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German Pages 387 [388] Year 2007
Vieweg Skepsis und Freiheit
jena-sophia Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg Abteilung II – Studien Band 10
2007
Klaus Vieweg
Skepsis und Freiheit Hegel über den Skeptizismus zwischen Philosophie und Literatur
Wilhelm Fink Verlag
Umschlagabbildung: Jena – Blick vom Philosophengang (um 1810) kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. © 2007 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4471-4
Dieses Büchlein ist William von Baskerville und seinen Gleichgesinnten gewidmet
INHALT
ZU DIESEM BAND ..........................................................
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VORBEMERKUNGEN – BACK TO THE FUTURE .............
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I. TEIL MAKING IT IMPLICIT – DIE INKLUSION DER SKEPSIS IN THEORETISCHER UND PRAKTISCHER ABSICHT ..... I.1. Der Anfang der Philosophie – Hegels Aufhebung des Pyrrhonismus ............................................................. I.2. Die ‚freie Seite jeder Philosophie‘– Skepsis und Freiheit. I.3. Solus ipse – Skeptizismus und Solipsismus ...................... I.4. Hegels lange Rochade – Die ‚Umkehrung des Bewußtseins selbst‘ ..........................................................
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II. TEIL DER ZERBROCHENE KRUG UND DER OFFENBARUNGSEID DER PHILOSOPHIE – UNMITTELBARKEIT UND DIE SKEPTIZISMUS-DEBATTE UM 1800 ................ II.1. Skepsis und common sense – Hegel und Friedrich Immanuel Niethammer ..................................................... II.2. Der junge Schelling über Realismus und Skeptizismus – Schellings Schulze-Kritik als ein Grund des Bruchs mit Hegel .......................................................................... II.3. ‚Himmlische Lyrik‘ und der Offenbarungseid der Philosophie – Hegels Kritik an der Sprache der Jacobischen Unmittelbarkeitsphilosophie.........................
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INHALT
II.4. Der ‚ungemeine Journalismus‘ der verrufenen ‚Absoluten zu Jena‘ – Kritik, Skepsis und eine neue Theorie des Wissens.........................................................
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III. TEIL GÖTTLICHE FRECHHEIT SHANDYISMUS UND DES TEUFELS PAPIERE – IRONIE, KOMIK UND HUMOR ALS LITERARISCH-POETISCHE SKEPSIS ......... III.1. Die romantische Ironie als ästhetische Skepsis – Philosophie als ewige Hängepartie................................... III.2. Entdeckungsreisen und humoristischer Roman – Hegel und Laurence Sterne ..............................................
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IV. TEIL FREIHEIT UND SKEPTISCHE PHANTASIE – DIE ROMANTISCHE KUNST ALS DAS ENDE DER KUNST ... IV.1. El gran teatro del mundo – Hegels Philosophie der Weltgeschichte als denkende Betrachtung menschlichen Geschehens in vernünftiger, freiheitlicher und weltbürgerlicher Absicht ................................................. IV.2. Von der Philosophie der Geschichte zur Philosophie der Kunst ................................................................................ IV.3. Die Kunst als Mitte und ihre Klassizität........................... IV.4. Die modern-skeptische Kunst als Ende der Kunst – Die ‚Romantik‘ als Aufhebung von Symbolik und Klassik ....
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INHALT
V. TEIL DAS BUNTE HEER DER METAPHERN UND DIE GRAUE PHALANX DES BEGRIFFS – PYRRHONISMUS, BUDDHISMUS UND WEISSE MYTHOLOGIE.................... V.1. Das Bildliche und der Begriff – Hegel zur Aufhebung der Sprache der Vorstellung in die Sprache des Begriffs . V.2. Pyrrhon als der ‚Buddhist für Griechenland‘ – Orientalität und indischer Buddhismus aus der Sicht Hegels ...............................................................................
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SCHLUSSBEMERKUNGEN RASCH, SONST FRISST DER ALTE UNS DEN GANZEN ARISTOTELES AUF ........................................................
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QUELLENVERZEICHNIS ................................................
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SIGLENVERZEICHNIS ....................................................
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BIBLIOGRAPHIE ............................................................
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ZU DIESEM BAND
Nach einigen Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Themenkreis Skeptizismus und Hegel und im Anschluß an die 1999 erschienene Monographie Philosophie des Remis – Der junge Hegel und das Gespenst des Skeptizismus sollen hier einige Resultate der Forschung zusammengefaßt werden, teils verstreut publizierte Aufsätze, teils unveröffentlichte Manuskripte, teils 2004 im kolumbianischen Medellin gehaltene Vorlesungen. In die bereits veröffentlichten Texte wurde nur wenig eingegriffen, einige Redundanz möge nachsichtig behandelt werden. Eine wesentliche Quelle für Anregungen und ein wichtiger Probierstein für die Stichhaltigkeit der Argumentationen war stets der Jenaer Hegel-Kreis mit den vorzüglichen Hegel-Kennern Wolfgang Welsch, Ralf Beuthan, Brady Bowman und Tommaso Pierini, ihnen gilt ganz besonderer Dank! Mit Wolfgang Welsch konnte ich von 2001 bis 2006 ein umfangreiches Programm „200 Jahre Hegel in Jena“ realisieren, die Palette reicht von Forschungsprojekten über Seminare bis zu mehreren gemeinsam konzipierten internationalen Tagungen in Jena, Peking, Osaka und Tokyo. Aus den vielen Gesprächen, aus diesem echt kollegialen Zusammenwirken eröffneten sich mir viele neue Einsichten in die Thematik Skeptizismus. Domo Arigato, lieber Wolfgang! Ebenso geht der Dank für Hinweise und Ratschläge an Michael Forster (Chicago) und Lambert Wiesing (Jena) sowie an meine langjährigen Freunde Richard T. Gray (Seattle) und Giuseppe Varnier (Siena). Seit 2001 bin ich mit Giuseppe Varnier in einer sehr produktiven Debatte um die Relevanz des Skeptizismus für Hegel, diese Gespräche lieferten viele Denkanstöße. Lieber Giuseppe, mille grazie! An das Institut für Philosophie der Universidad de Antioquia Medellin für die Einladung zu einer Vorlesungsreihe 2004, besonders an meine Freunde Carlos Rendon (Bogota) und Javier Dominguez (Medellin), geht ein muchas gracias. Für die Mitarbeit an der technischen Fertigstellung des Bandes gebührt Björn Orm Vinx und besonders Dr. Tommaso Pierini Dank. Lieber Tommaso: Avanti, in bocca al lupo.
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ZU DIESEM BAND
Besonders danke ich der Alexander von Humboldt-Stiftung für die schon seit 1992 anhaltende, stets großzügige Förderung meiner Arbeiten. Jena im Dezember 2006
Klaus Vieweg
EINE PYRRHONISCHE GESCHICHTE
DER ALTE PYRRHON – SCHWEIGEN UND LACHEN Der Alte:
Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? –
Pyrrhon:
Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen alles und jedes
Der Alte:
Freund! Freund! Auch deine Worte sind die eines Fanatikers! -
Pyrrhon:
Du hast recht! Ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. -
Der Alte:
Dann wirst du schweigen müssen. -
Pyrrhon:
Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. –
Der Alte:
Du tritts also von deinem Unternehmen zurück? –
Pyrrhon dreht sich um und lacht. – Der Alte:
Ach Freund! Schweigen und Lachen – ist das jetzt deine ganze Philosophie? -
Pyrrhon:
Es wäre nicht die schlechteste. -
Friedrich Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches
VORBEMERKUNGEN – BACK TO THE FUTURE
Wer recht erkennen will, muß zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben Aristoteles Wer den Aristophanes noch nicht gelesen, hat noch nicht wahrhaft gelacht Hegel
Die Sentenzen der beiden europäischen Meisterdenker Aristoteles und Hegel verweisen auf den Zweifel und auf das Lachen als Formen des Widerstehens gegen alles vermeintlich festgefügte, als Ausdrucksweisen der Auflehnung gegen alles angeblich Evidente und ewig Sichere. Als ein besonders bemerkenswertes Exemplar dieser Widerspenstigkeit, als widerborstiger, stets gefährlicher und zu zähmender Kontrahent der etablierten Philosophie gilt der Skeptizismus, speziell seine Urform, der Pyrrhonismus. Letzteren sieht Hegel als den wahren, eigentlichen, echten Skeptizismus – der ‚hohe antike Skeptizismus, wie wir ihn namentlich beim Sextus Empiricus dargestellt finden‘. Diese Skepsis und ihre Fürsprecher wurden in der Geschichte mit den verschiedensten Kennzeichnungen bedacht: sie galten als Vertreter der Einheit des Zetetischen, Ephektischen und Aporetischen; als ein Abführmittel für jeglichen Dogmatismus, als die Abgesandten der Hölle, ja als Teufel und Beelzebub selbst – ‚spiritus sanctus non est skepticus‘ hatte Luther laut und unmißverständlich ausgerufen. Die Rede ist von mephistophelischen Geistern, die stets verneinen, von den Protagonisten der Rebellion und permanenten Insurrektion, von Betreibern der intellektuellen Guillotine oder blautsaugenden Vampiren. Kritische, unvoreingenommene und re-vidierende Geisteshaltungen, Lachen und Narrenweisheit, besonders Humor und Ironie werden als skeptisch verstanden. „In keinem Zeitpunkte war der Begriff des Skeptizismus in der Philosophie zugleich so vieldeutig und so genau bestimmt, und nie gab es so viele eingebildete und so wenige wirkliche philosophische Skeptiker als gegenwärtig.“ Diese 1793 von dem Jenaer Philosophie-
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VORBEMERKUNGEN
professor Karl Leonhard Reinhold gegebene Diagnose scheint auch noch heute ihre Gültigkeit zu besitzen. Nicht nur in der Philosophie herrscht ein babylonisches Gewirr der Einschätzungen über die Skepsis, ihr kulturelles Image war und ist sehr verschieden und umstritten. Zum einen wird sie mit der ‚Zweiflerei‘ identifiziert und als Merkmal des Untergehens einer Kultur gesehen. Für Edward Gibbon (The History of the Decline and Fall of the Roman Empire) repräsentierte der ‚ausschweifendste Skeptizismus‘ in Gestalt der ‚Beredsamkeit Ciceros‘ und des ‚Witzes von Lukians‘ die ‚Mode des Unglaubens‘, eine Krankheit des Denkens und des Geschmacks. Alles Heilige und Göttliche werde diskursiv destruiert und verlacht. Gibbon hat somit schon die beiden klar zu unterscheidenden Dimensionen und Ausdruckarten der Skepsis klar im Blick: das scharfsinnige Argument und das erzählend Poetische in Gestalt des Satirischen, Ironischen und Komischen, hervorgegangen aus den ursprünglichen Mischformen des Pyrrhonismus, den Tropen und Hypotyposen. Scharfsinniger Einwand und humoristisches Verlachen bilden somit die Hauptformen des Skeptischen, neben der Lektüre des Aristoteles und des Sextus sollte die von Aristophanes und Lukian stehen. Auch später trägt die Skeptik das Stigma der gefährlichen, ja bösartigen Krankheit, sie wird als Gebrechen des Zeitalters attackiert. Der Skepticus gilt als advocatus diaboli der Philosophie, als ein alle Gewißheit Negierender, als ewiger Zauderer und stets Unentschiedener, der Alles dahingestellt sein läßt. Nietzsche hält zwar die früheren Skeptiker für große und freie Geister - ‚der einzig ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen‘. Aber ebenso repräsentieren sie für ihn eine aus der Dècadence entstandene ‚europäische Krankheit‘, gar ein ‚russisches Nihilin‘, geprägt von Nervenschwäche und Willenslähmung. Die ‚große Blutsaugerin‘, die ‚mit Fragezeichen überladene Wolke‘ bilde einen hochwirksamen Tranquilizer der abendländischen Kultur. Dagegen sei eine andere und weit stärkere Skepsis zu richten. Neben dem Befund ‚Symptom einer kulturellen Krankheit‘ trägt die Skepsis ein zweites Signum, sie wird mit dem nüchternen Scharfsinn und der Ataraxia, der Freiheit des Denkens und der Freiheit des Charakters assoziiert. Die Pyrrhoneer vom Schlage eines Sextus Empiricus sind keinesfalls lethargisch Zweifelnde, sondern überhaupt quaesitores et consideratores, besonnene Prüfer, stets Spähende und Suchende, die erst nach dem Isosthenie-Befund, der Feststellung der Gleichheit entgegengesetzter Überlegungen und Thesen (isotes
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enantion logismon), ihr Urteil zurückhalten. Das Fundament dieser Skepsis als einer Lebensform bildet die Ataraxia als ethisches Axiom: die Meeresstille der Seele, in der das höchste Glück gesehen wird. Die Kraft dieses Philosophierens in Gestalt einer Lebensform wird in der (dem buddhistischen Weltverständnis ähnlichen) ruhigen Zurückhaltung, in der ungestörten Gelassenheit, in der inneren Ruhe, in einer den Menschen ‚zufallenden‘ Unerschütterlichkeit gesehen. Die griechischen Stichworte für diese Skepsis als glückverheißender Lebensweise sind Ataraxia, Adiaphoria und Apatheia. Als pyrrhonisch gelten aber ebenso die reifliche Überlegung und gründliche Prüfung, die Vermeidung aller Voreiligkeit, die Destruktion unbegründeter Propositionen, gestützt auf die Hauptwaffen im Arsenal der pyrrhonischen ‚Kunst‘ – die relativistischen Isosthenie-Argumente, die ihre paradigmatische Form in den Fünf Tropen des Agrippa finden. Geklettert wird an der ‚Strickleiter der Logik‘, die altskeptischen Tropen gelten als Kathartikon gegen allen Wahn, gegen den ‚wurmstichigen Dogmatismus‘, als unbarmherzige Zermalmer des vermeintlich Sakrosankten oder Ewig-Gültigen. Verlangt wird Prüfung, Legitimation und Begründung; leeres Versichern, bloßes Annehmen oder pures Behaupten hingegen werden als unhaltbar bloßgestellt. In all diesen durchaus verschiedenen und auch divergenten Hinsichten repräsentieren die pyrrhonischen Haltungen und Ideenformationen das Prinzip der Negativität und der Freiheit, die freie Seite jeder Philosophie. Die verschiedenen Darstellungsformen des Pyrrhonismus, von den Tropen und Hypotyposen bis hin zum Essay, zeigen das charakteristische Oszillieren zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Argument und Erzählung, zwischen Logik und Metaphorik. Aus dieser doppelten Natur, aus dieser besonderen Zwischenstellung zwischen Kunst und begreifendem Denken entspringt das außerordentliche Interesse für die Skepsis in der Moderne. Zum einen bildet die Situation des Skeptikers das ‚Hauptmoment der modernen Poesie‘ (Hegel), zum anderen zeigt sich dies im Trend zur Ästhetisierung oder Literarisierung der Philosophie. In den folgenden Überlegungen soll keineswegs auf die Kraft der Metaphorik verzichtet werden, ihre spezielle Leistung liegt eben in der vielfältigen Veranschaulichung, Verdeutlichung und Verstärkung von Begriffen und Argumentationen. Allerdings sollen auch Gründe dafür beigebracht werden, daß die Vorstellungen, die Metaphern oder die Bilder ungeeignet sind,
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innerhalb des Begründungsverfahrens der Philosophie die Stelle von Begriffen einzunehmen. Auch im 20. Jahrhundert blieben die skeptischen Herausforderungen auf der Tagesordnung. Zum einen erlebten die Gedanken des Relativismus, des Perspektivismus, der ästhetischen Skepsis, die Ideen der Epoché und der Wahrscheinlichkeit wahre Konjunktur. Die Todesanzeigen für Wahrheit, Wissen oder Metaphysik häuften sich und wurden zur Mode, mit der man sich schmückt und andere Positionen als ‚überlebt‘ und ‚altmodisch‘ herabzusetzen versucht. Wer auf diese angeblich überlebte Denkungsart systematisch rekurriert, gerät in den Verdacht der unbelehrbaren Starrsinnigkeit, der hoffnungslosen Verstocktheit. An die Stelle der alten Metaphysik – so die Verheißung – treten verschiedene Varianten einer ‚postmetaphysischen‘ Philosophie, welche die philosophische Grenzwächter-Attitüde pflegt und (ähnlich wie die Widersacher Hegels) unüberwindliche Barrieren für das Wissen postuliert. Solch hehre Ansprüche wie Wahrheit oder systematisches Philosophierens seien endgültig zu verabschieden. Die damit verbundenen Versuche der Verbannung Hegels ins philosophische Museum, ob nun unter den Stichwort ‚letzter Dinosaurier der Metaphysik‘ oder unter der Flagge ‚Historisierung seines Systems‘ sind bis heute an der Tagesordnung und erzeugen in ihrer monotonen Wiederholung Langeweile und Überdruß, zumal kein auf dem Niveau Hegels sich bewegendes Konzept entgegengestellt werden kann. Die Forderung nach einer solchen ‚Historisierung‘ bedeutet im Kern eine Art Despotismus der Gleichmacherei, eine Nivellierung der Entwürfe – man könne ja an alle Denker der Philosophiehistorie irgendwie anschließen, so das ‚Argument‘. Die sich so nennende Philosophie habe es – so Hegel in weiser Voraussicht auf das 20. Jahrhundert – ausdrücklich ausgesprochen, daß ‚das Wahre selbst nicht erkannt werden könne‘ – die Erkenntnis der Wahrheit werde „für einen törichte, ja sündhafte Anmaßung erklärt, wie die Vernunft, und wieder die Vernunft, und in unendlicher Wiederholung die Vernunft angeklagt, herabgesetzt und verdammt“ werde. (RPh 7, 18, 22) „Das Wahre nicht zu wissen und nur Erscheinendes, Zeitliches und Zufälliges, nur das Eitle zu erkennen, diese Eitelkeit ist es, die sich in der Philosophie breitgemacht hat und in unseren Zeiten noch breitmacht und das große Wort führt.“ (Enz 10, 403) Auf der anderen Seite gibt es gerade in den letzten Jahrzehnte interessante und theoretisch anspruchsvolle Versuche aus verschiedenen Schulen der Philosophie, neue produktive
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Zugangsweisen zu den verschiedenen Facetten von Hegels Philosophie zu öffnen. Dieses Buch möchte dazu einen kleinen Beitrag leisten und zwar im Blick auf den für Hegel essentiellen Umgang mit dem Skeptizismus, im Blick auf das Hegelsche Verständnis von Negativität und Subjektivität – also: Back to the Future. Für Hegel, der im Skeptizismus den entscheidenden und ewigen Herausforderer der Philosophie sieht und seine Phänomenologie des Geistes als sich vollbringenden Skeptizismus versteht, muß die Philosophie in Hinsicht auf ihren skeptischen ‚Schatten‘ zwei Forderungen genügen: Sie muß erstens der Gefahr trotzen, ‚von skeptischen Seeungeheuern verschlungen zu werden‘ (Fichte), das heißt den Äquipollenzattacken muß Paroli geboten werden, den scharfsinnigen Isosthenie-Argumenten ist standzuhalten. Verlangt wird eine subtile Verteidigungsstrategie gegen die Liebhaber von Ruhe und Unentschiedenheit, welche Bestimmtheit als Makel sehen. Zweitens: Eine solche Immunität oder Resistenz vermag Philosophie nur mittels Inklusion der echten Skepsis erreichen - der wahre Skeptizismus muß ‚in jedem echten philosophischen Systeme implicite zu finden‘ sein. Hegel beschreibt dieses integrierte Skeptische als das negativ-vernünftige oder dialektische Moment des Logischen, als das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, alles Tätigseins, als ‚bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens‘. In diesem Sinne repräsentiert die Skepsis einen notwendigen Durchgangspunkt und ein konstitutives Prinzip der Philosophie. Hegels ‚Exorzismus‘, sein bis heute einzigartiger und erfolgreicher Versuch der Zähmung der widerspenstigen Sachwalter des Negativen in Form einer theoretischen Inklusion und ‚Domestikation‘ des Widerspenstigen enthält sowohl die Integration der denkenden Skepsis als auch die Aufhebung der ästhetisch-poetischen Skepsis in seinem Konzept der romantischen, modernen Kunst. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen soll zum einen Hegels Konzept der Inklusion der Skepsis in theoretischer und praktischer Absicht stehen, zum anderen geht es um die Offenlegung des doppelten Gesichts des Pyrrhonismus, als einer Form zwischen Logik und Metaphorik, zwischen Bildlichem und Begrifflichem, zwischen Philosophie und Literatur, ein Aspekt, dem bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dazu ist es erforderlich, die bislang kaum erschlossene Auffassung Hegels über das Verhältnis von Vorstellung und Begriff, speziell das Konzept der wechselseitigen
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‚Übersetzung‘, und die Beziehung zwischen Kunst, Religion und Philosophie neu zu betrachten. Entscheidend hierfür war der von Hegel im Blick auf Sextus freigelegte Zusammenhang zwischen dem Erscheinenden (phainomenon) und der reinen Subjektivität als Phantasia, das pyrrhonische Verständnis der Erscheinung als subjektiver Vorstellung, als Phantasie oder Imagination. Weiteren Aufschluß über diese Problemlage liefern die Untersuchungen zur orientalischen Herkunft des Pyrrhonismus und über die besondere Affinität von Skepsis und Erzählung in der pyrrhonisch-literarischen Traditionslinie von Timon und Lukian über Montaigne und Sterne bis hin zu Schlegel und Nietzsche sowie der enge Bezug zwischen Skepsis und moderner Kunst. Es geht um die skeptische Grundverfaßtheit moderner Kunst schlechthin, um die Skepsis am Ende der Kunst. Die facettenreiche Integration der echten Skepsis in die Philosophie, die Aufhebung des Pyrrhonismus, war für Hegel keineswegs ein marginaler Punkt, sondern die Initialidee und der Grundbaustein für seinen neuen Idealismus des Absoluten, seiner modernen Philosophie der Freiheit. Das Vollziehen oder Vollbringen der Skepsis ermöglicht erst die ‚Befreiung von dem Gegensatze des Bewußtseins‘ als einer entscheidenden Voraussetzung für die Philosophie als Wissenschaft und schafft erst die geeigneten Fundamente für einen Idealismus der Freiheit, für eine Philosophie des freien Denkens und des freien Wollens und Handelns, für eine Philosophie, die gegen jede Art von Dogmatismus, Fanatismus und Fundamentalismus steht. Mit Hegels Worten: Der Skeptizismus bildet die ‚negative und freie Seite jeder Philosophie‘.
I. MAKING IT IMPLICIT – DIE INKLUSION DER SKEPSIS IN THEORETISCHER UND PRAKTISCHER ABSICHT
I. 1. DER ANFANG DER PHILOSOPHIE – HEGELS AUFHEBUNG DES PYRRHONISMUS
Sextus Empiricus ist der eigentliche Vater der modernen Philosophie Pierre Bayle
Am Anfang, und um den Anfang wird es hier auch gehen, soll Hegels Anfang seiner Jenaer Vorlesungen stehen. Seinen ersten Vortrag begann er mit einem aus Dantes Divina Commedia stammenden Satz, der an der porta dell’inferno geschrieben steht: „Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden“. Der Verfasser der Inschrift am Höllentor war wohl ein Pyrrhoniker. Hegel verstand diese Einleitung durchaus programmatisch in skeptischer Absicht. Georg Andreas Gabler, ein Jenaer Student, beschrieb trefflich die Wirkung des Hegelschen Auftritts als die einer ‚totalen geistigen Umwälzung‘, welche „mein ganzes damaliges Wissen und Bewußtsein mit allem, was mir bis dahin gegolten hatte, in die gleiche Auflösung, in eine Nacht des Nichtwissens und Zweifels versenkte.“1 Alles was scheinbar als sicheres Wissen galt, alle unbegründeten Annahmen, alle ungeprüften Voraussetzungen sollen dem Fegefeuer der zweifelnden Prüfung ausgesetzt werden. Im folgenden soll eine kleine Stippvisite in dieses Inferno unternommen werden, in die Hölle namens Negativität, in die ‚Brandstätte des Endlichen‘ (Jean Paul). Also willkommen in Teufels Küche, bei den satanischen Versen der Hegelei. Der in Goethes Faust auftretende Skeptiker rechtfertigt übrigens auf überraschende Weise die Affinität der Skepsis mit dem Leibhaftigen: „Auf Teufel reimt der Zweifel nur“.2 Kurzum: Was ihr das Negative nennt, ist hier mein eigentlich Element. - „Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein“. Zur Erläuterung dieses Hinweises auf den 1 2
Bericht Georg Andreas Gablers über Hegel in Jena, in: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hrsg. von Günther Nicolin. Hamburg 1970, S. 60. Johann Wolfgang Goethe: Faust. 1. Teil, in: J. W. Goethe: Werke (Berliner Ausgabe), Bd. 8, Berlin 1978, S. 290.
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SKEPSIS UND FREIHEIT
Anfang der Philosophie fügte Hegel folgendes hinzu: „Die Seele muß sich baden in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gedacht hat, untergegangen ist. Es ist die Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muß, es ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage.“ Das Denken müsse sich auf diesen Standpunkt des Spinozismus stellen, dies sei der „wesentliche Anfang alles Philosophierens“ (VGdPh 20, 165; 18, 167). Spinoza wird hier als Sachwalter einer ‚intellektuellen Substantialität‘ und absoluten Negativität gelesen. Auch David Hume empfahl dringend dieses Bad im pyrrhonian doubt, man müsse einmal ernsthaft von diesem exzessiven Skeptizismus überzeugt gewesen sein, ungeachtet dessen, daß dieser maßlose Zweifel letztlich nur ein Jeux d‘Esprit und poetisches Amüsement sei. Die Richtung der Überlegungen zeigt ein kurzer Verweis auf Kant an, zumal Hegel dem Königsberger in seinem Umgang mit dem Pyrrhonismus stark verpflichtet war.3 Kant unterschied präzise zwischen Skeptizismus und skeptischer Methode. In direktem Anschluß an die berühmte Frage: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich“ lesen wir: „Die Kritik der Vernunft führt also zuletzt nothwendig zur Wissenschaft, der dogmatische Gebrauch derselben ohne Kritik dagegen auf grundlose Behauptungen, denen man eben so scheinbare entgegensetzen kann, mithin zum Skepticismus.“4 Kant konzipiert den Weg zu einer Philosophie jenseits von Dogmatismus und Skepticismus, zu einer ‚dritten Philosophie‘, wie sie Hegel nannte, zu einem Denken, das „weder Skeptizismus noch Dogmatismus und also beides zugleich ist.“ (SkepA 2, 227) Die skeptische Methode helfe bei der Entdeckung von Blendwerken des ‚wurmstichigen Dogmatismus‘, die uns täuschen und irreführen könnten. Sie ist nüchtern-scharfsinnige Kritik, der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers. Kants verlangt einen sicheren Probierstein, um den Gehalt alter und neuer philosophischer Konzepte zu prüfen. In Anknüpfung an die pyrrhonische Isosthenie zeigt Kant in der Antithetik der reinen Vernunft, wie die Vernunft im Fortgange unvermeidlich auf Antinomien stoße auf den Widerstreit von gleichrangiger These und Gegenthese, ohne daß man einer vor der andern einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt. Die 3
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Zur Relevanz der Skeptizismus-Rezeption für den Denkweg des jungen Hegel vgl.: Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skepticismus‘, München 1999. Kant: KdrV B, AA III, S. 22-23.
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Antinomik gilt als der ‚beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um die Vernunft, vor den Fehltritten abstrakter Spekulationen zu bewahren‘.5 Solche Skepsis jedoch verdiene Aufmerksamkeit, denn sie zeige einen notwendigen Paradigmenwechsel im Denken an. Sie sei keinesfalls Resultat des Leichtsinns, sondern Ergebnis der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welche sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lasse, und zudem ein Auftrag an die Vernunft, das beschwerlichste ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis, aufs Neue zu übernehmen. Für Vernunftfragen allerdings habe der Skepticus keine befriedigende Antworten und bleibe in der Suspension des Urteilens, beim Indifferentismus stehen. Man könne sich entweder der skeptischen Hoffnungslosigkeit, dem doktrinellen Skeptizismus, der Untergrabung aller Zuverlässigkeit des Erkennens schlechthin überlassen oder wiederum dogmatischen Trotz annehmen, d. h. wiederum eine Seite präferieren „ohne den Gründen des Gegentheils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.6 Kant stellt dann die entscheidende Frage: ‚Ob und auf welche Art dennoch der Vernunft ein Weg zum Wissen offenbleibe‘? Die skeptische Methode gehe „auf Gewißheit dadurch, daß sie in einem solchen auf beide Seiten redlich gemeinte und mit Verstande geführten Streite den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen zu ziehen.“7 Hegels Konzept des sich vollbringenden Skeptizismus in der Phänomenologie des Geistes folgt diesem Gedanken. Auf seinem Wege des ‚Aufhebens‘ bis hin zum absoluten Wissen verfährt Hegel ähnlich dem weisen Gesetzgeber und entdeckt im Widerstreite die Leistungskraft wie die Begrenzung der einzelnen Gestalten des Bewußtseins und ihrer Wissensansprüche. Kant zufolge verstatte die transzendentale Vernunft „keinen anderen Probierstein, als den Versuch der Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst und mithin zuvor des freien und ungehinderten Wettstreits derselben untereinander“.8 Die skeptische Methode sei ‚der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen und könne nicht
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Ebd., S. 452. Ebd., S. 434. Ebd., S. 451-452. Ebd., S. 453.
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SKEPSIS UND FREIHEIT
entbehrt werden.9 Man müsse dem Skeptizismus Paroli bieten, indem „man in sich den skeptischen Geist aufwachen lasse.“10 Damit ist der Leitfaden für Hegels Konzept der Inklusion der Skepsis gegeben, das Programm der Aufhebung des Pyrrhonismus vorgezeichnet, das sich durchaus vom kantischen Verfahren gravierend unterscheidet und den Anspruch der Legitimation des Anfangs des Philosophierens erhebt. Der Versuch einer Annäherung an Hegels Verständnis von interner Negativität soll hier unter dem Blickwinkel der Frage nach dem Anfang der Philosophie erfolgen. Hegel formuliert zwei Grundanforderungen an Philosophie schlechthin, mit Kant gesprochen Probiersteine für den Gehalt philosophischer Entwürfe: Philosophie muß erstens den pyrrhonischen Einwänden standhalten, Widerstandsfähigkeit gegen diese Einsprüche gewinnen, ansonsten führt sie wieder zu dem von Kant genannten trotzigen Dogmatismus oder zum Verzicht auf Wissen. In beiden Fällen scheitert das Unternehmen Wissen, im einen wird eine feste Grundlage erschlichen, im anderen ist die Urteilsenthaltung das Ergebnis. Zweitens könne diese Resistenz nur mittels der Inklusion der Skepsis als der negativen Seite der Philosophie erreicht werden, mittels immanenter, impliziter Negativität. Hegels Umformulierung des Kantischen Gedankens der skeptischen Methode, die allein der Transzendentalphilosophie wesentlich eigen ist, lautet: „Die Philosophie hat das Negative in ihr selbst, es ist ihr nicht entgegengesetzt, sondern ein Moment derselben, aber das Negative, wie es der Skeptizismus nicht hat.“ (VGdPh 19, 359) Paroli könne den skeptischen Einwänden nur dann geboten werden, wenn die skeptische Negativität als notwendiger Durchgangspunkt im eigenen Konzept verankert werde. Diese Integration der Skepsis gilt als stete Herausforderung für die Philosophie. Der davon zu unterscheidende Skeptizismus hingegen als eigenständige Lehre ist ihr ständiger Begleiter, ihr ewiger advocatus diaboli, der treue Anwalt des Negativen.
9 10
Ebd., S. 452. Brief von I. Kant an M. Herz vom 7. Juni 1771, in: I. Kant: Gesammelte Schriften, Berlin 1922, Bd. 10, S. 122. Zur Relevanz von Kants Interpretation der Skepsis für Hegel vgl.: Klaus Vieweg: „Die skeptische Methode ist aber nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen“ – Das Kantische SkepsisVerständnis in der Sicht des frühen Hegel, in: V. Gerhardt/ R.-P. Horstmann/ R. Schumacher (Hrsg.): Kant und die Berliner Aufklärung, Akten des IX. internationalen Kant-Kongresses, Bd. V, Berlin-New York 2001.
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1. Negativität, Subjektivität und Freiheit des Selbstbewußtseins Zunächst unterscheidet Hegel zwei Hauptmomente des ursprünglichen Pyrrhonismus: die Freiheit des Charakters und die Freiheit des Denkens. Ziel ist der Nachweis, daß es sich um selbstbewußte Freiheit handelt, aber um Freiheit, die innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt. Die Inklusionsstrategie bezieht sich auf die Skepsis als Lebens- und Denkform, es geht um die Aufhebung der pyrrhonischen Freiheit des Charakters und der Freiheit des Denkens. Es muß also die Integration in epistemischer wie in praktisch-ethischer Hinsicht vollzogen werden, was die Überwindung des Defizitären beider Seiten des Pyrrhonischen einschließt. Zur Erläuterung dessen muß zu den Urvätern der alten Skepsis – zu Pyrrhon, Timon und Sextus Empiricus – zurückgegangen werden. Zugleich soll die eigentümliche Hegelsche Lesart dieser Skepsis erschlossen werden. Im Bericht des Aristokles, einem wichtigen Zeugnis über Pyrrhon und Timon, finden wir das Hauptanliegen formuliert – Glück als Seelenruhe, als Ataraxie. Im Zentrum des Pyrrhonismus steht die ethische Absicht, das epistemische Verfahren dient diesem Zweck. Die Sachen, von denen wir ausgehen, seien ‚gleichermaßen ohne Unterschiede, unbeständig und unentscheidbar‘. Wir dürfen also unseren Wahrnehmungen und unserem Verstand nicht trauen, sondern ohne Meinung, ohne Neigung unerschüttert sein, indem wir das Urteil zurückhalten‘. Wer diese Einstellung der Negativität hat, behauptet nicht mehr und kommt schließlich zur Ataraxie, der inneren Ruhe als eigentlichem Glück. Sextus‘ Version des pyrrhonischen Credos lautet: „Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.“11 Hier ergeben sich schon Interpretationsprobleme und gewisse Differenzen zwischen den früheren und späteren Pyrrhoneern, die nicht das Ziel, sondern den Zugangsweg zur Ataraxie betreffen. Zuerst zu Pyrrhon: Bei ihm liegt das Hauptaugenmerk auf dem Tun, auf der gelebten Haltung. Pyrrhon hat wohl nichts geschrieben, wir haben nur Erzählungen über sein Leben. Die Form oder Kunst des Lebens – Ausgeglichenheit, Gleichmut, Unerschütterlichkeit – gilt als 11
Sextus Empiricus: PH I, S. 8.
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der Königsweg zur Ataraxie. Hegel versteht diese Negativität und Subjektivität als Freiheit des Charakters. Dieser Urtypus sei Lebensform, Charakter, eine Anleitung, recht zu leben und richtig zu denken. Die positive Seite des Ur-Pyrrhonismus bestehe ganz allein in der vollkommenen Gleichgültigkeit gegen die Notwendigkeit der Natur in Gestalt einer bestimmten Lebensweise und des Agogischen (SkepA 2, 242-243, 240), der Erziehung zu solcher Lebensart (VGdPh 19, 365). Infolge der Vernichtung aller Objektivität, alles determinierenden Inhalts, der Be-Freiung von aller Bestimmtheit, der Negation alles vermeintlich Gegebenen wird in der Ataraxie die Freiheit des Selbstbewußtseins erklommen. Es ist das aus dem ‚Seienden und Gedachten in seine Einfachheit zurückkehrende Selbstbewußtsein, sein einfaches Selbstverhältnis, die Gewißheit seiner selbst als die Ruhe des Geistes in sich, nicht mit einer Trauer‘ (VGdPh 19, 362). Der fundamentalen Rolle der Ataraxia als Glück trägt Hegel voll Rechnung, der alte Skeptizismus figuriert in dieser Hinsicht in der Phänomenologie als ‚glückliches Bewußtsein‘. Alle Bestimmtheit, die Welt schlechthin, alles Gegen-Ständliche verwandelt sich in Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins, alle Zwecke sind Zwecke des Selbst, von ihm gesetzt. Wenn dies in voller Konsequenz genommen wird, haben wir ein Bewußtsein der gänzlichen Unwesentlichkeit und Unselbständigkeit jeglicher Andersheit und nichts mehr im eigentlichen Sinne Gegen-Ständiges. Das Andere ist nur die Andersheit des Selbstbewußtseins. In dieser Freiheit des Wollens, des Ent-Schließens bin ich autonom, weil ich nicht in einem andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst. Diese Ataraxie als Gleichmut gegen alles Endliche, die Freiheit von aller Störung durch scheinbar Objektives, die Gleichgültigkeit gegen die Welt überhaupt, sei keiner Philosophie fremd. Pyrrhons Individualität, seine Lebensführung war ‚nichts als die Freiheit des Charakters‘, wie sollte aber – so Hegel – eine Philosophie darin dieser Skepsis entgegenstehen? In dieser Selbstbestimmtheit drückt sich die notwendige und ursprüngliche Indifferenz des Philosophen aus, er muß in diesem Sinne Skeptiker sein, Teufel werden, um die Welt zum Teufel zu jagen. Gefordert wird die Voraussetzungslosigkeit im theoretischen und praktischem Sinne, die Preisgabe jeglicher Voreingenommenheit, jeglicher unmittelbarer Gewißheit. Jede echte Philosophie trage diesen Impuls in sich, die ursprüngliche, anfängliche Unabhängigkeit gegenüber allem Hier und Jetzt, gegen den Haufen sogenannter Tatsachen oder Evidenzen. Jeder Philosophie muß diese
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absolute Negativität in praktischer Hinsicht immanent sein: ‚alle Fesseln der sittlichen Welt und hiermit alle Stützen, in dieser Welt zu stehn, müssen gefallen sein‘ – so lesen wir es beim Jenaer Hegel.12 Dessen Gedanke der All-Einheit beinhaltet zunächst die Vernichtung aller Bestimmtheit.13 Bei den späteren Pyrrhonikern tritt als zweite Komponente die Freiheit des Denkens in den Vordergrund, Hegel spricht vom denkenden Skeptizismus, welcher den Weg zur Seelenruhe durch das argumentierende Denken ebnet (GdPh 19, 359). Dies erwuchs auch aus der entstandenen Beunruhigung seitens der Dogmatiker, die ebenfalls Ataraxie auf ihre Fahne geschrieben hatten, dorthin aber den dogmatischen Pfad einschlugen. Diogenes Laertios deutet Pyrrhon als scharfsinnigen Diskutanten, Skepsis wird jetzt mit Scharfsinn und argumentativem Antidogmatismus konnotiert. Im reinen Denken wird das Bestimmte, das angebliche Wissen annihiliert. In dieser Freiheit des Selbstbewußtseins als reinem Denken werde alle Andersheit dementiert, die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt ist aus der Vernunft herkommend und – wie Hegel anmerkt – nicht ‚tierisch‘ oder ‚schweinisch‘, sondern auch aus Vernunft geboren (VGdPh 19, 370, näher dazu: I. 2.). Ein authentisches Dokument dieser Negativität ist in Hegel Augen Platons Dialog Parmenides, welcher das ganze Gebiet des Verstandeswissens umfasse und zerstöre. Die Negativität beansprucht universelle, umfassende Geltung, sie gehe nicht auf ein Zweifeln an einzelnen Erkenntnissen der Reflexion, sondern repräsentiert das gänzliche Negieren aller Wahrheit des Verstandes. Laut Gadamer hat Hegel „wirklich als erster die Tiefe der platonischen Dialektik erfaßt, er ist der Entdecker der eigentlich spekulativen Dialoge, des Sophistes, des Parmenides und des Philebos, die erst durch ihn als das eigentliche Kunststück der platonischen Philosophie Geltung 12 13
Hegel: GW 5, S. 270. Aus diesem Grunde können sich an den Gedanken der All-Einheit „mystische Erfahrungen und akosmistische Religionen anschließen, welche die Welt, von der wir wissen, zum bloßen Schein erklären.“. Dieter Henrich: Mit der Philosophie auf dem Weg, in: Merkur Heft 11, 2001, S. 2018; „In orientalischen Systemen, wesentlich im Buddhismus, ist bekanntlich das Nichts, das Leere, das absolute Prinzip.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, TWA Bd. 5, S. 84). Nietzsche bezeichnete Pyrrhon als „Buddhist für Griechenland“. Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre (1887-1889), in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin/ New York 1967 ff. (KSA), Bd. 13, S. 277. Vgl. VI. 2.
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erlangten“. Hegel beanspruche mit seinem Denken – so Gadamer weiter – „die platonische Idee des Rechenschaftsgebens, der dialektischen Prüfung aller Annahmen wieder zu Ehren zu bringen.“14 Rechenschaftgeben und Prüfung aller Annahmen – darin besteht Gehalt der denkenden Skepsis und der Kantischen Rede vom Probierstein. In neuerer Zeit habe besonders der große Königsberger dieses Verfahren des skeptischen Prüfens wieder in seine Würde eingesetzt, so Hegels Befund (Enz 8, 174). Die alten Pyrrhoniker vertraten eine universelle Antinomik, allerdings gegründet auf die Zufälligkeit des Findens der Thesen und oft gestützt auf unzulängliche Argumentationen. Kant dagegen zeigte, daß der Widerstreit als Antinomie, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und notwendig ist. Die argumentative Struktur von Platons Parmenides wird hauptsächlich in den Fünf Tropen des Agrippa kodifiziert, in skeptische Grundformeln gegossen.15 In Hegelscher Lesart erscheinen die Wendungen erstens als Argumente und zweitens wird eine innere Logik in die Tropen gebracht.16 In dieser Adaption gilt das Agrippinische Prüfverfahren als die negative Seite der Erkenntnis des Absoluten, diese Skepsis müsse in jedem philosophischen System implizit zu finden sein, als ‚freie Seite jeder Philosophie‘.17 Sextus habe das Fundamentalprinzip dieser echten Skepsis fixiert: Panti logo logos isos antikeitai. Als Prüfsteine für die sinnliche und die Verstandeserkenntnis gelten die Zehn Tropen des Aenesidemus und die Fünf Tropen des Agrippa. Bei den letztgenannten sind wir im Nervenzentrum des isosthenischen Unternehmens, bei der Kunst, den Widerstreit umfassend demonstrieren zu können. Es gebe keine tauglicheren Waffen gegen den Verstand, gegen den Dogmatismus des Endlichen, welcher ein Bestimmtes als Absolutes behauptet. Diese Tropen stehen gegen alles vorgeblich unmittelbare Wissen, das in unzulässiger Weise dem Begründen zu entgehen versucht. Ein Beispiel: Der Versicherung des Habens oder Findens eines Rechtsgefühls kann eine gleichwertige andere entgegengesetzt werden. In der Einleitung zur Rechtsphilosophie insistiert Hegel auf 14 15
16 17
Hans Georg Gadamer: Hegels Dialektik, Tübingen 1971, S. 8. Vgl. dazu: Franco Chiereghin: Platonische Skepsis und spekulatives Denken bei Hegel, in: Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann: Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, Stuttgart 1996, S. 29-49. Vgl. Klaus Vieweg: Philosophie des Remis, bes. S. 136-150. SkepA 2, S. 229 (Hervorh. K.V.).
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die Begründung des Rechts, der praktischen Philosophie, durch das freie Denken, ‚welches nicht bei dem Gegebenen stehenbleibt, wie immer dies Gegebene auch scheinbar gestützt sei, durch äußere Autorität des Staates, durch die Übereinstimmung der Menschen oder durch inneres Gefühl und unmittelbare Gewißheiten des Glaubens‘ (RPh 7, 14). Hegel attackiert den Mythos vom unmittelbar Gegebenen, da die kritisch-skeptische Prüfung einfach ausgeschlossen werde. Man meint letzte Dinge gesagt zu haben, Offenbarung, Gewohnheit, angeborene Ideen, wogegen weder pyrrhonische Einrede möglich sei noch anderes gefordert werden könne. Auf solche Instanzen könne praktische Philosophie nicht gegründet werden. Indem sich jemand auf das Gefühl als sein inwendiges Orakel beruft, ist er mit demjenigen, der nicht übereinstimmt, fertig, denn er muß erklären, daß er dem Anderen, der nicht dasselbe in sich findet und fühlt, nichts weiter zu sagen hat (Phän 3, 64). Das Auffinden und Benennen soll das Gelten sein. Infolge der Suspension der skeptischen Probe könne dann jede Art von Unmittelbarkeit, etwa Aberglaube oder Einbildung, zum Wissen geadelt werden. Die Fünf Tropen zielen auf den Begriff der Bestimmtheit selbst, sie zeigen mit der Kraft des Scharfsinns die Negativität alles Bestimmten. Dieses denkende Zunichtemachen aller Erschleichungen des Verstandes bilde den Schlußstein des reflexiven Wissens, das Maximum des Vernünftigen im Verstande. Sie sind der diskursive Ausdruck der Tragödie des Endlichen, der Antithetik des Bestimmten. Die skeptische Dimension alles Opferns (nicht nur des Kreuzestods) bringt ein Athenäumsfragment von Friedrich Schlegel treffend zum Ausdruck: „Der geheime Sinn des Opfers ist die Vernichtung des Endlichen, weil es endlich ist.“18 Opfern oder Negieren tritt hier aber in Form der totalen Abstraktion, der totalen Absehung von Bestimmtheit und Welt schlechthin, als reine, absolute Bestimmungslosigkeit in den Blick. Wir haben hier das denkende, das wissende Bewußtsein von der Opferung des Andersseins, von der Unwesentlichkeit und Unselbständigkeit aller Andersheit.
18
Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke, hrsg. v. E. Behler, Paderborn, nach 1958 ff. Bd. II, S. 269, Nr. 131.
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2. Die Integration der Negativität und der Anfang der Philosophie Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen Aristoteles
Man kann mehrere signifikante Orte im Hegelschen System identifizieren, wo die Aufhebung dieser Negativität thematisiert ist, sowohl in der Wissenschaft der Logik wie auch in der Philosophie des Rechts, wobei beide Momente – das theoretisch-epistemische und das praktische – stets verbunden bleiben. Für diesen entscheidenden Tatbestand sollen an dieser Stelle zwei Belege angeführt werden: Im Vorbegriff zur Logik charakterisiert Hegel den vollbrachten Skeptizismus als den „Entschluß, rein denken zu wollen“ (Enz 8, 168). Das Entschließen gilt hier als Willkür und die reine Abstraktion als denkende Vernichtung des Bestimmten. Die gleiche Terminologie wird in den ersten Paragraphen der Rechtsphilosophie für die Bestimmung des Willens verwendet und die Untrennbarkeit des Theoretischen und Praktischen, von Wollen und Denken herausgestellt. Erwähnt sei hier ein Auszug aus § 5: Der Wille enthalte das Element der reinen Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit, der reinen Reflexion des Ich in sich selbst, jeder gegebene und bestimmte Inhalt ist aufgelöst, der Wille schließt die absolute Abstraktion, das reine Denken seiner selbst in sich (RPh 7, 49). Diese negative Freiheit, der negative Wille, die leere Freiheit sei zwar einseitig, aber dies Einseitige enthalte eine wesentliche Bestimmung, diese abstrakte Einzelheit ist notwendiges Moment der Autonomie (RPh 7, 51). Im § 6 erfolgt dann die Kritik an der Einseitigkeit dieser abstrakten Einzelheit, damit implizit die Kritik am Pyrrhonischen – das genannte Moment kann nicht die wahrhafte Allgemeinheit sein (RPh 7, 52-53). Es ist Bestimmtes, insofern es die Abstraktion von aller Bestimmtheit ist und diese Abstraktheit oder Einseitigkeit macht eben seine Bestimmtheit und Endlichkeit aus. Die Willkür ist die ‚geistige Zufälligkeit‘, die Zufälligkeit, wie sie als Wille ist, der Wille als der Widerspruch selbst. Dies bezieht sich ebenfalls indirekt auf die pyrrhonische Ruhe, die sich ereignet, uns zu-fällt, zufällig ist. Explizit wird die egotitäre Glückseligkeit als ethisches Grundprinzip im berühmten §140 attackiert, wobei zuerst das pyrrhonische Willkürliche und im Anschluß daran die literarische Schwester der Skepsis, die Ironie, als in sich selbst verglimmende Seele ironisiert
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werden (RPh 7, 265-286). Die Erhebung dieser negativen Freiheit der Ataraxie, eines Gefühls des Verharrens in der einfachen Identität mit sich selbst, zur Freiheit schlechthin, ist Hegel zufolge Täuschung, Selbst-Täuschung (näheres zu dieser praktisch-philosophischen Dimension unter I. 2.). Hegels Aufhebung des Skeptischen erfolgt auf besondere Weise in der Phänomenologie des Geistes, die ausdrücklich als Weg des Zweifels, als Weg der Verzweiflung, als sich vollbringender Skeptizismus verstanden wird. Im Gedanken der bestimmten Negation ist das Skeptische aufgenommen und umgedacht. Jede Gestalt des Bewußtseins löst sich in ihrer Realisierung sich zugleich selbst auf und hat ihre eigene Negation zu ihrem Resultate. Die mit solch prüfendem Verfahren unternommene Wanderung durch das erscheinende Wissen, der Aufstieg auf der ‚Leiter‘19 endet in der Schädelstätte alles Endlichen und bei der vollkommenen Er-Innerung als dem reinen, begreifenden Denken. Von grundsätzlicher Bedeutung bleibt die Einschätzung dieses sich vollbringenden Skeptizismus und damit des Resultats der Phänomenologie des Geistes im § 78 des Vorbegriffs zur Logik in der Enzyklopädie. Dieser Skeptizismus als ‚eine durch alle Formen des Erkennens durchgeführte negative Wissenschaft‘ vermag die Nichtigkeit aller bestimmten Voraussetzungen offenzulegen (Enz 8, 167-168). Die Forderung eines vollbrachten Skeptizismus, von der Hegel jetzt spricht, sei die gleiche wie die, daß der Wissenschaft das Zweifeln an allem, die gänzliche Voraussetzungslosigkeit vorangehe. Das Resultat der Phänomenologie wird in folgender Sentenz komprimiert: Die vollbrachte Skepsis besteht im Entschluß, rein denken zu wollen, der durch die Freiheit vollbracht wird, welche von allem abstrahiert und ihre reine Abstraktion, die Einfachheit des Denkens erfaßt‘ (Enz 8, 167-168). Mit dem Vollzug des Skeptizismus wird der Anfang der Philosophie gewonnen und legitimiert – wenn man beginnen will zu philosophieren, dann muß man denken, dies ist das ‚einfache‘, aber entscheidende Ergebnis von Hegels Jenaer Jahrtausendwerk. Das Denken, das sich selbst setzt, ist die abstrakte Bestimmung. Sie ist der Anfang der Philosophie, die Freiheit des Denkens die Bedingung des Anfangs. Hegel hat diese Negativität als reines, denkendes Selbstverhältnis anschaulich beschrieben, wobei er bei den Pyrrhonikern auftretende 19
Diese Metapher stammt von Sextus Empiricus: Gegen die Dogmatiker, hrsg. v. Hansueli Flückiger, St. Augustin 1998, S. 160.
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Metaphorik von Ruhe und Stille anschließt: Sextus charakterisiert die Ataraxie als eine Meeresstille der Seele, Timon schreibt von der Oberfläche des Meeres, die von keinem Wind bewegt ist. In der Vorrede zur 2. Ausgabe der Wissenschaft der Logik spricht Hegel von ‚der Teilnahme an der leidenschaftlosen Stille der nur denkenden Erkenntnis‘, von den ‚stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens‘ (WdL 5, 34, 23). Eine markante Enzyklopädie-Stelle lautet: Alle scheinbar sicheren Standorte werden preisgegeben, die Gewohnheit schlechthin wird bezweifelt (Enz 10, 415-416). Der Entschluß zu philosophieren wirft sich rein in das Denken, er wirft sich in einen uferlosen Ozean.20 Alle bunten Farben, alle Orientierungspunkte sind verschwunden, alle sonst freundlichen Lichter sind ausgelöscht. Im Angesicht des Fehlens jeglichen äußeren Leuchtturms befällt den Geist in seinem Alleinsein, in seiner Einsamkeit Furcht und Grauen. Er kann nur noch auf den inneren Kompaß des freien Denkens setzen (Enz 10, 416). Das pyrrhonische Vermächtnis in Hegels Auffassung vom Anfang der Philosophie spielt in einschlägigen Darstellungen kaum eine Rolle, obschon in Hegels Überlegungen zum Anfang in der Wissenschaft der Logik und der Enzyklopädie die Präsenz des aufgehobenen Skeptizismus bis in die verwendete Terminologie hinein offenkundig ist. Erstens wird nicht der Zweifel selbst, sondern der vollbrachte Skeptizismus als ‚Entschluß rein denken zu wollen‘ zum Startpunkt erklärt, zweitens enthält die Struktur des Hegelschen Anfangens das aufgehobene Dilemma des Pyrrhonismus, wobei die Dimension des „daß“ und die Dimension des „was“ unterschieden wird. Im § 17 der Enzyklopädie erscheint der Anfang als eine Beziehung auf das Subjekt, welches sich entschließt zu philosophieren, das Element der praktischen Freiheit ist im Denken enthalten. Es handelt sich um den freien Akt des Denkens, sich auf den Standpunkt der Selbstbeziehung zu stellen, um ein Denken für sich selber, das sich seinen Gegenstand, seinen Zweck selbst gibt, ihn erzeugt oder setzt (Enz 8, 62-63). In der Logik wird von einem Akt der Erhebung auf den Standpunkt des reinen Wissens gesprochen, von einem Entschluß, daß man das Denken als solches betrachten wolle (WdL 5, 68). Noch aufschlußreicher in Sachen Skepsis ist folgende Stelle: „Das reine Wissen hat alle Beziehung auf ein Anderes und alle 20
Enz 10, 415-416. Auch Hume spricht am Ende des Treatise von jenem ‚grenzenlosen Ozean, der sich in die Unendlichkeit erstreckt‘. Vgl.: David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1989, S. 341.
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Vermittlung aufgehoben“ (Ebd.). In diesem Unmittelbaren, Leeren wird alles Vorhergehende, Vor-Läufige entfernt, alles „IST“ annulliert. „>>Es ist>Es ist>der Abglanz des Absoluten, indem er sich an dem Nichts breche, gestalte es in Erscheinungen und veranlasse dadurch die Entstehung einer unendlichen Vielheit scheinbarer 37 Realitäten.Das Element aller Gewißheit>Wechselgrundsatz>Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen ist symbolisch>Wohin?>Nach xxx!>Allerliebst, wir reisen zusammen!>Fragmentarische Beyträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und 'Grundsatzes der Caussalität, und zur Grundlegung der natürlichen Theologie, in Beziehung auf die Kantische PhilosophieWechselgrundsatz>Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen ist symbolischDas Element aller Gewißheit