Stelle kompensiert werden. Darin kann man freilich eine Stärke der Idee der Ressourcengleichheit sehen. Man kann es als ungerecht empfinden, daß der Staat etwa für die in ihrem Reichtum eher bedrohten Reichen mehr Mittel aufwenden sollte als für die weniger bedrohten Armen. Aber diese Empfindung ist trügerisch. Tatsächlich kann gerade ein Mittelloser mehr an staatlichem Sicherheitsaufwand erfordern als ein Reicher. Die außerordentlichen Aufwendungen des britischen Staats für die Sicherheit seines einen Bürgers Salman Rushdie liefern dafür ein Beispiel. Vermutlich möchte Dworkin an der klassischen Idee der Rechtssicherheitgleichheit festhalten. Aber er kann sie nur durch Hilfsannahmen garantieren, die nicht seinem Ansatz zu entnehmen sind, die gleiche Freiheit als Ressourcengleichheit zu konzipieren. Eine solche Hilfsannahme ist seine Deutung der Rechte als „Trümpfe", die ein Individuum gegen ein anerkanntes Gemeinschaftsziel (wie die Erhöhung des Bruttosozialprodukts oder die Glücksmaximierung) zur Rechtfertigung einer Handlungsweise ausspielen kann, wenn diese nur nicht das gleiche Trumpfrecht eines andern verletzt. 290 Diese Auffassung entspricht der klassischen Idee der Freiheit, die um ihrer selbst willen zu schützen ist und nicht als notwendige Bedingung des Funktionierens des Markts oder irgend eines andern Vehikels der Gleichheit. Sie kann leicht in Widerspruch zur Idee der Ressourcengleichheit geraten, wie das Beispiel der überdurchschnittlichen Sicherheitsausgaben für einen Menschen wie Rushdie zeigt. Die Erweiterung des Modells Daß Dworkin die Freiheit faktisch der Ressourcengleichheit unterordnet, schadet zwar seinem Anspruch, die liberale Tradition zu explizieren, aber nicht seinem Anspruch, im Markt ein zentrales Mittel zur Sicherung der Gleichheit nachzuweisen, „a device for setting prices 288 Diesen Aspekt der klassischen Gleichheitsbegriffs beschreibt anschaulich Gregory Vlastos, Justice and Equality, in: Jeremy Waldron (ed.), Theories of Rights, Oxford 1984, 4 1 - 7 6 (zuerst 1962). Dieser bemerkenswerte Aufsatz nimmt im übrigen viele Züge von Rawls' Theory of Justice vorweg. 2 8 9 Dworkin, What Is Equality?, Part 2, a.a.O., 285. 2 9 0 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, London 1978, und zusammengefaßt Dworkin, Rights as Trumps, in: Waldron (ed.), Theories of Rights, a.a.O., 153-167, bes. 153.

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for a vast variety of goods and services", das „must be at the center of any attractive theoretical development of equality of resources." 291 Dieser Anspruch droht am Marktmechanismus selbst zu scheitern, der die ungleichen Fähigkeiten von Menschen in ungleiche Ressourcen verwandelt. Was macht Dworkin mit diesem Aspekt des Markts? Er verweist selbst auf ihn. Haben die Schiffbrüchigen einmal die Inselressourcen verteilt, so führen die Unterschiede der Talente und des Glücks zu Ressourcenungleichheit und der Neidtest versagt. 292 Aber diese Entwicklung gelte zu Unrecht als Grund, den Markt als Feind der Gleichheit anzusehen, wie es schon Locke tat.293 Denn Dworkin verweist auch darauf, daß der Markt selbst die Mittel hergibt, zwar nicht mehr die strenge Ressourcengleichheit, aber die demokratische Gleichheit zu sichern, um die es Dworkin wie Rawls geht. Dies Mittel sind Versicherungen gegen Benachteiligungen durch die Faktoren, die den Markterfolg bestimmen. Mit ihnen kann man sich nicht nur gegen Krankheit, Unfall, Katastrophen versichern, sondern auch gegen Arbeitslosigkeit und Talentmangel; gegen alle Kontingenzen, die Lotterie der Gene eingeschlossen, deren Willkür Rawls durch das Differenzprinzip ausschalten möchte. Die Versicherungen, die der Markt selbst hergibt, leisten dasselbe, was Rawls' Differenzprinzip leisten soll, aber setzen nach Dworkins Anspruch weniger zweifelhafte Annahmen zu ihrer Rechtfertigung voraus. In der Tat wirkt Dworkins Modell marktgegebener Versicherungen gegen die Kontingenz der Faktoren, die den Markterfolg und mit ihm die Ungleichheit bestimmen, ähnlich bestechend wie sein Versteigerungsmodell zur gerechten Aufteilung der vorgefundenen Ressourcen. Aber betrachten wir näher, worin sein Versicherungsmodell besticht. Ich übergehe die schon von Rawls bekannte Schwierigkeit zu begründen, warum man überhaupt die liberale Gleichheit durch die demokratische Gleichheit ergänzen und die durch unterschiedliche Talente bedingte Ungleichheit ausgleichen muß. Dworkin verweist zwar darauf, daß der ungleiche Erfolg im Gebrauch der ersteigerten Güter zu einer Verteilung führt, die nicht mehr dem Neidtest genügt und deshalb nicht gerecht sei. Aber daß das ungleiche Ergebnis des Gebrauchs gleicher Ressourcen ungerecht ist, auch wenn keine Rechte verletzt wurden, bedarf selbst der Begründung. Diese Begründungsschwäche teilt Dworkin jedenfalls mit Rawls, und von ihr haben wir schon gehandelt. Das Versicherungsmodell besticht darin, daß es eine marktgesteuerte Güterverteilung vom Vorwurf befreit, die Menschen der Kontingenz ihrer Fähigkeiten zu unterwerfen. Die Versteigerung demonstrierte, daß eine marktgesteuerte Güterverteilung gerecht wäre, wenn nur jeder die gleiche Tauschkraft hätte. Die Versicherungen demonstrieren, daß eine marktgesteuerte Güterverteilung trotz der ihr immanenten Förderung der Ungleichheit gerecht wäre, wenn sich nur jeder mit der vorausgesetzten gleichen Tauschkraft gegen die Kontingenz des Markterfolgs versichern würde. Die Frage ist jedoch, ob man noch von einer marktgesteuer291 Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 284. 292 Ebd., 293: „... then the envy test will shortly fail. Some may be more skillful than others at producing what others want and will trade to get it. Some may like to work, or to work in a way that will produce more to trade, while others like not to work or prefer to work at what will bring them less. Some will stay healthy while others fall sick, or lightning will strike the farms of others but avoid theirs. For any of these and a dozens of others reasons some people will prefer the bundle others have in say, five years, to their own." 293 Locke, 2nd Treatise of Government, a.a.O., §§ 47-50. „Find out someting that hath the Use and Value of Money amongst his Neighbours, you shall see the same Man will begin presently to enlarge his Possessions." (§ 49)

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ten Güterverteilung reden kann, wenn es die Versicherungen gibt, die jeden gegen die Launen des Schicksals versichern. Denn diese Versicherungen können, um die ihnen zugedachte Rolle zu spielen, nicht selbst nach den Marktgesetzen arbeiten. Sie dienen dem Theoretiker nur als Modell, an dem der Sozialminister oder seine Beamten berechnen, welche Beiträge man von den Bürgern zur Auffüllung einer Kasse verlangen kann, aus der den von einer Kontingenz Getroffenen die Leistungen gezahlt werden, die eine Versicherung zahlen würde, die auf dem Markt arbeiten würde, wenn man gleiche Ressourcen voraussetzen könnte. Dworkin entdeckt auf diese Weise wieder die Rolle von Zwangs- und Solidarversicherungen für die Verwirklichung weithin anerkannter Gleichheitsideale. Das ist verdienstlich, aber nicht gerade ein Beweis dafür, wie gut eine marktgesteuerte Güterverteilung Gerechtigkeit verwirklicht. Dworkin führt seine Versicherungen allerdings nicht als bloße Rechenhilfe für Zwangsversicherungen gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit ein, sondern als Marktpartner, mit denen selbstverantwortliche Individuen die Kontingenz des schieren Glücks und Unglücks, des brute good luck und brute bad luck, zum kalkulierbaren Glück, dem option luck zähmen: „Insurance, so far as it is available, provides a link between brute and option luck, because the decision to buy or reject catastrophe insurance is a calculated gamble. Of course, insurance does not erase the distinction. Someone who buys medical insurance and is hit by an unexpected meteorite still suffers brute bad luck, because he is worse off than if he had bought insurance and not needed it. But he has had better option luck than if he had not bought the insurance, because his situation is better in virtue of his not having run the gamble of refusing to insure." 294 Dworkin streicht dabei die Selbstverantwortlichkeit der Individuen heraus. Auf die Frage: „Is it consistent with equality of resources that people should have different income or wealth in virtue of differing option luck?" 295 antwortet Dworkin entschieden: Wer darauf setzt, ohne Versicherung auszukommen, muß die Folgen seiner risikofreudigen Entscheidung selbst tragen. Wir sind nicht verantwortlich für schieres, wohl aber für kalkulierbares Unglück. 296 Auch wenn zwei Menschen beim selben Unfall erblinden, von denen nur einer versichert ist, und es ungerecht scheint, daß der eine Rehabilitationsmaßnahmen erhält und der andere seinem Schicksal überlassen bleibt, erklärt Dworkin: „The availability of insurance would mean that, though they had both brute bad luck, the difference between them was a matter of option luck ... the situation cannot be different if the person who decided not to insure is the only one to be blinded ... If neither had been blinded, the man who had insured against blindness would have been the loser." 297 Doch diese Marktorientierung kann Dworkin nicht lange durchhalten. Denn es gibt Unglücksfälle, für die jede Versicherung ohne Schuld des Betroffenen zu spät kommt: „Some people are born with handicaps, or develop them before they have either sufficient knowledge or funds to insure on their own behalf. They cannot buy insurance after the event. Even handicaps that develop later in life, against which people do have the opportunity to insure, are not randomly distributed through the population, but follow genetic tracks, so that sophisticated

294 295 296 297

Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 293. Ebd. Ebd., 294. Ebd., 297.

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insurers would charge some people higher premiums for the same coverage before the event." 298 Hier versagen die Marktmittel, weil der Verkauf von Versicherungen die Unkenntnis darüber voraussetzt, ob oder mit welcher Wahrscheinlichkeit den Versicherungsnehmer der Versicherungsfall trifft. 299 Dworkin glaubt trotzdem am Markt als dem Modell der Verteilungsgerechtigkeit festhalten zu können. Denn „the idea of a market in insurance provides a counterfactual guide through which equality of resources might face the problem of handicaps in the real world." 300 Hier verwandelt sich die Marktversicherung in eine Institution, die eine Marktversicherung unter kontrafaktischen Bedingungen imitiert. Wie soll sie aussehen? Man muß, so Dworkin, für diese Fälle eine Kasse zur Kompensation der Opfer von schierem Unglück einrichten, „collected by taxation or other compulsory process", in einer Höhe, die der Leistung entspricht, für die sich „the average member of the community" auf dem Markt versichert hätte.301 A/ar&rorientiert ist die Lösung darin, daß sowohl die Kompensationsleistungen als auch die Einzahlungen in die Kasse so hoch sind wie einerseits die Leistungen einer Versicherung, die ein normaler Mensch auf einem Versicherungsmarkt bei Tauschkraftgleichheit für sich kaufen würde, wenn er es könnte, anderseits wie die Summen, für die er die Versicherungsleistungen kaufen müßte. Staaisorientiert ist sie darin, daß sie allen, weil jeder das Opfer schieren Unglücks sein kann, einen Versicherungszwang auferlegt. Das Ergebnis ist eine staatlich durchgesetzte Zwangsversicherung, deren Beitrags- und Leistungshöhe sich an geschätzten Marktverhältnissen orientiert, deren Ein- und Auszahlung aber einkommensunabhängig und nur bedürfnisabhängig ist. Es ist eine Pflichtversicherung für alle, die wie viele solcher Versicherungen in Europa jeden nach seinem Einkommen (seinen „Fähigkeiten") einzahlen und jedem nach seinen Unglücksfällen (seinen „Bedürfnissen") auszahlen läßt und so (noch vor Marx' „höherer Phase der kommunistischen Gesellschaft") dem Prinzip folgt Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!.302 Solche Zwangsversicherungen können unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt werden, wie ich noch zeigen will 303 , aber welchen Spielraum lassen sie für die von Dworkin so betonte Selbstverantwortlichkeit der Individuen? Immerhin kann Dworkin je nach Art der Kontingenz zwischen Versicherungen unterscheiden, die nach Marktprinzipien arbeiten und gerade dadurch Gerechtigkeit verwirklichen könnten, wenn nur jeder gleiche Tauschkraft hätte, und solchen, die es nicht können. Entsprechend dieser Unterscheidungsmöglichkeit kann Dworkin auch zwischen sozialen Rechten unterscheiden und braucht nicht wie Rawls pauschal irgendwie Benachteiligten oder Schlechtergestellten ein Recht auf Besserstellung durch die Bessergestellten zuzubilligen. Der Staat wird nur dort als Nothelfer gefordert, wo Individuen nicht für sich selbst sorgen können, und

298 Ebd. 299 Dieser Fall trifft mit dem medizinischen Fortschritt in der individuellen Prognostik zunehmend auf die Krankenversicherungen zu. Vgl. Steinvorth, Genomanalyse - Lasten, Rechte und Pflichten des Gebrauchs genetischen Wissens, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 28, 1995, 378-81. 300 Dworkin, What is Equality?, Part 2, 297. 301 Ebd., 297f. 302 Marx, Kritik des Gothaer Programms, a.a.O., 17. 303 Im dritten Teil im Kapitel über die liberale Gleichheit.

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das auch nur als Ergänzer von Leistungen, deren Art und Umfang nach denen bemessen wird, welche die Betroffenen selbst für sich aufwenden würden, wenn sie dazu in der Lage wären. Das sind intuitiv überzeugende Auffassungen, für die Dworkin auch überzeugende Prinzipien angeben kann. Staatshilfe wird immer dann nötig, wo der einzelne schieres Unglück nicht durch kalkulierbares Unglück zähmen kann, aber sie geht nicht über das hinaus, was der selbstverantwortliche einzelne dafür aufwendet, schieres in kalkulierbares Unglück zu verwandeln. Aber welche Rolle spielt bei diesen Prinzipien noch der Markt? Auch das, was der selbstverantwortliche einzelne zur Zähmung des schieren Unglücks ausgibt, setzt zu seiner Feststellung keinen Markt voraus. Die Menschen haben nicht erst für Notfälle vorgesorgt, seit sie Versicherungspolicen kaufen können. Die Gerechtigkeit, für die Dworkin tatsächlich argumentiert, ist nicht die des Markts, sondern die des selbstverantwortlichen, seine Konsequenzen voraussehenden und seine Möglichkeiten abwägenden Handelnden, der nur dann die staatlich vermittelte Hilfe anderer beanspruchen darf, wenn er vom schieren Unglück getroffen ist, für das er in keiner Weise verantwortlich ist. Durch seinen Verweis auf den Markt als Modell für Versicherungen und Sozialleistungen erreicht Dworkin etwas sehr Wichtiges: Er erinnert daran, daß man nicht beliebige Leistungen etwa für den Krankheitsfall fordern darf, sondern das Geforderte auf das beziehen muß, was man selbst für die Verhinderung der Krankheit zu opfern bereit ist. Wenn man etwa lebensverlängernde aber teure Behandlungen im Alter verlangt, muß man auch bereit sein, einen größeren Teil seines Einkommens schon in jungen Jahren für diesen Eventualfall auszugeben; wenn man es vorzieht, diesen Teil für Ferienreisen auszugeben, darf man sich im Alter nicht über schlechte Versorgung beklagen. 304 Der Markt fungiert hier als ein Ort, an dem die Logik unserer Handlungen in unerbittlicher Klarheit hervortritt, und worauf Dworkin hinweist, ist nichts Marktspezifisches, sondern die Handlungslogik. Statt heute zu sagen „Wenn du im Alter gut gegen Krankheiten versorgt sein willst, mußt du dein Leben lang höhere Beiträge zahlen", sagte man früher „Wenn du im Alter rüstig sein willst, mußt du dein Leben lang auf manchen Genuß verzichten". Wir erfahren heute zweifellos die Unerbittlichkeit von Handlungskonsequenzen oft erst am Markt, aber das liegt daran, daß so viele unserer Handlungen Markthandlungen sind, nicht daran, daß sie nur der Markt zeigen könnte. Den Markt als Veranschaulichung von Handlungskonsequenzen gebraucht Dworkin auch zur Lösung eines besonderen Problems der Bemessung von Versicherungsleistungen, des Problems zu bestimmen, wer als behindert zu gelten und entsprechende Leistungen zu erhalten hat und wer nicht. Kann jemand mit einer kostspieligen Leidenschaft - für Opern oder teure Frauen etwa - als behindert gelten? Wir müssen uns fragen, so Dworkin, ob er sich selbst gegen diese Leidenschaft versichern würde. Die Antwort lautet dann: „It seems unlikely that many people would purchase such insurance, at the rates of premium likely to govern if they sought it, except in the case of cravings so severe and disabling as to fall under the category of mental disease ... So the idea of the imaginary insurance auction provides at once a device for identifying cravings and distinguishing them from positive features of personality, and also for bringing these cravings within the general regime designed for handicaps." 305 Nach diesem Argument hat Anspruch auf die Leistung einer Zwangsversicherung für Behinderungen nur, wer für das, was er als Behinderung anführt, auch bereit wäre, die Beiträge 3 0 4 Dworkin hat darüber in einem Artikel zu Clintons (gescheiterter) Gesundheitsreform gehandelt, vgl., Dworkin, Will Clinton's Plan Be Fair?, in: New York Review of Books, 13.1.94. 305 Dworkin, What is Equality?, Part 2, a.a.O., 303f.

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zu zahlen, die die Leistungen kosten. Das heißt natürlich nicht, daß der Leistungsempfänger solche Beiträge wirklich bezahlt, denn hier handelt es sich um eine Zwangsversicherung zugunsten Behinderter. Es heißt vielmehr, daß ein Verwaltungsbeamter für die angeführte Behinderung entscheidet, ob ein normaler Mensch sich gegen sie versichern würde. Der Beamte wird, wie Dworkin unterstellt, entscheiden, daß ein normaler Mensch bereit ist, sich gegen Blindheit zu versichern, weil er Blindheit als echte Behinderung ansieht, aber nicht bereit wäre, sich gegen eine Vorliebe für Opern oder teure Frauen zu versichern, weil er in diesen Fällen das Geld lieber den Gegenstände seiner Leidenschaft statt der Versicherung opfern würde. Allerdings ist der Markt nicht nur die Veranschaulichung der Handlungskonsequenzen, sondern auch die intersubjektive Bemessung dessen, was die von Handlungsmöglichkeiten verbrauchten Güter nicht nur dem Handelnden selbst, sondern allen anderen wert sind, die dieselben Güter aneignen oder verbrauchen könnten. Ihr Wert ist genau das, was ihre Anbieter oder Verkäufer für sie an anderen Gütern oder Dienstleistungen oder am allgemeinen Warenäquivalent, den Muscheln oder dem Geld, für ihre Entäußerung erhalten und was die sie Aneignenden für sie an solchen Äquivalenten zu opfern bereit sind. Die Zwangsversicherungen und Steuern, welche die Kassen für Hilfen gegen schieres Unglück füllen, können die Höhe der Beiträge und Leistungen aber nur nach Markterwägungen simulieren; ihr Höhe wird nicht durch wirkliche Tauschakte zwischen Versicherungsgebern und -nehmern bestimmt, sondern durch die Vermutungen von Beamten darüber, welchen Teil ihrer Ressourcen Menschen zum Schutz gegen den Krankheitsfall oder sonstiges Unglück und welchen sie lieber für Ferienreisen, Ausbildung oder Fernsehkonsum opfern würden. Wie gut immer solche Vermutungen sein mögen, sie bestimmen die Versicherungsbeiträge und -leistungen und nicht der Markt. Dworkin genügt daher nicht seinem Anspruch, den Markt als zentrales Mittel zur Sicherung der Ressourcengleichheit nachzuweisen. Denn die Ressourcengleichheit kann auch nach Dworkin nur durch das Mittel von Zwangsversicherungen und Steuern gesichert werden, und für diese liefert der Markt nur einen „counterfactual guide through which equality of resources might face the problem of handicaps in the real world." 306 Aber wenn er seinem Anspruch auch nicht genügt, liefert er doch mit dem Bestehen auf der Selbstverantwortlichkeit der Individuen und der Beschränkung sozialer Hilfen auf die Fälle schieren Unglücks eine überzeugende Idee, die zu einer ebenso überzeugenden Deutung der Idee der gleichen Freiheit führen könnte. Das Problem dieser Idee ist allerdings schnell zu erkennen. Wie stimmt sie mit seiner Befürwortung der Rawlsschen demokratischen Gleichheit zusammen? Wie kann er mit Rawls die talentbedingte Ungleichheit als ungerecht betrachten und für die talentbedingte Benachteiligung eine Entschädigung zu Lasten der ökonomisch Erfolgreichen fordern, aber mit Nozick (den er allerdings nicht nennt) auf der Selbstverantwortlichkeit bestehen und Staatshilfe auf den Fall nicht kalkulierbaren schieren Unglücks einschränken? Dworkins Antwort besteht in einer Unterscheidung zwischen der Talentunabhängigkeit („endowment insensitivity") und der Anstrengungsabhängigkeit („ambition sensitivity") der Verteilung. Niemandes Reichtum, heißt das, darf durch sein Talent bestimmt sein; denn Talent gilt Dworkin als ein Fall schieren Glücks oder Unglücks, so wie das Talent für Rawls eine Folge der Genlotterie ist, die vom moralischen Standpunkt willkürlich ist. Anderseits aber und im Gegensatz zu Rawls darf und soll jemandes Reichtum von seinem selbstverantwortli306 Ebd., 297.

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Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit

chen Handeln, seinen Anstrengungen und Entscheidungen abhängen. Talente dürfen nach Dworkin sowenig wie Krankheiten zu Unterschieden im Ressourcenbesitz führen, weil niemand für sie verantwortlich ist. Verantwortlich können sie nur für ihre Entscheidungen und Anstrengungen, ihre „ambitions" sein, nicht für ihre natürliche Ausstattung, ihr „endowment", mit dem sie ihre Anstrengungen verwirklichen. Unter der natürlichen Freiheit, aber auch der liberalen Gleichheit können Menschen mit denselben Entscheidungen und Anstrengungen wegen ihrer verschiedenen Begabungen zu verschiedenen Ressourcen kommen, unter der demokratischen Gleichheit nach Dworkins wie nach Rawls' Ideal nicht.307 Dworkin scheint durch seine Unterscheidung eine überzeugendere Version der demokratischen Gleichheit zu liefern als Rawls. Aber auch sie birgt Probleme. Nennen wir zuerst das grundsätzlichste. Welches Recht hat die Gesellschaft der Schiffbrüchigen, dem talentierten Erfolgsmenschen seinen überdurchschnittlichen Gewinn abzuschöpfen und dem Untalentierten mit unterdurchschnittlichem Gewinn zu überweisen? Dworkin muß annehmen, die Schiffbrüchigen würden sich bei der Aufteilung der Inselressourcen durch die Versteigerung auf diesen Verteilungsmodus einigen. Aus welchem Grund sollten sie es tun? Sie stehen nicht unter Rawls' dichtem Schleier der Unwissenheit, kennen also ihre Talente. Die Talentierten haben keinen Grund, dem Prinzip der Talentunabhängigkeit der Verteilung zuzustimmen. Rawls könnte die Schiffbrüchigen immerhin noch von der Fairneß einer Bestimmung von Gerechtigkeitsgrundsätzen unter dem Schleier der Unwissenheit zu überzeugen versuchen oder von der moralischen Willkür der Genlotterie (obgleich er damit wohl eher Befremden auslösen würde). Aber was könnte Dworkin ihnen erzählen? Das zweite Problem ist ein Aspekt dieses ersten Problems. Auch wenn man anerkennt, daß jeder, der vom schieren Unglück einer Krankheit geschlagen wird, einen legitimen Anspruch auf Nothilfe von den Glücklicheren hat, und ebenso anerkennt, daß jeder für seine Talente sowenig etwas kann wie für seine unverschuldeten Krankheiten, glauben doch viele, jedem zumuten zu können, die Folgen seiner Art von Begabung selbst zu tragen, nicht aber die materiellen Folgen seiner Art von gesundheitlicher Anlage. Diese Annahme mag falsch sein; wir werden sie noch prüfen müssen. Aber man darf nicht über sie hinweggehen, als gäbe es sie nicht. Da sich Dworkin besonders stark auf Intuitionen und auf die gewöhnlichen Zumutbarkeitsurteile stützt, wie seine Erörterung zweifelhafter Behinderungsansprüche zeigte, ist seine Nichtbeachtung der gewöhnlich getroffenen Unterscheidung zwischen Krankheit und Talent und ihrer Folgen besonders verwunderlich. Das dritte Problem ist: Wie will Dworkin am Produkt eines bestimmten Menschen zwischen dem Beitrag seines Talents, der ihm abzuziehen ist, und dem Beitrag seiner Anstrengung, der ihm zu belassen ist, unterscheiden? Er erkennt zu Recht die Schwierigkeit der 307 Vgl ebd., 311 : „On the one hand we must, on pain of violating equality" - Freiheit, würde man gewöhnlich sagen, wenn man nicht Dworkins These vom Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit teilt - „allow the distribution of resources at any particular moment to be (as we might say) ambition-sensitive. It must, that is, reflect the cost or benefit to others of the choices people make so that, for example, those who choose to invest rather than consume ... or to work in more rather than less profitable ways, must be permitted to retain the gains that f l o w from these decisions in an equal auction followed by free trade. But on the other hand, we must not allow the distribution of resources at any moment to be endowment-sensitive, that is, to be affected by differences in ability of the sort that produce income differences in a laissez-faire ecomomy among people with the same ambitions. Can w e devise some formula that offers a practical, or even a theoretical, compromise between these two, apparently competing, requirements?"

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Unterscheidung nicht als ausreichenden Einwand gegen die Unterscheidung an. Oft genug lassen sie sich mühelos erkennen. Der Erfolg eines Models, eines Schauspielers mit einem publikumswirksamen Lächeln oder eines Tennisstars können offensichtlich mehr oder weniger allein dem Talent, dem schieren Naturglück oder dem Zufall förderungsfähiger Eltern zu verdanken sein. In solchen Fällen könnte man nicht unplausibel einen Teil dem Talent oder schieren Glück und den Rest der Anstrengung zuschreiben. Dworkin hält sich in der praktischen Durchführung seiner Unterscheidung aber nicht an solche Fälle; auch das zu Recht, denn eine solche Durchführung würde zu inquisitorischen psychologischen Untersuchungen von ungeheurem Verwaltungsaufwand führen. Er greift daher auf die „more familiar idea" einer „periodic redistribution of resources through some form of income tax" 308 zurück: auf die wohlbekannte Einkommensteuer. Sie soll einerseits, weil sie die Einkommensunterschiede nicht aufhebt, die Selbstverantwortlichkeit und Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung respektieren, anderseits aber auch in ihrer Besteuerung „the role of genetic luck" anerkennen. Sie soll progressiv sein, denn „it seems unfair that everyone, rich and poor alike, should pay the same tax". 309 Ihre genaue Festlegung könne nur ein Kompromiß sein; der sei erlaubt, solange er „not a compromise of equality for the sake of some independent value such as efficiency" sei.310 Kann man die Einkommensteuer als Mittel gebrauchen, die Güterverteilung talentunabhängig zu machen, ohne ihre Anstrengungsabhängigkeit zu stören? Man muß dabei voraussetzen, daß die Zunahme der Einkommen der Zunahme an schierem Glück, Talent eingeschlossen, entspricht, zugleich aber auch der Zunahme der Anstrengungen, weil die Besteuerung die Einkommensunterschiede nicht beseitigen soll. Sind diese Voraussetzungen plausibel genug, um durchzugehen? Dworkin erkennt ausdrücklich an, daß die Entsprechung nicht immer besteht: „The brute fact remains that some people have much more than others of what both desire through no reason connected with choice. The envy test we once seemed to respect has been decisively defeated, and no defensible conception of equality can argue that equality recommends that result." 3 " Trotz dieses selbstkritischen Urteils nimmt er an, daß die Entsprechung oft genug besteht, um eine progressive Einkommensteuer zu rechtfertigen. Vollkommene Ressourcengleichheit läßt sich in der Wirklichkeit nicht erreichen; um ihr nahezukommen, muß man viele Kompromisse eingehen; sie ist daher „a complex ideal." 312 Man kann auch eine andere Bilanz aufmachen. Dworkin wollte die gleiche Freiheit durch die Idee der Ressourcengleichheit bestimmen und diese durch die Güterzuteilung durch einen Markt, die Neidfreiheitsbedingung gegenüber den Güterbündeln, mit denen jeder auf dem 308 Ebd., 312. 309 Ebd., 324. 310 Ebd., 313. Dworkin will die Höhe der Einkommensteuer wie schon die Höhe der Beiträge zu einer Pflichtkrankenversicherung durch die Fiktion eines freien Versicherungsmarkts bestimmen, diesmal eines Markts für Versicherungen gegen einen Mangel an Talenten, der zu Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung führen könnte. Er versucht nachzuweisen, man würde sich gegen Talentmangel just so versichern, daß die Versicherungsbeiträge Versicherungsleistungen ermöglichen, die über der Sozialhilfe oder dem garantierten Mindesteinkommen in den USA und Großbritannien liegen (ebd., 321). 311 Ebd., 329. 312 Ebd., 333f.

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Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit

Markt auftreten kann und die Unterscheidung von Talentunabhängigkeit und Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung. Tatsächlich bestimmt er die Ressourcengleichheit durch marktunabhängige Versicherungen und Steuern, erkennt das Versagen des Neidtests an, sieht, daß viele Güter nicht anstrengungsabhängig zugeteilt werden, und behauptet trotzdem, die Wirklichkeit werde der Ressourcengleichheit gerecht, wenn man sie nur komplex versteht. Er wäre daher zumindest konsequenter als er ist, wenn er entweder das Ideal der Ressourcengleichheit aufgäbe und aus der von ihm als akzeptabel beschriebenen Gesellschaft mit Zwangsversicherungen, progressiver Einkommensteuer und anstrengungswnabhängigen Erwerbsmöglichkeiten ein Ideal destillierte, das entweder weniger strenge Forderungen an die Gleichheit stellt oder an der Ressourcengleichheit festhält und die beschriebene Wirklichkeit als ungerecht verurteilt. Die unbefriedigende Umwandlung der Ressourcengleichheit zu einem komplexen Ideal legt die Frage nahe, ob sie nicht von vornherein verfehlt ist. Ich habe schon auf ihre Gemeinsamkeit mit der Parlamentarismuskritik antiliberaler Theoretiker verwiesen, mit der sie den Verzicht auf die Bestimmung gerechter Institutionen durch das Argument teilt, wenn sie auch das Argument nicht durch den Kampf, sondern durch den Tauschakt ersetzt. Betrachten wir nun näher, ob Tauschakte tatsächlich gerechtigkeitskonstitutiv sein können. Kritik der Ressourcengleichheit Dworkin deutet am Beispiel der Gesundheitsvorsorge an, wie ein idealer Markt durch die Entscheidungen seiner ressourcengleichen Teilnehmer über das, was sie für ihre Gesundheit ausgeben wollen und was nicht, zugleich festlegt, was die gerechte Verteilung der medizinischen Ressourcen unter den Nachfragern und was der gerechte Anteil der medizinischen Ressourcen insgesamt an den gesamtgesellschaftlichen Ressourcen ist. Zu den Bedingungen einer solchen gerechten Festlegung gehören: erstens gleiche Tauschkraft auf dem Markt für jeden; das ist der ideale Markt; zweitens allgemeine Verbreitung des verläßlichen medizinischen Wissens; dies ist die Rationalitätsbedingung für die Marktpartner; drittens Unkenntnis der Krankheits- und Unfallanfälligkeit der Individuen; das ist der dünne Schleier der Unwissenheit, der zum Ausschluß ungleicher Versicherungsangebote an die Krankheitsanfälligen und -unanfälligen notwendig ist.313 „Now suppose that health care decisions in this transformed community are left simply to individual market decisions in as free a market as we can imagine, so that doctors and hospitals and drug companies are free to charge whatever they wish. Medical care is not provided by the government for anyone, nor are medical expenses or health-care insurance premiums provided tax-deductible ... What kind of healthcare institutions would actually develop in such a community?" 314 Die Frage lasse sich a priori nicht genau beantworten, aber „two crucial claims about justice" lassen sich machen. „First, whatever that transformed community actually spends on health care in the aggregate is the morally appropriate amount for it to spend... Second, however health care is distributed in that society is just for that society ... These claims follow directly from an extremely appealing assumption: that a just distribution is one that wellinformed people create for themselves by individual choices, provided that the economic

313 Dworkin, Will Clinton's Plan Be Fair?, a.a.O., 22. 314 Ebd.

Kritik der Ressourcengleichheit

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system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just." 315 Diese Thesen formulieren die Prämissen von Dworkins Verfahren, eine gerechte Güterverteilung zu finden. Sie zeigen zugleich die Nähe zu Rawls: wie dieser läßt Dworkin die gerechte Verteilung aus den Entscheidungen der Beteiligten hervorgehen, und den Unterschied: die gerechte Verteilung wird nicht durch eine allseitige Vereinbarung gefunden, sondern durch individuelle Marktentscheidungen unter der Bedingung nicht nur der Rationalität, sondern auch der Ressourcengleichheit. Werfen wir nun einen Blick in andere Bereiche, in denen wie in der Gesundheitsversorgung sowohl um einen angemessenen Anteil am gesamten Reichtum der Gesellschaft gerungen wird als auch um die richtige Verteilung von Ressourcen unter Individuen und Teilbereichen innerhalb des Bereichs. Bewährt sich in ihnen auch die Idee der Ressourcengleichheit? Betrachten wir den Bereich der Bildung und Erziehung, dessen Anteil an den Ressourcen der Gesellschaft insgesamt ebenso umkämpft ist wie der Ressourcenanteil der Gesundheit und innerhalb dessen dieselben Verteilungskämpfe stattfinden. Finden wir hier eine gerechte Lösung durch die Idee der Ressourcengleichheit und der an sie anknüpfenden Idee, daß ein idealer Markt die gerechte Lösung anzeigt? Da Dworkin für den Gesundheitsbereich erklärte: „First, whatever that transformed community actually spends on health care in the aggregate is the morally appropriate amount for it to spend ... Second, however health care is distributed in that society is just for that society" 316 , müßten wir auch sagen können: ,Was immer eine Dworkins idealen Bedingungen genügende Gesellschaft für Bildung ausgibt, ist die moralisch angemessene Summe. Und wie immer Bildung in dieser Gesellschaft verteilt wird, ist für sie gerecht. ' Aber dagegen erhebt sich ein Einwand. Eine Gesellschaft, auch wenn sie Dworkins Bedingungen genügt, ist ungerecht, wenn sie in ihren freien Bildungsentscheidungen bestimmte Ansprüche auf Bildung verletzt, die Kinder haben. Diese können an den freien Entscheidungen nicht teilnehmen und ihre Ansprüche auch auf dem idealsten Markt nicht zur Geltung bringen. Jedes von ihnen hat, unabhängig von den kontingenten Bedingungen seiner Geburt, einen legitimen Anspruch auf eine Bildung, die seinen Fähigkeiten und den finanziellen und kulturellen Möglichkeiten ihrer Gesellschaft entspricht. Setzt sich die Gesellschaft durch die freien Entscheidungen ihrer Mitglieder über sie hinweg; vernachlässigt sie etwa die Bildung zugunsten der Gesundheit oder der Unterhaltung und Freizeit, dann begeht sie Unrecht gegen die berechtigten Bildungsansprüche. Ebenso begeht sie Unrecht, wenn sie ihre Bildungsausgaben unangemessen verteilt, etwa den größten Teil für eine rein technische oder berufsbezogene Ausbildung verwendet und volkswirtschaftlich eher belastende Studien verkümmern läßt. Auch das Prinzip, das Dworkin seinen zwei zitierten Thesen voraussetzt, eine für Dworkin „extremely appealing assumption", kann daher nicht aufrecht erhalten werden, nämlich „that a just distribution is one that well-informed people create for themselves by individual choices, provided that the economic system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just." 317

315 Ebd., 23. 316 Ebd. 317 Ebd.

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Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit

Die Gerechtigkeit eines ökonomischen Systems und der Reichtumsverteilung schützt nicht vor der Ungerechtigkeit freier und wohlinformierter Entscheidungen. Die Gerechtigkeit des ökonomischen Systems schützt nur vor ökonomischer Ungerechtigkeit; ungerecht aber kann man auf vielen anderen Gebieten sein, sogar in Verteilungsfragen. Denn die Verteilungsgerechtigkeit soll nicht nur die Interessen der Individuen schützen, die am Markt aktiv teilnehmen, sondern auch die der Kinder und der Individuen künftiger Generationen, die nicht einmal an einem idealen Markt mit den heute Lebenden teilnehmen können. Ihre gleiche Freiheit besteht in ihrem gleichen Recht darauf, als Wesen geachtet zu werden, die einen ebenso weiten Handlungsspielraum beanspruchen wie jeder, der aktiv am Markt teilnimmt. Nicht nur die Bildungsausgaben können selbst noch unter idealen Bedingungen der Ressourcengleichheit und der Rationalität ungerecht verteilt werden. Dasselbe gilt auch für die medizinischen Ausgaben, für die Dworkin seine Thesen plausibel machen kann. Auch hier hat jede Person auf eine bestimmte medizinische Versorgung einen Anspruch, den sie nicht immer als Marktakteur vertreten kann. Zu solchen Personen gehören Kinder und alle, die durch Krankheit oder Unfall unfähig sind, ihre Interessen wahrzunehmen. Dworkin kann in seinen Beispielen von solchen Personen absehen, weil er sich darauf verläßt, daß Eltern oder andere Angehörige deren Interessen wirksam wahrnehmen. Aber weder die Ressourcengleichheit noch die Marktrationalität garantieren dies Einstehen der Angehörigen für Abhängige. Es ist vielmehr eine Rechtspflicht, die aus dem Recht eines jeden Menschen auf eine angemessene, seinen Fähigkeiten und seiner Würde entsprechende Behandlung hervorgeht. Nun würde Dworkin vermutlich gar nicht bestreiten, daß die Rechtspflichten aus dem Recht eines jeden Menschen auf eine angemessene Behandlung hervorgehen. Es gehört zu seinen oft wiederholten Grundaussagen, daß jeder Mensch ein gleiches Recht auf angemessene Behandlung hat und daher der Staat „must show equal concern for the life of each". 318 Aber diese Aussage stimmt nicht mit seiner „extremely appealing assumption" zusammen, nach der jede Verteilung gerecht ist, die „well-informed people create for themselves by individual choices, provided that the economic system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just." 3 1 9 Wenn Dworkin an seiner These vom „equal concern for the life of each" festhalten will, muß er anerkennen, daß die Rechte der Menschen sich nicht auf das Recht zurückführen lassen, gleiche Tauschressourcen zu haben. Das Grundrecht, dem alle übrigen entspringen, ist nicht das Recht auf gleiche Ressourcen, sondern das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Durch die gleiche Selbstbestimmung und nicht durch Ressourcengleichheit muß daher die gleiche Freiheit bestimmt werden. Vielleicht noch deutlicher als im Bildungswesen wird die Unangemessenheit von Dworkins Ressourcengleichheit und seiner „extremely appealing assumption" im Unterhaltungsbereich. Was Individuen für Bildung und Gesundheitsvorsorge ausgeben, wird in allen Gesellschaften, nicht nur den westlichen, wesentlich von Institutionen mitbestimmt, die ihre Existenz und Wirksamkeit der allgemeinen Einsicht in die Wichtigkeit von Bildung und Gesundheit verdanken: den Institutionen der Medizinmänner und Priester, der Akademien und Universitäten, der Lehrer- und Ärzteverbände. Diese Institutionen haben, zumindest nach ihrem Selbstverständnis, nicht nach Marktprinzipien gearbeitet, sondern für die Sache der Bildung und Gesundheit. Was diese Institutionen über die Notwendigkeit von Ausgaben für Bildung und 318 Dworkin, What Is Equality?, Part 3, a.a.O., 7. 319 Ebd., 23.

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Gesundheit sagen, bestimmt wesentlich auch heute noch die individuellen Entscheidungen. Bildungs- und Gesundheitsausgaben werden daher bis heute nicht allein nach Marktkriterien entschieden, und zwar sowohl in ihrem Anteil an den Gesamtausgaben einer Gesellschaft und eines Individuums als auch in der Verteilung der einzelnen Ausgaben innerhalb der Bildung und der Gesundheit; auch der Beamte, der über die Höhe der Beiträge und Leistungen von Zwangsversicherungen entscheidet, orientiert sich (noch) nicht, wie Dworkin empfiehlt, am Markt, sondern an normativen Vorstellungen von dem, was den Versicherten an Beiträgen zumutbar und von den Versicherern an Leistungen nach medizinischen Kriterien erwartbar ist, und das ist, bei aller Kritik, die man an den traditionellen Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen üben kann, gut. Es ist nicht nur gut, weil diese Institutionen im allgemeinen besser informiert sind als die gewöhnlichen Menschen, sondern weil sie die möglichen Gesundheits- und Bildungsausgaben besser auf ihren Wert im Leben eines Menschen beurteilen können; sie sind gewöhnlich nicht nur in ihrem deskriptiven Wissen, sondern auch in ihrem normativen Urteilen dem Rest überlegen. Nun haben wir heute keine Ressourcengleichheit, aber auch bei Ressourcengleichheit müßte der Einfluß solcher nicht am Markt orientierten Institutionen positiv eingeschätzt werden, und das tut Dworkin selbst, wenn er die Wohlinformiertheit im Gesundheitsbereich als „state-of-the-art knowledge" definiert. 320 Zu diesem Wissen gehört auch die normative Urteilskraft. Ganz anders sieht es im Unterhaltungsbereich aus. Hier gibt es keine traditionellen Institutionen, die um einer Sache willen die individuellen Entscheidungen beeinflussen könnten. Die Individuen entscheiden vielmehr darüber, ob, wieviel und wofür im Unterhaltungsbereich sie ihr Geld ausgeben, allein nach Marktkriterien: nach dem, wieviel ihnen das jeweilige Vergnügen wert ist oder was an anderen möglichen Ausgaben sie für sie zu opfern bereit sind. Unter den idealen Bedingungen der Ressourcengleichheit und Rationalität oder Wohlinformiertheit würde sich daran nichts ändern. Nach Dworkins Prinzip, „that a just distribution is one that well-informed people create for themselves by individual choices, provided that the economic system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just", müssen auch die individuellen Entscheidungen über Ausgaben im Unterhaltungswesen Verteilungsgerechtigkeit schaffen, und zwar sowohl in der Verteilung innerhalb dieses Bereichs als auch in ihrem Anteil an den Gesamtausgaben einer Gesellschaft und eines Individuums. Diese Annahme ist unglaubwürdig. Ausgaben für Unterhaltung und Vergnügen expandieren in dem Maß, wie der Druck für Ausgaben anderer Bereiche abnimmt. Der Druck für Gesundheitsausgaben wird nicht nachlassen, weil die Menschen um ihre Gesundheit immer besorgt sein werden. Auf Ausgaben für Bildung stand Druck, solange sie die Voraussetzung für ökonomischen Erfolg schien. Aber nur ein kleiner Teil der Bildung ist dafür Voraussetzung; der größte Teil hat Eigenwert und kann ökonomischem Erfolg hinderlich sein. Daher hat der Druck auf Bildungsausgaben abgenommen und wird weiter abnehmen. Die Ausgaben für Unterhaltung und Gesundheit werden wachsen und die für Bildung schrumpfen, und Ressourcengleichheit und Wohlinformiertheit können daran nichts ändern. Nach Dworkins These ist das gerecht. Er übersieht, daß die Zurückdrängung von Bildungsausgaben zwar der Marktgerechtigkeit entspricht, aber den menschlichen Fähigkeiten unangemessen ist und sie verkümmern läßt. Bildung ist eine Form von Luxus und Vergnügen, die 320 Dworkin, Will Clinton's Plan Be Fair?, a.a.O., 22.

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Dworkins marktbemessene Ressourcengleichheit

im Unterschied zur bloßen Unterhaltung ohne bestimmte Arten von Erziehung und Training unzugänglich bleibt. Die Grenze zwischen Bildung und Unterhaltung ist daher fließend. Folgt man Dworkin, so kommen nur die leicht und schnell zugänglichen Formen der Unterhaltung zur Geltung. Die Formen, die längere Übung, härtere Disziplin und Widerstand gegen natürliche Neigungen verlangen, werden nicht entwickelt. Das ist eine Verletzung der Rechte der Nachkommen, in allen ihren Anlagen gefördert zu werden. Konkret bedeutet Dworkins Empfehlung der Marktgerechtigkeit eine Billigung der Politik der meisten westlichen Staaten, sich aus dem Bildungsbereich zurückzuziehen. In Rundfunk und Fernsehen hat das nicht zur Ersetzung eines Bildungsträgers durch einen anderen geführt, sondern mehr oder weniger zur Ersetzung von Bildung durch Unterhaltung, genauer gesagt, durch solche Formen von Unterhaltung, die Kinder und andere Konsumenten zur Verkümmerung ihrer Anlagen verurteilen. Die Bildungspolitik der meisten westlichen Staaten der letzten Jahrzehnte ist eine Demonstration der Falschheit von Dworkins politischer Theorie. Man kann Dworkins Ideal der Ressourcengleichheit nicht kritisieren, ohne ein krudes Demokratieverständnis zu kritisieren. 321 Nach diesem ist alles gerecht, was die Zustimmung der Mehrheit findet. Das ist natürlich ein Irrtum; Verbrechen und alle anderen Rechtsverletzungen hören nicht auf, ungerecht zu sein, wenn sie die Billigung der Mehrheit (oder auch aller außer dem Opfer) finden. Aber ebensowenig wird eine Verteilung schon dadurch gerecht, daß sie durch die Kauf- oder Tauschakte aller Beteiligten auf einem idealen Markt zustande kommt. Denn diese Tauschakte können die legitimen Ansprüche sowohl solcher Individuen verletzen, die zu jung sind, um am Markt beteiligt sein zu können, als auch solcher, die am Markt beteiligt, aber nicht fähig sind, diesen Ansprüchen die gebührenden Ressourcen zu opfern. Mit dieser Kritik folge ich Gerechtigkeitsintuitionen, die mich auf Elemente des Perfektionismus oder der Vollkommenheitstheorie festlegen. 322 Nach dieser Theorie kann die Gerechtigkeit von Institutionen nicht ohne Rücksicht darauf gemessen werden, ob sie zur Entwicklung bestimmter Eigenschaften („Vollkommenheiten") beitragen. Tatsächlich ist die Idee der gleichen Freiheit nicht ohne solche Elemente explizierbar. Denn die Fähigkeit, über sich selbst zu verfügen und dabei Gründen zu folgen, in deren Betätigung alle politische Freiheit besteht, ist eine Eigenschaft oder Vollkommenheit, die entwickelt werden muß, bevor sie betätigt werden kann. Man muß die Begründungsfähigkeit erfahren und betätigt haben, um ihre Betätigung durch jeden als Element der gleichen Freiheit erkennen zu können. Sichert die Grundstruktur einer Gesellschaft nicht die Entwicklung dieser Fähigkeit, so verletzt sie das Recht eines jeden auf Selbstbestimmung und ist nicht gerecht. In einer unterhaltungsorientierten Kultur- und Medienlandschaft ist die Betätigung der Begründungsfähigkeit gefährdet. Der Staat hat hier die Rechtspflicht, sich auch über die Entscheidungen eines idealen Markts hinwegzusetzen und die Entwicklung der Fähigkeit der Selbstbestimmung zu sichern. Dworkins Gerechtigkeitstheorie gründet auf einer Konsenstheorie der Gerechtigkeit. Der Konsens des idealen oder ressourcengleichen Markts bestimmt, was gerecht ist. Diese Fassung des Konsenses setzt sich leichter der Kritik aus als die rationaleren Fassungen von Rawls und Habermas, die den Gerechtigkeit bestimmenden Konsens aus rationalen Überlegungen hervorgehen lassen. Trotzdem sollte man die gemeinsame Schwäche aller Konsenstheorien nicht 321 Vgl. zu dieser Kritik auch die Kritik A m y Gutmanns, auf die ich im Kapitel über die liberale Gleichheit im dritten Teil des Buchs eingehe. 322 Vgl. dazu das letzte Kapitel dieses Buchs.

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übersehen. Denn auch in ihren rationaleren Fassungen entscheiden die im Konsens übereinstimmenden Subjekte, was gerecht (und ebenso, was rational) ist. Aber Gerechtigkeit ist eine Voraussetzung dafür, überhaupt zu einem anerkennenswerten Konsens zu kommen, und kann daher nie dessen Ergebnis sein. Gerechtigkeit kann nicht als Ergebnis intersubjektiver Prozesse verstanden werden, sondern nur als Angemessenheit sozialer Verhältnisse an eine objektive Eigenschaft der menschlichen Subjektivität, an die Fähigkeit, nach Gründen zu entscheiden, in deren Sicherung der Rechtszwang seine Rechtfertigung findet. Dworkins Konsenstheorie der Gerechtigkeit hat nun aber gegenüber solchen, die für den Konsens Rationalität verlangen, nicht nur den Nachteil, mit antiliberalen Positionen vom Schlage Carl Schmitts den Konsens argumentunabhängig zu machen, sondern auch den, ihn in solchen Handlungen zu finden, die wesentlich konsumtiv, nicht produktiv sind, nämlich in Tauschakten. Die gerechtigkeitkonstitutiven Subjekte sind bei Habermas Argumentierer, bei Schmitt Krieger, bei Dworkin Tauschende; sie finden die Regeln ihres gemeinsamen Lebens jeweils mit ihrer gleichen Vernunft, ihrer gleichen Todesbereitschaft und einer gleichen Menge von Muscheln oder Mark in der Hand, und so nebeneinander gestellt wird man den Dworkinschen Subjekten am wenigsten zutrauen, Gerechtigkeit zu konstituieren. Die Beschränktheit von Dworkins Ressourcengleichheitsideal erweist sich konkreter in seiner unangemessenen Behandlung langfristiger Arbeitslosigkeit. Diese ist ihm nur ein Fall schieren Unglücks, das man durch den Kauf einer Versicherung gegen Talentmangel in kalkulierbares Unglück verwandeln kann. 323 Arbeitslosigkeit wird als ein Mangel begriffen, gegen den man sich aus demselben Grund versichern und zu dessen Versicherung der Staat aus demselben Grund jeden zwingen muß, aus dem man sich gegen Talentmangel versichern und zur Versicherung gezwungen werden muß. Kein Gedanke daran findet sich, daß Arbeitslosigkeit der Ausschluß aus dem gesellschaftlichen System der Produktion und ein Unrecht ist, weil sie vom produktiven Gebrauch der äußeren Naturgüter ausschließt, die das Gemeineigentum aller sind; kein Gedanke daran, daß der Schutz vor Arbeitslosigkeit ein soziales Recht ist, das sich auf sehr viel stärkere Gründe stützen kann als die Rechte, die Dworkin den Mindertalentierten zusprechen will. Diese Rechte anzugleichen heißt daher, das Recht auf Arbeit so zweifelhaft zu machen, wie es Dworkins Recht auf Kompensation f ü r Minderbegabung ist. Dworkins Blick auf die gleichen Ressourcen, die ihm nur Mittel sind, für die man etwas kaufen kann, macht ihn blind dafür, daß die Ressourcen, die über Gleichheit und Ungleichheit entscheiden, die subjektiven und objektiven Faktoren der Produktion sind: einerseits die menschlichen produktiven Fähigkeiten, anderseits die bearbeitbaren Naturgüter. Gleichheit der menschlichen Fähigkeiten kann nur unter Verletzung des Grundrechts auf Selbstbestimmung erreicht werden; sie ist unvereinbar mit der gleichen Freiheit; Gleichheit im Zugang zu den Naturgütern kann dagegen erreicht werden; ohne sie ist die gleiche Freiheit ungleich.

5. v a n P a r i j s ' G r u n d e i n k o m m e n Philippe van Parijs verbindet viele Annahmen seiner Vorgänger, so daß er fast als ihre Synthese gelesen werden kann. Aber er verbindet sie zur Grundlage einer sehr konkreten politischen Forderung, der eines bedingungslos jedem ausgezahlten Grundeinkommens. Er steht 323 Dworkin, What Is Equality?, Part 2, a.a.O., 316ff.

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van Parijs' Grundeinkommen

in einem Zusammenhang von Argumenten, die mit Rawls beginnen, von Nozick erwidert werden, zwischen denen Steiner und Dworkin vermitteln und die bei van Parijs mit einem realisierbaren Auftrag an die Politik enden. Da er sich selbst als Verfechter einer „resolutely leftwing variant of Rawlsianism" 324 versteht, könnten wir seine Theorie auch als die Übersetzung von Rawls' Theorie in ein politisches Programm verstehen, das Rawls' radikalen Anspruch auf umwälzende Veränderung der bestehenden Gesellschaft unter Berücksichtigung von Nozicks Kritik in Richtung auf die noch nirgends erreichte demokratische Gleichheit verwirklichen will. Mit ihm steht die Entwicklung der politischen Philosophie seit Rawls auf dem Prüfstand, soweit sie hier vorgestellt wurde. van Parijs teilt mit seinen Vorgängern den Ausgang vom Ideal der gleichen Freiheit. Sein „point of departure ... in a post-communist, post-neo-liberal world, the ideal by reference to which the relative merits of capitalism and socialism must be assessed, is that of a free, or perhaps maximally free society ... understood as a society whose members all enjoy to the greatest extent the freedom to shape their destiny". 325 Noch deutlicher als Steiner und Dworkin versucht er Elemente von Rawls und Nozick zu verbinden. Er stimmt dem libertaristischen Argument zu „that no consistent formulation of the ideal of a free society can help giving a crucial role to a consistent system of private property rights". 326 Er sympathisiert so sehr mit der libertaristischen Hervorhebung von Freiheit, Verantwortlichkeit und Privateigentum, daß er sich einen „real-libertarian" nennt, „a believer in the claim that real-freedom-for-all (as explained) is all there is to social justice". 327 Das scheint die Zurückweisung eines zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes neben dem der gleichen Freiheit zu implizieren. Aber seine Erläuterung der Realfreiheit für alle zeigt, daß er Rawls' Differenzprinzip anerkennt: sie erlaube, daß „some can have more opportunities than others, but only if their having more does not reduce the opportunities of some of those with less. In other words, institutions must be designed so as to offer the greatest possible real opportunities to those with least opportunities, subject to everyone's formal freedom being respected". 328 van Parijs ersetzt zwar Rawls' Gerechtigkeitskriterium des größtmöglichen Nutzens für jeden durch das der größtmöglichen Chancen, aber das ist nur eine verbale Abänderung. Eine Gesellschaft ist auch für van Parijs ungerecht, wenn es in ihr Ungleichheiten gibt, die nicht zu jedermanns Vorteil sind. Die Substanz seiner Theorie ist rawlsianisch, der Libertarismus dringt nicht unter die Oberfläche, und wenn er auch die Gewerkschaften kritisiert, wie es ein Libertarist tun könnte: ein Rawlsianer kann es ebenso gut. Er teilt mit Steiner die Anerkennung des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen 329 und versucht im Gegensatz zu Steiner und wie Rawls und Dworkin, den Einfluß der Talente auf die Güterverteilung einzuschränken. Wie Dworkin stützt er sich dabei auf Marktmechanismen, insbesondere auf das Kriterium der Neidfreiheit und das Prinzip der Wettbewerbspreise oder Opportunitätskosten, die Bestimmung des Werts eines Guts durch die „costs to others of not being able to use it" 330 , durch die Möglichkeiten, die man für es zu opfern bereit

324 325 326 327 328 329 330

van Parijs, Real Freedom for All, Oxford 1995, 232. Ebd., 3. Ebd., 4. Ebd., 5. Ebd. Ebd., 27. Ebd., 51.

Ideal der maximalen Freiheit

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ist. Und wie Dworkin kommt er zum ernüchternden Ergebnis, daß „however justifiable, undeserved inequalities of opportunities will remain". 3 3 1 Auf der Grundlage des Differenzprinzips k a n n er es a b e r leichter akzeptieren als D w o r k i n ; die Ungleichheiten müssen nur als Bedingung dafür verstanden werden, daß es ohne sie den Schlechtestgestellten noch schlechter ginge. Das Ergebnis von van Parijs' Ausführungen steht in einem ähnlich verblüffenden Widerspruch zu seinen Ankündigungen wie das von Steiners Ausführungen. Während dieser sich seinen libertaristischen Bekenntnissen zum Trotz als radikaler Sozialist entpuppt, finden wir van Parijs am Ende als Verfechter einer nationalen Gemeinschaft mit zweifelhaften internationalistischen Ansprüchen. Zudem finden sich einige schlicht falsche Argumente und mangelhafte technische Erläuterungen (vor allem zu den Arbeitsplatztiteln). Wenn mit van Parijs die politische Philosophie in der Rawlsschen Tradition auf dem Prüfstand steht, dann fällt diese durch. T r o t z d e m ist van Parijs' Arbeit nicht weniger lehrreich als die bisher erörterten Theorien. Sie hat den Vorzug, ein konkretes Programm zu verteidigen, auch wenn sie dadurch an einer Stelle (bei der Hervorhebung, daß das Grundeinkommen allen gezahlt wird) auf das Gleis der politischen Propaganda gelockt wird. Sie setzt sich mit dem dringendsten politischen Problem, der Arbeitslosigkeit, intensiver als die andern vier Theoretiker auseinander. Sie schreckt nicht vor einer Verteidigung des Kapitalismus zurück. Auch wenn ich in jedem dieser P u n k t e Mängel finde, hat van Parijs in ihrer Klärung eine Arbeit geleistet, auf deren Kenntnis ein politischer Philosoph nicht verzichten sollte.

Das Ideal der maximalen Freiheit van Parijs behauptet als sein Ideal, „by reference to which the relative merits of capitalism and socialism must be assessed", das Ideal einer „free, or perhaps maximally free society ... understood as a society whose members all enjoy to the greatest extent the freedom to shape their destiny". 332 E r unterstellt, daß die politische Freiheit nicht nur maximiert werden kann, sondern auch w e r d e n soll, und daß ihre M a x i m i e r u n g ein, wenn nicht das Kriterium der Gerechtigkeit einer Gesellschaft ist. In der Tat liegt diese Auffassung für jeden nahe, der wie alle in diesem Teil erörterten Autoren (und ich selbst) der Idee der gleichen Freiheit folgt. Denn d i e Gleichheit der Freiheit soll j a nicht gleiche Unfreiheit oder Beschränkung des Spielraums der Willkürfreiheit eines jeden sein. Daher liegt es auch nahe, Kants klassische Bestimmung des Rechts als Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkürfreiheit aller Individuen m i t e i n a n d e r nach e i n e m allgemeinen Gesetz der Freiheit bestehen kann, als Forderung zu verstehen, das allgemeine Gesetz der Freiheit müsse j e d e m einen maximalen H a n d l u n g s s p i e l r a u m sichern. A u c h Rawls folgte diesem Verständnis, als er den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz der Theorie der Gerechtigkeit als Forderung formulierte, daß „each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others". 333 Dies Verständnis kann aber nicht richtig sein. Der Zustand m a x i m a l e r Freiheit ist der Naturzustand, wie Hobbes ihn beschrieben hat: in ihm kann j e d e r machen, was er will, und das führt schnell zum Krieg aller gegen alle. Z w a r steht der Libertarismus, an den sich van 331 Ebd., 28. 332 Ebd., 3. 333 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 60. Kursiv von mir.

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van Parijs' Grundeinkommen

Parijs mit seiner Forderung maximaler Freiheit anlehnt, bei vielen seiner Kritiker im Verdacht, mit seiner Freiheit nicht über den Hobbesschen Naturzustands hinauszukommen. Aber van Parijs kann ihn nicht gemeint haben. Ist seine Maximalfreiheit also der Zustand maximaler Freiheit im Rahmen des in Westeuropa üblichen öffentlichen und privaten Rechts? Aber auch unter dieser einschränkenden Bedingung ist der ausgedehnteste Handlungsspielraum für jeden nicht immer wünschenswert. Ehepartner haben zwar die Wahl aus einer Palette von Möglichkeiten der ehelichen Bindungen. Vereinbaren sie maximale oder Rawls' most extensive Freiheit, so bedürfte es offensichtlich weiterer Argumente, um diese eine Möglichkeit als die wünschenswerte auszuzeichnen. Ähnlich können die Mitglieder einer Wohngemeinschaft vereinbaren, daß jeder so viel Dreck hinterlassen darf, wie er will, vorausgesetzt, er duldet dieselbe Schlamperei bei jedem anderen. Ein Club kann vereinbaren, daß jedes Mitglied (sagen wir, um das Beispiel plausibler zu machen: nur in der Freizeit) mit jedem andern umgehen darf, wie es will: es darf es prügeln, anpöbeln und vielleicht noch extremer verletzen, wann und wie es will, vorausgesetzt nur, es gibt jedem andern Clubmitglied dasselbe Recht. Ist solche Maximalfreiheit attraktiv? Läßt sich mit der Idee der maximalen Freiheit in Politik und Gesetzgebung mehr anfangen? Die Bürger können einander zwar mehr oder weniger Spielraum lassen, einander zu provozieren, zu verleumden, in der Werbung oder auf andern Feldern zu Handlungen zu verleiten, die sie bei besserer Überlegung nicht begangen hätten; sie können das Strafrecht mehr oder weniger streng und den Schutz Angeklagter mehr oder weniger penibel formulieren und praktizieren. Auch hier sind die ausgedehntesten Grundfreiheiten nicht ohne weiteres als die wünschenswerten oder gar gerechten erkennbar. Tatsächlich hat Rawls in seinen späteren Aufsätzen in seiner Beschreibung seines ersten Grundsatzes das Prädikat der most extensive basic liberty ersetzt durch das eines „fully adequate scheme of equal basic rights and liberties. 334 Das ist ein Fortschritt, aber stellt vor die Frage, welchen Bedingungen ein Rechtssystem adäquat sein muß, um gerecht zu sein. Kant nahm an, es gebe nur eine Möglichkeit dafür, wie die Freiheit eines jeden mit der jedes anderen zusammen bestehen kann, weil er die Freiheit nicht formal als Handlungsspielraum oder Freiheit von Hindernissen verstand, sondern als eine Willkür, die den Vernunftfähigkeiten des Menschen (die er deshalb als seine Würde ansah) angemessen sein muß. Daß jeder jeden prügeln darf, hätte er verworfen, weil er Prügeln für unvereinbar mit der der eigenen Vernunft geschuldeter Selbstachtung und daher für illegitim hielt. Daß man das Handeln starken Verträglichkeitsbedingungen unterwerfen darf, hätte er abgelehnt, weil er darin eine unbegründete Freiheitsbeschränkung gesehen hätte, die nicht der menschlichen Selbstbestimmungsfähigkeit angemessen ist. Das „allgemeine Gesetz der Freiheit", nach dem die Willkür eines jeden mit der jedes andern zusammenbestehen muß können, um als rechtlich anerkannt zu werden 335 , ist ein Gesetz der inhaltlich bestimmten, der Vernunft angemessenen Freiheit. Die politische Freiheit erläutert er demgemäß als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" und zählt zu ihr auch die „angeborene Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr zu sein". 336 Sowohl die wechselseitige Prügelerlaubnis als auch die wechselseitige Handlungs334 Rawls, Political Liberalism, a.a.O., 5. 335 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B. 336 Ebd., 43.

Das Grundeinkommen

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beschränkung verstoßen gegen diese „Qualität des Menschen, sein eigener Herr zu sein". Diese Qualität ist dieselbe wie die, ein Selbstzweck zu sein. Das Recht kann zwar nicht wie die Moral verlangen, daß man die Gesinnung hat, jeden als Selbstzweck zu achten, wohl aber muß es jeden an Handlungen hindern, die, wie immer seine Gesinnung, den Betroffenen nicht immer auch die Freiheit lassen, als Selbstzweck zu handeln. Ob nun Kants inhaltliche Bestimmung der Freiheit ausreicht oder nicht, um ein und nur ein System von Regeln auszuzeichnen, unter denen die Freiheit eines jeden mit der jedes anderen verträglich ist, van Parijs erörtert nicht die Probleme seiner Forderung einer „maximally free society" und orientiert sich nicht an Kants inhaltlichem Freiheitsbegriff. Er läßt offen, was unter maximaler Freiheit zu verstehen ist, und hofft auf intuitiv gestützte Zustimmung, daß ein Grundeinkommen, das jedem ausgezahlt wird, ob reich oder arm, ob arbeitend oder nicht arbeiten wollend, zur maximalen Freiheit beiträgt. Diese Hoffnung ist trügerisch, denn die Frage liegt zu nahe, ob nicht ein solches Grundeinkommen nur die Freiheit derer vergrößert, die nicht arbeiten wollen, und die Freiheit des Rests einschränkt. Das Grundeinkommen Die Forderung eines bedingungslos jedem gezahlten Grundeinkommens stammt nicht von van Parijs. Sie wird heute von verschiedenen politischen Gruppen und Parteien, besonders liberalen und grünen, vertreten und kann als Radikalisierung der bestehenden Formen eines garantierten Mindesteinkommens verstanden werden. Diese werden jedoch nur bei geringem oder fehlendem Einkommen und nachgewiesener Arbeitswilligkeit gezahlt. Aber auch in Form der bedingungslosen Auszahlung an jeden, sei er reich oder arm, gesund oder krank, beschäftigt oder arbeitslos, arbeitswillig oder arbeitsscheu, ist der Vorschlag nicht neu. Thomas Paine schlug schon 1796 vor, jedem vom 50. Jahr an eine Grundrente und bei Erreichen seiner Volljährigkeit mit 21 „the sum of fifteen pounds sterling" auszuzahlen, „as a compensation, in part, for the loss of his or her natural inheritance", womit das Gemeineigentum an Naturgütern, vor allem an Grund und Boden, gemeint ist.337 Von Dennis Milner stammt die erste volle Ausarbeitung der Idee338, die zwischen den Weltkriegen von britischen Intellektuellen um den Ökonomen G.D.H. Cole diskutiert wurde. 339 Sie erhielt zusätzlichen Auftrieb durch den Vorschlag einer negativen Einkommensteuer durch den liberalen Ökonomen Milton Friedman. 340 Danach werden auch Personen ohne oder mit nur geringem Einkommen vom Finanzamt veranlagt, erhalten aber mit zunehmend geringem Einkommen einen zunehmenden Zuschlag („Negativsteuer"). Eine solche Reform hätte positive Auswirkungen auf die Beschäftigung. Die Unternehmer könnten Stellen für niedrigere Lohngruppen anbieten, da die Eingestellten vom Finanzamt einen Zuschlag erhalten würden.

337 Zit. nach ebd., 45. Die Quelle ist Thomas Paine, Agrarian Justice, in: P.F. Foner (ed.), The Life and Major writings of Thomas Paine, Seacaucus/NJ, 1974, 605-23,612f. Ich habe die Quelle nicht finden können. 338 Dennis Milner, Higher Production by a Bonus on National Output, London 1920. Nach van Parijs, Basic Income and the two dilemmas of the welfare state, in: Rechtsphilosophische Hefte 5, 1996, 115-120, 116. 339 Nach van Parijs, ebd. 340 Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago 1962. Nach van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 35f und 57.

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van Parijs' Grundeinkommen

Die negative Einkommensteuer ist, wie van Parijs anerkennt, im Ergebnis vom Grundeinkommen nicht unterschieden, sei jedoch mit einem aufwendigeren Apparat verbunden. 341 Dagegen spricht, daß das jedem gezahlte Grundeinkommen den Bessergestellten durch dieselbe Steuerprogression und dieselben Verwaltungsakte wieder verloren geht, die mit der negativen Einkommensteuer verbunden sind. Denn auch van Parijs will die Besserverdienenden so besteuern, daß ihnen das Grundeinkommen abgeschöpft wird. Wenn van Parijs das Grundeinkommen damit empfiehlt, daß es jedem ausgezahlt wird, stützt er sich nur auf die Form der Auszahlung. Zwar hätte die negative Einkommensteuer nicht die Symbolkraft des Grundeinkommens, das einen Zustand der Freiheit vom Arbeitszwang verheißt. Ein Argument für das Grundeinkommen ist gerade, daß es an alle, auch an die Gutverdienenden, ausgezahlt wird. Diese Symbolkraft geht der negativen Einkommensteuer ab. Aber genau besehen ist sie nur ein Propagandaeffekt, auf die sich die politische Praxis, aber nicht die politische Theorie stützen darf. Wie hoch soll das Grundeinkommen sein? Zwar strebt van Parijs mit dem Grundeinkommen nach dem „highest unconditional income for all consistent with security and selfownership". 342 Der Nicht-Arbeitende soll das höchstmögliche Einkommen erhalten, das die Arbeitenden nicht zu Arbeitssklaven macht. Aber wie hoch es unter dieser Bedingung sein kann, läßt sich nicht allgemein sagen. „A basic income, as defined, can fall short of or exceed what is regarded as necessary to a decent existence." 343 Um der auch von van Parijs anerkannten Gefahr zu entgehen, daß alle die Nicht-Arbeit der Arbeit vorziehen, muß es niedrig genug sein, um den durch Arbeit erwerbbaren Zusatzlohn attraktiv zu machen. Daher könnte es auch nach seiner Höhe von einer großzügigen negativen Einkommensteuer nicht sehr verschieden sein. Es hätte zudem dieselben, wenn nicht bessere beschäftigungspolitische Wirkungen, van Parijs hält es für besser geeignet, Arbeitslosen die „Arbeitslosigkeitsfalle" zu ersparen: das Verbleiben in der Arbeitslosigkeit, weil diese eine zwar geringe, aber eine Unterstützung bietet, die als verläßlicher wahrgenommen wird als eine Einstellung mit ungewissen Bedingungen. 344 Die Sicherheit, das Grundeinkommen nicht zu verlieren, lasse die Ungewißheit einer neuen Stelle leichter ertragen. Es biete schließlich den Unternehmern nicht weniger Vorteile als die negative Einkommensteuer. Sie können ebensogut Stellen für niedrigere Lohngruppen anbieten. Darüber hinaus entfallen viele, bei hinreichender Höhe des Grundeinkommens sogar alle Lohnnebenkosten. Arbeitslosenversicherung werde überflüssig und Renten- und Krankenversicherung könne von den Arbeitnehmern allein und nach den Regeln eines idealen Markts Dworkinscher Art bezahlt werden. van Parijs versucht das Grundeinkommen als wegweisend für künftige Gesellschaften und zugleich als verträglich mit den gegebenen auszuweisen; als die „key component of the back bone of a positive progressive project for a post-neo-liberal, post-communist Europe" 345 und doch auch als eine leichter zu handhabende negative Einkommensteuer. Die Spannung zwischen diesen zwei Seiten der Zukunftsorientierung und der Gegenwartskonformität gehört zu den Grundproblemen von van Parijs' Projekt. So betont er, zukunftsorientiert, beim Grund341 342 343 344 345

van Parijs, Real Freedom, 36. Ebd., 33. Ebd., 35. Ebd., 36. van Parijs, Basic Income, a.a.O., 116.

Wieviel gebührt den Benachteiligten?

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einkommen gehe es nicht um die „Freiheit, zu kaufen oder konsumieren" 346 , nicht um die Freiheit „to choose among the various bundles of goods one might wish to consume", sondern „to choose among the various lives one might wish to lead". 347 Auf der anderen Seite hält er es, gegenwartskonform, für unmöglich, das Grundeinkommen jedem bei Erreichen der Volljährigkeit auszuzahlen, wie es Thomas Paine forderte. Das, und wohl nur das würde einem erlauben, statt unter verschiedenen Warenbündeln unter verschiedenen möglichen Leben das zu wählen, das man leben will. Aber „a society of really free people could not countenance a crowd of elderly destitutes who are paying a heavy price for squandering their one-off basic endowments decades ago".348 Das Grundeinkommen müsse also monatlich ausgezahlt werden. So gleicht es sich der negativen Einkommensteuer an. Selbst wenn sich die Spannung zwischen Zukunftsorientierung und Gegenwartskonformität auflösen läßt, bleibt die Frage, ob eine Reform in die richtige Richtung geht, die am Anfang nur die Freiheit zu kaufen und konsumieren zu vergrößern scheint. Das Grundeinkommen kann, wie van Parijs gebührend betont 349 , Probleme unfreiwilliger Arbeitslosigkeit lösen, und darin liegt sein größter Reiz. Es erlaubt, Stellenlosigkeit einer ungeliebten Stelle vorzuziehen und sich mit einer Arbeit im Privatbereich zu begnügen. Es begünstigt den Rückzug ins Private und die Abdankung vom Rechtsanspruch auf gleichen Gebrauch der Naturgüter, die in das gesellschaftliche System der Arbeit eingehen. Es fördert die Entwicklung hin zur Kontrolle der Produktion durch eine immer kleiner werdende Zahl, von welcher der Rest abhängt, weil er von den Quellen des Reichtums ausgeschlossen ist. Das ist jedenfalls zu befürchten, wenn uns nicht van Parijs eines besseren belehrt. Als politischer Philosoph begnügt er sich nicht damit, das Grundeinkommen vorzuschlagen; er argumentiert für es. Er verteidigt es gegen drei Einwände. Erstens dagegen, daß die Gerechtigkeit zuerst verlange, die Behinderten zu entschädigen (zu denen er auch die Untalentierten zählt), so daß kein Geld mehr für den Luxus des Grundeinkommens bleibe. Zweitens und vor allem dagegen, daß das Grundeinkommen eine Ausbeutung der Arbeitenden durch die Nichtarbeitenden sei. Schließlich dagegen, daß der Kapitalismus, den der Befürworter des Grundeinkommens dem Sozialismus vorzieht, ungerecht sei. Wieviel gebührt den Benachteiligten? van Parijs stimmt mit Rawls und Dworkin darin überein, Gerechtigkeit verlange „compensation for unequal internal endowments". Unter den „internal endowments" versteht er Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen jemand ohne seine Schuld oder sein Verdienst ausgestattet ist, sei es genetisch, sei es durch andere Kontingenzen bedingt. Eine solche Ausstattung ist schlecht („unequal"), wenn sie jemand langfristig krank, behindert oder ökonomisch erfolglos macht. Die Schlechtausgestatteten umfassen zwei Gruppen, die ökonomisch weniger Erfolgreichen oder weniger Talentierten und die Behinderten oder Kranken. Man kann von vornherein zweifeln, ob sie als eine Gruppe behandelt werden sollten. Denn wenn Talente auch so unverdient sind wie angeborene Behinderungen, ist doch, wie wir bei Dworkin bemerkten, die Einstellung der meisten Nichtphilosophen zu den Folgen dieser beiden Arten 346 347 348 349

van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 30. Ebd., 33. Ebd., 31. Ebd., 109ff.

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van Parijs' Grundeinkommen

angeborener Naturgüter sehr verschieden: im einen Fall gelten sie als etwas, was andere zu Hilfe verpflichtet, im andern nicht. Über diese Einstellung darf sich der politische Philosoph nicht ohne Argument hinwegsetzen, und doch tut es van Parijs wie Dworkin. van Parijs hält Dworkins Weg der Bemessung der Entschädigungshöhe für Schlechtausgestattete über einen kontrafaktischen Versicherungsmarkt für falsch. Erstens führe er „straight into the equalization of welfare rather than of opportunities, and hence into something very alien to the notion, which I find compelling, that justice is about the distribution of freedom, not about the distribution of happiness". Die Versicherungsleistungen können in der Tat den Opfern von schierem Unglück nicht die Gleichheit der Handlungsmöglichkeiten mit den weniger Unglücklichen sichern. Aber ebensowenig erreichen sie eine Gleichheit der „Wohlfahrt", das heißt der Interessenbefriedigung. Sie erreichen nur eine Annäherung an den Zustand des Gesunden, und zwar eine Annäherung nicht an gleiche Wohlfahrt, sondern an Chancengleichheit, van Parijs' erste Kritik ist daher nicht berechtigt. Zweitens, so van Parijs weiter, unterscheide Dworkin nicht richtig zwischen solchen Eigenschaften einer Person, für die sie verantwortlich ist, und solchen, für die sie es nicht ist. Denn Personen mit gleicher Begabung können, wenn sie sich verschieden hoch versichern, verschieden hohe Entschädigungen kassieren. 350 Diese Kritik beruht auf einem Mißverständnis von Dworkins Versicherungskonstruktionen. Diese sind im Fall der Versicherung gegen angeborene Behinderungen und gegen Talentmangel keine Vorschläge zur Einrichtung realer Versicherungen, die auf dem Markt operieren, sondern Begründungen für die Einrichtung staatlicher Zwangsversicherungen oder einer progressiven Einkommensteuer. Auch van Parijs' zweiter Einwand gegen Dworkins Vorschlag, der Naturkontingenz von Behinderungen entgegenzuwirken, ist verfehlt. van Parijs' Lösung stützt seinen eigenen Vorschlag auf eine Überlegung des amerikanischen liberalen politischen Philosophen Bruce Ackerman zur Bewertung genetischer Anlagen. 351 Nach diesem schuldet eine Gesellschaft G einer Person Q eine Entschädigung, wenn in G jeder die natürliche Ausstattung einer Person Ρ der natürlichen Ausstattung von Q vorzieht, van Parijs' und Ackermans Vorstellung ist, daß die natürliche Ausstattung eines Menschen, der jeder die natürliche Ausstattung irgend eines andern Menschen vorzieht, so schlecht sein muß, daß sie wie eine unverschuldete Krankheit betrachtet werden muß und ihr Eigentümer für sie ebenso legitim von der Gesellschaft Hilfe fordern kann wie für seine Krankheit. Diese Hilfe kann allerdings nicht in Maßnahmen bestehen, die Ausstattung wie eine Krankheit zu beseitigen, sondern in einer Entschädigung. Sie soll so hoch sein, wie notwendig ist, daß sich jemand findet, der (ohne Gefahr, selbst die beurteilte Ausstattung zu erhalten) erklärt, das Leben mit der Ausstattung der entschädigten Person führen zu wollen.352 Diese Regel schließe zwar nicht aus, daß die Ausgaben zur Entschädigung Schlechtausgestatteter keine Mittel für ein Grundeinkommen übriglassen. „But the wealthier, the healthier, and the more diverse a society, the more room there remains for a just unconditional income". 353 Daß Gesundheit und Reichtum den Spielraum für das Grundeinkommen begünstigen, ist klar. Aber auch ihre Mannigfaltigkeit oder genauer die Neigung ihrer Individuen für die

350 Ebd., 58f. 351 Bruce Ackerman, Social Justice in the Liberal State, N e w Haven/Conn. 1980, 132; zit. nach van Parijs. 3 5 2 van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 59, 73f. 353 Ebd., 60.

Wieviel gebührt den Benachteiligten?

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Mannigfaltigkeit von Ausstattungen begünstige sie. Denn dann werden ökonomisch erfolglose Ausstattungen eher gewollt. Das Ackerman-van Parijssche Entschädigungskriterium paßt vielleicht in die Vorstellungen von Gentechnikern, die über die Akzeptabilität oder genauer die Verkäuflichkeit ihrer Kreationen entscheiden, doch nicht in die soziale Wirklichkeit. Sehen wir vorerst ab von der Grundsatzfrage, ob Individuen oder „die Gesellschaft" unter einer Rechtspflicht stehen, mithin auch staatlich gezwungen werden dürfen, Schlechtausgestatteten zu helfen. Eine praktische Schwierigkeit von van Parijs' Vorschlag ist, daß die Anwendung des Kriteriums kaum einem Behinderten die Anerkennung seiner Bedürftigkeit sichern kann. Denn wenn nur einer erklärt, er wolle mit der Ausstattung eines Kompensation beantragenden Behinderten leben, sorgt er dafür, daß dieser keine Kompensation erhält, folglich er selbst weniger Sozialabgaben zahlen muß. So ist unwahrscheinlich, daß bei irgendeinem Behinderten alle übereinkommen, seiner Ausstattung eine andere vorzuziehen. Das Kriterium könnte nur dann der Absicht seiner Autoren entsprechen, wenn das Urteil darüber, daß man jemandes Ausstattung will, für den Urteilenden gewichtige Folgen hätte, an denen man die Ernsthaftigkeit seines Urteils prüfen könnte. Der Theorie bietet das Kriterium nicht weniger Probleme, van Parijs setzt keinerlei sachliche oder inhaltliche Bedingungen dafür, die Ausstattung einer Person zu verwerfen oder zu akzeptieren. Er sagt nicht etwa, daß man zu bestimmten Leistungen unfähig oder fähig sein muß, um als benachteiligt oder nicht benachteiligt anerkannt zu werden. Die wie immer motivierte Ablehnung genügt, wenn nur alle ablehnen. Wenn daher jemand mit grünen Ohren geboren wird und alle diese Eigenschaft für so schmachvoll halten, daß niemand mit grünen Ohren leben will und alle die Ausstattung mit fleischfarbenen Ohren vorziehen, dann wäre der Grünohrige behindert und kompensationsberechtigt. Eine solche Anerkennungspraxis ist weder mit der Idee der Achtung vor Personen noch mit der Selbstachtung von Personen vereinbar. (Wer das nicht gleich sieht, ersetze die grünen Ohren durch schwarze Haut.) Der Fehler in van Parijs' Argument ist, objektive Kriterien zur Unterscheidung von Krankheit und nur vermeintlichen Mängeln auszuschließen. Die Intuition, daß Talentmangel nicht zu der Hilfe verpflichtet, zu der unverschuldete und ohne fremde Hilfe zu Not führende Krankheit und Behinderung verpflichten, gründet in der Überzeugung, daß Talentmangel nicht hindert, seine Fähigkeiten zu einem selbständigen Leben zu gebrauchen. Auf ihn Kompensationsansprüche an die Gesellschaft zu gründen, ist danach nicht nur verfehlt, sondern muß als Mißachtung der Fähigkeit zählen, über sein Leben selbst nach Gründen zu entscheiden. Diese Überzeugung mag falsch sein, aber wie Dworkin begeht auch van Parijs den Fehler, nicht einmal zu fragen, ob sie nicht richtig sein könnte. Die Willkürlichkeit des van Parijs-Ackermanschen Maßstabs zeigt sich auch in seiner Anwendung auf die Bemessung der Entschädigungshöhe. Daß alle und nicht nur eine bestimmte Mehrheit oder welche Zahl immer urteilen müssen, daß der entschädigungsberechtigenden Ausstattung eine andere vorzuziehen ist, begründet van Parijs damit, daß andernfalls das Condorcetsche Paradox auftreten kann: eine Mehrheit setzt A vor B, eine andere Β vor C, eine dritte C vor A.354 Wichtiger aber ist doch, daß die Bedingung der Einstimmigkeit die Entschädigungskosten geringer hält und verhindert, daß die Talentierten zu den Sklaven der weniger Talentierten werden. Das gibt van Parijs auch als Grund dafür an, daß die Ent-

354 Ebd., 80.

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van Parijs' Grundeinkommen

Schädigung aufhört, sobald einer und nicht fünf oder fünfhundert die Ausstattung übernehmen wollen. 355 Für die Frage der Berechtigung des Grundeinkommens folgt jedenfalls aus van Parijs' Diskussion der möglichen Entschädigung für die zu einer Gruppe zusammengefaßten Schlechtausgestatteten: es kann Geld für das Grundeinkommen übrig bleiben; seine Einrichtung ist nicht von vornherein ungerecht. Und auf diesen Nachweis kam es ihm an. Dieser Nachweis kann durch meine Kritik nicht ernsthaft gefährdet werden. Denn diese läuft auf eine Verwerfung der Entschädigungsberechtigung der sogenannten Mindertalentierten hinaus. Es bleiben freilich die „echten" Behinderten, für die van Parijs' Kriterium verfehlt und in der Anwendung zu streng ist. Was gehört den Nichtarbeitenden? van Parijs kontert den Einwand, das Grundeinkommen sei Ausbeutung der Arbeitenden durch die Nichtarbeitenden, mit zwei Grundsatzfragen, die auch unabhängig von der Verteidigung des Grundeinkommens eine Erörterung verdienen. Die erste Frage ist: Was von den Reichtümern einer Gesellschaft kommt den Arbeitenden zu und was jedem, ob er arbeitet oder nicht? Die zweite Frage ist: Was ist Ausbeutung? Den Nichtarbeitenden gehöre erstens ihr Anteil am Gemeineigentum natürlicher Ressourcen, das van Parijs ebenso annimmt wie Steiner und im Wert durch Wettbewerbspreise auf einer Versteigerung messen lassen will.356 Wie groß oder gering immer der Wert sein mag, er schließt schon aus, daß die Arbeitenden allein über den Gebrauch der Reichtümer in den Gesellschaften verfügen dürfen. Zweitens rechnet van Parijs nicht nur die natürlichen, sondern alle äußeren „endowments", Ausstattungen, zum Gemeineigentum. Wenn idealer- oder gerechterweise „the internal endowments are assumed to be equally distributed", müsse „of course" auch „the whole set of external means that affect people's capacity to pursue their conceptions of the good life" Gemeineigentum sein. Nun gibt es kein äußeres Mittel, das nicht unsere Fähigkeit berührt, unsere Vorstellung vom guten Leben zu verfolgen. Muß daher aller Reichtum ebenso wie der „innere" Reichtum von Personen Gemeineigentum sein? Tatsächlich behauptet van Parijs: „External endowments, in other words, include whatever usable external object in the broadest sense individuals receive access to. Such material objects as factories and stamp collections, private houses and public bridges, such immaterial objects as nurse rhymes and computer programmes, the work ethic and the nuclear technology constitute external assets on a par with beaches, pumpkins, and parrots. The external pool coincides with the external wealth with which people are endowed." 357 Nach den „internal endowments" erklärt van Parijs also auch alle „external endowments" zu Gemeineigentum; schließt man nach der Liste der Güter, die zu dieser äußeren Ausstattung gehören, so gibt es überhaupt kein Gut, das nicht Gemeineigentum ist. Gegen diesen Schluß spricht aber, daß van Parijs fordert, es müsse auch Privateigentum geben. 358 Wie Dworkin will er auch die Anstrengungen oder „Ambitionen" der Individuen ihnen selbst zurechnen. 359 Alles 355 356 357 358 359

Ebd., 75. Ebd., 99. Ebd., 101. Ebd., 4. Ebd., 59.

Was gehört den Nichtarbeitenden?

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kann er daher nicht als Gemeineigentum betrachten. An seinem überraschenden Schluß muß man offenbar beachten, daß er nur das zur äußeren Ausstattung, den „external endowments", rechnet, wozu „individuals receive access". Dazu wiederum rechnet er offenbar, aus Gründen, die er im Dunkel läßt, nur „the value of all gifts and bequests". 360 Das ist der Teil der äußeren Ausstattung, der von Privateigentümern ohne Gegenleistung veräußert wird. In dieser Veräußerung scheint er den Akt zu sehen, durch den der Reichtum der äußeren Ausstattung den Zustand erhält, in dem jeder gleichen Zugang zu ihm haben muß. Wenn diese Deutung richtig ist, muß man van Parijs wieder eine willkürliche Unterscheidung vorhalten. Denn warum Schenkungen und Vererbungen als öffentlich zugänglich, andere Eigentumsübertragungen oder sogar Eigentumsverhältnisse selbst als nicht öffentlich zugänglich gelten sollen, ist schwer erkennbar. Vielleicht ist van Parijs' Grund der, daß in Schenkungen und Vererbungen der Eigentümer seinen legitimen Anspruch auf eigene Verfügung über den Wert des Veräußerten aufgibt. Das wäre allerdings kein zureichender Grund, das so Veräußerte als öffentliches Gut zu betrachten, zu dem jeder berechtigt ist, gleichen Zugang zu haben; denn wenn auch der Eigentümer auf Verfügung über den Wert des Veräußerten verzichtet, verfügt er doch zugleich, daß der Wert in die Verfügung des Beschenkten oder Beerbten übergehen soll. Warum in diesem Fall öffentlicher Zugang bestehen soll, im Fall eines gewöhnlichen Verkaufs oder auch gewöhnlichen Eigentums nicht, bleibt dunkel. Wie immer dieser zweite Posten des Gemeineigentums zu verstehen ist, auf dessen Gebrauch die Nichtarbeitenden ein gleiches Recht haben, halten wir fest: van Parijs nimmt das gleiche Recht eines jeden an, zur „äußeren Ausstattung", nämlich den Schenkungen und Vererbungen, Zugang zu haben oder von ihr Gebrauch zu machen. Er unterstellt dabei, ohne es auszuführen, daß jeder auch ein gleiches Recht darauf hat, über die Früchte des Gebrauchs der „inneren Ausstattung" eines jeden zu verfügen. Als legitimes Privateigentum gilt daher nicht, was man kraft seiner inneren Ausstattung hervorbringt, sondern nur, was man durch seine Anstrengung oder Entscheidung hervorbringt. Bemerken wir auch schon, daß dieser zweite Posten auf schwachem Grund steht. Erstens ist die Grenze zwischen dem Zustand, in dem die äußere Ausstattung jedem gleich zugänglich, und dem Zustand, in dem sie nur privat zugänglich sein soll, willkürlich gezogen. Zweitens ist unklar, was die innere Ausstattung von solchen Fähigkeiten unterscheidet, durch deren Gebrauch jemand nach van Parijs legitimer Privateigentümer seines Produkts wird, van Parijs steht vor derselben Schwierigkeit wie Dworkin, nämlich die Fähigkeiten, deren produktiver Gebrauch jemanden zum legitimen Eigentümer seines Produkts macht, von denen zu unterscheiden, die nur als Ergebnis der natürlichen Lotterie der Gene oder anderer natürlicher Kontingenzen gelten dürfen. Schließlich ist (wie schon bei Rawls und Dworkin) fraglich, worauf die Gesellschaft das ihr von van Parijs unterstellte Recht gründen kann, dem Erfolgreichen den Teil seines Erwerbs abzuschöpfen, den er seinen Talenten verdankt. van Parijs' dritter und wichtigster Posten, der auch den Nichtarbeitenden als Gemeineigentum gehört, ist ein verkäufliches Anrecht auf einen Anteil an den Arbeitsplätzen einer Gesellschaft, van Parijs setzt voraus, daß Arbeitsplätze knappe Ressourcen und Gemeineigentum wie Land sind, auf die jeder ein gleiches Recht hat. Statt jedem aber eine gleiche Menge an Land oder eine gleich große Arbeitszeit zuzuteilen, will er jedem eine gleiche

360 Ebd., 101.

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van Parijs' Grundeinkommen

Menge von Anrechtscheinen auf das vorhandene Land und ebenso auf die vorhandenen Arbeitsplätze zuteilen und diese zum Handel freigeben. Wer sein Anrecht auf ein Stück Land oder auf einen Arbeitsplatz nicht wahrnehmen will, der kann es dem Meistbietenden verkaufen. Wenn viele Land haben oder arbeiten wollen, kann er für seinen Verzicht viel erhalten, wenn wenige, dann wenig, van Parijs' Idee ist, daß in Zeiten von Arbeitslosigkeit der Nichtarbeitende viel Geld für seinen Verzicht erhält, weil viele eine Stelle wollen, auf der sie einen Zusatzverdienst zum Grundeinkommen erhalten; in Zeiten der Hochkonjunktur dagegen erhält er wenig. Die Arbeitsplatzanrechte wirken daher antizyklisch: j e größer die Arbeitslosigkeit, desto größer der Anreiz, auf einen Arbeitsplatz zu verzichten, weil die Arbeitsplatzanrechte im Kurs steigen; je mehr dagegen nicht arbeiten wollen, etwa weil sie schon genug verdient haben oder mit jemand zusammenleben, der genug verdient, desto weniger erhalten sie für ihren Verzicht. „In the case of scarce land, we gave each member of the society concerned a tradable entitlement to an equal share of that land... Similarly, in the case of scarce jobs, let us give each member of the society concerned a tradable entitlement to an equal share of those jobs. If involuntary unemployment is high, the corresponding basic income will be high. If all unemployment is voluntary, no additional basic income is justified by this procedure." 361 van Parijs läßt offen, nach welchen genaueren Regeln die Land- und die Arbeitsplatzanrechte eingelöst werden. Für die Landanrechte kann man vermuten, daß jeder Bürger ein Anrecht auf die Zahl von Quadratmetern Landes, die durch Teilung der Quadratmeterzahl des Gesamtterritoriums des Staates durch die Zahl seiner Bürger ermittelt wird, wenn das gesamte Territorium von gleichem Wert ist, und daß andernfalls das Land in Wertklassen unterschieden und jedem sein Anteil zugeteilt. Wie sieht es bei den Arbeitsanrechten aus? Auf wieviel Stunden oder auf Arbeit welcher Qualität soll jeder Bürger ein Anrecht erhalten? Kann man denn für die gesellschaftlich verfügbare Arbeitszeit eine feste Größe annehmen wie für das Land? Ist sie nicht vielmehr eine Funktion davon, welche Leute welche Stellen haben und ob überhaupt manche Leute arbeiten und dabei Einfälle haben? Soll die verfügbare Arbeit, ob als feste oder dynamische Größe gedacht, in Wertklassen unterschieden werden? Und soll jeder ein gleiches Recht auf jede Wertklasse von Arbeit haben (wie van Parijs annimmt), wie immer er ausgebildet oder fähig für eine Wertklasse ist? van Parijs läßt hier zu viele Fragen offen, als daß man seinen Vorschlag überhaupt ernst nehmen könnte. Klar wird, daß van Parijs in seiner Suche nach legitimen Quellen zur Auffüllung der Kasse, aus der das Grundeinkommen bezahlt werden soll, auf Schwierigkeiten stößt. Das gilt auch für die Quelle, die er in den Beschäftigungsrenten entdeckt: „These rents are given by the difference between the income (and other advantages) the employed derive from their job, and the (lower) income they would need to get if the market were to clear. In a situation of persistent massive unemployment, there is no doubt that the sum total of these rents would greatly swell the amount available for financing the grant." 162 In Zeiten der Unterbeschäftigung beziehen Beschäftigte nach dieser Annahme mit ihrem Einkommen einen Sonderverdienst oder eine Rente in Form eines Zuschlags zu dem fallenden Einkommen, mit dem sie sich auf einem freien Arbeitsmarkt bei wachsender Nachfrage nach Arbeitsstellen begnügen müßten. Die Höhe ihres tatsächlichen Einkommens ist nach

361 Ebd., 108. 362 Ebd.

Was gehört den Nichtarbeitenden?

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dieser Annahme die Folge von Gewerkschaftsmacht oder anderen Faktoren, die die Marktgesetze ausschalten können. Die Differenz ihres tatsächlichen Einkommens von dem, das sie bei Beschäftigung der Arbeitslosen erhalten würden, steht nach van Parijs ebenfalls den Arbeitslosen zu. Diese Summe sei der Staat verpflichtet, von den Einkommen durch Steuer abzuschöpfen und dem Topf zufließen zu lassen, aus dem das Grundeinkommen bezahlt wird. Diese Überlegung macht deutlich, daß die Einrichtung eines Grundeinkommens besonders solche Berufstätigen belastet, die in einer Krise um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen. Denn dann haben sie zweifellos Konkurrenten, die ihren Arbeitsplatz für einen noch niedrigeren Lohn einnehmen würden. Die Auffüllung der Grundeinkommenskasse mit Beschäftigungsrenten sichert jedenfalls nicht, daß Nichtarbeitende das bekommen, worauf sie ein Recht haben; sie garantiert vielmehr, daß das Grundeinkommen die Löhne der Schlechtverdienenden drückt und die Arbeitslosen beruhigt. van Parijs sieht für seine Argumentation eine Gefahr von einer Seite, wo keine besteht. Da er das Recht auf Arbeit nicht auf das Recht auf gleichen produktiven Gebrauch des Gemeineigentums an den Naturgütem gründet, sondern nur auf ein vermeintliches Recht auf Kompensation für unverschuldete Benachteiligung, stellt er sich die Frage, ob nicht die Verheirateten in einer Gesellschaft mit unfreiwillig Ehelosen besteuert werden müssen. 363 Denn er hält konsequenterweise die Knappheit von Arbeitsplätzen für vergleichbar mit der Knappheit von Eheplätzen und sieht sich daher gezwungen, das Recht auf Arbeit durch das Recht auf Heirat und die verkäuflichen Titel auf einen Arbeitsplatz durch verkäufliche Titel auf einen Eheplatz zu ergänzen. Er konstruiert einen Fall, der an Nozicks abgewiesenen Freier erinnert 364 : „Suppose ... that there is a shortage of marital partners, whether for a purely demographic or a cultural reason. More women, say, wish to have a husband than there are men wishing to have a wife, for reasons unrelated to the material advantages associated with partnership ... So the ideal solution must consist in giving all women an equal tradable right to men, and let them then trade in perfectly competitive fashion until the market-clearing price of partnership is reached. Those who end up with a man after the auction and would have had one without it will, of course, be made worse off by the procedure: they now have to pay for their privilege. Those without a man both after the auction and without it will instead become better off: they are given an equal share in the value of the scarce asset. This procedure consistently implements, it seems, the notion that everyone has an equal right to marry - just as everyone has an equal right to work - while being compatible with not everyone choosing to marry - just as not everyone need choose to work." 365 van Parijs fragt zu dieser Übertragung des Rechts auf Arbeit auf ein Recht auf Heirat selbst: „Is this further extension of our approach not so obviously absurd that it casts serious doubts on the real-libertarian perspective as a whole? Or is there a way of protecting the latter against such doubts by pointing to a crucial disanalogy that would block the suggested extension?" 366 Aber er sieht keinen Weg, ihr zu entgehen. Die Unterschiede zwischen dem gleichen Recht auf Arbeit und dem gleichen Recht auf Heirat seien „only of a pragmatic nature". Die entscheidende Rechtfertigung für eine Besteuerung bestehe in beiden Fällen, denn: „Whenever 363 Ähnliche Einwände erhebt Nozick, Anarchy, a.a.O., 263 und 237 gegen Rawls' Differenzprinzip, van Parijs nennt Erik Schokkaert als Urheber des zitierten Einwands in: Real Freedom, a.a.O., 266. 364 Vgl. oben im Abschnitt über Nozick. 365 van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 127. 366 Ebd.

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there is rationing, a gift is objectively being made to those who get hold of the scarce asset. The value of what is thus being given has to be redistributed in leximin fashion", das heißt nach dem Differenzprinzip. 367 Das ist ein Rawlssches Argument. Nach seiner Logik muß jemand für seinen Verbrauch von knappem Brot alle kompensieren, die nichts von diesem Brot erhalten, auch wenn das Brot nur deshalb knapp ist, weil sein Verbraucher der einzige ist, der Brot gebacken hat. Er darf sich allerdings mehr aneignen, um zu weiterer Arbeit stimuliert zu bleiben, van Parijs will die Norm rechtfertigen, knappe Güter ohne Rücksicht darauf zu verteilen, wer zu ihrer Existenz beigetragen hat. Die normative Prämisse, die er voraussetzen muß, ist: PI : Jeder hat ein (durch das Differenzprinzip modifiziertes) gleiches Recht auf knappe Güter, ohne Rücksicht darauf, ob oder wieweit er zu ihrer Existenz beiträgt. Man braucht diese Prämisse nur zu formulieren, um sie verwerfen zu können. Für seinen Übergang von der Behauptung eines Rechts auf Arbeit und der ihm entsprechenden Legitimität verkäuflicher Arbeitsplatztitel zur Behauptung eines Rechts auf Heirat und der ihm entsprechenden Legitimität verkäuflicher Eheplatztitel braucht van Parijs aber keine so unplausible Prämisse. Denn was die Lage des unfreiwilligen Arbeitslosen mit der des unfreiwilligen Ehelosen auch in van Parijs' Augen verbindet und ihn zu seinem Vergleich motiviert, ist nicht einfach, daß unfreiwillige Arbeits- und Ehelose nach einem knappen Arbeits- oder Eheplatz nachfragen, sondern erstens, daß sie vom Gegenstand ihrer Nachfrage ohne ihre Schuld ausgeschlossen sind, und zweitens, daß sie außerstande sind, den Gegenstand ihrer Nachfrage selbst zu schaffen. Die Prämisse, die van Parijs hier voraussetzt, ist daher: P2: Jeder hat ein (dijferenzprinzipmodifiziertes) gleiches Recht auf knappe Güter, wenn er von ihnen ohne eigene Schuld ausgeschlossen und außerstande ist, sie selbst zu schaffen. P2 ist überzeugender als PI. Dennoch sprechen viele Gerechtigkeitsintuitonen auch gegen sie. Sie würde erzwingbare Organverpflanzungen und Kompensationen für eingebildete Mängel jeglicher Art rechtfertigen. Tatsächlich übersieht van Parijs den entscheidenden rechtlichen Unterschied zwischen dem unfreiwilligen Arbeitslosen und dem unfreiwilligen Ehelosen. Was den Arbeitsplatz vom Eheplatz unter dem Aspekt der Gerechtigkeit radikal unterscheidet, ist die wesentliche Abhängigkeit des ersten vom Naturgüterverbrauch. Die Menschen könnten kein verzweigtes System der Arbeitsteilung entwickeln, in dem Arbeitsplätze mehr oder weniger knapp sind, wenn sie nicht natürliche Ressourcen vorfänden, die sie be- und verarbeiten können. Mit einem Arbeitsplatz, und nur mit ihm, erhält man eine Stelle im System der Arbeit, das auf dem Gebrauch natürlicher Ressourcen fußt, und daher Zugang zum produktiven Gebrauch natürlicher Ressourcen. Äußere Naturgüter sind aber Gemeineigentum aller, auf das jeder ein gleiches Recht hat. Arbeitslosigkeit ist daher der Ausschluß von Gemeineigentum, auf dessen produktiven Gebrauch der Arbeitslose ein Recht hat. Der Besitz eines knappen Arbeitsplatzes ist das Privileg, über die natürlichen Ressourcen produktiv mitverfügen zu können. Es ist illegitim, weil es im Zugang zu ihnen kein Privileg geben darf. Arbeit darf nicht knapp sein. Mit einem knappen Arbeitsplatz erhält der Arbeitende in der Tat etwas geschenkt, nämlich den Zugang zum produktiven Gebrauch der natürlichen Ressourcen. Von einem solchen Geschenk kann bei Eheplätzen, seien sie noch so knapp, nicht die Rede sein. Sie ermöglichen zwar auch einen produktiven Gebrauch natürlicher Ressourcen, aber nicht solcher, die Gemeineigentum sind, sondern solcher, mit denen man geboren wird. 367 Ebd., 130.

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Weil das Recht auf Arbeit das Recht ist, über den produktiven Gebrauch von Naturgütern mitzuverfügen, kann es nicht durch eine Besteuerung der Arbeitsplatzinhaber zur Geltung gebracht werden, wie van Parijs annimmt. Durch eine solche Besteuerung erhält der Arbeitslose nur ein Anrecht auf den konsumtiven Gebrauch von Naturgütern. Sein gleiches Recht auf ihren produktiven Gebrauch bleibt weiter verletzt, van Parijs nennt (wie andere) das Arbeitslosengeld eine Bestechung des Arbeitslosen, die „aims at turning involuntary unemployment into voluntary unemployment". 3 6 8 Er scheint nicht zu merken, wie treffend diese Rede auch für das Grundeinkommen ist. Arbeitslosengeld wie Grundeinkommen sind Mittel, den Arbeitslosen an der Wahrnehmung seines Rechts auf nicht nur konsumtiven, sondern produktiven Gebrauch seines Anteils am Gemeineigentum natürlicher Ressourcen zu hindern. Das Recht auf Arbeit gründet daher weder auf PI noch P2, sondern auf der Prämisse: Alle Menschen haben ein gleiches Recht auf Mitwirkung am produktiven Gebrauch der natürlichen Ressourcen. Man kann allerdings fragen, ob dies Recht dadurch verwirklicht werden kann, daß man einen Arbeitsplatz hat. Wann läßt denn ein Arbeitsplatz den Arbeitenden am produktiven Gebrauch der natürlichen Ressourcen mitwirken? Ist der gewöhnliche Arbeitnehmer von Entscheidungen über den Gebrauch natürlicher Ressourcen in seinem Betrieb nicht völlig ausgeschlossen? Taugt die zur Durchsetzung von Lohnforderungen wirksame W a f f e des Streiks etwa zur Mitwirkung am produktiven Gebrauch natürlicher Ressourcen? Daran mitwirken kann man, so scheint auch van Parijs vernünftigerweise anzunehmen, nur auf politischem Weg, durch Wahl und Aktivität in politischen Parteien und Bürgerinitiativen. Schafft das Grundeinkommen nicht erst die Bedingungen für politische Aktivität unter den sonst passiven Normalbürgern? Richtig ist, daß das gleiche Recht auf Mitwirkung am produktiven Gebrauch der natürlichen Ressourcen auch eine politische Mitbestimmung über den Gebrauch der natürlichen Ressourcen verlangt. Aber deswegen geht es nicht in der politischen Mitbestimmung auf. Zu ihm gehört auch das Recht, gemäß seinen Talenten und Interessen im System der gesellschaftlichen Arbeit durch Einsatz an bestimmten Arbeitsplätzen mitzuwirken. Daß solche konkrete Mitwirkung mehr ist als die politische Mitbestimmung, wird an der Macht erkennbar, die nur sie dem Streikenden gibt. Wer die politische Mitbestimmung boykottiert, bewirkt nichts; der Streik gibt Macht, die weit über die Rolle der bestreikten Arbeit hinausgeht. Das Grundeinkommen kann daher nur ein schwacher Ersatz für das volle Recht auf Arbeit sein. Statt wie erhofft die politische Aktivität der Normalbürger zu ermöglichen, muß man von ihm die Förderung eines konsumorientierten, privatistischen und politisch passiven Leben befürchten. Das politische Interesse könnte auf das Ziel der Erhöhung des Grundeinkommens beschränkt bleiben. Die Kontrolle der natürlichen Ressourcen und mit ihr der Produktion überhaupt würde noch wenigeren überlassen bleiben. Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück. Was gehört dem Nichtarbeitenden? Von den drei Posten, die van Parijs anführt, bleibt nur der erste: das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen. Diese Quelle rechtfertigt keine bedingungslose Auszahlung eines Grundeinkommens an jeden, sondern höchstens, jemandem den Wert seines Anteils an den natürlichen Ressourcen auszuzahlen, den er sich nicht angeeignet hat. Wer dagegen als Eigentümer oder Produzent schon seinen Anteil angeeignet hat, hat keinen Rechtsanspruch auf ein Grundeinkommen, und

368 Ebd., 110.

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wer mehr von ihnen angeeignet hat, als ihm als bloßem Miteigentümer zusteht, würde geben müssen statt nehmen zu können. Was ist Ausbeutung? Immerhin führt van Parijs pragmatische Gründe an, das Grundeinkommen einzuführen, gegen die es keinen prinzipiellen Einwand zu geben scheint. Es könnte unter bestimmten Bedingungen ein wirksames Mittel gegen eine ökonomische Depression und ein Mittel gegen die „Falle der Arbeitslosigkeit" sein. In diesen Anwendungen wäre es gerechtfertigt als ein Mittel zum Zweck, jedem sein Recht auf Arbeit zu sichern. Daß es jedem bedingungslos ausgezahlt würde, wäre bei progressiver Besteuerung nur ein Verwaltungsakt. Nicht berücksichtigt bleibt bei dieser Überlegung jedoch der Vorwurf, das Grundeinkommen begünstige die Nichtarbeitenden und sei daher eine Ausbeutung des Arbeitenden durch den Nichtarbeitenden. Der Vorwurf wird weder dadurch entkräftet, daß ein Arbeitsplatz in Zeiten der Arbeitslosigkeit ein Privileg ist, noch dadurch, daß in einer Gesellschaft mit Grundeinkommen, wie van Parijs hervorhebt, sich jeder gegen Ausbeutung durch den Verzicht auf die Arbeit und die Wahl des Grundeinkommens schützen kann.369 Denn unter dem Grundeinkommen können Menschen zusammenleben, von denen die einen mittels ihres Grundeinkommens vor Malibu surfen und die anderen bei der Arbeit schwitzen. Der Hinweis, daß sie auch surfen gehen könnten, wenn sie nur wollten, wird den nicht trösten, der lieber sehr viel mehr Geld verdienen als surfen möchte und daran durch Abgaben gehindert wird, die er nach Malibu fließen sieht. Da van Parijs jedem die gleiche Freiheit garantieren will, impliziert die Frage, ob die Nichtarbeitenden die Arbeitenden ausbeuten, auch die Frage, ob sie nicht mehr Freiheit haben. Zwar hängt die Höhe des Grundeinkommens direkt von der Nachfrage nach Arbeitsplätzen ab: der Erlös aus den Arbeitsplatzanrechten und die Beschäftigungsrenten, die an die Nichtarbeitenden gehen, sind um so höher, je nachgefragter Arbeitsplätze sind. Je nachgefragter umgekehrt die Stellenlosigkeit, je mehr also nicht arbeiten wollen, desto geringer das Grundeinkommen. „If all unemployment is voluntary, no additional basic income" - das über einen Sockelbetrag hinausgeht - „is justified". 370 Das Grundeinkommen reicht dann nicht einmal unbedingt zur Deckung der Grundbedürfnisse. 371 Kann es dann Ausbeutung sein? Für den, der lieber viel Geld verdienen möchte, als vor Malibu zu surfen, sind die Abgaben daher nur dann belastend, wenn die Nachfrage nach Arbeitsplätzen groß ist, wenn also viele unfreiwillig arbeitslos sind. Darf er sich auch dann noch ausgebeutet fühlen? Ausgeschlossen ist es nicht. Er könnte argumentieren, die Arbeitslosigkeit sei nicht seine Schuld; es sei zwar wohltätig, den Arbeitslosen zu helfen, aber niemand dürfe zu Wohltätigkeit gezwungen werden, und die Ausnutzung der Erfolgreichen und der Arbeitsfanatiker zur wohltätigen Unterstützung Bedürftiger sei illegitimer Zwang und Ausbeutung, van Parijs versucht dagegen, das Grundeinkommen als bestes Mittel gegen Ausbeutung zu erweisen. Er macht sich dazu an eine Analyse des Ausbeutungsbegriffs und beginnt mit einer Nominaldefinition, nach der Ausbeutung die „unfaire Vorteilsnahme aus der Arbeit eines

369 Ebd., 121 : allen stehe es frei „to divest themselves of these jobs once the price of keeping them is such that they envy the jobless". 370 Ebd., 108. 371 Vgl. ebd., 35.

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anderen" ist.372 Arbeit definiert er als „Hervorbringung eines Nutzens, welcher der Hervorbringung äußerlich und auch anderen nützlich ist". 373 Diese Definition der Arbeit ist dem Umstand angemessen, daß wir unter ausbeutbarer Arbeit nicht jede beliebige Arbeit verstehen, sondern nur Erwerbs- und solche Arbeit, deren Ergebnis auch für andere als den Arbeitenden selbst interessant ist. 374 Die Bestimmung der Ausbeutung als unfairer Vorteilsnahme aus der Arbeit eines anderen verlangt eine Angabe dazu, wann eine Vorteilsnahme aus der Arbeit eines anderen unfair (oder ungerecht) ist. Die bloße Tatsache einer Vorteilsnahme aus der Arbeit eines anderen ist nicht immer Ausbeutung; wenn der Arbeitende etwa sein Produkt verschenkt, ist der Beschenkte kein Ausbeuter. Aber auch die Zustimmung des Arbeitenden ist weder notwendig noch ausreichend dafür, die Vorteilsnahme fair zu machen. Einerseits kann sie auch bei gegebener Zustimmung unfair sein, etwa bei emotionaler Abhängigkeit des Arbeitenden vom Nichtarbeitenden in Freundschafts- oder Liebesbeziehungen. Anderseits kann sie auch ohne Zustimmung fair sein, wenn ich mich etwa am Anblick der Tulpen in Nachbars Garten erfreue. 375 Besonders schwierig wird die Bestimmung der Unfairneß gerade dort, wo sie für die Klärung ökonomischer Ausbeutung wichtig ist, bei den Tauschbeziehungen. 376 Hier kann der Vorteil auf beiden Seiten liegen, die beide zustimmen können, und doch kann der Vorteil der einen Seite so viel größer sein, daß man ihn Ausbeutung nennt. Der klassische Fall der Ausbeutung der Arbeiter durch den Kapitalisten ist gerade von dieser Art. Bei diesem Fall liegt es nahe, die Unfairneß darin zu sehen, daß die Vorteilsnahme die Produzenten eines Teils ihres Produkts beraubt. 377 Aber diese Bestimmung, die van Parijs Lockesche Ausbeutung nennt, übersehe erstens, daß ein Teil des Werts des Produkts dem Gemeineigentum der natürlichen Ressourcen entspringt und die Arbeiter daher kein Recht auf das ganze Produkt ihrer Arbeit haben; zweitens sei sie ungeeignet, die Arbeitsverhältnisse moderner Gesellschaften zu klären. Denn hier seien wegen der globalen Verflechtung der Wirtschaftsbeziehungen Personen an der Entscheidung über die Verfügung des Mehrprodukts einer Zusammenarbeit beteiligt, die nicht selbst an der Produktion teilgenommen haben. Nach dem Lockeschen Ausbeutungsbegriff könne daher „ausbeutungsfrei" nur eine „Form eines autarken Sozialismus" sein," in dem das gesamte Mehrprodukt von allen und nur von den zu ihm beitragenden Arbeitern gemeinsam kontrolliert wird". 378 Diese Kritik am Lockeschen Ausbeutungsbegriff ist verfehlt, da man mit ihm sehr wohl den Vorwurf begründen kann, das Grundeinkommen beute die Arbeitenden aus. Denn dies soll den Nichtarbeitenden nicht nur denjenigen Wert der natürlichen Ressourcen zuweisen, zu dem sie als Miteigentümer berechtigt sind, sondern auch den Wert dessen, was van Parijs die äußere und innere Ausstattung nennt und ebenfalls als Gemeineigentum betrachtet. Die Zuweisung seines Wertanteils der äußeren Naturgüter an den Nichtarbeitenden ist natürlich

372 Ebd., 137 („taking unfair advantage of someone else's work"). 373 Ebd., 137f („the production (whether pleasurable or not) of a benefit that is external to the performance of the acitivity itself - and is, therefore, also capable of being enjoyed by others"). 374 Vgl. dazu die Diskussionen, die André Gorz ausgelöst hat. Vgl. A. Gorz, Métamorphoses du travail. Quête du sens. Critique de la raison économique, Paris 1991. 375 Van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 142f. 376 Ebd., 145. 377 Ebd., 146ff. 378 Ebd., 148f.

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van Parijs' Grundeinkommen

auch nach Lockes Ausbeutungsbegriff keine Ausbeutung des Arbeitenden durch den Nichtarbeitenden, wohl aber die Zuweisung des Werts der inneren und äußeren Ausstattung, die van Parijs ebenfalls als Gemeineigentum betrachtet. Denn die innere Ausstattung ist nach Locke das ursprüngliche Eigentum der Arbeitenden, die äußere ihr erworbenes Eigentum. Wenn von diesen Werten etwas ohne Zustimmung des Arbeitenden an einen Nichtarbeitenden geht, ist das nach Lockes Ausbeutungsbegriff Ausbeutung. Dies Ergebnis entspricht dem gewöhnlichen Empfinden, das Locke daher zu Recht behaupten kann, mit seinem Begriff zu explizieren. Daß Locke darüber hinaus den Arbeitenden für berechtigt hielt, nicht nur den Wert anzueignen, den seine Arbeit einem Naturgut hinzufügt, sondern auch den Wert des Naturguts, disqualifiziert nicht seinen Ausbeutungsbegriff, sondern seine Annahme, der Wert des Naturguts sei vernachlässigbar gering. Die globale ökonomische Verflechtung schließlich, auf die van Parijs verweist, ist für die Frage der Anwendbarkeit des Lockeschen Ausbeutungsbegriffs auf das Grundeinkommen völlig irrelevant. In dieser Frage geht es allein darum, ob überhaupt ein Teil des Werts, den die Arbeitenden schaffen, rechtmäßig auch gegen ihren Willen an Nichtarbeitende übertragen werden darf. Ob der Übertrag in globalem oder lokalem Rahmen stattfindet, spielt keine Rolle. Mit van Parijs' Kritik der folgenden Begriffe sieht es nicht besser aus. Nach der „Lutherischen" Ausbeutung wird jemand ausgebeutet, wenn er mehr Arbeitswert oder gesellschaftlich notwendige Arbeit zur Produktion beiträgt, als er aus ihr in Form seines Einkommens zurückerhält 179 ; nach dem vagen und keine Definition erlaubenden Anstrengungsbegriff wird jemand ausgebeutet, wenn ihm nicht nach seiner Arbeitsmühe vergolten wird. 380 Diese Begriffe führen in der Tat in Schwierigkeiten. Aber diese haben nichts mit dem Vorwurf zu tun, von dem van Parijs seine Theorie freisprechen will. Wenn jemand überhaupt nicht arbeitet und doch von den Früchten der Arbeitenden lebt, dann ist es für die Frage, ob er andere ausbeutet, unwichtig, wie oder ob man die gesellschaftlich notwendige Arbeit oder die Arbeitsmühe widerspruchsfrei und den ökonomischen Phänomenen angemessen definieren kann: er liefert in jedem Fall keine gesellschaftlich notwendige Arbeit, vergießt keinen Schweiß und verbraucht keine Nerven. van Parijs' Haltung zur Freiheit, nicht zu arbeiten, ist nicht frei von Ambivalenz. Auf der einen Seite nutzt er, wie schon bemerkt, den Propagandaeffekt einer Institution aus, die Befreiung vom Arbeitszwang verspricht. Auf der andern Seite nützt das Grundeinkommen, wie auch bemerkt, nur den Arbeitslosen und Einkommensschwachen, weil er dem Rest weggesteuert wird. Darüber hinaus aber wirbt van Parijs, wie wir ebenfalls sahen, für das Grundeinkommen mit dem Argument, es führe die Arbeitslosen aus der Falle der Arbeitslosigkeit, sei anti-rezessiv und fördere die Beschäftigung. Dies Argument spielt in seiner Verteidigung des Kapitalismus, wie wir sehen werden, eine große Rolle. Persönlich ist van Parijs ein entschiedener Befürworter der Arbeit. Trotzdem legt ihn sein Programm der bedingungslosen Auszahlung des Grundeinkommens auf die These fest, es sei keine Ausbeutung oder Schmarotzertum, wenn Arbeitsfähige von der Arbeit anderer leben. van Parijs' Analyse des Ausbeutungsbegriffs in seinen möglichen Varianten steht im Mißverhältnis zu seinem Ziel, das Grundeinkommen vom Vorwurf der Ausbeutung der Arbeitenden freizusprechen. Der Vorwurf stützt sich auf die schlichte Tatsache, daß 379 Ebd., 153. 380 Ebd., 160f.

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M e n s c h e n , die arbeiten könnten, von d e m leben, was andere produzieren. W e r von dem lebt, was andere erarbeiten, obgleich er selbst arbeiten könnte, gilt zu Recht als Schmarotzer. U m an sein Ziel zu k o m m e n , ist die Analyse des Ausbeutungsbegriffs der falsche W e g ; denn statt dem Grundeinkommen Ausbeutung vorzuwerfen, kann man ihm auch Förderung des Schmarotzertums vorhalten, van Parijs m ü ß t e vielmehr zeigen, daß der Arbeitsfähige, der von der Arbeit anderer lebt, kein Schmarotzer ist. Ein, wenn nicht der einzige W e g dazu wäre das A r g u m e n t , daß die Arbeit heute ein solches Privileg ist, d a ß man den Nichtarbeitenden sowenig als S c h m a r o t z e r der A r b e i t e n d e n betrachten kann w i e den Sklaven als S c h m a r o t z e r des Freien. In der Tat deutet van Parijs gelegentlich an, daß er dieser M e i n u n g ist, und in der Tat g l a u b e a u c h ich, d a ß die A r b e i t z w a r n o c h nicht diese P r i v i l e g i e r u n g ist, a b e r z u n e h m e n d wird. Die Konsequenz aus dieser A n n a h m e aber kann f ü r einen politischen Philosophen, d e m es u m die gleiche Freiheit geht, nicht sein, ein bedingungslos ausgezahltes G r u n d e i n k o m m e n zu fordern, sondern die Gleichheit des Rechts. W e n n Arbeit eine Privilegierung ist, muß man sie j e d e m geben. Ein G r u n d e i n k o m m e n fördert d a g e g e n gleich zwei Übel: S c h m a r o t z e r t u m und Rechtsungleichheit. W a r u m k o m m t n i c h t a u c h v a n P a r i j s zu d i e s e m S c h l u ß ? W e i l er sein V e r s t ä n d n i s der G e s e l l s c h a f t a m Tausch orientiert. In i h m sieht er das, w a s m o d e r n e G e s e l l s c h a f t e n zusamm e n h ä l t u n d ihre K l a s s e n b e s t i m m t , w a s in V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t die L o h n a b h ä n g i g e n s y s t e m a t i s c h b e n a c h t e i l i g t e u n d d e s s e n U n f a i r n e ß h e u t e nur d u r c h e i n G r u n d e i n k o m m e n überwunden werden kann. S o führen ihn die Analysen des Ausbeutungsbegriffs, so i r r e l e v a n t sie a u c h f ü r den A u s b e u t u n g s v o r w u r f sind, z u m E r g e b n i s , d a ß m a n einen A u s t a u s c h von W a r e n und von Arbeit f ü r fair halten m u ß , w e n n er in e i n e m fairen Tauschverhältnis stattfindet. W a n n a b e r ist ein T a u s c h f a i r ? D a n n , so van Parijs, w e n n k e i n e r der T a u s c h e n d e n z u m T a u s c h bei Strafe des V e r h u n g e r n s o d e r ähnlich u n z u m u t b a r e r F o l g e n g e z w u n g e n ist. D i e bekannteste F o r m einer solchen Angewiesenheit auf den T a u s c h ist der Verkauf der eigenen A r b e i t s k r a f t durch d e n Proletarier, der nichts hat als seine A r b e i t s k r a f t (und seine Kinder). Das G r u n d e i n k o m m e n verhindert einen solchen Tauschzwang. Also, schließt van Parijs, fördert es die Freiheit von A u s b e u t u n g und kann nicht selbst eine Form der A u s b e u t u n g sein. van P a r i j s stützt sich bei d i e s e r A r g u m e n t a t i o n auf Ü b e r l e g u n g e n v o n J o h n Roemer. 3 8 1 N a c h ihnen ist eine Verteilung unfair, w e n n sie zustande k o m m t durch ungleiche Verteilung von Produktionsmitteln. N a c h Art der Produktionsmittel unterscheidet R o e m e r F o r m e n der Ausbeutung, die van Parijs in folgender historischen Reihe anordnet. Ist die Selbstbestimmung oder die formale Freiheit ungleich verteilt, können also nur einige über sich selbst verfügen und wird der Rest zu deren Produktionsmittel, so haben wirfeudale Ausbeutung. Ist der Reichtum (oder die äußere A u s s t a t t u n g ) ungleich verteilt und wird er in seiner Ungleichheit z u m Produktionsmittel, so h a b e n wir kapitalistische A u s b e u t u n g . Sind die Fertigkeiten (oder die innere Ausstattung) ungleich verteilt und wird ihre Ungleichheit zu e i n e m Produktionsmittel, so haben wir sozialistische Ausbeutung. Ist außer den genannten Faktoren auch die Gesundheit gleich verteilt, so haben wir die ideale Gesellschaft. 3 8 2

381 John Roemer, A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge, Mass. 1982, und Roemer, Free to Lose, London 1988. 382 van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 175 und 285, Anm.109. Roemers Ausbeutungsarten sind die feudalistische, kapitalistische, sozialistische und die „needs"-Ausbeutung, die sich jeweils stützen auf Ungleichheit der formalen Freiheit, des Reichtums, der Fertigkeiten und (wie der Name sagt) der

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van Parijs' Grundeinkommen

van Parijs liefert uns damit eine schöne Skizze des Fortschritts der Gleichheit bis zur idealen Gesellschaft mit Grundeinkommen. Aber die Skizze ist zu schön, um wahr zu sein. Aus der Tatsache, daß das Grundeinkommen einige oder auch die meisten von dem besonderen Zwang befreien könnte, ihre Arbeitskraft zu jedem Preis zu verkaufen, folgt weder, daß es nicht andere ausbeutet, noch daß es sie nicht in anderen Formen des Unrechts beläßt. Das aber ergibt die Überlegung, daß seine bedingungslose Auszahlung die arbeitsfähigen Nichtarbeitenden zu Schmarotzern macht oder ihnen ihr Recht auf Arbeit vorenthält. Seine Orientierung am Tausch läßt van Parijs übersehen, daß die Gesellschaft zuerst von der Produktion bestimmt wird und Ausbeutung, Benachteiligung und Unfairneß in ihr beginnen. Es ist gewiß notwendig, die Ungleichheit im Tauschverhältnis zu beseitigen. Aber wenn das Grundeinkommen nur ein Unrecht durch ein anderes ersetzt und darüber hinaus eine Rechtsungleichheit verewigt, kann es nicht das richtige Mittel sein. Ihrer Idee nach beseitigen die Ungleichheit im Tausch auch die Institutionen der liberalen Gleichheit: das Erziehungswesen, Versicherungssystem und (wie noch zu zeigen ist) relativ marktunabhängige Arbeitsplatze. 383 Ist der Kapitalismus ungerecht? van Parijs hält im Köcher seiner Argumente noch einen weiteren Pfeil gegen die Kritik am Grundeinkommen bereit. Es ist das Argument, ein Grundeinkommen sei unentbehrlich für den Kapitalismus, der Kapitalismus aber sei gerecht, wenn er durch das Grundeinkommen ergänzt wird. Man kann, so impliziert dies Argument, das Grundeinkommen nicht als Ausbeutung der Arbeitenden kritisieren, weil es ein ökonomisches System stützt, den Kapitalismus, das besser als das konkurrierende System des Sozialismus die Arbeitenden vor der Ausbeutung durch die Nichtarbeitenden schützt. Das ist ein Argument, das Beachtung verdient, erstens weil es noch immer einigen Mut verlangt, in der Philosophie den Kapitalismus zu verteidigen; zweitens weil van Parijs sich als radikalen Reformer versteht und seine Verteidigung mit dem Anspruch verbunden ist, den Kapitalismus als potentiellen Träger radikaler Reformen nachzuweisen. Dieser Nachweis stützt sich auf die Annahme, der Kapitalismus schütze die Arbeitenden besser als der Sozialismus vor der Ausbeutung durch die Nichtarbeitenden; ohne diese Annahme stände sein letztes Argument für das Grundeinkommen auf tönernen Füßen. Nun hat die Erfahrung zwar gezeigt, daß in den sozialistischen Staaten in der Tat die Arbeitenden ungeschützt dem Schmarotzertum sowohl einer überflüssigen Bürokratie und Nomenklatura als auch der faktisch die Arbeit Verweigernden ausgesetzt waren. Aber daraus folgt nicht, daß die Arbeitenden im Kapitalismus besser vor der Ausbeutung durch Nichtarbeitende geschützt sind. Der Kapitalismus ist, wie effektiv immer er sein mag, ein System, das überhaupt nur dadurch funktioniert, daß der Kapitalist einen Gewinn macht, der nicht auf seiner Arbeit beruht. Der Kapitalist gewinnt, wie Adam Smith mit Sorgfalt hervorhebt, seinen Profit nicht durch seine Arbeit, sondern dadurch, daß er auf die Auslage seines Kapitals eine Profitrate erheben kann. 384 Der Kapitalismus ist daher seinem Wesen nach ein System, das von einem Bedürfnisse, van Parijs ersetzt Roemers Bedürfnisse durch die Gesundheit. Nach: Real Freedom, a.a.O., 174f. 383 Vgl. dazu unten im dritten Teil das Kapitel über die liberale Gleichheit. 384 Vgl. Smith, The Wealth of Nations, a.a.O., 151ff (bk. 1, ch. 6).

Ist der Kapitalismus ungerecht?

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Gewinn lebt, der nicht der Arbeit, sondern dem Kapitalbesitz entspringt. Dieser spezifische Motor hört nur dann auf, Ausbeutung von Arbeit zu sein, wenn jeder in diesem System über gleich viel Kapital verfügt und gleich viel arbeitet. Das wirksamste Mittel gegen Ausbeutung in den gegebenen Gesellschaften ist daher eine Angleichung des Kapitalbesitzes. Wer den Kapitalismus verteidigen und ihn zugleich vom Ausbeutungsvorwurf freisprechen will, müßte daher für eine solche Angleichung statt für ein Grundeinkommen eintreten. Wie inkonsistent auch immer, van Parijs sieht im Grundeinkommen den entscheidenden Hebel zur „Realfreiheit", in der Nozicks Libertarismus und Rawls' Differenzprinzip zugleich verwirklicht sind. Es ist ihm daher der erste Maßstab zur Bewertung konkurrierender ökonomischer Systeme, auch des Kapitalismus und des Sozialismus. Er definiert den Kapitalismus „unoriginell" als ein System, in dem die Masse der Produktionsmittel in privatem Eigentum ist und nicht, wie im Sozialismus, im öffentlichen. 385 Diese Definition ist für die politische Philosophie zu formal. Nicht ob die Produktionsmittel in privater oder öffentlicher Hand sind, ist hier entscheidend, sondern wofür sie gebraucht werden: ob zur Steigerung des Gewinns in einem Unternehmen oder zu anderen Zwecken. Nur im ersten Fall werden die Produktionsmittel ebenso wie die eingesetzte Arbeitskraft als Kapital gebraucht, das heißt als Werte, die man vermehren will. Nur in diesem Fall ist ein ökonomisches System kapitalistisch. Seine formale Kapitalismusdefinition führt van Parijs, wie wir sehen werden, in der Einschätzung der Kapitalismusverträglichkeit des Grundeinkommens in die Irre. Das effektivere System, dasjenige, dessen „total amount sustainably available for transfers" für das Grundeinkommen größer ist, ist nach van Parijs das bessere. 386 Der Kapitalismus sei aber das effektivere System. Was dagegen spricht, Krisen, Arbeitslosigkeit, Monopolmacht, bestätige bei näherer Betrachtung seine Effizienz. Deshalb muß der Verfechter des Grundeinkommens für den Kapitalismus eintreten. Die Frage, die van Parijs beantworten muß, ist aber nicht nur, ob der Verfechter des Grundeinkommens den Kapitalismus will, die Frage ist auch, ob der Kapitalismus das Grundeinkommen will. Die ^ìnter Linken verbreitete Auffassung, daß der Kapitalismus schon darin seine Illegimität beweise, daß es in ihm Monopole, Polizei und Reklame gebe, kann van Parijs mit wenigen Argumenten zurückweisen: Auch die Marktgiganten müssen konkurrieren: mit andern Giganten; sie mögen schwerfällig sein, seien aber langfristig von größerer Innovationskraft als jede andere ökonomische Institution; Polizei sei auch notwendig, um öffentliches Eigentum zu schützen; Reklame unentbehrlich, um neue Produkte bekannt zu machen. 387 Schwieriger ist die Stellungnahme zu Krisenanfälligkeit und Arbeitslosigkeit, da auch van Parijs sie nicht für akzeptabel hält und anerkennt, daß eine sozialistische Ökonomie ihre Ursachen ausschalten kann. 388 Sie lassen sich aber durch eine korporatistische Politik der Zusammenarbeit von Unternehmern und Arbeitern bekämpfen: die Arbeiter drücken („squeeze") nicht zu sehr den Profit; die Unternehmer kommen den Lohn- und Beschäftigungsinteressen der Arbeiter entgegen. Dies sei eine „democratically accepted incomes policy, with the wage and price controls this involves, in order to prevent a damaging profit squeeze", die zudem ökonomisch effektiv sei: „There is, after all, some empirical evidence to the effect that in countries in which centralized unions and social-democratic rule make such an agreement possible, eco385 386 387 388

Ebd., 3. Ebd., 198. Ebd., 199-203. Ebd., 207.

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van Parijs' Grundeinkommen

nomic performance, as measured in terms of investment or employment, is better than elsewhere." 389 Kapitalismuskritiker wie Habermas halten es zwar für ausgeschlossen (und nicht für wünschenswert), daß die Arbeiter Lohneinschränkungen zustimmen könnten, um den Fall der Profitrate und den Rückgang von Investitionen zu vermeiden. Dagegen hält van Parijs: „Why could some form of capitalism not be viewed as a fair socio-economic regime, irrespective of the great inequalities it countenances, if its powerful dynamics is used to feed a basic income at a level that exceeds anything achievable under socialism?" 390 Ob die „powerful dynamics" des Kapitalismus in Kraft bleibt, wenn ein Grundeinkommen von mehr als sozialistischem Niveau sie melkt, fragt van Parijs an dieser Stelle nicht. Probleme sieht er nur in „the culture or deeply ingrained organization of the working-class", die korporatistische Lösungen ausschließe. Für diesen Fall schlägt er Arbeiterkooperativen und andere Formen kapitalistischer Unternehmen in Arbeitereigentum vor. „In this capitalism in which workers hire their bosses, collective bargaining has no place. The workers' incomes are directly determined by the anonymous constraints they face on their product and factor markets ... Though some may want to label it 'market socialism', this cooperative economy ... is still within the boundaries of capitalism. But by turning workers into residual earners, it is meant to make workers more 'responsible', to make them less prone to demand pay levels that squeeze profits and thereby seriously disturb the smooth functioning of a market economy." 391 Auch bei korporatistischer oder arbeiterkapitalistischer Politik bleibt nach van Parijs die Gefahr der Arbeitslosigkeit und damit die Unterlegenheit der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen ist größer als die nach Arbeitskräften. Hier spielt van Parijs seinen Trumpf aus: „What a substantial unconditional income would do is precisely to turn the labour market into a market similar (in this respect) to any other, by systematically making an alternative option available to the sellers." 392 Von der Stärkung der Verhandlungsposition der Arbeiter durch das Grundeinkommen erwartet van Parijs allerdings keine höheren Löhne, sondern mehr Arbeitsplätze bei niederen Löhnen. Diese werden in der sozialen Wirklichkeit nur verhindert durch monopolistische Praktiken auf dem Arbeitsmarkt, „with trade unions insisting on wages permanently above the market-clearing and efficiency levels, in their members' interests but at other workers' expense. This risk, which is just a more diffuse version of the problem raised by profit-squeeze-induced recessions, pertains to any society, whether capitalist or socialist, that allows free collective bargaining." 393 Um der Gefahr des rezessionsauslösenden Profitfalls durch Gewerkschaftsmacht zu begegnen, seien auch Einschränkungen des Streikrechts erlaubt. Das Streikrecht gehöre nicht zu den Menschen- und Bürgerrechten. „Unlike the right to form an association, in particular an independent trade union, the right to strike, that is, to have one's job frozen while staying away from it, is no part of formal freedom. Hence, whether under capitalism or socialism, real-libertarianism allows it to be restricted or even scrapped if this were to improve the oppor389 Ebd., 207f. 3 9 0 Ebd., 2 0 8 . van Parijs bezieht sich auf Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, 132f, 148f. 391 van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 210. 3 9 2 Ebd., 211. 3 9 3 Ebd., 213.

Ist der Kapitalismus ungerecht?

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tunity dimensions of real freedom by increasing the economy's efficiency and hence the highest feasible level of basic income ... Suggesting that such a step be taken in the name of realfreedom-for-all assumes great confidence in the power of universal suffrage, which itself was only conquered, in many places, through the pressure exercised by a succession of general strikes ... But... Unlike the right to quit, or the right to an income if one quits, the right to strike is never an entailment of real-freedom-for-all. And recent labour history is replete with examples of particularistic strikes waged to defend or increase the privileges of powerful categories of well-paid workers. Long past are the days when the interests of organized labour could practically be identified with the imperatives of social justice." 394 Ich habe schon gezweifelt, ob das Grundeinkommen mehr als die Freiheit zu konsumieren fördern kann, van Parijs' Ausführungen bestätigen den Zweifel. Wenn man das Streikrecht der Steigerung der ökonomischen Effizienz opfern darf, überbietet man die Effizienzorientierung des heutigen Kapitalismus. Worin können dann die ominösen „opportunity dimensions of real freedom" bestehen? Im übrigen ist das Recht auf Gründung einer Gewerkschaft, das van Parijs anerkennt, kein Recht auf Gründung einer Gewerkschaft, wenn es nicht mit dem Recht auf Streik verbunden ist. Gewerkschaften ohne Streikrecht sind keine Gewerkschaften. van Parijs kann die überlegene Effizienz des Kapitalismus nur unter der Bedingung eines Korporatismus nachweisen, der zwar Arbeitsplätze schafft, aber die Löhne senkt. Das Grundeinkommen war aber gerade als ein Mittel gedacht, jedem eine Alternative zu schlechtbezahlten Stellen zu schaffen. Das größere Arbeitsplatzangebot, erreicht durch Brechung der Gewerkschaftsmacht und Lohnsenkungen, führt zudem zum Rückgang der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit und damit zu einem Wertverfall der Arbeitsplatztitel und der Beschäftigungsrenten, aus denen der Großteil des Grundeinkommens finanziert werden soll. Die Effizienz des Kapitalismus geht also auf Kosten des Grundeinkommens. Soweit hat van Parijs dafür argumentiert, daß das Grundeinkommen den Kapitalismus braucht. Will aber auch der Kapitalismus das Grundeinkommen? Darauf hat van Parijs schon eine Teilantwort gegeben: er braucht es, um seine Krisen zu überwinden. Aber die Effizienz des Kapitalismus geht auf Kosten des Grundeinkommens, und er wird es nur in möglichst geringer Höhe akzeptieren. Hinzu kommt, daß der einzelne Unternehmer die Einführung eines Grundeinkommens selbst in niedriger Höhe als Belastung seiner Gewinnmöglichkeiten ansehen muß. Er wird mit seinem Kapital außer Landes gehen wollen, wenn das Grundeinkommen nicht mit einem Schlag weltweit eingeführt wird, van Parijs erkennt die Kapitalflucht als Problem an, sieht es aber auch bei jeder sozialistischen Veränderung in nur einem oder wenigen Ländern auftreten. 395 Das ist richtig, aber zeigt nicht, daß der Kapitalismus das Grundeinkommen will. Positiv nennt er zwei Auswege aus dem Problem, die man trotz ihrer Gegenläufigkeit zugleich gehen müsse: die demokratische Grenzerweiterung („democratic scale-lifting") und den solidarischen Patriotismus. Der solidarische Patriotismus sei in einem Land, das mehr oder weniger allein auf der Welt das Grundeinkommen einführt, besonders bei seinen gutgestellten Bürgern notwendig: „Pride in the collective project in which they are thereby involved would prevent them from being on

394 Ebd. 395 Ebd., 225.

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van Parijs' Grundeinkommen

the look-out for more lucrative prospects abroad or simply for the many loopholes that would enable them to avoid taxaton on a significant fraction of their actual income." 396 Solcher Patriotismus verlange allerdings eine emotionale Grundlage, und um sie zu schaffen, brauche man mehr, nämlich „various institutions which systematically provide recurrent opportunities for more-than-superficial personal contacts between people from all categories of the same society. Perhaps social life should be so organized, for example, that people of all social groups would have no option but to grow up (if not at home) in the same crèches and the same schools or to be born and die (if not at home) in the same hospitals. Perhaps one should even introduce a compulsory public service whose explicit purpose may be, say, to look after the environment (and thereby to develop a lifelong environmental awareness) but whose most important function would be to erode the barriers that tend to form between social categories and to maintain a sufficient level of social cohesion." 397 Diese Wende von der Realfreiheit für alle, die die Freiheit eines jeden maximieren soll, zu einer Gesellschaft, deren Bürger von der Wiege bis zum Grab und sogar von einem Zwangsarbeitsdienst zusammengehalten werden, ist ebenso erstaunlich wie die Wende Hillel Steiners vom überzeugten Libertaristen zum Verfechter einer hundertprozentigen Erbschafts- und einer Gensteuer. Nicht weniger erstaunlich ist, daß sie beide in ihrer Wende nicht das Ende der Theorien sehen, mit denen sie angetreten sind. Auch van Parijs gibt sein solidarischer Patriotismus zu denken. Aber nicht, weil dieser aus der Realfreiheit eine „reale" Realfreiheit macht (wie es einen realen Sozialismus gab), sondern weil er mit dem Internationalismus, der Solidarität mit den Schlechtgestellten auf der ganzen Welt schwer vereinbar ist: „When speaking of real-freedom-for-all we must mean it: for all. In other words, we must pursue the objective of introducing substantial redistributive mechanisms on a world scale, indeed ultimately an individual basic income at the highest sustainable level for each human being ... this ideal is, of course, still far off the political agenda. But it should not be dismissed too lightly as a wild utopia." 398 Schon heute erreichbar seien „transnational institutions on a regional scale" und „larger democratic political communities such as the European Union". Internationalismus und Patriotismus lassen sich verbinden auf dieser mittleren Ebene oder durch das, was van Parijs „democratic scale-lifting", demokratische Grenzerweiterung, nennt: 399 „Democratic scale-Iifting and solidaristic patriotism are essential to protect us against the ... unravelling of the welfare state into increasingly stingy and targeted transfers. They are, therefore, two key tenets of the resolutely left-wing variant of Rawlsianism, the radical yet realistic brand of solidaristic liberalism which I would like to advocate. The third key tenet is, of course,... basic income as the centrepiece of a just socio-economic regime." 400 Wenn es schon den Sozialismus in einem Land nicht geben konnte, er aber auch nicht auf der ganzen Welt zugleich durchgesetzt werden konnte, dann sei es vernünftig, mit einer Reform wie dem Grundeinkommen auf einer mittleren Ebene zu beginnen. Konkreteres kann man hier sicher nicht erwarten. Dagegen müssen wir fragen, ob van Parijs sein erklärtes Ziel erreicht hat, die Kapitalismusverträglichkeit des Grundeinkommens nachzuweisen. Sind 396 397 398 399 400

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

230. 231. 228. 229. 232.

Was bleibt?

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Gesellschaften nach einer oder nach wiederholten demokratischen Grenzerweiterungen und unter einem solidarischen Patriotismus noch kapitalistisch? Auch wenn die Produktionsmittel weiter Privateigentum wären, würden sie nicht mehr im privaten Interesse gebraucht. Wenn die Unternehmer so solidarisch und internationalistisch handeln, wie van Parijs es zur Durchsetzung des Grundeinkommens für notwendig hält, verstehen sie sich als Treuhänder der Menschheitsinteressen und handeln nicht mehr, um den Gewinn ihrer Unternehmen zu steigern, sondern um Gerechtigkeit überall auf der Welt durchzusetzen. Sie würden nicht die Selbstverwertung des Kapitals verfolgen und keine Kapitalisten sein. Wenn die Einführung des Grundeinkommens der Wirtschaft zur Zurückstellung des Profitziels zwingt, wie es van Parijs behauptet, ist es mit dem Kapitalismus unverträglich. Dies Ergebnis erschüttert van Parijs' These der Gerechtigkeit des Kapitalismus. Diese stützt sich allein darauf, daß er als effizientestes ökonomisches System ein größeres Mehrprodukt für das Grundeinkommen abwirft als jedes andere ökonomische System, und schon das ist unglaubwürdig, weil nach van Parijs' eigenem Argument der Kapitalismus für ein Grundeinkommen nur durch Senkung der Durchschnittslöhne zu gewinnen ist. Wenn van Parijs aber noch zeigen will, daß sich der Kapitalismus trotz der einladenden Alternative der Kapitalflucht mit dem Grundeinkommen vertragen kann, verwandelt er die kapitalistische Gesellschaft in eine Volksgemeinschaft, die sich vor nationaler Enge durch internationalistische Ambitionen schützen möchte. Was bleibt? van Parijs' Versuch einer Konkretisierung der Rawlsschen politischen Philosophie am Projekt des Grundeinkommens hält der Kritik nicht stand. Entgegen seinen Thesen ist ein höheres Grundeinkommen nicht gerecht, da es die Produzenten um einen Teil des von ihnen produzierten Werts bringt oder schlicht ausbeutet; es eröffnet keine neue Dimensionen der Freiheit, sondern fördert den Rückzug ins Private und eine eindimensionale Politik seiner eigenen Steigerung; es verwirklicht nicht das Recht auf Arbeit und macht dessen wahre Grundlagen unerkennbar; es ist auch nicht kapitalismusverträglich. Wenn mit van Parijs die politische Philosophie seit Rawls auf dem Prüfstand steht, muß das Urteil über beide ungünstig ausfallen. In der Tat kann die Kritik an van Parijs das Urteil über Rawls nicht unbeeinflußt lassen. Denn van Parijs stützt sich durchgehend auf das Differenzprinzip, dessen Schwäche gerade in van Parijs' Prämissen für seine Annahmen über die Kompensationsberechtigung bei jeder Art unverschuldeter Nachteile, von schlechtem Aussehen 401 , Talentlosigkeit und Ehelosigkeit bis zur Arbeitslosigkeit, deutlich wird. Aber die politische Philosophie seit Rawls hat doch mehr an Überlegungen und Einsichten hervorgebracht, als sie van Parijs genutzt hat. Sie erlaubt, überzeugendere, unseren Gerechtigkeitsintuitionen angemessenere Argumente und Prinzipien dafür zu formulieren, was den Individuen tatsächlich als ihr Anteil am Gemeineigentum zusteht und was sie, allgemeiner, überhaupt von ihrer Gesellschaft (und das heißt letzten Endes: voneinander) als einen Äectoanspruch, mithin erzwingbar, fordern können. Solchen Argumenten und Prinzipien gehe ich im dritten Teil nach.

401 Vgl. dazu ebd., den amüsanten Abschnitt 3.2 („Working in the peep-show, flirting in the squares"), 64-68, der eine Parodie auf das Differenzprinzip sein könnte, aber nicht so gemeint ist.

Dritter Teil: Was dürfen Individuen vom Staat fordern?

1. Wie universal können Verteilungsprinzipien sein? Die Diskussion der fünf politischen Philosophen hat nicht zu einer überzeugenden Konkretisierung der gleichen Freiheit geführt. Wir wissen nun eher, wie man sie nicht bestimmen, als wie man sie bestimmen sollte. Aber auch dies negative Ergebnis trägt zur Konkretisierung der gleichen Freiheit bei. Wenn ich meiner Kritik trauen kann, sind weder Rawls' und seiner Nachfolger Argumente für die demokratische Gleichheit noch Nozicks Argumente für die natürliche Freiheit akzeptabel. Halten wir an Rawls' Unterscheidung von natürlicher Freiheit, liberaler Gleichheit und demokratischer Gleichheit als möglicher Deutungen der gleichen Freiheit fest, so liegt die Vermutung nahe, daß die Konkretisierung der gleichen Freiheit in der liberalen Gleichheit zu suchen ist. Dieser Vermutung will ich sogleich nachgehen. Ich folge dabei der Voraussetzung aller fünf erörterten Philosophen, daß die gleiche Freiheit und die ihr entsprechenden Verteilungsprinzipien universal, dieselben für alle Gesellschaften sind. Das ist die Voraussetzung der Aufklärung und der liberalen und sozialistischen politischen Philosophie, die die universalistischen Aufklärungsideale bis heute hochhält. Wie realistisch ist dies Dogma in einer Welt, die zwar zusammengerückt und heute überall mehr oder weniger kapitalistisch beherrscht ist, aber zugleich ihre kulturellen, nationalen, religiösen und sogar wieder ihre rassischen Unterschiede hervorkehrt? Der politische Universalismus wird heute nicht von einer politischen Philosophie angegriffen, die sich nationalistisch, sondern kommunitaristisch nennt. Wenn sich die gleiche Freiheit oder akzeptable Verteilungsprinzipien durch eine Verteidigung der liberalen Gleichheit bestimmen lassen, wofür ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels die Weichen stellen will, dann sollte die Kritik an der universalistischen Voraussetzung einer solchen Verteidigung gehört und geprüft werden. Das soll im zweiten und längeren Teil dieses Kapitels geschehen. Er erörtert die politische Philosophie Michael Walzers und unterbricht, kaum daß sie begonnen hat, meine eigene Untersuchung der gleichen Freiheit, die dieser dritte Teil des Buchs zum Ziel hat. Ich hoffe, der Leser nimmt mir dies disharmonische Vorgehen nicht übel und läßt sich die Diskussion eines Kommunitaristen als eine Art Nachtisch (sagen wir, ein Käsedessert) zu den fünf vorausgegangenen liberalen Gängen schmecken, bevor er wieder mit dem trockenen Brot meiner Untersuchung vorlieb nimmt. Dieser Nachtisch wird nötig, weil die vorausgehenden fünf Gänge zwar zur Kritik der fünf Deutungen der gleichen Freiheit geführt haben, aber keineswegs zur Kritik der Idee der gleichen Freiheit selbst führen und ihrer Deutung als liberaler Gleichheit den Boden entziehen sollen.

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Wie universal können Verteilungsprinzipien sein?

Natürliche Freiheit, demokratische Gleichheit und liberale Gleichheit Wir haben von den fünf vorgestellten politischen Philosophen zwei entgegengesetzte Antworten auf die Frage gehört, was Individuen als Rechtsanspruch vom Staat als dem Durchsetzer der Gerechtigkeit fordern können. Beide Antworten haben gewichtige Gründe für sich anzuführen. Ich möchte nun dafür argumentieren, daß sie beide nicht ausreichen, die jeweilige Antwort zu begründen. Nach Nozick und den Libertaristen dürfen wir nur Schutz vor Gewalt, Betrug und allgemein vor Verletzung fordern, vor einem menschengemachten Schaden, den man einem Menschen als seine Schuld zuschreiben kann. Wir haben daher nur ein Recht auf eine Freiheit, die ihre Kritiker als formal oder (Rawls) als natürlich beschreiben und als unzureichend verwerfen. Erzwingen dürfe der Staat nur den Schutz der Rechte auf Betätigung der eigenen Anlagen und auf Aneignung der Produkte solcher Betätigung, und zwar auch dort, wo Standesprivilegien Angehörigen bestimmter Klassen bestimmte Betätigungsmöglichkeiten verbieten. Auch Nozicks Minimalstaat ist stark genug, um Ständeschranken zu brechen. Aber er darf nicht durch Belastung der Bessergestellten eine Gleichheit der Betätigungschancen zu Beginn eines Lebens erzwingen oder unverschuldete, aber niemandem zurechenbare Benachteiligungen beheben und aus der natürlichen Freiheit die liberale oder gar demokratische Gleichheit machen. Es gibt Menschen- und Bürger-, aber keine sozialen Rechte. Wir haben schon gesehen, daß die Anerkennung der natürlichen Freiheit die der liberalen Gleichheit nahelegt. Wenn man gegen Standesprivilegien das Recht eines jeden behauptet, seine Anlagen in allen Berufen zu gebrauchen, wo man dazu fähig ist, liegt es nahe, das Recht zu behaupten, seine Anlagen auch gegen die Privilegien des Reichtums und der Macht zu betätigen. Zur liberalen Gleichheit gehören auch soziale Rechte: erstens, auch nach Rawls, die Chancengleichheit durch ein Schul- und Erziehungssystem, das jedem unabhängig von seiner sozialen Herkunft die Ausbildung seiner Talente soweit sichert, daß er sie dort betätigen kann, wo er sich mit ihnen behaupten kann; zweitens, was Rawls nicht nennt, der Schutz durch eine Pflichtversicherung mit gleichen Leistungen für alle, aber einkommensabhängigen Beiträgen gegen die Kontingenzen von Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit. Rawls rechnet den Versicherungsschutz offenbar nicht zur liberalen Gleichheit. Aber soweit es bei diesem nicht um die Ausschaltung des Einflusses von Talenten auf die Verteilung geht, sondern nur um die Sicherung der Möglichkeit für jeden, seine Talente zu gebrauchen, muß man ihn zur liberalen und nicht zur demokratischen Gleichheit rechnen. Wir werden noch einige weitere soziale Rechte kennenlernen, die zur liberalen Gleichheit gehören. Die Libertaristen haben einen gewichtigen Grund, nicht von der natürlichen Freiheit zur liberalen Gleichheit überzugehen: Chancengleichheit und Pflichtversicherung sehen sie als Schutz nicht vor zurechenbarem Schaden, sondern vor naturbedingtem Unglück. In der Tat läßt sich normalerweise niemand verantwortlich machen für Krankheiten und Unfälle, für das Alter, für die Armut von Eltern, die ihren Kinder keine angemessene Erziehung finanzieren könnten, und auch für Arbeitslosigkeit; für alle jene Notsituationen also, vor denen die Zwangsversicherungen und das Schulsystem von Sozialstaaten schützen sollen. Sie sind alle, zumindest ursprünglich, naturbedingt. Läßt sich aber zeigen, wie ich es im folgenden tun will, daß der Schaden, vor dem Zwangsversicherung und Staatsschulen schützen, zurechenbar ist, entfällt der Grund der Libertaristen, nicht von der natürlichen Freiheit zur liberalen Gleichheit überzugehen, und ihre Antwort, was Individuen vom Staat (nicht) fordern dürfen, läßt sich nicht halten. Die Rawlsianer halten nicht nur die soziale, sondern auch die natürliche

Natürliche Freiheit, demokratische Gleichheit, liberale Gleichheit

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Kontingenz für unakzeptabel. Ihr wichtigstes Argument ist, daß sich ohne Ausschaltung der natürlichen Kontingenz Reichtum und Macht in immer weniger Familien anhäufen und die liberale Gleichheit der natürlichen Freiheit immer mehr annähert. Dies Argument wird beeindrucken, solange die liberale Gleichheit unfähig scheint, die Anhäufung von Macht und Reichtum in wenigen Familien und den Rückfall in die natürliche Freiheit zu verhindern. Solange wird das Ideal der demokratischen Gleichheit die politische Philosophie in die Irre führen. Rawls hat zwar die demokratische Gleichheit verteidigt, aber diese fällt nicht mit Rawls' politischer Philosophie zusammen. Man kann (wie Dworkin) die demokratische Gleichheit verfechten und doch Rawls kritisieren. Im folgenden geht es mir nicht um eine Kritik an Rawls, sondern der demokratischen Gleichheit. .Dazu muß ich sie unabhängig von Rawls erläutern. Das scheint mir am besten durch Vorstellung eines Arguments für die demokratische Gleichheit möglich. Es ist ein Argument, das Rawls nicht expliziert hat, aber viele seiner Anhänger ebenso wie viele Sozialisten, die Rawls nicht kennen oder nichts von ihm halten, mehr oder weniger klar vor Augen haben. Es will rechtfertigen, dem Talentierten das Produkt seines Talents abzunehmen, aber daran festhalten, daß niemand im Gebrauch seiner Talente behindert werden darf. Es besteht aus drei Schritten. Zum ersten Schritt gehören die Unterscheidung zwischen der Betätigung der eigenen Anlagen und der Aneignung des Produkts dieser Betätigung und die Behauptung, ein Eingriff in die Aneignung des Produkts der eigenen Betätigung verletze die Freiheit einer Person nicht so schwer wie ein Eingriff in die Betätigung der eigenen Anlagen. Dieser greife die Freiheit an der Wurzel an, weil es keine Freiheit geben könne ohne Betätigung der eigenen Anlagen. Der Eingriff in die Aneignung dagegen behindere nicht notwendig die Betätigung der Anlagen. Jener sei eine Vernichtung der Freiheit, dieser ihre Beschneidung. Der zweite Schritt ist die Behauptung, die Beschneidung der Freiheit einer Person im Unterschied zu ihrer Vernichtung sei dann legitim, ja geboten, wenn sie die Vernichtung der Freiheit derselben oder einer andern Person verhindert. Der dritte Schritt ist die Behauptung, die demokratische Gleichheit folge genau diesem Gebot: sie vernichte nicht die Freiheit der Bessergestellten, sondern beschneide sie nur, und zwar um die andernfalls eintretende Vernichtung der Freiheit der Schlechtergestellten zu verhindern. Dies Argument hat große Überzeugungskraft. Ich halte die ersten beiden Schritte für unanfechtbar. Der Eingriff in die Betätigung der eigenen Anlagen ist eine schwerere Verletzung als der in die Aneignung ihres Produkts, und er kann legitim, ja geboten sein, wenn er die Vernichtung der Freiheit eines Individuums verhindert. Angreifbar ist der dritte Schritt. Die demokratische Gleichheit macht den Eingriff in die Aneignung des Produkts der eigenen Betätigung zur Regel; er ist nicht mehr die Ausnahme, sondern das Prinzip der Verteilung selbst. Wenn die Vernichtung der Freiheit der Individuen schon durch die liberale Gleichheit verhindert werden kann; wenn ihre Verhinderung ohne die tiefe Beschneidung möglich ist, welche die demokratische Gleichheit fordert; dann sollte die liberale Gleichheit und jede weniger beschneidende Gleichheit der demokratischen Gleichheit vorgezogen werden. Kann aber der Eingriff in die Aneignung des Produkts der eigenen Betätigung überhaupt als eine Beschneidung der Freiheit gelten? Man kann sich einen radikaleren Verteidiger der demokratischen Gleichheit als den von mir angenommenen denken, jemand, der einen solchen Eingriff nicht als Freiheitsbeschneidung anerkennt. Wenn er für seine These keine weiteren Gründe anführt, scheint sie mir zu kontraintuitiv, um eine Diskussion zu verdienen. Anders steht es, wenn er erklärt, das Individuum sei immer nur Glied eines größeren Ganzen,

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Wie universal können Verteilungsprinzipien sein?

seiner Familie, seines Stammes, seiner Nation oder auch der Menschheit. Soll die Menschheit das Ganze sein, dem das Individuum zu dienen hat, so wird das Argument relativ uninteressant. In diesem Fall kann jeder sich als Treuhänder der Menschheit betrachten und den Eingriff in die Aneignung seines eigenen Produkts nur in solchen Katastrophenfallen nicht zurückweisen, in denen die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht; dann aber verlieren die Eigentumsregeln nach allgemeiner Überzeugung und den meisten politischen Theorien ihre Gültigkeit. Soll das Ganze dagegen ein Volk oder eine andere Gruppe sein, dann wird es schwer, ihn zu widerlegen. Denn dann kann er nicht nur allgemein die Unterordnung der Rechte des Individuums unter die Rechte der Gruppe behaupten, der es angehöre, sondern auch für jeden solcher Teile eine eigene Gerechtigkeit annehmen. So argumentiert in der Tat der Kommunitarismus. Die demokratische Gleichheit kann daher nur vollständig kritisiert werden, wenn der Kommunitarismus kritisiert werden kann. Tatsächlich haben sich manche Verteidiger der demokratischen Gleichheit ausdrücklich auf den Boden des Kommunitarismus gestellt. 402 In der politischen Praxis ist die Begründung sozialer Rechte durch Berufung auf eine Solidargemeinschaft der Nation gang und gäbe. Der Kommunitarismus hat sich als Kritik am Universalismus der libertaristischen, liberalen und rawlsianischen politischen Theorien entwickelt, auf Theorien genau der Art, wie sie die fünf vorgestellten Philosophen vertreten.403 Deren Ideal der gleichen Freiheit ist universal in dem Sinn, daß es die politischen Verhältnisse in allen Gesellschaften orientieren soll. Es läßt zwar für die Anwendung der universalen Prinzipien der gleichen Freiheit einen Spielraum für lokale Eigenarten. Aber gerade deswegen können sie für ihre Prinzipien Allgemeinverbindlichkeit f ü r alle Kulturen beanspruchen. Sie schließen Eigentums- und Verteilungsprinzipien aus, die nicht durch ihre überall gleichen Rechte begründet werden können, und unterwerfen die Menschen aller Kulturen denselben sozialen und ökologischen Rechtspflichten. Diese Prinzipien sind international ebenso verbindlich wie national oder regional und verpflichten alle nationalen Staaten und ihre Bürger auf eine internationale Verteilungsgerechtigkeit. Der Kommunitarismus ist eine grundsätzliche Kritik des Universalismus, aber er hätte vermutlich nicht so viele Sympathien gewonnen, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien der rawlsianischen Theorien nicht kontraintuitiv werden, sobald man ihren universalen Charakter ernst nimmt und sie von nationalen auf internationale Verhältnisse überträgt. Rawls selbst hat seine Gerechtigkeitsgrundsätze allerdings, wie wir sahen404, nur als die Regeln einer geschlossenen 4 0 2 Ein wichtiger Vertreter ist David Miller. Vgl. sein lesenswertes Buch: On Nationality, Oxford 1995. 403 Diese Kritik artikulierte besonders Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, der sich vor allem auf Rawls bezieht. Die Kritik am Universalismus liberaler und sozialistischer Theorien wird aber schon deutlich in: Isaiah Berlin, The Bent Twig, in: Foreign Affairs 51, 1972, 11 - 3 0 . Berlin wurde zwar durch seinen Aufsatz: T w o Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty, Oxford 1969, (zuerst 1958), als Liberaler bekannt; seine Vorbehalte gegen den Universalismus zeigen sich aber in seinem Interesse an Herder und Vico; vgl. dazu I. Berlin, Herder and the Enlightenment, in: Earl R. Wasserman (ed.), Aspects of the 18th Century, Baltimore 1965; revid. Reprint in: I. Berlin, V i c o and Herder, L o n d o n / N e w York 1976. Vgl. Steinvorth, Staatliche und nationale Identität, in: M.Oswald/U.Steinvorth, D i e offene Gesellschaft und ihre Fremden, Bern 1988. 4 0 4 Siehe oben im Rawls-Kapitel und in: Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 8.

Natürliche Freiheit, demokratische Gleichheit, liberale Gleichheit

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Gesellschaft verstanden, eines „closed system isolated from other societies", und insbesondere das Differenzprinzip gegen die Kritik einiger seiner Anhänger 405 nicht auf internationaler Ebene angewendet. Diesen Standpunkt hat er in einem Aufsatz zur internationale Politik bekräftigt. 406 Rawls' rawlsianische Kritiker sehen im Differenzprinzip die Begründung einer Rechtspflicht bessergestellter Staaten und ihrer Bürger, den schlechtergestellten ebenso zu helfen, wie nach Rawls in einem Staat die bessergestellten Individuen verpflichtet sind, den schlechtergestellten zu helfen. Wie das Differenzprinzip auf nationaler Ebene die soziale und natürliche Kontingenz ausschalten soll, so nach den Kritiker auch auf internationaler Ebene. Denn wenn es ungerecht ist, Individuen im nationalen Rahmen den Zufällen der Geburt und der Talente zu überlassen, dann müsse es ebenso ungerecht sein, sie dem Zufall zu überlassen, ob sie in Kamerun oder Kalifornien geboren werden. In der Tat handelt es sich in beiden Fällen um Kontingenzen, von denen schwer zu sehen ist, aus welchen Gründen man sie ungleich behandeln kann. Wenn es willkürlich vom moralischen Standpunkt ist, daß der Talentierte ein höheres Einkommen hat als der Untalentierte, dann ist es ebenso willkürlich, daß der Kalifornier ein höheres Einkommen als der Kameruner hat. Streng genommen ist im Verhältnis zwischen Kalifornier und Kameruner nicht einmal das Mehreinkommen erlaubt, das der Talentierte gegenüber dem Untalentierten nach dem Differenzprinzip zur Stimulierung seiner Produktion unter der Bedingung haben darf, daß dadurch der Untalentierte mehr erhält, als er bei strenger Gleichheit erhalten könnte. Denn der Umstand, daß der Kalifornier durch den bloßen Zufall, daß er Kalifornier ist, sehr viel mehr Einkommen gewinnen kann als der Kameruner, stimuliert in keiner Weise seine Produktion. Man kann daher Rawls mit gutem Grund nicht nur (mit Nozick) einen doppelten Maßstab der Gerechtigkeit auf nationaler Ebene vorhalten, weil er für private oder „Mikro"verhältnisse andere Regeln anwenden will als für öffentliche oder „Makro"verhältnisse; man kann ihm auch (mit den konsequenten Rawlsianern 407 ) einen doppelten Maßstab auf internationaler Ebene vorhalten, weil er dort die Kontingenz der Geburt nicht mehr moralisch willkürlich findet. Rawls hat in seiner Diskussion der Entwicklungshilfe zwar ganz recht zu erklären: „Wellordered societies can get on with very little; their wealth lies elsewhere: in their political and cultural traditions, in their human capital and knowledge, and in their capacity for political and economic organization ... The great social evils in poorer societies are likely to be oppres-

405 Zu diesen Kritikern gehören vor allem Charles Beitz, Political Theory and International Relations, Princeton 1979, Thomas Pogge, Realizing Rawls, Ithaca 1989, Brian Barry, Theories of Justice, Berkeley 1989. 4 0 6 Rawls, The Law of Peoples, in Critical Inquiry 20, 1993, bes. 62ff, auch in: Shute/Hurley (eds.), On Human Rights, a.a.O., bes. 75ff. 407 Natürlich könnte man ihm diesen zweiten doppelten Maßstab auch als Libertarist oder politischer Philosoph einer andern Richtung vorhalten. Merkwürdigerweise sieht der Libertarist Eric Mack, The Uneasy Case for Global Redistribution, in: St. Luper-Foy (ed.), Problems of International Justice, Boulder/London 1988, 5 6 - 6 6 , diese Inkonsequenz nicht. Er sieht zwar, daß nach Rawls' Argument von der moralischen Willkür das Differenzprinzip auch international gelten müßte, hält dies Argument aber für ein überflüssiges Zusatzargument neben der Ableitung des Differenzprinzips aus dem Urzustand (ebd., 57f). Aber im Urzustand würden die Parteien, die ebensogut in Kalifornien wie in Kamerun geboren werden könnten, natürlich eine internationale Anwendung des Differenzprinzips wählen.

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sive government and corrupt elites and the subjection of women abetted by unreasonable religion, all with the resulting overpopulation relative to what the economy of the society can decently sustain. Perhaps there is no society anywhere in the world that, were its people reasonably and rationally governed and their numbers sensibly adjusted to their economy and resources, could not have a decent and worthwhile life." 4 0 8 Weise Worte, aber sie ändern nichts daran, daß Menschen, die in ein armes übervölkertes Land mit korrupten Eliten, unterdrückten Frauen und verrückter Religion geboren werden, ebenso O p f e r des Z u f a l l s der G e b u r t sind wie M e n s c h e n mit ö k o n o m i s c h unvorteilhaften Talenten. W e n n die Gerechtigkeit im einen Fall erzwingbare Eingriffe in das Eigentum der Bessergestellten verlangt, muß sie es ebenso, ja wegen des Mangels von Produktionsanreizen n o c h strenger im andern Fall tun. V e r w i r f t man auf internationaler E b e n e das D i f f e r e n z prinzip, wie es Rawls vernünftigerweise tut, dann muß man es auch auf nationaler Ebene tun. Zumindest solange man Gerechtigkeitsprinzipien für universal hält. Die Kommunitaristen verwerfen diesen Universalitätsanspruch (und Rawls kommt dieser Auffassung in seinen späteren Aufsätzen entgegen 409 ). Hält man dagegen an der Idee der gleichen Freiheit fest, so müssen die Gerechtigkeitsprinzipien, die man auf nationaler Ebene als die richtigen erkennt, auch die richtigen auf internationaler Ebene sein, und umgekehrt. Die internationalen Verhältnisse werden dann zum Test f ü r Prinzipien, die auf nationaler Ebene überzeugen können. R a w l s ' Differenzprinzip scheitert an diesem Test, wenn man R a w l s ' soeben zitiertem Urteil über Ursachen des Elends in der Dritten Welt folgt. Betrachten wir nun den Kommunitarismus näher. Ich werde ihn nur in einer Fassung erörtern, in der er der Idee der gleichen Freiheit noch am stärksten verbunden ist, nämlich der von Michael Walzer. W a l z e r hat die Idee einer komplexen Gleichheit entwickelt, die nicht nur komplex, sondern auch eine partikularistische Form der demokratischen Gleichheit ist. Walzers komplexe Gleichheit W a l z e r e n t w i c k e l t e seine Theorie der komplexen Gleichheit zuerst in seinem A u f s a t z In Defense of Equality, in dem er sich nicht Kommunitarist, sondern noch Sozialist oder „an unreconstructed democrat" 4 1 0 nennt. Er erkennt dort die Idee einer natürlichen Ordnung an, die er bei konservativen Verteidigern der gegebenen Verteilung findet, bestreitet aber, daß sie mit der gegebenen übereinstimmt, die die Konservativen verteidigen. Die natürliche Ordnung sei vielmehr eine k o m p l e x e Gleichheit und e r g e b e sich, w e n n j e d e r Freiheit f ü r seine Fähigkeiten hat und Geld kein universales Tauschmittel mehr ist: „People who are able to make money ought to make money, in the same way that people who are able to write books ought to write books. Every human talent should be developed and expressed. The difficulty here is that... money is the universal medium of exchange; it enables the men and women who

408 Rawls, The Law of Peoples, in: Critical Inquiry 20, 1993, 64, bei Shute/Hurley, eds., On Human Rights, N e w York 1993, 77. 409 Vgl. bes. die Aufsätze: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch; Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses; Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses; alle in: Die Idee des politischen Liberalismus, a.a.O. 4 1 0 Michael Walzer, In D e f e n s e of Equality, in: Radical Principles, N e w York 1980, 2 3 7 - 5 6 . Der Aufsatz bezieht sich auf Irving Kristol, About Equality, in: Commentary, Nov. 1972, dessen Konservatismus er kritisiert. Walzer zählt sich zu den Sozialisten z.B. ebd., 249.

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possess it to purchase virtually every other sort of social good; we collect it for its exchange value. Political power, celebrity, admiration, leisure, works of art, baseball teams, legal advice, sexual pleasure, travel, education, medical care, rare books, sailboats - all these (and much more) are up for sale ... Now isn't it odd, and morally implausible and unsatisfying, that all these things should be distributed to people with a talent for making money? And even odder and more unsatisfying that they should be distributed (as they are) to people who have money, whether or not they possess any talent at all?... In fact, there is no single talent or combination of talents that plausibly entitles a man to every available social good." 4 " Walzer scheint hier eine radikalere und angemessenere Deutung der gleichen Freiheit als Rawls und Nozick zu entwickeln. Nicht nur, daß er sich nicht mit der formalen Freiheit zufrieden gibt, die Nozick hoch hält; er nimmt auch nicht den Maßstab von Gleichheit und Ungleichheit hin, den Rawls akzeptiert, nämlich das Geld. Rawls nimmt das Geld unter die Grundgüter auf, jene Dinge, von denen jeder rationalerweise nicht genug haben kann, weil sie zu allem nützlich sind. Er erkennt es als allgemeines Äquivalent an, das man gegen jede Ware tauschen kann. Walzer weist diesen Maßstab zurück. Er sieht die gleiche Freiheit dadurch verhindert, daß manche Talente nicht zur Geltung kommen, wenn Geld das universale Tauschmittel ist. Die universale Tauschbarkeit des Gelds ist die soziale Unnatur, gegen die er das Recht der natürlichen Vielfalt von Anlagen geltend machen will: „Consider the range and variety of human capacities: intelligence, physical strength, agility and grace, artistic creativity, mechanical skill, leadership, endurance, memory, psychological insight, the capacity for hard work - even moral strength, sensitivity, the ability to express compassion." 412 Der Intelligente sollte nach seiner Intelligenz, der Schöne nach seiner Schönheit, der Tugendhafte nach seiner Tugend und überhaupt jeder nach der Fähigkeit gemessen und geachtet werden, in der er sich auszeichnen kann. Das Geld zersetzt die Mannigfaltigkeit der Bewertungen und bringt sie auf den einen Nenner des Geldwerts. Das ist die Tyrannei des Gelds, die Walzer mit Pascal und Marx beklagt. 413 Es ermöglicht alles zu kaufen, was nicht käuflich sein sollte, und verschafft nur denen Anerkennung, deren Fähigkeit das Geldmachen ist. Walzers Ziel ist daher nicht der Ausgleich von Einkommen (oder sozialen Grundgütern) nach dem Differenzprinzip, sondern das Ende der Tyrannei des Geldes. Das Geld soll nicht mehr das allgemeine Äquivalent sein, das alles käuflich macht. Auch der Liberalismus verlangte zwar die Freiheit für jeden, seine Anlagen zu betätigen, die Walzer durch die Tyrannei des Gelds bedroht sieht. Er fürchtete aber keine Tyrannei des Gelds; er sah im Gegenteil im Geld das beste Mittel, den eigenen Fähigkeiten die Betätigung zu sichern, und auch Rawls folgt dieser Sicht, wenn er für jeden die größtmögliche Menge von Grundgütern fordert. Nach Walzer dagegen kann das Geld unter den gegebenen Bedingungen nicht auf seine Rolle als Warenäquivalent beschränkt bleiben, sondern macht käuflich, was nicht käuflich sein sollte: Fußballsiege, Buchpreise, Gerichtsurteile, politische Ämter, Wahlstimmen, Freistellungen vom Wehrdienst, Polizeischutz. 414 Um die allgemeine Korruption zu bekämpfen, seien die traditionellen Mittel ungeeignet: „... none of these things will be enough to prevent the wealthy from exercising power in all sorts of ways to which

411 412 413 414

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

240f. 239. 243f. 246-8. Vgl. die ausführliche und systematische Liste in: Spheres of Justice, 100-2.

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their fellow citizens have never consented." Daher sei radikale Umverteilung ein legitimes Mittel, der Korruption zuvorzukommen, die vom Reichtum droht.415 Nicht das Geld allein macht nach Walzer korrupt, sondern das Geld unter den gegebenen Bedingungen, die Walzer wie andere Sozialisten als die Bedingungen warenproduzierender Gesellschaften versteht. Aber die Bedingungen hält er nur durch Umverteilung für veränderbar. Wie das jedoch geschehen soll, ohne sich die „very considerable restriction of individual liberty - of the freedom to offer services and to purchase them" 416 einzuhandeln, die Walzer in sozialistischen Staaten sieht und verwirft, bleibt dunkel. Auf die naheliegende Frage: „What is the proper sphere of wealth? What sorts of things are rightly had in exchange for money?", gibt er die offensichtlich unzureichende Antwort: „There should be no way of acquiring rare books and sailboats except by working for them." 417 Insgesamt bleibt Walzers Idee, das Geld auf seine Sphäre zu beschränken, vage und unverbindlich. Wie es überhaupt eine eigene Sphäre haben kann, obgleich es, wie Walzer wiederholt anerkennt, das „universal medium of exchange" ist418, findet keine Erklärung. Die medizinische Versorgung soll nur von der Bedürftigkeit abhängen und sich aus Steuermitteln finanzieren4'9, aber auf welche der vielen medizinisch möglichen und in ihrem Aufwand sehr unterschiedlichen Versorgungen der Bedürftige ein Recht hat und worauf es sich gründet, bleibt wieder offen. Walzer scheint schließlich gemerkt zu haben, daß ihm die Gründe fehlten, sich Sozialist zu nennen, und daß er seinen Anspruch fallen lassen mußte „unreconstructed" zu sein. Jedenfalls hat er sich in dem Buch, in dem er die Idee einer komplexen Gleichheit von neuem vertritt, in Spheres of Justice, zum Kommunitaristen „rekonstruiert". Zumindest bei Walzer hat nicht nur das Zurückschrecken vor den Konsequenzen des Rawlsschen Differenzprinzips in'der internationalen Politik dem Kommunitarismus den Boden bereitet, sondern auch die enttäuschende Erfahrung des Sozialismus. In Spheres of Justice zählt er als Mittel zur Verwirklichung der komplexen Gleichheit erstens Institutionen auf, die geprägt sind von Ideen des Sozialismus und des Kommunitarismus: „... a decentralized democratic socialism; a strong welfare state run, in part at least, by local and amateur officials; a constrained market; an open and demystified civil service; independent public schools; the sharing of hard work and free time; the protection of religious and familial life; a system of public honoring and dishonoring free from all considerations of rank or class; workers' control of companies and factories; a politic of parties, movements, meeting, and public debate" 420 ; zweitens eine bestimmte Einstellung der Individuen zu den Institutionen und Berufen, die sie ausfüllen, besonders der „makers, distributors, and recipients of the goods in question", nämlich der Güter und Leistungen der verschiedenen Sphären mit ihren je eigenen Zielen und Maßstäben; der Ärzte und Patienten im Gesundheitswesen; der Lehrer und Schüler in der Bildung; der Politiker und Wähler in der 415 Walzer, In D e f e n s e of Equality, a.a.O., 248: „Indeed, the ability to hold or spend vast sums of money is itself a form of power, permitting what might be called preemptive strikes against the political system. And this, it seems to me, is the strongest possible argument for a radical redistribution of wealth. So long as money is convertible outside its sphere, it must be widely and more or less equally held so as to minimize its distorting effects upon legitimate distributive processes." 4 1 6 Ebd. 4 1 7 Ebd., 249. 4 1 8 Ebd., 240, vgl. 249. 4 1 9 Ebd., 24If. 4 2 0 Walzer, Spheres of Justice, a.a.O., 318.

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Politik. Walzer hat diese Einstellung später so beschrieben: „My idea was that these people should work out among themselves the meaning of the goods and the appropriate mechanisms of distribution - and that they should defend the integrity of the sphere against external, tyrannical interventions. Imagine priests in the medieval church opposing nepotism and simony, or professors in a modern university resisting the automatic admission of children of wealthy alumni, or the Johnstown (eine Stadt, in der Walzer gelebt hat) workers striking against the autocracy of foremen and managers." 421 Was versteht er unter der „integrity of the sphere", die gegen tyrannische Übergriffe zu verteidigen ist? Diese Übergriffe gehen selbst von anderen Sphären aus; nicht nur der des Geldes, sondern, in fundamentalistischen Ländern wie dem Iran, auch von jener der Religion.422 Walzer nimmt an, daß die menschlichen Tätigkeiten und Wertungen verschiedenen Sphären zugeordnet und kritisiert werden können, wenn sie nicht die Grenzen ihrer jeweiligen Sphäre respektieren. Aber was bestimmt die Grenzen einer Sphäre? Walzer verläßt sich auf eine intuitive Plausibilität, daß Priester, Professoren und Arbeiter ihre je eigene Sphäre mit ihren spezifischen Anforderungen haben. Das macht, wie wir sogleich sehen werden, widersprüchliche Bestimmungen möglich. Wir finden aber bei Max Weber eine Erläuterung durch den Begriff der inneren Eigengesetzlichkeit einer Wertsphäre 423 , mit dem sich Walzers Aussagen über die Sphärenintegrität besser fassen lassen. Nach diesem Begriff können wir uns in unseren Tätigkeiten statt von unseren Interessen mehr oder weniger von der Sache und ihrer „Gesetzlichkeit" leiten lassen, mit der wir zu tun haben: die Priester von dem, was die Sache der Religion verlangt; die Professoren von dem, was die Sache der Wissenschaft verlangt; die Arbeiter von dem, was die Sache von Menschen verlangt, die nicht sich, sondern nur ihre Arbeitskraft verkaufen und deshalb von ihrer Arbeitskraft unterschieden und geachtet werden wollen. Der Politiker, so kann man hinzufügen, muß nach dieser Idee dem folgen, was die Sache der Politik im allgemeinen - die Durchsetzung von Gerechtigkeit - und seiner besonderen Politik - seine Deutung und Anwendung der Gerechtigkeit in der historischen Situation - verlangen; der Arzt dem, was die Sache der Gesundheit verlangt; der Richter dem, was die Sache des unparteilichen Urteils über Recht und Unrecht eines Streitfalls verlangt; der Unternehmer dem, was die Sache seines profitorientierten Unternehmens verlangt - Profitabilität. Der Künstler folgt der Sache der Kunst oder seiner Kunst; Eltern der Sache der Erziehung zu selbstverantwortlichen Menschen. Sie alle finden ihre Orientierung und Befriedigung nicht in der Befolgung ihrer stärksten Interessen oder drängendsten Wünsche, sondern in der Sache, mit der sie zu tun haben oder haben wollen. Sie alle bewerten sich und einander nach dem, was die Sache fordert, mit der sie zu tun haben, und nicht nach der Befriedigung, die ihre Handlungen ihnen oder anderen verschaffen. Man muß diesen Punkt so hervorheben, um klar zu machen, worum es, wenn wir jedenfalls dem Weberschen Sphärenbegriff folgen, in Walzers sphärenintegritätsichernder komplexer Gleichheit geht und nicht geht. Es geht in ihr nicht darum, den Menschen eine Freiheit der

421 Walzer, Response, in: David Miller/Michael Walzer, Pluralism, Justice, and Equality, Oxford 1955,281-97, 286f. 422 Walzer, Response, a.a.O., 288. 423 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Zwischenbetrachtung), in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, I, Tübingen 1978, 541.

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individuellen „self-expression" 424 zu sichern. Das war Walzers subjektivistische Auffassung in seinem Aufsatz, in dem er sich noch als Sozialist verstand. Dieser Subjektivismus läßt sich nicht halten. Die Tätigkeiten, in denen ein Individuum Anerkennung findet, haben mit Gütern zu tun, deren Wert und Bedeutung nicht vom Belieben des Individuums abhängt. Es findet Anerkennung nur in einer Tätigkeit, die einen von seinen individuellen Bedürfnissen und Interessen unabhängigen Wert hat. Seine Befriedigung beruht darauf, daß er sie in der Sache findet - der Arzt, und nach Walzer sogar auch der Patient, in dem, was die Sache der Gesundheit verlangt, der Musiker und sein Zuhörer in dem, was die Gesetze und Möglichkeiten der Musik oder des gerade gespielten Stücks verlangen und zulassen. In der komplexen Gleichheit geht es daher darum, jedem die Möglichkeit zu sichern, der Eigengesetzlichkeit der Sphäre zu folgen, die er als seine eigene entdecken kann. Die Tyrannei einer Sphäre wie der des Gelds besteht darin zu verhindern, daß man der Eigengesetzlichkeit der Sphären folgt. Walzer erkannte in Spheres of Justice, daß sein subjektivistisches Verständnis der komplexen Gleichheit falsch war. Aber er ersetzte es nicht, wie es nach dem Weberschen Begriff angemessen gewesen wäre, durch ein sachbezogenes objektivistisches Verständnis. Er nahm nicht an, man finde Achtung und Selbstachtung in der Befolgung der Werte und Kriterien der Sphäre seiner Wahl; er nahm an, man finde sie, weil man seine Befriedigung mit andern teilt und sich auf andere einläßt. Er folgte der Neigung vieler Philosophen dieses Jahrhunderts, immer wenn sich die Subjektivität als unzureichend dazu erweist, eine Norm oder etwas Normatives wie Achtung und Selbstachtung zu rechtfertigen, auf die /n/ersubjektivität zurückzugreifen. Auf diese Weise wurde er zum Anhänger des Kommunitarismus. Denn für den Kommunitarismus ist die Intersubjektivität oder der Konsens von Gruppen die Quelle der Verbindlichkeit alles Normativen. Im Unterschied zur Habermasschen Konsenstheorie hält der Kommunitarismus einen Konsens und daher auch verbindliche Normen unter Menschen verschiedener Kulturen nicht für möglich. Nur kleinere „kommunitäre" Gemeinschaften mit tradierten Gemeinsamkeiten sind ihm mögliche Träger des Konsenses, der Normen legitimieren kann. Nur in solchen Gemeinschaften kann nach Walzer auch der Einzelne die Selbstachtung und Anerkennung finden, die ihn zum Widerstand gegen die Tyrannei des Geldes befähigt. Die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der Sphären dagegen, die ihm überhaupt erst ermöglicht, von einer Tyrannei des Geldes, von Sphärenintegrität und einer natürlichen Ordnung zu sprechen, die das Geld verletzt, wird nun irrelevant. Natürliche Ordnung und Sphärenintegrität verlieren ihren Sinn, wenn sie nicht konsensunabhängig bestehen. Als Kommunitarist sieht Walzer dagegen alle Normen zumindest der Verteilungsgerechtigkeit auf den Konsens einer historisch gewachsenen Gemeinschaft gegründet. Wie kann er da noch an der Idee der Sphärengerechtigkeit und der an sie gebundenen komplexen Gleichheit festhalten? Er versucht es durch folgende Erläuterungen der komplexen Gleichheit zu Beginn seines Buches Sphären der Gerechtigkeit, die zugleich ein kommunitaristisches Manifest formulieren: „1. All the goods with which distributive justice is concerned are social goods ... they cannot be idiosyncratically valued ... Goods in the world have shared meanings because conception and creation are social processes. For the same reason, goods have different meanings in different societies. 424 Walzer, In Defense of Equality, a.a.O., 240.

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2. Men and women take on concrete identities because of the way they conceive and create, then possess and employ social goods. 3. There is no single set of primary or basic goods conceivable across all moral and material worlds... 4. Distributive criteria and arrangements are intrinsic not to the good-in-itself but to the social good. 5. Social meanings are historical in character; and so distributions, and just and unjust distributions, change over time. 6. When meanings are distinct, distributions must be autonomous." 4 2 5 Walzer behauptet, hier nicht nur, Güter erhielten ihren Wert durch soziale Prozesse, sondern auch, ihr Wert und ihre Bedeutung sei verschieden in verschiedenen Epochen und Gesellschaften. Er behauptet weiter, die „konkreten Identitäten" der Menschen seien je nach der Art ihres Verständnisses von Gütern verschieden. Das heißt, daß sie in verschiedenen sozialen Verhältnissen verschiedene Leistungen der Gesellschaft als ihr Recht und verschiedene eigene Handlungen und Unterlassungen als ihre Pflicht betrachten, und daß es keine objektiven, für alle Gesellschaften verbindlichen Normen zur Beurteilung solcher Erwartungen gibt. Die Konsequenz für die politische Philosophie ist, daß sie keine universalen Gerechtigkeitsgrundsätze und Institutionen begründen kann. Sie muß sich auf einen Kulturrelativismus festlegen. Nun hat jeder Relativismus sein Kreuz zu tragen: er vertritt eine relativistische These („Alles ist relativ"), die doch selbst unbedingte Wahrheit beansprucht („Alles ist relativ"). Aber Walzer hat mit dem Relativismus konkretere Probleme. Ihm geht es um das Verstehen und Institutionalisieren einer komplexen Gleichheit, die gleiche Freiheit auf die angemessenste Weise verwirklicht. Kern der komplexen Gleichheit ist die Annahme, daß Menschen in verschiedenen Tätigkeiten oder Sphären Anerkennung, Befriedigung und Selbstentfaltung finden, daß sie aber in der Wahl ihrer Sphäre durch die Tyrannei des Geldes (oder der Religion) bedroht sind. Schon dieser Ansatz von Walzers politischer Philosophie ist relativismusunverträglich. Er setzt voraus, daß es objektiv besser ist, daß eine Gesellschaft multi- statt eindimensional ist: daß auch dann, wenn niemand in einer vom Geld beherrschten Gesellschaft sich vom Geld tyrannisiert fühlt und niemand Anstoß nimmt an der Käuflichkeit von allem - von „political power, celebrity, admiration, leisure, works of art, baseball teams, legal advice, sexual pleasure ...", um nur einiges zu nennen, was auch Walzer nennt 426 - , etwas Wichtiges an der menschliches Existenz verloren geht, nämlich die Fähigkeit, den objektiven Wert bestimmter Dinge und Handlungen zu erkennen, die „right" oder „internal reasons", wie Walzer es nennt. Walzer kann gegen diesen Einwand natürlich dogmatisch behaupten, es gehe nichts verloren, wenn sich in einer Gesellschaft niemand von der Tyrannei des Gelds tyrannisiert fühlt; dann sei es eben keine Tyrannei; ihm gehe es nur um die Beseitigung von Hindernissen auf dem Weg zu den Zielen, die sich die Menschen selbst, wenn auch gemeinsam in „sozialen Prozessen", setzen. Aber das Pathos seiner Beschreibungen der Tyrannei des Gelds widerspricht dieser Verteidigung. Das Pathos verträgt sich nicht damit, daß eine Gesellschaft so gut oder schlecht ist wie eine andere, wenn sie nur von allen akzeptiert wird. Es appelliert daran anzuerkennen, daß wir etwas übersehen würden, wenn wir die Käuflichkeit aller Dinge hinnähmen. Walzer könnte als Relativist auch nicht von den right oder internal reasons, den 425 Walzer, Spheres of Justice, a.a.O., 7-10. 426 Walzer, In Defense of Equality, a.a.O., 240.

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richtigen oder inneren Gründen sprechen, die verlangen (wie er mit Marx behauptet), daß Kunstwerke den Kunstverständigen gehören, Liebe nur für Liebe, Vertrauen nur für Vertrauen gegeben wird, Macht nur die haben, die etwas zu sagen und anzuregen haben. 427 Solche inneren Gründe sind objektiv oder sachlich in dem Sinn, daß sie denen einleuchten, die die jeweilige Sache verstehen, und diese Sachen - die Kunst, die Liebe, das Vertrauen, die Macht - sind gut nicht deshalb, weil ihre Bedeutung von den Angehörigen derselben Kultur geteilt wird. Sie verlieren nicht ihren Wert, wenn sie für Menschen ihre Bedeutung verlieren oder nicht verstanden werden, und sie verändern nicht ihren Wert, wenn die Menschen sie anders und falsch verstehen. Ebenso schlecht mit seinem Kommunitarismus verträgt sich Walzers Erläuterung des Vorgangs, daß Menschen untereinander die Bedeutung von Gütern und die angemessenen Verteilungsmechanismen entwickeln. Die „priests in the medieval church opposing nepotism and simony" und die „professors in a modern university resisting the automatic admission of children of wealthy alumni" 428 , auf die sich Walzer als Muster guter Kommunitaristen beruft, orientieren sich nicht aneinander, sondern an der Sache oder dem Wesen der institutionalisierten Religion und Wissenschaft. Wenn sich die Bedeutung der Religion oder der Wissenschaft erst aus sozialen Prozessen ergäbe, die in verschiedenen Gesellschaften und Epochen verschieden sind und daher auch ausschließen müßten, daß es die Religion oder Wissenschaft, ihr unveränderliches Wesen gibt, dann hätten die genannten Priester und Professoren keinen Grund, ihre eigene Auffassung von dem, was Religion oder Wissenschaft verlangt, dem Rest ihrer Mitmenschen entgegenzuhalten. Die mittelalterlichen Priester bekämpften mit dem Nepotismus und der Simonie Praktiken, die vor dem Investiturstreit üblich waren und nach Walzers Kommunitarismus hätten festlegen müssen, was die Bedeutung und das Gut der Religion ist. Es gehörte zur „shared meaning" der Religion, daß nicht die Priester, sondern die politischen Machthaber, der Kaiser und die Fürsten, die Bischöfe, Äbte und den Papst einsetzten. 429 Hätten nicht einige Priester ohne Rücksicht auf demokratische Regeln oder soziale Prozesse der Verständigung geglaubt, die „richtigen" und „inneren" Gründe für das zu erkennen, was die Religion ihrem Wesen nach verlangt, es würden noch heute überall auf der Welt Formen des Cäsaropapismus herrschen und die institutionelle Differenzierung der Sphären ausgeblieben sein, die auch nach Walzer 430 die Voraussetzung für die Verwirklichung der komplexen Gleichheit ist. Dasselbe gilt für die Professoren, die sich der Erwartung widersetzen, den Förderern ihrer Universität durch Aufnahme der Kinder der Förderer zu danken. Warum sind sie so anmaßend, sich über die Regeln des Anstands und der Dankbarkeit hinwegzusetzen? Weil sie unterscheiden zwischen dem, was Dankbarkeit, und dem, was die Wissenschaft verlangt. Ohne diese Unterscheidung gäbe es keine Wissenschaft. Die Wissenschaft begann im antiken Griechenland, als einige Schüler (vielleicht zuerst Anaximander, vielleicht weil sein Lehrer Thaies ihn dazu erzogen hatte) ihren weisen Meistern zu widersprechen wagten und sich über die Regeln des Anstands und der Dankbarkeit hinwegsetzten. 431 Diese Unterscheidung wäre unmöglich, 4 2 7 Ebd., 244. 4 2 8 Walzer, Response, a.a.O., 287. 4 2 9 Vgl. dazu das hervorragende Buch von Harold Berman, Recht und Revolution, Frankfurt/M. 1995 (zuerst Cambridge/Mass. 1983). 4 3 0 Walzer, Response, a.a.O., 288. 431 Vgl. dazu Popper, Back to the Presocratics, in: Conjectures and Refutations, a.a.O., 136-153.

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wenn die Bedeutung von Gütern, auch der Wissenschaft und der Dankbarkeit, durch historisch und kulturell variable soziale Prozesse festgelegt würde. Die sozialen Prozesse richten sich vielmehr nach diesen Bedeutungen, soweit sie selbst eine Bedeutung haben. Tun sie es nicht, halten also die Professoren an der Universität nicht die Pflichten der Dankbarkeit und die Anforderungen der Wissenschaft auseinander und lassen die Priester die Interessen der politischen Herrschaft sich mit denen des religiösen Auftrags vermischen, so wird das Handeln im selben M a ß unverständlich und bedeutungslos, wie die Sachen, die vermischt werden, nicht mehr erkannt werden können. Walzer führt mit den Beispielen der Priester und Professoren ausgerechnet zwei Muster der Sach- oder Wesensorientierung an, auf denen seine eigene Tätigkeit beruht. Ohne die sachliche Unterscheidung der Priester zwischen Religion und Politik könnte er nicht die Sphären der Gerechtigkeit unterscheiden, auf deren Unterscheidung die Idee der komplexen Gleichheit beruht. O h n e die sachliche U n t e r s c h e i d u n g der Professoren zwischen Dankbarkeit und Wissenschaft könnte er selbst keine Wissenschaft und keine politische Philosophie treiben. Wenn er solche Unterscheidungen nicht von der Sache begründet sieht, sondern vom Konsens der Gruppe, der er sich angehörig fühlt, macht er seine eigene Arbeit überflüssig, da deren Ergebnisse nicht durch sein sachliches Urteil begründet würden, sondern durch den Konsens seiner Gruppe. Liest man W a l z e r s Sphären der Gerechtigkeit nach dem v o r a n g e g a n g e n e n Aufsatz In Defense of Equality, so könnte man seinen Kommunitarismus noch f ü r einen modischen Putz auf soliden Weberschen Ideen von der Pluralität und Eigengesetzlichkeit der Wertsphären halten. Aber daß er zum tragenden Element seiner Theorie werden soll, bestätigt Walzer, wenn er seine T h e s e n zur Verteilungsgerechtigkeit entwickelt: „Distributive criteria and arrangements are intrinsic not to the good-in-itself, but to the social good ... just and unjust distributions change over time ... When meanings are distinct, distributions must be autonomous. Seine Annahme der Intersubjektivität von Normen, Werten und Bedeutungen führt Walzer zu einer politischen Theorie, die den Unterschied zwischen Staat und Gesinnungsgemeinschaft fallen läßt. Er verzichtet damit auf den Anspruch auf universale Verbindlichkeit der politischen Philosophie. Für internationale und interkulturelle Konflikte gibt es dann keine Lösungen mehr, die vernünftig oder gerecht heißen könnten. Sie können nur noch kontingent gelöst werden - durch Gewalt, List oder den Zufall. Der Verzicht auf den universalen Verbindlichkeitsanspruch der politischen Philosophie ist eine Konsequenz aus der Annahme, es lassen sich heute keine allgemein anerkannte Maßstäbe oder Aussagen zum objektiv und an sich Guten und Gerechten aufstellen. Diese A n n a h m e halten Philosophen wie Richard Rorty 433 für die wesentliche Errungenschaft der Neuzeit, die dadurch erst T o l e r a n z und Verständnis f ü r a b w e i c h e n d e Kulturen ermöglicht habe. Tatsächlich ist die politische Philosophie der Neuzeit und besonders ihre liberale Tradition durch die Annahme eines objektiven und allgemeinverbindlichen Maßstabs der Gerechtigkeit ausgezeichnet. Es gibt gute Gründe, an dieser Tradition festzuhalten. Nach der liberalen Tradition gibt es ein Ideal, dem Institutionen, H a n d l u n g e n und Aneignungen gemäß sein müssen, um gerecht zu sein. Es ist der Mensch, der über sich, seine 432 Walzer, Spheres of Justice, a.a.O., 9f. 433 Vgl. etwa Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford 1980 (dt. Frankfurt/M. 1981).

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Anlagen und (wenn auch bedingt) die Ergebnisse seiner Betätigungen nach Gründen entscheidet und die Fähigkeit, nach Gründen zu entscheiden, bei andern wie bei sich erkennt und achtet. Seine Freiheit ist das Maß und ihre Sicherung und Achtung das Ziel aller Politik. Genauer: die gleiche Freiheit ist dies Maß, da jeder Mensch nach dieser Idee behandelt werden muß. Dies Ideal macht Toleranz und das Verständnis abweichender Kulturen möglich, aber zugleich ein festes Urteil über die Ungerechtigkeit einer Kultur. Die Inder, die ihre Witwen verbrennen, oder die Azteken, die ihre Jugend schlachten, sind nach diesem Ideal Opfer verstehbarer, aber nicht akzeptabler Entwicklungen. Auch wenn solche Institutionen auf dem zwangfreien Konsens aller Betroffenen beruhen, sie sind nicht gerecht, solange sie nicht jedem gleiche Freiheit sichern. (Sie sichern nicht schon dadurch jedem gleiche Freiheit, daß jeder ihnen zustimmt. Die Witwe, die der Witwenverbrennung zustimmt, hat nicht die gleiche Freiheit wie Witwer und unverwitwete Frauen und Männer.) Walzer hält es dagegen für möglich zu behaupten, eine Praxis oder Institution sei so gut oder gerecht wie die andere, wenn nur alle Betroffenen ihr zustimmen oder sie untereinander entwickeln: wenn sie „work out among themselves the meaning of the goods and the appropriate mechanisms of distribution". 434 Untereinander aber können nicht alle Menschen die Bedeutung des Guten ausarbeiten, sondern nur die in kleineren Gemeinschaften: „National character, conceived as a fixed and permanent mental set, is obviously a myth; but the sharing of sensibilities and intuitions among the members of a historical community is a fact of life ... It is to these understandings that we must appeal when we make our arguments, all of us, not philosophers alone; for in matters of morality, argument is simply the appeal to common meanings. Walzer verbindet hier unter Berufung auf ein „fact of life" eine Konsensethik mit einem Kulturrelativismus und einer Binnenmoral, die einen Partikularismus des Rechts einschließt. Es fehlt nur noch die Berufung darauf, daß der Einsatz des Lebens die Werte einer Gemeinschaft den geteilten „sensibilities and intuitions of a historical community" beglaubigt, um die Übereinstimmung mit Carl Schmitt vollkommen zu machen. Seine Kritik der Welt der politischen Ökonomen als einer „world of radically deracinated men and women" 436 ebenso wie sein Preis der „communities of character, historically stable, ongoing associations of men and women with some special commitment to one another and some special sense of their common life" 437 steht dem Schmittschen Antiliberalismus nicht sehr fern. Walzers Position ist nur eine konsequente Entwicklung aus der allgemeinen kommunitaristischen Prämisse, nach der Normen nur durch den Konsens partikularer und partikular engagierter Gemeinschaften legitimiert werden können. Wenn sie die einzige Bedingung ist, wie wir vermuteten, unter der die demokratische Gleichheit verteidigt werden kann, dann kann kein Liberaler mehr die demokratische Gleichheit verteidigen wollen. Unter der kommunitaristischen Prämisse wird die demokratische Gleichheit inakzeptabel. Daher brauchen wir den Kommunitarismus nicht mehr als ein Argument für die demokratische Gleichheit zu betrachten. Der Kommunitarismus ist mit der Idee der gleichen Freiheit unvereinbar. 4 3 4 Walzer, Response, a.a.O., 287. Ich verstehe kaum, w i e der Autor des so klugen und in Gerechtigkeitsfragen s o vernünftigen Buchs: Just and Unjust Wars, 1977, zu einem relativistischen Kommunitaristen werden konnte. 435 Walzer, Spheres of Justice, a.a.O., 28f. 4 3 6 Ebd., 39. 437 Ebd., 62.

Walzers komplexe Gleichheit

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Werfen wir nur noch einen Blick auf Walzers Staatsbegriff. Die historisch gewachsenen Gemeinschaften, die „ongoing associations of men and women with some special commitment to one another and some special sense of their common life", sollen nicht etwa nur Muster freiwilliger Assoziationen sein, sondern auch moderner Staaten. Eine Konsequenz dieser Auffassung ist, daß ein Staat zwar den auswandern lassen muß, der nicht bleiben will, aber nur zulassen darf, wen die Staatsgemeinschaft selbst für geeignet hält, ihre Werte zu teilen. „Immigration and emigration are morally asymmetrical". 438 Walzer hat zwar durchaus recht in der Behauptung, daß Aus- und Einwanderung moralisch asymmetrisch sind. Ein Staat muß sich das Recht vorbehalten, Einwanderungen zu sperren, weil seine Institutionen durch eine zu große Zahl von Einwanderern gefährdet werden können. Aber Walzer behauptet mehr, nämlich daß ein Staat die Anerkennung bestimmter partikularer Werte zur Zulassungsbedingung machen kann und muß. Eine Gemeinschaft würde nicht die Wertegemeinschaft sein, die sie sein muß, um ihren Normen Gültigkeit zu geben, wenn sie sich nicht durch ihre partikularen Werte vom Rest der Welt theoretisch und praktisch abgrenzte: „Admission and exclusion are at the core of communal independence. They suggest the deepest meaning of self-determination. Without them, there could not be communities of character ,.." 439 Daß der Staat eine C/iara&fergemeinschaft sein müsse, klingt in Deutschland nicht ganz unbekannt. Walzer verwischt den Unterschied zwischen Staat und Wertegemeinschaft. Wer eine Wertegemeinschaft will, muß sie in einer Kirche, Partei, Verbindung oder anderen freiwilligen Assoziation suchen. Der Staat hat die Aufgabe und nur die Aufgabe, auf einem mehr oder weniger großen Territorium Gerechtigkeit notfalls auch mit Zwang durchzusetzen und jedem nach seiner Fasson selig werden zu lassen, wenn er nur dem Recht gehorcht. Niemand, der auf dem Territorium eines Staats auf Dauer lebt, hat die Wahl, ihm anzugehören; er ist gezwungen, sich seinen Gesetzen zu unterwerfen. Das unterscheidet den Staat von freiwilligen Assoziationen. Aber eben weil der Staat eine Zwangsanstalt ist, darf er seine Bürger nur zu einem Minimum zwingen, und dies Minimum ist die Gerechtigkeit in (wie Kant sagt) „äußeren" Handlungen. Sie fordert nicht mehr, als niemanden in seiner gleichen Freiheit zu verletzen. Ein Immigrant, der anerkennt, daß jeder und jeder andere das Recht hat, seine Anlagen zu betätigen, bekennt sich zum Grundsatz, in dem sich alle Gerechtigkeit zusammenfassen läßt, und darf nicht von einem Staat zurückgewiesen werden, wenn die technischen und materialen Kapazitäten gegeben sind. Gerechtigkeit ist die Tugend, die Menschen gegenüber jedem Menschen einnehmen müssen, ob sie ihn lieben oder nicht. Man ist wohltätig, wenn man gut zu denen ist, die man nicht ausstehen kann oder deren Werte man nicht teilt. Man ist gerecht, wenn man ihnen nicht schadet. Man ist ungerecht, wenn man ihnen schadet, obgleich sie einem nicht geschadet haben oder schaden. Schließt man Immigranten aus, die dem Gerechtigkeitsprinzip folgen, so schadet man ihnen und ist ungerecht. Die Gerechtigkeit kann in verschiedenen Staaten verschiedene Formen annehmen, weil, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, der Gebrauch natürlicher Ressourcen in verschiedenen Ländern je nach Art der Ressourcen und den einmal begonnenen Wegen ihres Gebrauchs verschiedenen Regeln unterworfen werden kann. Diese Verschiedenheit folgt aber nur dem allgemeineren Prinzip, daß das Recht überall jedem die gleiche Gelegenheit geben 438 Ebd., 40. 439 Ebd., 62.

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Wie universal können Verteilungsprinzipien sein?

muß, sich und seine Anlagen zu betätigen, und niemanden Regeln unterwerfen darf, die ihn in dieser Betätigung einschränken. Wertegemeinschaften tun eben dies, weil sie der Betätigung ein materiales Ziel setzen. Der Staat darf daher nicht mit einer freiwilligen Assoziation verwechselt werden; hierin sah der Liberale Kant, der den Eintritt in den „bürgerlichen Verein" für ein „Gesetz a priori" und eine erzwingbare Rechtspflicht hielt440 schärfer als der Liberale Locke, der den Eintritt als einen Vertrag dachte. Der Staat muß Gemeinschaften mit partikularen Normen in seinen Grenzen dulden und schützen, weil jeder das Recht hat, sich mit seinen Gesinnungsgenossen zusammenzutun. Aber er muß darüber wachen, daß solche partikularen Gemeinschaften freiwillige Assoziationen bleiben und jedem, insbesondere den Kindern der Mitglieder, die Möglichkeit des Austritts offenhalten. Deshalb müssen Erziehung und Schulen unter staatlicher Kontrolle stehen. Eine solche Kontrolle aber ist als unabhängige und unparteiliche, die nicht die partikularen Normen der einen Gruppe der andern auferlegt, nur möglich, wenn der Staat auf allgemeinverbindliche und kulturunabhängige Gerechtigkeitsgrundsätze zurückgreifen kann. Es ist ein sicherer Weg in die Barbarei, statt dessen auf den „fact of life" der „sensibilities and intuitions among the members of a historical community" zurückzugreifen. Der Kommunitarismus Walzers ist ein nostalgischer Rückfall in die Gemütlichkeit der geschlossenen Gesellschaft, dessen Gefahr Popper in seiner Offenen Gesellschaft und ihre Feinde441 vielleicht zu Unrecht an Piaton, Hegel und Marx, doch zu Recht als aktuell demonstrierte. Er ist auch die Weigerung, eine der härtesten gerechtigkeitsrelevanten Tatsachen anzuerkennen, vor der die politischen Philosophen seit Locke gern die Augen verschlossen hat, die Abhängigkeit aller Menschen von den natürlichen Ressourcen der Erde, die alle gleichermaßen bei ihrer Geburt vorfinden und bei Voraussetzung des Ideals der gleichen Freiheit als Gemeineigentum aller in die Welt geborenen Menschen anerkennen müssen. Die Angewiesenheit aller auf diese Güter schließt von vornherein partikulare Normen der Verteilungsgerechtigkeit aus. Denn alle müssen sich in sie teilen, und wenn sie ihre Aufteilung nicht auf Gewalt, List oder Zufall gründen wollen, müssen sie universal verbindliche Teilungsregeln finden. Der Kommunitarismus läßt ihnen keinen Raum und disqualifiziert sich damit als Theorie der Gerechtigkeit. Die Prinzipien einer internationalen Verteilungsgerechtigkeit dürfen in einer politischen Theorie nicht ausgespart bleiben, weil die internationalen Verhältnisse schon seit langem auch die nationalen Verhältnisse bestimmen. „Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden", wie Kant sagte.442 Er dachte dabei an die Kriege, die jeden Staat bedrohen. Das ist auch heute ein wichtiger Grund, die Prinzipien der internationalen Gerechtigkeit zu klären, aber nicht weniger wichtig und oft genug eine Kriegsursache ist der Streit um natürliche Ressourcen. Zudem stellen internationale Verhältnisse einen Test für Prinzipien dar, die auf nationaler Ebene überzeugen. Wir müssen daher einen Blick auf sie werfen und zusehen, wie sich dort die Idee der gleichen Freiheit bewährt, möglichst in der Version der liberalen Gleichheit, da sie die Schwächen 4 4 0 Kant, Metaphysik der Sitten, § § 4 1 und 44. 441 Popper, Die offene Gesellschaft, a.a.O. 4 4 2 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 7. Satz, a.a.O.,. Wie wichtig Kant dieer Gedanke war und w i e mühsam und inkonsequent er die Forderung nach einen Weltstaat durch die Forderung nach eine Staatenbund abwehrte, dazu Steinvorth, Kants Staatsbegriffe. In G. Landwehr, ed., Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants, Göttingen 1999.

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der libertaristischen natürlichen Freiheit und der rawlsianischen demokratischen Gleichheit vermeiden könnte.

2. Nationale und internationale Verteilungsgerechtigkeit Gemeineigentum in der liberalen Tradition Die Idee der gleichen Freiheit ist wie alle Aufklärungsideen universal: sie spricht den Menschen aller Kulturen und Traditionen dieselben erzwingbaren Rechte und Pflichten zu, auch dieselben Rechte und Pflichten in Aneignung, Gebrauch und Verteilung von Gütern, welche die Eigentumsprinzipien ausmachen. Sie sind im traditionellen Liberalismus von Locke und Kant für das Recht und allgemeiner das menschliche Handeln so zentral, daß sie noch vor den Prinzipien des Staats erörtert werden. 443 In der Tat sind die Eigentumsprinzipien grundlegend für alle weiteren Normen, weil Menschen ohne Staaten und ohne Moralität leben könnten, aber nicht ohne Güteraneignung und -gebrauch. Auch Hegel behandelt in Übereinstimmung mit dieser Tradition das abstrakte Recht, das Eigentumsprinzipien entwickelt, vor der Moralität und der Sittlichkeit, in welcher der Staat seinen Ort findet.444 Innerhalb der Eigentumsprinzipien sind die der Aneignung nicht produzierter, vorgefundener Naturgüter fundamental, weil ohne solches Manna die Menschen weder existieren noch irgend etwas produzieren könnten. Sie bilden zusammen mit der menschlichen Natur, den den Individuen angeborenen Naturgütern, die Naturbasis aller Produktion. Man kann daher erwarten, daß eine normative Eigentumstheorie mit den Prinzipien der Aneignung von Naturgütern beginnt, und diese Erwartung ist durch die vorangegangene Diskussion der fünf liberalen politischen Philosophen zwar enttäuscht, aber gerade dadurch bekräftigt worden. Denn einerseits behandelten Rawls und seine Nachfolger alle Güter wie vorgefundene Naturgüter, auf die kein Individuum ein ursprüngliches und andere ausschließende Aneignungsrecht haben könnte, anderseits leugnete Nozick nicht nur die praktische Relevanz der Kategorie natürlicher Güter, sondern unterließ es bewußt, Aneignungsprinzipien zu formulieren. Die Nichtunterscheidung zwischen vorgefundenen und erarbeiteten Gütern erwies sich aber als der gemeinsame Fehler beider Flügel der heutigen liberalen politischen Philosophie. Obgleich die Verteilungsgerechtigkeit ihren zentralen Gegenstand ausmacht, versagt sie in der genauen Bestimmung der Grundlagen aller Verteilung, der Güteraneignung. John Locke beginnt dagegen seine Erörterung der Eigentumsprinzipien genau mit dem, was die gegenwärtige Diskussion entbehrt, nämlich den Prinzipien der Aneignung der äußeren Naturgüter, der angeborenen Naturgüter und der Produkte menschlicher Arbeit, und bestimmt diese Prinzipien so, wie man es auf der Grundlage der Idee der gleichen Freiheit tun muß. Die äußeren Naturgüter, „the Earth, and all inferior Creatures" oder „the Earth, and all that is therein" oder einfach „the World" 445 , sind Gemeineigentum aller Menschen aller Generationen, auch der künftigen; die angeborenen Naturgüter, die „own Person", sind ursprüngliches 443 Locke behandelt die Eigentumsprinzipien im 2nd Treatise of Government als Regeln des Naturzustands vor der Political, or Civil Society und ihrem Beginning, ihren Ends und Forms. Kant läßt in einer Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten auf das die Eigentumsprinzipien entwickelnde Privatrecht das die Staatsprinzipien entwickelnde öffentliche Recht folgen. 4 4 4 In seiner Rechtsphilosophie. 445 Locke, 2 nd Treatise of Government, a.a.O., §§ 2 5 - 2 7 .

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Privateigentum der Person; die „Labour of his Body, and the Work of his Hands", sind Privateigentum des Produzierenden, aber kein ursprüngliches, sondern eins, das nur durch seine Arbeit als eine ihm ursprünglich angehörende Kraft erworben wird. 446 Locke wird oft so verstanden, als lasse er das Gemeineigentum im privaten aufgehen, da er den Arbeitenden nicht nur den Wert seiner Arbeit als sein Privateigentum aneignen läßt, sondern auch den des Naturguts, dem die Arbeit des Produzenten einen Wert hinzufügt. Doch sahen wir schon, daß er dies nur wegen dessen angenommener Geringfügigkeit tut und demgemäß an der Legitimitätsbedingung der privaten Aneignung festhält, sie dürfe niemanden benachteiligen. Erkennt man an, daß die Naturgüter heute nicht von vernachlässigbar geringem Wert sind, so muß man die Verteilungsgerechtigkeit auf die Unterscheidung von Gemein- und Privateigentum gründen. Die Knappheit des Lands, das Fehlen eines Amerika mit brach liegenden oder nur dünn besiedelten Ländern zwingt in der Tat zur Anerkennung der Wichtigkeit des Gemeineigentums. Dessen Anerkennung aber zwingt dazu, die traditionelle Auffassung des Rechts der Staaten auf Aneignung der Naturgüter ihrer Territorien zu überprüfen. Denn wenn Naturgüter Gemeineigentum aller Menschen sind, können Staaten an ihren Territorien kein Privateigentum haben. Äußere Naturgüter als Gemeineigentum und angeborene Güter und erarbeitete Werte als Privateigentum anzuerkennen verlangt die Idee der gleichen Freiheit. Denn wären die vorgefundenen äußeren Naturgüter nicht Gemeineigentum, so hätten einige ein Vorrecht in ihrer Aneignung und würden die Gleichheit des Handlungsspielraums verletzen, die die gleiche Freiheit verlangt. Dies Argument macht deutlich, daß äußere Naturgüter nicht notwendig gemeinsam gebraucht werden, sondern jedem gleich zugänglich sein müssen. Ebenso zwingend müssen nach der gleichen Freiheit angeborene Naturgüter, nämlich der eigene Körper und seine Anlagen, ursprüngliches Privateigentum sein: Ohne sie gäbe es kein Subjekt der Freiheit; sie machen das Selbst aus, dessen Selbstbestimmung oder Verfügung über sich selbst die Freiheit ist, welche die Idee der gleichen Freiheit verlangt. Ohne sie wäre die Grundidee nicht denkbar, in deren Explikation alle liberalen politischen Philosophien bestehen: daß jeder über sich und das Seine und nur darüber verfügen darf; daß jeder, wie Kant es nennt, „Eigner seiner selbst" ist. 447 Erarbeitete Werte schließlich müssen erworbenes Privateigentum sein, weil sie das Ergebnis der Betätigung des ursprünglichen Privateigentums sind. Wie man ein schädliches Ergebnis meiner Betätigung meiner Anlagen mir als dem Urheber zuschreibt und mich für die Wiedergutmachung des Schadens aufkommen läßt, so muß man auch ein nützliches Ergebnis meiner Betätigung meiner Anlagen mir als dem Urheber zuschreiben und mir den Nutzen zukommen lassen. Äußere Naturgüter als Gemeineigentum anzuerkennen sagt noch wenig darüber, wie sie als Gemeineigentum geltend zu machen sind. Könnte ihr Wert objektiv gemessen werden, so könnte man jedem seinen zustehenden Wertanteil zuteilen. Aber wir sahen schon bei der Erörterung von Steiner, daß die Wertmessung bei Naturgütem auf Schwierigkeiten stößt. Sie sind von doppelter Art. Erstens läßt sich zwar der Wert reiner Naturgüter, etwa von Erdöl unter einer Wüstenfläche oder von Manganknollen auf dem Meeresgrund, durch eine Versteigerung der Abbaurechte ermitteln. Aber der so ermittelte Wert zeigt nur an, wie knapp oder von welchem Wert solche Güter für die aktuellen Marktteilnehmer sind, nicht welchen

446 Ebd., §27. 447 Kant, Über den Gemeinspruch, a.a.O., 379.

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Wert sie für die künftigen Generationen oder auch für die lebenden Individuen haben, die wegen ihrer Armut vom Markt ausgeschlossen sind. Naturgüter können auf dem Markt unter-, sie können aber auch überbewertet werden, wenn Marktteilnehmer spekulativ auf stärkere künftige Nachfrage setzen. Der Markt kann nur anzeigen, was ein Gut den Marktteilnehmern wert ist; äußere Naturgüter gehören aber Gemeineigentümern, die gar nicht auf demselben Markt zusammen kommen können. Steiner hatte daher recht, den Wert der Naturgüter in seiner ersten Behandlung des Problems nicht durch den Markt bestimmen zu lassen. Das zweite und gewichtigere Problem ist, daß die meisten natürlichen Ressourcen nicht in reiner, sondern in bearbeiteter Form gegeben sind. Das meiste Land auf der Erde ist von dieser Art, aber es ist wiederum gesättigt von sehr verschiedener und von mehr oder weniger Arbeit und von der Arbeit von mehr oder weniger Generationen. Das Land und andere Naturgüter sind erstens Produktionsmittel, in die mehr oder weniger Arbeit eingegangen ist. Manche Länder und Gewässer waren natürliche Weidegründe oder der Lebensraum menschenernährender Tiere, in die keine Arbeit einging; andere gaben ohne viel Bearbeitung reiche Ernten; andere mußten erst bewässert, gerodet, trockengelegt oder eingedeicht werden. In fast alle Naturgüter, die nachwachsen, ist menschliche Arbeit eingegangen: in die Haustiere, die durch Züchtung ein Vielfaches an Milch, Fleisch, Eier, Wolle geben wie ihre wilden Vorfahren; in die Nutzpflanzen; in die meisten Wälder Europas. Der Wert des Landes kann ferner von seiner Nähe zu einem Handelszentrum oder Produktionsplatz abhängen. Es hätte keinen Wert ohne seine natürliche Lage, aber es hätte auch nicht den Wert, den es hat, und manchmal wäre es vermutlich so gut wie nichts wert, gäbe es nicht auch besondere Arten menschlicher Arbeit. Wie soll man in all diesen Fällen den Wert des reinen Naturguts von dem der Arbeit unterscheiden, die in sie eingegangen ist? Land hat zweitens Wert nicht nur als Produktionsmittel, sondern auch als Gegenstand der Konsumtion oder des Genusses, als der es auch wieder in die Produktion eingehen kann. Auch dann sind oft genug Natur und Arbeit eine feste Verbindung eingegangen. Gärten und Parks sind bearbeitetes Land, dessen Wert zugleich seiner natürlichen Beschaffenheit und Lage und der empfangenen Arbeit entspringt. Wohnlagen beziehen ihren Wert oft aus natürlichen Umständen, etwa einer schönen Aussicht auf Wasser oder Berge, und zugleich aus ihrer Nähe zu Orten, die erst durch Arbeit geschaffen wurden, wie Handels- oder Arbeitsstätten. Auch hier scheint eine Quantifizierung der Wertanteile von Natur und Arbeit unmöglich. Ein weiteres Bemessungsproblem von wachsendem Gewicht besteht in der Veranschlagung der Kosten, die zur Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen notwendig sind. Luft, Wasser und Land müssen von den Belastungen der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion entsorgt werden. Wir haben hier mit den natürlichen Ressourcen unter einem dritten Aspekt zu tun. Sie werden hier nicht mehr betrachtet als Gegenstände, in die Arbeit von einer schwer zu bemessenden Wertgröße eingegangen ist, sondern als Gegenstände, für die Arbeit erst aufzuwenden ist, und zwar aus Rechtspflichten, deren Erfüllung die Lebenden einander und den nachfolgenden Generationen schulden. Das Bemessungsproblem ist hier von anderer Art als in den beiden erstgenannten Fällen. Es geht nicht mehr um die Bestimmung der Wertanteile von Natur und Arbeit in den schon gegebenen, produzierten Gütern, sondern um die Bestimmung des Aufwands an Arbeit und verfügbaren Ressourcen, natürlichen und erarbeiteten, der zur Erhaltung des menschlichen Lebens aus Gründen der Gerechtigkeit notwendig ist. Im Unterschied zu den beiden ersten Bemessungsproblemen stehen wir hier aber vor einer lösbaren Aufgabe, und ihre Lösung wird uns auch zeigen, welche Konsequenzen aus der

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Tatsache zu ziehen sind, daß Natur und Arbeit in den meisten Gütern eine schwer in ihren Anteilen zu berechnende Verbindung eingegangen sind. Der Aufwand zur Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen muß so groß sein, daß jede Generation Lebensbedingungen vorfindet, die denen der vorausgehenden vergleichbar sind. Diese Lebensbedingungen können nur der Idee nach die natürlichen sein. Denn gerade dadurch, daß eine Generation dafür sorgt, daß die folgende Generation gleichwertige Lebensbedingungen vorfindet, verwandelt sie die natürlichen Bedingungen in erarbeitete. Nur die allererste menschliche Generation fand als Naturbasis ihrer Existenz reine natürliche Lebensbedingungen vor; für jede folgende verwandelte sich die ursprünglich reine Naturbasis in eine kultiviertere, wenn auch jede Generation einige neue reine Naturgüter entdeckte. Die ursprünglich rein natürliche, aber zunehmend kultivierte Existenzbasis konnte jede Generation der nächsten nur dadurch erhalten, daß sie sie kultivierte. Sie war Gemeineigentum; daher schuldete die erste Generation der folgenden ihre Erhaltung durch Kultivierung. Sie kann trotz ihrer Kultivierung nicht aufhören, Gemeineigentum zu sein; denn ihr Grundstock ist die ursprünglich reine Naturbasis. Aber die in sie eingegangene Arbeit kann nicht außer Betracht bleiben. Die ursprünglich rein natürliche, aber zunehmend bearbeitete Naturbasis der menschlichen Existenz muß deshalb als gemischte Ressource gelten, in der Natur und Arbeit verflochten sind. Gemischte Ressourcen müssen als Gemeineigentum behandelt werden, weil ihr Grundstock Gemeineigentum ist, und zugleich als Produkt der Arbeit von Generationen und Kulturen und daher als deren kollektives Privateigentum. Wegen der engen Verflechtung von Natur und Arbeit in den gemischten Ressourcen kann das nur so geschehen, daß eine Generation der nächsten die gemischten Ressourcen gleichwertig in dem Sinn hinterläßt, daß die nächste Generation dieselben Chancen im Gebrauch ihrer Fähigkeiten hat wie die vorausgehende. Das unterwirft jede Generation erzwingbaren Pflichten im Gebrauch gemischter Ressourcen, denen sie im Gebrauch reinen Privateigentums nicht unterworfen ist, ohne die Berücksichtigung des Wertanteils der in sie eingegangenen Arbeit auszuschließen. Die Existenzbasis der Menschheit ist Gemeineigentum, soweit sie das Erbe der ursprünglich rein natürlichen Existenzbasis ist. Deshalb wurde das Gemeineigentum der Naturgüter traditionell das Erbe des Menschengeschlechts genannt, und so nennt es auch Locke: „the inheritance of the whole of mankind: universae stirpis humanae haereditas ".44S Dies Erbe mußte wie jedes Erbe bearbeitet werden, um erhalten zu bleiben. Daher ist sein Eigentumsstatus nicht reines Gemeineigentum, sondern eine gemischte Ressource, gemischt aus Natur und der Arbeit von Generationen in der Erhaltung ehemals natürlicher Ressourcen wie fruchtbaren Landes oder zähmbarer Tiere. Es ist Gemeineigentum, weil die gemischten Ressourcen eine Naturbasis haben, die durch die Kette der Generationen der Gegenwart überliefert wurde, aber auch kollektives Privateigentum der Generationen und ihrer Nachkommen, die die Naturbasis kultiviert haben, um sie zu erhalten. Da die Natur- und Arbeitsanteile an ihnen nicht entflochten werden können, muß für die Verfügung über sie ein Weg gefunden werden, der dieser Mischung gerecht wird. Ein solcher Weg findet sich, wenn wir überlegen, zu welchen Aufgaben jede Generation verpflichtet ist, um die Naturbasis in den gemischten Ressourcen einerseits der folgenden Generation gleichwertig zu hinterlassen, anderseits den Individuen der lebenden Generationen gleich zugänglich zu machen. Zu den gemischten Ressourcen gehören aber nicht nur die äußeren Naturgüter in ihrer

448 Locke, Essays on the Law of Nature, a.a.O., 211.

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bearbeiten Form. Das wird deutlich, wenn wir überlegen, was eine Generation verpflichtet ist zu tun, um der nächsten das Erbe einer gleichwertigen Naturbasis zu hinterlassen. Wie groß oder von welcher Art muß der Aufwand für diese Ziele sein? Beginnen wir mit den Ausgaben, die zur Erhaltung einer gleichwertigen Naturbasis für die folgende Generation rechtlich erzwingbar sind. Zu ihnen gehören die Kosten für die Regeneration und den Ersatz natürlicher oder ursprünglich natürlicher Ressourcen. Erstens werden Pflanzen, Wälder, Tiere, die Erde, das Wasser, die Luft und andere Güter von einer Generation verbraucht, vernutzt und belastet, können aber mit Hilfe menschlicher Arbeit regenerieren. Zweitens werden Güter verbraucht, die nicht nachwachsen, aber zur Aufrechterhaltung des gegebenen menschlichen Lebens notwendig sind. Sie müssen durch Kunstprodukte oder regenerierbare Güter ersetzt werden. Es ist oft schwer zu entscheiden, was zu tun ist, um der folgenden Generation gleichwertige materiale Lebensbedingungen zu sichern. Wieviel Forschungsausgaben sind notwendig, um den folgenden Generationen Alternativen zu den nicht regenerierbaren Energieressourcen zu sichern? Wie stark muß der Energieverbrauch heute eingeschränkt werden, um die Energiekosten der Zukunft erträglich zu halten? Welche Energieformen belasten die Um- und Nachwelt am wenigsten? Wie sind die Kosten solcher Aufwendungen zu finanzieren? Diese und viele weitere Fragen lassen sich nicht immer ohne Willkür beantworten, weil die Informationsbasis nicht immer ausreicht. Aber drei wichtige normative Regeln der Verteilungsgerechtigkeit lassen sich aus der Idee des Gemeineigentums entwickeln. Sie geben dem gleichen Recht der Generationen auf gleichen Zugang zum Gemeineigentum an Naturgütern Sinn und Anwendbarkeit. Die erste Regel ist: Eine Generation muß der nächsten nicht nur die natürlichen, sondern auch die gemischten Ressourcen gleichwertig hinterlassen. Eine Generation muß der nächsten nicht nur die von ihr selbst vorgefundenen reinen Naturgüter gleichwertig hinterlassen, sondern auch das Erbe ihrer natürlichen Existenzbasis, das ihr selbst hinterlassen wurde. Die Forderung, der folgenden Generation die gleichen natürlichen Ressourcen zu hinterlassen, kann nur als Aufgabe verwirklicht werden, ihr natürliche und gemischte Ressourcen zu hinterlassen, die insgesamt den gleichen Wert haben wie die von ihr selbst vorgefundenen natürlichen und gemischten Ressourcen. Auch die Gleichwertigkeit der gemischten Ressourcen kann nicht an ihren Marktpreisen, sondern nur daran gemessen werden, ob sie der einen Generation gleiche Lebensmöglichkeiten bietet wie der andern. Eine zweite Regel zur Bemessung der Ausgaben, zu denen eine Generation verpflichtet ist, um der nächsten gleichwertige Lebensbedingungen zu hinterlassen, ergibt sich aus folgender Überlegung. Eine Generation hinterläßt der nächsten nicht schon dann gleichwertige Lebensbedingungen, wenn sie ihr gleichwertige gemischte Ressourcen hinterläßt. Die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen hängt außer von den materialen Ressourcen von kulturellen Ressourcen ab. Die Natur, die die erste Generation vorfand, war nicht nur eine materiale Bedingung des Lebens der ersten Menschen. Zu dieser Natur gehörte auch die Natur der Menschen selbst, die sie befähigte, von der Natur außer ihnen produktiv Gebrauch zu machen, und dazu waren sie nur durch eine gemeinsame Sprache, geteilte Kenntnisse und andere Kooperationsbedingungen fähig. Diese Seite der menschlichen Natur, ihre Fähigkeit zu Verständigung, Zusammenarbeit und geteiltem Genuß, ist eine Natur, die nur durch ständige Kultivierung oder als Kultur der folgenden Generation hinterlassen werden kann. Die vernachlässig- und kultivierbare menschliche Natur setzt zwar angeborene Naturgüter voraus, fällt aber nicht mit ihnen zusammen. Sie ist vielmehr die Gesamtheit der ursprünglich natürlichen und zunehmend kulturellen Bedingungen, durch die Menschen befähigt werden, ihre

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angeborenen Anlagen in Zusammenarbeit mit anderen zu gebrauchen und zu genießen. Die Kultur gehört wie die äußeren Naturgüter zum Menschheitserbe. Aber sie ist wie die gemischten materialen Ressourcen kein Gemeineigentum der Menschheit, sondern eine gemischte Ressource, weil in sie nicht nur die ursprüngliche menschliche Natur eingegangen ist, sondern die bestimmte Arbeit und Erfindung nicht der Menschheit insgesamt, sondern bestimmter Gruppen, die eine der Kulturen tragen, in welche die Menschheit zerfällt. Eine Kultur kann ihren Trägern nur durch ständige Kultivierung oder Erziehung der folgenden Generation erhalten bleiben. Die zweite normative Regel lautet daher: Eine Generation muß die nächste so großziehen, daß sie von ihrer Kultur ebenso gut Gebrauch machen kann wie die frühere. Sie verlangt von jeder Generation zu sichern, nicht nur daß die folgende die Kultur vorfindet, die sie selbst vorgefunden hat, sondern daß sie sie ebenso gebrauchen und entwickeln kann. Dazu muß sie physisch oder in ihrer körperlichen Gesundheit, psychisch und intellektuell der vorangehenden Generation gleichwertig aufwachsen. Da diese Sicherung eine Rechtspflicht ist, muß sie der Staat als Institution der Durchsetzung von Gerechtigkeit durchsetzen und die für sie erforderlichen Finanzen eintreiben. Die Erhaltung der Gesundheitsbedingungen, der psychischen Stabilität und intellektuellen Aktivität der Individuen der folgenden Generationen sind daher Staatsaufgaben. Die Erhaltung der Gesundheitsbedingungen besteht nicht in der unmittelbaren Gesundheitsfürsorge, sondern in der Sicherung der Lebensverhältnisse, in denen jeder ohne übermäßige Anstrengung selbst für seine Gesundheit sorgen kann. Zu ihr gehören die schon genannten ökologischen Aufgaben ebenso wie die Garantie eines Krankheits- und Unfallversicherungsschutzes für jeden, Schutz vor Seuchen und Drogenkonsum und die Durchsetzung hygienischer Standards. Für die psychische Stabilität ist die Sicherung angemessener Familien- und Erziehungsbedingungen eine Staatsaufgabe; für die intellektuelle Aktivität die Sicherung guter Schulen und Universitäten. Zur Sicherung des Gemeineigentums der menschlichen Natur gehört als Staatsaufgabe auch die Aufsicht über die Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, des Internet und der Videoindustrie. Denn diese können durch die leichte Eingänglichkeit ihrer Bildersprache die Entwicklung psychischer und intellektueller Fähigkeiten erschweren oder verhindern. Kulturgüter sind gemischte Ressourcen und daher nicht notwendig Gemeineigentum aller Menschen, sondern kollektives Privateigentum einer Kultur. Die Abgrenzung von Kulturen wird aber in dem Maß schwierig, wie Kulturen aufeinander wirken, verschmelzen und heute vor allem durch die Rolle der Staaten einerseits national oder Staatsinstitutionen, anderseits durch die Kooperation der Staaten und der Individuen auf Weltebene übernational geworden sind. Hinzu kommt, daß viele Kulturleistungen keiner bestimmten Kultur als deren kollektives Eigentum zugeschrieben werden können, nicht nur weil wir oft nicht wissen, wo sie erfunden wurden, sondern weil sie so lange in Gebrauch sind, daß ihre Erfindung durch andere Kulturen unterstellt werden kann. Auf eigene Erfindungen können Kulturen wie Individuen nur für eine vorübergehende Zeit einen legitimen Anspruch auf privilegierten Gebrauch erheben. Wie lang diese Zeit sein muß, ist eine schwierige Frage, die hier nicht erörtert werden kann. Die dritte Regel zur Bemessung der Rechtspflichten einer Generation gegen die nächste ist: Für die Kosten der Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen der künftigen Generationen müssen soweit identifizierbar die Personen und Institutionen aufkommen, die sie gefährden, andernfalls alle Individuen im Verhältnis zu ihrem Einkommen. Die Individuen, Firmen und Nationen, die regenerierbare knappe Ressourcen vernutzen, die Umwelt

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belasten und den Bestand einer Kultur gefährden, müssen die Kosten der Ressourcenregeneration, der Umweltentsorgung und aller Mittel tragen, die zur Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen erforderlich sind. Nicht für alle Beeinträchtigungen der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen der folgenden Generation lassen sich Individuen oder Gruppen verantwortlich machen, und nicht immer lassen sich die, die verantwortlich sind, erkennen. Für die Kosten der dennoch erforderlichen Sicherungen müssen alle Individuen aufkommen, und zwar im Verhältnis zu ihrem Einkommen. Denn je reicher jemand ist, desto mehr macht er vom Gemeineigentum Gebrauch. Desto größer ist auch seine Pflicht, das Menschheitserbe zu erhalten. Wir haben soweit eine Skizze der Rechtspflichten, der folgenden Generation gleichwertige Lebensbedingungen zu sichern. Aber das Gemeineigentum verlangt auch, jedem Individuum der lebenden Generationen gleichen Zugang zu ihm zu sichern. Nicht nur aus der Folge der Generationen muß jede Generation gleichen Gebrauch machen können von den Ressourcen, welche die erste als natürliche vorfand und den folgenden kultiviert hinterlassen muß, um sie gleichwertig weiterzugeben. Auch innerhalb jeder Generation muß jedes Individuum vom gemeinsamen Erbe der Menschheit gleichen Gebrauch machen können. Das heißt nicht, daß es ein gleiches Recht auf Verfügung über die gemischten Ressourcen hat. Jede Generation hat gegen die vorausgehende ein gleiches Recht auf Verfügung über die gemischten Ressourcen, weil jede Generation ein gleiches Recht auf den Gebrauch des Menschheitserbes hat. Aber deswegen hat nicht jedes Individuum innerhalb einer Generation gegen jedes andere Individuum ein gleiches Recht auf den Gebrauch der gemischten Ressourcen. Es kann vielmehr (die Legitimität von Vererbungen einmal vorausgesetzt) durch Hinterlassenschaften von Individuen oder Gruppen der vorangehenden Generation und durch seine eigene Arbeit im Zugang zu den gemischten Ressourcen begünstigt sein. Das gleiche Recht auf Gebrauch gemischter Ressourcen würde das Recht auf Aneignung der Ergebnisse der eigenen Arbeit verletzen. Generationen haben untereinander ein gleiches Recht auf Gebrauch gemischter Ressourcen, unter den lebenden Individuen aber vermittelt es sich nur durch ein gleiches Recht auf Aneignung der eigenen Arbeitsergebnisse. Die Gerechtigkeit der Aneignung durch die eigene Arbeit bemißt sich daran, daß ein Individuum seine Anlagen ebenso ungehindert gebrauchen kann wie jedes andere. Dazu müssen die Bedingungen der liberalen Gleichheit erfüllt sein. Erstens muß es ebenso leicht wie jedes andere einen Gegenstand finden, an dem es seine Anlagen betätigen kann; man kann sich nicht betätigen, ohne einen Gegenstand zu haben, den man bearbeitet. Zweitens muß es seine Anlagen ebensogut ausbilden können wie jedes andere. Drittens muß es vor den Kontingenzen unverschuldeten Unglücks, das die Betätigung seiner Anlagen behindert, ebensogut geschützt sein wie jedes andere. Die erste Bedingung verlangt, daß jeder Arbeitswillige einen Arbeitsplatz finden kann; die zweite ein Schul- und Erziehungssystem, das jedem zugänglich ist; die dritte ein Versicherungssystem, dessen bloße Möglichkeit naturbedingtes Unglück in zurechenbares menschengemachtes verwandelt. Es gibt daher nicht nur Rechte der künftigen Generationen gegen die lebenden auf Erhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen; es gibt auch Rechte der lebenden Individuen gegeneinander (normalerweise der aufwachsenden gegen die erwachsenen) auf Arbeit, auf Erziehung und auf Versicherungsschutz, die staatlich erzwingbare Pflichten erzeugen. Diese Rechte entspringen nicht der Bedürftigkeit, auch nicht daraus, daß sie unverschuldete Benachteiligungen kompensieren, sondern allein aus dem Status der Individuen, Gemeineigentümer an gemischten Ressourcen zu sein. Die Ausgaben für Arbeit, Erziehung

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und Versicherungsschutz, zu denen diese sozialen Rechte berechtigen, können daher nicht höher sein als die Leistungen, die zur Sicherung der Bedingungen des gleichen Zugangs zu den gemischten Ressourcen erforderlich sind. Bevor wir diesen Punkt näher betrachten, müssen wir zwei Fragen klären. Erstens, welche Konsequenzen hat die Annahme gemischter Ressourcen, die ein kollektives Privateigentum sind, das Privateigentum einer Kultur, die materiale Ressourcen über Generationen kultiviert und zu einer kaum auflösbaren Einheit von Natur und Arbeit verschmolzen hat, für den Begriff eines Staats als der Instanz der Gerechtigkeitsdurchsetzung? Zweitens, sind Vererbungen legitim? Beginnen wir mit dieser zweiten Frage. Sind Erbschaften Gemeineigentum, wie Steiner behauptet, so würde das gesamte Produkt der Individuen einer Generation nicht an deren Kinder oder Erben fallen, sondern an die Menschheit insgesamt. Mit jedem Generationswechsel müßten die Interessen der Menschheit gegen die Interessen der Nachkommen durchgesetzt werden. Die Entwicklung lokaler Kulturen würde dadurch zwar nicht ausgeschlossen, aber sie wäre eingeschränkt, weil über den Gebrauch der gemischten Ressourcen einer Weltgegend nicht nach lokalen Gesichtspunkten, sondern nach der Vorteilsabwägung der ganzen Menschheit oder ihrer Treuhänder zu entscheiden wäre. Gegen Steiners Annahme spricht, wie wir sahen, daß die Behandlung von Erbschaften als Gemeineigentum eine Mißachtung des Willens des Erblassers ist. In einer Vererbung verfügt ein Eigentümer mit demselben Recht der Selbstverfügung über sein Eigentum wie in einem Tausch oder einer Schenkung. Daß der Eigentumswechsel erst nach dem Tod des Verfügenden eintritt, ist entgegen Steiners Gegenthese irrelevant. Wir halten Versprechungen auch dann für bindend, wenn der, der sich zu einer Leistung verpflichtet hat, vor Eintritt der Leistung stirbt. Die vollständige Konfiszierung von Erbschaften ist daher eine Verletzung der gleichen Freiheit einer Person, über sich selbst zu verfügen. Der Wert von Erbschaften ist aber ein sicheres Indiz dafür, wie sehr der Hinterlassende Gemeineigentum oder gemischte Ressourcen verbraucht hat. Erbschaften enthalten oft nicht nur den Wert des reinen Arbeitsprodukts des Erblassers, sondern auch den der natürlichen oder gemischten Ressourcen, auf die er seine Arbeit verausgabt hat. Deshalb ist der Staat verpflichtet, sie nach ihrem mutmaßlichen Anteil an Gemeineigentum zu belasten. Die Größe dieses Anteils kann nur nach den Anforderungen bestimmt werden, die die Erfüllung der Rechtspflichten stellt, einerseits den nachfolgenden Generationen gleichwertige Lebensbedingungen zu hinterlassen, anderseits den Individuen der lebenden Generationen gleichen Zugang zum Gemeineigentum zu sichern. Diese Anforderungen stehen aber ihrerseits unter der Bedingung, den Willen des Erblassers zu achten. Dieser hat zwar natürliche oder gemischte Ressourcen verbraucht, aber er hat sie durch seine Arbeit in Werte verwandelt, an denen der Anteil der Arbeit und jener der Natur nur noch in der Weise unterschieden werden können, daß man grundsätzlich anerkennt, daß sie zwar den Anforderungen ausgesetzt werden können, die zur Erfüllung der Rechtspflichten notwendig sind, aber doch nicht zu Gemeineigentum werden. Setzt man voraus, daß die Erblasser ihr Erbe nicht der Menschheit insgesamt, sondern ihnen Nahestehenden hinterlassen wollen, so dürfen die genannten Rechtspflichten nicht ohne Rücksicht auf diesen Willen angepaßt werden. Daher spricht einiges dafür, sie in einem lokalen, nicht globalen Rahmen durchzusetzen, wenn einer solchen Entscheidung nicht gewichtige Gegengründe entgegenstehen. Zu den Erbschaften gehören Land und andere gemischte Ressourcen, die einen Teil der Erde ausmachen, und diese sind faktisch nie Gegenstand der alleinigen Verfügung ihrer

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Eigentümer gewesen, sondern unterstanden der Oberhoheit von Fürsten, Staaten oder andern Verwaltungen oder Herrschaften. Die Erblasser (von Ausnahmen abgesehen) wollen ihre Anteile an der Erde ihren Erben im Rahmen derselben Verwaltung, Herrschaft oder Besteuerung hinterlassen, unter der sie selbst lebten. Es wäre daher eine Verletzung dieses Willens, ihr Erbe einer globalen Besteuerungsinstanz zu unterwerfen. Allerdings ist diese Rücksichtnahme nur ein Gesichtspunkt. Die Erben sind frei, sich über den Willen der Erblasser hinwegzusetzen. Finden sie ausreichende Gründe für eine globale Besteuerung, so haben diese Vorrang. Finden sie sie nicht, so läßt sich eine globale Besteuerung nicht aus Gerechtigkeitsprinzipien ableiten. Konsequenzen für das Staatsverständnis Wenn natürliche Ressourcen Gemeineigentum sind, können, so scheint es, Staaten keine Souveränität über ihre Territorien beanspruchen, da diese als natürliche Ressourcen der ganzen Menschheit gehören. Müssen wir dagegen die Länder der Erde als gemischte Ressourcen betrachten, in denen die allen gehörende Natur mit der besonderen Arbeit einer Kultur verschmolzen ist, so können Staaten als Schützer des Rechts der gemischten Ressourcen einer Kultur auftreten. Sowohl die Rechte künftiger Generationen auf Lebensbedingungen, die denen der vorangehenden gleichwertig sind, als auch die Rechte der Angehörigen derselben Generation auf gleichen Zugang zu den natürlichen und gemischten Ressourcen könnten dann partikulare Staaten statt des einen globalen Weltstaats durchsetzen, dem die Aufgabe sonst zufallen müßte. Sie könnten es nicht nur; sie hätten vielmehr als Vertreter der kollektiven Privateigentümer der gemischten Ressourcen einen Rechtsanspruch darauf, dies kollektive Privateigentum zu bewahren. Wenn ein lokaler Staat besser als ein Weltstaat geeignet und darüber hinaus allein berechtigt ist, die gemischten Ressourcen einer Kultur zu sichern und die auf sie bezogenen Rechte und Pflichten durchzusetzen, dann wäre das ein hinreichender Grund, statt eines Weltstaats so viele partikulare Staaten als Gerechtigkeitsdurchsetzer anzunehmen, wie es Kulturen gibt, die ursprünglich natürliche Ressourcen in gemischte Ressourcen verwandelt haben. Eine regionale politische Institution wird die Rechte der durch eine Kultur verbundenen Bewohner einer Region besser durchsetzen können als eine globale Institution. Denn sie kann deren Vorrecht in der Ausbeutung und Erhaltung der gemischten Ressourcen einer Region besser Rechnung tragen als ein Weltstaat. Die Bürger eines regionalen oder partikularen Staats könnten sich für den Gebrauch ihres Territoriums und für ihr Zusammenleben gemäß ihrer Tradition, Kultur und Zukunftsvorstellung selbst Gesetze geben, soweit sie nicht den Rahmen der universalen Idee der gleichen Freiheit sprengen. Diese Idee verlangt zwar überall dieselben Prinzipien des Gemein- und Privateigentums, aber für Gebrauch und Verteilung der gemischten Ressourcen Regeln, die der jeweiligen Kultur angemessen sind. Die Souveränität eines solchen partikularen Staats ist auf die Souveränität jedes anderen partikularen Staats abstimmbar, weil sie sich an der einen Gerechtigkeitsidee der gleichen Freiheit orientieren. Wir haben auf diese Weise die Existenz partikularer Staaten gerechtfertigt, die vielen unserer Gerechtigkeitsintuitionen entspricht. Wir denken, daß die Bewohner etwa der Niederlande ein Vorrecht vor Bewohnern anderer Weltgegenden haben, ihr Land nach eigenen Gesetzen zu verwalten, vorausgesetzt, ihre Gesetze bleiben im Rahmen der Idee der gleichen Freiheit und sichern den Nachkommen gleichwertige Lebensbedingungen. Aber die Gründe dieser Auffassung sind nicht ohne weiteres klar. Warum soll etwa ein Mensch, der in Preßburg oder

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Mexiko geboren wurde, nicht dasselbe Recht in der Bestimmung der Gesetze der Niederlande haben wie ein Mensch aus Groningen? Wenn wir dem Groninger ein Vorrecht geben, dann offenbar, weil wir wissen, daß der Grund und Boden der Niederlande keine rein natürliche Ressource ist, auf die alle Menschen ein gleiches Recht hätten, sondern eine gemischte, in welche die Arbeit vieler vorausgegangener Generationen eingegangen ist und die nur durch eine bestimmte Kultivierung auch der menschlichen Natur die Lebensmöglichkeiten seiner jetzigen Bewohner hervorbrachte. Die vorangegangenen Generationen haben sich durch ihre Arbeit ein Vorrecht in der Verfügung über die gemischten Ressourcen der Niederlande erworben und es ihren Nachkommen hinterlassen. Die Nachkommen haben ein Vorrecht in der Verwaltung ihres Landes vor den Nachkommen aus anderen Ländern, weil sie mit der Verwaltung auch über die gemischten Ressourcen ihres Landes verfügen. Ihr Vorrecht vor dem Preßburger hört freilich auf, wenn dieser mit seiner Arbeit die gemischten Ressourcen der Niederlande (und deren Steuergelder) bereichert. Partikulare Staaten finden die Rechtfertigung ihrer Existenz nach dieser Überlegung nicht im Willen von Individuen, einen Staat ihres Geschmacks zu gründen, aber auch nicht in dem von Kant und anderen Philosophen beschworenen „Gesetz a priori", in den Rechtszustand zu treten. Das letztere ist kein Grund, einem partikularen Staat, sondern einem universalen beizutreten; das erstere kann überhaupt keinen Staat begründen, sondern nur eine freiwillige Assoziation; ein Staat kann nicht nach beliebigen, sondern nur nach Rechtsgrundsätzen eingerichtet werden. Damit ein partikularer Staat gerechtfertigt ist, genügt es nicht, daß er Rechtsgrundsätzen folgt, sie müssen auch auf die Verwaltung gemischter Ressourcen angewandt werden, die Gemeineigentum der Menschheit und zugleich privilegiertes Eigentum einer Nation, d.h. eines historisch gegebenen Staats sind. Das ist ein Grund dafür, warum Individuen kein Recht haben, einen Staat zu gründen, sondern nur ein Recht zur Sezession von einem gegebenen Staat, wenn dieser sie als Mitglieder einer Gruppe diskriminiert oder nicht die gemischten Ressourcen ihrer Gruppe respektiert.449 Die politische Philosophie insbesondere der deutschen, durch Kant und Hegel geprägten Tradition hat sich daran gewöhnt, den Existenzgrund des Staats, der immer als partikular oder national verstanden wurde, schlicht in der Durchsetzung des Rechts zu sehen. Das ist auch richtig, wenn dadurch die Auffassung abgewehrt wird, der Staat solle den Willen oder die Eigenart seiner Nation oder des Statsvolks durchsetzen. Die von Locke stärker beeinflußte angelsächsische Tradition ist eher an den Gedanken gewöhnt, der Staat sei wesentlich auf den Schutz von Eigentum ausgerichtet. Diesen Gedanken müssen wir, obgleich er als bourgeois und „possessivindividualistisch" 450 auch in den angelsächsischen Ländern verschrien ist, aufgrund der Überlegung zu den Gründen der Möglichkeit eines universalen oder mehrerer partikularer Staaten bestätigen, wenn auch nicht ganz in der Form, die er bei Locke hat. Denn die historischen partikularen Staaten haben eine moralische Notwendigkeit und Rechtfertigung nicht darin gehabt, überhaupt Recht durchzusetzen. Dies ist vielmehr in früheren Gesellschaften auch ohne die Institution des Staats geschehen, die wesentlich auf der Monopolisierung der Zwangsmittel in der Hand eines Königshauses oder einer andern 449 Vgl. dazu Allen Buchanan, Secession, Boulder/Co. 1991, und Steinvorth, Nationale Identität und Staatsidentität, in: Oswald/Steinvorth (Hg.), Die offene Gesellschaft und ihre Fremden, a.a.O. 4 5 0 C.B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, London/Oxford/New York 1962, dt. Die politische Theorie des Besitz-Individualismus, Frankfurt/M. 1967.

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Machtgruppe beruht. Locke erkannte, daß der moderne Staat zur Durchsetzung des Eigentumsrechts gebraucht wird, verstand jedoch unter dem Eigentum nur das Privateigentum. Rousseau folgte ihm in dieser Auffassung, erkannte aber wiederum, daß die Beschränkung der Aufgabe des Staats auf die Durchsetzung des Rechts auf Privateigentum den Staat nicht rechtfertigen kann, sondern ihn im Gegenteil moralisch verurteilt. Wenn wir heute fragen, ob ein universaler Staat nicht mehreren partikularen Staaten vorzuziehen ist, können wir schließlich erkennen, daß der Rechtfertigungsgrund des partikularen Staats in der Tat der ist, Eigentumsrecht durchzusetzen. Seine Rechtfertigung besteht jedoch nicht allein und nicht einmal zuerst darin, das Recht auf Privateigentum, sondern das Recht auf kollektives Eigentum durchzusetzen. Denn seine Pflicht, für eine rechtliche Verwaltung gemischter Ressourcen zu sorgen, besteht wesentlich darin, das Element des kollektiven Eigentums in den gemischten Ressourcen vor den Übergriffen der individuellen Privateigentümer zu sichern. Gewiß hat der moderne Staat allgemein die Pflicht, das Recht auf allen Gebieten des menschlichen Lebens durchzusetzen. Er kann in jedem Fall das Recht des kollektiven Privateigentums gar nicht durchsetzen, ohne das Recht überhaupt durchzusetzen. Aber es bedürfte nicht der Institution des modernen Staats, wenn die Entwicklung und Expansion des Privateigentums nicht auch das Rechtsbedürfnis geschaffen hätte, das kollektive Eigentum zu schützen. Dies Bedürfnis entwickelte sich zusammen mit dem, das individuelle Privateigentum zu schützen, in den partikularen westeuropäischen Gesellschaften, in denen das individuelle Privateigentum expandierte. Ohne die Aufgabe, auch das kollektive Eigentum zu schützen, hätten diese Staaten nicht die Anerkennung finden können, die sie fanden. Zum Schutz des Allgemeinwohls, den der moderne Staat als seine Aufgabe verkündete, gehörte auch die Pflege der Ressourcen, die als nationales Eigentum galten. Ein solcher Schutz lag und liegt bis heute auch im Interesse des Privateigentums. Die Ausschöpfung und Entdeckung nationaler Ressourcen von der Suche nach Rohstoffen über den Bau von Verkehrswegen und Militäranlagen bis zur Förderung der Chemie im Interesse der Bodendüngung und zur Förderung von Wissenschaft und Erziehung im allgemeinen galten und gelten den politischen Philosophen ebenso wie den Nationalökonomen als die infrastrukturellen Bedingungen des erfolgreichen Gebrauchs von Privateigentum. Die Römer verstanden den Staat als das, was alle angeht, als die res publica; die Modernen verstehen das, was alle angeht, zuerst als die ökonomisch ausbeutbaren Güter, die allen gehören, und den Staat als ihren Treuhandverwalter. Diese unterschiedlichen Vorstellungen verbindet eine Gemeinsamkeit: was alle angeht, ist für die Römer wie für die Modernen das Recht, das der Staat durchzusetzen hat. Daß in der Durchsetzung des Rechts in der Moderne der Eigentumsschutz eine herausragende Rolle spielt, gründet in der herausragenden Rolle des individuellen (nichtnationalen) Privateigentums in der modernen Gesellschaft. Diese Rolle konnte das individuelle Privateigentum bei Strafe des Auseinanderfallens der Gesellschaften nur spielen, wenn zugleich das kollektive (nationale) Eigentum als Rechts- und Staatsaufgabe wahrgenommen wurde. Es ist daher nur die halbe Wahrheit, den modernen Staat als Schützer des (individuellen) Privateigentums zu kennzeichnen. Er galt ebenso und sogar primär, weil der Schutz des kollektiven Eigentums als Voraussetzung für den Gebrauch von Privateigentum verstanden wurde, als Schützer des Gemeineigentums. Daß Schutz und Pflege des kollektiven Eigentums im Verständnis der frühen neuzeitlichen politischen Philosophen für den Staat ebenso konstitutiv waren wie der Schutz des Privateigentums, zeigt sich schon in der Begriffsbildung. Im Titel und durchgehend im Text seines Leviathan nennt Hobbes den Staat gemeinsamen Reichtum oder Gemeinwohl:

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Common-wealth,451 Zwar betont auch Hobbes nicht weniger als liberalere Theoretiker wie Locke das Ziel der individuellen Interessenförderung in der Staatsgründung: „The finali Cause, End, or Designe of men, (who naturally love Liberty, and Dominion over others,) in the introduction of that restraint upon themselves, (in which wee see them live in Commonwealths,) is the foresight of their own preservation, and of a more contented life thereby." 452 Zugleich aber betont er als „the Essence of the Common-wealth", daß es dem Souverän die Gewalt über die Untertanen gebe „to forme the wills of them all, to Peace at home, and mutuali ayd against their enemies abroad." 453 Die Gewalt des Souveräns gründet nur formal in seiner Autorisierung durch den Willen der Untertanen im Gesellschaftsvertrag. Inhaltlich gründet sie in der Notwendigkeit, das ihr Privatinteresse verfolgende Handeln der Individuen an die Sicherung ihrer Voraussetzung, des kollektiven Eigentums, zu binden. Deshalb stößt zwar die Formung der individuellen zu einem gemeinsamen Willen bei Hobbes wie bei Locke auf die Schranke des Privateigentums; auf die „Liberty to buy, and sell, and otherwise contract with one another; to choose their own aboad, their own diet, their own trade of life, and institute their children as they themselves think fit; & the like." 454 Aber der absoluten Freiheit des Privateigentums steht die absolute Gewalt des Souveräns als Anwalt des kollektiven Eigentums gegenüber: die private Verfügung über Land bleibt immer an die Zustimmung des Souveräns gebunden. Er verteilt das Land; er macht sogar erst „the constitution of Mine and Thine, and His; that is to say, in one word Propriety" (d.h. property, Eigentum) möglich, da es ohne ihn „a perpetual warre of every man against his neighbour" und keine rechtmäßige Aneignung gäbe. 455 „From whence we may collect, that the Propriety which a subject hath in his lands, consisteth in a right to exclude all other subjects from the use of them; and not to exclude their Soveraign". Der Privateigentümer von Land, heißt das, darf sich nur als Treuhänder eines kollektiven Eigentums verstehen, als dessen Anwalt der Souverän auch gegen den Willen des Privateigentümers über das Land verfügen darf. 456 Bei Locke ist dagegen für eine Staatskonzeption, die dem Staat eine wesentliche Rolle in der Förderung des Gemeineigentums der natürlichen Ressourcen zuweist, kein Platz. Denn er läßt das Gemeineigentum wegen der angenommenen Geringfügigkeit seines Werts in 451 Th. Hobbes, Leviathan or the Matter. Forme and Power of a Common-wealth Ecclesiastical and Civil. 452 Ebd., 223. 453 Ebd., 227f. 454 Ebd., 264. Das Recht auf Privateigentum bricht sogar die absolute Gewalt des Souveräns: „If a Subject have a controversie with his Soveraigne, of Debt, or of right of possession of lands or goods, or concerning any service required at his hands, or concerning any penalty corporali, or pecuniary, grounded on a precedent Law; he hath the same Liberty to sue for his right, as if it were against a Subject" (ebd., 271). 455 Ebd., 296. 456 Ebd., 297. Der Souverän darf seinerseits sowenig nach Belieben über das Land verfügen wie der Privateigentümer. Vgl. ebd., 297: „For seeing the Soveraign, that is to say, the Common-wealth (whose Person he representeth,) is understood to do nothing but in order to the common Peace and Security, this distribution of lands" - die als vom Souverän vorgenommen gedacht wird - „is to be understood as done in order to the same: And consequently, whatsoever Distribution he shall make in prejudice thereof, is contrary to the will of every subject, that committed his Peace, and safety to his decretion, and conscience; and therfore by the will of every one of them, is to be reputed voyd".

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Privateigentum aufgehen. Auch Kants Eigentumsbegriff läßt der Idee des Gemeineigentums wenig Raum.457 Aber er kritisiert 1795 in seinem Entwurf Zum ewigen Frieden den Weltstaat, den er doch zugleich und dem Uni versalismus seines Rechts entsprechend als die einzige Art anerkennt, „nach der Vernunft... aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen".458 Daher sucht er nach Gründen, die die Existenz partikularer Staaten rechtfertigen. Ein solcher Grund findet sich in seiner Empfehlung „nicht einer väterlichen, sondern einer vaterländischen Regierung (Imperium, non paternale, sed patrioticum)" und seiner Erläuterung: „Patriotisch ist nämlich die Denkungsart, da ein jeder im Staat (das Oberhaupt desselben nicht ausgenommen) das gemeine Wesen als den mütterlichen Schoß, oder das Land als den väterlichen Boden, aus und auf dem er selbst entsprungen, und welchen er auch so als ein teures Unterpfand hinterlassen muß, betrachtet, nur um die Rechte desselben durch Gesetze des gemeinsamen Willens zu schützen, nicht aber es seinem unbedingten Belieben zum Gebrauch zu unterwerfen, sich für befugt hält".459 Hier versteht Kant das Staatsterritorium als kollektives Eigentum, auf dessen Gebrauch seine Bewohner durch ihre Generationen übergreifende Bearbeitung ein Vorrecht und zugleich eine Verpflichtung zu weiterer Pflege im Gemeininteresse erworben haben. Kants patriotische Denkungsart entspricht der hier vertretenen Auffassung, daß das Territorium eines Staats eine gemischte Ressource ist, in der Gemeineigentum der Menschheit und die Arbeit einer partikularen Gruppe der Menschheit verflochten sind und auf die eine solche partikulare Gruppe ein Vorrecht gegenüber dem Rest der Menschheit hat. Dieser Auffassung entsprechen auch andere Aussagen Kants zu den Begriffen des Vaterlands und des Volks. Ersteres ist das „Land (territorium), dessen Einsassen schon durch ...

457 Kant, Zum ewigen Frieden, AA, 358, spricht zwar vom „Recht des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde", betrachtet aber in: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2.Teil, 1. Abschnitt, Anm. Β und C, a.a.O., 148 und 151f, wie Hobbes den Souverän als „Obereigentümer" des Territoriums, und betont, das Obereigentum sei „nur eine Idee des bürgerlichen Vereins, um die notwendige Vereinigung des Privateigentums aller im Volk unter einem öffentlichen allgemeinen Besitzer zu Bestimmung des besonderen Eigentums ... dem notwendigen formalen Prinzip der Einteilung (Division des Bodens) nach Rechtsbegriffen vorstellig zu machen" - die Aufgabe des Staats beschränkt sich demnach auf die Sicherung rechtmäßigen Privateigentums und erstreckt sich nicht auf die Förderung von Gemeineigentum, weil es dies für Kant sowenig gibt wie für Locke. Zur Rechtmäßigkeit des Privateigentums zählt Kant im Unterschied zu Locke aber die Bedingung der Erhaltung eines jeden: „Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staats wegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbeizuschaffen; weil ihre Existenz zugleich ein" - Kant schreibt als statt ein - „Akt der Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nötige Vorsorge des gemeinen Wesens ist, wozu sie sich verbindlich gemacht haben, auf welche der Staat nun sein Recht" - nämlich die Vermögenden zu nötigen - „gründet, zur Erhaltung ihrer Mitbürger das Ihrige beizutragen". Kant erkennt hier das soziale Recht der Bedürftigen auf ihre Erhaltung an, gründet es aber nicht auf die Annahme eines Gemeineigentums. 458 AA, 62 und 37. Grundsätzlich dieselbe Kritik am Weltstaat wie in diesem Entwurf übt Kant in: Über den Gemeinspruch, a.a.O., 395. 459 Ebd., 374.

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die Geburt ..., Mitbürger eines und desselben Wesens sind" 4 6 0 ; während ein Volk „die Menschen ... ausmachen", die „als Landeseingeborene nach der Analogie der Erzeugung von einem gemeinschaftlichen Elternstamm (congeniti) vorgestellt werden [können], ob sie es gleich nicht sind". 461 Kants Staat untersteht einem „Landesherrn", der für „seine Landeskinder" sorgt, auch gegen deren Willen, wenn er etwa zur Förderung des Landes Fremde ansiedelt 462 oder von seinem Recht Gebrauch macht, „die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbeizuschaffen". 463 Kant kann daher durchaus als Vorläufer eines Staatsbegriffs gelten, der den partikularen Staat aus seiner Rolle in der Pflege der gemischten Ressourcen seines Territoriums versteht. Man muß nur beachten, daß dieser Staatsbegriff bei Kant nicht vorherrscht und eher einer Überlegung angehört, die seiner inkonsequenten Ablehnung des Weltstaats entspringt, zu dessen Anerkennung ihn ebenso wie Hobbes und Locke sein universaler Rechtsbegriff und seine mangelnde Anerkennung der Rolle des Gemeineigentums verpflichtet hätte.464 Naturgemäß findet dagegen der Staat als Anwalt des kollektiven Eigentums einer Gesellschaft bei einem Konservativen wie Hume gebührende Anerkennung. Er rechtfertigt ihn vor allem durch sein Vermögen, das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen zu entwickeln, das Privatleute nicht zu entwickeln vermögen: „Two neighbours may agree to drain a meadow, which they possess in common; because 'tis easy for them to know each others mind ... But 'tis very difficult, and indeed impossible, that a thousand persons shou'd agree in any such action ... Political society easily remedies both these inconveniences. Magistrates find an immediate interest in the interest of any considerable part of their subjects... Thus bridges are built; harbours open'd; ramparts rais'd; canals form'd; fleets equip'd; and armies disciplin'd; every where, by the care of government, which, tho' compos'd of men subject to all human infirmities, becomes, by one of the finest and most subtle inventions imaginable, a composition, that is, in some measure, exempted from all these infirmities." 465 Hume erkennt hier klar den Staat, „political society", als die Institution zur Förderung der gemischten Ressourcen seines Territoriums. In der Tat haben sich in seiner jeweiligen Förderung die modernen Staaten Verdienste erworben. Heute aber kann der Schutz des kollektiven Eigentums durch nationale Staaten nicht genügen. Die Expansion des (nichtnationalen) Privateigentums über den ganzen Erdball verlangt Schutz und rechtliche Verwaltung des Gemeineigentums auf globaler Ebene. Auch wenn die partikularen Staaten als Anwälte der gemischten Ressourcen begrenzter Territorien nicht überflüssig werden, brauchen sie heute eine Ergänzung durch einen Anwalt, der die Interessen der Menschheit auf globaler Ebene

460 461 462 463

Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 50. Ebd., § 5 3 Ebd., § 5 0 . Ebd., Anm. C nach § 49; 151. Dies „Recht" des Staates unterscheidet Kant, Grundlegung, A A , 416f, vom „Rechte der Staaten", aus dem „notwendige Gesetze... fließen"; denn „aus der Vorsorge für die allgemeine Wohlfahrt fließen" nur „pragmatische... Sanktionen". Die Gesetze sind notwendig, weil sie aus dem Vernunftrecht ableitbar sind, die Sanktionen pragmatisch und nicht rechtlich notwendig, weil sie nur „Ratschlägen der Klugheit" entspringen. 4 6 4 Vgl. hierzu Steinvorth, Kants Staatsbegriffe, in: Landwehr (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, Göttingen 1999. 465 D. Hume, A Treatise of Human Nature, bk. 3, pt. 2, sec. 7, a.a.O., 538f.

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vertritt. Ein solcher Anwalt wäre ein globaler Staat, der die partikularen Staaten nicht notwendig ersetzt, aber ergänzt. Kein partikularer Staat kann heute allein die natürlichen Ressourcen, das Gemeineigentum der Menschheit, wirksam schützen. Die Entlastung der Meere, die Sicherung der Atmosphäre, die Erhaltung und Regeneration der Regenwälder, die Entsorgung von Atomkraftwerken, der Schutz des Trinkwassers in den industrialisierten Ländern und seine Rationierung und gerechte Verteilung in den trockeneren Zonen, diese und viele andere Aufgaben kann keiner der bestehenden Staaten allein oder ohne Rücksicht auf die übrigen Staaten leisten. Man braucht eine internationale Instanz, die Entscheidungen, die alle betreffen, notfalls auch gegen den Willen und Widerstand einer mehr oder weniger großen Anzahl der Betroffenen durchsetzen kann. Darin sind sich die meisten politischen Philosophen heute einig. Umstritten ist dagegen, ob die erforderliche internationale Instanz ein Weltstaat sein soll oder sein kann. Die meisten bestreiten es, entweder mit dem uns von Walzer bekannten kommunitaristischen Argument, es könne wegen der Relativität der Gerechtigkeit auf Gemeinschaften keine globale Gerechtigkeit geben; diesem Argument hat sich auch Rawls angeschlossen 466 . Oder mit dem Argument, ein Weltstaat sei zur Durchsetzung globaler Gerechtigkeit weder erreichbar noch notwendig. 467 Otfried Höffe hält zwar am Ideal des Weltstaats fest, will ihn aber nur als „Sekundärstaat" verstehen, dessen Mitglieder nicht menschliche, sondern „Staaten-Individuen" sind 468 . Nur wenige Philosophen betrachten einen Weltstaat als Ideal, der sich auf eine Legitimation durch alle volljährigen Individuen der Welt stützt; so Kai Nielsen 469 und Libertaristen wie Nozick 470 und Hillel Steiner471. Die Gefährdung natürlicher Ressourcen auf der gesamten Erde macht die Einrichtung einer globalen Institution der Gerechtigkeitsdurchsetzung heute zur Rechtspflicht aller Individuen und nationaler Staaten. Gegen die Ersetzung der partikularen Staaten durch einen Weltstaat aber sprechen folgende zwei Gesichtspunkte. Erstens der Gesichtspunkt der gemischten Ressourcen. Ein Weltstaat muß die Ansprüche solcher Bürger auf Vorrechte in der Verfügung der gemischten Ressourcen achten, die ihnen als Erben derer zufallen, deren Arbeit die Natur ihres Territoriums wertvoller gemacht hat. Zweitens der Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Man kann von den eingesessenen Bewohnern einer Region mehr Kenntnis der Nutzbarkeit der regionalen Ressourcen und mehr Interesse an ihrer schonenden Nutzung erwarten; daran hat die ganze Menschheit ein Interesse. Sie haben Methoden der nachhaltigen Nutzung der von ihnen vorgefundenen Ressourcen entwickelt, die 466 Rawls, The Law of Peoples, a.a.O., Ebenso David Miller, The Ethical Signifacance of Nationality, in: Ethics 1988, 647-62, und: On Nationality, Oxford 1995. Vgl. zu dieser Richtung U. Steinvorth, Hat die Nation einen Wert?, in: Oswald/Steinvorth (Hg.), Die offene Gesellschaft und ihre Fremden, a.a.O. 467 So Thomas Pogge, Moral Progress, in: Luper-Foy (ed.), Problems of International Justice, a.a.O., 283-304. 468 Otfried Höffe, Eine Weltrepublik als Minimalstaat, in: R. Merkel/R. Wittmann, Zum ewigen Frieden, Frankfurt/M. 1996, 154-71, 166. 469 Kai Nielsen, World Government, Security and Global Justice, in: Luper-Foy, (ed.), Problems of International Justice, a.a.O., 263-282. 470 Vorausgesetzt, sein „Framework for Utopia" ist als minimalstaatlicher Weltstaat zu verstehen. Vgl Nozick, Anarchy, a.a.O., 297ff. 471 Zu schließen nach Steiner, Essay On Rights, a.a.O., 265 und 270.

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lokale Kulturen, politische Verwaltungen und Staaten geprägt haben und von diesen geprägt wurden. Würden die in der Kultivierung begrenzter Territorien entstandenen Staaten durch einen Weltstaat ersetzt werden, so würden die Menschen sich selbst schaden. Diese zwei Gesichtspunkte reichen aus, die Existenz vieler, wenn gewiß auch nicht aller bestehenden (aber auch neuer, aus der Teilung übergroßer Staaten hervorgehender) Staaten zu rechtfertigen, aber nicht ihre absolute Souveränität. Sie sichern den Bewohnern begrenzter Territorien Vorrechte in der Verfügung über die gemischten Ressourcen ihrer Territorien, die der Souveränität von Nationen nur nahekommen. Dazu gehört zwar auch ein Vorrecht, das eingesessene Territorium mit Nachwuchs zu bevölkern, aber dies Vorrecht stößt wie jedes andere auf Grenzen, wenn es den gleichen Zugang zu den natürlichen Ressourcen für alle Menschen aller Staaten gefährdet. Werfen wir auf diesen Punkt einen kurzen Blick, weil er zugleich die praktische Notwendigkeit und Schwierigkeit einer übernationalen globalen Instanz zur Durchsetzung von Gerechtigkeit zeigt; eines Weltstaats, der die partikularen Staaten ergänzt, nicht ersetzt. Der Bevölkerungszuwachs ist heute trotz eines leichten Rückgangs in den letzten Jahren noch immer groß genug, um die Menschen auf der Erde bis zum Jahr 2150 auf die jenseits aller Ernährbarkeit liegende Zahl von 700 Milliarde anwachsen zu lassen.472 Da jeder Mensch Naturgüter verbraucht, ist die Zeugung eines Menschen mit einem Anspruch auf Verbrauch von Naturressourcen verbunden, der auf denselben Anspruch anderer möglicher Eltern stoßen kann. Damit alle Neugeborenen leben und alle potentiellen Eltern ihren Kindern gleichen Zugang zu einer bewohnbaren Erde sichern können, müßte jedem Menschen ein Anrecht auf die gleiche Zahl von Nachkommen zugesprochen werden. Sie dürfte grundsätzlich kaum höher als 1 sein, müßte aber auf die Menge der Naturgüter abgestimmt werden, die Kinder und Menschen verbrauchen. Da dies in der Dritten Welt sehr viel weniger ist als in der Ersten, müßte der Bevölkerungszuwachs in der Dritten Welt zwar beschränkt werden, aber der in der Ersten noch viel mehr. Denn wenn auch 95% des Zuwachses von 1992 bis 2025 voraussichtlich in der Dritten Welt stattfindet und dort vor allem in den ärmsten Ländern 473 , ist der 472 Vgl. dazu Bill McKibben, Reaching the Limit, in: New York Review of Books, 29.5.1997, 32-35. Die geschätzte heutige Weltbevölkerungszahl ist nach McKibben 5,8 Milliarden. Nach Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1993 (zuerst New York 1992), 39, lebten 1825 auf der Erde 1 Milliarde Menschen, 100 Jahre später 2 und wieder 50 Jahre später, 1976, 4 Milliarden Menschen. UN-Statistiker rechnen mit einem Stillstand des Zuwachses bei 11 Milliarden im Lauf des 21. Jahrhunderts. Wieviel Menschen die Erde ernähren kann, ist extrem schwer vorauszusagen. Joel E.Cohen, How Many People Can the Earth Support, London/New York 1997, (den McKibben bespricht), kommt bei seiner Schätzung, für wieviel Menschen das Süßwasser reicht, auf der Grundlage verschiedener Daten zu Zahlen zwischen 4,9 und 137,5 Milliarden. Würde jeder Mensch auf der Erde für sich Platz von der Größe eines Drittels eines Fußballfelds beanspruchen, könnten 79 Milliarden Menschen leben. Das größte Problem, das der Bevölkerungszuwachs heute schafft, ist die Zahl des Nachwuchses, für den weder Ausbildungsnoch Arbeitsplätze bereitstehen. Nach Kennedy, In Vorbereitung, a.a.O., 44 müßten für sie in der Dritten Welt jährlich 38 bis 40 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. 473 Kennedy, In Vorbereitung, a.a.O., 40: „1950 war die Bevölkerung Afrikas nur halb so groß wie die Europas, bis 1985 hatte sie sie eingeholt (bei jeweils etwa 480 Millionen Menschen), und im Jahre 2025 erwartet man eine dreimal so hohe Bevölkerung wie die Europas (1,58 Milliarden im Gegensatz zu 512 Millionen"; nach: World Populations Prospects, 1988 (U.N.Population Division), New York 1989, 37, Tab. 2.5. Gertrude Himmelfarb, The ghost of Parson Malthus. Die Be-

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Ressourcenverbrauch in der Ersten Welt ebenfalls überproportional: „Der Ölverbrauch der Vereinigten Staaten, die nur 4 Prozent der Weltbevölkerung besitzen, entspricht einem Viertel der gesamten jährlichen Weltförderung ... Dieselbe Unausgewogenheit trifft auf eine Reihe anderer Grundstoffe zu, von Papier bis zu Rindfleisch. Einer Berechnung zufolge verursacht das durchschnittliche amerikanische Baby den doppelten Umweltschaden wie ein schwedisches Kind, 3mal soviel wie ein italienisches, 13mal soviel wie ein brasilianisches, 35mal soviel wie ein indisches und 280mal soviel wie ein Kind aus Tschad oder Haiti." 474 Nach der Logik des Gemeineigentums der natürlichen Ressourcen hätte eine Frau in Haiti das Recht darauf, 280mal so viel Kinder zu haben wie eine Frau in den USA. Eine global durchgesetzte Geburtenregelung darf daher nur mit einer global durchgesetzten Regelung des Naturressourcenverbrauchs zusammengehen. Jede Regelung allein würde schon auf kaum überwindbaren Widerstand stoßen; von ihrer Koppelung zu schweigen. Und doch muß sie durchgesetzt werden, wenn es eine globale Verteilungsgerechtigkeit geben soll. Die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte ist da eine leichtere Aufgabe. Um sie durchzusetzen, sind die Staaten, die sie uneingeschränkt anerkennen, nicht auf die Zustimmung der Staatengemeinschaft der Erde angewiesen. Zwang wird nicht durch den Konsens der gegebenen Staaten legitimiert, sondern durch den durchgesetzten Inhalt, hier die Menschenrechte. Dieser Inhalt kann im übrigen der Zustimmung der betroffenen Individuen sicher sein. Jede Durchsetzung von Menschenrechten wird aber trotz ihres Inhalts unglaubwürdig und den Staaten, die sie betreiben, keine moralische Autorität geben, wenn sie nicht ihren überproportionierten Verbrauch natürlicher Ressourcen einschränken. Partikulare Staaten können auch das Recht haben, Gerechtigkeit außerhalb ihres Territoriums durchzusetzen. Wie der serbische Krieg in Bosnien zeigte, kann es beschämend sein, wenn ein Staat durch relativ einfache Mittel Metzeleien verhindern könnte, es aber nicht tut.475 Die Durchsetzung von Gerechtigkeit außerhalb des eigenen Territoriums steht aber wie jeder Gewaltgebrauch unter der Bedingung, daß kein Unschuldiger verletzt oder getötet wird. Nur wenn moderne Kriegsmittel so eingesetzt werden, daß kein Unschuldiger getötet wird, kommen der Krieg oder kriegsähnliche Maßnahmen als Mittel der Gerechtigkeitsdurchsetzung in Frage. Das ist extrem selten der Fall.476 Ein angemesseneres und oft wirksameres Mittel im Zeitalter der internationalen ökonomischen Verflechtung sind wirtschaftliche Sanktionen. Die Durchsetzung gleicher Freiheit und der Menschenrechte durch die Staaten allein, die diese Prinzipien anerkennen, setzt sich dem Vorwurf des Eurozentrismus aus. Um gegen diesprechung von John Avery, Progress, Poverty and Population, in: Times Literary Supplement, 24.1.1998, 4f, verweist darauf, daß nach den letzten Statistiken der Vereinten Nationen für 2040 mit einer Weltbevölkerungszahl von 7,7 Milliarden und für 2050 mit einem Verhältnis alter Menschen, die nicht mehr arbeiten, zu Kindern von 8:1 zu rechnen ist. Aus dem heutigen Weltproblem des zu zahlreichen Nachwuchses könnte daher schnell ein Weltproblem mangelnden Nachwuchses werden, mit dem heute nur die Wohlstandsgesellschaften geplagt sind. Aber diese Annahme ist vielleicht zu viel an Zukunftsmusik. 474 Kennedy, In Vorbereitung, a.a.O., 50; Kennedy stützt sich auf P.R. Ehrlich/A.E. Ehrlich, The Population Explosion, New York 1990, 134, und, zum Ölverbrauch, auf M.L. Wald, in: New York Times, 12.8.1990, E 3. 475 Vgl. zu diesem Krieg die Artikel von Mark Danner in den letzten Nummern 1997 und den ersten Nummern 1998 der New York Review of Books. 476 Vielleicht in Serbien; vermutlich nicht im Irak.

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Die liberale Gleichheit

sen Vorwurf zu zeigen, daß die Anerkennung der Menschenrechte alle Kulturen der Erde begünstigt, genügen Argumente nicht. Das Wichtigste ist, der Idee der gleichen Freiheit gemäß zu handeln. Die nichtindustriellen Staaten haben guten Grund, den Industrienationen Raubbau an der Welt auf ihre Kosten vorzuhalten 477 , und gegen die Versuche westlicher Umweltschützer, ihre Umweltbelastung zu verringern, auf das schlechte Beispiel einiger westlicher Staaten zu verweisen. Diese können ihre Idee von Menschenrechten und gleicher Freiheit überzeugend als allgemeinverbindlich nur vertreten, wenn sie sich selbst den Pflichten unterwerfen, die ihnen als bloßen Miteigentümern der natürlichen Ressourcen der Erde erwachsen. 478

3. Die liberale Gleichheit Kommen wir auf die Ausgangsfrage dieses dritten Teils zurück: Was dürfen Individuen vom Staat fordern, wenn sie gleiche Freiheit fordern? Wir haben gesehen, daß der Staat nicht nur das Privat-, sondern auch das Gemeineigentum schützen muß. Um das Gemeineigentum zu 477 Richard J. Barnet/Roland Müller, Global Reach, New York 1974, 210 und 227, bemerkten schon vor Jahrzehnten: „... the struggle over the riches of the earth has just begun.... the threat of violence, low or otherwise, can all affect the outcome of the resource struggle ... Whether there is enough statesmanship and true international spirit in the rich countries to recognize that changes in bargaining power and resource pricing (including human labor) are long overdue in the interests of global justice and global stability, will determine the character of world politics in the coming generation." Sie bezogen ihre Forderung nach internationalem Geist auf eine gemeinsame Nutzung der Meeresbodenschätze. Zwar bestimmte die Konvention zum Seerecht von 1982 der Vereinten Nationen natürliche Ressourcen auf dem Meeresboden internationaler Gewässer als „gemeinsames Erbe der Menschheit" (Teil XI, Art. 136) zum Gebrauch „für den Nutzen der gesamten Menschheit, ... unter besonderer Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Entwicklungsstaaten an angemessener Teilhabe an finanziellen und ökonomischen Vorteilen" (Art. 140). Bevor die Konvention aber am 28. 11. 1996 in Kraft treten konnte, setzten die Vereinigten Staaten unter Clinton ein „Agreement" durch, nach dem die Meere und ihre Ressourcen gemeinsames Erbe in dem Sinn sind, daß sie „offen für den Gebrauch durch alle gemäß weithin anerkannten Regeln" sind (U.S. Department of State: Commentary on the Law of the Sea Convention including the 1994 Amendments, 3. Zit. nach Thomas Pogge, The Bounds of Nationalism, in: Rechtsphilosophische Hefte 7, 1997, 55-90, 62-4, auf den ich auch die übrigen Angaben zur Seerechtskonvention stütze). Zu diesen Regeln zählt, daß jeder, der die technischen und finanziellen Mittel zum Abbau der Ressourcen hat, sie ohne Rücksicht auf die Interessen anderer abbauen und gebrauchen darf. Das „Agreement" rührt zwar verbal das Prinzip des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen nicht an, setzt sich aber faktisch über es hinweg. 478 Können Philosophen sagen, wie solche Pflichten konkret aussehen? Der Philosoph Thomas Pogge, An Egalitarian Law of Peoples, in: Philosophy and Public Affairs 23, 1994, 195-224, und: Eine globale Rohstoffdividende, in: Analyse und Kritik 17, 1995, 183-208, hat es zwar mit dem Vorschlag einer die reichen Länder belastenden globalen Ressourcensteuer gewagt (man sollte, um die Verelendungstendenz umzukehren, 1% des Preises für Rohstoffe in eine Kasse zur Förderung der ökonomischen Selbständigkeit der Ärmsten der armen Länder zahlen), aber eher bestätigt, daß zur konkreten Pflichtenbestimmung vor allem empirische Fachkenntnisse nötig sind. Vgl. Richard Reichel, Internationaler Handel, Tauschgerechtigkeit und die globale Rohstoffdividende, in: Analyse und Kritik 19, 1997, 229-41.

Der Grund der liberalen Gleichheit

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schützen, muß er dessen Anwalt oder Treuhänder sein und es positiv fördern, das heißt die natürlichen und gemischten Ressourcen entwickeln. Da die nationalen Staaten diese Rolle auf globaler Ebene nicht spielen können, haben sie die Rechtspflicht, einen sie ergänzenden globalen Staat einzurichten. Das heißt wiederum, daß die nationalen Staaten die Verteilungsgerechtigkeit auf ihren Territorien durchsetzen müssen, wenn auch nicht ohne Rücksicht auf die globalen Verhältnisse. Hält man an der Idee der gleichen Freiheit fest, so müssen die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit überall gleich sein, wenn auch die Art der Nutzung der territorialen Ressourcen von Land zu Land verschieden sein kann. Wegen der Gleichheit der Prinzipien ist eine Koordination auf globaler Ebene ohne Schwierigkeiten möglich. Aber wie muß die gleiche Freiheit in einem westlichen Industrieland wie Deutschland aussehen? Was dürfen Individuen hier vom Staat fordern? Bleiben wir bei Rawls' Unterscheidungen, so ist eine erste Antwort unstrittig: Sie dürfen die natürliche Freiheit fordern, die formalen Freiheiten, die traditionellen Menschen- und Bürgerrechte. Denn das gehört unbestritten zur gleichen Freiheit. Sie ist in vielen heutigen Staaten anerkannt und wird von vielen respektiert. Kaum weniger unstrittig ist, daß sie die liberale Gleichheit fordern dürfen: Chancengleichheit in dem Sinn, daß jeder die gleiche Chance hat, seine Anlagen zu entwickeln und zu gebrauchen; unabhängig zu sein von den sozialen Kontingenzen, insbesondere von den Einflüssen der Akkumulation von Macht und Reichtum in immer weniger Familien, zu der Märkte tendieren, wenn ihnen nicht gegengesteuert wird. Auch Chancengleichheit oder liberale Gleichheit wird von einer erheblichen Zahl von Staaten anerkannt und von nicht wenigen praktiziert. Aber was sind die Rechtfertigungsgründe und wo liegen die genauen Grenzen der liberalen Gleichheit? Das ist kaum weniger umstritten als die Frage, ob die Individuen auch die Gleichheit fordern dürfen, die Rawls die demokratische nennt und durch Befolgung des Differenzprinzips verwirklicht sehen will. Der Grund der liberalen Gleichheit Der Grund der Legitimität der liberalen Gleichheit ist nicht der, den Rawls angibt. Nach Rawls ist sie rechtlich gefordert, weil es moralisch willkürlich ist, die Güterverteilung von sozialen Umständen abhängig zu machen. 479 Sie legitimiere sich als Mittel, der Anhäufung von Macht und Reichtum in immer weniger Familien gegenzusteuern. In der Tat ist eine solche Anhäufung ein sicheres Indiz für eine Verteilungsungerechtigkeit, weil sie den Zugang zu den natürlichen Ressourcen ungleich macht und das Gemeineigentumsrecht verletzt. Soweit sie aber das Ergebnis legitimer Handlungen ist, etwa des Erwerbs von Reichtum durch Arbeit und seiner Vermehrung durch Heirat der Erben reicher Eltern, ist sie nicht illegitim. Die liberale Gleichheit kann nicht als Werkzeug der Verhinderung legitimer Reichtumsanhäufung gerechtfertigt werden. Der Grund der Legitimität der liberalen Gleichheit ist auch nicht, daß „inequalities that are not to the benefit of all" Ungerechtigkeit sind. 480 Ungleichheiten, die durch unterschiedliche Arbeitsleistungen zustande kommen, sind auch dann gerecht, wenn der Reiche seinen Reichtum nicht zum Nutzen des Armen gebraucht. Zur gleichen Freiheit gehört das gleiche 479 Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 72. 480 Ebd., 62.

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Recht eines jeden, zu arbeiten, zu tauschen und zu schenken wie ihm beliebt. Wenn er bei sein e m Erwerb nur Glück hat, wird sein Erwerb nicht illegitim. Die Wohltätigkeit verlangt, daß er von seinem Reichtum A r m e teilhaben läßt; die Gerechtigkeit nicht. Der G r u n d der liberalen Gleichheit ist die Idee der gleichen Freiheit. Diese berechtigt j e d e n , seine Anlagen zu betätigen. N i e m a n d aber kann seine Anlagen betätigen, ohne von natürlichen Ressourcen wie Luft, Wasser und Erde Gebrauch zu machen. Im Maß wie solche Ressourcen knapp werden, schränkt j e d e Betätigung der eigenen Anlagen die Betätigung der Anlagen eines andern ein. Das Leben der Menschen ist daher unvermeidlicherweise immer auch ihre Konkurrenz untereinander um knappe Güter. Die Idee der gleichen Freiheit stellt diese Konkurrenz unter das Prinzip, daß die Menschen einander in ihrem gleichen Recht auf Betätigung ihrer Anlagen und auf Gebrauch der vorgefundenen natürlichen Ressourcen anerkennen. Die Idee der Chancengleichheit, die einen wesentlichen Teil der Idee der liberalen Gleichheit ausmacht, hebt an diesem Prinzip die Bedingung hervor, daß zum gleichen Recht auf Betätigung der eigenen Anlagen gehört, daß jeder zu Beginn seines selbstverantwortlichen Lebens seine Anlagen auf einem annähernd gleichen Stand ihrer Entwicklung vorfindet. Man braucht nicht viel Lebenserfahrung, u m zu erkennen, daß zwei Menschen mit gleichen Anlagen ungleiche Möglichkeiten zu ihrer Betätigung haben, wenn der eine eine sorgfältige Erziehung genossen hat und der andere nicht. Sie beginnen dann ihr Leben, wie man sagt, unter ungleichen Startbedingungen. Nozick amüsiert sich dennoch über diese Betrachtungsweise: „The model of a race f o r a prize is often used in discussions of equality of opportunity. A race where some started closer to the finish line than others would be unfair, as would a race where some were forced to carry heavy weights, or run with pebbles in their sneakers. But life is not a race in which we all compete for a prize which someone has established; there is no unified race, with some person judging swiftness." 481 Hier haut Nozick in seinen o f t treffenden Bemerkungen zur „Mikro"ebene daneben. Das Leben ist gewiß kein uniformes Rennen, aber es ist und war schon immer ein Wettlauf um knappe Güter, in der die Kinder aus benachteiligten oder vernachlässigenden Familien in der B e t ä t i g u n g ihrer A n l a g e n mit Steinen in den Schuhen rennen. Z w a r weisen ständische Gesellschaften jedem seinen Platz nach seiner Geburt zu, verewigen den einmal gewonnenen Z u g a n g zu den knappen Gütern und stellen die Konkurrenz still. In dem Maß aber, wie die natürliche Freiheit solchen Stillstand sprengt, wird das Leben zum Wettrennen um knappe Güter, und in d e m M a ß , wie die A n h ä u f u n g von M a c h t und R e i c h t u m in i m m e r weniger Familien deren Kinder besser versorgt, wird sich der Rest in dem von der natürlichen Freiheit wieder eröffneten Rennen um knappe Güter benachteiligt sehen. 482 Die liberale Gleichheit ist die Form, welche die Idee der gleichen Freiheit unter der natürlichen Ungleichheit der Menschen annimmt. Wegen dieser Ungleichheit reicht die Beseitigung von Geburtsschranken in der Betätigung der eigenen Anlagen nicht aus, jedem gleiche Freiheit

481 Nozick, Anarchy, a.a.O., 235. 4 8 2 Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: Ges. Werke, Bd. 3, Bern 1955, 48f, bemerkt treffend, daß erst „im ,Konkurrenzsystem'... jede .Stelle' ... zu einem bloß transitorischen Punkt in dieser allgemeinen Jagd (des Mehrsein- und Mehrgeltenwollens aller mit allen wird). ... Der Genuß qualitativer Werte hört natürlich nicht auf, aber dieser Genuß - ja seine Möglichkeit bewegt sich nur mehr innerhalb der Grenzen der je zunächst als Warenwerteinheit apperzipierten Güter."

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in der Betätigung seiner Anlagen zu sichern. Weil es immer Hindernisse dabei geben wird, daß jeder seine Anlagen so gut betätigen kann wie jeder andere, wird die liberale Gleichheit immer aktuell bleiben. Sie ist die Idee, die jeder Erstarrung des institutionellen Systems einer Gesellschaft das Ziel der gleichen Freiheit für jeden entgegenhält. Sie verlangt auch nicht nur gleiche Startchancen, sondern auch gleiche Chancen, unverschuldete Notlagen zu überwinden. Denn wird einmal die Familie oder das, was die Startchancen eines Menschen bestimmt, als eine anzugleichende Kontingenz betrachtet, so fallen spätere Kontingenzen unter denselben Gesichtspunkt. Um so dringlicher wird die Frage: Worauf gründet der Anspruch der liberalen Gleichheit, den durch Familie und andere soziale Kontingenzen Benachteiligten gleiche Start- und Selbsthilfechancen zu sichern? Die Institutionen der liberalen Gleichheit kosten Geld, das Steuern und Versicherungsbeiträge liefern, die von den Reichen mehr verlangen als von den Armen. Wie kann das gerechtfertigt werden, wenn der Reichtum legitim erworben ist? Ist er nicht legitim erworben, so muß er konfisziert werden. Da er nicht konfisziert wird, muß er als legitim anerkannt werden. Warum darf man progressiv besteuern und Zwangs- oder Solidarversicherungen einrichten? Das ist das Grundproblem der liberalen Gleichheit. Eine erste Antwort liefert der Rückgriff auf das Gemeineigentum. Umverteilung ist demnach legitim, weil sie nur aus der Überaneignung natürlicher Ressourcen schöpft, die wir den Bessergestellten zuschreiben können. Wenn aller Reichtum in einer Gesellschaft den beiden Quellen Natur und Arbeit entspringt, wird auch in allen Gütern und dem sie vertretenden Geld und Kapital ein Natur- und ein Arbeitswertanteil enthalten sein. Je reicher jemand ist, desto mehr Anteil hat er nach dieser Überlegung auch am Naturwert und damit am Gemeineigentum, von dem er doch nicht mehr haben dürfte als jeder andere. Können aber alle Institutionen der liberalen Gleichheit als finanzierbar gedacht werden aus dem Gemeineigentum natürlicher Ressourcen? Obgleich das Gemeineigentum eine wichtige Quelle der legitimen Finanzierung der Institutionen der liberalen Gleichheit ist, reicht sie doch nicht für alle aus. Dagegen sprechen einige Überlegungen. Erstens droht die Rechtfertigung der finanziellen Belastung der Bessergestellten durch die Behauptung, diese schöpfe nur ab, was sie an natürlichen Ressourcen überangeeignet haben, zu einer unkontrollierbaren Waffe im Verteilungskampf zu werden, mit der man jede Belastung rechtfertigen kann. Wenn der Wertanteil von Natur und Arbeit an den Reichtümern einer Gesellschaft auch schwer zu berechnen und grundsätzlich anzunehmen ist, daß die Aneignung natürlicher Ressourcen im Maß des Reichtums steigt, kann doch nicht jede Belastung Bessergestellter mit ihrer vermuteten Überaneignung natürlicher Ressourcen gerechtfertigt werden; sonst würde auch aus dem Teil geschöpft, der dem Wert der Arbeit entspricht. Zweitens gehört zu den Institutionen der liberalen Gleichheit auch ein Versicherungsschutz für solche Kranke und Behinderte, die ihr Leben lang arbeitsunfähig sind und daher in keiner Weise zum Reichtum der Gesellschaft durch ihre Arbeit beitragen können. Ihnen gegenüber können auch die Reichsten, wenn sie nur arbeiten, keine Überaneigner natürlicher Ressourcen sein. Denn selbst wenn ein lebenslang Arbeitsunfähiger weit weniger natürliche Ressourcen verbraucht als ein arbeitender Reicher, trägt dieser doch durch seine Arbeit zum Reichtum der Gesellschaft bei und wird oft den Mehrverbrauch natürlicher Ressourcen durch Mehrproduktion von Arbeitswert ausgleichen. Zudem sind die Kosten für die Pflege Kranker und Behinderter oft so hoch, daß man beim besten Willen nicht annehmen kann, sie könnten aus dem Wert der natürlichen Ressourcen gedeckt werden, der ihnen als deren Gemeineigentümer zusteht.

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Drittens muß der Verfechter der liberalen Gleichheit am Verantwortlichkeitsprinzip der Libertaristen festhalten, das verlangt, daß man nur für solche Benachteiligungen aufkommen muß, für die man verantwortlich gemacht werden kann. Das Unglück, zu dessen Verhinderung jemand durch Steuern oder Zwangsversicherungen belastet wird, darf daher nicht naturbedingt, es muß vielmehr Personen zurechenbar sein. Diese dritte Schwierigkeit weist aber auch den Weg zu einer Lösung des Problems der begründbaren Finanzierung der Institutionen der liberalen Gleichheit überall dort, wo der Rückgriff auf die natürlichen Ressourcen nicht ausreicht. Der Belastete muß nicht unbedingt als jemand ausweisbar sein, der das Unglück verursachte; es genügt, ihn als jemand auszuweisen, der ein Recht verletzt, wenn er nichts zur Verhinderung des Unglücks tut. Ein Recht auf Hilfe von seiten Bessergestellter in einem naturbedingten Unglück kann dem Unglücklichen aber dann zufallen, wenn die Hilfe relativ geringfügig und zumutbar ist. Die Unterlassung einer zumutbaren Hilfe gilt mit Grund, wie wir sehen werden, als Verletzung einer Rechtspflicht. Schon diese Überlegungen lassen erkennen, daß die Institutionen der liberalen Gleichheit nicht pauschal oder nur durch ein Generalargument gerechtfertigt werden können. Wir müssen uns vielmehr die verschiedenen Institutionen der liberalen Gleichheit ansehen und sie im einzelnen zu rechtfertigen suchen. Um welche Institutionen handelt es sich? Um öffentliche Schulen, solidarische Zwangsversicherungen und das Mindesteinkommen. Daß diese Institutionen geschaffen wurden, bezeugt ein richtiges Gerechtigkeitsempfinden, das jedoch wie jedes Gefühl leicht erschüttert werden kann, wenn ihm die einleuchtenden Prinzipien fehlen. Sie sind Errungenschaften, deren Wert falsche Gerechtigkeitstheorien verkennen lassen, sowohl wenn sie wie der Libertarismus nur die natürliche (oder liberale) Freiheit oder wie rawlsianische Theorien die demokratische Gleichheit zum Modell der Verteilungsgerechtigkeit erheben. Wenn sie heute in ihrer Existenz bedroht sind, ist es wichtig, ihren Wert nicht länger zu verkennen. Betrachten wir sie nun im einzelnen an, um ihre Rechtfertigungsgründe zu erkennen. Das Erziehungssystem Die wichtigste Institution der liberalen Gleichheit ist das Erziehungssystem. Es erfüllt zwei Funktionen. Es muß die Kultur, die menschliche Natur in ihrer bestimmten kultivierten Form, der folgenden Generation insgesamt hinterlassen, und es muß jedem Individuum der folgenden Generation den Zugang zu ihr auch dann sichern, wenn es von seiner Familie nicht die Mittel dazu erhält. Das Wissen und Können, die das Erziehungssystem der folgenden Generation insgesamt und jedem einzelnen in der seinen Anlagen gemäßen Form erhalten sollen, sind ein Teil des Menschheitserbes, das in partikularen Staaten die partikulare Form annimmt, in der in ihnen die menschliche Natur kultiviert wird. Seine Erhaltung ist eine Rechtspflicht derselben Art wie die, der folgenden Generation die gemischten Ressourcen eines Landes mit demselben Wert weiterzureichen, mit dem eine Generation sie von der vorausgehenden empfangen hat. Wie die gemischten Ressourcen nur gleichwertig weitergereicht werden können, wenn sie kultiviert, das heißt gepflegt und verbessert werden, so kann auch die menschliche Natur, die uns immer nur als Kultur begegnet, nur gleichwertig weitergereicht werden, wenn sie kultiviert wird. Ihre Kultivierung erfolgt nicht nur in den höheren Bildungs- und Forschungsstätten, den Universitäten, Akademien und anderen Hochschulen, sondern auch in Schulen und Kindergärten und in den die Kultur mitbestimmenden Medien des Fernsehens.

Das Erziehungssystem

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Die erste Funktion des Erziehungssystems ist die Kultivierung der menschlichen Natur in der in einem Staat gepflegten Form mit dem Ziel, sie der nächsten Generation zu sichern. In seiner ersten Funktion erfüllt das Erziehungssystem das Recht einer Generation auf Teilhabe an der Kultur der vorangehenden Generation. In dieser Funktion ist das Erziehungssystem rechtlich notwendig, nicht weil dadurch elementare Bedürfnisse gestillt werden, deren Stillung Pflicht der Gesellschaft wäre; nicht weil dadurch die Arbeitsfähigkeit von Individuen gefördert und ihre Tauschkraft auf dem Arbeitsmarkt gestärkt wird; nicht weil dadurch die Chancengleichheit der Individuen erreicht werden könnte; sondern weil jede Generation verpflichtet ist, der folgenden das Gemeineigentum der menschlichen Natur in ihrer kultivierten Form zu hinterlassen. In dieser Funktion kann es eine Finanzierung aus dem Wertanteil der natürlichen Ressourcen am Reichtum einer Gesellschaft beanspruchen. Denn es dient der Sicherung einer ursprünglich rein natürlichen Ressource, der menschlichen Natur, deren Wert nur durch Kultivierung erhalten bleibt. Alle Menschen verdanken ihren Reichtum nicht nur ihrer Arbeit, sondern auch dieser natürlichen Ressource, und mangels besserer Unterscheidung wird man sagen müssen, daß sie ihr um so mehr verdanken, je größer ihr Reichtum ist. Daher müssen die Kosten der Kultivierung und Tradierung dieser Natur durch progressive Steuern auf Einkommen und Vermögen bestritten werden. Wenn nun die Erhaltung der Kultur der Idee der gleichen Freiheit entsprechen soll, muß die Kultur nicht nur der folgenden Generation insgesamt, sondern auch jedem ihrer Individuen uneingeschränkt zugänglich sein. Jeder hat dann ein Recht, an der Kultur seines Landes nicht nur teilzuhaben, wenn seine Familie ihm dazu verhilft, sondern auch dann, wenn ihm die Mittel fehlen, an den Formen teilzunehmen, die nur durch Schulen oder Facherziehung zugänglich werden. 483 Diese jedem zugänglich zu machen ist Aufgabe des Erziehungswesens in seiner zweiten Funktion. Jedes Individuum darf den Zugang zum Wissen und Können seiner Zeit fordern, soweit es das jeweils nötige Talent dazu hat; es darf insbesondere eine Ausbildung fordern, die es befähigt, an solchen Entscheidungen teilzunehmen, durch die eine Gesellschaft die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit auf ihre konkreten sozialen und historischen Bedingungen anwendet. Für Gesellschaften, die liberale Gleichheit grundsätzlich anerkennen, heißt das: jeder hat ein Recht auf eine elementare Ausbildung, die ihn zur Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen befähigt. Amy Gutmann, eine Verfechterin der liberalen Gleichheit auch auf dem Erziehungswesen, hat diese Konsequenz treffend formuliert: „A democratic state, therefore, must take the steps that it can to avoid those inequalities of educational attainment that deprive children of an intellectual ability adequate to enable them to participate in the democratic political processes that socially structure individual choices." 484 483 Otfried Höffe, Eine Konversion der kritischen Theorie?, in: Rechtshistorisches Journal 12, 1993, 7 0 - 8 8 , 83, gehört zu den wenigen Autoren, die Kulturrechte annehmen. Er stellt sie neben Sozialund ökologische Rechte. 484 Amy Gutmann, Distributing Public Education in a Democracy, in: Α. Gutmann (ed.), Democracy and the Welfare State, Princeton 1988, 1 0 7 - 1 3 0 , 112. Gutmann zeichnet in ihrem Buch: Liberal Equality, Cambridge 1980, das Ideal der Gleichheit in der liberalen Tradition nach und argumentiert dafür, auch Rawls' „difference principle can be understood as outgrowth of a relatively new liberal awareness of the material prerequisites for equalizing opportunity among individuals that appears within contemporary advanced indutrial societies" (ebd., 218). Trotz des Titels und wichtiger Gemeinsamkeiten vertritt sie nicht die Deutung der gleichen Freiheit als liberaler Gleichheit, die hier verfolgt wird, und greift auch nicht auf das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen zurück.

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Seine zweite Funktion setzt dem Erziehungswesen einen Standard, nach dem sich die staatlichen Ausgaben richten müssen. Sie verlangt nicht nur Ausgaben für das Schul- und Erziehungswesen im engeren Sinn. Wie Gutmann feststellt: „... democratic states cannot rely upon schools alone to help children reach the threshold of learning. States must provide access to a wide range of other goods and services - decent housing, job training and employment for parents, family counseling, day-care and after-school programs for children - without which schools cannot possibly succeed in their educational missions ... The more government spends on nonschool services, the better able schools will be to teach with any set of resources." 485 Zur zweiten Funktion gehört der Schutz vor Einflüssen, welche die Betätigung der eigenen Anlagen behindern. Zu solchen Einflüssen gehören alle Umstände, die Menschen zu nur passivem oder destruktivem Verhalten anleiten - von zerrütteten Familienverhältnissen über Drogenkonsum und andere Formen der Selbstaufgabe bis zur Apathie, die die Aussicht auf Arbeitslosigkeit erzeugt. Was sind die legitimen Quellen der Finanzierung des Erziehungssystems in dieser zweiten Funktion? Seine Aufgaben in der ersten Funktion erfüllen schon einen Teil der Aufgaben der zweiten Funktion. Aber in dieser kommen neue Aufgaben hinzu, eben die, jedem unabhängig von seinen kontingenten Familienverhältnissen den Zugang zu Wissen und Bildung zu ermöglichen. Faktisch werden sie durch progressive Steuern finanziert. Ist das legitim? Darf der Reiche, der nicht verantwortlich dafür ist, daß den Kindern der Armen die Mittel zum Besuch der Schulen fehlen, die sie begabt genug sind, mit Gewinn zu besuchen, gezwungen werden, die fehlenden Mittel bereitzustellen? Er darf es, weil er durch den Ausschluß anderer vom Zugang zur gemischten Ressource der Kultur, die das kollektive Eigentum seiner Gesellschaft ist, im Gebrauch der übrigen gemischten und der rein natürlichen Ressourcen privilegiert wird. Sein Ausbildungsvorsprung gibt ihm einen Vorteil, die gemischten und natürlichen Ressourcen seines Landes zu gebrauchen und sie dem Rest vorzuenthalten. Durch seinen privilegierten Zugang zur Kultur seines Landes allein tut er niemandem ein Unrecht; durch ihn nimmt er niemandem etwas weg. Aber diese für sich genommen legitime Ungleichheit führt ihn in die illegitime Ungleichheit der Ausnutzung der natürlichen und gemischten Ressourcen. Durch sie nimmt er denen etwas weg, die auf die Ausnutzung des Gemeineigentums der Menschheit und des kollektiven Eigentums der Gesellschaft das gleiche Recht wie er haben, es aber nicht gebrauchen können, nicht weil ihnen dazu die Anlagen fehlen, sondern weil sie die Anlagen nicht entwickeln konnten. Gewiß ist der Reiche unschuldig daran, daß sie sie nicht entwickeln konnten. Aber er ist nicht unschuldig daran, daß er die legitime Ungleichheit im Wissen und Können dazu gebraucht, Ressourcen ungleich zu beanspruchen, die allen gleich gehören. Daher darf er besteuert werden, um den familiär Benachteiligten den Zugang zu den Schulen zu ermöglichen, ohne die sie ihre Anlagen nicht entwickeln könnten. Diese Besteuerung muß progressiv sein, weil wir mangels besserer Unterscheidungsmöglichkeiten davon ausgehen müssen, daß der Reichtum anzeigt, in welchem Maß jemand von den natürlichen und gemischten Ressourcen Gebrauch macht. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt eine andere Überlegung. Jede Generation steht unter der Rechtspflicht, die natürlichen und gemischten Ressourcen ebenso wie ihre Kultur der folgenden Generation im gleichen Wert weiterzureichen, in dem sie sie erhalten hat. Aus dieser Pflicht lassen sich die Aufgaben der Erziehung in ihrer ersten Funktion ableiten. Unter den 485 Ebd., 119.

Das Versicherungssystem

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heutigen Bedingungen der Umweltbelastung und drohenden Ressourcenverknappung ist es nicht leicht, alle diese Ressourcen gleichwertig zu erhalten. Man kann diese Aufgabe nicht bewältigen, wenn man die menschliche Natur in ihren konstruktiven Anlagen irgend eines Individuums brach liegen läßt, obgleich die Mittel vorhanden sind, sie zu fördern. Auch wenn diese Mittel legitim privat angeeignet wurden, muß man ihren Wert als aus den natürlichen und gemischten Ressourcen hervorgegangen betrachten, die jede Arbeit voraussetzt. Denn wenn sie notwendig sind, um den Wert dieser Ressourcen zu erhalten, dann müssen sie zum Wertanteil am Reichtum gerechnet werden, der nicht auf Arbeit, sondern Natur zurückzuführen ist. Die Entwicklung der Anlagen auch der Mittellosen durch Mittel, die legitim in die Hand von Individuen gelangt sind, die nicht verantwortlich sind für die Mittellosigkeit, ist heute zu einer Bedingung der Erhaltung der natürlichen und gemischten Ressourcen geworden.486 Deswegen muß man die zur Finanzierung des Schulsystems notwendigen Mittel zum Wert der natürlichen und gemischten Ressourcen zählen. Er ist zwar legitim in die Hände von Privatleuten bei deren Aneignung der Früchte ihrer Arbeit gelangt, aber proportional mit deren Wert mitangeeignet worden. Eine progressive Steuer, deren Höhe erst an den Kosten des Erziehungssystems erkennbar werden kann, schöpft diese Mehraneignung legitimerweise ab. Das Versicherungssystem Das Versicherungssystem schützt jeden vor Ereignissen, die außerhalb der Kontrolle und Verantwortlichkeit des Betroffenen liegen und jeden nicht durch Reichtum Privilegierten aus seiner Lebensbahn werfen. Von solchen unverschuldeten, die Selbstbestimmung oder Freiheit der Individuen behindernden Ereignissen gibt es in modernen Gesellschaften zwei Arten, gegen die in liberalen Sozialstaaten Zwangsversicherungen eingeführt wurden; Krankheit, Unfall und Alter und Arbeitslosigkeit. Gewöhnlich werden sie ununterschieden als Wohl/aftrisleistungen begründet; der moderne Staat schulde seinen Bürgern die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards oder eines Sicherheitsnetzes gegen Unglück. Diese Begründung ist aus zwei Gründen unhaltbar. Erstens mißachtet sie den Unterschied zwischen den Bedingungen, die einerseits Krankheit, Unfall und Alter, anderseits Arbeitslosigkeit ermöglichen: die einen sind ursprünglich naturbedingt, die andern menschengemacht. Darüber sogleich mehr. Zweitens mißachtet sie den Unterschied zwischen den zwei Teilen der Moral, ohne deren Unterscheidung der Sinn der Moral nicht verstanden werden kann, der Wohltätigkeit und der Gerechtigkeit. Die Wohltätigkeit folgt dem Prinzip, jedem Wesen zu helfen oder in es seinem Sein zu fördern; die Gerechtigkeit dem Prinzip, ihm in seinem Sein nicht zu schaden oder es nicht zu behindern. Das Recht folgt demselben Prinzip wie die Gerechtigkeit, fordert aber im Unterschied zur Gerechtigkeit, die die Moral als Tugend fordert, keine Gesinnung, auch nicht die der Achtung, aus der die Freiheit des andern zu respektieren und ihm nicht zu schaden ist, sondern nur seine NichtVerletzung. Denn das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden; eine Gesinnung aber ist nicht erzwingbar. Der Rechtfertigungsgrund des Staats besteht darin, das Recht und nur das Recht durchzusetzen. Der Staat ist, wie ich ausgeführt habe, eine Zwangsanstalt, die als universale notwen486 Vgl. hierzu auch unten S. 257 Max Weber und Ferguson über das antike China als ein Beispiel für die ökonomische Kontraproduktivität der ausschließlich ökonomischen Orientierung.

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dig geworden ist, um die rein natürlichen Ressourcen, und als partikulare seit langem notwendig ist, um die gemischten Ressourcen eines begrenzten Territoriums zu kultivieren. Als Zwangsanstalt darf er nur durchsetzen, was legitim erzwingbar ist, und das ist allein das Recht. In der Tat haben wir wiederholt erkennen können, daß er das Grundrecht des Menschen auf Verfügung über sich selbst immer dann verletzt, wenn er aus einem Wohlfahrtsinteresse den im Rahmen der gleichen Freiheit erworbenen Reichtum einer Person zugunsten einer andern beschneidet. Einem solchen Wohlfahrtsinteresse folgen Rawls' Differenzprinzip und Dworkins Prinzip der Talentunabhängigkeit der Verteilung, dem auch van Parijs folgt, und deshalb erwiesen sich die Theorien dieser drei Philosophen als unakzeptabel. Das Versicherungssystem kann daher nur als eine Rechtspflicht gerechtfertigt werden, die der Staat jedem Bürger schuldet, weil dieser ohne es in seiner gleichen Freiheit, über sich selbst zu bestimmen, verletzt würde. Das Schulsystem findet seine Rechtfertigung darin, daß ohne es das Recht eines jeden auf Beteiligung am Gemein- oder Kollektiveigentum der kulturbedürftigen menschlichen Natur verletzt würde. Ähnlich findet das Versicherungssystem seine Rechtfertigung darin, daß ohne es der Mensch in einem oder mehreren seiner Rechte verletzt würde, die aus dem Grundrecht ableitbar sind, über seine Anlagen mit der gleichen Freiheit verfügen zu können wie jeder andere. Aber diese Rechtfertigung stößt auf die Schwierigkeit, daß das Unglück, vor dem Krankheits-, Unfall- und Altersversicherungen schützen sollen, ursprünglich naturbedingt und nicht menschengemacht ist und deshalb die Bessergestellten, die zur Finanzierung der solidarischen Zwangsversicherungen stärker herangezogen werden, nicht als verantwortlich für das Unglück gelten können, zu dessen Milderung sie belastet werden. Wenn die liberale Gleichheit aber am Verantwortlichkeitsprinzip festhalten muß, nach dem niemand für Zustände belastet werden darf, für die er nicht verantwortlich ist, wie können dann solidarische Zwangsversicherungen legitim sein? Anders steht es mit der Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosigkeit, vor der sie schützen soll, ist in dem Sinn menschengemacht, daß Menschen die sozialen Bedingungen geschaffen haben, unter denen sie möglich ist. Betrachten wir daher zuerst die Bedingungen ihrer Legitimität.

Das Recht auf Arbeit Sowohl die Kranken- und Altersversicherungen als auch die Arbeitslosenversicherung schützen vor Ereignissen, die nach der Idee des Versicherungssystems unverschuldet sind. Aber der Eintritt von Arbeitslosigkeit behindert die Betätigung der eigenen Anlagen nicht wie im ersten Fall durch Ausfall bestimmter Kräfte des Betroffenen, sondern durch Ausfall einer Gelegenheit, seine Anlagen an einem Gegenstand oder in einer Sache so zu betätigen, daß er sich zugleich den Lebensunterhalt sichert. Der Ausfall einer solchen Gelegenheit ist eine Behinderung seiner gleichen Freiheit, seine Anlagen zu betätigen, aus einem doppelten Grund. Er schränkt erstens wie Krankheit, Unfall und Alter seine Betätigungsfreiheit ein, aber zweitens im Unterschied zu diesen Unglücken dadurch, daß er ihn vom Zugang zu den natürlichen Ressourcen ausschließt, auf deren Bearbeitung das gesamte System der Produktion einer Gesellschaft beruht. Deshalb ist Arbeitslosigkeit der Ausschluß aus diesem System der Produktion. Nicht jede Arbeit ist die Bearbeitung eines Naturguts; die Arbeit des politischen Philosophen etwa ist es nicht. Aber ohne Naturgüter gibt es kein arbeitsteiliges System der

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Arbeit, in dem auch die philosophische Arbeit ihren Platz hat (solange das Erziehungswesen das Recht eines jeden auf Zugang zum kulturellen Erbe der Menschheit verwirklicht). Wer über seinen Anteil an den Naturgütern verfügen könnte, müßte zwar vermutlich Hunger, aber nicht Arbeitslosigkeit fürchten; denn er hätte ein Stück Land, das er bearbeiten könnte. 487 Arbeitslosigkeit ist daher immer auch der Ausschluß vom Gemeineigentum der Naturgüter. Als ein solcher Ausschluß vom Miteigentum des Arbeitslosen ist Arbeitslosigkeit eine Verletzung des Gemeineigentumsrechts, die zu verhindern Staatsaufgabe ist. Diese Überlegung zeigt, daß jeder Bürger ein Recht auf Arbeit in dem starken Sinn hat, daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit eine Verletzung seines Eigentumsrechts auf Mitverfügung über den Gebrauch der natürlichen und der gemischten Ressourcen seines Landes ist. Sein Recht auf Arbeit gibt ihm ein Recht, seine Anlagen produktiv an den gegebenen gemischten Ressourcen zu betätigen. Arbeitslosengeld und -Unterstützung verwirklichen nicht dies Recht. Sie kompensieren den Verlust der Konsummittel, der dem Verlust eines Arbeitsplatzes folgt, nicht den Verlust der Betätigung. Diese Betätigung ist zwar oft nur Schinderei oder Stumpfsinn; ihr Verlust Befreiung. Aber stumpfsinnige Arbeit ist selbst schon eine Verletzung des Rechts auf gleichen produktiven Gebrauch der eigenen Anlagen, und ebenso unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Für Jugendliche ist Arbeitslosigkeit ein besonders schweres Unrecht. Ein Arbeitsplatz ist gewöhnlich eine Vorbedingung dafür, überhaupt das eigene Leben als eigenes und selbst zu verantwortendes anzunehmen. Der Erhalt eines Arbeitsplatzes wird daher zu Recht als eine Anerkennung der Selbständigkeit und Verantwortlichkeit der Person verstanden. Wer keinen Arbeitsplatz erhält, fühlt sich als überflüssig und sogar als mangelhaft verurteilt und fühlt diese Verurteilung zu Recht als unberechtigterweise ausgesprochen. Arbeitslosigkeit ist zwar mit der formalen oder natürlichen Freiheit verträglich; denn niemand muß persönlich für die Arbeitslosigkeit verantwortlich und jede Entlassung kann legitim sein. Aber selbst wenn ungewollt, ist sie das ungewollte Ergebnis gewollter Handlungen. Die Erkenntnis, daß man in einem ökonomischen System lebt, das langfristige unfreiwillige Arbeitslosigkeit und mit ihr die Verletzung des Eigentumsrechts möglich macht, beendet die Unschuld und macht aus dem ungewollten Ergebnis ein hingenommenes, für das man verantwortlich wird, wenn man es ändern kann. Die Arbeitslosenversicherung kann unfreiwillige Arbeitslosigkeit in freiwillige verwandeln, aber nicht das Recht auf Arbeit einlösen. Dazu ist vielmehr die Einrichtung zusätzlicher Arbeitsplätze notwendig. Wie geschieht das am besten? 488 Manche hoffen, daß die gewinnorientierten Unternehmen nach Überwindung der Krisen der Globalisierung ähnlich wie in den Nachkriegsjahrzehnten zugleich Vollbeschäftigung und steigende Löhne erreichen werden. Dagegen spricht, daß einerseits in den relativen Hochlohnländern die Unternehmen die Möglichkeiten ausschöpfen werden, durch arbeitssparende Mittel wie Betriebszusammenlegungen und Roboter- und Computereinsatz den Gewinn zu erhöhen, und dadurch immer mehr in immer weniger Arbeitsstunden produzieren und immer mehr Menschen vom System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung fernhalten. Anderseits werden sie, soweit sie den Einsatz von Menschen dem von Maschinen vorziehen können, in Niedriglohnländer ausweichen. Wenn sie zum Rückgang der Arbeitslosigkeit beitragen, dann auf Kosten der Löhne und der Freiheit der Lohn487 Nach Joel E.Cohen, How Many People Can the Earth Support?, London/New York 1997, bleibt noch bei 79 Milliarden Menschen jedem das Drittel eines Fußballplatzes an Land; nach Bill McKibben, Reaching the Limit, in: New York Review of Books, 29.5.97, 33. 488 Vgl. Steinvorth, Das Recht auf Arbeit, in: Rechtsphilosophische Hefte 5, 1996, 77-95.

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abhängigen, auf ihre Lebensbedingungen einzuwirken; wenn sie diese respektieren, dann nur für eine abnehmende Zahl; der Rest ist vom endgültigen Ausschluß aus dem System der Arbeit bedroht. Die politische Philosophie muß sich auf diese umwälzenden Veränderungen in den modernen Gesellschaften einstellen. Daß die kapitalistische Wirtschaft unverträglich sei mit den Interessen der Massen, daß sie ihrem Gewinnziel die Ziele aufopfert, die verdienen verfolgt zu werden, ist die bekannte Kritik marxistischer und sozialistischer Theoretiker. Diese Kritik ist in Mißkredit geraten, einerseits weil sie sich meist auf die positive Theorie einer Planwirtschaft einließ, deren Verwirklichung Verhältnisse hervorbrachte, die schlimmer waren als die kritisierten; anderseits weil die kritisierte kapitalistische Wirtschaft glänzende Erfolge vorweisen konnte und noch kann. Die marxistische Kritik erkannte dennoch die zentrale Schwäche der kapitalistischen Ökonomie, die zugleich ihre Stärke ist, daß nämlich ihr Gewinnziel, das jedes Wirtschaftsunternehmen bei Strafe seines Untergangs verfolgen muß, nicht notwendig mit den Lebenszielen der Menschen übereinstimmt. Diese Lebensziele, so verschieden sie sind, bestehen vernünftigerweise nicht darin, ohne Rücksicht auf Sinn und Inhalt und so billig wie möglich zu arbeiten. Die Profitorientierung der Unternehmen in einem Markt, der jedes der Konkurrenz jedes andern aussetzt, zwingt jeden, der nicht ökonomisch untergehen will, Unternehmer ebenso wie Arbeiter, ohne Rücksicht auf Sinn so viel und so billig wie möglich zu arbeiten, wenn es nur Gewinn bringt. Das führt erstens zu ungeheurer Produktivität und Effizienz, zweitens zur Auflösung aller vorgegebenen Lebensziele, drittens zur Tilgung solcher Arbeiten und Ausstoßung derer aus dem System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die den Produktivitätsstandards nicht genügen. Der kapitalistischen Ökonomie ist die Steigerung der Produktivität und daher auch das Überflüssigmachen von Arbeitern immanent. Ebenso das Absehen von allem Inhalt der Arbeit, der nicht unter den Gesichtspunkt ihrer Gewinnträchtigkeit fällt. Arbeit ist für sie nur ein Mittel, worin Geld angelegt wird, um mehr Geld zu erhalten. Daher macht sie zwar Arbeiter überflüssig, aber beseitigt nicht die Dinge, die getan werden müßten und nach Arbeit verlangen. In der kapitalistischen Wirtschaft wird die Arbeit knapp, aber nicht in der kapitalistischen Gesellschaft. Der Ausschluß von immer mehr Menschen aus dem System der Arbeit verletzt nicht nur ihr Gemeineigentumsrecht; er verkümmert auch das System der Arbeit und mit ihm die menschliche Natur. Eine Arbeit kann noch so sinnvoll und dringend sein; wirft sie keinen Gewinn für das Kapital ab, das in sie investiert wird, wird sie nicht getan. Nur wenn die Gesellschaft Platz für kapitalistisch uninteressante Arbeit hat, kann auch Arbeit getan werden, die sinnvoll und nicht profitabel ist. Tatsächlich kommt keine moderne Gesellschaft ohne Arbeitssektoren aus, die unproduktiv heißen, weil dort kein Gewinn erwirtschaftet wird. Dazu gehören der gesamte Bereich der Staatsaufgaben einschließlich Polizei und Militär, große Teile des Erziehungswesens, der Wissenschaft und der Kultur, der Kranken- und Altenpflege und andere Tätigkeiten des öffentlichen Diensts. Diese Arbeiten sind notwendig in dem Sinn, daß ohne sie der größte Teil der Erwerbstätigkeiten nicht oder nicht mit der gewünschten Effizienz ausgeführt werden könnte. Allerdings lastet auf ihnen kein Profitabilitätsdruck; ihre Leistung wird mehr oder weniger jedem angeboten, der sie nutzen kann, und ihre Kosten werden teils durch Steuern, teils durch Gebühren gedeckt, die nicht mit dem Gewinnziel erhoben werden. Daher lastet auf ihnen kein Effizienzdruck, und sie können leicht zu Auffangbecken für jene werden, welche die „freie Wirtschaft" überflüssig macht. In jedem Fall kann es im unproduktiven Arbeitssektor keinen Mangel an Arbeit geben. Die Staatsverwaltung kann immer verbessert, die Wissenschaft

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immer vorangetrieben, die Krankenpflege immer vervollkommnet werden. Der unproduktive Arbeitssektor tendiert ebenso zur Vermehrung der in ihm Arbeitenden wie der produktive Sektor, wenn er einmal vorherrschend geworden ist, zu ihrer Verminderung. Die beiden Sektoren würden einander harmonisch ergänzen, müßte der produktive Sektor den unproduktiven nicht als eine Last empfinden, da er ihn direkt durch Steuern und andere Abgaben oder indirekt durch höhere Lohnkosten finanzieren muß. Daher werden alle Teile des unproduktiven Sektors, bei denen dies irgend möglich ist, in Betriebe verwandelt, die ihre Leistungen auf dem Markt anbieten müssen. Die Wirkung ist einerseits zunehmende Arbeitslosigkeit, anderseits Verkümmerung der Möglichkeiten, sinnvolle nichtprofitable Arbeit zu tun. Solange der produktive Sektor dominiert, was er heute unangefochten tut, solange werden Arbeitslosigkeit zu- und die Möglichkeiten sinnvoller Arbeit abnehmen. Daher muß man, wenn man gemäß der Idee der gleichen Freiheit am Recht auf Arbeit festhält, die Vorherrschaft des produktiven Sektors anfechten. Daß der Sektor der gewinnorientierten Arbeit sich den Titel produktiv aneignen konnte, ist selbst schon Ausdruck einer angemaßten Vorherrschaft. In der Tat können die Arbeiten des sogenannten unproduktiven Sektors produktiver sein als die gewinnorientierten; die Arbeit eines Wissenschaftlers wie Newton gehörte dem unproduktiven Sektor an. Ohne die Existenz von Polizei und vor allem eines wirksamen Militärs könnte keine noch so produktive Wirtschaft unter den gegebenen Bedingungen anhaltender potentieller Bedrohung durch Staaten oder militante Gruppen produzieren. Die Vorherrschaft des sogenannten produktiven Sektors über den öffentlichen erweist sich spätestens in Zeiten militärischer Krise als Fiktion. Um der Idee der gleichen Freiheit zu genügen und das Recht auf Arbeit zu verwirklichen, darf man nicht das System der gewinnorientierten Arbeit oder die kapitalistische Ökonomie abschaffen. Jede effiziente Ökonomie ist kapitalistisch. Ohne Markt läßt sich nicht messen, was Güter gesellschaftlich wert sind; denn dieser Wert zeigt sich darin, was man für ein Gut zu geben bereit ist, und das kann sich nur auf einem Markt zeigen. Auf den Markt verzichten heißt auf Wertrechnung verzichten. Doch wenn der Markt unfähig ist, alle Arbeitswilligen in das System der gesellschaftlichen Produktion aufzunehmen, wie er es heute geworden ist, muß ihn eine Gesellschaft, die die gleiche Freiheit achtet, durch Einrichtungen ergänzen, die jedem Arbeitswilligen eine sinnvolle Arbeit sichern. Denn jedes System, das die Möglichkeiten produktiver Arbeit verkümmern läßt, widerspricht der Idee der gleichen Freiheit. Nicht die gewinnorientierte Arbeit selbst widerspricht ihr, wohl aber ihre Vorherrschaft über den Rest der Arbeitsmöglichkeiten. Daher sind Arbeitsmöglichkeiten geboten, die jeden auffangen, der aus dem produktiven Sektor als überflüssig ausgeschieden oder gar nicht erst in ihn zugelassen wird. 489 Einen 489 U m hervorzuheben, daß auch so nüchterne und marxismuskritische Denker wie Popper denselben Schluß aus dem Skandal der Massenarbeitslosigkeit ziehen, zitiere ich aus einem Vortrag von ihm von 1992: „Dank der Technologie ist die Welt - zumindest potentiell - reich genug, ... um die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Mindestmaß zu reduzieren. Volks wirtschaftler mußten die Erfahrung machen, daß dies ziemlich schwierig ist... Ziemlich plötzlich (etwa 1965) kamen sie davon ab, dies als ihr vordringliches Ziel zu betrachten ... Es gibt jedoch ... mehr als einen Beweis dafür, daß das Problem sehr wohl lösbar ist, auch wenn es sich als sehr schwierig erweisen könnte, gewisse Eingriffe in die freie Marktwirtschaft zu vermeiden ... Die Lösung dieses Problems ist dringlich, und es ist empörend, daß es unmodern geworden ist. Falls die Wirtschaftsfachleute nicht mit besseren Methoden aufwarten können, müssen wir ganz schlicht und einfach zu öffentlichen Arbeitsmaßnahmen greifen. Dazu zählen insbesondere privatisierte öffentliche Aufgaben, etwa der

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Ansatz stellen die Institutionen des sogenannten zweiten Arbeitsmarkts dar, die nicht profitorientiert arbeiten oder von den Marktgesetzen durch staatliche Subventionen entlastet sind. Dazu gehören auch Beschäftigungsgesellschaften, die Arbeitslose mit Hilfe staatlicher Subventionen (etwa des Arbeitslosengelds oder der Sozialhilfe, das den von ihnen Beschäftigten gezahlt wird) mit dem Ziel beschäftigen, ihnen den Einstieg oder die Rückkehr in den „ersten" Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Langfristig werden solche Behelfe jedoch nicht genügen. Gefordert sind Einrichtungen, die jedem, der auch langfristig, vielleicht sogar sein Leben lang keine Arbeit im produktiven Sektor finden kann oder will, sinnvolle Arbeit sichern kann. Solche Einrichtungen müßten die Funktionen des öffentlichen und sozialen Dienstes erfüllen. Um das zu leisten, muß sich der unproduktive Sektor gründlich ändern. Seine Angehörigen müssen von seinen Möglichkeiten überzeugt sein. Seine Möglichkeiten sind nicht die der profitablen, sondern der sinnvollen Arbeit. Was er bietet, kann kein hohes Einkommen, aber selbstbestimmte und an der Sache orientierte Arbeit sein. Wer Geld verdienen will, muß in die freie Wirtschaft gehen. Wer mehr als Geld will, muß es in einer Arbeit suchen, der er mehr gibt als nimmt. Wer im unproduktive Sektor tätig ist, muß seine Arbeit als Privileg verstehen, das ihm einen ausreichenden Lebensunterhalt sichert, aber nicht die Gelderwerbsmöglichkeiten des produktiven (oder besser profitablen) Sektors. Sind das nicht utopische Vorstellungen? Ist es nicht lächerlich, ausgerechnet von Arbeitslosen hingebungsvolle Arbeit zu erwarten? Wenn es Arbeitslosen an Disziplin und Effizienz fehlt, sollten sie dazu ausgerechnet im unproduktiven Sektor kommen? Es wäre in der Tat möglich, wenn sich dieser Sektor nur auf seine neue Aufgabe einrichtet. Arbeiten, die von den Unternehmen des produktiven Sektors nicht erledigt werden oder nicht zu Preisen ausgeführt werden, die sich die meisten leisten können, wird es auch in Zukunft genug geben. Ein Sozialdienst, der sich aus dem schon bestehenden Militär- und Zivildienst entwickeln könnte, hätte die Aufgabe, solche unerledigten Arbeiten zu entdecken und auszuführen. Wie kann über die Tätigkeiten des Sozialdiensts entschieden werden? Einerseits muß die Gesellschaft über ihn die Kontrolle haben, anderseits muß es in ihm Spielraum für autonome Entscheidungen der Angehörigen geben. Im unproduktiven Sektor kann per definitionem kein Markt darüber wachen, ob die unterstellten Bedürfnisse nach Befriedigung verlangen. Welche Bereiche besonders dringend Tätigkeit verlangen, etwa Krankenpflege und Erziehung, darüber könnte demokratisch durch das Parlament entschieden werden. Konkrete Projekte aber müssen von den einzelnen Gruppen oder Betrieben des Sozialdiensts selbst entwickelt werden. Gesellschaftliche Zustimmung oder Ablehnung können sie nicht vom Parlament, sondern nur von unabhängigen Ausschüssen erhalten, deren Mitglieder aus den Reihen des Sozialdiensts, seiner möglichen Nutznießer und des produktiven Bereichs zu wählen wären. Die Ausschüsse müßten (noch mehr als das Parlament) mit den Verhältnissen des Lands vertraut sein. Der Sozialdienst und seine Finanzierung müßten daher auf nationaler, nicht auf globaler Ebene arbeiten. Der Sozialdienst muß seinen Angehörigen nicht nur Gelegenheit zu sinnvoller, sondern auch zu autonomer Arbeit bieten. Sie müssen selbst entdecken können, wo und wie Bedürfnisse befriedigt werden können, die der produktive Sektor nicht befriedigt. Sie müssen Leistungen zwar nach der Bedürftigkeit ihrer Nutznießer verteilen, können aber auch mit Straßenbau, der Bau von Schulen, die Lehrerausbildung ..." (Alles Leben ist Problemlösen, München 1994, 315f)

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gewinnorientierten Unternehmen um die Erfüllung unbefriedigter Bedürfnisse konkurrieren und einkommensstarken Kunden Gebühren abverlangen. Die Konkurrenz zwischen Bereichen des Sozialdiensts und Unternehmen des produktiven Sektors könnte fruchtbar sein. Schon heute konkurrieren in einigen Ländern staatliche mit privaten Universitäten. Die Grenze zwischen dem produktiven und unproduktiven Sektor kann fließend werden, je nachdem wie sehr ein Betrieb das Gewinnziel hinter dem der Erfüllung der Kundenbedürfnisse zurücktreten läßt. Langfristig muß das Gewinnziel für jedes Unternehmen des produktiven Sektors den Vorrang haben, da es sonst zugrunde geht. Aber durch staatliche Zuschüsse oder Steuervergünstigungen kann die Vorherrschaft des Gewinnziels gemildert werden. Umgekehrt könnte ein Betrieb, der als Sozialdienst begonnen hat, sich zunehmend am Gewinn orientieren, auf Staatszuschüsse immer weniger angewiesen sein und schließlich ganz in den produktiven Sektor wechseln. Der Sozialdienst muß nicht staatlich organisiert und auch nicht vollständig aus staatlichen Steuereinnahmen finanziert sein. Kirchen und andere weltanschauliche Gruppen könnten sich ebenfalls in einem solchen Dienst versuchen, und verschiedene Sozialdienste könnten miteinander konkurrieren und kooperieren. Aber der Staat als Instanz der Durchsetzung von Gerechtigkeit hat die Rechtspflicht, einen solchen Dienst einzurichten, um das Recht eines jeden auf Arbeit einzulösen. Wie läßt sich die Erweiterung des unproduktiven Sektors um einen Sozialdienst legitim finanzieren? Auch wenn seine Kosten nach Ausschluß hoher Gehälter sinken, werden sie im Maß der Arbeitslosigkeit steigen. Er spart zwar die Kosten für die Arbeitslosenunterstützung und könnte sich durch Gebühreneinnahmen zum Teil selbst finanzieren, bleibt jedoch in voraussehbarer Zukunft auf Finanzierung durch Belastung des produktiven Sektors angewiesen. So provoziert er weniger die Frage, ob diese Belastung legitim sein kann; denn um diese Frage zu bejahen, braucht man sich nur auf das Recht auf Arbeit zu berufen, das jeder hat, weil jeder ein gleiches Recht hat, die natürlichen Ressourcen produktiv zu gebrauchen. Er provoziert vor allem die Frage, wie groß die Belastung sein darf. Grundsätzlich schuldet der produktive Sektor den Arbeitslosen eine Kompensation dafür, daß er natürliche Ressourcen überaneignet, die den Arbeitslosen abgehen. Wir haben nun zwar schon oft genug gesehen, wie schwer es ist, den Wert einer Überaneignung zu messen, aber wir kommen hier doch nicht um eine grobe Einschätzung herum. Wir sind zu ihr auch fähig, weil wir nicht den Wert der den Arbeitslosen zustehenden Naturgüter selbst schätzen müssen, sondern den Wert dessen, was sie aus ihnen erwirtschaften würden, wenn sie nur Zugang zu ihnen hätten. Wir können vermuten, daß der Zugang zu seinem Anteil an natürlichen Ressourcen einem Arbeitslosen ein Stückchen Land verschaffen würde, auf dem er durch seine mühsame Arbeit (in Zusammenarbeit mit andern Arbeitslosen) vielleicht knapp überleben könnte490, aber es wäre schon mehr als zweifelhaft, ob der Wert dieser Bearbeitung seines Anteils an Naturgütern dem Wert eines Mindesteinkommens oder der Sozialhilfe entspricht, auf die in den westlichen Sozialstaaten jeder einen Rechtsanspruch hat. Bei der Wertbemessung darf man aber nicht die geringe Produktivkraft der Arbeit ansetzen, über die der Arbeitslose allein oder in Zusammenarbeit mit andern Arbeitslosen in der Bearbeitung seines Stückchen Lands verfügt. Man muß vielmehr die Produktivkraft ansetzen, die jedes Individuum seiner Generation und seines Landes als eine Eigenschaft der überlieferten und kultivierten menschlichen Natur vorfindet. Denn auch diese gehört zum Gemein490 Vgl. Fußnote 487.

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eigentum, von dem Arbeitslosigkeit ausschließt. Wir können nun erstens voraussetzen, daß ein Arbeitsloser dieser Produktivkraft gemäß seinen Anteil am Gemeineigentum bearbeiten würde, wenn er nur Zugang zu ihm hätte, und zweitens, daß seine Arbeitslosigkeit anzeigt, daß er nicht mehr verdienen könnte, als ein Erwerbstätiger mit vergleichbarem Ausbildungsund Erfahrungsstand im produktiven Sektor verdient. Daraus können wir schließen, daß er sich bei Zugang zu seinem Anteil am Gemeineigentum einen Lebensunterhalt erwerben würde, der mehr oder weniger knapp unter dem der Lohngruppe im produktiven Sektor liegt, zu dem er sich nach seiner Qualifikation rechnen kann, und zwar um so deutlicher darunter, j e höher seine Qualifikation ist. Nach dieser Überlegung hat ein Arbeitsloser, wenn er nur seine Bereitschaft zu arbeiten durch seine Arbeit in einem Sozialdienst beweist, einen Rechtsanspruch auf einen Lohn, der mehr oder weniger knapp unter dem Lohnniveau einer vergleichbaren Tätigkeit im produktiven Sektor liegt. Der produktive Sektor kann daher legitimerweise zur Finanzierung eines Sozialdiensts zum Auffangen der Arbeitslosen in dem Maß belastet werden, in dem es zur entsprechenden Entlohnung der Angehörigen des Sozialdiensts erforderlich ist. Kann der produktive Sektor die Belastung des Sozialdiensts ertragen? Erst seine Einführung von Robotern, Computern und andern arbeitssparenden und produktivitätsteigernden Mitteln macht die große Anzahl von Angehörigen des produktiven Sektors überflüssig und die Institution eines Sozialdienstes zu einer rechtlichen Notwendigkeit. Im selben Maß wie er Arbeiter überflüssig macht, kann er auch einen Sozialdienst finanzieren. Ich habe nur über einen Sozialdienst gesprochen, wie er in entwickelten Ländern notwendig ist. Für die Länder der Dritten Welt, die unter noch größerer Arbeitslosigkeit leiden, ist die Einführung eines Sozialdienst objektiv noch dringender als in der Ersten Welt. Denn: „Die gegenwärtige Zahl der Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern summiert sich auf ungefähr 1,76 Milliarden Menschen, aber sie wird bis 2025 auf mehr als 3,1 Milliarden wachsen - was bedeutet, daß nicht weniger als 38 bis 40 Millionen Arbeitsplätze pro Jahr geschaffen werden müßten." 4 9 1 Eine solche Zahl kann nicht ohne staatliche Hilfe eingerichtet werden. Die Entwicklungsländer haben einen marktergänzenden Sozialdienst noch nötiger als die entwickelten. Das ursprüngliche Ziel dieses Abschnitts war eine Rechtfertigung der Arbeitslosenversicherung. Das Ergebnis ist die Rechtfertigung eines Sozialdiensts. Seine Einführung schließt nicht aus, daß sich jemand gegen Arbeitslosigkeit versichert, illegitim würde aber eine Zwangsversicherung gegen Arbeitslosigkeit, die jeden bei Eintritt der Arbeitslosigkeit auch dann unterstützt, wenn er keinen Sozialdienst akzeptiert. Würde dadurch der Sozialdienst nicht für Arbeitslose obligatorisch werden und aus dem Recht auf Arbeit eine Arbeitspflicht? Das muß vermieden werden, aber nur deshalb, um den Sozialdienst nicht zu einer Zwangsarbeit zu machen. Er muß als Privileg verstanden werden; das verbietet, daß er zur Pflicht wird. Er soll zwar möglichst alle auffangen, die aus dem produktiven Sektor herausfallen, aber das Recht auf Arbeit, zu dessen Verwirklichung er geschaffen wird, ist ein Recht auf sinnvolle Arbeit, und die kann man nicht in einer Institution wahrnehmen, der man bei Arbeitslosigkeit beitreten muß. Was geschieht mit denen, die den Sozialdienst nicht akzeptieren? Sie müssen sich mit einem Mindesteinkommen zurechtfinden, welches das Überleben möglich macht, aber deutlich unterm untersten Einkommen des Sozialdienstes liegt.

491 Kennedy, In Vorbereitung, a.a.O., 44.

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Wie kann ein Mindesteinkommen gerechtfertigt werden? Betrachten wir vor dieser Frage, wie die anderen Zwangsversicherungen außer der Arbeitslosenversicherung gerechtfertigt werden können. Krankheitsschutz Kranken-, Unfall- und Altersversicherungen sind in Europa zu einem großen Teil Zwangsversicherungen und können vielen sozial Benachteiligten einen wirksamen Schutz bei Krankheit, Unfall und Alter nur deshalb gewähren, weil Bessergestellte zum Beitritt gezwungen werden. Können sie überhaupt gerechtfertigt werden? Beschreiben wir die Schwierigkeit so scharf wie möglich. Krankheit, Unfall, Alter sind zumindest nach der Idee der Zwangsversicherungen, die gegen sie versichern, unverschuldet. Aber auch die, die an der Finanzierung der Versicherungen durch gesetzlichen Zwang mitbeteiligt sind, haben Krankheit, Unfall und Alter der Betroffenen nicht verschuldet. Warum dürfen sie zur Hilfe gezwungen werden? Ist das nicht ein Akt der Wohltätigkeit, zu welcher der Staat niemanden zwingen darf? Eine naheliegende Antwort liefert die Idee der Solidarität, und tatsächlich orientierte sie die Einrichtung der Zwangsversicherungen in den europäischen Staaten in den Jahrzehnten vor und nach 1900.492 Wer unverschuldet krank wird, einen Unfall erleidet, schließlich auch die Schwäche des Alters erduldet und dann ohne eigene Schuld nicht die medizinischen oder finanziellen Mittel hat, die Folgen unverschuldeten Unglücks zu beheben oder zu lindern, der hat nach der Idee der Solidarität ein Recht, sogar ein erzwingbares, auf Hilfe durch Bessergestellte. Zwar sollte jeder selbst sein Mögliches tun, für solche Ereignisse vorzusorgen. Deshalb muß jeder verpflichtet werden, nach seinen Fähigkeiten, sprich Einkommen, seinen Beitrag zur eigenen Versicherung gegen Krankheit, Unfall und Alter zu leisten. Wenn aber der Versicherungsfall eintritt, dann verlangt die Solidarität unter den Menschen oder den Bürgern desselben Staats, daß jeder entsprechend seinen Bedürfnissen, sprich nach der Art der Krankheit, des Unfalls und nach seinem dem Alter vorausgehenden Lebensstandard Versicherungsleistungen erhält. Die Solidarversicherungen folgen dem bekannten Motto: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Die Solidaritätsidee der Solidar- oder Zwangsversicherungen ist zweifellos schön, aber liefert nicht die gesuchte Rechtfertigung. Sie erlaubt nur eine neue Formulierung der Frage nach der Rechtfertigung, nämlich: Warum kann diese Solidarität erzwingbar gefordert werden? Ist sie denn eine Form der Gerechtigkeit und nicht vielmehr nur eine Form der Wohltätigkeit, die der Staat nicht erzwingen darf? Um eine Antwort zu finden, müssen wir die Art der Behinderung der Betätigung seiner Anlagen genauer betrachten, die der unverschuldet Kranke erleidet. Diese Behinderung ist zwar eine Beeinträchtigung seiner gleichen Freiheit, aber deshalb noch keine Verletzung. Nur solche Beeinträchtigungen der gleichen Freiheit sind Verletzungen und Unrecht, die menschengemacht, genauer von Menschen verantwortlich verursacht sind. Die Krankheiten, gegen welche die Krankenversicherung der Idee nach versichert, sind nicht menschengemacht; sie sind naturbedingt und von niemandem zu verantworten, weder vom Erkrankten noch einem andern. Dasselbe gilt für Alter und Unfall, und die Kompensation menschenge-

492 Vgl. Steinvorth, Kann Solidarität erzwingbar sein?, in: K. Bayertz (Hg.), Solidarität, Frankfurt 1998.

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machter zurechenbarer Krankheiten und Unfälle regeln nicht Krankenversicherungen, sondern Zivilrecht und Haftpflichtversicherung. Obgleich aber Krankheit, Unfall und Alter nicht menschengemacht sind und insofern keine Verletzung, deren Verhinderung allein Aufgabe der Gerechtigkeit sein könnte, können sie doch aus einem andern Grund ein Unrecht sein. Ein naturbedingtes Unglück kann zu einem Unrecht werden, dann nämlich, wenn es durch zumutbare Leistungen der nicht vom Unglück Betroffenen verhindert oder gemildert werden kann, die diese verweigern. Zumutbar ist eine Leistung für jemanden dann, wenn sie einerseits ein schweres Unglück verhindert oder mildert, anderseits seine Freiheit kaum beeinträchtigt. Warum kann unter dieser Bedingung ein Unglück zum Unrecht werden? Wer ein Unglück geschehen läßt, ohne es zu verhindern, obgleich ihm das Verhindern keine Mühe kostet, muß als jemand verstanden werden, der das Unglück billigt. Wer ein Kind nicht aus dem Wasser holt, das er vor seinen Augen ertrinken sieht, obgleich er dabei weder Leben noch Gesundheit gefährdet, kann zwar versichern, er wolle nicht den Tod des Kindes. Aber selbst wenn ihm der Tod nur gleichgültig ist, mißachtet er mit seiner Haltung die Person und verletzt ihr Recht, nicht das Opfer von Willkür zu sein. Die zumutbare Hilfeleistung ist daher erzwingbar, nicht weil die Gesinnung der Achtung erzwungen werden soll, sondern weil eine Unterlassung verhindert werden soll, die die Verletzung eines Rechts ist. Obgleich der Unterschied von Handeln und Unterlassen nicht aufgehoben werden darf, muß man eine zumutbare unterlassene Hilfeleistung statt als Unterlassung als eine Tat ansehen, mit der jemand Willkür ausübt. Die Zumutung an Hilfeleistung kann darüber hinaus um so größer sein, j e stärker die Gruppen der potentiellen Opfer von Unglück und der potentiellen Hilfeleistenden durch andere Leistungen wie Militär-, Zivil- oder Sozialdienst und die für sie notwendigen Steuerzahlungen miteinander verbunden sind. Angehörige einer Gruppe, die schon durch wechselseitige Rechtspflichten verbunden sind, können einander mehr zumuten, als solche, die es nicht sind. Die Solidarversicherung ist nur ein Weg zu einer Linderung unverschuldeten Unglücks durch zumutbare Hilfe. Ein anderer Weg, der unter nicht a priori festlegbaren Bedingungen ebenso als zumutbare Hilfeleistung gerechtfertigt werden kann, ist ein aus progressiven Steuern finanzierter Fonds für Krankheit, Unfall und Alter nicht für jeden, sondern nur für die, die nicht die Mittel haben, sich privat zu versichern. In beiden Fällen ist die Belastung dem Bessergestellten zumutbar, soweit er ein sonst nicht vermeidbares Unglück des Schlechtergestellten verhindert und seine Freiheit nur wenig beschneidet. In dem Maß, wie der Mehrbeitrag zu einer Handlung wird, deren Unterlassung nicht mehr als Verletzung des Rechts eines vom Unglück Getroffenen auf Freiheit von Willkür gelten kann, verliert der Solidarzwang seine Rechtfertigung. Bei einer Solidarversicherung kann die Belastung dies Maß um so eher überschreiten, je mehr von den Besserverdienenden sich von der Solidarversicherung ausnehmen können. Diese muß daher eine allgemeine, alle Bürger verpflichtende Zwangsversicherung sein, die Zusaizversicherungen allerdings nicht ausschließt. 493 Erfolgt der Schutz vor unverschuldetem Unglück durch ein Steuersystem, können einseitige Belastungen innerhalb der Gruppe der Bessergestellten vermieden werden, wenn nur Steuerflucht und Zweckentfremdung der Steuergelder ausgeschlossen sind. Aber sind selbst unter diesen günstigen Bedingungen die Beiträge der Bessergestellten zu 493 Vgl. Steinvorth, Genomanalyse - Lasten, Rechte und Pflichten des Gebrauchs genetischen Wissens. In Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 28, 1995, 378-381.

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solidarischen Zwangsversicherungen oder den sie ergänzenden oder ersetzenden Steuern zumutbar? Beanspruchen sie nicht einen Teil ihrer Einkünfte, den sie als eine schwere Belastung empfinden müssen? In einzelnen Fällen wird das vorkommen; insgesamt scheint mir das nicht der Fall. Die Gefahr einer unzumutbaren Belastung wächst aber einerseits durch die wachsende Palette medizinischer Behandlungsmöglichkeiten, von denen wegen der ständigen Zunahme der Möglichkeiten (und ihrer Kosten) nur ein immer kleinerer Teil angewendet werden dürfte, um die erzwingbaren Beiträge zumutbar zu halten, anderseits wegen der abnehmenden Zahl der Arbeitenden in den meisten entwickelten Ländern, die immer mehr nichtarbeitende Bedürftige versorgen müssen. Um ein legitimes Versicherungssystem aufrechtzuerhalten, müssen Gesellschaften eine langfristige Politik der Begrenzung der Gesundheitskosten und der Sicherung angemessener Zahlenverhältnisse zwischen den Altersgruppen der Bevölkerung betreiben. Wie weit erstreckt sich die erzwingbare Solidarität, sei es in Form einer Solidarversicherung, sei es in Form einer gezielten Besteuerung? Auf eine partikulare Gesellschaft oder auf die ganze Welt? Da die Zumutbarkeit unter Angehörigen von Rechtsgemeinschaften, wie es Staaten sind, größer sein kann und die Zumutung durch Solidarversicherung oder progressive Steuern nicht gering ist, kann die erzwingbare Solidarität nur in einem partikularen Staat erzwungen werden. Daran wird deutlich, daß sie eine Nachfolgerin der Familien- oder Sippensolidarität vormoderner Gesellschaften ist, die zwar nicht mit den Zwangsmitteln gefordert wurde, die der moderne Staat gebraucht, wohl aber mit den spezifischen Sanktionen, über die Familien verfügen. Daher hat Hegel von der modernen oder, wie er sie nennt, bürgerlichen Gesellschaft gesagt, in ihr sei „das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die ebenso sehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat." 494 Sind Solidarversicherungen legitim erzwingbar, so hört das Recht auf, nur dem Schutz vor Verletzungen zu dienen, die Menschen einander zufügen; es umfaßt nun auch den Schutz vor Unglück, das die Natur zufügt. Daher sagt Hegel auch, wie uns schon bekannt ist: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustand der Gesellschaft" - gemeint ist die bürgerliche Gesellschaft im Unterschied zum Natur- und Familienzustand - „gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird." 495 Aber auch Hegel schränkt die Fälle, in denen ein Unglück zum Unrecht wird, durch die Bedingung der Zumutbarkeit der Hilfe ein, durch die ein Unglück gemildert werden kann. Zur Solidarität darf nur gezwungen werden, dessen „subjektive Freiheit" bewahrt bleibt; daher darf seine Leistung nur in Geldabgaben bestehen. 496 Die Unterscheidung zwischen dem Angriff auf die Freiheit in der Betätigung der eigenen Anlagen und ihrer Beschneidung durch Eingriff in die Aneignung des Ergebnisses dieser Betätigung, auf die die Verfechter der demokratischen Gleichheit gründen wollen 497 , erweist sich hier in der Tat als wichtig, rechtfertigt aber nicht die demokratische Gleichheit, sondern nur solche Beschneidungen, deren Unterlassung als eine Verletzung des vom Unglück Betroffenen verstanden werden müssen. Solche und nur solche Beschneidungen verlangt die oft übersehene, aber historisch wirksame Institution der liberalen Gleichheit, die Solidarversicherungen darstellen.

494 495 496 497

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 238. Ebd., § 244, Zusatz. Ebd., § 299, Anm. und Zusatz. Vgl. dazu oben den Abschnitt zu Beginn dieses dritten Teils.

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Die liberale Gleichheit

Mindesteinkommen Eine dritte Institution der liberalen Gleichheit in modernen Sozialstaaten ist das garantierte, aber nur bedingt ausgezahlte Mindesteinkommen, das in Deutschland die Form der Sozialhilfe hat. Es ist zweifellos weniger wichtig als das Schul- und das Versicherungssystem, darf aber schon wegen van Parijs' Argumentation für ein bedingungslos ausgezahltes Grundeinkommen nicht vergessen werden. Es wird gewöhnlich damit begründet, daß ein Individuum ein Recht darauf habe, seine elementaren Bedürfnisse gestillt zu bekommen. Aber es gibt weder ein solches Recht noch eine entsprechende Rechtspflicht, die der Staat zu erfüllen hätte. Die Menschen haben die Pflicht, für die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Tiere zu sorgen, die sie halten. Arbeitsfähige Menschen können für ihre Bedürfnisse selbst sorgen, und sie müssen es, wenn sie nicht zu Haustieren werden wollen. Nur wenn sie unverschuldet arbeitsunfähig sind, können andere zu zumutbarer Hilfe verpflichtet sein. Aber diese Pflicht ist noch keine Pflicht, jedem in Armut Geratenen zu helfen und ihm ein Mindesteinkommen zu garantieren. Oder wie Gutmann argumentiert: „A strong case can be made for an obligation to guarantee a threshold level of financial security to all citizens who accept the obligations of citizenship (which include the willingness to work if one is able)." 498 Kann das Mindesteinkommen mit derselben Begründung wie eine Solidarversicherung gerechtfertigt werden, nämlich als eine zumutbare Hilfeleistung, deren Unterlassung als Verletzung verstanden werden muß? Das ist möglich, wenn seine Empfänger ohne eigene Schuld in Armut geraten sind und aus irgendwelchen Gründen weder Versicherungsschutz genießen noch eine Arbeit aufnehmen können. Wenn ihre Zahl klein und ein erheblicher Teil des Rests der Nation wohlhabend ist, dann wäre die Belastung gering und könnte als zumutbare Hilfe gerechtfertigt werden. Da die Bedingung der Unverschuldetheit der Armut oft schwer nachweisbar ist, läßt sich auch ein Mindesteinkommen rechtfertigen, das ohne Prüfung der Schuldfrage ausgezahlt wird. Aber es hätte dann nur die Form eines Almosens, das dazu dient, die Zeit zu überbrücken, bis sein Empfänger eine Arbeit findet. Das wichtigste Argument für ein Mindesteinkommen, insbesondere für ein bedingungslos ausgezahltes Grundeinkommen, ist, wie wir bei van Parijs fanden, daß es jedem die Tauschkraft sichert, die ihn vom Zwang befreit, auch die schlechteste Arbeit und den niedrigsten Lohn auf dem Arbeitsmarkt hinzunehmen. Eine gewisse Tauschkraft ist eine Bedingung dafür, daß ein Individuum seine Anlagen ebenso ungehindert wie die anderen betätigen kann. Wer keine andere Option hat, als das Angebot anzunehmen, das ihm auf dem Markt gemacht wird, hat weniger Betätigungsmöglichkeiten als der, der andere Optionen hat, und auf solchen Markttausch ist heute jeder in einer modernen Gesellschaft angewiesen. Gibt es aber einen marktergänzenden Sozialdienst, kann sich niemand zu einer unzumutbaren Arbeit gezwungen sehen. Daher kann das Mindesteinkommen nicht der Weg sein, liberale Gleichheit zu befördern. Dies muß vielmehr durch das Erziehungssystem, das Recht auf Arbeit und den durch es geforderten Sozialdienst und durch solidarische Zwangsversicherungen oder ein durch progressive Steuern finanzierten Fonds für einkommensschwache Kranke geschehen. Wenn diese Institutionen verwirklicht wären und der Sozialdienst alle auffangen könnte, die aus dem produktiven Sektor herausfallen, wäre das Mindesteinkommen überflüssig. Es empfiehlt sich jedoch als ein letztes Sicherheitsnetz, erstens weil man von

498 Gutmann, Distributing Public Education in a Democracy, a.a.O., 130.

Demokratische Gleichheit

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Institutionen keine Vollkommenheit erwarten kann, zweitens weil der Sozialdienst nicht obligatorisch sein darf und denen eine Überlebensmöglichkeit bleiben muß, die ihn verwerfen. Als ein letztes, nicht bequemes Sicherheitsnetz läßt sich seine Finanzierung durch die Bessergestellten rechtfertigen, da die Belastung eine zumutbare Hilfeleistung ist. Ob es bedingungslos ausgezahlt werden sollte, um von den Besserverdienenden wieder durch eine Steuer abgeschöpft zu werden, oder als negative Einkommensteuer oder als Sozialhilfe, ist philosophisch unentscheidbar; eine negative Einkommensteuer wäre vermutlich die durchsichtigste und effektivste Form. Wegen der Abhängigkeit seiner Höhe vom Bestehen eines Sozialdiensts und eines allgemeinen Krankheitsschutzes, die beide national eingerichtet sein müssen, muß auch das Mindesteinkommen auf nationaler Ebene eingerichtet werden. Demokratische Gleichheit Wir haben die liberale Gleichheit rechtfertigen können, obgleich wir Rawls' Gründe für sie verworfen haben. Könnten wir nicht auch die demokratische Gleichheit rechtfertigen, obgleich wir Rawls' Gründe verworfen haben? Zumal sich das Recht auf Schutz vor dem unverschuldeten Unglück von Krankheit, Unfall und Alter, das ursprünglich keine soziale, sondern eine natürliche Kontingenz ist, als gerechtfertigt erwies. Zwar nur durch die Deutung dieses Rechts als eines Rechts auf Schutz vor einem Unglück, das wegen der Zumutbarkeit von Hilfeleistungen seine ursprüngliche Natürlichkeit verliert und zu einem menschengemachten Unglück und sozialen Unrecht wird. Aber wenn eine solche Umdeutung möglich ist, läßt sich dann nicht auch das Prinzip der demokratischen Gleichheit, die Ausgleichung ökonomischer Unterschiede, die durch unterschiedliche Talente entstehen, rechtfertigen? Hinzu kommt, daß Dworkin und van Parijs für die demokratische Gleichheit vorsichtiger argumentieren als Rawls. Sie rechnen zur demokratischen Gleichheit nur die Talentunabhängigkeit der Verteilung, nicht auch wie Rawls die Anstrengungsunabhängigkeit. Sie wollen im Gegensatz zu Rawls die Verteilung anstrengungsabhängig machen. Damit entsprechen sie eher verbreiteten Intuitionen von Verteilungsgerechtigkeit. Wie Rawls möchten sie zwar die Lotterie der Gene als Verteilungsfaktor ausschalten, aber zugleich an der Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung festhalten. Sie respektieren also nicht nur die Freiheit, die eigenen Anlagen zu gebrauchen, sondern auch die, das Ergebnis ihres Gebrauchs anzueignen. Zum Ergebnis rechnen sie nicht den Teil, der sich dem Talent oder Glück verdankt, sondern nur den, der sich all dem an den Handlungen der Person verdankt, was ihr selbst als ihr höchsteigenes talent- und zufallunabhängiges Verdienst zukommt, die Anstrengung und Entscheidung. Für Rawls gibt es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen einem mangelnden Talent, einer arbeits- und erfolgshemmenden Vorliebe oder Charakterschwäche wie etwa Faulheit und einer Behinderung oder Krankheit. Alle diese Eigenschaften sind ihm kontingent, eine Folge von Milieu oder Erbgut, für welche die Person letzten Endes (aber im Widerspruch zu seiner Kritik an der Willkür der Genlotterie, gegen die er sich implizit auf die Willensfreiheit beruft) nicht verantwortlich ist.499 Dworkin und van Parijs rechnen dagegen unsere „tastes and preferences", unsere Vorlieben, zu unserem Verantwortungsbereich (van

499 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, a.a.O., 74, und oben das Rawls-Kapitel.

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Parijs irrt, wenn er sich hier unterschieden von Dworkin glaubt) 500 und wollen sie die Güterverteilung mitbestimmen lassen. Ist es nun erstens nicht richtig, eine Person nur für ihre Anstrengungen, nicht aber für ihre Talente verantwortlich zu machen? Muß man daher nicht zweitens die Verteilung talentunabhängig machen und damit, wenn auch nicht ganz in der Rawlsschen Weise, die demokratische Gleichheit verwirklichen? Man muß die erste Frage bejahen, die zweite aber verneinen. In der Tat kann man niemand für seine Talente verantwortlich machen, sowenig wie für irgend eine andere Beschaffenheit, mit der er geboren wurde oder die er sich durch ein Milieu oder eine Erziehung zugezogen hat, für die er nicht verantwortlich ist. Aber daraus folgt nicht, daß man die Verteilung talentunabhängig machen muß. Erstens ist die Unverdientheit des Talentbesitzes kein Grund, den Talentgebrauch als legitimen Verteilungsfaktor auszuschließen. Talente sind angeborene Naturgüter, über die und deren Früchte der mit ihnen Geborene nach dem Grundrecht der Selbstverfügung grundsätzlich allein verfügen darf. Zweitens kann man nicht zugleich die Talentwnabhängigkeit und die Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung verfechten. Denn auch der Talentierte muß sein Talent gebrauchen; der Gebrauch gehört zur Anstrengung (ambition); aber wie soll man den bloßen Talentbesitz vom Talentgebrauch unterscheiden? Gilt die Verteilung als talentunabhängig, dann muß sie auch als unabhängig vom Gebrauch seiner Talente gelten; damit aber auch als unabhängig von seinen Anstrengungen und Entscheidungen. Gilt sie als anstrengungsabhängig, dann aus demselben Grund auch als abhängig von den Talenten. Die erste Möglichkeit wählt Rawls, die zweite Nozick, einen dritten Mittelweg gibt es nicht. Da der Rawlssche Weg im Widerspruch zur Annahme der Verantwortlichkeit des Menschen steht, der Rawls selbst folgt, wenn er an die Freiheit des Menschen appelliert, sich nicht der Willkür der Genlotterie zu beugen, bleibt nur der Nozicksche Weg. Nach dieser Kritik müssen wir die Konsequenz ziehen: Dworkins und van Parijs' Unterscheidung entspricht zwar verbreiteten Intuitionen, erweist sich aber bei näherer Betrachtung als undurchführbar. Philosophen dürfen Intuitionen nicht ungeprüft hinnehmen. Aber ist diese Kritik nicht zu grob? Muß man nicht seine Talente zwar gebrauchen, wenn man etwas erwerben will, aber heißt das nicht nur, daß man sich für den Gebrauch seiner Talente wenig anstrengen muß, jedenfalls weniger für dieselbe Leistung als der Untalentierte? Also kann man mit Dworkin und van Parijs gegen meine Kritik darauf bestehen, daß dem Talentierten für die gleiche Gütermenge, die er hervorbringt, weniger zugerechnet werden muß als dem Untalentierten, und das heißt, er muß höher besteuert und die Verteilung muß talentunabhängig gemacht werden. Diese Verteidigung verkennt das Hindernis, das den vermeintlichen dritten Weg versperrt. Wenn man überhaupt jemandem Handlungen so zurechnet, daß er sich ihr Ergebnis aneignen darf, dann darf man nicht die Zurechenbarkeit nach irgendeinem Maß der Anstrengung quantifizieren, die für eine Handlung aufgewendet wurde. Es ist die Handlung und nicht ihre Anstrengung, die dem Handelnden zugerechnet wird; daher muß dem Handelnden auch das Handlungs- und nicht das Anstrengungsergebnis als etwas zugeschrieben werden, was er sich aneignen darf. Auch gegen diese Kritik läßt sich ein Konter denken. Dworkin und van Parijs könnten darauf bestehen, es komme nicht auf die Frage an, ob man jemandem seine Handlung oder seine 5 0 0 Vgl. oben das Kapitel zu van Parijs und Dworkin, What is Equality? Part II, a.a.O., 311, van Parijs, Real Freedom, a.a.O., 68ff.

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Anstrengung zurechnen darf, sondern darauf, ob und wieviel er sich vom Ergebnis seiner Handlung aneignen darf. Zuzurechnen sei ihm allerdings seine Handlung, aneignen dürfe er sich aber nur den Teil des Ergebnisses, der seiner Anstrengung entspricht. Aber eben diese Unterscheidung läßt sich nicht plausibel aufrecht erhalten. Das wird deutlicher, wenn es um die Zurechnung nicht nützlicher, sondern schädlicher Handlungsergebnisse geht. Wer für die Handlung verantwortlich ist, die einen Schaden verursacht, muß sich auch diesen Schaden in dem Sinn aneignen, daß er ihn soweit möglich wiedergutzumachen hat. In der ökologischen Diskussion ist diese Auffassung als Verursacherprinzip allgemein anerkannt. Nach der Unterscheidung von Talentunabhängigkeit und Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung müßten wir jemandem den Schaden, den er arbeitsteilig mit anderen angerichtet hat, um so weniger anrechnen, je weniger er sich dabei angestrengt hat, und anderen um so mehr, je mehr sie sich dabei angestrengt haben (oder umgekehrt, wenn wir in der Anstrengung das Widerstreben erkennen, Schaden anzurichten). Aber den Gesichtspunkt der Anstrengung hier einfließen zu lassen, halten wir nicht für gerecht, sondern für absurd, weil wir nicht danach fragen, ob jemand sich bei der kooperativen Schadensproduktion angestrengt hat, sondern wieviel vom Schaden er hervorgebracht hat. Ebensowenig dürfen wir bei der arbeitsteiligen Nutzenproduktion danach fragen, wie sich jemand dabei angestrengt hat, wir müssen fragen, wieviel er davon hervorgebracht hat. Der Vergleich einer arbeitsteiligen Schadens- mit einer arbeitsteiligen /Vwizenproduktion zeigt nicht nur, daß für die legitime Zurechnung eines Handlungsergebnisses der Grad der Anstrengung irrelevant ist. Er kann auch erklären, warum wir die Aufteilung des Produkts einer arbeitsteiligen Nutzenproduktion nach der Anstrengung der Kooperierenden nicht abwegig finden. Im Schadensfall interessiert uns normalerweise die Verantwortlichkeit im rechtlichen Sinn; wir fragen nicht danach, welchen Schaden jemand eigentlich hervorbringen wollte, sondern hervorgebracht hat. Das Recht urteilt nicht über die Gesinnung, sondern die „äußere" Handlung. Im Nutzenfall dagegen interessiert uns oft die moralische Verantwortlichkeit; wir wollen dann wissen, nicht was jemand wirklich hervorgebracht hat, sondern welchen Willen oder welche Absicht er dabei hatte; vor allem, ob er einen guten Willen hatte und sich bemühte, das Beste hervorzubringen, wenn es ihm auch mangels Kraft oder Talent nicht gelang. Gerade in den Fällen gemeinsamer Nutzenproduktion, in denen wir überhaupt erst zu kooperieren lernen, nämlich in solchen der Familie oder mit Freunden, sind wir nicht an der rechtlichen Verantwortlichkeit der Kooperierenden interessiert, sondern an der moralischen; wir unterstellen dann pädagogisch, daß Belohnungen des guten Willens, das Beste zu geben, den Gesamtnutzen erhöhen, und verteilen das Kooperationsprodukt nicht danach, was jemand hervorgebracht hat, sondern hervorbringen wollte. Eine solche Verteilung ist legitim in Gruppen, deren Mitglieder wie in einer Familie durch besondere Fürsorgepflichten oder wie unter Freunden freiwillig verbunden sind. Aber sie ist illegitim in einer Gesellschaft, die wie die eines Staats eine Zwangsverbindung ist. Hier darf das Produkt der Kooperation nur nach der rechtlichen Verantwortlichkeit verteilt werden: danach, was jemand hervorgebracht hat, nicht danach, was er hervorbringen wollte oder wie sehr er sich bemüht oder angestrengt hat. In einer Familie oder unter freiwillig Assoziierten ist die Verteilung nach der Anstrengung ein Akt der Solidarität oder Wohltätigkeit. Das Gesamtprodukt einer staatlich organisierten Gesellschaft darf nicht nach einem Gesichtspunkt der Solidarität oder Wohltätigkeit aufgeteilt werden. Ihre Mitglieder schulden einander erzwingbare Solidarität nur dann, wenn der Gegenstand der Solidarität ein unverschuldetes Unglück ist, dessen Verhinderung oder Milderung auch denen zumutbar ist, die es nicht zu

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verantworten haben. Wenn jemand wegen Talentmangels weniger Einkommen bezieht, ist das kein Unglück, dessen Verhinderung oder Milderung denen zugemutet werden kann, die für es nicht verantwortlich sind. Es ist erst recht kein Unglück, das ihn wie eine Krankheit oder Behinderung am Gebrauch seiner Fähigkeiten hindert. Es gehört vielmehr zur Beschaffenheit seiner Person, mit der zurechtzukommen eine Aufgabe ist, die ihm niemand abnehmen kann, ohne ihm seine Fähigkeit abzunehmen, über sich selbst zu verfügen. Ein anderes Argument zugunsten der demokratischen Gleichheit stützt sich gerade auf den Vergleich des Talentmangels mit einer Behinderung. Wir können, ja wir müssen, behauptet van Parijs, schlechte Talente als eine unverschuldete Krankheit betrachten. 501 Wenn es gerecht ist, Solidarität für unverschuldete Krankheiten zumindest über eine erzwingbare Solidarversicherung einzutreiben, dann sei es auch gerecht, in ähnlicher Weise Solidarität für mangelnde Talente einzutreiben. Dies Argument impliziert eine Besteuerung der Talentierten und die Ausschaltung der Genlotterie oder der natürlichen Kontingenz der Verteilung, wie es das Ideal der demokratischen Gleichheit verlangt. Das Argument kann durch den Hinweis darauf bekräftigt werden, daß es einen graduellen Übergang zwischen unverschuldeter Krankheit und Unfall einerseits und dem Besitz bestimmter mangelhafter Anlagen anderseits gibt. Schläfrigkeit könnte eine selbst zu verantwortende schlechte Veranlagung wie Schlafmützigkeit sein, aber auch eine neurologische Krankheit. Was für den Kollegen Faulheit ist, kann für den Psychologen eine neurotische Fixierung auf eine bestimmte Kindheitsphase sein. Wie soll man hier objektiv unterscheiden und wo die Grenze ziehen? Ist es nicht sinnvoll, die erzwingbare Solidarität für unverschuldete Krankheiten auch auf den Mangel an Talenten und schlechte Veranlagungen auszudehnen? Die Angleichung von Talentmangel und Krankheit oder Behinderung hat weitreichende Konsequenzen, die van Parijs andeutet, wenn auch nicht ausbuchstabiert. Wenn der ökonomisch weniger Talentierte dasselbe Recht auf solidarische Unterstützung hat wie der durch Behinderung Arbeitsunfähige, dann kann man auch dem im Aussehen oder Sex-Appeal Benachteiligten nicht eine entsprechende Unterstützung verwehren. 502 Diese Konsequenz droht zu einer demonstratio ad absurdum des Arguments zu werden, zumal wenn man erwartet, daß die Kompensation dem Medium dessen entsprechen müßte, worin man mehr oder weniger erfolgreich ist. Dies ist im Fall des ökonomischen Erfolgs oder Mißerfolgs angemessenerweise das Geld und müßte im Fall des sexuellen Erfolgs oder Mißerfolgs etwas Sexuelles sein. Wie aber könnte der sexuell Erfolgreiche den sexuell Erfolglosen im Medium des Sexuellen kompensieren? van Parijs denkt nur an das Geld als das einzig mögliche Kompensationsmedium, aber das ist zwar weniger absurd, doch weniger konsequent. Worin unterscheiden sich also in relevanter Weise Talentmangel und Behinderung? Für beide kann der Betroffene nichts; beide können das Leben erschweren, aber beide hindern den Betroffenen auch nicht notwendig daran, selbst über sein Leben zu verfügen. Beide lassen sich entweder selbst oder in ihren Folgen durch Erziehung oder Übung abschwächen oder überwinden. Selbst wenn Behinderung medizinisch definierbar sein sollte und Talentmangel nicht, bleibt die Frage, warum man bereit sein sollte, eine solidarisch erzwingbare Hilfe für einen Mangel nur deshalb anzuerkennen, weil er medizinisch definierbar ist. Relevant ist in der Tat nur, ob die erzwingbare Hilfe, zu der Behinderung oder Talentmangel verpflichten können, zumutbar ist. Erzwingbare Hilfe ist nur legitim, soweit wir unterstellen können, daß 501 Siehe oben das Kapitel zu van Parijs. 5 0 2 van Parijs, Real Freedom, a.a.O., Kap.3, Abschnitt 2.

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die Empfänger der Hilfe sich nicht selbst helfen können; andernfalls ist sie unzumutbar. Ist der Empfänger einer solchen Hilfe, sei er behindert oder talentlos, selbst fähig, sich die Hilfe zu sichern, zu der ihm die solidarische Hilfe in die Lage versetzen soll, so wäre es unzumutbar und ungerecht, in irgendeiner Weise einen anderen zu solidarischer Hilfe zu zwingen. Von Behinderten, denen wir solidarische Hilfe zugestehen, nehmen wir an, sie seien außerstande, sich selbst in ihrer Lage zu helfen, und wenn wir diese Unterstellung nicht erfüllt sehen, halten wir erzwingbare Hilfe auch nicht für zumutbar. Dagegen können wir nicht unterstellen, daß der Talentlose auf unsere Hilfe angewiesen ist. Er mag mit der Ausstattung, mit der er geboren wurde, weniger Erfolg haben. Aber wenn die Institutionen der liberalen Gleichheit, die Schulen, ein Sozialdienst und Krankheitsschutz für jeden, funktionieren, wäre die erzwingbare Hilfe für ihn eine unzumutbare Beschneidung der Freiheit der durch ihn Belasteten. Die Zumutbarkeit stellt zwei Bedingungen: nicht nur, daß die Größe der Hilfe, zu der jemand gezwungen wird, kein zu großes Opfer bedeutet, sondern auch, daß jeder, der sich selbst helfen kann, sich auch selbst hilft. Auch die zweite Bedingung läßt sich begründen. Die Selbsthilfe ist eine Betätigung der eigenen Fähigkeiten und mit ihnen der eigenen Vernunft. Wenn die Vernunft den Menschen auszeichnet, so wäre es eine Mißachtung der eigenen Vernunft, sich nicht selbst zu helfen. Schon deshalb sind wir berechtigt, jedem zuzumuten, sich selbst zu helfen, wenn er dazu in der Lage ist, und seine Ansprüche auf unsere Hilfe zurückzuweisen. Die sozialen Rechte reichen daher nicht über die liberale Gleichheit hinaus. Ihre Grundlage ist nicht ein einziges Prinzip, sondern zwei: erstens das Gemeineigentum natürlicher und das kollektive Eigentum gemischter Ressourcen, zu denen auch die Kultur zu rechnen ist; zweitens die Zumutbarkeit von Hilfen für unverschuldete Notlagen. Das erste Prinzip berechtigt zur Belastung der Bessergestellten für das Erziehungswesen und für einen marktergänzenden Sozialdienst (darüber hinaus für die ökologischen Aufgaben, den Wert der natürlichen und der gemischten Ressourcen zu erhalten), das zweite für ein Versicherungssystem gegen unverschuldete Not durch Krankheit, Unfall und Alter. Auf welchen Wegen der Staat die Mittel zur Finanzierung der Institutionen der gleichen Freiheit eintreibt, ob und zu welchen Teilen durch ökologische Steuern auf den umweltbelastenden ressourcenverknappenden Verbrauch, durch eine progressive Einkommensteuer, durch eine progressive Erbschaftssteuer, durch solidarische Zwangsversicherungen oder andere Konstruktionen, ist eine Frage des konkreten politischen Urteils und kann nicht philosophisch entschieden werden. Für das Verständnis der Steuern und anderer Staatseinnahmen ist wichtig, daß wir sie alle auf zwei Quellen zurückführen können: auf das Gemeineigentum an natürlichen Ressourcen und auf solche Anteile des Privateigentums, deren Abgabe den Eigentümern als Hilfeleistung an unverschuldet von Unglück Betroffene zugemutet werden darf. Alle Staatseinnahmen repräsentieren die Summe des Werts des Gemeineigentums und eines Bruchteils des Werts des Privateigentums. Das spricht immerhin dafür, den staatlichen Finanzbedarf nicht nur durch Lohn- und Einkommensteuer, sondern auch zu einem erheblichen Anteil durch Verbrauchsteuern einzutreiben. Verlangt die liberale Gleichheit nicht mehr als die aufgezählten Institutionen der sozialen Rechte? Die natürlichen und gemischten Ressourcen sind überall auf der Welt in ungleichem Besitz. Reine Naturgüter wie Erze, Erdöl und Kohle vor ihrem Abbau und gemischte Ressourcen wie Boden und Wälder sind großteils in Privatbesitz und daher nicht jedem gleich oder zu dem Anteil zugänglich, der dem Anteil des Gemeineigentums an den gemischten

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Ressourcen entsprechen könnte. Die Gerechtigkeit verlangt, den Wert des in ihnen enthaltenen Gemeineigentums an alle zu gleichen Teilen aufzuteilen oder, wenn dies auf Schwierigkeiten stößt, die in ihrem Gebrauch des materiellen Gemeineigentums ihres Landes Benachteiligten zu kompensieren. Brauchen also nicht auch Sozialstaaten Institutionen, die das tun? Sie brauchen es nicht, weil die Überaneignung natürlicher und gemischter Ressourcen durch die Besteuerung zugunsten der sozialen und ökologischen Rechte aufgehoben wird. Wo es solche Besteuerung dagegen nicht gibt und extreme Unterschiede im Grundbesitz bestehen, ist die direkte Umverteilung privilegierten Besitzes von Naturgütern etwa durch eine Bodenreform ein Gebot der Gerechtigkeit. Auch wenn in den Boden die Arbeit seiner Besitzer und ihrer Vorfahren eingegangen ist, läßt sich die Kontrolle des Großteils eines Landes durch eine kleine Gruppe unter keinen Umständen rechtfertigen. Die Vorteile einer solchen Position in der Aneignung natürlicher Ressourcen sind zu überwältigend, als daß sie durch die Arbeit der Besitzer gerechtfertigt werden könnten, zumal sie gewöhnlich nicht selbst gearbeitet, sondern nur befohlen haben.

4. Zur Durchsetzbarkeit der gleichen Freiheit Zur Aktualität der gleichen Freiheit Wenn die liberale Gleichheit die konkretere Form der Gerechtigkeit ist, die der Staat und hinter ihm alle Menschen durchzusetzen haben, so müssen wir schließlich fragen, ob, wie und mit welchen Erfolgsaussichten sie sich heute durchsetzen läßt. Die politische Philosophie darf ihre Bestimmung der Gerechtigkeit nicht am Durchsetzbaren orientieren. Hat sie sie aber bestimmt, so muß sie nach der Durchsetzbarkeit ihres Ideals fragen, weil sie nicht nur die Theorie der Gerechtigkeit, sondern auch ihrer Durchsetzung ist.503 Die Frage nach der Durchsetzbarkeit der liberalen Gleichheit muß zwei entgegengesetzte und doch zusammenhängende Einwände ausräumen: erstens daß mit ihrer Durchsetzung wenig geändert werde, zweitens daß grundsätzliche Veränderungen am bestehenden System gar nicht möglich seien. Der erste Einwand könnte von Verfechtern einer radikaleren Gleichheit als der hier vertretenen erhoben werden, der zweite von Max Weber. Der erste Einwand liegt nahe, wenn man bedenkt, daß radikalere Deutungen der gleichen Freiheit als die liberale Gleichheit, etwa Rawls' demokratische Gleichheit, doch schon heute viele Anhänger haben, obgleich ihre Verwirklichung die gegebenen Verhältnisse sicher tiefer verändern würde als die der liberalen Gleichheit. Aber natürlich kommt es nicht darauf an, das Bestehende möglichst radikal, sondern gerecht zu ändern. Zudem verrät der Eifer, mit dem ein radikales Ideal verfochten wird, wenig über die moralischen Intuitionen, die es stützen. Gerade weil die liberale Gleichheit weniger radikal ist, ist sie ein ernster zu nehmender Feind der Mängel des Bestehenden, den man nicht so gefahrlos in Sonntagsreden und akademischen Kreisen preisen und im Alltagshandeln verleugnen kann wie Ideen, deren Verwirklichung man einer unbestimmten Zukunft vorbehält.

503 Kant, Zum ewigen Frieden, AA, 66, nennt die Politik daher „ausübende Rechtslehre".

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Die liberale Gleichheit ist in jedem Fall unvereinbar mit dem natürlichen Ergebnis der beiden Entwicklungen, die die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse am auffälligsten umwälzen: der Rationalisierung der Produktion durch Computer und Roboter und der Globalisierung der regionalen Märkte. Natürlicherweise, wenn keine Politik ihnen entgegenwirkt, verschärfen und verewigen sie die bestehenden krassen Unterschiede in Macht und Reichtum. Solche Unterschiede sind mit der liberalen Gleichheit unverträglich. Sind Einkommensunterschiede kraß, dann ist der Zugang zum Gemeineigentum ungleich und die liberale Gleichheit verletzt. Verwirklichtes Gemeineigentum schließt krasse Einkommensunterschiede aus. Ebenso schließt es krasse Machtunterschiede aus, die gewöhnlich mit krassen Einkommensunterschieden zusammengehen. Denn auch sie machen den Zugang zum Gemeineigentum ungleich. Die Gefahr der Verschärfung und Verewigung der schon jetzt krassen Unterschiede von Reichtum und Macht war nie so groß wie heute, weil nie zuvor die technischen Mittel bestanden, daß nur einige wenige entscheiden und durchsetzen, zu welchen Zwecken und Zielen die Natur und die menschliche Arbeit gebraucht wird. Heute ist der Ausschluß einer wachsenden Anzahl von Menschen aus dem weltumspannenden gesellschaftlichen System der Arbeit möglich. Die Menschheit könnte nicht in ihrer heutigen Zahl fortbestehen ohne die Produktivität, die die moderne Technik der Arbeit gegeben hat. Aber dieselbe Technik hat das Produktionssystem zunehmend kontrollier- und planbar gemacht und verwandelt es aus einer Fabrik, die für ihre Produktion nie genug Menschen schien verschlingen zu können, in einen Automaten, den immer weniger Menschen bedienen müssen. Die Idee der gleichen Freiheit verlangt, daß jeder nicht nur über sich selbst verfügt, sondern auch über die materialen und kulturellen Bedingungen seiner Verfügung über sich selbst. Diese gleiche Freiheit ist gerade in ihrer Deutung als liberale Gleichheit unvereinbar mit der Kontrolle des Produktionssystems durch wenige. Nicht die natürliche Kontingenz oder der Unterschied der Talente bedroht die gleiche Freiheit, wie Rawls und seine Anhänger meinen, sondern eine einmalige soziale Kontingenz: die historische Möglichkeit der Kontrolle der Arbeit, der Natur und der gemischten Ressourcen durch wenige. Die menschlichen Gesellschaften waren nie und sind auch heute nicht, wie ich schon gegen Rawls hervorgehoben habe, kooperative Unternehmen zum Vorteil aller. Sie sind exploitative Unternehmen zum Vorteil einiger, Einrichtungen zur Ausbeutung der vorgefundenen Ressourcen aller Art, zu denen die, die solche Einrichtungen kontrollieren können, auch andere Menschen zählen, solange sie ausbeutbar sind. Heute können immer weniger Menschen entscheiden, was, wie und ob etwas oder jemand ausgebeutet wird. Diese historische Konstellation wird, solange sie natürlicher Prozeß bleibt, zu einer Versklavung oder Vernichtung all derer führen, die nicht zu der immer kleiner werdenden Zahl derer gehören, die über die Ausbeutung der Ressourcen mitentscheiden. Die historische Besonderheit der Gegenwart kommt im beliebten Spruch von Entwicklungsökonomen zum Ausdruck, nur eins sei schlimmer als die Ausbeutung der armen Länder durch die reichen: nicht ausgebeutet zu werden. Die Geschichte der Menschheit konnte in der Tat als eine Geschichte von Klassenkämpfen betrachtet werden; als eine Geschichte der Ausbeutung der Schwächeren durch die Stärkeren. Aber das Ausbeutungsverhältnis war symbiotisch, insofern die Stärkeren von der Arbeit der Schwächeren lebten und die Menschheit insgesamt von ihm diszipliniert und auf die heutige Stufe der Bildung getrieben wurde, die, ob man sie dem früheren Zustand vorzieht oder nicht, heute zum Überleben der Menschheit unentbehrlich ist. Dies geschichts- und menschheitsprägende, wohlvertraute Verhältnis zwi-

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sehen Reich und Arm, Stark und Schwach geht heute zu Ende. Die Starken sind nicht mehr auf die Schwachen angewiesen. Die Technik hat ihnen die Mittel gegeben, die Erde ohne die Arbeit der Schwachen auszubeuten. Die Schwachen sind „objektiv" überflüssig geworden, und das „subjektive" Gefühl ihrer Überflüssigkeit wird zu Katastrophen führen, wenn die politische Idee der gleichen Freiheit nicht das Handeln bestimmt. Man könnte es begrüßen, daß die Schwachen überflüssig geworden sind. Die Menschheit würde dadurch verbessert. Die Überflüssigkeit der Schwachen müsse nicht zu ihrer Ausrottung führen. Es genüge, wenn sie und ihre Nachkommen nicht durch sozialstaatliche Maßnahmen gefördert oder sie durch ein Mindesteinkommen still gehalten würden. Solche Argumente verkennen die Art der Schwäche der Schwachen. Wenn man sie schwach nennt, heißt das nur, daß sie ökonomisch und politisch erfolglos sind und die Stärken, die sie haben, nicht zählen. Die meisten großen Künstler und Wissenschaftler sind ökonomisch und politisch schwach. Ohne Förderung durch Institutionen oder durch ökonomisch oder politisch starke Individuen oder Gruppen konnten und könnten sie nicht groß werden. In einer Welt, in der sich nur ökonomisch oder politisch Erfolgreiche durchsetzen können, gibt es sehr viel weniger große Künstler und Wissenschaftler. Die Beherrschung der Welt durch die Reichen würde zur größten Verarmung der Menschheit führen. Die Durchsetzung der liberalen Gleichheit würde daher sehr viel am bestehenden System ändern. Sie würde die Entwicklung zu immer größeren Unterschieden in Macht und Reichtum in der Bevölkerung, die gerade in den ökonomisch (und militärisch) führenden Staaten deutlich zu beobachten ist, umkehren und einerseits die Katastrophen verhindern, die jene Entwicklung zur Folge haben würde, anderseits alle künftigen sozialen Verhältnisse einer Gleichheit unterwerfen, die den Unterschieden zwischen den Individuen und ihren verschiedenen Assoziationen gleichen Spielraum läßt. Sie bietet der politischen Praxis auch konkrete Ziele: für Westeuropa konservativ die Erhaltung des Erziehungswesens und des Krankheits- und Altersschutzes, innovativ den Aufbau eines Sozialdienstes, der jedem Arbeitswilligen sinnvolle Arbeit auch außerhalb des produktiven oder profitablen Sektors gibt. Ihr innovatives Ziel könnte die gewaltigen Kräfte, die die moderne Gesellschaft hervorgebracht haben und durch die zunehmende Arbeitslosigkeit leicht wieder einmal destruktiv werden können, in eine konstruktive Richtung lenken. Die ökonomische Notwendigkeit immer wieder neuer Verwertung des Gewinns droht das soziale Leben in einen sinnlosen Kreislauf zu treiben, wenn es keine positiven Ziele gibt, die große Teile der Bevölkerung gemeinsam verfolgen. Es gibt zwar viele positive Ziele, die in modernen Gesellschaften verfolgt werden: solche der Kunst und der Wissenschaften, des Sports und der Unterhaltung. Aber ihnen fehlt entweder wie den Zielen der Kunst und der Wissenschaft der Massenanhang oder wie den Zielen des Sports und der Unterhaltung das Vermögen, dem Leben seiner Anhänger eine tiefere Befriedigung zu verschaffen, die sie in Krisenlagen vor Destruktivität bewahrt. Eine Institution, die jedem sinnvolle Arbeit bietet und an deren Tätigkeit jeder teilnehmen kann, auch dann, wenn er selbst sein Geld im produktiven Sektor verdient, könnte zu einem positiven und konstruktiven Ziel für alle werden. Der Mangel konstruktiver Ziele, die Massen vereinigen, ist eine Ursache dafür, daß moderne Gesellschaften nationalistische oder fundamentalistische Ideologien und Bewegungen hervorbringen. Moderne Gesellschaften sind durch funktionale Differenzierung und gesellschaftliche Arbeitsteilung gekennzeichnet. Sie trennen ihre Angehörigen durch die Verschiedenheit der Aufgaben, Einstellungen und Gesichtspunkte, zu der sie die funktionale Differenzierung zwar unauffällig, doch so wirksam wie die indische Kastenteilung verurteilt. Aber Menschen

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sind kommunikative Wesen, die Gemeinsamkeiten suchen. Sie suchen konstruktive Ziele, die sie verbinden. Der Liberalismus mißtraut traditionell positiven Zielen, die Massen anziehen. Denn es gehört zu seinem Prinzip, daß der Staat keine positiven Ziele verbindlich machen darf; Staatsaufgabe ist allein die Durchsetzung der Gerechtigkeit, und die setzt dem Handeln keine positiven Ziele, sondern nur die Schranke des Verletzungsverbots. Erkennt der Liberale aber als Staatsaufgabe den Schutz des Gemeineigentums, so kann er den Staat nicht mehr auf Verbotsaufgaben beschränken; er muß ihm die positive Sorge für das Gemeineigentum zusprechen. Zu dieser Aufgabe gehört die Pflege der menschlichen Natur in ihrer kultivierten Form ebenso wie die Einlösung des Rechts auf Arbeit, das auf dem Recht auf Gemeineigentum beruht. Eine Institution, in der jeder sinnvolle Arbeit findet, wird deshalb aus mehreren Gründen rechtlich notwendig, und es hängt am Einfallsreichtum und der Energie von Politikern und Theoretikern, aus ihr ein Ziel zu machen, das die Menschen über die Grenzen der modernen Arbeitsteilung hinweg vereinen und erfüllen kann. Dieselbe soziale Kontingenz, welche die Schwachen überflüssig macht, enthält die Möglichkeit, die gegebenen technischen Mittel gerecht zu gebrauchen, den Rechten eines jeden auf sein Gemein- und sein Privateigentum gemäß, nach der Idee der gleichen Freiheit in ihrer Explikation als liberale Gleichheit. Der historische Ort der Gegenwart ist der Punkt in der Geschichte der Menschheit, an dem die Weichen gestellt werden entweder in eine Zukunft der Ausbeutung der natürlichen und erarbeiteten Ressourcen durch eine abnehmende Zahl Privilegierter oder in eine Zukunft, in der die gleiche Freiheit verwirklicht wird. Man braucht diese Ortsbestimmung der Gegenwart nur zu formulieren, um zu bemerken, daß Politiker und Philosophen schon seit einigen Jahrhunderten ihre Gegenwart ebenso als den Scheidepunkt zwischen Untergang und Heil, Tod und Leben verstanden haben. Spiegelt ein solches Verständnis nur die Neigung politischer Philosophen und Praktiker, sich und ihre Zeit für den Höhepunkt der Geschichte zu halten? Oder spiegelt es die historische Tatsache, daß die Menschheit tatsächlich seit einigen Jahrhunderten an einem Scheidepunkt zwischen Niedergang und Aufstieg steht? Betrachten wir die technischen Mittel, über welche die Menschen, genauer: eine kleine Gruppe von Fachleuten und Wirtschafts- und politischen Führern, verfügen, so muß man bei aller Anerkennung der menschlichen Neigung zur Selbstinszenierung feststellen, daß diese Mittel die Menschen zu Herren über Leben und Tod ihrer Gattung und sogar allen irdischen Lebens gemacht haben. Die Menschen - oder wieder: eine kleine Gruppe von ihnen - haben die technische Macht gewonnen, aus ihrer Gattung ein abscheuliches oder ein wunderbares Naturprodukt zu machen. Sie sind zu Demiurgen ihrer Welt geworden. Seit einigen Jahrhunderten, seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft und der gewinnbringenden Anwendung ihrer Ergebnisse in der Industrie, ist dieser ungeheure Machtgewinn erkennbar. Daher ist es eher verwunderlich, daß nicht alle Theoretiker der letzten Jahrhunderte ihre Gegenwart als den Scheidepunkt zwischen Leben und Tod verstanden haben. Nimmt man die liberale Gleichheit ernst, so ist es keine Frage, ob ihre Verwirklichung „an der Zeit" ist. Es ist höchste Zeit. Heute läßt sich vernünftigerweise nur noch darüber streiten, ob nicht der Scheidepunkt überschritten und die Weiche in den Niedergang endgültig passiert ist. Das ist die These Max Webers, die wir im folgenden diskutieren müssen. Nach Weber läßt sich das kapitalistische System, das er ein stahlhartes Gehäuse nennt, nicht verändern. Es sei unentrinnbar. Wir müssen sie mit Marx' These vergleichen, nach der „sich die Menschheit immer nur Aufgaben (stellt), die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe

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selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind." 504 Nach dieser These wird die Menschheit entweder heute die Aufgabe lösen, die ihr die politische Philosophie heute stellt, nämlich eine Gesellschaft einzurichten, die das gleiche Recht aller auf Selbstbestimmung verwirklicht, oder sie wird sie nicht lösen. Dann ist die Zeit eben noch nicht reif, sie zu lösen, und sie wird sie morgen lösen. Marx' These scheint hoffnungsfreudig, aber sie gibt der Verwirklichung der liberalen Gleichheit sowenig Chancen wie Weber. Denn sie gründet in der Annahme, daß die technischen und ökonomischen Bedingungen nur solche Ideen zu verwirklichen erlauben, die ihrer Entwicklungstendenz entsprechen. Dieser Tendenz entspricht die liberale Gleichheit nicht. Die technischen und ökonomischen Bedingungen der heutigen Gesellschaften tendieren zum Ausschluß zunehmender Teile der Bevölkerung aus dem System der Produktion; die liberale Gleichheit verlangt die Umkehrung dieser Entwicklung. Kann sich aber irgend eine Idee gegen so mächtige historische Tendenzen durchsetzen, wie es die ökonomischen sind? In dieser Frage ist das öffentliche Bewußtsein der Gegenwart gespalten. Einerseits verlangt man nach Ideen, die den Weg aus den Problemen weisen, welche die Macht historischer Tendenzen aufwirft; anderseits ist man überzeugt, daß Ideen höchstens dann, wenn sie ein „Ausdruck" historischer Tendenzen sind, Bedeutung haben. In dieser Annahme der Ohnmacht der Ideen stimmen Marx und Weber überein, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen und nur für die Gegenwart, weil Weber die Geschichte gerade Europas wesentlich von Ideen bestimmt sieht, aber als ihr Ergebnis ihre Ohnmacht diagnostiziert. Wenn wir die Verwirklichungsaussichten der Idee der liberalen Gleichheit einschätzen wollen, müssen wir Marx' und Webers philosophische und kulturdiagnostische Einwände gegen die Möglichkeit tieferreichender politischer Veränderungen untersuchen. Marx und Weber vertreten zwei radikal entgegengesetzte Möglichkeiten, die Durchsetzung einer Idee zu begreifen. Marx versteht sie als Anpassung an die historische Wirklichkeit, als deren Produkt die Idee verstanden wird, Weber als Unterwerfung der Welt unter die Idee, die er nicht als Produkt der historischen Wirklichkeit versteht. Diese Konzeptionen unterscheidet, daß Ideen, die das Handeln, auch das politische Handeln bestimmen, nach Marx eine Begleiterscheinung der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte sind, in der er Wesen und Fortschritt der Geschichte findet; nach Weber dagegen entspringen Ideen andern Quellen als dem Bereich der Produktion. Nach Marx findet man die Normen des politischen Handelns in der Analyse der Natur der Produktion, nach Weber fand man sie früher in religiösen Ideen, die heute aber ihre Macht verloren haben; daher sei der Mensch heute unfähig zu systemveränderndem Handeln. Gemeinsam ist ihnen die Annahme, das politische Handeln könne nicht von Ideen der Gerechtigkeit bestimmt werden. Diese Annahme ist von kaum zu unterschätzendem Einfluß, und das wegen der einander ergänzenden Thesen von Marx, Weber und auch noch Heidegger über die Rolle politischer Ideen in der Geschichte. Betrachten wir diese Thesen näher, so können wir nicht verkennen, daß sie oft unwiderstehlich brillant formuliert, aber widersprüchlich oder schlecht begründet sind.

5 0 4 Marx, Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 13, a.a.O., 9.

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Marx' Anpassungskonzeption Die leitende und durchsetzbare politische Idee einer Zeit ist nach Marx Produkt eines historischen Prozesses, dessen Analyse den Inhalt der politischen Idee ebenso wie die Wege zu ihrer Verwirklichung zu verstehen gibt. Geschichte versteht Marx als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, die immer wieder die soziale Form sprengen, die sie zu ihrer Entwicklung nötig haben. Die Sprengung der sozialen Form ist daher zwar eine Revolution, aber zugleich und wesentlich die Anpassung des ökonomischen, politischen und kulturellen Systems an die voranschreitende Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Die Entwicklung der Produktion bestimmt die objektiven sozialen Verhältnisse ebenso wie die Subjektivität der Menschen: „Alle Formen (mehr oder minder naturwüchsig, alle zugleich aber auch Resultate historischen Prozesses), worin das Gemeinwesen die Subjekte in bestimmter objektiver Einheit mit ihren Produktionsbedingungen, oder ein bestimmtes subjektives Dasein die Gemeinwesen selbst als Produktionsbedingungen unterstellt, entsprechen notwendig nur limitierter, und prinzipiell limitierter Entwicklung der Produktivkräfte. Die Entwicklung der Produktivkräfte löst sie auf und ihre Auflösung selbst ist eine Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Es wird erst gearbeitet von gewisser Grundlage aus - erst naturwüchsig - dann historische Voraussetzung. Dann aber wird diese Grundlage oder Voraussetzung selbst aufgehoben oder gesetzt als eine verschwindende Voraussetzung." 505 Marx ist so sicher, in der Entwicklung der Produktivkräfte die eine Ursache und das Wesen des Fortschritts auf allen möglichen Gebieten erkannt zu haben, daß er seine Beschreibung der Aufhebung der sozialen Form durch dieselben Produktivkräfte, die von dieser zuerst gefördert wurden, mit dem Ausdruck der Verachtung für die nichtbegreifende Menschheit schließt: „Dann aber wird diese ... Voraussetzung selbst... gesetzt als eine verschwindende Voraussetzung, die zu eng geworden für die Entfaltung des progressiven Menschenpacks." 506 Seine Gegenwart versteht Marx als die Epoche, in der die menschlichen Produktivkräfte zwar noch von der kapitalistischen Ökonomie gefördert werden, aber schon eine Reife erreichen, in der die ökonomische Form zur Fessel der Produktivkraft und ihre Sprengung voraussehbar und politisch erkämpfbar wird. Die Förderung der Produktivkräfte erfolgt vor allem durch die Entwicklung der „kooperativen Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit (den) intemationale(n) Charakter des kapitalistischen Regimes." 507 Die Automatisierung und Globalisierung der Produktion, die Marx hier voraussagt, erleben wir heute, und sein Voraussageerfolg ist einer der Trümpfe seiner Anpassungskonzeption. Die vorausgesagte Entwicklung ist für ihn Fortschritt, weil sie den Menschen erlaubt, mehr Reichtum als je zuvor zu produzieren, die Zeit zur Produktion des Lebensunterhalts zu verkürzen, in der Freizeit beliebigen Tätigkeiten nachzugehen und miteinander über alle Schranken der Nation, Religion und Tradition hinweg zu kommunizieren. Die kapitalistische 505 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857/8), Frankfurt/M.-Wien O.J., 396. 506 Ebd. 507 K. Marx, Das Kapital, B d . l , in: Marx/Engels, Werke, Bd.23, a.a.O., 790.

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Form dieser Entwicklung wird zu ihrer Fessel; nicht weil die zunehmende Automatisierung und Globalisierung der Produktion schädlich wäre, sondern weil den ungeheuren Nutzen, den sie abwirft, eine „beständig abnehmende Zahl der Kapitalmagnaten ... usurpiert und monopolisiert", während „die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung (wächst)." 508 Wie kann Marx nun annehmen, daß diese Fessel gesprengt wird? Er selbst sagt ja voraus, wieviel Macht und Reichtum einige wenige Kapitalmagnaten anhäufen können. Warum sollte ihnen nicht gelingen, am Nutzen der kapitalistischen Produktionsweise eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen teilnehmen zu lassen, genug, um das kapitalistische System zu sichern? Marx' Antwort ist wenig überzeugend: Nicht nur das Elend wachse, sondern „auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse ... die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation ... Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel." 509 Marx nimmt einerseits an, die Arbeiter werden „durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschult, vereint und organisiert" und dadurch fähig sein, die kapitalistische Ökonomie durch eine zu ersetzen, die das „kapitalistische Eigentum in gesellschaftliches" verwandelt. 510 Man könnte annehmen, daß diese Entwicklung von vielen verschiedenartigen Entscheidungen vieler Millionen von Individuen abhängt, von Entscheidungen, die auch Fragen betreffen, wie man überhaupt leben will, mit oder ohne eine globalisierte Ökonomie; welche Eigentumsformen beibehalten, welche verändert und welche neu eingerichtet werden sollten. Solche Fragen scheinen für Marx irrelevant. Denn er nimmt anderseits an, nicht die Arbeiter, sondern die kapitalistische Produktion selbst „erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation", das heißt die Produktion selbst führt von der kapitalistischen zur „gesellschaftlich" organisierten Form. Der Widerspruch zwischen diesen Aussagen zum Subjekt der Revolution findet seine Auflösung in der Erklärung, daß die bewußten und bewußtlosen Umstürzer der kapitalistischen Ökonomie nach Marx keinem politischen Programm folgen, sondern nur den Anforderungen, welche die kapitalistisch entwickelten Produktionstechniken an das Überleben der Arbeiter und der Kapitalisten stellen. So sieht Marx in der englischen Fabrikgesetzgebung, die dem Schutz der Arbeiter vor ihrem Untergang diente und notwendig wurde, um der kapitalistischen Produktion die eigene Basis zu erhalten, die „erste bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses" und zugleich „ebenso sehr ein notwendiges Produkt der großen Industrie als Baumwollgarn, Selfactors [Spinnmaschinen] und (den) elektrischen Telegraphen". 5 " „Aus dem Fabriksystem" sieht er auch den „Keim der Erziehung der Zukunft (entsprießen), welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur 508 509 510 511

Ebd. Ebd., 790f. Ebd., 791. Ebd., 504f.

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Steigerang der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen." 512 „Wenn die Fabrikgesetzgebung als erste, dem Kapital notdürftig abgerungene Konzession nur Elementarunterricht mit fabrikmäßiger Arbeit verbindet, unterliegt es keinem Zweifel, daß die unvermeidliche Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse auch dem technologischen Unterricht, theoretisch und praktisch, seinen Platz in den Arbeiterschulen erobern wird." Die kapitalistische Produktion könnte nach Marx' Argument nicht fortbestehen ohne Einführung von Elementen wie der Fabrikgesetzgebung und der Verbindung von produktiver Arbeit mit technologischem Unterricht. Diese sind „Umwälzungsfermente", die „im diametralsten Widerspruch stehn" zur „kapitalistischen Form der Produktion und (den) ihr entsprechenden Arbeiterverhältnissen" und aus der kapitalistischen Produktion die „gesellschaftliche" machen 513 . Marx sieht daher einen Widerspruch zwischen der „Natur der großen Industrie", die „Wechsel der Arbeit, Fluß der Funktion, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters (bedingt)" und progressiv und unaufhaltsam ist, und „ihrer kapitalistischen Form", die „die alte Teilung der Arbeit mit ihren knöchernen Partikularitäten (reproduziert)". „Dieser absolute Widerspruch (hebt) alle Ruhe, Festigkeit, Sicherheit der Lebenslage des Arbeiters auf (und droht) ihm mit dem Arbeitsmittel beständig das Lebensmittel aus der Hand zu schlagen und mit seiner Teilfunktion ihn selbst überflüssig zu machen." 5 ' 4 Keine politische Idee, auch nicht die der gleichen Freiheit, läßt sich nach Marx durchsetzen, wenn die hinderlich gewordene Form nicht dem Inhalt der Produktion angepaßt wird. Wird sie ihm angepaßt, so braucht man keine politische Idee mehr; wird sie ihm nicht angepaßt, so geht die Produktion und mit ihr die Menschheit zugrunde: „Wenn ... der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur als überwältigendes Naturgesetz und mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes durchsetzt" - nämlich über den Bankrott vieler Firmen und Arbeitslosigkeit - , „macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod, den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen,515 Sie macht es zu einer Frage von Leben und Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordemisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind. Ein auf Grundlage der großen Industrie naturwüchsig entwickeltes Moment dieses Umwälzungsprozesses sind polytechnische und agronomische Schulen ,.." 516 Die „große Industrie" diktiert bei Strafe des „Todes" den Menschen Richtung und Inhalt ihrer Politik, Ideen, Schulen und Kultur. Sie verlangt „möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter", „absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordemisse", „das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind". Diesem Inhalt, der nur die „normale Verwirklichung" des 512 Ebd., 507f. 513 Ebd., 512. 514 Ebd., 511. 515 Meine Hervorhebung.

516 Ebd., 51 lf.

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Produktionsprozesses ist, müssen Individuen und Gesellschaften sich und „die Verhältnisse anpassen". Marx fragt nicht, ob die „möglichste Vielseitigkeit", „absolute Disponibilität" und „das total entwickelte Individuum" wünschenswert sind. Ein Grund dafür mag sein, daß er in ihnen sein Jugendideal eines Menschen wiedererkennt, der sich nicht auf eine Spezialität in der von Adam Smith gelobten gesellschaftlichen Arbeitsteilung festlegt und darin „verknöchert", sondern seine ursprüngliche (auch von Adam Smith hervorgehobene, aber nicht als erhaltbar angesehene) Fähigkeit verwirklicht, alles und jedes zu tun: „heute dies, morgen jenes ..., morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." 517 Aber schon dies Jugendideal war und blieb für Marx daraus gerechtfertigt, daß „die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" und diese „Geburt durch sich selbst" mit einem bestimmten Produktionsprozeß auch diesem gemäße Ideale hervorbringt. 518 Man wird daran zweifeln, ob das Ideal, zu tun, „wie ich gerade Lust habe", ein Ideal ist, das der Natur des vom Kapitalismus entwickelten Produktion entspricht. Uns braucht hier nur zu interessieren, daß Marx ein Ideal immer und nur dann gerechtfertigt sah, wenn es ihm der Natur des fortgeschrittensten Produktionsprozesses zu entsprechen schien. Marx' Anpassungskonzeption ist zwar unvereinbar mit dem Selbstverständnis der politischen Philosophie. Nach diesem können uns unsere in einer normativen politischen Theorie systematisierten und begründeten Gerechtigkeitsintuitionen Ideale setzen, denen wir die soziale Wirklichkeit und uns selbst anpassen können, unabhängig davon, ob diese Ideale ihrerseits das Produkt des einen historischen Prozesses der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte sind, in dem Marx Wesen und Fortschritt der Geschichte sieht. Marx kann dennoch zum Verständnis des Ideals der liberalen Gleichheit und seiner Verwirklichung beitragen. Er hebt mit der Einseitigkeit dessen, der eine Entdeckung gemacht hat, das hervor, was er entdeckt hat, und verliert dabei aus den Augen, was mit seiner Entdeckung durchaus vereinbar ist. 517 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd.3, a.a.O., 33. In seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 entwickelt Marx dieselbe These, die er im Kapital vertritt, daß nämlich „die Teilung der Arbeit nichts andres als das entfremdete, entäußerte Setzen der menschlichen Tätigkeit als einer realen Gattungstätigkeit oder als Tätigkeit des Menschen als Gattungswesen sei (in: Marx/Engels, Studienausgabe, hg. v. I. Fetscher, Bd.2, 120), dessen Entfremdung durch Ersetzung der kapitalistischen durch eine gesellschaftliche Produktionsweise aufgehoben werde. „Eben darin, daß Teilung der Arbeit und Austausch Gestaltungen des Privateigentums sind, eben darin liegt der doppelte Beweis, sowohl daß das menschliche Leben zu seiner Verwirklichung des Privateigentums bedurfte, wie andrerseits, daß es jetzt der Aufhebung des Privateigentums bedarf' (ebd., 124). Die „Verwirklichung des menschlichen Lebens" aber versteht Marx hier wie später als das Leben des „total entwickelten" Individuums, das jagt, fischt, Vieh züchtet, kritisiert, ohne j e Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Adam Smith preist den Nutzen der gesellschaftliche Arbeitsteilung in: The Wealth of Nations, a.a.O., Bk 1, chs.l und 2. Er hebt hervor, daß die Spezialisierung auf bestimmte Tätigkeiten nicht der jeweiligen Natur des Menschen entspricht: „By nature a philosopher is not in genius and disposition half so different from a street porter, as a mastiff from a greyhound, or a greyhound from a spaniel, or this last from a shepherd's dog" (ebd., 120). 518 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., 108.

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Marx entdeckte oder erkannte schärfer als seine Vorgänger in der politischen Philosophie, daß das Ideal der gleichen Freiheit, dem Liberale, Aufklärer und Sozialisten gleichermaßen anhängen, die Entwicklung der Produktion und des Reichtums an Gütern wie an menschlichen Eigenschaften fördert, und daß es bei vielen Zeitgenossen dann auf Zustimmung stieß, wenn es sie selbst in ihrer Bereicherung begünstigte, und auf Ablehnung, wenn es ihnen Vorrechte nahm. Er verallgemeinerte diese Beobachtung in Übereinstimmung mit Hegel und anderen Philosophen zur These der Abhängigkeit der vorherrschenden Ideale und „Sittlichkeit" von der Eigenart einer Epoche oder Gesellschaft, suchte deren Eigenart aber im Unterschied zu Hegel nicht in ihrem „Geist" oder ihren geistigen Tätigkeiten, sondern in ihrer Arbeit oder Produktionsweise. Das Ergebnis war die These, daß „die Produktionsweise des materiellen Lebens ... den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt (bedingt)" und „nicht das Bewußtsein der Menschen ... ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein ... ihr Bewußtsein bestimmt:" 519 Damit legte er sich auf einen Historismus fest, der eine Kritik des „gesellschaftlichen Seins" oder der „Produktionsweise des materiellen Lebens" ausschließt. Denn diese bestimmen jeden „geistigen Lebensprozeß", damit auch jede Kritik. Überlegt man heute, welche Aussichten die Verwirklichung des Ideals der gleichen Freiheit in seiner konkreteren Form der liberalen Gleichheit hat, so muß man klugerweise ihr Verhältnis zu den ökonomischen Gegebenheiten und Möglichkeiten bedenken und muß ihre Aussichten gering einschätzen, wenn sie mit einer ökonomischen Verschlechterung des Lebens der meisten ohne Verbesserung in anderen Lebensbereichen verbunden ist. Aber diese Einschätzung legt einen nicht auf die These fest, daß die ökonomischen Bedingungen oder die „Produktionsweise des materiellen Lebens" unsere Ideale diktiert. Man kann nicht nur fragen, warum man nicht im privaten wie im gesellschaftlichen Leben auf ökonomische Vorteile um anderer Ziele willen sollte verzichten können, wie es Marx selbst in seinem Leben um der intellektuellen Konsequenz willen tat. Man muß auch die Konsequenz daraus ziehen, daß es zur Besonderheit des Arbeitsprozesses der „großen Industrie" gehört, den Marx selbst beschrieb, seine Planung und mit ihr Entscheidungen über seine Ziele notwendig zu machen; diese aber lassen einen Spielraum, wie man leben will, und machen es nicht zu einer „Frage von Leben oder Tod", das Leben ihm anzupassen oder nicht anzupassen. So sagt Marx: „Die große Industrie zerriß den Schleier, der den Menschen ihren eignen gesellschaftlichen Produktionsprozeß versteckte und die verschiednen naturwüchsig besonderten Produktionszweige gegen einander und sogar dem in jedem Zweig Eingeweihten zu Rätseln machte ... Die buntscheckigen, scheinbar zusammenhangslosen und verknöcherten Gestalten des gesellschaftlichen Produktionsprozesses lösten sich auf in bewußt planmäßige und je nach dem bezweckten Nutzeffekt systematisch besonderte Anwendungen der Naturwissenschaft... Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandene Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war." 520 Wenn die moderne Industrie den Produktionsprozeß planbar und „je nach dem bezweckten Nutzeffekt" veränderbar macht, wird er nicht nur zum Gegenstand der „Anwendungen der Naturwissenschaft". Ebenso wird er zum Gegenstand der Anwendungen beliebiger anderer als technischer oder ökonomischer Ziele: militärischer, religiöser, ideologischer oder bloß 519 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 13, 8f. 520 Marx, Das Kapital, B d . l , a.a.O., 51 Of. Hervorhebung von mir.

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repräsentativer Ziele. Seine Planung ist auch nicht nur eine Möglichkeit planwirtschaftlicher Staaten. Wie Marx beschrieb, ist die „bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam" und geplant - „verwendbare Arbeitsmittel" eine „Errungenschaft der kapitalistischen Ära" 521 , deren Effizienz in Ländern mit hoher Kapitalzentralisation die sozialistischer Staaten weit übertrifft. Man kann gegen die Unterwerfbarkeit der Produktion unter beliebige Ziele einwenden, sie sei nur vorübergehend möglich; langfristig habe die ökonomische Notwendigkeit gegen faschistische und kommunistische Planungen gesiegt und werde auch gegen fundamentalistische Regierungen siegen, und der Erfolg kapitalistischer Staaten beruhe eben auf ihrer Anpassung an ökonomische Zwänge. Dieser Einwand übersieht, daß es (noch?) keinen Staat gibt, der sich den vermeintlichen Notwendigkeiten der modernen Industrie fügt, ohne ihr bestimmte und von Land zu Land wechselnde Bedingungen der vermuteten Sozialverträglichkeit oder des Nutzens für herrschende Gruppen zu unterwerfen. Die Planbarkeit der Produktion, die Marx selbst als Eigenart der modernen Industrie erkannte, raubt dem Begriff der ökonomischen Notwendigkeit seine Anwendbarkeit. Ebenso leer macht sie Marx' Begriff der Anpassung der Verhältnisse an die „normale Verwirklichung" des Produktionsprozesses. Für den planbaren Prozeß gibt es keinen normalen Verlauf; was normal ist, hängt von den Zielen ab, die wir uns setzen. „In der Industrie", bemerkte Hegel treffend schon über das Gewerbe der Phönizier, „ist der Mensch sich selber Zweck und behandelt die Natur als ein ihm Unterworfenes." 522 Wird die Industrie planmäßig betrieben, so kann nur die Produktion dem Plan der Menschen und nicht umgekehrt der Plan der Produktion angepaßt werden. Gewiß hat, wie gesagt, die Verwirklichung der liberalen Gleichheit schlechte Aussichten, wenn sie dem Interesse an Wohlstand und Sicherheit widerspricht. Aber der Grund dafür ist heute nicht darin zu suchen, daß ökonomische Interessen oder Zwänge übermächtig wären, sondern darin, daß die meisten die ökonomischen Bedürfnisse der Massen aus Gerechtigkeitsgründen für unverletzlich halten. Die Planbarkeit des Produktionsprozesses schließt heute die Möglichkeit ein, auch die Bedürfnisse zu planen und Planzielen zu unterwerfen. Die Werbung ist hier ein Stück vorangekommen, doch sind die Möglichkeiten der Bedürfnismanipulation mit ihr nicht erschöpft. Pharmazie und Gentechnik öffnen neue Horizonte. Langfristig sind die Menschen dazu verurteilt, die Planer ihrer eigenen Existenz einschließlich ihrer Bedürfnisse zu sein; genauer: die Angehörigen der früheren Generation sind dazu verdammt, die Planer der Existenz der Angehörigen der folgenden Generation zu sein. Diese Freiheit gibt den Menschen die Macht des platonischen Demiurgen, sich ihre (oder ihrer Kinder) Welt zu schaffen. Eben deshalb brauchen sie wie der Demiurg absolute Maßstäbe des Gerechten 523 , die nicht Produkt des Produktionsprozesses sind, sondern ihm Ziele, Schranken und Maßstäbe setzen. Das Ideal der liberalen Gleichheit beansprucht, ein solcher absoluter Maßstab zu sein. Marx' Verständnis der Art, wie sich politische Ideale durchsetzen, hat uns zwar auf die revolutionäre Rolle des modernen Produktionsprozesses gewiesen, aber eben dadurch die 521 Ebd., 790f. 522 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 237. 523 Vgl. Piaton, Timaios, bes. 29a. Eine Moraltheorie, die der demiurgischen Rolle des Menschen entspricht, habe ich zu skizzieren versucht in: Warum überhaupt etwas ist. Kleine demiurgische Metaphysik, Reinbek b. Hamburg 1994.

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Unmöglichkeit gezeigt, Inhalt und Durchsetzung politischer wie anderer Ideale als eine Funktion des Produktionsprozesses zu verstehen. Wir finden in Marx' Anpassungskonzeption daher gegen ihre Intention eine Bestätigung dafür, daß das Ideal der liberalen Gleichheit durchsetzbar ist und wir nicht fürchten müssen, daß die Möglichkeiten schon verspielt sind, es durchzusetzen. Aber diese Bestätigung ist nicht allzu viel wert, weil Marx keine Gründe dafür liefert, daß nicht alles beim alten bleibt oder sich verschlechtert, statt daß Gerechtigkeit verwirklicht wird. Webers stahlhartes Gehäuse Weber sieht die gegenwärtige Welt als ein „stahlhartes Gehäuse" 5 2 4 : als das „stählerne Gehäuse der modernen gewerblichen Arbeit", „das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft..., in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden" 525 , „das Gehäuse für die neue Hörigkeit". 526 Der Kapitalismus ist „die schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens" 5 2 7 , „das Verhängnis" 528 , weil er die Menschen in ein Gehäuse der Hörigkeit bannt, das „unentrinnbar" ist. Diese These verurteilt auch die politische Idee der gleichen Freiheit zur Ohnmacht. Wir finden bei Weber zwar auch Anzeichen dafür, daß er selbst nicht immer an die Unentrinnbarkeit der kapitalistischen Welt glaubte. Aber um die Realisierungschancen der liberalen Gleichheit nüchtern einzuschätzen, tun wir gut, Weber beim Wort zu nehmen. Wir finden für seine Unentrinnbarkeitsthese drei Gründe. Das „Gehäuse" ist unentrinnbar, erstens weil „die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen wie niemals zuvor in der Geschichte" gewannen; zweitens weil die modernen Staaten und Wirtschaftsbetriebe von einer Bürokratie verwaltet werden, die eine Eigenschaft auszeichnet, „welche ihre Unentrinnbarkeit ganz wesentlich endgültiger verankert als die" aller früheren Bürokratien, nämlich ihre „rationale fachliche Spezialisierung und Einschulung" 529 ; drittens weil die Menschen, wenn sie nicht dem „großartigen Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung" der Weltunterwerfung unter die göttlichen Gebote folgen, von den „in unlöslichem Kampf untereinander" stehenden „Wertordnungen der Welt" überwältigt werden und nicht die Kraft haben, dem Gehäuse der Hörigkeit zu entrinnen. 530 Bevor wir diese Gründe näher betrachten, müssen wir einen Blick auf Webers religionssoziologische und -historische Untersuchungen werfen. Denn ohne ihre Kenntnis lassen sich Webers Gründe und die These selbst nicht verstehen. Das „stahlharte Gehäuse", als das Weber den „Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft" 531 sieht, ist nicht stahlhart, weil seine Gefangenen bestimmten Interessen oder Leidenschaften ausgeliefert sind. Es ist 524 Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920 und 1921, Bd. 1, 203f. 525 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, 319f. 526 Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland (1906), in: ebd., 60. 527 Weber, Vorbemerkung zu: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, a.a.O., 4. 528 Weber, Die protestantische Ethik, a.a.O., Bd. 1, 203. 529 Weber, Parlament und Regierung, a.a.O., 319. 530 Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, hg. v. J. Winckelmann, Stuttgart 1973, 328-30. 531 Weber, Zwischenbetrachtung in Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, 544.

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stahlhart, weil sie handlungsleitenden Ideen folgen, die sie außer Stande setzen, sich anders zu orientieren als an Zielen, die den kapitalistischen Kosmos zugleich stabilisieren und seine frühere produktivitätssteigemde Dynamik stillegen. Die Vorherrschaft dieser Ideen folgt einer Logik der Ideenentwicklung und kontingenten historischen Umständen. Sie führen eine Kultur in eine historische Sackgasse ohne Wendemöglichkeit. Weber entwickelte seine Religionssoziologie, um die Eigenart der europäischen Kultur zu verstehen: von „Kulturerscheinungen ..., welche ... - wie wenigstens wir uns gern vorstellen in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen." 532 Er vergleicht die europäische Kultur mit der chinesischen, indischen und altjüdischen. Was uns hier zuerst interessieren muß, sind nicht die Unterschiede zwischen ihnen, sondern eine selten, wenn überhaupt bemerkte Gemeinsamkeit: sie sind alle historische Sackgassen oder (wenn man ein verniedlichendes Wort für eine ernste Sache gebrauchen darf) Mausefallen der Geschichte. Marx sieht die Menschengeschichte als eine Folge von Ausbeutung und Dummheit (wie vor ihm Hegel und auch Kant533), aus der doch ein schließlich unaufhaltsamer Fortschritt wird. Weber dagegen findet in der Menschengeschichte immer wieder bewundernswerte und geniale Leistungen, die aber gerade wegen ihrer Größe beginnenden Fortschritt erstarren lassen. Die indische Kultur hat Weber wie die europäische ein Gehäuse genannt. Es ist unentrinnbar durch Ideen, die Ideen des Karman, der die Wiedervergeltung allen Handelns in einem künftigen Leben lehrt: „Daß der einzelne fromme Hindu die pathetischen Voraussetzungen dieser die Welt in einen streng rationalen, ethisch determinierten Kosmos umwandelnden Karmanlehre - der konsequentesten Theodizee, welche die Geschichte je hervorgebracht hat nicht immer in ihrem Gesamtzusammenhang vor Augen zu haben pflegte, ist für die uns interessierende praktische Wirkung ohne Belang. Er blieb hineingebannt in das Gehäuse, welches nur durch diesen ideellen Zusammenhang sinnvoll wurde 534 , und die Konsequenzen davon belasteten sein Handeln. Wenn das kommunistische Manifest mit den Sätzen schließt: ,Sie' (die Proletarier),haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben eine Welt zu gewinnen' - so galt das gleiche für den frommen Hindu niederer Kaste. Auch er konnte ,die Welt', sogar die Himmelswelt gewinnen ... nur nicht in diesem seinem jetzigen Leben." Wie das kapitalistische führt Weber das hinduistische Gehäuse auf bestimmte historische Prozesse zurück: „... ohne den penetranten, alles beherrschenden Einfluß der Brahmanen würde dies in aller Welt seines Gleichen nicht findende soziale System in seiner Geschlossenheit nicht entstanden oder doch nicht herrschend geworden und geblieben sein. Längst ehe es auch nur den größeren Teil Nordindiens erobert hatte, muß es als Gedankengebilde fertig gewesen sein. Die in ihrer Art geniale Verknüpfung der Kastenlegitimität mit der Karmanlehre und also mit der spezifisch brahmanischen Theodizee ist schlechterdings nur ein Produkt rational ethischen Denkens, nicht

532 Weber, Vorbemerkung zu: Ges. Aufsätze zur Religionssoz., a.a.O., 1. 533 Sowohl in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte als auch in Über den Gemeinspruch ist es die Entgegensetzung der Neigungen und die „Selbstliebe", die die Geschichte zu einem guten Ende treibt. Aber Kant sagt in: Über den Gemeinspruch, a.a.O., 398, vgl.396, von der menschlichen Natur auch, er könne und wolle sie, „da in ihr immer noch Achtung für Recht und Pflicht lebendig ist,... nicht für so versunken im Bösen halten ..., daß nicht die moralisch-praktische Vernunft nach vielen mißlungenen Versuchen endlich über dasselbe siegen ... sollte". 534 Dies Komma von mir hinzugefügt.

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irgendwelcher ökonomischer B e d i n g u n g e n ' . Und erst die Vermählung dieses Gedankenprodukts mit der realen sozialen Ordnung durch die Wiedergeburtsverheißungen gab dieser Ordnung die unwiderstehliche Gewalt über das Denken und Hoffen der in sie eingebetteten Menschen." 535 China nennt Weber mit Ägypten als „geschichtliches Beispiel" für die „Unentrinnbarkeit" einer „zur völligen Alleinherrschaft gelangten" Bürokratie. 536 Ihre Herrschaft brachte dem chinesischen Reich frühe Befriedung und ungeheure Stabilität, aber eben dadurch auch eine für Weber sprichwörtliche „chinesische Erstarrung". 537 Die Unentrinnbarkeit der chinesischen Bürokratie bestand nicht in ihrer politischen, religiösen oder ökonomschen Macht, sondern in ihren konfuzianischen Ideen, die vornehme Weltanpassung lehrten und dadurch zur Unfähigkeit führten, die Welt in welche Richtung auch immer zu verändern. Diese Unfähigkeit ist nicht die Folge einer Unterdrückung durch die Bürokratie, sondern einer Art der Lebensführung, die den konfuzianischen Beamten selbst zum ersten Opfer der Erstarrung macht. Weber stellt diese Lebensführung der von einer „echten Prophetie" geleiteten Lebensführung der Puritaner gegenüber, denen er die Leistung zuschreibt, den kapitalistischen Kosmos geschaffen und alle Traditionsverhaftung vernichtet zu haben: „Eine echte Prophetie schafft eine systematische Orientierung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, der gegenüber die ,Welt' als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt. Der Konfuzianismus war umgekehrt Anpassung nach außen hin, an die Bedingungen der ,Welt'. Ein optimal angepaßter, nur im Maße der Anpassungsbedürftigkeit in seiner Lebensführung rationalisierter Mensch ist aber keine systematische Einheit, sondern eine Kombination nützlicher Einzelqualitäten. Das Fortbestehen der animistischen Vorstellungen von der Mehrheit der Seelen des Einzelnen in der chinesischen Volksreligiosität könnte fast als ein Symbol dieses Tatbestandes gelten. Wo alles Hinausgreifen über die Welt fehlte, mußte auch das Eigengewicht ihr gegenüber mangeln. Domestikation der Massen und gute Haltung des Gentleman konnten dabei entstehen. Aber der Stil, welchen sie der Lebensführung verliehen,... konnte jenes Streben zur Einheit von innen heraus, das wir mit dem Begriff ,Persönlichket' verbinden, nicht entstehen lassen. Das Leben blieb eine Serie von Vorgängen, kein methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes." 538 Weil das Leben des Konfuzianers „eine Serie von Vorgängen" blieb, konnte er nicht über das Gegebene hinaus kommen und die reichen Möglichkeiten verwirklichen, die China dank seiner frühen Befriedung und der Disziplin seiner Bevölkerung hatte. Aber diese Möglichkeiten waren aus demselben Grund nicht zu verwirklichen, aus dem sie überhaupt gegeben waren: Befriedung und Disziplin waren eine Folge der konfuzianischen Herrschaft, und eben sie verhinderte die Entfaltung des Potentials, das sie bereitstellte. Wie die brahmanischen so schufen die konfuzianischen Ideen ein Gehäuse aus Lebensführung und Institutionen, in dem alles erhalten blieb, was in es einmal aufgenommen war, aber nichts Neues entstehen konnte. Das stahlharte Gehäuse des Judentums ist von etwas anderer, aber dafür schrecklicherer Art. Weber hat es mit innerer Teilnahme gezeichnet und im Unterschied zu den beiden anderen Fällen vor allem den Weg in das Gehäuse und weniger seine Unentrinnbarkeit darge535 Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 2, 131. 536 Weber, Parlament und Regierung, a.a.O., 318f. 537 Vgl. etwa: Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, a.a.O., 227. 538 Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, 521.

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stellt. 539 Der Weg hinein ist für Weber von erhabener Größe. Denn er ist die Geschichte der jüdischen „Eidgenossenschaft", die dem Gott, mit dem sie einen Bund geschlossen hat, auch dann treu bleibt, als sie die politische Unabhängigkeit, um derentwillen sie den Bund Schloß, verliert. Statt die Schuld bei ihrem Gott zu suchen, suchen sie die führenden Intellektuellen, die Leviten und die Propheten, bei sich selbst. Sie halten den Bund auch in der babylonische Gefangenschaft und danach trotz der offensichtlichen Unmöglichkeit aufrecht, in näherer Zukunft wieder zu politischer Unabhängigkeit zu gelangen. Dadurch werden sie aus einem „politischen zum konfessionellen Verband" 540 , der seine Eigenart nicht mehr mit politischen, sondern nur mit rituellen Mitteln wie Reinheitsvorschriften vor allem bei Speisen, Sabbatgebot und dem Verbot von Mischehen erhalten kann. Diese „rituelle Absonderung der Gemeinde ... wurde im Exil vollzogen, nachdem das annähernd vollständige Aufgehen der von Assyrien deportierten Nordisraeliten in der aufnahmebereiten Umwelt die Priester und Thoralehrer darüber belehrt hatte, welche entscheidende Bedeutung f ü r ihre eigenen Interessen die Errichtung solcher rituellen Schutzwälle haben mußte. - Das absolute Verbot der Mischehen war der praktisch wichtigste Punkt... Wie wenig es bis dahin bestand, zeigt sich außer bei den älteren Quellen (Gen. 34,38; Jud.3, ; Deut. 21,10) und in dem Mischblut der Davididen (Ruth!) darin, daß von den in Israel Ansässigen neben angesehenen Geschlechtern und nicht wenigen Priestern und Leviten die hohepriesterliche Familie an dem Frevel beteiligt war (Esra 10,18f)... Nächst dem Konnubium kommt für den kastenartigen Abschluß nach außen die Kommensalität in Betracht. Wir sahen, daß sie auch mit rituell Fremden anstandslos geübt wurde ... Erst der außerordentliche Nachdruck, den die Priestergesetzgebung auf die Speisegesetze legte, schuf praktisch fühlbare Schwierigkeiten." 541 Die Folge dieser Schritte war eine „freiwillige Ghettoexistenz". 542 Sie wurde für die Juden ein Gehäuse, das sich als nicht weniger unentrinnbar erwies als die Gehäuse der indischen und der chinesischen Kultur. Unter dem vorherrschenden Einfluß der Pharisäer missionieren die Juden zwar mit großem Erfolg unter den Heiden und haben Aussicht, ihre Religion im römischen Reich vorherrschen zu lassen und ihre Absonderung zu durchbrechen. Aber am Ende sind sie nicht bereit, auf ihre rituellen Gebote zu verzichten. 5 4 3 Ihr Gehäuse wird nicht nur durch ihre eigenen großartigen Ideen, sondern auch noch durch die durch sie bedingte Feindschaft der Welt unentrinnbar: „Vor allem aber nach Außen nahm das Judentum zunehmend den Typus zunächst des rituell abgesonderten Gastvolks (Pariavolkes) an. 544 Und zwar 539 540 541 542 543

Im dritten Bd. seiner religionssoziologischen Aufsätze: Das antike Judentum. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 3, 350. Ebd., 366f. „Jud. 3" bezieht sich vermutlich auf das Buch der Richter 3, 6. Ebd., 4f. Stephen Mitchell hat in der siebten Sir Ronald Syme Memorial Lecture vom 6.11.1997 am Wolfson College in Oxford die großen Sympathien nachgewiesen, die in der julianisch-claudianischen Dynastie und in Senatorenkreisen für das Judentum bestanden. Er bestätigt darin Webers Ausagen, ebenso darin, daß die Sympathisanten des Judentums im römischen Reich die ersten Adressaten der christlichen Heidenmission unter Paulus waren. Anders als Weber sieht er das Ende der jüdischen Heidenmission im römischen Reich nicht durch das Festhalten am Ritual bedingt, sondern durch den Antisemitismus Domitians, Hadrians und Titus'. Vgl. den gekürzten Abdruck der Vorlesung in: Times Literary Supplement, 6.3.1998, 12f.

544 Weber beginnt sein Buch über das antike Judentum mit der These, die Juden seien „soziologisch angesehen,... ein Pariavolk. Das heißt, wie wir aus Indien wissen: ein rituell, formell oder faktisch, von der sozialen U m w e l t geschiedenen Gastvolk. Alle wesentlichen Züge seines Verhaltens zur

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freiwillig von sich aus, nicht etwa unter dem Zwang äußerer Ablehnung. Die allgemeine Verbreitung des Antisemitismus' in der Antike ist eine Tatsache. Ebenso aber auch: daß diese erst allmählich wachsende Ablehnung der Juden genau gleichen Schritt hielt mit der zunehmend strengen Ablehnung der Gemeinschaft mit Nichtjuden durch die Juden selbst. Die antike Ablehnung gegen die Juden war weit davon entfernt,,rassenmäßige' Antipathie zu sein: der gewaltige Umfang des Proselytismus ... ist hinlänglicher Beweis dagegen. Vielmehr war das ablehnende Verhalten der Juden selbst das schlechthin Entscheidende für die beiderseitigen Beziehungen. Abweichende und absurd scheinende Riten kannte die Antike in reichstem Maße: dort lag der Grund gewiß nicht. Die prononcierte Asebie gegen die Götter der Polis, deren Gastrecht sie genossen, mußte freilich als gottlos und beleidigend empfunden werden. Aber auch das entschied nicht. Der ,Menschenhaß' der Juden war, wenn man auf den Kern sieht, der immer wieder letzte und entscheidende Vorwurf: die prinzipielle Ablehnung von Connubium, Kommensalität und jeder Art von Verbrüderung oder näherer Gemeinschaft irgendwelcher Art... Die soziale Isolierung der Juden, dieses ,Ghetto' im innerlichsten Sinn des Worts, war primär durchaus selbstgewählt und selbstgewollt und zwar in stetig steigendem Maße." 545 Das stahlharte Gehäuse, in das Weber die Juden sich entwickeln sieht, ist ihre Pariaexistenz. Sie verurteilt sie nicht wie das chinesische Gehäuse zu Erstarrung und nicht wie das indische zur Anerkennung der gegebenen sozialen Ordnung, aber zu einem Verhältnis zur sozialen Umwelt, das sie der Feindseligkeit aussetzt. Weber erklärt den Antisemitismus, er rechtfertigt ihn nicht, obgleich man seine Erklärung gefährlich leicht als Rechtfertigung mißverstehen kann. Daß man aber die rituelle Absonderung und die von ihr implizierte und ursprünglich gewollte Ghettoexistenz wegen der Gefahr der Anfeindung nicht als vorbildlich, sondern nur als eine neue Form der Verhinderung einer freien Entwicklung der Menschen betrachten kann, setzt Weber voraus, und diese Voraussetzung wird man kaum verwerfen können. Das Gehäuse, das die kapitalistische Welt darstellt, haben die Puritaner vorbereitet. Sie haben die Heiligung der Arbeit durch das nach dem Ora et labora lebende Mönchstum auf den Alltag übertragen und die Arbeitswelt geschaffen, die zum kapitalistischen Gehäuse gehört: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung (zu) erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden ... mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. Nur wie ,ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte', sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den

zur Umwelt, vor allem seine längst vor der Zwangsinternierung bestehende freiwillige Ghettoexistenz und die Art des Dualismus von Binnen- und Außenmoral lassen sich daraus ableiten." Ebd., 2 - 5 . 545 Ebd., 434f.

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Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte ... Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr." 546 Unter der religiösen Idee ist der Kapitalismus nur ein Mittel zum Preis Gottes; aber dies Mittel wird, wie es so oft mit Mitteln geschieht, zum Selbstzweck und der frühere Selbstzweck, die Religion, bestenfalls ein Mittel unter anderen, den mächtigen Kosmos der Wirtschaftsordnung zu stabilisieren. Zur Vorherrschaft der ökonomischen Idee, die die kapitalistischen Welt prägt, kommt es gerade durch den Erfolg der religiösen Idee, der die Puritaner folgten. „Die Paradoxie aller rationalen Askese: daß sie den Reichtum, den sie ablehnte, selbst schuf, hat... dem Mönchstum aller Zeiten in gleicher Art das Bein gestellt." 547 Das Stolpern des Puritanismus über den eigenen Erfolg ist nur ein Glied in der welthistorischen Entwicklung der Unterwerfung der Welt unter die religóse Idee eines überweltlichen Schöpfergottes, von dem Weber die Geschichte Vorderasiens und Europas bestimmt sieht. Diese religiöse Idee verlangt eine Anpassung der Welt in allen ihren „Lebensordnungen" oder „Wertsphären" an den göttlichen Willen, als dessen Werkzeug sich der Gläubige versteht. Als solche Ordnungen zählt Weber außer der Religion selbst die Sippe, die Ökonomie, die Politik, Kunst, Sexualität und Wissenschaft auf.548 Die Forderung der religiösen Idee, alle Arten von Interessen und Werten nicht etwa zu fliehen, sondern dem Willen Gottes gemäß zu formen, führt nach Weber überhaupt erst dazu, die ursprünglich diffusen und nicht in Religion, Sippe, Politik, Ökonomie, Kunst, Sexualität und Wissenschaft unterschiedenen Interessen in ihrer Eigenart zu entdecken und ihre eigengesetzlichen Ideen zu erkennen. Deshalb konnten sich im Okzident, und nach Weber nur dort, sphärenspezifische Handlungsweisen mit ihrer eigenen Logik entwickeln und „Kulturerscheinungen" auftreten, die Weber als die Auszeichnungen des Okzidents aufzählt: Mathematik und Naturwissenschaft, Geschichtsschreibung und Rechtswissenschaft, harmonische Musik und Perspektivenmalerei, Bürokratie, der Staat als politische Anstalt und eben der Kapitalismus. 549 Zugleich mit der Ausdifferenzierung der diffusen Lebensinteressen der Menschen in eigengesetzliche Lebensordnungen führt die Herrschaft der religiösen Idee zu einer ebenso radikalen und von der Ausdifferenzierung untrennbaren Veränderung der traditionellen Lebensweise: zur Ausmerzung der Magie oder des Glaubens daran, den Lauf der Welt und den Willen der Götter durch Zauber und Ritual statt durch die eigene Lebensführung bestimmen zu können.550 Der Kapitalismus dominiert nach Weber die moderne Welt, weil der Puritanismus seine Gläubigen reich und stolz genug machte, in der erfolgreichen Beherrschung der Welt einen Selbstzweck zu sehen und ihren Beruf nicht mehr ad maiorem Dei gloriarti, zum Lob Gottes, sondern zur Vermehrung des Tauschwerts und damit kapitalistisch auszuüben. Sie ersetzen damit die religiöse durch die ökonomische Idee, die das Ziel der Tauschwertmaximierung setzt. Während aber die Herrschaft der religiösen Idee Platz ließ für die spezifischen Wertsphären der Ökonomie, der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, deren Eigengesetzlichkeit überhaupt erst durch das Weltunterwerfungsgebot der religiösen Idee entdeckt wurden, ist die ökonomische Idee von imperialistischer Intoleranz. Sie stellt alles Handeln unter die 546 547 548 549 550

Weber, Die protestantische Ethik, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, 203f. Weber, Zwischenbetrachtung, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, 545. Vgl. ebd. Weber, Vorbemerkung zu: Ges. Aufsätze zur Religionssoz. Bd. 1, 1-4. Vgl. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, 512f; ebd. Bd. 2, 370f.

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Bedingung der Profitabilität und schließt damit aus, was j e d e Wertsphäre für sich fordert, nämlich Wissenschaft um der Wahrheit, Politik um der Gerechtigkeit, Kunst um der Echtheit willen zu machen. Die Orientierung an „äußeren Gütern" führt nun nach Weber nicht etwa zur allgemeinen Bereicherung der Menschen im kapitalistischen Kosmos. Zu Reichtum und Wohlstand für alle kann es vielmehr nur kommen, wenn die Orientierung an äußeren Gütern durch eine nicht-ökonomische Idee gebändigt wird. 551 Für solche Ideen ist im kapitalistischen Kosmos kein Platz. Er läßt keine Lebensführung zu, die aus dem Leben mehr macht als eine „Serie von Vorgängen". Die Folge dieses Mangels läßt sich in China beobachten. „Materielle Wohlfahrt ist nie und nirgends in Kulturländern mit solcher Emphase als letztes Ziel hingestellt worden" wie im konfuzianischen China. 552 Und trotzdem, oder eben deswegen, kam China nicht zu allgemeinem Reichtum. Reichtum für alle ist nur möglich bei Produktivitätszuwachs; dieser setzt die Entwicklung von Wissenschaft und Technik voraus; diese aber verkümmern unter der ungebrochenen Vorherrschaft der ökonomischen Wertsphäre. Weber kann sich für diese Annahme auf Adam Ferguson berufen, der ihm in manchen seiner Analysen vorausging: „In the result of commercial arts, inequalities of fortune are greatly increased, and the majority of every people are obliged by necessity, or at least strongly incited by ambition and avarice, to employ every talent they possess. After a history of some thousand years employed in manufacture and commerce, the inhabitants of China are still the most laborious and industrious of any people on the surface of the earth" 5 5 3 - und gehören immer noch, wie Ferguson zugleich sagt, zu den Ärmsten der Erde. Denn wie Weber betont auch Ferguson, daß die ungehemmte Bereicherungssucht in China Wissenschaft und Technik zum Stillstand brachte. Die imperialistische Intoleranz der ökonomischen Idee macht nach Webers Logik der Ideenentwicklung die kapitalistische Welt ebenso unentrinnbar wie die konfuzianischen, brahmanischen und jüdischen Ideen ihre Welten. Der Kapitalismus, so können wir Webers Unentrinnbarkeitsthese mit unserer Kenntnis des 20. Jahrhunderts zuspitzen, führt die Menschen in ein stahlhartes Gehäuse, das die Eigenarten der früheren Gehäuse vereint. Die ökonomische Idee läßt wie die konfuzianischen Ideen ihre Fähigkeiten unentwickelt, läßt wie die brahmanischen Ideen sie ihre jeweilige soziale Ordnung anerkennen und macht ebenso wie die jüdischen Ideen sie unfähig, die Feindseligkeiten abzubauen, die zwischen den verschiedenen sozialen und politischen Ordnungen entstehen, die im kapitalistischen Kosmos (zu dem Weber auch sozialistische Ordnungen rechnet 554 ) zusammengeschlossen sind. Weil 551 Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 2, 370-2. 552 Ebd., 524. Weber neigt allerdings zu rhetorischen Superlativen. Er sagt nicht nur von China, materielle Wohlfahrt sei „nie und nirgends in Kulturländern mit solcher Emphase als letztes Ziel hingestellt worden" und von der Gegenwart, daß „die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen wie niemals zuvor in der Geschichte" gewannen (Parlament und Regierung, a.a.O., 319), sondern (Hinduismus und Buddhismus, Ges. Aufsätze zur Rei. soz. Bd. 2, 4; vgl. 362) auch von Indien, „nirgends bestand so wenig Antichrematismus und so hohe Schätzung des Reichtums". 553 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society (1767), ed. by Duncan Forbes, Edinburgh 1966,217. 554 Vgl. Weber, Parlament und Regierung, a.a.O., 319f: „Theoretisch wohl denkbar wäre eine immer weitergehende Ausschaltung des Privatkapitalismus, - wennschon sie wahrlich keine solche Kleinigkeit ist, wie manche Literaten, die ihn nicht kennen, träumen, und ganz gewiß nicht die

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die kapitalistische Welt die gesamte Erde beherrscht und verschiedene Staaten und Kulturen umgreift, ist sie endgültig. Die früheren Gehäuse konnten zwar nicht von inneren, aber von äußeren Mächten, nämlich der kapitalistischen Welt gesprengt werden. Neben der kapitalistischen Welt aber gibt es keine Mächte mehr. Kritik der Unentrinnbarkeitsthese Man kann Weber kaum bestreiten, daß die gegenwärtige Welt in ähnliche Sackgassen führen könnte, wie es die chinesische, die indische und die jüdische auf je ihre Art taten. Anderseits könnte Webers Hervorhebung dieser Gefahr ähnlich wie Marx' Voraussage der „Negation" des Kapitalismus auch zur Verhinderung des Erwarteten beitragen. Vermutlich hat Weber selbst gehofft, durch seine immer wiederkehrenden Hinweise auf eine zu erwartende unumkehrbare kapitalistische Stagnation ein Nachfahr jener jüdischen Unheilspropheten zu werden, die durch ihre Unheilsprophetie drohendes Unheil abwenden konnten. 555 Nehmen wir ihn beim Wort, so spricht einiges gegen seine Unentrinnbarkeitsthese. Am nächsten liegt der Hinweis darauf, daß die kapitalistische Dynamik der Produktivitätssteigerung bis heute ungebrochen ist. Der Einsatz von Computern und Robotern in den Büros und Fabriken, der Biotechniken in Medizin und Nahrungsproduktion und anderer Techniken in andern Bereichen hat den Produktivitätszuwachs eher beschleunigt und wird ihn in näherer Zukunft voraussichtlich auch nicht sinken lassen. Wenn die heutige Welt von der ökonomischen Idee beherrscht wird, so hat dies offenbar zumindest bis heute nicht zu einer Untergrabung des Bodens geführt, auf dem der Kapitalismus Wohlstand für alle schaffen könnte. Darüber hinaus hat der Kapitalismus der Arbeit eine Produktivität gegeben, die vermutlich schon heute ausreichen würde, allen Menschen ein Leben ohne Elend zu sichern, wenn nur der Bevölkerungszuwachs seine Dynamik verliert. Mit dessen Hemmung gerade in den Entwicklungsländern aber kann man rechnen, wenn dort nur Altersversorgung und Frauenemanzipation mit dem von Europa bekannten nachfolgenden Fall der Geburtenrate vorankämen. 556 Webers Pessimismus erhält aber neue Nahrung durch eben die Faktoren, die seine Stagnationsbefürchtungen grundlos machen. Dieselbe Technik, die die Arbeitsproduktivität steigert, macht immer mehr Menschen für die kapitalistische Produktion überflüssig. Die an der Produktion Beteiligten werden an der Existenz der Überflüssigen kein Interesse haben, da sie an ihren Produkten teilhaben, ohne zu ihnen beizutragen. Daher muß man langfristig mit einer Produktion nicht nur durch, sondern auch für weniger Menschen rechnen, wenn diese Entwicklung nicht durch die politische Idee der gleichen Freiheit oder andere Ideen verhindert wird. Ohne deren Einwirkung könnte der Kapitalismus durchaus auf einer Stufe stagnieren, auf der einerseits seine bisherige Dynamik einen erheblichen Teil der Menschheit ökonoFolge dieses Krieges sein wird. Aber gesetzt, sie gelänge einmal: - was würde sie praktisch bedeuten? Etwa ein Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit? Nein! Vielmehr: daß nun auch die Leitung der verstaatlichten oder in irgendeine „Gemeinwirtschaft" übernommenen Betriebe bürokratisch würde ... D i e staatliche Bürokratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein." 555 Vgl. Weber, Das antike Judentum, Ges. Aufs. z. Rei. soz. Bd. 2, 314ff. 556 Vgl. Bill McKibben, Reaching the Limit, in: N e w York Review of Books, 29.5.1997, 3 2 - 5 .

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misch überflüssig macht, anderseits nach dessen Ausfall aus dem System der Produktion (sei es durch Vernichtung in Staats- und Bürgerkriegen oder auf anderen Wegen, sei es durch Einräumung eines Minimaleinkommens) den Unternehmen die Gewinnchancen expandierender Märkte und damit der Anreiz zu erneuter Produktivitätssteigerung fehlen. Webers Unentrinnbarkeitsthese steht und fällt daher mit seiner Unterstellung, daß politische Ideen nicht handlungswirksam sein werden. Was spricht für diese Annahme? Betrachten wir die drei schon aufgezählten Gründe, die sich bei Weber für seine These finden. Der erste Grund ist, daß die „äußeren Güter" heute eine Macht haben wie nie zuvor. Wegen dieser Macht nennt Weber das Gehäuse auch ein Gehäuse der „Hörigkeit". Aber sie als Hörigkeit zu verstehen, ist nicht zwingend. Die Macht der äußeren Güter läßt sich leicht daraus erklären, daß sie heute trotz aller bestehenden krassen Ungleichheit und Unterdrückung leichter zugänglich geworden sind als je zuvor. Das hat die folgenreiche Konsequenz, daß die elementaren Interessen der Massen ebenso wie ihre Lebensführung nicht mehr durch die prophetische Idee eines jenseitigen Heils geformt werden können. Deswegen könnten sie aber noch immer durch andere Ideen geformt werden, etwa durch die politische Idee der Gerechtigkeit, daß jeder Gelegenheit haben muß, genug äußere Güter für ein angenehmes Leben zu erwerben. Die religiöse Idee muß nach Webers eigener Logik der Ideenentwicklung ihre handlungsbestimmende Kraft verlieren, wenn die Möglichkeit erkennbar ist, daß jeder in diesem Leben seine Bedürfnisse ähnlich gut befriedigen kann, wie es früher die Herren und Gebildeten konnten, die eine religiöse Prophetie auch nach Weber nicht nötig hatten.557 Und diese Möglichkeit kann heute dank der durch den Kapitalismus geschaffenen ungeheuren Vermehrung der Produktivkräfte Wirklichkeit werden. Deswegen ist die heutige Orientierung an äußeren Gütern nicht notwendig Hörigkeit; sie kann vielmehr eine Form der Freiheit sein. Webers zweiter Grund ist, daß die modernen Gesellschaften von geschulten und spezialisierten Bürokratien verwaltet werden. Mit ihm setzt Weber voraus, daß der kapitalistische Kosmos nicht ohne bürokratischen Apparat funktioniert, daß ihre Unentbehrlichkeit den Bürokraten Macht verschafft und daß sie sie gebrauchen, um ihre Macht zu festigen und den Kosmos zu erhalten, der ihnen ihre Macht gibt. Daß auch andere Gesellschaften auf die Verwaltung durch Bürokraten angewiesen waren, vor allem die des antiken Ägypten und Chinas, und diese Jahrtausende überdauerten, aber erstarrten, nimmt Weber als warnendes Beispiel für die Gegenwart. Aber die eventuelle Vergleichbarkeit berechtigt nicht zum Schluß auf die Unentrinnbarkeit der heutigen Bürokratenmacht. Diese stößt, wie auch Webers Beschreibung des Kapitalismus als Schicksalsmacht nahelegt, immer auf die Schranke der Interessen des Kapitals. Pharaonen und chinesische Kaiser mußten sich den Forderungen ihrer Bürokratie beugen; die heutige Bürokratie beugt sich den Forderungen des Kapitals. Daher wird sie sich auch einer Staatsführung beugen, wenn diese nur effizient ist und ihre Forderungen legitim und von der Zustimmung der Bevölkerung getragen sind. Webers Bürokratiekritik ist berechtigt, soweit sie sich gegen falsche Hoffnungen richtet. Zu Recht kritisiert er die Annahme, eine sozialistische Revolution bedeute das „Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit". Zu Recht sagt er voraus. „Die jetzt neben und, wenigstens der Möglichkeit nach, gegeneinander arbeitenden, sich also immerhin einigermaßen noch gegenseitig in Schach haltenden privaten und öffentlichen Bürokratien wären in eine einzige Hierarchie zusammengeschmolzen. Etwa wie in Ägypten 557 Vgl. Weber, Konfuzianismus u. Taoismus, Ges. A. z. Rei. soz. Bd. 1, 493 und 517; Hinduismus und Buddhismus, Ges. A. z. Rei. soz. Bd. 2, 173f.

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im Altertum, nur in ganz unvergleichlich rationalerer und deshalb: unentrinnbarerer Form." 558 Aber die besondere Macht einer sozialistischen Bürokratie beruht nicht darauf, daß sie Bürokratie ist, sondern daß sie und die Partei- und Staatsführer, die sie kommandieren sollen, weder durch das Kapital noch durch eine legitime Regierung kontrolliert werden. Aus der Kritik an Webers ersten zwei Gründen seiner Unentrinnbarkeitsannahme folgt schon die Kritik an seinem dritten Grund. Danach ist die Macht der Bürokratie und der äußeren Güter überwindbar nur durch den „großartigen", aber endgültig vergangenen „Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung". Diese Begründung scheint kaum mehr als Nostalgie, enthält aber einen wichtigen Beitrag zur Logik der Ideenentwicklung, der Webers dritten Grund zum interessantesten macht. Daher müssen wir auf ihn eingehen. Dem Rationalismus der Lebensführung, den das religiöse Weltunterwerfungsgebot verlangt, sieht Weber einen modernen Polytheismus nachfolgen, welcher der Natur und Erfahrung des Menschen entspreche und religiöse Normalität oder „religiöser Alltag" sei. Das Weltunterwerfungsgebot „hatte (die) Vielgötterei entthront zugunsten des „Einen, das not tut" ... Heute aber ist... religiöser „Alltag". Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." 559 Nach dieser Aussage erschafft das Weltunterwerfungsgebot die Religion erst als eine von anderen Wertsphären unterschiedene Sphäre, ebenso wie es auch die übrigen „Lebensordnungen" aus den ursprünglich diffusen menschlichen Interessen als Sphären eigener Logik ausfällt. Fehlt das Weltunterwerfungsgebot, so tritt die Religion als „Vielgötterei" auf. In ihr vermischen sich Interessen, die nach Anerkennung des Unterwerfungsgebots ihren jeweiligen spezifischen Sphären zugeordnet werden. Weber nennt diese Lebensweise eine „Plastik (des) Verhaltens" und beschreibt sie am Beispiel der griechischen Antike daran, daß „der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt." 56 " Der Hellene huldigt damit, nach der Begrifflichkeit der Sphärenunterscheidung, einmal der Sphäre der Religion und zugleich der Erotik, dann der Sphäre der Religion und zugleich der Wissenschaft (wenn wir Apoll einmal als Gott der Wissenschaft betrachten dürfen), schließlich der Religion und zugleich der Politik. Dasselbe gilt nach Weber für die einfachen Menschen in China und Indien oder für „die Volksreligiosität", die sich überall „den allgemein asiatischen und antiken Zuständen insofern (nähert), als shintoistische, konfuzianische, taoistische, buddhistische Gottheiten und Nothelfer je nach Funktion und Gelegenheit angerufen wurden." 561 Daß diese Art der Interessenbefriedigung normal ist, sieht Weber darin bestätigt, daß sie heute, mit dem Verfall des Unterwerfungsgebots, in unpersönlicher Form als eine neue „Plastik" des Verhaltens auftritt. Sie besteht darin, daß die Menschen die Forderungen und 558 Weber, Parlament und Regierung, a.a.O., 319f. 559 Weber, Wissenschaft als Beruf, a.a.O., 330. Weber schrieb „Heute aber ist es religiöser Alltag" wie man statt „Heute ist Montag" auch sagen kann „Heute ist es Montag". 560 Ebd., 329. 561 Weber, Hinduismus und Buddhismus, Ges. A. z. Rei. Soz. Bd. 2, 306. Vgl. ebd., 361: „... wie der antike Hellene Apollon und Dionysos je nach der Gelegenheit verehrte, der Chinese buddhistischen Messen, taoistischer Magie und konfuzianischen Tempelkulten andächtig beiwohnt, so behandelt der nicht in Sekten besonders rezipierte einfache Hindu die Kulte und Gottheiten".

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Attraktionen der verschiedenen Wertsphären zwar ebensogut erkennen wie ihre puritanischen oder anderen monotheistischen Vorfahren, aber wechselnd und willkürlich eine oder mehrere Werte oder Wertsphären als die wählen, denen sie folgen. Während ihre Vorfahren eine unveränderliche und in der Vorherrschaft der Religion gegründete Werthierarchie hatten, entwickeln die Heutigen ständig wechselnde und nicht begründbare private Rangordnungen. Das ist nach Weber nicht anders möglich, weil nur das „Eine, das not tut", eine allgemeinverbindliche Wertordnung begründen kann. Ohne das Weltunterwerfungsgebot oder prophetische Forderungen bleibt den Menschen nur die wechselnde Empfindung oder Erfahrung von Werten oder andern Attraktionen, und diese können nur einen „Polytheismus" begründen: „Der alte John Stuart Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will - aber in diesem Punkt hat er recht - , sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus." 562 Als Folge der modernen Vielgötterei oder Verhaltensplastik sieht Weber einen typischen Charakter aufkommen, den Hingegebenheit an die wechselnden Eindrücke und Lebensbedingungen und das Fehlen von Persönlichkeit oder Autonomie kennzeichnen. Dieser Charakter ist mangels Eigengewicht den Eindrücken und Anforderungen seiner Umgebung hilflos ausgeliefert und erfüllt sie schlecht oder recht, kann sie aber nicht sprengen oder verändern, wenn er mit ihnen unzufrieden ist. Der modernen Plastik des Verhaltens entspricht eine Plastik des Charakters, gegen den sich der kapitalistische Kosmos als stahlhart erweist. Dieser ist ein Gehäuse der Hörigkeit, weil seine Insassen den wechselnden Eindrücken und gegebenen Lebensbedingungen hörig sind. Weber weiß, daß einige seiner Zeitgenossen in einer „wissenschaftlichen" Begründung von Normen eine Alternative ebenso zur mono- wie zur polytheistischen Lebensführung sahen. Er schließt sie aus, aus Gründen, die durch seinen Kampf für die Wertfreiheit der Wissenschaft zu Recht berühmt und anerkannt worden sind. Aber er schließt mehr aus als eine wissenschaftliche Lebensführung: „Wie man es machen will, „wissenschaftlich" zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und der deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit." 563 Weber zeigt sich hier merkwürdig unbeeindruckt von der Möglichkeit, daß man nicht immer zwischen zwei Werten entscheiden muß, weder wissenschaftlich noch auf andere Weise, und daß man sich mit dem Verletzungsverbot zur Verhinderung von Unrecht und einem Toleranzgebot für die Wahl des eigenen Guten begnügen könnte. Er erkennt nicht, daß es außer der in der Tat unmöglichen „wissenschaftlichen Lebensführung" eine Alternative zur monotheistischen Lebensführung der Weltunterwerfung unter die Gebote des einen Gottes und zur „polytheistischen" Lebensführung eines unverbindlichen Sichüberlassens an Eingebungen und Impulse gibt: die Orientierung am Recht der gleichen Freiheit, die erzwingbare Forderungen von derselben Strenge zu erkennen gibt wie das Weltunterwerfungsgebot, die jedoch im Unterschied zu letzteren als allgemeinverbindlich gerechtfertigt werden können, und im Rahmen dieses Rechts eine Orientierung an den Werten und ihrer Hierarchie, die jeder sich nach seiner Überzeugung vom Guten wählt. Die Ziele der Weltunterwerfung wurden als absolut verbindlich und daher auch als erzwingbar verstanden. Aber legitim erzwingbar sind nur die Ziele der Gerechtigkeit, nicht die der Religion, auch nicht das Ziel der Brüderlichkeitsliebe oder brüderlichen Handelns, das 562 Weber, Wissenschaft als Beruf a.a.O., 328. 563 Ebd., 329.

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viele Religionen verdienstlich genug der Menschheit einschärften. 564 Dies Ziel kann und muß moralisch gefordert, aber darf nicht rechtlich, staatlich oder mit anderem Zwang durchgesetzt werden. Was Weber als modernen Polytheismus beschreibt, ist nicht nur das unverbindliche Sichüberlassen an Impulse; zu ihm gehört auch der moderne Pluralismus, für den religiöse und sittliche Werte, Ziele und Normen nicht mit Zwang verbindlich gemacht, sondern nur von jedem selbst gewählt werden können. Daß über sie nicht entschieden werden kann, auch nicht wissenschaftlich, ist kein Mangel und führt zu keinen Konflikten, solange nur zugleich das Prinzip allen Rechts beachtet wird, das verbietet, jemand daran zu hindern, über sich, sein Leben, den Gebrauch seiner Fähigkeiten und die Wahl seiner Götter selbst zu entscheiden. Die Anerkennung dieses Rechtsprinzips, das auch das der gleichen Freiheit ist, als absolut und allgemeinverbindlich ist eine Konsequenz aus der Verwerfung der religiösen Idee der Weltunterwerfung, die in der Geschichte der Auseinandersetzung mit dieser Idee bewußt und explizit von den klassischen politischen Philosophen von Hobbes bis Hegel gezogen wurde, von Weber aber in seiner Beschreibung der Entwicklung der handlungsleitenden Ideen übersehen wird. Sie ist nicht weniger „ein Produkt rational ethischen Denkens" als die Karmanlehre der Brahmanen, kann aber im Unterschied zu dieser einerseits die zwei großen Leistungen der religiösen Idee bewahren, nämlich die Entzauberung der Welt und die Ausdifferenzierung der ursprünglich diffusen Interessen in Wertsphären mit eigener Logik, und anderseits elementare Gerechtigkeitsintuitionen integrieren, die in Indien nicht weniger vorhanden sind als in Europa. Was Weber als modernen Polytheismus beschreibt, ist nicht notwendig ein Hindernis für die Entwicklung von Persönlichkeit und Autonomie. Die Lebensführung „von innen heraus", die Weber dem Puritaner mit offensichtlicher Zustimmung zu ihr zuspricht, ist nur möglich, wenn man der Idee, in deren Befolgung man seinem Leben Eigengewicht gibt, selbst wählt. U m sie wählen zu können, muß es alternative Ideen geben, die ebenso frei gewählt werden können, und solche Alternativen sind alternative religiöse Ideen oder Ideen der konkurrierenden Wertsphären. 565 Daß nach dem Absterben der religiösen Idee, die die Puritaner zum Erschaffen des kapitalistischen Kosmos befähigte, keine Idee mehr bestände, die dem Menschen Eigengewicht gegen die Welt geben und aus ihrem Handeln mehr als eine Serie von Vorgängen machen könnte, ist daher ein Irrtum. Weber übersieht, daß die politische Philosophie der gleichen Freiheit ein „System rationaler innerweltlicher Ethik des Handelns" ist, dessen Ideen immerhin schon seit drei Jahrhunderten die politische Praxis des „Okzidents" mitbestimmt haben und heute die der ganzen Welt zu bestimmen beanspruchen. Bevor ich auf diesen Punkt eingehe, möchte ich einen kurzen Blick auf Heidegger werfen.

564 Die „religiöse Brüderlichkeitsethik" hebt Weber immer wieder als spezifische Errungenschaft der Erlösungsprophetie hervor, z.B. Zwischenbetrachtung, a.a.O., 542. 565 „Die Europäer", sagt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie, a.a.O., 432, sie vom Individuum „im Mohammedanismus" unterscheidend, haben „eine Menge von Verhältnissen ... und (sind) ein Konvolut derselben". Um Autonomie zu haben, muß man auch nach Hegel einer methodischen Lebensführung folgen; um sie heute zu haben, muß man ihr in den vielen Verhältnissen, die man hat, folgen.

Heideggers Gestell

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Heideggers Gestell Ohne Rücksicht darauf, ob Heidegger Webers Religionssoziologie und ihren Zusammenhang mit seiner Gegenwartsdiagnose kannte und seine Gedanken aus ihnen entwickelte oder nicht, lassen sich einige Analogien zwischen Heideggers und Webers Gegenwartsverortung feststellen. Im Vergleich der Autoren können Heideggers Aussagen allerdings eher plump und wenig geeignet erscheinen, Webers düstere Gegenwartsdiagnose zu stärken. Wenn dieser Eindruck richtig ist, würde aus der erwarteten Bestätigung Webers durch Heidegger eine Schwächung werden. Heidegger kann den politischen Philosophen aber auch aus einem von Weber unabhängigen Grund interessieren. Im Unterschied zu Weber hält er den kapitalistischen Kosmos nicht für unentrinnbar. Er beansprucht sogar, einen Ausweg aus ihm weisen zu können: eine besondere Art des Denkens, die eigentliches Handeln sei, aber weder durch Gründe gerechtfertigt noch durch Ideen orientiert wird. Man wird fragen, ob dieser Anspruch verdient, hier erwähnt zu werden. Er verdient es nicht, aber Heideggers Einfluß auf die sogenannten postmodernen Denker und deren Politikverständnis rechtfertigt einen Blick auf ihn. Was sind die Analogien zwischen Weber und Heidegger? Der Stellungnahme zur Welt, die Weber als die vorherrschende in Vorderasien und Europa erkennt, der der Weltbeherrschung, entspricht bei Heidegger die Welteinstellung, die er Metaphysik nennt. Die Metaphysik beginnt nach Heidegger bei Piaton als eine Philosophie, die zwar oft als Muster der reinen Theorie gilt, aber sie sei wie die Weltunterwerfungsidee „orientiert an der unbedingten Herrschaft der rechnenden Vernunft". 5 6 6 Wie die religiöse Idee der Weltunterwerfung die Quelle der Kulturerscheinungen ist, durch die Weber den Okzident ausgezeichnet sieht Kulturerscheinungen, wie Weber betont, „von universeller Bedeutung und Gültigkeit", weil sie auch das Schicksal der übrigen Welt bestimmen - , so ist nach Heidegger die „Metaphysik in allen ihren Gestalten und geschichtlichen Stufen ein einziges, aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes und die Voraussetzung seiner planetarischen Herrschaft". 567 Wie die Weltunterwerfungsidee nach Weber zur Ausfällung ursprünglich diffuser Interessen in ideengeleitete Wertsphären führt, so entbirgt die Metaphysik „alle Bezirke des Seienden, die jeweils das Ganze des Seienden zurüsten: die vergegenständlichte Natur" als Sphäre der Wissenschaft - , „die betriebene Kultur" - als Sphäre der Kunst - , „die gemachte Politik" - als Sphäre des Staats - „und die übergebauten Ideale" - als die weiteren Wertsphären. 568 Wie die tiefste und folgenreichste Veränderung der religiösen Idee nach Weber die Haltung zur Arbeit betrifft und zuerst bei den Puritanern, dann überall im Kosmos des Kapitalismus aus dem Mittel zum Leben dessen Zweck macht, so erklärt Heidegger, „daß der Mensch der Metaphysik, das animal rationale, zum arbeitenden Tier fest-gestellt wird".569 Wie nach Weber die Unterwerfungsidee gerade wegen ihrer großartigen Erfolge ihre Herrschaft der ökonomischen Idee übergeben muß und so schließlich zur Verkümmerung der Welt führt, so führt nach Heidegger die Metaphysik zum „Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt" und zur „Verwüstung der Erde", die „aus der Metaphysik (stammt)". 570 566 Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1985, 77. 567 Ebd., 73. 568 Ebd., 76. Zum „Entbergen" der Metaphysik oder des „Gestells" (dazu sogleich im Text) vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., 29. 569 Ebd., 68. 570 Ebd.

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Weber sah eine Zeit voraus, in der „für die .letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden (könnte): .Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.'" 5 7 1 Heidegger sagt, ebenso auf Nietzsche anspielend, von dem zum arbeitenden Tier fest-gestellten Wesen, es sei „dem Taumel seiner Gemachte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte." 572 Und wie Weber für das Ergebnis der Weltbeherrschungsidee das Wort vom stahlharten Gehäuse prägte, so wählt auch Heidegger einen Baubegriff zur Kennzeichnung des Wesens der Technik: das Gestell. Die Metaphysik ist nach Heidegger das Gestell, in und an dem die Philosophie seit Piaton gearbeitet hat. „Das Ge-stell als Wesen der modernen Technik kommt vom griechisch erfahrenen Vorliegenlassen ... Im Stellen des Ge-stells, d.h. jetzt: im Herausfordern in die Sicherstellung von allem, spricht der Anspruch der ratio reddenda, d.h. des logon didonai [des Rechtfertigens], so freilich, daß jetzt dieser Anspruch im Ge-stell die Herrschaft des Unbedingten übernimmt und das Vor-stellen aus dem griechischen Vernehmen zum Sicher- und Fest-steilen sich versammelt." 573 Das Gestell ist die Seinsweise, die der Orientierung an der religiösen Idee und der an der ökonomischen Idee gemeinsam ist: das Kontrollieren alles Kontrollierbaren nicht mehr zum Preis Gottes, aber auch nicht nur zur Maximierung des Tauschwerts, sondern um des Kontrollierens willen. Mit ihm erfaßt Heidegger eine allgemeinere Einstellung oder Seinsweise als Weber mit dem Begriff der Weltunterwerfung, denn es hat nach Heidegger die okzidentale Lebensführung in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart bestimmt. Zur Seinsweise des Gestells rechnet Heidegger aber weiter gerade den Zug, der zu aller Philosophie vor Heidegger gehört, denn diese ist für ihn Metaphysik und daher das Gestell, wie es der Philosoph vollzieht. Dieser Zug besteht darin, für alle Behauptungen, Theorien, Forderungen und Normen mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch eine Rechtfertigung oder Begründung zu verlangen. Erst im Gestell, so Heidegger, wird aus dem „Vernehmen" oder der Vernunft die Rationalität, wie sie die Philosophen oder Metaphysiker verlangen: die Orientierung daran, für alle Allgemeinverbindlichkeitsansprüche eine Begründung zu verlangen. Dies ist das „Sicher- und Fest-stellen", das das „Vor-stellen" aus dem ursprünglich nicht nach Gründen fragenden „Vernehmen" macht. Soweit reicht die Übereinstimmung zwischen Weber und Heidegger. Aber sie enthält auch schon den Unterschied, der sie in Gegensatz bringt. Heidegger unterscheidet nicht zwischen der Epoche der religiösen und jener der ökonomischen Idee und verwirft das philosophische Prinzip, für alle Allgemeinverbindlichkeitsforderungen eine Begründung zu verlangen. Die Konsequenz aus der Vergröberung der Weberschen Ideengeschichte des Okzidents ist für Webers Ideenbegriff ebenso vernichtend wir für die politische Philosophie. Soweit Ideen das Handeln bestimmen und zugleich dem Handelnden zur Rechtfertigung seines Handelns dienen, gehören Ideen zum Gestell. Alle Philosophen, die das Handeln an Ideen orientieren wollen, ob sie Ideen wie Marx als Produkt der Produktion oder wie Weber als Produkt einer bestimmten Stellungnahme zur Welt oder wie die politischen Philosophen als Darstellungen einer nicht reduzierbaren Gerechtigkeit verstanden haben, sind Metaphysiker und Gefangene 571 Weber, Die protestantische Ethik, Ges. A. z. Rei. soz. Bd. 1,204. Das Zitat im Zitat stammt von Fr. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede, Kapitel 5. 5 7 2 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, a.a.O., 69. 573 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, Frankfurt/M. 1980, 69f.

Heideggers Gestell

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des Gestells, gestellt vom Gestell. Aus ihnen kann keine Verbesserung des menschlichen Lebens hervorgehen, sondern nur „Einsturz und Verwüstung". 574 Wenn ich nach Gründen für Webers Unentrinnbarkeitsthese gesucht und sie sogar bei Heidegger zu finden gehofft habe, war auch ich ein Opfer des Gestells und wähnte, auch Heidegger sei ein solches Opfer. Heideggers Verwerfung des Begründungsprinzips macht freilich jedes Argument und jede Diskussion zum Beleg der Befangenheit im Gestell. Wer auf Argument und Kritik nicht verzichten will, muß daher Heideggers Gestelltheorie verwerfen. Eine Unterstützung für Webers Unentrinnbarkeitsthese kann er jedenfalls bei ihm nicht finden. Wie steht es mit Heideggers Anspruch, einen Ausweg aus „Einsturz und Verwüstung" zu weisen? Die Metaphysik kann überwunden oder, wie er später (zur Freude mancher Interpreten) sagte, „verwunden" werden 575 , und zwar durch das Denken. Diese Aussicht bedeutet keine Hoffnung für die politische Philosophie. Diese verlangt zwar auch ein Denken, aber ebenso ein dem Denken gemäßes Handeln oder Wirken. „Alles Wirken", behauptet dagegen Heidegger, „geht auf das Seiende aus", und das Seiende ist das, was im Gestell gestellt wird. Das Heil liegt im Denken des Seins, dies ist das vollkommene Handeln. Heidegger hat diese Lösung in seinem Brief über den „Humanismus" vorgetragen. Ich zitiere seinen Anfang mit einiger Ausführlichkeit, um die Attraktion verständlich zu machen, die Heidegger seinen Lesern bot, freilich auch, um in meiner Kritik weniger ausführlich sein zu müssen: „Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem „ist", ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbieten besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, daß von ihm eine Wirkung ausgeht oder daß es angewendet wird. Das Denken handelt, indem es denkt... Das Denken läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen. Das Denken vollbringt dieses Lassen. Denken ist l'engagement par l'Être pour l'Être." 576 Solche Worte sind Balsam auf die Seele aller Philosophen, die denken und nicht hoffen können, daß ihr Denken auf die Gesellschaft wirkt oder von ihr zur Lösung ihrer Probleme angewandt wird. Sie werden wahrhaftig vom Sein, von dem, worüber sie denken, in Anspruch genommen, ihr Gegenstand läßt sie nicht los und verfolgt sie bis in ihre Träume. Sie sagen mit den Theorien, die sie entwickeln, die Wahrheit des Seins. Sie handeln, indem sie denken, und dies Handeln ist ein Lassen, ein Reifenlassen der Gedanken und Weglassen dummer Einfälle. 574 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, a.a.O., 68. 575 Heidegger, Zur Seinsfrage, in: Wegmarken, Frankfurt/M. 1978, 408ff. Zur Deutung der „Verwindung" vgl. Gianni Vattimo, Heideggers Verwindung der Moderne, in: F.W. Veauthier (Hg.), Martin Heidegger. Denker der Post-Metaphysik, Heidelberg 1992. 576 Heidegger, Brief über den „Humanismus", in: Wegmarken, a.a.O., 311.

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So geleiten sie, wie es Heidegger treffend, wenn auch die Etymologie von producere mißbrauchend, beschreibt, ihre Gedanken und mit ihnen deren Gegenstand heraus in die Offenbarkeit von Veröffentlichungen, die auch dann, wenn sie niemand liest, doch den behandelten Gegenstand erst verständlich und klar machen, zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren. Und ist die Sprache nicht das Haus des Seins? Was immer wir denken, tun, fühlen, leiden, ist uns, soweit es uns überhaupt gewärtig ist, auch sprachlich gegeben. Der Denker wie der Dichter, die alles, was einem Menschen nur unterlaufen kann, zur Sprache bringen, sind als Wächter dieser Behausung auch unvermeidlicherweise, ob sie es wollen oder überhaupt merken oder nicht, die Menschen, die allein das Unheil der Welt, Einsturz und Untergang, beheben können. Wie stark Heidegger mit seiner Zuweisung der Überwindung aller sozialen Katastrophen an die Denker und Dichter die Bestätigungsbedürfnisse der Intellektuellen anspricht und sie mit Verweisen auf das füttert, womit sie alle zu tun haben, wie immer sie in dem auseinander gehen, was sie zu sagen haben, nämlich auf ihren Sprachgebrauch, zeigt folgende Stelle: „Das Denken, gehorsam der Stimme des Seins, sucht diesem das Wort, aus dem die Wahrheit des Seins zur Sprache kommt. Erst wenn die Sprache des geschichtlichen Menschen aus dem Wort entspringt, ist sie im Lot. Steht sie aber im Lot, dann winkt ihr die Gewähr der lautlosen Stimme verborgener Quellen. Das Denken des Seins hütet das Wort und erfüllt in solcher Behutsamkeit seine Bestimmung. Es ist die Sorge für den Sprachgebrauch." 577 Daß aus der Sorge für den Sprachgebrauch eine grundlegende Verbesserung der menschlichen Existenz erwachsen könnte, diese Illusion teilt Heidegger zwar mit einigen seiner Zeitgenossen (Wittgenstein war derselbe Jahrgang) und einigen heutigen analytischen Philosophen, aber Heidegger hat der Philosophie den Gefallen getan, diesen Gedanken unverstellt im Geist der Betulichkeit und des Begriffskitsches auszudrücken, dem er entspringt. Das Haus des Seins, wenn wir darunter den Ort verstehen, an dem die Menschen leben und arbeiten und einander glücklich und unglücklich machen, ist die Gesellschaft. Wenn sie mangelhaft ist, sei es daß in ihr Unterdrückung, sei es daß in ihr eine falsche Weltorientierung herrscht, wird auch die Sprache mangelhaft sein. Sorgt man dann für den Sprachgebrauch, wird sich vielleicht die Sprache verbessern, aber nicht die Gesellschaft. Wenn Heidegger das Gegenteil versichert, erfüllt er nur das Wunschdenken aller, die mit der Sprache arbeiten. Heidegger hat sich nicht damit begnügt, in seinen Andeutungen über das, woher das Rettende zu erwarten ist, auf die Sorge für den Sprachgebrauch zu verweisen. Er sagt uns auch, daß uns „das Sein" zuspricht. 578 Für unser Interesse ist nur wichtig, daß er eine Verbesserung, Befreiung oder das Heil der menschlichen Existenz nicht von der Verwirklichung von Ideen der Gerechtigkeit erwartet, die als allgemeinverbindlich gerechtfertigt sein müssen, sondern von etwas, was uns zuspricht und nicht auf seine Gründe befragt werden kann. Einem solchen Zuspruch des Seins zu folgen ist nach Heidegger das einzige, was „an der Zeit" ist. Diese Auffassung ist nicht nur in Heideggers spezifischem, sondern im ordinären Sinn indiskutabel. Es gibt viele auch moralisch relevante Bereiche, in denen es in der Tat unsinnig ist, für Handlungen oder Entscheidungen Begründungen zu verlangen. Aber Handlungen, die beanspruchen, gerecht oder legitim zu sein, müssen als allgemeinverbindlich begründet sein, weil sie mit der Befugnis zu zwingen verbunden sind. Wären erzwingbare Handlungen nicht immer rechtfertigungsbedürftig, so dürfte Zwang ohne Rechtfertigung ausgeübt und das 577 Heidegger, Nachwort zu: Was ist Metaphysik?, in: ebd., 309. 578 Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1990, 241-68, bes. 254ff.

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Recht auf Selbstbestimmung, die Grundlage allen Rechts, verletzt werden. Ob Heidegger nun diese Konsequenzen nicht gesehen oder ob er sie in Kauf genommen hat, sie sind eine demonstratio ad absurdum seiner Metaphysikkritik. Heideggers Denken unterliegt einer noch tieferen Schwäche. Seine Logik der Ideenentwicklung führte Weber zur Unentrinnbarkeitsthese, die ihn in den praktischen Widerspruch verwickelt, als Politiker gegen ein System zu kämpfen, das er als Theoretiker für unüberwindbar hält. Ein solcher Widerspruch macht das Leben schwer, aber bedeutet nicht das Aus für die Theorie. Er gibt sogar Gelegenheit, einen heroischen Existenzialismus zu entwickeln, und Weber ließ diese Gelegenheit nicht ungenutzt. Heidegger dagegen gerät durch seine Metaphysikkritik zu logisch widersprüchlichen Aussagen über das Denken und damit zu einem Widerspruch, der jedes, auch Heideggers Denken lahmlegen mußte, weil er das Denken selbst betrifft. Denn er schrieb der Metaphysik zwei Eigenschaften zu, erstens daß ihr Prinzip das der Begründung sei: daß sie für alle Allgemeinverbindlichkeisansprüche Begründungen fordere; zweitens daß sie der Grund der Dürftigkeit, von „Einsturz und Untergang" der Gegenwart sei. Wenn, wie ich glaube, Heideggers erste Charakterisierung der Metaphysik richtig ist, betätigt er sich mit seiner zweiten Charakterisierung selbst als Metaphysiker, denn er begründet seine Klage gegen die Metaphysik durch das Argument, daß deren Begründungsdenken ein Sicherstellen des Seins sei, das dessen Natur nicht gemäß sei, und so zur Seinsvergessenheit und Untergang führen müsse. Will Heidegger seiner eigenen Metaphysikkritik treu bleiben, so darf er seine Kritik nicht begründen. Er muß, wie es auch sein Altersgenosse Wittgenstein verlangte, „sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist." 579 Aber dann fehlen ihm mit den Gründen auch die Motive, an der Metaphysikkritik und der Verwerfung ihres Begründungsprinzips festzuhalten. Er kann zu Begründungen greifen und sie verweigern, ganz wie ihm zumute ist. Und so macht es Heidegger auch seit seiner Metaphysikkritik. Das Ergebnis ist nicht nur, daß er keine Philosophie mehr treibt, das Ergebnis ist vor allem und im Widerspruch zu seinem Anspruch, daß er nicht denkt. Das Denken von Gedanken, die grundsätzlich nicht vor einem öffentlichen Forum begründbar sind, ist kein Denken, sondern ein Sichhingeben an Einfälle (die Heidegger allerdings nicht ungeschützt veröffentlicht, sondern den Anforderungen seines Sprachgeschmacks unterwirft - schließlich ist er ein Wächter der Sprache). Wohin das Unverständnis für die Rolle der Ideen der Gerechtigkeit führt Marx, Weber und Heidegger stimmen darin überein, Gerechtigkeitsvorstellungen eine handlungsleitende Rolle in der Geschichte abzusprechen. Nach Marx kommt alles auf die Natur des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an, nach Weber ist der kapitalistische Käfig unentrinnbar, nach Heidegger kommt es darauf an, sich gerade nicht von Vorstellungen oder Ideen leiten zu lassen. Ihre übereinstimmende Auffassung von der historischen Irrelevanz von Gerechtigkeitsvorstellungen hat eine gemeinsame unreine Quelle: ihren Begriff von Moral und allgemeiner von handlungsleitenden Vorstellungen. Marx hält es für unvereinbar mit seinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, normativen Ideen überhaupt irgendeinen unreduzierbaren historischen Einfluß einzuräumen, geschweige denn, sich selbst zur Rechtfertigung seiner Forderungen auf normative Ideen zu berufen; daher seine grotesken Verweise auf die Notwendigkeit eines Naturprozesses, die er histori579 Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, 6.54.

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sehen Vorgängen zuspricht. Der Grund dafür ist sein unzureichender Moralbegriff. Moral ist für ihn ein Mittel, den Erhalt einer bestehenden Gesellschaft zu sichern. Daher kann ein Theoretiker, der die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft erkennt, sich zu ihrer Kritik und zur Rechtfertigung seines revolutionären Handelns nicht auf Moral oder Gerechtigkeit berufen; er kann vielmehr nur als Wissenschaftler zeigen, daß gesellschaftliche Verhältnisse die gegebene Natur ihrer Produktion behindern und deswegen mit Naturnotwendigkeit von den mit Naturnotwendigkeit sich weiter entwickelnden Produktivkräften (zu denen Marx notfalls auch die Empörung der Unterdrückten rechnet) gesprengt werden. Nach Weber ist eine Moral nicht notwendig ein Herrschaftsinstrument, aber auch er versteht ihre Eigenart nicht als das, was sie ist: die praktische Folge der Erkenntnis der Menschen von ihrer Besonderheit gegenüber anderen Tieren, ihrer Urteilsfähigkeit oder Vernunft, die sie berechtigt und verpflichtet, über sich nach eigenem Urteil zu entscheiden und das eigene Urteil jedes anderen zu respektieren. Moral ist für ihn vielmehr ein Aspekt der grundsätzlichen „Stellungnahme" zur Welt, die wie in China Weltanpassung, wie in Indien Weltflucht oder wie im Okzident Weltunterwerfung sein kann. Diese Stellungnahmen und damit auch die ihnen entsprechenden Moralsysteme sind zwar nicht willkürlich; sie gehören zu den menschlichen Möglichkeiten, auf die Welt zu reagieren; aber man kann keiner Kultur und keinem Individuum vorhalten, eine falsche Stellungnahme oder ein unangemessenes Weltverhältnis entwickelt zu haben. Daher streitet Weber dafür, den historischen Einfluß der Ideen anzuerkennen, die jenen Stellungnahmen entspringen, kann aber kein politisches Handeln allgemeinverbindlich und als erzwingbar rechtfertigen, das er selbst nach seinen Werturteilen für richtig hält Weber erkennt wie Marx, daß die kapitalistische Ökonomie heute die übrigen Sphären an ihrer Entfaltung hindert. Er folgt in seiner Beurteilung der chinesischen, indischen, jüdischen und heutigen Kultur als „Gehäuse" oder historischer Sackgassen demselben Fortschrittskriterium, das wir in Kants und Hegels Geschichtsphilosophie und in Leibniz' Metaphysik finden, nämlich dem Maßstab der Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden. 580 Doch expliziert er diesen Maßstab nicht und wäre auch außerstande, ihn zu begründen. Wenn er aber anerkennt, daß eine religiöse Idee die Menschen dazu brachte, die Welt in ihren vielen Bereichen den Geboten eines überweltlichen Gottes zu unterwerfen, ist es unglaubwürdig, die Möglichkeit zu leugnen, die Gesellschaften in einer bestimmten Hinsicht einem Prinzip der Gerechtigkeit zu unterwerfen, das jedem die gleiche Freiheit läßt, über sich selbst zu bestimmen. Wenn er wiederholt darauf besteht, daß Ideen und nicht Interessen dem Handeln die Weichen stellen, daß die Eigenart der hinduistischen gegenüber der konfuzianischen und der okzidentalen Welt „ein Produkt rationalen ethischen Denkens, nicht irgendwelcher ökonomischer „Bedingungen"" ist581, warum sollte da nicht auch ein künftiger sozialer Kosmos ein Produkt rationalen Denkens über Gerechtigkeit sein? Ein Grund, aus dem Weber das für unmöglich hält, ist offenbar, daß er weltverändernde Ideen nur den grundsätzlichen Stellungnahmen zur Welt entspringen sieht, die in der (konfuzianischen) Weltbejahung oder der Weltverneinung entweder der weltfliehenden (indischen) oder der innerweltlichen (puritanischen) Askese bestehen. Wenn dies so ist, dann unterschätzt er die Logik der Ideenentwicklung, die er selbst skizzierte. Dieser Logik kann es nicht entsprechen, die Welt radikal zu verneinen, wenn diese jedem die Mittel bietet, seine Anlagen zu 580 Vgl. zu diesem Kriterium mein Buch: Warum überhaupt etwas ist, a.a.O., Kap. IV. 581 Weber, Hinduismus und Buddhismus, Ges. A. z. Rei. soz. Bd. 2, 131.

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betätigen und zu entfalten. Alter, Tod und Vergänglichkeit wird auch die Zukunft nicht beseitigen; sie werden immer Grund genug zu Trauer geben; aber deswegen die Welt radikal zu verwerfen, ist widersprüchlich, da die Trauer der Vergänglichkeit eines, wie Weber sagt, „Lebens auf dieser trotz allem doch schönen Erde" 5 8 2 gilt. Wenn daher alle Weltbejahung konfuzianisch wäre, so hätte Weber recht, eine konfuzianische Zukunft zu erwarten. Aber er hätte unrecht, darin zugleich den Verlust von Autonomie oder, wie Weber sagt, „Persönlichkeit" zu sehen; denn diese schließt Weltbejahung nicht aus. Er hat recht zu unterstellen, daß Autonomie Orientierung an einem absoluten Prinzip voraussetzt. Aber ein solches Prinzip kann auch eins sein, das Weltbejahung impliziert, wie das Prinzip, die Welt so einzurichten, daß sie jeder genießen kann. Weber erkennt das im übrigen selbst an, wenn er bemerkt, daß aus der jüdischen Lebensführung, die ihm als Muster der Orientierung an einem absoluten Prinzip dient, „,Weltablehnung' oder,Weltentwertung'... in keiner Weise" folgte. 585 Ein künftiger sozialer Kosmos kann gewiß nicht dem rationalen ethischen Denken nur eines oder einiger weniger Individuen entspringen, und ein solches Denken darf nicht zu weit entfernt vom sozialen Handeln seiner Zeit sein. Die politische Philosophie der gleichen Freiheit, die heute beansprucht, die Politik zu orientieren, ist nicht weniger als die Traditionen des konfuzianischen, des brahmanischen und des monotheistischen Denkens eine Denktradition, die dem typischen sozialen Handeln ihres Kosmos nahe steht. Sie hat zwar noch nicht so viele Jahrhunderte das Denken der Intellektuellen beherrscht wie jene, aber immerhin schon seit einigen Jahrhunderten. Weber sieht den heutigen Kosmos nur als Produkt des Niedergangs der religiösen Idee. Das ist er zwar auch. Aber das schließt nicht aus, daß er in seiner Entstehung auch vom Aufstieg einer politischen Idee bestimmt war und in seiner weiteren Entwicklung von ihr bestimmt sein wird. Ein anderer Grund, aus dem Weber einen künftigen sozialen Kosmos nicht am Produkt rationalen Denkens über Gerechtigkeit orientiert sehen will, könnte der sein, daß er für die Handlungswirksamkeit von Ideen eine Elite als ihre Träger voraussetzt, eine solche heute aber nicht findet. Denn die konfuzianischen, brahmanischen, buddhistischen, hellenischen, römischen, jüdischen, christlichen und islamischen Ideen, die ihre Kulturen prägten, wurden von Minderheiten getragen, die ihnen mit besonderer Konsequenz anhingen und für sie lebten und starben. Gibt es eine solche Konsequenz heute für die politischen Ideen der Gerechtigkeit? Das scheint Weber auszuschließen. Aber wenn es so sein sollte, irrt er. Vielen Kämpfern in den deutschen Bauernkriegen des 16., den englischen Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts, der amerikanischen und französischen Revolution des 18., den gescheiterten Revolutionen des 19. und den zahlreichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts ging es um die gleiche Freiheit, 582 Ebd., 133. 583 Weber, Das antike Judentum, Ges. A. z. Rei. Soz. Bd. 3,418, vgl. 427. Webers Unterscheidung der Arten der Stellungnahme zur Welt in bejahend und verneinend wird seinen Absichten nicht immer gerecht. Er nennt die „indische Religiosität" die „Wiege der theoretisch und praktisch weltverneinendsten Formen von religiöser Ethik, welche die Erde hervorgebracht hat" (Zwischenbetrachtung, a.a.O., 536, meine Hervorh.). Logisch ist keine Verneinung steigerbar. Sein wirklicher Unterscheidungsgesichtspunkt ist, wieweit eine Lebensorientierung zur Entfaltung aller Wertsphären führt. Das aber heißt: wieweit sie uns die innere und äußere Welt in ihrem Reichtum zugänglich macht. Dieser Gesichtpunkt enthält schon einen Wertmaßstab: die Einstellung ist die beste, die uns den Reichtum der inneren und äußeren Welt am wirksamsten erschließt. Was man als Reichtum anerkennt, kann von Person zu Person verschieden sein; dennoch kann der Maßstab unter Toleranzbedingungen zur Schlichtungsinstanz werden.

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um die Freiheit für jeden. Ihr Verständnis dieser Idee ging oft weit auseinander, aber das gilt auch für die Ideen der Weltreligionen, über die ihre Anhänger oft blutiger untereinander gestritten haben als gegen Anhänger fremder Religionen. Man kann in der europäische Geschichte der letzten drei Jahrhunderte einen ununterbrochenen Kampf um das Verständnis und die Durchsetzung der Idee der gleichen Freiheit sehen. 584 Daß diese Idee ihren religiösen Vorgängern an handlungsleitender Kraft und opferbereiten Trägern nachstände, konnte nur Vertretern der Zeit der schlafenden politischen Philosophie wahr scheinen, der Weber und Heidegger in der Tat angehörten. Heidegger sieht in Moral und Recht Elemente des Gestells. Das Prinzip der modernen Moralphilosophie können wir Begründungsprinzip nennen. Nach ihm sind nur solche Normen als gültig anzuerkennen, die so gut wie möglich begründet sind. Dies Prinzip ist ihm Ausdruck des Weltbeherrschungswillen der Metaphysik. Er folgt ironischerweise dem Weberschen Ansatz, in der konfuzianischen Lebensorientierung den Gegensatz zur okzidentalen Weltunterwerfung zu sehen, wenn er in seiner Suche nach nichtmetaphysischen Orientierungen auf ostasiatische Traditionen zurückgreift und über „den Tao" als den „alles bewegenden Weg" spekuliert, „dasjenige, woraus wir erst zu denken vermögen, was Vernunft, Geist, Sinn, Logos eigentlich, d.h. aus ihrem eigenen Wesen her sagen möchten." 585 Dieser Rückgriff illustriert besonders deutlich die Unvereinbarkeit von Heideggers Metaphysikverwindung mit der politischen Philosophie. Denn im „alles be-wegenden Weg" kommt es auf Intuitionen an, von denen man sich oft leiten lassen muß. Das ist durchaus eine Erkenntnis, die manche europäischen Moraltheoretiker nicht berücksichtigt haben. Aber Heideggers Metaphysikkritik schließt aus, diese Intuitionen auf ihre Konsistenz mit andern Intuitionen, die man selbst oder andere haben, zu vergleichen und aus ihnen ein System mit leitenden Ideen zu machen, das man dem Urteil der Öffentlichkeit und ihrer möglichen Ablehnung aussetzen muß. Gerade darauf aber kommt es an, wenn man entscheidet, was eine Gesellschaft verbindlich und erzwingbar orientieren soll. Heideggers Metaphysikkritik bringt dem Versuch einer historischen Ortsbestimmung der Gegenwart ähnlich unerwartete und nützliche Hinweise wie Webers Vergleiche des heutigen kapitalistischen mit dem konfuzianischen und dem hinduistischen Kosmos. Weber kann uns wider Willen zeigen, daß heute weder die Klage über die verlorene religiöse Idee des Monotheismus an der Zeit ist noch eine Wiederkehr des konfuzianischen Charakters noch eine Auferstehung der vielen Götter, sondern die Orientierung an der politischen Idee der gleichen Freiheit, die jedem das gleiche Recht sichert, sein Leben in freier Wahl und nicht nur unter der Bedingung der Profitabilität unter den Wertsphären zu bestimmen. Heidegger kann uns wider Willen zeigen, daß die politische Philosophie der gleichen Freiheit, die seit vier Jahrhunderten unser Leben wesentlich mitbestimmt hat, eine Vorgeschichte in der Metaphysik 584 Auch Philosophen opferten der Idee der gleichen Freiheit; Locke ging für sie ins holländische, Voltaire und Rousseau ins Schweizer, Marx ins englische Exil. Auch im 20. Jahrhundert haben trotz des Schlafs der politischen Philosophie zwar keine berühmten politischen Philosophen für die gleiche Freiheit gelitten, aber bewundernswerte philosophische Köpfe, insbesondere unter den tschechischen Dissidenten wie Jan Patocka und Vaclav Havel, und darüber hinaus viele andere Dissidenten, die mir nur zufällig nicht als Philosophen bekannt sind. 585 Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, a.a.O., 98. Dem zweiten e in bewegenden hat Heidegger ein Trema aufgesetzt, um auf den Weg im Sinne des Tao zu weisen. Zu Heideggers Interesse an der ostasiatischen Anpassung ans Sein vgl. auch: Aus einem Gespräch von der Sprache, in: ebd., 85-155.

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hat, die soweit zurückreicht wie das Begründungsprinzip: nicht nur bis Piaton, wie Heidegger meinte, sondern bis zu den A n f ä n g e n der ionischen Naturphilosophie, die das Begründungsprinzip nicht weniger anerkannte als Piaton. Nicht erst die politischen Philosophen seit Hobbes, schon die Philosophen, die für jeden Verbindlichkeitsanspruch eine Begründung verlangten, sind die Wegbereiter einer Epoche, die weder der monotheistischen Idee der Weltunterwerfung folgt noch der konfuzianischen der Weltanpassung noch der brahmanischen der Karmanlehre, sondern der politischen Idee der gleichen Freiheit. Heidegger hat erkannt, daß die Metaphysik eine Stellungnahme zur Welt im selben Sinn ist, in dem Weber in den Weltreligionen Stellungnahmen zur Welt von höchster Allgemeinheit mit dennoch höchst folgenreichen Konsequenzen erkennt. Er hat erkannt, daß die Metaphysik, obgleich Theorie, untrennbar ist von einer Praxis der Vergewisserung und Absicherung der jeden betreffenden Entscheidungen, die sich weder mit dem Gewohnten und Tradierten noch mit G r ü n d e n zufrieden gibt, die Individuen unmittelbar einleuchten: daß sie vielmehr f ü r Entscheidungen, die alle angehen, Gründe oder Rechtfertigungen verlangt, die vor jedem ausweisbar sind und jedem auch noch nach ihrer öffentlichen Diskussion und Kritik einleuchten. Er hat allerdings nicht klar genug verstanden, daß die Metaphysik in einer Vergewisserung der G r u n d l a g e n des Handelns im Urteil der Einzelnen besteht und zugleich in ihrer Übereinstimmung nach Austausch ihrer Urteile und daher mit der Geburt zweier normativer Instanzen zusammengeht, die einander oft widerstreiten und doch aufeinander angewiesen sind und ergänzen: des Gewissens des einzelnen und der öffentlichen Kritik. Er hat auch nicht klar genug hervorgehoben, daß die Metaphysik von Anfang an die notwendig vor ihr nur tradierten und noch nicht ausgewiesenen Prinzipien des sozialen Lebens g e f ä h r d e n mußte, weil sie an die Stelle des Vertrauens in G e w o h n h e i t und Überlieferung Kritik, Argument und Begründung setzte. Er hat, ebenso wie viele zeitgenössische Kritiker, aber auch wohlmeinende Verteidiger der Metaphysik, nicht erkannt, daß sie von Anfang an und bis heute eine Stellungnahme zur Welt ist, die die Politik als Wertsphäre der Gerechtigkeit zur leitenden Idee macht, welche die imperialistische Intoleranz einer bestimmten Sphäre wie der Ö k o n o m i e (oder auch der Religion) verhindern m u ß . Er hat ebenso verkannt, daß die Metaphysik die einzige Stellungnahme ist, die für sich Gründe anführen will und kann. 586 586 Mit Heideggers Metaphysik-Verwerfung vergleichbar und in den angelsächsischen Ländern einflußreicher ist die von Wittgenstein. Ein drastisches Beispiel dafür liefert Anne MacLean, The Elimination of Morality, London/New York, 1993. Sie beruft sich zu Recht auf Wittgenstein für ihre These, man brauche für die sorgende Einstellung zu Säuglingen keine Begründung: „... our valuing their lives - like our 'belief in other minds' - is a matter of what w e do, as of course and without question" (36). Auch wenn man für diese Einstellung in der Praxis keine Rechtfertigung braucht, muß man nach der metaphysischen Einstellung dafür einen Grund geben können. Andernfalls kann man jedes intuitiv einleuchtende oder altgewohnte Verhalten der Kritik entziehen und als ein Recht behaupten. Das tut auch MacLean, wenn sie v o m Recht von Eltern, über die Organentnahme eines toten Kindes zu entscheiden, behauptet: „... they have the right simply because they are his parents, and for no other reasons" (44). Vermutlich haben aber auch nach MacLean allgemeiner die nächsten Angehörigen das behauptete Recht, „nur weil sie die nächsten Angehörigen sind". Haben dann Eltem das Recht, weil sie die nächsten Angehörigen oder „einfach weil sie die Eltern sind und aus sonst keinem Grund"? Tatsächlich führt MacLean für ihre Kritik an utilitaristischen Bioethikern oft sehr gute Gründe an; sie hält nur aus ideologischen Gründen die Gründe fordernde Einstellung für einen Mangel der „Bioethiker" und der Utilitaristen. Daran ist richtig, daß die Utilitaristen das Fragen nach Gründen im Unterschied zu andern Theoretikern nicht

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Diesen Zusammenhang zwischen Metaphysik, Begründung, Politik und Zersetzung der Tradition erkannten dagegen in aller Klarheit Kant587 und Hegel. Dessen Urteil wird deutlich in seiner Beschreibung der griechischen Antike: Die „griechische Sittlichkeit, so höchst schön, liebenswürdig und interessant sie ist in ihrer Erscheinung, ist dennoch nicht der höchste Standpunkt des geistigen Selbstbewußtseins; es fehlt ihr die unendliche Form, eben jene Reflexion des Denkens in sich,... es fehlt.., daß, was mir als Recht und Sittlichkeit gelten soll, sich in mir, aus dem Zeugnis meines Geistes bestätige." 588 Werden die Menschen einmal ihrer Fähigkeit bewußt, für ihr Handeln Gründe anzugeben und sie vor sich und voreinander auszuweisen, so finden sie in dieser Fähigkeit selbst das Prinzip, vor dem alle Gründe bestehen müssen. Dann muß auch jeder in und wegen dieser Fähigkeit respektiert werden, aber das ist unvereinbar mit jeder Sittlichkeit, die auf Vertrauen in die Überlieferung gründet. Im Beginn des „geistigen Selbstbewußtseins", der Selbsterkenntnis, nach Gründen urteilen zu können, als die er die Metaphysik erkennt, sieht Hegel deshalb „den Anfang des Verderbens" der griechischen Welt 589 : „Das Denken erscheint... hier als das Prinzip des Verderbens, und zwar des Verderbens der substantiellen" - d.h. der tradierten und die Gesellschaft in der alten Form erhaltenden - „Sittlichkeit... Sobald ... der Gedanke aufsteht, untersucht er die Verfassungen: er bringt heraus, was das Bessere sei, und verlangt, daß das, was er dafür anerkennt, an die Stelle des Vorhandenen trete." 590 „Das Prinzip des Sokrates", nämlich für alle Allgemeinverbindlichkeitsansprüche Gründe zu fordern, „erweist sich" daher nach Hegel „als revolutionär gegen den athenischen Staat", und dieser hat „die hohe Gerechtigkeit,... seinen absoluten Feind" zu verurteilen." 591 Aber dessen Prinzip ist für Hegel das dem Menschen angemessene, weil der Mensch die Fähigkeit hat, für Allgemeinverbindlichkeitsansprüche Gründe zu fordern und auch zu geben. Historischen Fortschritt kann es für Hegel nur soweit geben, wie sich das Prinzip des Sokrates, das zugleich das der Metaphysik und der Freiheit ist, durchsetzt. Daher ist nicht erst die Neuzeit, sondern schon Rom für Hegel ein Fortschritt gegen Athen. Trotz all seiner sonstigen Beschränktheit schuf es die erste Institution, die dem Prinzip des Sokrates und mit ihm zugleich der Metaphysik und der Politik angemessen ist: „Dem unfreien, geist- und gemütlosen Verstand der römischen Welt haben wir", wie Hegel mit seiner Lust an Paradoxien hervorhebt, „den Ursprung und die Ausbildung des positiven Rechts zu verdanken", ein „großes Geschenk", weil es die „große Trennung vollbracht" hat, zwischen dem zu unterscheiden, was als „Gesinnung" und Moralität gefordert, aber nicht erzwungen werden darf, und dem allein legitim erzwingbaren „Äußerlichen". 592 aufgegeben haben, aber natürlich stimmen sie darin mit allen anderen Metaphysikern überein (viele Utilitaristen halten sich allerdings für metaphysikfrei; in diesem Punkt sieht MacLean klarer). 587 Wie Sätze, so die folgende Anmerkung aus der Vorrede zur ersten Auflage von: Zur Kritik der reinen Vernunft, A XI, zeigen: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unterstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." 588 589 590 591 592

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., 323. Ebd. Ebd., 326f. Ebd., 329f. Ebd., 351.

Wohin das Unverständnis für die Gerechtigkeit führt

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Das positive Recht ist dem Begründungsprinzip angemessen, weil es für Urteile, deren Allgemeinverbindlichkeit sich in ihrer Erzwingbarkeit zeigt, Begründungen fordert, die jeder anerkennen kann. Es unterscheidet zwischen der „Gesinnung", die nicht erzwingbar ist, und dem erzwingbaren „Äußerlichen", und das ist etwas „Großes", weil es die Grenze zieht zwischen dem, wofür man Gründe anführen kann und muß, und dem, wofür man es nicht kann oder nicht muß oder nicht darf. Das ist die Unterscheidung zwischen dem Feld, auf dem die Metaphysik zu herrschen, und dem, auf dem sie nichts zu suchen hat. Heidegger hat recht, die Annahme zu verwerfen, alles lasse sich begründen, aber er übersieht, daß die Begründungsforderung der Metaphysik nicht alles, sondern Allgemeinverbindlichkeitsansprüche betrifft. Heidegger hat auch in einem weiteren wichtigen Punkt recht, den wir bei ihm als vorausgesetzt annehmen können, nämlich daß die meisten Verbindlichkeitsansprüche nicht vollständig, hinreichend oder mit unwiderlegbarer, unfehlbarer Gewißheit begründet werden können. Sie lassen sich vielmehr nur fehl- und revidierbar und gewöhnlich auch nur durch Widerlegung eines konkurrierenden Anspruchs, nicht aber positiv begründen. Heidegger versteht (vermutlich) das Begründungsprinzip, durch das er die Metaphysik bestimmt sieht, als das Prinzip der zureichenden Begründung, nach dem die Gründe zureichen, den zu begründenden Anspruch mit absoluter Sicherheit als berechtigt auszuweisen. Tatsächlich aber ist es nur ein Prinzip der kritischen Begründung, das verlangt, unter konkurrierenden Ansprüchen den anzuerkennen, der der Kritik am besten standgehalten hat.593 Heideggers Verwerfung des Begründungsprinzips könnte die typische Reaktion des enttäuschten Liebhabers sein, der vom Gegenstand seiner Liebe, hier der Begründung, zu viel verlangt hat. Begründungen (wenn wir von logischen und mathematischen Beweisen und Nachweisen der Widersprüchlichkeit der Negation einer Theorie einmal absehen) bestehen nicht darin, das Begründete als unerschütterlich zu sichern, sondern nur als akzeptabel, als den Geltungsanspruch, den man unter Revisions- und Fehlbarkeitsvorbehalt als den vernünftigsten oder eben best-, aber nicht absolut begründeten Anspruch ausweisen kann. Was man für absolute Begründungen halten könnte, sind entweder Definitionen, die erläutern, was unter einem Begriff - wie Wissenschaft, Erfahrung, Moral - zu verstehen ist, oder aber Äußerungen von Eindrücken oder Intuitionen, die für sich genommen keine Verbindlichkeit beanspruchen können. Wer nur absolute Begründungen als Begründungen anerkennen will, muß das Begründungsprinzip verwerfen, denn was begründet werden kann, läßt sich nicht absolut begründen. Was immer die Gründe von Heideggers Verwerfung des Begründungsprinzips und der Metaphysik, sie hat einen Irrationalismus begünstigt, der heute von „poststrukturalistischen" und „postmodernen" Autoren vertreten wird. Diese sind vermutlich nicht nur von Heidegger 593 Bartley, Popper und andere gebrauchen Begründung (justification) in der engeren Bedeutung, in der Kritik und Argument nicht als Begründung gelten, sondern nur die positive unfehlbare oder Letztbegründung. Vgl. Bartley in: Radnitzky/Bartley (Hg.), Evolutionary Epistemology, a.a.O., 2 0 5 f f . Ich gebrauche das Wort im weiteren Sinn. Die Beschränkung auf die engere Bedeutung erweckt den falschen Eindruck, als sei eine durch rationale Kritik a u s g e w i e s e n e Theorie oder Norm nicht gut begründet. Auch in der Philosophiegeschichte galt nicht nur die Begründung im engeren Sinn als Begründung; der modus tollens, der nur die Widerlegung von N o n - Α ist, galt den meisten Philosophen als akzeptable Begründung von A. Popper spricht zudem auch von objektiven Gründen dafür, daß eine „neue Theorie eine bessere Annäherung an die Wahrheit ist als die alte": Objektive Erkenntnis, a.a.O., 96.

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und seinen Gründen, sondern auch von einem Problem beeinflußt, das die Wissenschaftstheoretiker vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte: ob es ein Induktionsprinzip gibt, das von einer endlichen Zahl von Beobachtungen auf ein Gesetz oder eine A/Zaussage zu schließen berechtigt. Die Frage muß aus logischen Gründen verneint werden: eine endliche Zahl von Beobachtungen kann keine Aussage rechtfertigen, die für eine potentiell unendliche Zahl von Fällen gelten soll. Diese Antwort scheint der empirischen Wissenschaft die Rechtfertigungsgrundlage zu entziehen: ihre Beobachtungen können nie die Wahrheit einer Theorie begründen. Aber der Schein trügt, wie Popper durch die einfache Erinnerung daran gezeigt hat, daß Beobachtungen oder Einzelaussagen empirische Theorien zwar in der Tat nie endgültig als wahr erweisen können, wohl aber (wenn sie aus der Theorie abgeleitete Voraussagen widerlegen) als falsch594. Beobachtungen können daher Gründe für die allgemeinverbindliche Verwerfung von Theorien und für die Akzeptabilität solcher Theorien sein, die ihren Widerlegungsversuchen am besten standgehalten haben. Poppers Falsifikationismus rehabilitierte das Begründungsprinzip und mit ihm die Metaphysik durch ihre Abmagerung auf das Prinzip der rationalen Kritik und seine Anwendung auf Probleme aller Art. Er zwingt allerdings dazu, auch die gesichertsten oder akzeptabelsten wissenschaftlichen Theorien gegen die Annahmen Kants, Hegels und vieler anderer Philosophen nur als Vermutungen anzuerkennen. Dieser Preis ist jedoch eher eine Befreiung als eine Belastung, weil er erlaubt, auch normative Theorien demselben falsifikationistischen Begründungsverfahren zu unterwerfen wie empirische Theorien, wie ich es in dieser Arbeit für die normative politische Philosophie versucht habe. Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen Weber und Heidegger haben einen Vergleich ihrer Geschichtsauffassung mit der Hegels nahegelegt. Dabei wird nochmals deutlich, wie sehr Weber und Heidegger durch das zu ihrer Zeit vorherrschende Unverständnis dessen geprägt sind, was überhaupt Normen und Ideen der Gerechtigkeit (und mit ihnen der Politik) sind. Weber und Heidegger vollziehen erstens nicht das, was Hegel als „großes Geschenk" und die „große Trennung" der Römer preist. Sie unterscheiden wie so viele andere (auch Marx) nicht zwischen den zwei Sphären der Moral, die durch die Grenze der legitimen Erzwingbarkeit geschieden sind: der Sphäre der Gerechtigkeit und welcher der Wohltätigkeit. Die Regeln und Normen der Wohltätigkeit sind nicht immer und nicht notwendig begründungsbedürftig; wir sind hier oft frei, ja sogar gefordert, unserer Willkür oder der Regung unseres Herzens zu folgen. Zweitens verkennen sie die Eigenart der Moral insgesamt und der Sphäre der Gerechtigkeit im besonderen. Sie reduzieren ihre Ansprüche auf solche der Produktion, der Religion oder der Metaphysik (oder des Begründungsprinzips). Sie sehen nicht, daß die Moral, um mit Weber zu reden, ihre eigene Quelle und Gesetzlichkeit hat. Ihre Quelle ist (um noch einmal an frühere Ausführungen zu erinnern) unsere Einsicht in die Besonderheit unsrer menschlichen Natur: daß wir nach Gründen (metaphysisch, um mit Heidegger zu reden) entscheiden können; daß wir als Gründe nur anerkennen können, was jeder von uns selbst als Grund anerkennen kann; daß wir nach Gründen entscheiden wollen, die wir selbst als Gründe anerkennen; daß wir erkennen, daß der andere wie wir selbst nach seinen Gründen über sich und sein Leben entscheiden will: daß wir diese Erkenntnis in unsere Handlungsgründe als das Prinzip einreihen, jeden in seinen Entscheidungsgründen zu achten. 594 Vgl. etwa Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 19f.

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Dies Achtungsgebot muß in zwei Formen verstanden werden: als die des Gebots, jedem Bedürftigen zu helfen, weil es die menschliche Natur wert ist, und als die des Verbots, jemanden in seinem Willen zu verletzen. Nur das zweite Prinzip ist erzwingbar, weil nur seine Erzwingung nicht die Freiheit des Menschen verletzt, seinen eigenen Entscheidungen zu folgen. Dies Prinzip durchzusetzen ist die absolute Aufgabe der Politik. Seine Grundlage ist nicht die Religion oder eine andere Sphäre außerhalb der Moral, sondern das normative Urteil, daß die menschliche Natur uns berechtigt und verpflichtet, uns selbst wie jedem andern Menschen die Freiheit zu sichern, über sich zu verfügen. Liberalismus und Perfektionismus Wir haben gesehen, daß Weber keine überzeugenden Gründe für seine These der Unentrinnbarkeit der Herrschaft der ökonomischen Idee anführen kann. Aber er könnte die politische Philosophie der gleichen Freiheit auch statt über seine Unentrinnbarkeitsthese direkt angreifen. Die Idee der gleichen Freiheit, so könnte er sagen, kann nie das Gehäuse der kapitalistischen Welt sprengen, ob sie nun als liberale Gleichheit oder sonstwie gedeutet wird. Alle liberalen politischen Ideen seien zum Scheitern verurteilt: sie können nicht garantieren, daß die von ihnen geforderte Freiheit zumindest von einer hinlänglich großen Zahl von Bürgern dazu gebraucht wird, ihr Leben so zu führen, daß es mehr wird als eine Serie von Vorgängen. Ohne Eigengewicht bleiben sie Spielbälle des gegebenen sozialen Systems. Unter jedem Liberalismus, so könnte er erläutern, garantiert zwar der Staat jedem die Freiheit zu tun, was nicht die Rechte eines andern verletzt. Aber eben deshalb folgen die Individuen ihren zufälligen privaten Idealen und kann kein Ideal genug Befolgung finden, um eine grundsätzliche Änderung gegebener Verhältnisse herbeizuführen. Das gelte gerade auch für das Ideal der gleichen Freiheit in allen seinen Deutungen. Diese können zwar wegen der Freiheit, die sie jedem versprechen, allgemeine Zustimmung finden. Aber sie können nichts Wesentliches an der gegebenen sozialen Ordnung ändern, weil sie die Individuen zu nichts verpflichten außer zur Respektierung des Rechts. Um zu verhindern, daß die Entwicklung der Gesellschaft nicht von zufälligen Umständen oder sachimmanenten Tendenzen bestimmt wird, etwa von der zunehmenden Arbeitslosigkeit, sei ein positives Ideal nötig, das genügend Bürger auch ohne den Zwang des Rechts dazu motivieren kann, ihre Freiheit nicht beliebig, sondern bewußt zur Erhaltung der gleichen Freiheit zu gebrauchen und solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Ein liberaler Staat könne daher auch nicht die Freiheit schaffen, die heute notwendig sei: die Unabhängigkeit von der ökonomischen Idee.595 Gegen diese These spricht nicht, daß unter der Idee der gleichen Freiheit wirksame Einschränkungen der Rechte der oberen Klassen durchgesetzt wurden. Denn ihre Rechte waren Privilegien, die die natürliche Freiheit verletzten, und die sichert jeder Liberalismus, wie heute am Libertarismus sichtbar. Man muß der Weberschen Kritik darin recht geben, daß eine positive Idee notwendig ist, um naturwüchsigen Tendenzen einer Gesellschaft entgegenzuwirken, wie sie heute der Ausschluß der Arbeitslosen darstellt. Aber sie irrt in der Annahme, 595 Diese hier Weber nur zum Zweck der Argumentation unterstellte Kritik tragen heute die amerikanischen Kommunitaristen vor. So sieht Michael Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus, Frankfurt/M.-NewYork 1993, 18ff, „das liberale Selbst dazu verurteilt, zwischen Losgelöstheit einerseits und Verwicklung andererseits hin und her zu taumeln" (30).

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die Idee der gleichen Freiheit habe nicht den geforderten positiven Charakter. Die gleiche Freiheit orientiert das politische Handeln an einem positiven Ideal: dem der Entfaltung der Anlagen aller oder der Ausschöpfung des inneren und äußeren Reichtums der menschlichen und der übrigen Natur. An diesem Ideal orientieren nicht nur Kant und Hegel 596 ihren Fortschrittsbegriff und Leibniz seinen Vollkommenheitsbegriff, nach ihm richtet sich auch Weber, wenn er eine Kultur als stahlhartes Gehäuse beschreibt: sie ist es genau dann, wenn sie das Potential von Mensch und Natur verkümmern läßt und keinen Ausweg aus der Stagnation bietet. Schon die erste liberale Autorität Locke folgt diesem positiven Ideal. Wenn er sagt: „God gave the World ... to the use of the Industrious and Rational" 597 , und versichert: „Nothing was made by God for Man to spoil or destroy" 598 , so folgt er wie nach ihm Leibniz und Kant dem Ideal, daß alle konstruktiven Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten. Gewiß ist die Idee der gleichen Freiheit logisch konsistent mit der Verwerfung des positiven Ideals der Entwicklung der Anlagen aller. Die Forderung, daß jeder gleichen Spielraum für die Betätigung und Entwicklung seiner Anlagen haben sollte, könnte zusammengehen mit Indifferenz darin, ob jemand seine Anlagen wirklich betätigt. Aber die Idee der gleichen Freiheit wurde nie so verstanden. Sie wurde immer mit einer positiven Wertschätzung der Betätigung der Anlagen verbunden; ohne sie fehlt ihr der Sinn. Deswegen kann der Liberalismus gegen die Macht des ökonomischen Interesses die positive Idee der Entwicklung der Anlagen aller anführen. Diese Idee erweist sich als handlungsleitend, sobald man erkennt, daß zur gleichen Freiheit der gleiche Zugang zu den natürlichen und gemischten Ressourcen gehört. Diese Bedingung zwingt den Staat, gerade wenn er sich auf die Aufgabe beschränkt, Gerechtigkeit durchzusetzen, zu Entscheidungen darüber, nach welchem Maßstab der Gebrauch dieser Ressourcen oder das allgemeine Interesse, dem er dienen soll, positiv zu bestimmen ist. Einen solchen Maßstab braucht er, wenn er entscheiden muß, welche Anteile der ihm verfügbaren Ressourcen welchen Bereichen zukommen sollen: der Gesundheit, der Erziehung, der Sicherheit, einem Sozialdienst, und welche Anteile wiederum innerhalb dieser Bereiche auf die verschiedenen Ressorts entfallen sollen. Der Maßstab darf kein materiales Ziel sein, in dem die Bürger auseinandergehen könnten; daher neigen liberale Theoretiker zur These, der Staat müsse gegen die konkurrierenden Interessen neutral sein und die beschriebenen Allokationsprobleme demokratisch, durch die Mehrheit, entscheiden lassen. Diese Auffassung hat, wie wir sahen, Dworkin zum Prinzip erhoben. Er stützt sich auf eine vermeintlich „extremely appealing assumption", nämlich das Prinzip: „that a just distribution is one that well-informed people create for themselves by individual choices, provided that 596 Hegel, Enzyklopädie, § 552, Anm., in: Werke, Bd. 10, a.a.O., 360, bemerkt: „Grundsätze der rechtlichen Freiheit können nur abstrakt und oberflächlich und daraus hergeleitete Staatsinstitutionen müssen für sich unhaltbar sein", wenn sie nicht „ihre letzte und höchste Bewährung in dem religiösen Gewissen, in der Subsumtion unter das Bewußtsein der absoluten Wahrheit haben". Daraus läßt sich ableiten, daß auch liberale Grundsätze der rechtlichen Freiheit mit dem Bewußtsein der absoluten Wahrheit verbunden sein müssen. Ist ein solches Bewußtsein vereinbar mit dem liberalen Prinzip, daß alle Grundsätze fehlbar sind? Durchaus, wenn man die Fehlbarkeit als Verbesserbarkeit versteht, die auch dem liberalen Staat ein positives Ziel setzt. Dies ist nicht vereinbar mit allen Religionen. 597 Two Treatises II, a.a.O., § 34. 598 Ebd., § 3 1 .

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the economic system and the distribution of wealth in the community in which these choices are made are themselves just." 599 A m y Gutmann nennt dies Prinzip das der demokratischen Legitimierung. Sie kritisiert es aus demselben Grund, aus dem ich es für unzureichend befunden habe: es kann nicht verhindern, daß ein demokratischer Konsens f ü r Sozialgüter wie Erziehung weniger Ressourcen vorsieht, als den Betroffenen nach ihrem Recht auf Erziehung zusteht. Sie ergänzt es deshalb durch ein Prinzip des demokratischen Mindestmaßes. Dies Prinzip verbietet eine Ressourcenzuteilung unterhalb des Standards, der zur Sicherung der Fähigkeit notwendig ist, an der Kultur und Politik der eigenen Gesellschaft teilzunehmen. Es „establishes a realm of what one might call nondiscretionary d e m o c r a t i c authority": es entzieht die B e s t i m m u n g der M i n desthöhe der für Sozialgüter notwendigen Ressourcen der Pflicht, demokratisch bestimmt zu werden. Gutmann schließt nicht aus, die Mindesthöhe dennoch durch demokratische Prozesse zu bestimmen, etwa wenn sich das als der „most effective way to determine the threshold" erweisen sollte. Aber ein solcher W e g wäre nur einer unter anderen möglichen. 6 0 0 Nach der liberalen Gleichheit m u ß jeder eine Ausbildung erhalten, die ihn befähigt, in seiner Gesellschaft überhaupt Fuß zu fassen und Gelegenheit zu haben, wenigstens einige der A n l a g e n zu betätigen, deren Betätigung ihm am nächsten liegt. Wieviel Ressourcen eine Gesellschaft genau zur Sicherung der Ausbildung eines jeden ausgeben muß, läßt sich zwar nicht philosophisch, wohl aber unabhängig von einer direkten demokratischen Mehrheitsentscheidung festlegen, etwa von einem Gericht, das den Inhalt des Rechts auf eine elementare E r z i e h u n g zu konkretisieren hätte, von einem vom Parlament eingesetzten Sachverständigenausschuß oder von einer eigens zur Festlegung des demokratischen Mindestmaßes g e s c h a f f e n e n parlament- und regierungsunabhängigen Institution. Philosophisch läßt sich i m m e r h i n sagen, daß die Erziehung nicht beliebige Fähigkeiten und nicht in beliebiger R a n g f o l g e vermitteln sollte, sondern zuerst solche, die j e d e m die Fähigkeit zu politischer M i t b e s t i m m u n g sichern; denn ohne diese Fähigkeit bleibt der Mensch von allen Entscheidungen ausgeschlossen, die ihn selbst betreffen und den Rahmen seiner Selbstbestimmung bilden; sodann die Fähigkeit zur Teilnahme am Produktionsprozeß, in dem er sich die materiellen Bedingungen seiner Existenz verschaffen kann. Kann die Erziehung j e d e m diese beiden Fähigkeiten sichern, so erfüllt sie das Mindestmaß dessen, was man von der Erziehung verlangen muß. Ersetzt m a n Dworkins Prinzip der demokratischen Legitimierung durch das Prinzip des demokratischen Mindestmaßes, so verstößt man gegen das Neutralitätsprinzip des Staats. Der Staat hört auf, als unparteiischer Schiedsrichter in den Interessenkollisionen der Gesellschaft die Stimmen zu zählen, die Interessenkoalitionen aufbieten können, und der Mehrheit zu folgen. Er maßt sich an, die Qualität der Stimmen zu beurteilen und fehlende Stimmen als Mangel an demokratischer Legitimation zu verstehen. Er geht dazu über, die Bedingungen demokratischer Legitimation zu sichern. Dazu folgt er einerseits nur der Idee der demokratischen Legitimation, m u ß diese aber als eine Verpflichtung verstehen, dafür zu sorgen, daß niemand an seiner politischen Betätigung gehindert wird. Er folgt daher d e m Ideal, daß j e d e r politisch aktiv sein kann. Er darf anderseits niemanden zu politischer Tätigkeit zwingen. Daher kann er 5 9 9 Dworkin, Will Clinton's Plan Be Fair?, in: N e w York Review of Books, 13.1.94, 23. 6 0 0 Α. Gutmann, Distributing Public Education in a Democracy, a.a.O., 115. Gutmann nennt das demo-

kratische Legitimierungsprinzip democratic authorization principle und das des demokratischen Mindestmaßes democratic threshold principle.

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nur dafür sorgen, daß jeder seine Anlagen überhaupt soweit entfaltet, daß er sich bewußt gegen eine politische Tätigkeit entscheiden kann. Deshalb muß der Staat dem Ideal der Betätigung der Anlagen aller folgen. Das demokratische Mindestmaß wird durch die Erkenntnis gerechtfertigt, daß ohne hinreichende Erziehung niemand an den gemeinsamen Entscheidungen der öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen kann, die die gleiche Freiheit verlangt. Die Idee der Entwicklung der Anlagen aller kann daher einer Ressourcenallokation nur deshalb nicht notwendig zustimmungsbedürftige Ziele setzen, weil sie verlangt, daß jeder an allen öffentlichen Entscheidungen, denen der Ressourcenallokation eingeschlossen, teilnehmen kann. Die Institutionen, die das Mindestmaß zustimmungsunabhängig festlegen können, müssen daher der demokratischen Idee dienen. Um das zu sichern und sie dennoch von kontingenten Mehrheitsentscheidungen unabhängig zu machen, läßt sich eine Kontrolle durch eine qualifizierte Mehrheit denken. Läßt sich auch für andere Bereiche als den der Erziehung ein Mindestmaß von Ausgaben festlegen? Das ist nur dann möglich, aber auch immer dann nötig, wenn ohne die Ausgaben die demokratische Grundlage der politischen Entscheidungen des Staats gefährdet ist. Sie wird tatsächlich nicht nur durch eine unzureichende Erziehung gefährdet, sondern auch durch unfreiwillige Massenarbeitslosigkeit. Zum Kontrollbereich des Staats sind nicht nur die Entscheidungen der politischen Gremien zu rechnen, sondern auch die der Wirtschaftsbetriebe, soweit sie über die gemischten und natürlichen Ressourcen einer Gesellschaft entscheiden. Arbeitslosigkeit schließt vom gesellschaftlichen System der Arbeit aus, die immer auch Beund Verarbeitung natürlicher und gemischter Ressourcen ist. Über deren Gebrauch können und dürfen nie allein politische Gremien entscheiden, denn wie sie am besten zu gebrauchen sind, kann sich nur in konkreten Projekten denen zeigen, die an ihnen aktiv teilnehmen. Wenn aber ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu den konkreten Projekten hat, in denen über die gemischten und natürlichen Ressourcen eines Landes entschieden wird, dann fehlt der Verwendung des Gemeineigentums die demokratische Grundlage, denn dann wird über sie nicht in gleicher Freiheit entschieden. Deshalb muß das Prinzip des demokratischen Mindestmaßes auch auf den Bereich der Arbeit angewendet werden. Hier muß es eine ausreichende Summe für einen Sozialdienst festlegen, der jedem Arbeitswilligen eine angemessene Tätigkeit sichert. Folgt der Staat in dieser Weise der Idee der Entwicklung der Anlagen aller, so verbindet er den Liberalismus mit einer Auffassung, die traditionell als sein Gegensatz verstanden wird, nämlich dem Perfektionismus. Eine solche Orientierung wird gewöhnlich Perfektionismus genannt und dem Liberalismus entgegengesetzt. Tatsächlich gehören sie zusammen. Das verlangt schon das Verständnis der Kultur. Wir haben gesehen 601 , daß jeder ein Recht auf Zugang zur Kultur seiner Gesellschaft hat, weil Kultur das kollektive Eigentum einer Gesellschaft ist. Die Kultur ist die Form, in der die ursprünglich vorgefundene unbearbeitete menschliche Natur der jeweils folgenden Generation gleichwertig weitergereicht wird; denn die menschliche Natur muß bearbeitet oder kultiviert werden, um gleichwertig erhalten zu bleiben. Zur Kultivierung der menschlichen Natur gehört auch, daß jeder die verschiedenen menschlichen Handlungsbereiche oder (wie Weber sie nennt) Wertsphären - Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etwa - soweit kennen lernt, daß er unter ihnen wählen kann. Das ist

601 Im Abschnitt über die liberale Gleichheit.

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nur möglich, wenn der Staat in seiner Erziehungsaufgabe dem positiven Ideal eines Zustands folgt, in dem jeder seine Anlagen betätigen kann. Kein Sozialstaat ist ohne eine positive Idee möglich, an der sich die konkreten Entscheidungen über die Menge und die Verteilung der Ressourcen für die positiven Aufgaben ausrichten können. Faktisch folgen die bestehenden Sozialstaaten solchen positiven Ideen; sie werden jedoch nicht eingestanden, bleiben unartikuliert und ungeklärt und dürften oft genug inkonsistent sein. Zudem besteht vermutlich einer der Gründe für das Aufkommen totalitärer Staaten im 20. Jahrhundert in der gefühlten, aber von liberalen Theorien und Parteien verleugneten Einsicht, daß moderne Staaten wegen der Unvermeidlichkeit ihnen zufallender positiver Aufgaben ein öffentlich anerkanntes, daher auch diskutiertes und kritisier- und revidierbares positives Ideal brauchen, an dem sich die Ressourcenverteilung ausrichten kann. Totalitäre Bewegungen bieten modernen Gesellschaften mit liberalen Verfassungen positive Ideale. Sie können mit illiberalen Ideen eine Lücke füllen, die der Liberalismus zu Unrecht nicht als Lücke anerkennen will. 602 Natürlich darf nach der Idee der gleichen Freiheit kein Volljähriger dazu gezwungen werden, seine Anlagen zu entwickeln. Aber Kinder und Jugendliche werden auch heute zum Schulbesuch und zu anderen Arten ihrer Bildung gezwungen, und das ist nicht etwa ein Verstoß gegen den Liberalismus, sondern gehört zu seinem Wesen. Daß der liberale Staat nur den Zweck hat, das Ideal der Entwicklung der Anlagen aller zu verwirklichen, daß er dabei das Recht als Mittel gebraucht und daß in dieser Tätigkeit die eigentliche Vernunfttätigkeit besteht, das hat unter den liberalen Philosophen gerade der Kritiker unhaltbarer Vernunftansprüche behauptet, nämlich Immanuel Kant. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht versteht er die Vernunft nicht einfach als ein Handlungs- oder gar als ein Erkenntnisvermögen, sondern spezifischer als das Vermögen eines Lebewesens, alle seine Anlagen zu entwickeln, und zwar grenzenlos: „Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinktmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten." Daher, so Kant, „sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln." 603 Die Entwicklung der Anlagen aller ist nach Kant nicht nur eine, sondern die eigentliche Tätigkeit der Vernunft. Die Vernunft versteht Kant hier als ein Vermögen zweiter Ordnung: als das Vermögen, die Vermögen erster Ordnung, mit denen man geboren wird, wie das zu gehen, zu essen, zu sprechen, über den gegebenen Gebrauch hinaus zu erweitern, zwar nicht ohne dabei zu versagen, so daß sie „Versuche, Übung und Unterricht" bedarf, aber ohne an Grenzen zu stoßen. Was hat ein solches Vermögen der Entwicklung aller Anlagen über alle Grenzen hinaus mit der Vernunft zu tun, als deren Kritiker Kant berühmt ist?

6 0 2 Das Versagen des historischen Liberalismus in der Anerkennung eigener positiver Werte hat ihm zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland Intellektuelle entfremdet und sie zu Thesen geführt, welche die Zustimmung zu totalitären Ideologien begünstigten. Ein Beispiel ist Max Scheler, den der Mangel an positiven Zielen im Liberalismus zur - vorübergehenden - Kritik am „Demokratismus" führte. Vgl.: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: Ges. Werke, bd. 3, Bern 1955, 3 5 - 1 4 7 , bes. 139-147, und: Die Zukunft des Kapitalismus, in: ebd., 386f. 603 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, a.a.O., Zweiter Satz.

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Auch in der Kritik der reinen Vernunft ist die Vernunft ein Vermögen zweiter Ordnung, weil sie „niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgend einen Gegenstand (geht), sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag." 6 0 4 Das Besondere dieser Vernunfteinheit ist, daß sie „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte" fordert. 605 Das Unbedingte ist eine „absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe", ihm kann „kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden". 606 Die theoretische Vernunft ist ein Vermögen zweiter Ordnung, weil es das theoretische Vermögen erster Ordnung, den Verstand, über die Grenzen seines Gebrauchs auf eine Einheit erweitert, die nicht wie die Gegenstände des Verstandes in den Sinnen gegeben oder erfahren werden kann, aber dem Verstand das Ziel einer möglichst vollständigen, wenn auch nie erreichbaren Erkenntnis der Welt setzt, sogar das Ziel einer Antwort auf die metaphysischen Fragen der „Freiheit des Willens, (der) Unsterblichkeit der Seele, und (des) Daseins Gottes". 607 Die Vernunft, die Kant in seiner Idee beschreibt, ist die praktische Vernunft. Er faßt auch sie als Vermögen zweiter Ordnung, weil sie das praktischen Vermögen erster Ordnung, das Begehrungsvermögen, über die Grenzen seines Gebrauchs erweitert. Daher behauptet Kant von der „reinen praktischen Vernunft" auch: „Was im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch." 608 Jeden Zweck, den man nur ohne Verletzung der Rechte der andern und der eigenen Würde verfolgen kann, auch zu verwirklichen, kann natürlich keine erzwingbare oder Rechtspflicht, sondern nur eine Tugendpflicht sein. Dennoch setzt Kants Prinzip der zu verwirklichenden nach der Vernunft möglichen Zwecke auch dem Staat ein Ziel. Denn der Staat muß jedem die Freiheit geben, jeden nach der Vernunft möglichen Zweck zu verwirklichen. Er muß die Bedingungen sichern, unter denen die Erweiterung des praktischen Vermögen erster Ordnung über die Grenzen seines ursprünglichen Gebrauchs zur Einheit der praktischen Vernunft harmoniert wird. Diese Einheit kann sowenig wie die Einheit der theoretischen Vernunft von einem Individuum erfahren werden. Aber dies Ziel hält Kant im Unterschied zum Ziel der theoretischen Vernunft für erreichbar. Es ist die „Entwicklung aller ihrer [der Menschheit] Anlagen", „die höchste Absicht der Natur". 609 Dies Ziel ist wie das der theoretischen Vernunft eine Totalität, aber zugleich ist es die Verewigung des Wegs, der zu ihm führt, nämlich der Erweiterung des Gebrauchs der Anlagen erster Ordnung über ihren jeweils gegebenen Gebrauch hinaus. Das Mittel zu diesem Ziel ist „die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft", die „die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne." 610 Unter der bürgerli-

604 605 606 607 608 609 610

Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Β 359, vgl. Β 383. Ebd., Β 364, vgl. Β 592. Ebd., Β 383. Ebd., Β 826. Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung IX;, a.a.O., 238. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, a.a.O., Fünfter Satz. Ebd.

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chen Gesellschaft versteht Kant (wie Locke unter der civil society) den Staat. Der Staat hat die Aufgabe, das Recht durchzusetzen und eben dadurch die grenzenlosen Erweiterung des Gebrauchs der Anlagen der Individuen zu sichern. Nicht der Rechts- und Weltstaat (oder Staatenbund) ist für Kant das Ziel der Geschichte, sondern die Entwicklung aller Anlagen; der Staat ist nur das Mittel zu diesem Ziel. Kant hat zwar spezifische, seiner Philosophie entspringende Gründe, die Entwicklung der Anlagen aller als Geschäft der Vernunft zu betrachten. Aber man muß nicht seine Philosophie teilen, um ihm in der Sache zuzustimmen. Um das Ziel der Entwicklung aller Anlagen zu erreichen, muß man sie einer Einheit unterwerfen, welche die Betätigung solcher Anlagen ausschließt, die die Entwicklung konstruktiver Anlagen behindert. Konstruktiv sind alle solche Anlagen, die sich zugleich betätigen lassen. Logisch sind nun zwei (oder mehr) verschiedene Klassen verträglicher Anlagen möglich, von denen einige Elemente mit einigen der anderen Klasse unverträglich sind. Welche dieser zwei Klassen wir als die richtige zu wählen hätten, sagt Kant nicht. Er hielt diese logische Möglichkeit für praktisch irrelevant. Denn er erkannte glückverfolgende Handlungsweisen grundsätzlich als konstruktiv an: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens" 6 ", und hielt die Glücksbestrebungen der einzelnen für harmonierbar. Destruktiv werden sie nur, wenn sie ohne Achtung der Freiheit des andern ausgeübt werden, sein Glück zu verfolgen, und ohne Achtung seiner Würde, die darin besteht, daß er seine Handlungen selbst wählen und diese Freiheit auch bei anderen respektieren kann. Die praktische Vernunft ist nach Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte nicht nur das Vermögen zu erkennen, ob eine Handlung mit unseren und anderer Handlungen ohne Preisgabe unserer Freiheit und Würde verträglich ist. Sie ist auch das Vermögen, den Gebrauch unserer Anlagen „weit über den Naturinstinkt zu erweitern". Sie verlangt nicht nur die Konsistenz unserer Handlungsmaximen, sie verlangt auch das Maximum an Verwirklichung unserer Handlungsmöglichkeiten; wie die theoretische Vernunft nicht nur die Widerspruchsfreiheit unserer Erkenntnisse, sondern ihre Erweiterung über alle Grenzen hinaus verlangt. Wie die Wissenschaft als Institutionalisierung der theoretischen Vernunft ihrer Aufgabe untreu wäre, wenn sie nur die Konsistenz und nicht ein Maximum an Kenntnissen verlangte, so der Staat als Institutionalisierung der praktischen Vernunft seiner Aufgabe, wenn er sie auf die Überwachung der Verträglichkeit, und das heißt Rechtlichkeit der Handlungen beschränkte und nicht im Rahmen des Rechts die Bedingungen sicherte, in denen jeder seine Möglichkeiten verwirklichen kann. Wie die institutionalisierte Wissenschaft immer ein bloßes Mittel zum Selbstzweck der grenzenlosen Erweiterung unserer Kenntnisse bleiben muß, so der Staat und das Recht ein Mittel zum Selbstzweck der grenzenlosen Erweiterung der Anlagen aller. Kants Bestimmung der Vernunft als das Vermögen eines Lebewesens zur grenzenlosen Erweiterung des Gebrauchs seiner Anlagen impliziert keine Ermächtigung an den Staat zu grenzenlosen und unkontrollierbaren Aufgaben. Sie bestätigt nur die vorangegangenen Überlegungen. Die Vernunft ist ein Vermögen zweiter Ordnung, das keine positiven inhaltlichen Ziele erster Ordnung setzt, sondern nur das positive Ziel zweiter Ordnung, die positiven inhaltlichen Ziele so zu verbinden, daß ein Maximum von Anlagen, und das heißt: alle konstruktiven Anlagen, zugleich verwirklicht werden können. Dies Ziel der zweiten Ordnung ist 611 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. K.Vorländer, Hamburg 1929, 28 (§ 3, Anm. II).

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genug, um den Staat auf regulative Pflichten in Erziehung und Arbeitsermöglichung festzulegen, die seine Neutralität ausschließen. Es bestimmt ein Mindestmaß der öffentlichen Ausgaben für Erziehung und den Sozialdienst und entzieht deren untere Grenzen der Pflicht demokratischer Mehrheitsentscheidung. Die Idee der Entwicklung der Anlagen aller gibt dem Staat ein Eigengewicht gegen die Ansprüche seiner Bürger und ihrer Gruppen, die ihn zu mehr befähigt, als es nach Webers Liberalismuskritik möglich ist. Dieselbe Idee kann auch dem Individuum ein Eigengewicht gegen die es bedrängenden Begehrungen und Einfalle geben und es vor dem unverbindlichen Sichüberlassen von Impulsen bewahren, das Weber als typisch für den neukonfuzianischen oder neuantiken Charakter der Gegenwart betrachtete. Diese Idee kann aus einem Leben mehr machen als eine „Serie von Vorgängen". Denn sie gibt dem Menschen Eigengewicht nicht wie dem Puritaner durch Beschneidung seiner Anlagen auf „jene glückliche Borniertheit', welche man dem typischen Puritaner zuzuschreiben pflegt" 6 1 2 , sondern durch Förderung möglichst vieler seiner Anlagen, aber unter der Bedingung, daß sie einander nicht widerstreiten und destruktiv sind. Kants Verständnis der Vernunft als des Vermögens, alle unsere Naturanlagen „weit über den Naturinstinkt zu erweitern", das „keine Grenzen ihrer Entwürfe" kennt, und seine Verpflichtung des liberalen Staats auf die Ausführung dieser Vernunft erlaubt uns, kurz auf das Verhältnis von Staat, Wissenschaft und Technik einzugehen. Nach diesem Verständnis muß der Staat nicht nur Mindestmaße in der Ressourcenzuteilung für Sozialgüter festlegen; er muß auch Wissenschaft und Technik vor Versuchen schützen, sie einzuschränken. 613 Historisch haben die westlichen Staaten oft eine Rolle der Förderer der Wissenschaften und Künste gespielt, die mit der vermeintlich liberalen Neutralitätsforderung an sie unvereinbar ist. Diese Förderung wurde zweifellos nicht immer vom Ideal der gleichen Freiheit oder dem der Entwicklung der Anlagen aller motiviert, kann aber als Sicherung der natürlichen und gemischten Ressourcen unter der Bedingung gerechtfertigt werden, daß sie die Rechte, insbesondere die soziale Rechte der Individuen nicht verletzt. Es gibt zwar keine Rechtspflicht des Staats, Wissenschaft und Technik um ihrer selbst willen zu fördern, er muß sie aber fördern, soweit nur durch sie die gegebene Kultur und die gemischten Ressourcen gleichwertig erhalten werden können. Denn die Aufgaben, vor denen die Menschen heute stehen, wenn sie ihre Ressourcen der Nachwelt gleichwertig hinterlassen wollen, sind gewaltig. Mit Wissenschaft und Technik haben die Menschen die Erde verwüstet, die Meere vergiftet, die Atmosphäre zerstört und Arbeitsplätze vernichtet. Aber ohne sie werden sie der Entwicklung der Anlagen keinen Platz lassen und nicht einmal das Überleben eines größeren Teils der Menschheit sichern. 614 6 1 2 Weber, Zwischenbetrachtung, a.a.O., 539. 613 Vgl. dazu Steinvorth, Eine Kritik der Kritik des Klonens, in: J.S. Ach/G. Brudermüller (Hg.), Hello Dolly, Frankfurt/M. 1998. 614 Zu Beginn des Buchs - im 2. Kapitel - standen wir vor der Frage, ob die politische Philosophie die Grundlage der Verteilungsgerechtigkeit auch zur Grundlage einer verteilungsunabhängigen Handlungsgerechtigkeit machen könnte. Hier haben wir dafür eine Bestätigung, weil die Idee der gleichen Freiheit auch einen Maßstab der Legitimität im Umgang mit modernen Techniken abgibt, der diese grundsätzlich positiv beurteilt. Das heißt jedoch nicht, daß nach diesem Maßstab alle umstrittenen Handlungsweisen legitim sind und nicht mit Zwang verhindert werden dürfen. Sobald Menschen von ihnen in ihren Rechten verletzt werden, sind sie illegitim. Wann das der Fall ist, ist oft notorisch schwer zu erkennen.

Worüber der Philosoph nur wenig sagen kann

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Spricht man dem Staat die bedingte Pflicht zu, Wissenschaft und Technik zu fördern, so erweitert man den Spielraum seiner Macht auch auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin und der durch sie ermöglichten Eugenik. Die vielen hier entspringenden Fragen zu erörtern, verlangt ein eigenes Buch. Nur eine Tatsache sei hervorgehoben. An der Verbesserung der vererbbaren Eigenschaften (was immer man unter besser versteht) sind heute nicht die Staaten, sondern Individuen und über sie Anbieter eugenischer Dienstleistungen interessiert. Es wäre unverantwortlich, das schon bestehende eugenische Wissen zu vernichten. Von ihm ist keine Machterweiterung der Staaten zu befürchten, sondern eine Teilung der Gesellschaft in genetisch Begünstigte und Benachteiligte, die den schon angebahnten Ausschluß der Langzeitarbeitslosen aus dem System der Produktion verschärft. Je strenger Staaten Individuen an eugenischen Eingriffen zu hindern suchen, desto exklusiver wird die Gruppe der genetisch Privilegierten, deren Eltern es sich leisten konnten, die staatlichen Hürden zu überspringen. Der Staat muß auch hier dem Ideal der gleichen Freiheit folgen und jedem den gleichen Zugang zur besonderen natürlichen Ressource reproduzierbarer genetischer Information sichern. Worüber der Philosoph nur wenig sagen kann Die liberale Gleichheit verwirft nicht den Kapitalismus; sie will ihn durch eine marktunabhängige Arbeitsbeschaffung und einen starken Staat nicht ersetzen, sondern ergänzen. Unvereinbar ist sie mit der Vorherrschaft der ökonomischen Idee, die jede Betätigung der Bedingung der Profitabilität unterwirft. Das setzt sie in ein konfliktträchtiges Verhältnis zu den Verfechtern der ökonomischen Eigengesetzlichkeit. Dennoch ist nicht der Kapitalismus das größte Hindernis für die gleiche Freiheit. Die größten Hindernisse sind die grundsätzliche Skepsis gegen die Möglichkeit ihrer Verwirklichung und vereinfachte Vorstellungen davon, wie sie verwirklicht werden kann. Viele Zeitgenossen, die politische Veränderungen für wichtig halten, verstehen unter der Welt, die es zu verändern gilt, die äußere soziale Welt. Andere, die Veränderung für wichtig, aber wenig von der Politik halten, wollen die innere psychische oder geistige Welt verändern. Um die gleiche Freiheit zu verwirklichen, muß man zugleich Institutionen und den Geist ändern, in dem sie arbeiten. Die Politik darf und muß solche Institutionen und „äußere" Handlungsweisen fördern, die selbst bestimmte Gesinnungen fördern und andere hemmen. Solche Handlungsweisen spielen vor allem in der Erziehung und den Medien eine Rolle; sie könnten es noch mehr in einem Sozialdienst, der unfreiwillige Arbeitslosigkeit verhindert. Auf diesen Feldern hat der Staat die Rechtspflicht, nur solche Institutionen zu fördern, die zugleich die liberale Gleichheit und einen ihr günstigen Geist sichern. Die Idee der gleichen Freiheit entspringt der Einsicht in die menschliche Natur und ist die rationale Konsequenz aus dieser Einsicht. Hier kann sich die politische Philosophie auf Weber stützen, wenn er sagt: „Auch das Rationale im Sinne der logischen oder teleologischen ,Konsequenz' einer intellektuell-theoretischen oder logischen Stellungnahme" - und die gleiche Freiheit ist ein solches Rationale, das zudem begründbare Stellungnahme ist - „hat nun einmal (und hatte von jeher) Gewalt über die Menschen, so begrenzt und labil diese Macht auch gegenüber andern Mächten des historischen Lebens überall war und ist." 615 Man kann

615 Weber, Zwischenbetrachtung, a.a.O., 537.

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Zur Durchsetzbarkeit der gleichen Freiheit

daher darauf bauen, daß die Idee der liberalen Gleichheit im selben Maß das Handeln bestimmt, wie die Menschen Gelegenheit haben, ihre rationalen Fähigkeiten zu gebrauchen. Aber von allein verwirklicht sich die liberale Gleichheit nicht. Dazu gibt es zu viele Hindernisse, daß die Menschen ihre rationalen Fähigkeiten gebrauchen. Marx hoffte noch, den Einsatz für eine Idee dadurch zu befördern, daß er ihre Verwirklichung mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses voraussagte. Es wäre zwar maßlos übertrieben, gegen Marx mit Fichte zu behaupten, daß die Verwirklichung der gleichen Freiheit allein von uns abhängt: „Alle Zeitalter, alle Weisen und Guten, die jemals auf dieser Erde geathmet haben, alle ihre Gedanken und Ahnungen eines Höheren ... umringen euch, und heben flehende Hände zu euch auf; selbst, wenn man so sagen darf, die Vorsehung und der göttliche Weltplan bei Erschaffung eines Menschengeschlechts, der ja nur da ist, um von Menschen gedacht und durch Menschen in die Wirklichkeit eingeführt zu werden, beschwören euch, seine Ehre und sein Daseyn zu retten." 616 Fichtes melodramatischer Appell an die eigene Entscheidung ist ebenso falsch wie Marx' naturwissenschaftliche Allüre. Doch wäre es deshalb nicht falsch, mit demselben Fichte festzustellen: „Ob jene, die da glaubten, es müsse immer besser werden mit der Menschheit,... recht behalten sollen, oder diejenigen, die... jedes Auffluges in höhere Welten spotten: - darüber ein letztes Endurtheil zu begründen, ist euch anheimgefallen." 6 ' 7 Der Praktiker, der an der gleichen Freiheit interessiert ist, könnte vom Theoretiker etwas mehr Auskunft über die Aussichten ihrer Verwirklichung erwarten. Auch wenn eine Ortsbestimmung der Gegenwart zum Ergebnis kommt, daß sie an der Zeit, wenn nicht überreif ist, und es nun an uns liegt, was sein wird, kann er vom Theoretiker doch Überlegungen zu den konkreten Schritten erwarten, mit denen der Politiker das Ziel am besten durchsetzt. Welche Schritte sind zuerst zu nehmen? Welche Mittel sind erlaubt? Auf diese Fragen muß der politische Philosoph mit zwei Aussagen antworten, von denen die eine die Begrenztheit philosophischer Aussagen und die andere die Begrenztheit politischer Handlungen hervorhebt. Warum müssen philosophische Aussagen zur Politik begrenzt sein? Für jedes durch das Recht gesetzte Verbot - einen Unschuldigen zu verletzen oder auch zu töten - können Umstände konstruiert werden, in denen es legitim oder sogar geboten ist, das Verbot zu verletzen. Unter dramatischen Umständen kann es legitim sein, für eine größere Zahl von Menschen oder das Überleben der Menschheit eine kleinere Zahl Unschuldiger zu opfern. Die Rechte eines Individuums können dann ihre Kraft verlieren; nicht weil dadurch eine größere Menge an Glück gesichert wird, sondern weil das Ziel, eine Menschheit unter Bedingungen des Rechts zu erhalten, ein Recht begründen kann, das die Rechte von Individuen außer Kraft setzen kann. Sie werden dann außer Kraft gesetzt, gerade um sie zu sichern. Solche Notstandsklauseln sind aber oft genug mißbraucht worden, und wann man sich auf sie berufen darf, ist notorisch schwer zu entscheiden. Philosophen können zur Entscheidung nur durch Klärung der möglichen in Frage kommenden Gesichtspunkte und durch Übungen in Kasuistik beitragen. 618

616 Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Sämmtl. Werke, Bd.7, Berlin 1846, 498. 617 Ebd. 618 Vgl. unter vielen anderen Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect (1967), in: Virtues and Vices, Berkeley/Los Angeles 1978, 23 (dort das Trolley-Beispiel; dazu: J.J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, in: The Monist 59, 1976,204—17, und: The Realm of Rights, Cambridge/Mass. 1990, 176-202). An konkreten historischen Fällen behandelt die Probleme Hugo Adam Bedau, Making Mortal Choices, Oxford 1977. Zum Prinzip,

Worüber der Philosoph nur wenig sagen kann

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Sobald die Politik konkret wird, kann der Philosoph nur ein Berater unter andern sein Verfassungsrechtlern, Historikern, Journalisten; entscheiden müssen die Bürger und die Anwälte ihres politischen Interesses, des Interesses an Durchsetzung von Gerechtigkeit, die Politiker. Begrenzt in ihrer Bedeutung sind aber nicht nur philosophische Aussagen zur Politik, sondern politische Handlungen selbst. Sie können keinen Zustand herbeiführen, der alle möglichen Wünsche zugleich verwirklicht. Die gleiche Freiheit lohnt größte Anstrengungen; sie würde die Zweiteilung der Menschheit in die Mächtigen und die Ausgeschlossenen verhindern und die Entfaltung der Anlagen aller ermöglichen. Aber sie schließt materiale Gleichheit ebenso aus wie die Freiheit von eigener Verantwortung. Das Ziel aller Politik ist eine vollkommen gerechte Gesellschaft, eine, die jedem die gleiche Freiheit zur Entfaltung seiner Anlagen gibt, und keine in jeder wünschbaren Beziehung vollkommene Gesellschaft. Wo jeder seine Anlagen entfalten kann, gibt es nicht nur Vollkommenes, auch dann nicht, wenn dabei niemand in seinen Rechten verletzt wird. Erkennt man das, so gerät, wie Isaiah Berlin gesagt hat, „die Vorstellung der idealen Welt, für die kein Opfer zu groß sein kann, aus der Sicht". 619 Um so klarer gerät in Sicht, wie man eine gerechte Welt verwirklichen kann.

das kleinere Übel zu wählen, vgl. ebd., 29ff. Eine historische Übersicht mit Blick auf die Gegenwart geben Albert R. Jonsen/Stephen Toulmin, The Abuse of Casuistry, Berkeley/Ca. 1988. Noch immer unentbehrlich die Diskussion militärischer Fälle bei Michael Walzer, Just and Unjust Wars, 1977. 619 Berlin, My Intellectual Path, in: New York Review of Books, 14.5.98, 60. Berlin geht soweit zu sagen: „... the very idea of the perfect world in which all good things are realized is incomprehensible, is in fact conceptually incoherent. And if this is so, and I cannot see how it could be otherwise, then the very notion of the idea of the ideal world, for which no sacrifice can be too great, vanishes from view". Er setzt zu Unrecht den Begriff einer vollkommenen Welt mit dem einer Welt gleich, die alle Wünsche erfüllt.

Register

absolute Maßstäbe oder Prinzipien 250, 269 Achtung 91, 94, 102f, 113, 139, 275, 281 Ackerman, Bruce 164 Adam und Eva 137 Akkumulation von Reichtum und Macht 116f, 133, 185,217, 2 4 l f , 246 Akzeptabilitätsbedingungen 26, 30, 32, 37, 57, 80, 274 Amerika 115,122 Anaximander 194 Aneignung von Gütern 120f, 128, 138,199f, des eigenen Arbeitsprodukts 185, 205,235 s,a, Erstaneignung angewandte Ethik 22, 282f Anlagen, Talente 104, 106ff, 1 lOff, 114, 119, 134f, 137, 145, 149f, 156, 163f, 184f,238,281 Betätigung der eigenen Α. 185, 218f Anselm von Canterbury 28 Anstrengungsabhängigkeit der Verteilung 149— 152, 167,235fr Antisemitismus 254f A p e l , K.-O. 54, 142 Arbeit 23, 41f, 97f, 120-124, 129-132, 137f, 173, 200f, 205, 208, 224, 226, 228, 241, 263 nicht-profitable A. 226ff Recht auf A. 157,169ff. 1 8 1 , 2 0 5 , 2 2 5 - 2 3 0 Arbeitslosengeld 171, 225 Arbeitslosenversicherung 230 Arbeitslosigkeit 97, 119, 157f, 161f, 168-172, 177f, 222-228, 278 Arbeitsmarkt 178,227f Arbeitsplätze 167, 171, 205, 225 Arbeitsteilung 97, 225, 242, 248 Argumen 66, 142,152, 265, 271 Aristoteles 9 0 , 9 8

Aufklärung 8 7 , 1 9 9 Ausbeutung, Exploitation 97f, 163, 172-176, 241 Ausdifferenzierung von Interessen in Wertsphären 262 Autofahrerhinrichtungsbeispiel 102 Autonomie 2 6 l f , 269 A very, John 215η Awn, Peter 51η Bäckerbeispiel 94f, 110 Bändigung des Bereicherungsstrebens 257 Barnet, Richard 216n Barry, Brian 187n Bartley, W.W. 273n Bedau, H.A. 284n Bedeutung, objektive, sozialer Prozesse 195 Bedürfnisse 119, 122, 221, 234, 250 begründen 15f, 18,42,49f, 6 6 , 8 0 , 8 7 , 1 1 2 , 1 9 3 f , 264ff, 270-274 Begründungsfähigkeit 61, 156f, 196, S. a. Vernunft Behinderung 148, 163-166, 238f Beitz, Charles 187n Beleidigung 126 Berlin, Isaiah 56n, 186n, 285 Berman, Harold 194n Beschäftigungsrente 168f Betätigung oder Entwicklung der eigenen Anlagen 52, 61f Bevölkerungszuwachs 214 Bildung 39, 155f, S,a, Erziehung Binnenmoral 4 4 f , 4 8 , 196 Bodenreform 240 Buchanan, Allen 208

287

Register Bürgerrechte 178, Bürokratie 259f Carling, Alan 130 Chamberlainbeispiel 117f, 120 Chancengleichheit 101, 106ff, 110, 118, 135, 164, 184, 217f, 221 Cohen, Joel Ε. 214n, 225n Cole, G.D.H. 161 Condorcetsches Paradox 165 Constant, Benjamin 53 Danner, Mark 215n Demiurg 243,250 Demokratie 19, 24, 79f, 127f, 156, 276fF demokratische Gleichheit 106, 139, 145-150, 158, 183-188,196, 217, 235,238 Descartes 21 Destruktivität 242,282 Determination l l f Dews, Peter 81 Diskurstheorie 17ff, 52, 59n, 79-82 Differenzprinzip 84,95,101,106,108-113,116, 139, 145, 159, 170, 177, 181,187f, 190, 217 Dritte Welt 188, 214ff, 230 Durchsetzbarkeit 128, 240 S.a. Verwirklichungsbedingungen Dworkin 13, 83, 115, 124, 138-159, 163-167, 185, 224, 235ff, 276f Effizienz 107, Ehrlich, P.R. und A.E. 215n Eigentum 41, 103, 111-121, 126, 132, 199, 208f, S.a. Gemeine, kollektives Private. Einkommen 205 Einkommensteuer 151f negative E. 161f Eliten 269 Emigration 197 Englert, Stefan 14 Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden, Ideal der 268, 276, 278-182, 285 Entscheidungstheorie 90 Entwicklungshilfe 187 Entzauberunng 76 Erbschaften s, Vererbung Erstaneignung 41, 128, 13lf S.a. Aneignung Erziehungssystem 106ff, 152ff, 184, 204f, 220, 224 Recht auf Erziehung 205,227f

Erzwingbarkeit 44, 47, 60ff, 65, 88, 105f, 113, 125, 181, 223, 261f, 266, 268, 273ff Eurozentrismus 215f Evidenz 25, 28, 32f, Evolution 67 Existenzbasis s, Naturbasis Exploitation 97,241 Fairneßgerechtigkeit 85, 87— 112,115,130 Falsifikation 20,26-338, 62f, 65, 86, 274 Familie 111 Ferguson, Adam 74, 223, 257 Fichte 62,284 Filmer, Robert 137 Foot, Philippa 284n Fortschritt 176, 245, 252 Kriterien des F. 268 formale Freiheit s, Freiheit, natürliche Freiheit lOOf, 104, 113, S, a, gleiche Freiheit maximale F. 159f natürliche F. 106f, 1 lOf, 115, 150, 175, 178, 183ff, 217, 275 Frewilligkeit von Assoziationen 197f, 237 Freud, Sigmund 37 Friedman, Milton 161 Galilei 24f, Gegenseitgkeit 45-48 Gegenwart, gegenwärtige Gesellschaften 98, 241f, 251, 270 Geist 49,68 Geld 188f, 226 Geltungsansprüche 15,80 Gemeineigentum 13, 41, 74, 83, 99, 113, 120127, 131 (Zugang zum G,), 133-136, 16f, 170, 181, 198-205, 219, 225, 239, 243 Generationenfolge 123f, 203, 206 genetische Information 134ff, 283 Georg, Henry 124,128,130f Gerechtigkeit 157 S. a. Verteilungsg., Wohltätigkeit vs. G. Gerechtigkeitsintuitionen 86f, 156,207,262 Gerechtigkeitssinn 86,91 Geschichte 245,281 Gesellschaft 9 7 , 1 1 9 , 2 4 1 , 2 6 6 , struktur, Reichtum geschlossene G. 198 Gesinnung 237,273 Gestell 264 Gewalt 111

S.a. Grund-

288 Gewaltmonopol 42,208f Gewerkschaften 158, 169, 177ff Gewissen 3 6 - 3 9 , 5 0 , 2 7 1 gleiche Freiheit 12, 19, 40-43, 47f, 52, 57ff, 68, 71, 73f, 7 7 - 8 4 , 93, 101, 103, 113, 123f, 127, 133, 138f, 154—158, 183, 189, 196, 199f,217f, 240f, 249, 2 6 l f , 2 6 9 - 2 7 1 , 276, 283ff, S. a. Messung Gleichheit 84, 94, 100, 104, 117, 126, 139f, 143-146,217f, S.a. demokratische G. liberale G. materiale G. 285 komplexe G. 188-193 Globalisierung der Märkte 241 Globalität, Internationalität 99f, 130f, 180, 186ff, 198, 206f, 213, 215, 217, 233 Glück 145f, 148 goldene Regel 56f Gorz, André 173n grammatischer Sinn 86 Gründe s, begründen Grundeinkommen 157,161-181,234 Grundfreiheiten lOOf, 160 Grund- oder Primärgüter 93f, 109, 112, 189 Grundstruktur der Gesellschaft 118, 156 das Gute, Sinn für das eigene G. 91 Gutmann, Amy 156, 221 f„ 234, 277 Habermas 13, 17-20, 56, 58n, 59n, 76-82, 94, 142, 156f, 178, 192 Handlungslogik 148 Handlungsrichtigkeit 12, 22, 282n Hare, R.M. 56 Harsanyi, J.C. 89f, 95f Haustiere 234 Havel, Vaclav 270n Hegel 13, 15, 45f, 97, 105, 114, 127, 199, 208, 233, 250, 252, 262, 268, 272, 274, 276 Heidegger 13, 244, 263-267, 270, 273f Hempel, C. G. 26n, 33n Heiratsbeispiele 128 Heiratssteuer 169f Helvétius 87 Herder 186n Hilfegebot 43f, 52, 116, 164 Himmelfarb, Gertrud 214n Historismus 7 4 - 7 8 , 2 4 9 Hobbes 16, 22,46, 87,159f, 209f, 212, 262,271 Höffe, Otfried 213,221η Holbach 87 Hösle, Vittoroio 14

Register Hume

43-46,212

Ideal, positives

276

Ideen, historische oder Handlungswirksamkeit von 244f, 248, 251f, 259, 264, 267-271, 276 Immigration 197 Individuen, Rolle der 115,186 Induktionsproblem 274 Infrastruktur 209 Internationalität s. Globalität Intersubjektivität 157, 192, 195 Intuitionismus 88 Irrationalismus 274f Jentsch, Sabine 14 Jonsen, A.R. 285n Kant 16, 20, 22, 25, 40-46, 50-57, 60f, 71, 73, 81, 84, 91-94, 101-104, 107, 117, 160f, 198f, 208,21 lf, 240n, 252, 268, 272,274, 276-281 Kapital 98, 177 Kapitalismus 159, 176f, 181, 26f, 243, 251ff, 256f, 258, 283 Katastrophenbedingung 121,284 Kennedy, Paul 214n, 230n Kistenmacher, Olaf 14 Klugheitsurteile 87f, 90 Knappheit von Gütern 23,122, 124f, 170, 218 kollektives Privateigentum 202-206, 209-213, 239 Kommunismus 119 Kommunitarismus 39, 183, 186, 188-198, 275n Kompensationsansprüche 118-124, 134-137, 147ff, 157, 164-170, 181, 205, 225, 232, 238 Konsens 18, 57, 140, 1566f, 192,195f konstruktive Ziele 242f Konstruktivismus (Rawls) 91 Kontingenz, natürliche und soziale 107f, 110, 113-116, 139, 145-148, 184f, 187, 205, 217ff, 241,243 Kooperation, soziale 96-100,110,114,119,241 Kooperationsgerechtigkeit 98 Korporatimus 177, 179 Krankheit 150, 163ff, 219, 223, 232, 238 Krieg 69f, 215 Krisen 179 Kristol, Irving 188n Kritik 49f, 63, 66, 68, 249, 265, 271, 273f (kritische Begründung) Kultur 129, 203f, 207, 220f, 239, 277 (Partizipation an), 282

Register

289

Recht auf Κ. 221 Laslett, Peter

16

Lebensbedingungen, -möglichkeiten

203ff, 207,

226 Lebensform 61,70 Lebensführung 261 Lebensordnungen 256, 260, S.a. Wertsphären Leibniz 268, 176 Leist, Anton 55 Leistung 110 liberale Gleichheit 106, llOf, 118, 139, 145, 150, 176, 183ff, 198, 205, 217ff, 233ff, 239244, 249ff liberale Freiheit s, Freiheit, natürliche Liberalismus 40ff, 63, 68-73, 84, 104f, 127, 130, 133, 142f, 189, 195, 243, 275 Libertarismus 106, 114, 123ff, 128f, 132, 135, 137, 158ff, 177, 184, 220, 275 Lilla, Mark 64 Locke 13, 16, 22f, 35, 40ff, 46, 71ff, 81, 92ff, 101, 114, 117, 119n, 120ff, 127f, 131f, 136f, 174, 198ff, 208ff, 2121, 270n, 276, 281 L.s. Provisos 121 Löhne 84 Lorenz, Konrad 62f, 96n Los verfahren 142 Lotterie der Gene 85, 106-111, 135, 137, 145, 150, 235,238 Lüge 53 Luzifer 51f Mack, Eric 187n MacLean, Anne 27In Macpherson, C.B. 208n Makro- und Mikrosituationen 118 Manna 115f, 120,123, 128f, 199 Malthus 214n Markt 83,121f, 124ff, 139,143ff, 147f, 201,227 Marktrationalität 142 Marx 13, 23, 74f, 78, 98, 119n, 147, 189, 2 4 3 252, 258,267f, 270n, 274, 284 Marxismus 226 Maschine 98 Massen, ihre Interessen und Lebensführung 259 Massenmedien 204 Maßstäbe, absolute 250 materielle Anreize 84 materielle Güter 259 Maximen 95f

McKibben, Bill 214n, 225n, 258n medizinische Versorgung 152-155, 190,204 Meeresbodenschätze 216n Menschenrechte 42, 178, 215ff Menschenwürde 102f, 105 Menschheit, Gesamtheit der Menschen 122, 127, S.a. Treuhänder Menschheitserbe 202, 205, 216n, 220 Messung der gleichen Freiheit 85,95 Metaphysik 58f,77, 112 Militärdienst 228 Mill, J.St. 261 Miller, David 186n Milner, Dennis 161n Minderbegabung 157 Mindesteinkommen 108, 161, 229f, 234f, 259 Minimalstaat 106, 113f, 124, 184 Mitchell, Stephen 254 Moral 4 3 ^ 7 , 52,85, 88, 110, 267f, 274 Moralbegründung 4 8 , 5 2 - 5 8 moralische Intuitionen 3 0 - 3 8 , 52, 54f, 77, 85-88, 111, 140, 270 Müller, Roland 216n Nagel, Thomas 116f Nachkommen, Recht auf 214n Nation 46, 66, 99, 104, 122, 186, 188, 197, 204, 217, 233,235 Nationenrecht 92 Naturbasis der Produktion 123,130, 199-204 Naturgüter, angeborene vs, äußere 136, 164, 170, 199f, 203f. S. sonst Ressourcen, natürl. natürliche Lebensbedingungen, ihre Erhaltung 201f Naturrecht 92 Neidtest 141f, 145, 151f, 158 Neuzeit 44-47, 195, 209, 272 Nielsen, Kai 213 Nietzsche 264 Nozick 12f, 42, 83, 102, 106, 114-125, 128f, 131, 138, 149, 158, 169, 177, 183f, 187, 189, 199,213,218, 236 Nutzenorientierung 85, 89, 91ff, 104, 121f, 158, 213 Nützlichkeit 52 öffentlicher Dienst 227 Öffentlichkeit 33, 80,142, 270f ökologische Aufgabenn 204 ökonomische Bedingungen 249

290 ökonomische Idee 256ff ökonomische Notwendigkeit ökonomischer Wert 122f

Register

250

Paine, Thomas 161, 163 Pareto, Vinfredo 107 van Parijs 13, 83, 115, 124, 157-181, 224, 234-237 Partikularismus 69f, 196 Pascal 189 Patocka, Jan 270n Patriotismus 179f, 211 Patzig, Günter 56f, 58n Pazifismus 71 Perfektionismus 88, 156, 278 Pflichten, strenge und weite 44 Pflichtversicherungen, solidarische 105,108 ν, d, Pfordten, Dietmar 81 Philosophie 15f Physik 16,21,27,33 Planung 249f Platon 16, 23,44f, 79, 118f 250, 263f, 271 Pluralismus 262 Pogge, Thomas 102n, 187n, 213n, 216n Politik 21 —24, 35, 62, 64-67, 88,122,271, 275 politische Betätigung und Partizipation 171, 221,277 politische Ideen und Ideale 262, 268f, 276, 278f politischer Praktiker, p, Praxis 100, 162, 284 Polytheismus 260ff Popper 20n, 24-28, 31, 63, 68, 79, 194n, 198, 227n, 273n, 274 Possessivindiviudalismus 208 Primärgüter s, Grundgüter Privatheit, Rückzug in die 163,181 Privilegien 84f Produktion 99, 114, 171, 176, 241 ihre Kontrolle 241 ihre Rationalisierung 241 Produktionsmittel 201 Protagoras 23f Prozeduralismus 78-82 Puritanismus 256,282 Radikalität 240 Rassismus 57 Rationalismus der Lebensführung 260 Rawls 12f, 17-20, 22, 38f, 57n, 76f, 79f, 83-120, 123f, 128f, 135,137ff, 142, 144n, 145, 149f, 153, 156, 158ff, 163, 167, 177, 181, 183-

189, 199, 213, 217,224, 235f, 241 Recht 40-48,59ff, 69,79, 81, 84,101,157,161, 208f, 223f, 237, 26 lf, 272f R. auf Bildung 153,156 R. auf gleichen Gebrauch natürlicher Ressourcen 157,163, 170 R. auf Güter 89,154, S.a. Arbeit, Kultur, Nachkommen, Streik, Versicherungsschutz: R, auf; Selbstbetätigungsoder Selbstverfügungsrecht Rechte der Individuen 115 Rechtlichkeit einer Handlung 117 Rechtspflichten 201,205 Rechtsungleichheit 17 Regierungsgerechtigkeit 12, 22, 355 Reichel, Richard 216n Reichtum der Gesellschaft 219 (seine Quellen), 124 (Zugang zu ihm) Relativismus 193, 196 Religion 36g, 39, 92f, 191, 259f religiöse Idee 256 Ressourcen: erarbeitete 1214f, 128f gemischte 131,202f, 205-208, 213 kulturelle 203 natürliche 41f, 73, 83, 94, 97ff, 113-116, 120-127, 135, 197f, 203f, 215f, 240 ihre Messung oder Bewertung 122, 125ff, 130f, 140f, 166, 200ff, 227, 229 ihre Regeneration und Substitution 123, 131, 203f ihre Überaneignung 125f, 130 Zugang zu ihnen 127, 133f, 157, 170f, 2 0 0 206,218,223,231,237,274 Ressourcengleichheit 140-145, 149, 152ff Revidierbarkeit 62 Risiken 105 Roemer, John 175 Rom 272 Rorty, Richard 195n Rousseau 16,46, 101, 209, 270n Rushdie, Salman 144 Sache 138, 191, 194f Sackgasse der Geschichte 252 Sandel, Michael 186n, 275n Scanion, Tim 56 Scham 50 Scheler, Max 218n, 279n Schenkung 129, 132ff, 167, 206 Schleier der Unwissenheit 89, 91,101, 139, 150

Register Schleierzwang 81 Schmaraotzertum 174ff Schmitt, Carl 13, 64-73, 142,157, 196 Schockaert, Erik 169n Schopenhauer 4 3 ^ 8 , 114 Sehrt, Martin 14, 56 Selbstachtung 102, 192 Selbstbetätigung oder -verfügung(srecht) 41, 74, 113, 115ff, 124, 128, 131, 133, 135ff, 156, 175, 196f, 200, 218, 224, 238 Selbstgesetzgebung 82 Selbsthilfe 239 Selbsttötung 111 Selbstzweck 103, 161 Sezession 208 Sicherheit 144 Shattuck, Roger 34n Smith, Adam 74f Sokrates 272 Solidargemeinschaft 186 solidarische Pflicht- oder Zwangsversicherung 105, 108, 146-149, 155, 184, 237ff Solidarität 231ff,237f Sophisten 45 Sozialdienst 228ff, 234f, 239, 242, 278 soziale Rechte 12, 99, 104f, 113, 147, 157, 184, 186, 206,211η, 239 Sozialhilfe 97,234 Sozialismus 42, 119, 124f, 130, 176f, 190,226 Sozialstaat 105,132,279 Sphären menschlicher Tätigkeiten 191 f, 194f Staat 42f, 4 6 , 6 2 , 8 3 , 9 2 , 9 9 f , 114,147,195-198, 207ff, 216f, 223f, 28 lf seine Neutralität 277, 282 Staatsgründung 208 Staatssouveränität 214 Weltstaat 69,127 Welt- vs. partikularer St. 207, 211-214, 217 Stachanov 84, 106 Ständeschranken 184, 218 Stagnation 258,276 Steiner, Hillel 13, 123-138, 140, 158f, 166, 200f, 206,213 Steinvorth, Ulrich 29η, 56n, 112n, 138n, 186n, 198η, 208η, 212η, 225η, 231n, 232n, 250n, 268n, 282n Steuern, progressive 219-224,232, 239f Stolz 50ff Streik 171, 178 Streikrecht 178f

291 Talente s, Anlagen Talentmangel 150,165, 23 8f Talentunabhängigkeit der Verteilung 149-152, 158, 167,224, 235ff Tausch 152, 175 Tauschfairneß 175f Tauschkraftgleichheit 140f, 145ff, 234 Technik 98, 241-244, 257f Territorium (von Staaten) 97, 197, 200, 297f, 211,214, 282 Thaies 194 Thomson, J.J. 102n,284n Tiere 49 Toulmin, Stephen 285n Transplantationsbeispiele 102, 170 Treuhänder (von Menschheitsinteressen) 99, 122, 181, 186, 206,213,217 Überflüssigkeit Armer und Schwacher 242 Überlegungsgleichgewicht 85 Ungleichheit 217f, 222, S. a. Gleichheit Unglück 146f naturbedingtes vs, menschenverschuldetes 105, 184, 205, 220, 223f, 231ff, 238 Unheilsprophetie 258 Universalismus 38f, 44-55, 69f, 183, 186, 195, 198 Unrecht 93, 93, 116,124,153f, 176, 196f, 225 Unterhaltung, Ausgaben für 155 Urteilsfähigkeit 37,42, 49, S.a. Vernunft Urzustand 91f, lOOff, 106, 109, 139, 142 Utilitarismus 85, 87ff, 117ff, 271n Vattimo, Gianni 265η Verantwortlichkeit 112, 115f, 139, 142, 146-151, 158, 220, 225, 235ff, 285, S.a. Zurechnung Verdienst 89,112 Vererbungen 129,131f, 167, 207 Verhandlungsrationalität 142 Verletzungsverbot 43f, 52, 105f, 111,117124, 126, 184, 197,223 Vernunft 16-19, 25, 37, 45, 4 9 - 5 2 , 55, 58, 61, 71138, 157,160, 239, 268, 279, 281 Versicherung(ssystem) 140, 145-148, 162, 164, 184, 205, 219-224,231-234, 239 Recht auf V.sschutz 205, S. a. Solidarische Pflichtv. Versprechungen 133 Versteigerung 140ff, 145, 200

292 Verteilungsgerechtigkeit 12, 22f, 35, 42, 89, 94ff, 106,108,115f, 124,126f, 139,141f, 185f, 195, 198, 203, 282, S. a. Anstrengungsabhängigkeit und Talentunabhängigkeit der V. Vertrag 90,92,95,115,140 Vertragstheorie 52 Verursacherprinzip 237 Verwirklichungsbedingungen 77, 128, S. a. Durchsetzbarkeit Vetorecht 127ff Vico 186n Vlastos, Gregory 144n Voltaire 87,270n Vorsokratiker 271 Wahrheit 12, 17f, 25ff, 30, 33, 80 Wald, M.C. 215n Walzer, Michael 13,183, 188-198, 213, 285n Weber, Max 42, 76, 78, 191, 195, 223, 240, 243f, 251-270, 274, 282f Weltbejahung, -Verneinung 229 Weltstaat 69 Wertblindheit 53, 55, 60 Wert, ökonomischer 200 Werte 55, 58, 195 (ihre Objektivität), S.a. ökonomische W. Werteinsicht 52,54f

Register Wertegemeinschaft 197f Wertsphären 191f, 194f, 256, 260f Wiedergutmachung 200 Willensfreiheit 112 Wissenschaft 194, 257, 261,281 f Witwen Verbrennung 81, 196 Wittgenstein, Ludwig 31 n, 266f, 271 η Wohlfahrtsstaat 106,223f, Wohltätigkeit vs. Gerechtigkeit 43-48, 59, 88, 110, 113,197,218,223,231,257, 274 Zivildienst 228 Zufall der Geburt 58 (zu)künftige Generationen 19, 122f, 130, 154, 201 Zumutbarkeit erzwungener Hilfeleistung 105, 150, 155, 220,232ff, 238f Zurechnung 94, 112, 237, S. a. Verantwortlichkeit Zwang 12, 20, 29, 35, 40ff, 52, 60ff, 66, 69-72, 125f, 215, 223,266 Zwangverminderung 60ff, 125, 140, 157, 197 Zwangsversicherung s, solidarische Pflichtversicherung Zweck- und Mittelgebrauch 101-104 (des Menschen), 256 (des Kapitals), 263 (der Arbeit)